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Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 124/2, 2014 © Franz Steiner Verlag, Stuttgart BESPRECHUNGEN Thomas AMOS/Christian GRÜNNAGEL (Hgg.), Bruxelles surréaliste. Positionen und Perspektiven amimetischer Literatur (edition lendemains, 31), Tübingen: Narr, 2013, 138 S. Eine lange Einführung der Herausgeber (im Inhaltsverzeichnis wie auch in den Abstracts als Artikel-Beitrag mit dem Titel „Über-Wirklichkeiten: Konzeptionen des Amimetischen in Belgien“ geführt) eröffnet diesen Sammelband (S. 1–15), der aus einer Sektion des Franko- Romanisten-Kongresses 2010 in Essen zum Rahmenthema ‚Stadt, Kultur, Raum‘ resultiert. In dieser Einleitung wird – unter dem doppelten Aspekt „Annäherungen. Baudelaire in Belgien“ (das „in“ mag dabei überraschen) und „Bruxelles surréaliste. Versuch einer Begriffsbestimmung“ – eine ableitende Begründung vorgestellt 1.) für eine „bemerkenswert starke Afnität zum Irrealen, Phantastischen und Amimetischen“ auf dem Gebiet der belgischen Kunst und Literatur (S. 6) als „amimetische[n], gelegentlich auch anti-mimetische[n] Impetus, den wir mit Baudelaire als für die belgische Kunst typisch erachten“ (S. 8); andererseits wird 2.) eine Begründung gesucht für die Titelformulierung Bruxelles surréaliste, mit der über die historische Bewegung eines Surrealismus in Belgien hinaus (u. a. ‚Groupe de Bruxelles‘ mit Nougé, Goemans, Lecomte) für mehrere Entwicklungen einer „amimetischen Konstante, eines trans-temporalen Phänomens“ eine „komprimierte, […] ausdrücklich metonymisch intendierte Formel“ (S. 6) geliefert werden soll. Es bedarf schon einer gewissen interpretatorischen Kühnheit, aus einem Distichon Baude- laires („La Belgique se croit toute pleine d’appas / Elle dort. Voyageur, ne la réveillez pas“, „Le Rêve belge“ betitelt) abzuleiten, dass diese beiden Verse „denkbar beiläug ein besonderes, für Belgien geradezu typisches ästhetisch-weltanschauliches Programm“ ankündigen, welches „zu einer Umwertung und Überwindung des (konventionellen) Realitätsbegriffes samt impliziter Neudenition ansetz[t]“ (S. 3). Und ebenso kühn ist es zu behaupten, Baudelaire antizipiere „mit der träumenden Belgica den Surrealismus“ (S. 5). 1 Um „Konzeptionen des Amimetischen in Belgien“ darzustellen, braucht man keinen Baudelaire, im Gegenteil, und der dieser Einleitung folgende Beitrag des Mitherausgebers Thomas Amos über „Präliminarien zu einer Geschichte der amimetischen frankophonen Literatur Belgiens“ entwirft literaturgeschichtlich eine Kon- stante von frühen Anfängen im 19. Jahrhundert über Charles de Costers Ulenspiegel (1867), die symbolistische Bewegung um Maurice Maeterlinck und Georges Rodenbach, über James Ensor, den belgischen Surrealismus, die sog. ‚École belge de l’étrange‘ der Zwischenkriegszeit mit einer Erneuerung der Phantastischen Literatur (mit Franz Hellens, Thomas Owen, Michel de Ghelderode, Jean Ray) und letztlich der Comic-Serie Les Cités obscures von François Schuiten 1 Wenn dann auch noch gesagt wird, hier würde das Verb „dormir“ in einem Wortspiel auch das „Gold (‚or‘) einer höheren poetischen und poetologischen Realität“ enthalten (S. 5) und somit zwei surre- alistische Grundprinzipien komprimiert verkörpern, dann ist solcher Argumentation einfach entge- genzusetzen, dass es von Baudelaire einen parallelen Text gibt („Pauvre Belgique“ betitelt), der bei der Interpretation dieser beiden Verse auch parallel mitgelesen werden muss und ganz einfach und schlicht das Schläfrige und Stumpfsinnige betont: „Au critique chagrin, à l’observateur importun, la Belgique, somnolente et abrutie, répondrait volontiers: ‚Je suis heureuse; ne me réveillez pas!‘“ (Baudelaire, Œuvres complètes. Bd. II, hg. v. C. Pichois, Paris: Gallimard, Édition de la Pléiade, 1976, S. 953). Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014

MOS RÜNNAGEL Bruxelles surréaliste. Positionen und ......Um (vor-)surrealistische Spuren bei Georges Rodenbach (sowohl im Bereich des Stils, der Bild-Rhetorik wie einer assoziativen

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Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 124/2, 2014© Franz Steiner Verlag, Stuttgart

BESPRECHUNGEN

Thomas AMOS/Christian GRÜNNAGEL (Hgg.), Bruxelles surréaliste. Positionen und Perspektiven amimetischer Literatur (edition lendemains, 31), Tübingen: Narr, 2013, 138 S.

Eine lange Einführung der Herausgeber (im Inhaltsverzeichnis wie auch in den Abstracts als Artikel-Beitrag mit dem Titel „Über-Wirklichkeiten: Konzeptionen des Amimetischen in Belgien“ geführt) eröffnet diesen Sammelband (S. 1–15), der aus einer Sektion des Franko-Romanisten-Kongresses 2010 in Essen zum Rahmenthema ‚Stadt, Kultur, Raum‘ resultiert. In dieser Einleitung wird – unter dem doppelten Aspekt „Annäherungen. Baudelaire in Belgien“ (das „in“ mag dabei überraschen) und „Bruxelles surréaliste. Versuch einer Begriffsbestimmung“ – eine ableitende Begründung vorgestellt 1.) für eine „bemerkenswert starke Affi nität zum Irrealen, Phantastischen und Amimetischen“ auf dem Gebiet der belgischen Kunst und Literatur (S. 6) als „amimetische[n], gelegentlich auch anti-mimetische[n] Impetus, den wir mit Baudelaire als für die belgische Kunst typisch erachten“ (S. 8); andererseits wird 2.) eine Begründung gesucht für die Titelformulierung Bruxelles surréaliste, mit der über die historische Bewegung eines Surrealismus in Belgien hinaus (u. a. ‚Groupe de Bruxelles‘ mit Nougé, Goemans, Lecomte) für mehrere Entwicklungen einer „amimetischen Konstante, eines trans-temporalen Phänomens“ eine „komprimierte, […] ausdrücklich metonymisch intendierte Formel“ (S. 6) geliefert werden soll.

Es bedarf schon einer gewissen interpretatorischen Kühnheit, aus einem Distichon Baude-laires („La Belgique se croit toute pleine d’appas / Elle dort. Voyageur, ne la réveillez pas“, „Le Rêve belge“ betitelt) abzuleiten, dass diese beiden Verse „denkbar beiläufi g ein besonderes, für Belgien geradezu typisches ästhetisch-weltanschauliches Programm“ ankündigen, welches „zu einer Umwertung und Überwindung des (konventionellen) Realitätsbegriffes samt impliziter Neudefi nition ansetz[t]“ (S. 3). Und ebenso kühn ist es zu behaupten, Baudelaire antizipiere „mit der träumenden Belgica den Surrealismus“ (S. 5).1 Um „Konzeptionen des Amimetischen in Belgien“ darzustellen, braucht man keinen Baudelaire, im Gegenteil, und der dieser Einleitung folgende Beitrag des Mitherausgebers Thomas Amos über „Präliminarien zu einer Geschichte der amimetischen frankophonen Literatur Belgiens“ entwirft literaturgeschichtlich eine Kon-stante von frühen Anfängen im 19. Jahrhundert über Charles de Costers Ulenspiegel (1867), die symbolistische Bewegung um Maurice Maeterlinck und Georges Rodenbach, über James Ensor, den belgischen Surrealismus, die sog. ‚École belge de l’étrange‘ der Zwischenkriegszeit mit einer Erneuerung der Phantastischen Literatur (mit Franz Hellens, Thomas Owen, Michel de Ghelderode, Jean Ray) und letztlich der Comic-Serie Les Cités obscures von François Schuiten

1 Wenn dann auch noch gesagt wird, hier würde das Verb „dormir“ in einem Wortspiel auch das „Gold (‚or‘) einer höheren poetischen und poetologischen Realität“ enthalten (S. 5) und somit zwei surre-alistische Grundprinzipien komprimiert verkörpern, dann ist solcher Argumentation einfach entge-genzusetzen, dass es von Baudelaire einen parallelen Text gibt („Pauvre Belgique“ betitelt), der bei der Interpretation dieser beiden Verse auch parallel mitgelesen werden muss und ganz einfach und schlicht das Schläfrige und Stumpfsinnige betont: „Au critique chagrin, à l’observateur importun, la Belgique, somnolente et abrutie, répondrait volontiers: ‚Je suis heureuse; ne me réveillez pas!‘“ (Baudelaire, Œuvres complètes. Bd. II, hg. v. C. Pichois, Paris: Gallimard, Édition de la Pléiade, 1976, S. 953).

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014

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und Benoît Peeters. Hier liegt dann so etwas vor wie eine nachvollziehbare „vorläufi ge Summa der amimetischen belgischen Literatur und Kunst“ (S. 39), die insgesamt mit diesem Band als eine Konstante dargestellt werden soll.2

Der in der Einleitung unternommene Versuch einer Begriffsbestimmung von Bruxelles surréaliste als Obertitel für diesen Sammelband zu einer Konstante in der frankophonen bel-gischen Kunst und Literatur gerät ebenfalls etwas verkrampft: Waren in der Sektion ursprüng-lich Stadt und Raum im Vordergrund, so ist die Zentrierung auf den Raum jetzt getilgt (S. 12), und die für Belgien mit keinem anderen europäischen Land als vergleichbar behauptete starke „Affi nität zum Irrealen, Phantastischen und Amimetischen“ (S. 6) wird hier konzentriert zu-nächst einmal auf ‚Bruxelles‘, darin „Brussel, Brüssel und Brussels mitklingen sollen“ (S. 7). Gemeint ist damit „nicht allein das bloße Territorium der Hauptstadt: Bruxelles, französische und fl ämische Stadt, ist symbolhaft Synonym eines Belgien, das sich hier in einem ihm gemäßen, einem amimetischen, eben ,surrealistischen‘ Konzept vereint“ (ebd.). Wenn es schon schwer fällt, bei der Begriffskombination „Bruxelles surréaliste“ nicht zunächst nur an den mit dieser Stadt verbundenen Surrealismus zu denken, sondern wenn dann im Namen der Stadt eben auch ganz Belgien aufgehoben sein soll, ist es ebenso schwer nachzuvollziehen, dass der Begriff „surréaliste“ hier als Ober- und Sammelbegriff verwendet wird nicht nur für den „historischen Surrealismus im [sic!] Belgien und Frankreich von den 1920er bis in die späten 1940er Jahre und teilweise darüber hinaus“, sondern auch für die „epochenübergreifende Phantastik samt benachbarter Genres“ und für einen „ebenfalls überzeitlichen Manierismus“ (S. 8). Hier wird ein Begriff verwässert, der eigentlich sowohl für Frankreich als auch für Belgien (und andere Länder) jeweils relativ feste Konturen hat.

Diesem Einleitungsbeitrag zu „Konzeptionen des Amimetischen“ folgt dann eine Reihe von sechs unterschiedlichen, jetzt enger literatur- und kunstgeschichtlich orientierten Beiträgen, bevor der Band abgeschlossen wird mit einer poetologischen Eigen-Verortung des fl ämischen, jedoch französisch schreibenden Dichters Jan Baetens, der auch Literatur- und Kulturwissen-schaften in Leuven lehrt („Surréalisme voulu ou surréalisme involontaire?“, S. 119 f.) sowie einer knappen Vorstellung dieses Autors durch die Herausgeber (S. 121) und dem Abdruck einer Auswahl seiner Gedichte (S. 122–134).

Im Anschluss an die bereits erwähnten „Präliminarien zu einer Geschichte der amimetischen frankophonen Literatur Belgiens“ von Thomas Amos (S. 16–41) übernimmt Jana Náprstková-Dratvová, die sich zuvor schon einmal mit dem belgischen Symbolismus im Kontext der fran-zösischsprachigen Literatur beschäftigt hat,3 in ihrem Beitrag „De l’extrême conscience à la naïveté du regard: Rodenbach, Verhaeren, Maeterlinck et les racines symbolistes du surréalisme belge“ die Aufgabe: „élucider la façon dont la poétique symboliste belge a préparé la sensibilité esthétique de la fi n du XIXe siècle, afi n d’accueillir les idées du modernisme et ensuite celle du surréalisme belge“ (S. 42). Dass es insbesondere in Wallonien schon früh „signes avant-coureurs du Surréalisme“ gegeben hat, ist nun nicht neu, sondern auch schon früh betont worden.4 Auch wenn allein Paul Nougé hier als Repräsentant des belgischen Surrealismus in den Blick kommt, so wird doch in zitatenreichen Verweisen mit besonderer Berücksichtigung des Romans (Roden-

2 Von Thomas Amos als Mitherausgeber liegt im Horizont der Themenstellung dieses Sammelbandes vor: Architectura cimmeria. Manie und Manier phantastischer Architektur in Jean Rays ,Malpertuis‘, Heidelberg: Winter, 2006.

3 Vgl. ihren Beitrag „The Belgian Symbolist Novel and its Specifi c Features in the Context of French-speaking Literature“, in: Symbolism, Its Origins and Its Consequences, hg. v. R. Neginsky, Newcastle: Cambridge Scholars Publishing, 2010, S. 169–177.

4 So beispielsweise nachzulesen unter dem Eintrag „Belgique“ in: Dictionnaire Général du Surréalisme et de ses environs, hg. v. A. Biro u. R. Passeron, Paris: PUF, 1982.

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bach), der Lyrik (Verhaeren) und des Theaters (Maeterlinck) herausgestellt, dass es nicht nur um eine „véritable fraternité philosophique“ gehe (S. 51), sondern um eine neue Epistemologie des Objekts in dann auch als verändert angestrebten Kommunikations- bzw. Rezeptionsprozessen.

Um (vor-)surrealistische Spuren bei Georges Rodenbach (sowohl im Bereich des Stils, der Bild-Rhetorik wie einer assoziativen Para-Logik) geht es auch der Siegener Germanistin Annette Runte, die einen Forschungsschwerpunkt zu Literatur, Psychoanalyse und medizinischem Wissen hat und die sich hier mit dem von Rodenbach in mehrfacher Weise in die Literatur eingeführten „sujet du béguinage“ beschäftigt. Der vor allem in Flandern seit dem frühen Mittelalter existie-rende Laienorden von Frauen („des ‚femmes recluses‘ vivant en communauté quasi-religieuse“, S. 53) galt für junge Frauen wie für Witwen als eine Alternative zu Ehe und Kloster. Die mystische Welt der Beguinen ist bei Rodenbach auch eine Welt der „hystériques“, und so ist der Beitrag auch überschrieben mit „béguines mystériques“ (mit einem von Luce Irigaray eingeführten Neologismus). Neben einer psychoanalytisch orientierten Lektüre von Bruges-la-Morte und einer kurzen Erörterung der „oscillation entre discours religieux et érotique“ (S. 58) in dem Gedicht „Béguinage Flamand“ steht die Erzählsammlung Musée de Béguines im Vordergrund (mit einer Abgrenzung zu Marcel Schwobs im gleichen Jahr erschienenen Vies imaginaires). Hier erscheinen die Beguinen nun als „slightly perverted modern hysterics“ (S. 137), die bei Rodenbach mystifi ziert sind, während sie bei den Surrealisten idealisiert werden. Die „traces surréalistes“ bei Rodenbachs „mise-en-scène de la différence sexuelle“ (S. 54) sind Nebenef-fekte und werden hier auch in Parallele gesehen zu einer feministischen Dekonstruktion (Julia Kristeva) von „mystérique“.

Der Beitrag von Juliane Prade, Komparatistin in Frankfurt, untersucht unter dem Titel „Lire avec lenteur – un somptueux lacis. Lecomte liest die Stadt“ die 1936 von Marcel Lecomte (1900–1966) publizierte Sammlung von Prosagedichten Le Vertige du réel unter dem Aspekt, wie die Stadt, von der man lediglich annehmen kann, dass es Brüssel ist, bei diesem Mitglied der Brüsseler Surrealistengruppe ‚Correspondance‘ erscheint. Dies geschieht in subtilen und zumeist überzeugenden Interpretationen von fünf ,Stücken‘ aus dieser Sammlung (auch vor dem Hintergrund von Bretons Nadja), in denen „die Beobachtung des Beobachtens“ (S. 73) das charakteristische Merkmal ist.

Christian Grünnagel, Romanist in Gießen, der den Marquis de Sade schon einmal mit Giorgio Agamben gelesen hat,5 sucht hier nach Spuren von Sade im belgischen Surrealismus („Bruxelles, boudoir sadien. Le divin marquis et le surréalisme belge“, S. 84–105). Was für die Pariser Sur-realisten als gängig und bekannt zu betrachten ist (dass sie in Texten und Bildern oftmals auf Sade zurückgreifen als „réception explicite de l’œuvre sadienne et la présence d’éléments sadiques“, S. 84), gilt nicht in gleichem Maße für den Surrealismus in Belgien. Vf. untersucht hier in kluger Argumentation an drei Beispielen aus der Literatur und Malerei die Präsenz einer „intertextualité sadienne“ und einer „perversion sadique“: an dem Essai-Band Érotiques von Paul Nougé und dessen Photo-Text-Band Subversion des images sowie an dem mit La Philosophie dans le boudoir betitelten Gemälde von René Magritte. „Mais quel rôle joue Bruxelles dans tout cela?“, fragt Vf. selbst (S. 103) und hätte sich diesen Schlenker einer gesuchten Anbindung an das Rahmen-thema ersparen können (nur um die Bezugnahme auf Sade dann in einem eher kleinbürgerlichen surrealistischen boudoir zu situieren im Kontrast zu einem offi ziellen Brüssel, in dem wiederum Magritte insbesondere die Rolle des Bürgerlichen spielt).

5 „Sade mit Agamben gelesen. Das Paradox der Souveränität in der Philosophie dans le boudoir“, in: Diskurs. Politikwissenschaftliche und geschichtsphilosophische Interventionen 2 (2006), S. 6–17.

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Angelos Triantafyllou6 beschäftigt sich unter dem Titel „L’objectile surréaliste: Magritte, Dotremont et Breton“ (S. 106–118) mit dem objet surréaliste, insbesondere dem poème-objet als „a real mark oft the exchange between surrealist Brussels and Paris“ (S. 138).7 Vf. versteht hier auch die beiden Städte als imaginäre und imaginierte Städte für die Surrealisten und mit Deleuzes Begriff des „objectile“, wo statt einer „moule spatiale“ (rapport forme-matière) eine „modulation temporelle“ herausgestellt wird, verweist er auf eine Krise bzw. einen neuen Status des Objekts, wozu auch die Stadt gehört: „Sans dimensions, rien que des forces, rien que des attentes d’événements, Paris et Bruxelles, objectiles surréalistes, rapports entre une fréquence et une membrance“ (S. 108). Mit einer „Crise de l’objet“ hatte sich auch André Breton beschäftigt, und Vf. folgert:

C’est pour rendre caduc tout système sémantique que les surréalistes ont créé des objets, pour se reporter d’un bond à la naissance du signifi ant, aux mots et aux formes sans rides. Et si ces objets fussent si peu résistants et assemblés par des moyens de fortune, rapide-ment disparus, si leur signifi ant fut fl ottant, fl uctuant même, ce n’était plus à cause de leur surplus de signifi cation mythique ou esthétique […] mais parce qu’ils n’étaient rien que des plans et des croquis: des infl exions, des vecteurs et des cadrages, non calculables, inanticipables, rien que des objectiles. Ou des poèmes-objets comme dirait Breton. (S. 109)

Im weiteren Verlauf erörtert Vf. die Objektvorstellungen und -realisierungen bei Breton, vor allem bei Magritte und auch im Bereich der Logogramme von Christian Dotremont (von denen man allerdings eine Abbildung vermisst) und stellt heraus, dass im Gefolge Bretons die beiden belgischen Surrealisten dem Objekt, das aus einem subversiven Humor erwächst und in dem sich Wunsch und Wahrnehmung verbinden, einen neuen Status zuweisen.

Der Sammelband Bruxelles surréaliste soll – nach Intention der Herausgeber – „einen gewissen Pioniercharakter haben und […] der Romanistik Impulse geben“ (S. 12); zahlreiche Kollegen hätten in persönlichen Gesprächen „ausdrücklich das für die deutschsprachige Ro-manistik immer noch geltende Desiderat einer Beschäftigung mit den literatur-, sprach- oder kulturwissenschaftlichen Spezifi ka des frankophonen Belgiens“ bestätigt (S. 13). Leider fi nden sich in diesem Buch aber kein Wort und keine einzige bibliographische Angabe dazu, dass Belgien auch in der deutschen Romanistik (über diesen Band hinaus) präsent war und ist: Die Universitäten Marburg und Aachen haben eine ‚Arbeitsstelle für französischsprachige Literatur Belgiens‘ (Leitung: Ulrich Winter, vormals Hans-Joachim Lope) bzw. ein ‚Centre de Langue et de Littérature françaises de Belgique‘ (Leitung: Anne Begenat-Neuschäfer); und an einschlägigen Publikationen aus der deutschsprachigen Romanistik ist doch – auch wenn es gewiss mehr sein könnte, was immer wünschenswert ist – das eine oder andere zu vermelden. „Pionier“arbeit für ein „immer noch geltendes Desiderat“ – das klingt etwas überzogen, denn auch die Sektion zu Belgien auf dem Kongress des Franko-Romanisten-Verbandes 2010, aus der dieser Band hervorgegangen ist, ist beileibe nicht die erste Sektion auf Fachkongressen der deutschsprachigen Romanistik zu Belgien.8 Die französischsprachige Literatur Belgiens

6 Seine thèse zum Surrealismus von 1997 wurde publiziert als: Images de la dialectique et dialectique de l’image dans l’œuvre théorique et poétique d’André Breton, Lille: Presses Universitaires du Sep-tentrion, 1999.

7 Unter dem Titel Le Surréalisme et l’objet hat gerade Didier Ottinger im Centre Pompidou Paris eine Ausstellung gestaltet (30.10.2013–3.3.2014), deren alphabetisch gestalteter Katalog ein wichtiges Lexikon zum Thema darstellt.

8 Als Beispiel für Veröffentlichungen seien – ohne näher auf Aufsätze zur frankophonen belgischen Literatur in Zeitschriften oder Sammelbänden einzugehen – nur einige ausgewählte Publikationen (in Verbindung mit diesen Belgienzentren) genannt:

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(wie weit oder auch wie eng diese zu fassen ist) ist also in der deutschsprachigen Romanistik keineswegs eine terra incognita, und auch sprachwissenschaftliche Spezifi ka des frankophonen Belgiens werden hier erforscht.9

Dieser Band der beiden deutschen Romanisten (alle anderen Beiträger kommen aus anderen Fächern bzw. Ländern) zu einer amimetischen Thematik und Darstellungsweise als einer Kon-stante belgischer Literatur und Kunst liefert weitere neue Steine für Anteile an einem Belgienhaus in der Romanistik, doch man wünschte sich mit den Herausgebern, dass „weitere Forschung dieses Desiderat [= gegen eine Ausklammerung der belgischen Literatur in niederländischer Sprache, H.T.S.] beheben und eine angezeigte gesamt-belgische Betrachtung wagen würde“ (S. 7), welche Spezifi ka von „Sprachhabitus, Verlagswesen, Publikumsstruktur und – nicht zu-letzt – die sozio-kulturellen Voraussetzungen für das Entstehen und Funktionieren von Literatur“ in Belgien herausstellen und so „nach den Gemeinsamkeiten der beiden großen Sprachgruppen des Landes fragen“ würde.10 Schwierig bleibt es dann immer noch, einzelne belgische Autoren

Hans-Joachim Lope/Hans Felten (Hgg.), Literatur im französischsprachigen Belgien, Frankfurt a. M.: Lang, 1990; Hans-Joachim Lope, L’Écrivain belge devant l’Histoire. Colloque international organisé à l’université de Marburg les 12 et 13 octobre 1990, Frankfurt a. M.: Lang, 1993; Hans-Joachim Lope/Anne Neuschäfer/Marc Quaghebeur (Hgg.), Les Lettres belges au présent. Actes du Congrès des Romanistes allemands (Osnabrück, 27–30 septembre 1999), Frankfurt a. M.: Lang, 2001; Anne Begenat-Neuschäfer, Belgien im Blick: Interkulturelle Bestandsnahmen/Regards croisés sur la Belgique contemporaine/Blikken op België: Interculturele Beschouwingen, Frankfurt a. M.: Lang, 2007. Weitere Bände dieser Autorin sind in der Reihe „Belgien im Fokus. Geschichte – Sprache – Kulturen“ im Peter Lang Verlag erschienen: Erinnert sei im Zusammenhang mit der Themenstellung dieses Buches auch an das von Pierre Halen und Anne Neuschäfer herausgegebene Dossier in der Zeitschrift lendemains 98/99 (2000): „Die andere Modernität: Avantgarden und Modernismen der Zwischenkriegszeit im französischsprachigen Belgien“ oder an das ebenfalls von diesen Autoren verantwortete Themenheft der Zeitschrift Textyles. Revue des lettres belges de langue française 20 (2001): „Alternatives modernistes (1919–1939)“.

Dass es auch weitere einschlägige Arbeiten aus der Romanistik zu Autoren des französischspra-chigen Belgien gibt (sei es beispielsweise vielfach zu den Symbolisten, zu René Kalisky, zu Jean Ray, Thomas Owen, Henry Bachau, Pierre Mertens oder auch zu Christian Dotremont oder zu der Comic-Serie von F. Schuiten und B. Peeters), sei nur ergänzend betont auch mit einem Hinweis auf den von der Paderborner Romanistin Sabine Schmitz zusammen mit dem belgischen Kollegen Hubert Roland herausgegebenen Sammelband Pour une iconographie des identités culturelles et nationales. La construction des images collectives à travers le texte et l’image/Ikonographie kultureller und nationaler Identität. Zur Konstruktion kollektiver images in Text und Bild, Brüssel/Frankfurt a. M.: Lang, 2004 mit einer Reihe von Beiträgen zu Belgien.

9 Sprachwissenschaftliche Standardwerke zum Französischen in Belgien kommen – was naheliegend ist – aus Belgien, wie z. B. Daniel Blampain u. a., Le Français en Belgique. Une langue, une commu-nauté, Louvain-la-Neuve: Duculot, 1997. Doch auch in der deutschen Romanistik sind Forschungen zu vermelden wie z. B. Beiträge von Jürgen Erfurt und Heinz Jürgen Wolf in dem Sammelband Wolfgang Dahmen/Günter Holtus/Johannes Kramer/Michael Metzeltin/Christian Schmitt/Otto Win-kelmann (Hgg.), Germanisch und Romanisch in Belgien und Luxemburg. Romanistisches Kolloqui-um VI, Tübingen: Narr, 1992 oder von Ingo Kolboom im Handbuch Französisch, 2. Aufl ., Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2008 und von Regine Würstle im Lexikon der Romanistischen Linguistik V,1, Tübingen: Niemeyer, 1990, S. 717–723. Auch das Buch von Bernhard Pöll, Französisch außerhalb Frankreichs. Geschichte, Status und Profi l regionaler und nationaler Varietäten, Tübingen: Niemeyer, 1998 behandelt ausführlich den Status des Französischen in Belgien.

10 Hans-Joachim Lope, „Die französischsprachige Literatur Belgiens“, in: Handbuch Französisch. Sprache – Literatur – Kultur – Gesellschaft, hg. v. I. Kolboom, T. Kotschi u. E. Reichel, Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2002, S. 743–750. – Ü berarbeitet in ibid., 2. Aufl . 2008, S. 858–866, hier: S. 865.

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014

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zu verorten, die in Belgien und in Frankreich leben, vorwiegend aber in Frankreich publizieren und bei denen sich dann fragen lässt, zu welchem literarischen Feld sie gehören (man denke beispielsweise an bekannte Autoren wie Michaux, Simenon, Hergé oder Pierre Mertens, der seinerseits eine belgitude kritisch hinterfragt, oder auch jüngst an Jean-Philippe Toussaint, den derzeit bekanntesten belgischen Gegenwartsautor).11

Düsseldorf Hans T. SIEPE

11 Zu einer Lektüre von Jean-Philippe Toussaint, die sich überraschend an einer belgischen National-identität orientiert (da der Autor eigentlich ganz im Feld der französischen Literatur zu situieren ist), vgl. jüngst: José Domingues de Almeida, „Une salle de bain qui décline sa nationalité/Jean-Philippe Toussaint: écrivain belge“, in: Intercâmbio 6 (2013), S. 24–34.

Michael BROPHY/Bernard FOURNIER (Hgg.), Guillevic maintenant. Colloque de Cerisy 11–18 juillet 2009 (Poétiques et esthétiques XXe–XXIe siècles, 5), Paris: Champion, 2011, 423 S.

Die literaturwissenschaftliche Kritik meint es gut mit Eugène Guillevic (1907–1997). In nicht einmal zehn Jahren fanden zu seinen Ehren fünf Kolloquien statt: Toronto (2001), Angers (2002), Rennes-Carnac (2007), Dublin (2007) und, im Jahr 2009, Cerisy. Die Organisatoren und die Teilnehmer dieser Tagungen sind oft international agierende Guillevic-Kritiker und -Kritikerinnen de longue date, die einander kennen. Daraus erwächst dem hier zu besprechenden Band der immense Vorteil, dass sich die Einzelbeiträge immer wieder zu einem gelingenden Ganzen zusammenschließen. Im Zentrum der 26 Beiträge steht die spannende Frage nach der Semantik, gar nach der Ontologie des polysemen Begriffs des maintenant, der prägend ist für die Lyrik Guillevics. Der Begriff durchzieht und verknüpft zum einen das Gesamtwerk des Dichters, zum anderen fällt es ihm zu, der Sammeltitel eines Lyrikbandes im Spätwerk – Main-tenant (1993) – zu sein.

Die Tagung in Cerisy nähert sich mit sechs hermeneutischen Aspekten diesem zentralen Begriff des ‚Jetzt‘ bzw. des ‚Festhaltens‘ (< maintenir) und seiner Bedeutungen im poietischen Universum des Dichters: Présent, Le(s) temps, Énigme et joie de l’être-là, Matière-Esprit, Écriture, Correspondances. Wie steht es also um Guillevic ‚heute‘ – auch das kann maintenant bedeuten?

Auffällig ist das große Gewicht, das zeit- bzw. existenzphilosophischen Kategorien einge-räumt wird. Das passt zu der Frage nach dem Maintenant bei Guillevic, wie ein Blick auf die Beiträge der ersten Sektion verdeutlicht: Von „L’instant qui dure“ (Delphine Garnaud) geht es über „L’éros, l’instant“ (María Lopo) und „Maintenant ou l’autre présent chez Guillevic“ (Monique W. Labidoire) zu „Le présent vivant“ (Muriel Tenne). Der schillernde Oberbegriff des Présent führt gleichsam mühelos hin zum Aspekt des emphatischen Lebensbegriffs présent vivant. Diese semantische und auch argumentative Kohärenz bzw. die subtile implizite wech-selseitige Bezugnahme ist auch über die einzelnen Sektionen hinweg nachlesbar. So gibt es bei Delphine Garnaud den „instant sphérique“ (S. 27–29), María Lopo ist dem epiphanischen „instant océanique“ (S. 38) auf der Spur, während Sara Arena den „instant présent“ im Spiegel der „présence“ (S. 285–298) betrachtet.

Mehrdeutig ist auch das Stichwort der zweiten Abteilung des Sammelbandes, Le(s) temps. Während das Gros der französischen Lyrik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so die

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Ausgangsthese, der Zeichenhaftigkeit eines rätselhaften Anderswo, „l’ailleurs“, folgt (Jean-Yves Debreuille, S. 75), strebt Guillevic die Intensivierung des Hier und Jetzt an („densifi er l’ici-maintenant“, S. 76). Wie kann das gelingen? Indem der Dichter den Augenblick kunstvoll dehnt („dilater l’instant“, S. 84). Die Voraussetzung dafür ist freilich die egalitäre Betrachtung der Welt des Seienden als „existants en transformation“ (S. 85). Im Rekurs auf Gilles Deleuze wird sogar der Begriff des aiôn wiederentdeckt, das ist „le temps de la vie en devenir“ (S. 98). Dieses aiôn bündelt bei Steven Winspur das „enchevêtrement fondamental des existants“ (S. 92). In gegenseitiger Durchdringung pluralisiert sich der Seinsbegriff, denn, so das Fazit, „nous sommes habités par des vies plurielles“ (S. 96). Der Zeitbegriff des Dichters ist „non-chronologique“ (S. 100). So wird der Begriff der Zukunft, l’avenir, graphisch und seinsmäßig aufgehoben in einem „à-venir“ (Michael Brophy, S. 107–115), dem also, was auf (uns) zukommt, was da heraufzieht.

Mit der dritten Sektion rückt l’être-là in das Zentrum der kritischen Aufmerksamkeit. Und dieses Da-sein, wie zuvor das „à-venir“, ist konstitutiv auch für Guillevics maintenant. Suzanne Allaire refl ektiert die dianoetische Dimension dieser Lyrik in einem triadischen Gedanken-prozess – penser la vie / le temps / le vide (S. 119–135). In dieser „tension du questionne-ment“ (S. 119) soll das Jetzt neu in Erscheinung treten, Anlass für Michael Bishop, die Poetik Guillevics als einen „travail ontologique“ (S. 149) differenziert zu analysieren. Sergio Villani entdeckt im maintenant, das er als deverbale Form von ‚maintenir‘ ableitet, „essentiellement un état d’esprit“ (S. 158), einen Bewusstseinszustand, den Sara Arena sogar als „un pur état de présence“ (S. 288) auffasst und gleichsam perpetuiert. Die présence hält häufi ger Einzug in die Rekonstruktion der poetologischen Strukturen der Texte Guillevics. Dergestalt spielen die Semantiken von présent und présence ineinander. Béatrice Bonhomme schlägt die Metapher der Pore, der kleinen Öffnung in einer Hülle, zur Bezeichnung des dichterischen Gestus vor, der die ganze Welt der Phänomene miteinander kommunizieren lässt. Guillevic ist demnach ein „poète poreux“, sein Telos heißt: „élargi[r] l’univers“ und „ouvr[ir] des trouées“ (S. 164). Tanguy Wuillème identifi ziert darin das Mögliche, le possible, eines kreativen Impulses, der sich gegen „l’étroitesse et l’agressivité du monde“ (S. 176) wendet.

Auf einer nächsten Ebene stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Materie und Geist bzw. danach, wie matière-esprit als Kontinuum zu denken ist. Nicht zufällig hat Guillevic der Quantenphysik den Begriff der „quanta“ abgeschaut, um die lyrischen Subgattungen seines Werks zu erweitern. Das legt es nahe, seine „quanta“ als „paquets d’énergie“ zu lesen (Monique Chefdor, S. 205) im Kontext naturwissenschaftlicher „déconstruction“ und philosophischer „incertitude“ (Bernard Fournier, S. 217–233). Gibt es im Terrain des „athéisme spiritualiste“ (S. 215) eines Guillevic allen Nicht-Erwartungen zum Trotz doch noch eine „notion de Dieu“ (S. 201)? Das bejaht Bernard-Joseph Samain, Benediktiner-Mönch und Literaturkritiker, des-sen Wege sich mit denen Guillevics gekreuzt haben, voll und ganz. Er entdeckt und illustriert Guillevics „anthropologie monastique“, die das Leben des „poète“ dem des „moine“ (S. 236) (fast) identisch macht, denn der Begriff des gr. monachos meint „à la fois unifi é en soi et uni à tous“ (S. 239). Während Samain den Raum des Universums (für Guillevic bzw. von seiner Dichtung ausgehend) auf den Gottesbegriff hin durchlässig machen möchte, zieht Reynald André Chalard es vor, der Metaphysik diese Reichweite zu nehmen. In seinen Überlegungen spielt „la métaphysique“ keine Rolle mehr, er spricht von „le métaphysique“ (S. 258), das man auch als ein quantenphysikalisches Rauschen auffassen kann, eine Welt voller geheimnisvoller Materie, in der es – wie in der Dichtung von Guillevic auch – die schwarzen Löcher (S. 211) gibt.

Was leistet Guillevics Écriture bzw. welche Kategorien sind geeignet, eine Vorstellung von seiner Poietik zu geben? Für Glenn W. Fetzer wie auch für Sara Arena ist eine erste Kategorie mit dem besonderen Beziehungsgefl echt gegeben, das „le mot“ und „l’instant“ (S. 273) charak-

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terisiert und das das Phänomen der Kohäsion (cohésion „textuelle“, S. 275 und „situationnelle“, S. 278) bzw. der „présence“ (S. 291) sichtbar werden lässt. Jacques Lardoux lauscht dem Phä-nomen der Stimme des Dichters nach, die bei Lesungen aufgezeichnet wurde, und er konstatiert einen „contact avec la grande Nature“ (S. 307). Bertrand Degott richtet sein Augenmerk auf die Strukturen der „allégorie du temps“ (S. 314), die als spezifi scher Schriftsinn (des Metaphy-sischen?) einer Sammlung von Sonetten eigen ist, die dankenswerterweise gleich abgedruckt worden sind (S. 317–325). In den Wörtern des Dichters verbergen sich noch andere Wörter, denen Stella Harvey ihr Gehör schenkt (z. B. „nuit“ in „s’ennuie“, S. 334). Dieses Procedere macht sensibel für die „tension entre l’écrit et l’oralité“ (S. 327), ein besonderes Spannungselement der Sprachkunst Guillevics, der die Wissenschaftlerin „une profondeur à dimension mythique“ (S. 336) attestiert. Auch die „réalité urbaine“, seit Baudelaire ein Thema der Moderne, ist bei Michael G. Kelly Bestandteil des (asymptotischen) Maintenant Guillevics, dessen Fluchtlinien sich nicht im Unendlichen berühren.

Correspondances lautet der Titel der sechsten und letzten Abteilung. Hier geht es mit Fran-çoise Nicol um Gedichte, die sich Malern widmen, die Guillevic sehr schätzt und zu denen Dubuffet, Orlando Pelayo, Vera Pagava und andere mehr zählen. In diesen Texten legt es der Dichter darauf an, „le secret du geste furtif du peintre“ (S. 361) zu erhaschen. Einige dieser wenig bekannten Texte fi nden sich im Anhang. Guillevic verbindet mit Cézanne, so Maureen Smith, der „goût du réel“ (S. 373) einerseits, die Magie des „faire durer l’instant“ (S. 381) andererseits, wie der Blick auf die Äpfel als Motiv des Malers anschaulich machen soll. Der Überblick, den Tivadar Gorilovics über die Rezeption von Guillevic in Ungarn vorlegt, zeigt, dass sich das Werk und die Person des Dichters Guillevic als prosperierender Bestandteil der französischen literarischen Kultur jenseits von Grenzen etabliert hat.

„Toujours il pleut. / Il pleut du temps“ (S. 25). Der lyrische Diskurs des Eugène Guillevic vermag es, wie dieses Beispiel aus der Sammlung Maintenant zeigt, durch seine Einfachheit zu überraschen. Auf den ersten Blick scheint es sehr wohl möglich, dass diese Texte ohne erlesene hermeneutische Kategorien auskommen. Der hier vorgelegte Tagungsband zeigt im Detail und in der Summe, dass es sich indes auch lohnt, bei Guillevic interpretatorisch sehr anspruchsvoll zu sein. Die Angebote an ergiebigen Metaphern wie die des „poète poreux“, des „poète de la caresse“ (S. 138), die poetologischen Formeln wie die der „quasi-osmose entre l’humain, l’animal, le végétal, le minéral“ (S. 165), die Rekonstruktion der Performanz einer gegebenen „dialectique entre le vertical et l’horizontal“ (S. 188), dies und anderes mehr kann befl ügeln, der Dichtung Erkenntnisse abzugewinnen. Alle Interpreten, die diese Tagung zusammengebracht hat, kultivieren den intensiven Bezug zu den Texten des Dichters; sie sind mit dem umfangreichen Werk vertraut, und sie wissen um die Vorläufi gkeit ästhetischer Urteile. Andererseits leuchten immer wieder Elemente des Dialogischen von Guillevic und seinen Zeitgenossen hervor. Da ist die présence eines Bonnefoy ebenso zu nennen wie das creuser (S. 138) als Bergbau-Metapher zur Veranschaulichung der Mühsal des Dichters, die Michel Butor in seinen Textes récents – 37 pages (Heidelberg 2012) verwendet. An solchen Momenten offenbart sich die Ergiebigkeit die-ses Tagungsbands. Er wurde mit einer umfangreichen Bibliographie und einem index nominum ausgestattet. Das ist heute fast schon Luxus.

Heidelberg Christof WEIAND

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Cahiers Claude Simon 5. Revue annuelle de l’Association des Lecteurs de Claude Simon, Per-pignan: Presses Universitaires de Perpignan, 2009, 174 S.

Auf den ersten Blick mutet es paradox an, dass ein Zeitschriftenprojekt im Titel den Eigenna-men desjenigen Schriftstellers führt, der wie kaum ein anderer darauf insistierte, dass Schreiben nicht ein von einer Person ausgeführter intentionaler Akt sei, vielmehr einen Prozess darstelle, der vom Material der Sprache selbst geleitet werde und quasi ‚Wort für Wort‘ voranschreite.1 Doch die Herausgeber sind sich dieser Problemstellung durchaus bewusst; keine Studien wol-len sie edieren, sondern eben cahiers, Schreibhefte, die zum einen den Prozess von Simons Schreiben dokumentieren und zum anderen Anlässe zu Schreibprozessen bieten, welche Simons Schreiben fortführen.

Die einzelnen Lieferungen der Cahiers Claude Simon folgen sämtlich einem ähnlichen Ordnungsschema. Zunächst präsentiert jeder Band einen verstreut veröffentlichten Text Claude Simons, versehen mit Erläuterungen über dessen Ort innerhalb des Simon’schen Schreibpro-zesses. Dieser fünfte Band wartet mit einem besonderen Fundstück auf, einem Text, der jenes programmatische Leitmotiv von Simons Schreiben bereits im Titel trägt: Mot à mot. In den vier Skizzen dieses kurzen Textes, die allesamt von Simons Interesse an der Verwandlung existen-tieller Erfahrungen – wie Nahrungsaufnahme, Trauer, Verlust und Besitz – durch symbolische Handlungen zu sozialen Fakten zeugen, scheint in kaum überbietbarer Präzision ein grundle-gendes Thema seines Schreibens auf. Beispielhaft inszeniert Simon dort, dass Wahrnehmung und Kommunikation untrennbar miteinander verfl ochten sind, dass etwas wahrnehmbar wird, indem es zum Gegenstand eines Versprachlichungsprozesses wird. Schritt für Schritt verdichtet sich die Sprache als prozessuales und dialogisches Medium um Kerne dieser Erfahrungen und verleiht derart der jeweiligen Erfahrung performativ eine Kontur.

Den Konventionen monographischer Zeitschriften entspricht auch der zweite Abschnitt, Dossier critique. Er umfasst eine Reihe an Lektüren und Analysen, die jeweils einem Text und einer zentralen Fragestellung im ‚Werk‘ Claude Simons gewidmet sind, und will damit einen Einblick in die Simon-Forschung bieten. Um Simons Texte auf kultur- und medienwissenschaft-liche Fragestellungen hin zu öffnen, hat der vorliegende Band die Fragestellung ‚Photographie und Kino im Werk Simons‘ in den Fokus genommen, wobei ein Schwerpunkt der Diskussion auf dem frühen Roman Le Vent liegt. Bedauerlicherweise liefern die einzelnen Beiträge dieser Sektion nur einen weiteren Beleg dafür, wie stark sich doch die französische Literaturwissen-schaft von der zeitgenössischen, an Medien- und Kulturwissenschaft ausgerichteten, internati-onalen akademischen Kultur isoliert hat. Bérénice Bonhommes Überlegungen zum Verhältnis Simons zur Kinematographie sind nichts als eine thematische Lektüre von Simons Texten, ohne weiterführende Überlegungen zum Verhältnis zwischen bewegtem Bild und Text. Auch Aude Michard beschränkt sich darauf, zu Le Vent eine – mit Dostojewski und Faulkner nicht ganz unbekannte – literarische Tradition der Darstellung von ‚Idioten‘ zu rekonstruieren, ohne näherhin zu beleuchten, was Avital Ronell in einer einfl ussreichen Studie an vielen Beispiel-texten dargelegt hat: wie gerade in diesen Erfahrungen des Nicht-Verstehens das Denken und die Rationalität des 19. und 20. Jahrhunderts sich auf ihr Anderes zu öffnen vermögen.2 Die Beiträge von Jean-Pierre Daumard und Annie Clément-Perrier stellen sich, indem sie Le Vent bzw. verschiedene Bezugnahmen Simons auf die Photographie im Kontext des Diskurses über die Melancholie diskutieren, zumindest der Auseinandersetzung mit dem ‚Undarstellbaren‘ im

1 Vgl. Claude Simon, „La fi ction mot à mot“, in: ders., Œuvres (Bibliothèque de la Pléiade), hg. v. A. Duncan u. J. Duffy, Paris: Gallimard, 2006, S. 1184–1202.

2 Avital Ronell, Stupidity, Urbana/Chicago: University of Illinois Press, 2003.

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Schreiben Simons. Gerade aber die mediale Dimension der Fragestellung verschenken beide Texte. Dabei böte doch Irene Albers’ – bereits 2007 ins Französische übersetzte – grundlegende Studie zum Photographischen bei Claude Simon3 eine ideale Anschlussmöglichkeit. Ausgehend von ihren Analysen zum Zusammenhang zwischen Photographie und der Inszenierung von Serien sich jeglicher Sinnzuschreibung verweigernder diskontinuierlicher ‚Momentaufnahmen‘ in Le Vent hätte man die historische Dimension der spezifi schen Zeitlichkeit des Romans sicherlich besser zu fassen vermocht, als dies mit vagen Beschreibungen zum melancholischen Charakter der écriture Simons geschieht.

Den Abschluss der Bände bildet jeweils eine bibliographische Sektion, die nicht nur Neu-ausgaben und Übersetzungen registriert sowie Veröffentlichungen zu Claude Simon aufl istet und auszugsweise kommentiert, sondern auch auf wichtige diesbezügliche Veranstaltungen eingeht.

Sind die Cahiers Claude Simon also doch nur eine durchschnittlich monographisch ausge-richtete Zeitschrift, wie sie gerade die französische Literaturwissenschaft in Mengen produziert? Diese Frage könnte man problemlos mit ‚Ja‘ beantworten, wären da nicht die übrigen Sektionen, welche sich verweigern, die Texte Simons zu einem ‚Werk‘ im traditionellen Sinne zu machen, also ihre materielle Basis durch Textkritik und ihren Sinngehalt durch Interpretation abzusi-chern, sondern vielmehr versuchen, Simons Schreiben als Prozess zu begreifen und damit die Texte sozusagen offen zu halten. Archives präsentiert Materialien aus dem Kontext der Genese der Texte und belegt so den langwierigen Prozess der Transformation, dem Simon historische Dokumente, Bilder, Photographien und fremde Texte unterzogen hat.

Im fünften Band dokumentiert Manuel A. Tost Planet in diesem Sinne mithilfe zeitgenös-sischer Photographien einige der Ereignisse aus dem vom Parteienstreit des Bürgerkriegs zer-rissenen Barcelona des Jahres 1936, die Claude Simon in seinem Roman Le Palace verarbeitet hat. Die Gelegenheit, an dieser Stelle am Material zu problematisieren, was es bedeuten mag, dass Simons Schreiben in so starkem Maße bezogen ist auf photographische Dokumente und das Reale, das dort augenblickshaft und unverfügbar aufscheint, lässt Tost Planet aber ungenutzt und begnügt sich damit, aus seinem Briefwechsel mit Claude Simon zu zitieren.

Während dieser dritte Teil also die Seite der Produktion fokussiert, lenken die vierte und fünfte Sektion den Blick auf die Rezeption der Texte. Für die vierte Sektion, Lectures étrangères, die sich der Rezeption des Werkes von Simon außerhalb Frankreichs widmet, ist hier ebenfalls Tost Planet verantwortlich, der die spanischen und katalanischen Rezensionen sowie wis-senschaftlichen Werke zu Texten Claude Simons anhand einer ausführlichen kommentierten Bibliographie vorstellt.

In der fünften Sektion, Paroles d’écrivains, erhält jeweils ein zeitgenössischer Autor die Gelegenheit, sich mit dem Werk Simons auseinanderzusetzen. Den Schreibheften gelingt es so, eindrucksvoll zu dokumentieren, in welch vielfältiger Art und Weise das Schreiben Simons in die Praxis zeitgenössischer Autoren eingefl ochten ist. Jean Rouaud demonstriert in seinem Beitrag zum vorliegenden Band, welche Möglichkeiten das Konzept der Herausgeber bietet, wenn man es nur annimmt. Souverän setzt er einen Kontrapunkt zum Titel von Simons eige-nem, den Band eröffnenden, Text. Nicht um das mot à mot geht es ihm bei Simon, sondern um das, womit er provokativ seinen Text beendet: „le vécu“ (S. 153). Mit einem kurzen Abriss der französischen Militärgeschichte gelingt ihm der schlüssige Beweis, dass das in den Texten Si-mons in Variationen ständig wiederkehrende Bild vom Tod des Rittmeisters de Reixach auf ein in der Geschichte Frankreichs, seit der Schlacht bei Azincourt, selbst wiederkehrendes Muster

3 Irene Albers, Photographische Momente bei Claude Simon, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002 [frz. Claude Simon. Moments photographiques, Villeneuve d’Ascq: Presses universitaires du Septentrion, 2007].

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vom Scheitern verweist. Diese Niederlage ritterlichen Verhaltens angesichts eines technisch überlegenen Gegners hatte dabei nie etwas von der heroischen Aura der Tragödie, mit der es sich selbst umgab, sondern stellte immer schon eine Farce dar, ein eher quichotteskes Verkennen der wahren historischen Gegebenheiten. Simons Schreiben ist für Rouaud also nie einfach nur formales Spiel mit dem kombinatorischen Potential der Sprachzeichen, vielmehr insistiert es auf der Latenz eines Traumas. Wiederholung und Kombination verweisen nicht einfach auf die Abwesenheit des Referenten, sondern resultieren aus einer Erfahrung des „impensable“ (S. 152), der Unverfügbarkeit des Realen. In diesem Bild entdeckt er gleichsam auch den Rouaud in Si-mon und eröffnet so eine neue, in der Rezeption Simons bisher zum großen Teil vernachlässigte Perspektive: den Humor. Jean Rouaud macht das Bild des Rittmeisters zum Bindeglied zwischen zwei scheinbar unvereinbaren Extremen, dem Lächerlichen und der Katastrophe, Don Quijote und dem Einsturz des World Trade Center, und unterstreicht, dass diese Geste des Rittmeisters nichts Erhabenes in sich trägt, nichts weiter darstellt als ein lächerliches Aufbegehren angesichts einer Katastrophe, die schon längst begonnen hat. Diese Erfahrung ist Rouaud zu bedeutend, als dass man sie hinter dem Gelingen formaler Gestalt verbergen und damit letztendlich ästhetisieren darf. Das Bild von der Lächerlichkeit der symbolischen Handlungen des Einzelnen angesichts der katastrophalen Unverfügbarkeit des Realen brennt sich quasi wie eine photographische Momentaufnahme in die Erinnerung ein und bleibt als Letzthorizont einer Erfahrung des Nicht-Verstehens grundloser Grund jeglichen Schreibens. Das Gelächter, das die formalistische Fraktion eines Ricardou oder Robbe-Grillet in Cerisy-la-Salle gegen diesen Wirklichkeitsbezug Simons anschlägt – und das ist in Rouauds Sicht die Pointe der Anekdote, die Simon in Le Jardin des plantes wiedergibt (Simon 2006, S. 1161–1163) –, fällt aus unserer Perspektive auf diejenigen zurück, welche die Insistenz des Realen in der Literatur verleugnen. Rouauds Intervention ist, gerade auch durch die spannungsvolle Beziehung, die sie mit Simons Schreiben und dessen poetologischen Äußerungen eingeht, das gelungen, was alle anderen Beiträge vermissen lassen: Claude Simons Schreiben als etwas erscheinen zu lassen, das uns angeht.

München Hermann DOETSCH

Sarah DESSÌ SCHMID/Jochen HAFNER/Sabine HEINEMANN (Hgg.), Koineisierung und Standardisie-rung in der Romania (Studia Romanica, 166), Heidelberg: Winter, 2011, 281 S.

Der hier zu besprechende Band vereint die Beiträge zu einer Sektion des XXXI. Deutschen Romanistentages in Bonn, die von den Herausgebern unter dem gleichen Titel organisiert wurde. Das Anliegen war, zwei Begriffe zusammenzuführen, die seit einigen Jahren in der Sprachge-schichtsforschung eine wichtige Rolle spielen. Es handelt sich zum einen um den Begriff der Standardisierung, der in der Sprachplanung geprägt wurde, der aber durchaus Elemente der tra-ditionellen Meistererzählungen von der Entstehung der Nationalsprachen aufnimmt. Der zweite ist der der Koineisierung, ein Begriff, der in den letzten Jahrzehnten in der (Stadt-)Dialektologie, der Kreolistik und der Migrationslinguistik verstärkt eingesetzt wurde, um die Entstehung neuer Varietäten bzw. Sprachen zu modellieren. Bereits das Benennen der linguistischen Heimat der beiden Begriffe dürfte sichtbar machen, dass sich beide auf vergleichbare Phänomenbereiche beziehen, aber ein ganz unterschiedliches Potenzial haben. Beide thematisieren Sprachwandel-prozesse, die an bestimmte Typen von Gesellschaft gebunden sind und deshalb das Verhältnis zwischen Sprachlichem und Gesellschaftlichem wie in einem Brennspiegel überdeutlich sicht-

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bar machen. Dieser Gemeinsamkeit steht aber eine unterschiedliche Bewertung der jeweiligen Wandelprozesse gegenüber. Koineisierung gilt vielfach als ‚guter‘ Sprachwandel, weil sie sich ungelenkt, in spontanen Kommunikationssituationen und innerhalb der gesamten Sprecherge-meinschaft vollzieht. Diese quasi emanzipatorische Einschätzung von Koineisierungsprozessen kontrastiert mit der oftmals ablehnenden Haltung gegenüber der Standardisierung, die als von Funktionseliten initiierter Wandelprozess mit den ‚negativen‘ Folgen der Zentralisierung und Verdrängung von regionaler Differenz sowie der Funktionalisierung sprachlicher Normen als gesellschaftlicher Distinktionsmittel eingestuft wird. Das Anliegen der Sektion war es, das Verhältnis der beiden Begriffe sowohl in theoretischer als auch in empirischer Hinsicht genauer zu klären. Wenn historische Fallbeispiele zeigen, dass beide Prozesstypen oftmals miteinander verfl ochten sind, sollte das der Anlass sein, eine „präzisere theoretische und terminologische Unterscheidung dieser Komplexe“ (S. 7) zu erarbeiten.

Der erste Beitrag von Araceli López Serena und Elena Méndez García de Paredes („Apro-ximaciones naturalistas y sociohistóricas en los discursos sobre la estandarización y la lengua estándar“, S. 13–36) stellt die Frage des Verhältnisses zwischen Standardisierung und Koine-isierung vor dem Hintergrund einer expliziten Klärung der zentralen sprachlichen, sozialen und pragmatisch-textuellen Aspekte von Variation und Sprachwandel. Wie auch in zahlreichen anderen Beiträgen des Bandes wird deutlich, dass jede Verständigung über Standardisierung und Koineisierung voraussetzt, dass die sprachtheoretischen Grundlagen des jeweiligen Ansatzes offengelegt werden – oder sogar erst ermittelt werden, denn der Artikel zeigt anhand zahlreicher Beispiele, dass diese beiden Prozessbegriffe in der Linguistik oftmals so eingesetzt werden, dass sie als kompakte und autonome geschichtliche Dynamiken erscheinen und die Frage nach der genauen Art der Einzelhandlungen, die diese kollektiven Prozesse konstituieren, gar nicht mehr gestellt werden kann. Dass die traditionelle Sprachgeschichtsschreibung mit solchen Verkürzungen arbeitete, ist bekannt und wird bereits seit langem aufgedeckt und dekonstruiert (S. 34 f.).1 Dieselbe Verkürzung liegt aber auch vor, wenn man die Standardisierung ausschließlich als das ‚künstliche‘ Ergebnis der Interventionen politisch-ökonomischer Eliten interpretiert und dichotomisch der ‚natürlichen‘ Variation bzw. den ‚natürlichen‘ Koineisierungsprozessen der Mündlichkeit gegenüberstellt (S. 20–22). Derartige Ansätze, die im Sprachlichen nur die Natur, nicht aber die entfremdende Gesellschaft aufspüren wollen und die anstreben, Sprachwissenschaft nach den Grundsätzen und Methoden der Naturwissenschaft zu betreiben (S. 25 f.), führen, so die Autorinnen, mit ihrer Perhorreszierung alles Kulturell-Sozialen zu einem reduktionistischen Sprachbegriff, mit dem Koineisierung nur noch als autonomes Spiel zwischen Entitäten von ungeklärtem ontologischen Status („competencias gramaticales“, „mentes de los hablantes“) unter Rückgriff auf systemtheoretische oder gar darwinistische Metaphern beschrieben werden kann, ohne dass die Einbettung dieser Prozesse in menschliches, interessegeleitetes Handeln auch nur aufscheint (S. 25–29, Zitat S. 27). Ebenso kann die Standardisierung aufgrund der ro-mantischen Gleichsetzung von ‚Natur‘ und herrschaftsfreier Gesellschaft nur mit berechnender Steuerung und Unterdrückung gleichgesetzt werden, sodass das Unplanbare und Ungeplante der Herausbildung der nationalsprachlich dominierten Varietätenräume ausgeblendet bleiben muss (S. 20–25).

Die Autorinnen schlagen deshalb vor, ein Modell des sprachlichen Handelns an den Aus-gangspunkt der Überlegungen zu stellen, das die kulturell-sozialen Dimensionen nicht ausblen-det, sondern ihre Verankerung im rationalen Handeln der historischen Akteure nachzeichnet und bei der ‚Hochrechnung‘ der kollektiven Prozesse aus den einzelnen Kommunikationsakten

1 Vgl. hier etwa die Beiträge in Wulf Oesterreicher/Jochen Hafner (Hgg.), Mit Clio im Gespräch. Romanische Sprachgeschichten und Sprachgeschichtsschreibungen, Tübingen: Narr, 2007.

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berücksichtigt. Dann wird klar, dass zwar sorgfältig zwischen sprachlichen und außersprach-lichen Phänomenen unterschieden werden muss, dass dies aber nicht bedeutet, dass die Re-levanz außersprachlicher Faktoren (Motivationen, Ziele, kulturelle Traditionen etc.) für die sprachlichen Entscheidungen der Sprecher ‚unnatürlich‘ ist. Genauso wenig kann man zwischen ‚unnatürlichen‘ und ‚natürlichen‘ außersprachlichen Faktoren unterscheiden. Menschliche Kommunikation, egal unter welchen spezifi schen kommunikativen Bedingungen, ist von einer einheitlichen Rationalität bestimmt. Deshalb gilt es, einerseits die offensichtlichen Differenzen zwischen dem Bereich der refl ektierten und kontrollierten Distanzkommunikation und der spontanen Nähekommunikation herauszuarbeiten, andererseits aber darauf zu beharren, dass für beide Bereiche dieselbe Art von wissenschaftlicher Behandlung angemessen ist, nämlich das hermeneutisch-erklärende Nachvollziehen rationaler Kommunikationsentscheidungen (und – wie ich hinzufügen würde – das Einbeziehen statistischer Überlegungen in Bezug auf die kollektiven Entwicklungsdimensionen) (S. 29–32).

Der Beitrag von Klaus Grübl („Zum Begriff der Koine(isierung) in der historischen Sprach-wissenschaft“, S. 37–64) leistet eine weitere wichtige Klärung. Bereits im Beitrag von López Serena und Méndez García de Paredes spielte die Überlegung eine große Rolle, dass in be-stimmten Situationen (vor allem im Bereich der Distanzkommunikation) die Wahl supralokal konnotierter Sprachformen – oder sogar das Schaffen derartiger Formen – eine kommunikativ angemessene und somit rational motivierbare Entscheidung der einzelnen Sprecher ist. In hi-storischen Standardisierungsprozessen ist, neben dem (internen und externen) Ausbau, immer auch die Entstehung supralokaler Varietäten eingebunden. Dieser Prozess, der in der Kloss’schen Terminologie Überdachung genannt wird, kann, so die beiden Autorinnen, also auch ‚von unten‘, aus der Analyse der Kommunikationsbedingungen bestimmter Funktionsbereiche, abgeleitet werden.2 Klaus Grübl setzt an dieser Beobachtung an. Zentral ist für ihn die Trennung zwischen der strukturellen und der funktionalen Dimension der Koineisierung, die er im Anschluss an Überlegungen von Jeff Siegel weiterentwickelt (S. 37–46). Siegel hatte darauf verwiesen, dass im Falle der hellenistischen Koiné, dem namengebenden Modell, der strukturell-innersprachliche Aspekt der Koineisierung, also die formbezogenen Ausgleichs- und Mischungsprozesse, und der funktional-varietätenlinguistische, also das Entstehen einer supralokal gültigen Varietät, historisch zusammentreffen.3 Bekanntlich muss dies nicht sein, weil Koineisierungsprozesse auch zur Genese lokaler Sprachformen, etwa von Stadtdialekten, führen können und weil die Funktion überregional gültiger Varietäten auch von Standardsprachen ausgefüllt werden kann. Grübl schlägt deshalb im Anschluss an Peter Koch und Wulf Oesterreicher vor, die Polysemie des Koiné-Begriffs durch die Trennung zwischen einer „Koiné de facto“, dem Ergebnis von strukturellen Ausgleichs- und Mischungsprozessen, und einer „Koiné de iure“, einer in funkti-onaler Hinsicht supralokal gültigen Varietät, aufzulösen,4 und das genaue Verhältnis zwischen der innersprachlichen und der funktionalen Dimension ausgehend vom historischen Einzelfall, nicht jedoch durch Vorentscheidungen im theoretischen Modell zu bestimmen. Ausgehend von zahlreichen Beispielen (Niederdeutsch/Hansesprache, koiné padana/lingua cortigiana, altfran-

2 Zur Aufgliederung des Standardisierungsprozesses in Ausbau- und Überdachungsprozesse bei Heinz Kloss und zur Übertragung der von ihm entwickelten Konzepte auf die romanische Sprachgeschichte vgl. etwa Thomas Krefeld, „Periodisierung“, in: Lexikon der Romanistischen Linguistik, Bd. 4, hg. v. G. Holtus, M. Metzeltin u. C. Schmitt, Tübingen: Niemeyer, 1988, S. 748–762.

3 Jeff Siegel, „Koines and koineization“, in: Language in Society 14 (1985), S. 357–378.4 Peter Koch/Wulf Oesterreicher, „Comparaison historique de l’architecture des langues romanes“,

in: Romanische Sprachgeschichte. Ein internationales Handbuch zur Geschichte der romanischen Sprachen, Bd. 3, hg. v. G. Ernst u. a., Berlin/New York: de Gruyter, 2008, S. 2575–2610.

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zösische Skriptae etc.) entwickelt er eine Typologie von „Kontaktszenarien in vormodernen Standardisierungsprozessen“ (S. 47), die folgende wichtige Präzisierungen erbringt: Grübl zeigt, dass strukturelle Mischungsprozesse nicht auf die mediale Mündlichkeit beschränkt werden können, sondern auch unter den Bedingungen der schriftlichen Kommunikation stattfi nden. Strukturelle Koineisierungen sind außerdem nicht ausschließlich an die Bedingungen einer spontanen face-to-face-Interaktion, also an die Nähesprache, geknüpft. Auch im Bereich der kommunikativen Distanz kann es, wie gerade die mittelalterliche Sprachentwicklung zeigt, zu di-alect mixing kommen. Grübl unterscheidet deshalb zwischen dem Typus der „nähesprachliche[n] Koine isierung strictu sensu“ (S. 47–49), der der klassischen immigrant koiné entspricht, dem Typus der „medial-mündliche[n], gemäßigt nähesprachliche[n] Koinebildung auf supralokaler Ebene“ (S. 49–57), der in etwa mit den regional koinés übereinstimmt, sowie der „schrift-sprachlichen Koinebildung“ (S. 57–60), die, wenn sie in den Überdachungsprozessen kollektiv akzeptiert wird, zu einem „hybriden“ Standard (S. 43) weiterführen kann.

Die vorgeschlagene Typologie überzeugt durch eine sorgfältige und differenzierte Herleitung. Man muss jedoch hinzufügen, dass Grübl auch im Falle eines „monotopischen“ Standards,5 also eines Standards, der ohne vorangehende Koineisierungsprozesse den Varietätenraum überdacht, davon ausgeht, dass Entlehnungen, ‚Mischungen‘ und ähnliche Anpassungsprozesse an die neue supralokale Funktion auftreten (vgl. S. 60 f.). Es stellt sich deshalb die Frage, ob es nicht doch sinnvoller ist, die Entstehung supralokaler Varietäten unter dem Begriff der Überdachung zusammenzufassen und von der nunmehr ausschließlich sprachstrukturell ausgerichteten Koine-isierung zu trennen (selbstverständlich unter der Voraussetzung, dass der Überdachungspro-zess auf seine sprachtheoretischen Grundlagen hin untersucht wird, sodass er als das Resultat einzelner Kommunikationshandlungen interpretierbar wird!). Eine weitere Frage, die auch in dem späteren Beitrag von Sebastian Postlep aufgeworfen wird, ist die, ob es nicht sinnvoller ist, unterschiedliche Grade des dialect mixing auch terminologisch zu unterscheiden und bei-spielsweise den Dialektausgleich oder die Advergenz der Dialekte an den Standard deutlicher von der klassischen Koineisierung bei migrationsbedingtem Varietätenkontakt zu trennen.6 Hier scheint mir noch Diskussion notwendig, denn ohne diese terminologischen Präzisierungen gerät leicht aus den Augen, dass die in der Forschung immer wieder als Modell gewählten immigrant koinés unter den Bedingungen der Vormoderne eher die Ausnahme als die Regel darstellen.

Ich habe die beiden ersten Beiträge, die vor allem explizite Begriffsklärungen und sprach-theoretische Überlegungen anbieten, etwas ausführlicher referiert, um auf die grundlegenden

5 Ich kann nachvollziehen, dass die Unterscheidung zwischen einem monotopischen und einem hybriden Standard es erleichtert, beispielsweise die Herausbildung der deutschen Literatur- bzw. Standard-sprache mit der von Anfang an fehlenden eindeutigen räumlichen Verankerung deutlich von der der italienischen zu unterscheiden (S. 58, Anm. 100). Allerdings sind Raumbezüge im Zusammenhang mit Sprachlichem oft problematisch, weil in aller Regel nicht der gesamte Varietätenbereich des betref-fenden geografi sch-sozialen Raums, sondern nur bestimmte Bereiche (Literatursprache, Oberschicht etc.) von den historischen Akteuren als vorbildlich behandelt werden, diese aber, obwohl Teil, mit dem Gesamt des Sprachraums identifi ziert werden (vgl. hier den Begriff des ,synechdochic dialect‘ bei John E. Joseph, Eloquence and Power: the Rise of Language Standards and Standard Languages, London/New York: Blackwell, 1987). Es müsste deshalb noch genauer geklärt werden, was mit einer topologischen Verankerung des Standards von Seiten der historischen Akteure – und damit auch von Seiten der Sprachgeschichte – gemeint sein kann, bevor gerade der Raumbezug zur entscheidenden Differenz zwischen deutscher und italienischer Standardisierungsgeschichte gemacht wird.

6 Vgl. hier auch Maria Selig, „Koineisierung im Altfranzösischen? Dialektmischung, Verschriftlichung und Überdachung im französischen Mittelalter“, in: Sprachwandel und (Dis-)Kontinuität in der Romania, hg. v. S. Heinemann, Tübingen: Niemeyer, 2008, S. 71–85.

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Fragen aufmerksam machen zu können, die durch die Spannung zwischen Koineisierung und Standardisierung aufgeworfen werden. Die nächsten Beiträge des Bandes zeigen, in welcher Weise die Untersuchung der historischen Standardisierungsprozesse in der Romania davon profi tieren kann. Eine erste Möglichkeit schlägt Anthony R. Lodge vor („Standardisation et Koinéisation: Deux approches contraires à l’historiographie d’une langue“, S. 65–79). Er geht davon aus, dass Koineisierungsprozesse in der Nähesprache, sei es im mittelalterlichen melting pot Paris (S. 69 f.), sei es in den zeitgenössischen Prozessen des Dialektausgleichs durch Ad-vergenz- oder Konvergenzprozesse (S. 70 f.), sei es in der mittelalterlichen Schaffung von (Ad hoc?-)Mischungen in der überregionalen Kommunikation (S. 71 ff.), eine wesentlich größere Rolle bei der sprachlichen Vereinheitlichung Frankreichs spielten, als dies von der traditionellen Sprachgeschichtsschreibung anerkannt wird (S. 78). Damit stimme ich überein. Ob dies auch bedeuten muss, dass der Ursprung des französischen Standards an einen mittelalterlichen Koine-isierungsprozess in Paris gebunden werden soll (S. 69 f.) und die frühneuzeitliche Kodifi zierung vor allem als Neuordnung der in der Koineisierung entstandenen Sprachmischung verstanden werden kann (S. 76–78), scheint mir allerdings problematisch. Mit der Frage des Ursprungs der französischen Standardsprache beschäftigt sich auch der Beitrag von Harald Völker („Implizites in der linguistischen Fachprosa. Die empirischen und theoretischen Bezüge von Hypothesen zum Ursprung der französischen Standardvarietät“, S. 81–110). Völker zeigt durch eine genaue Analyse der Argumentationsstrukturen in einer Reihe von klassischen Handbüchern auf, wie die Gleichsetzung ,Dialekt von Paris bzw. der Île-de-France = Ursprung des französischen Standards‘ mit Hilfe von Behauptungen gestützt wird, die eine Jahrhunderte alte Dominanz des Pariser Dialekts suggerieren, ohne dass es eine gesicherte empirische Basis für die angeführten sprachlichen, kulturellen, ökonomischen oder politischen Faktoren gibt (S. 85–97). Die Ana-lyse einer Reihe von neueren Vorschlägen zeigt, dass, im Unterschied zur klassischen doxa, sich zumindest unter den Fachleuten eine neue, differenziertere Auffassung entwickelt hat, die Prozessen der Sprachmischung größeren Raum gibt. Dabei kann man unterscheiden zwischen den Vorschlägen von Bernhard Cerquiglini (Schaffung einer überregionalen Leitvarietät in den karolingischen Kanzleien) und Anthony Lodge (Koineisierung im mittelalterlichen Paris und Verbreitung der dort entstandenen Mischvarietät), die eine in einem kurzen historischen Au-genblick gebündelte Entstehung des koineisierten Standards postulieren, und den Vorschlägen von Serge Lusignan (Koineisierung unter den aus den verschiedenen Regionen stammenden Schreibern der königlichen Kanzlei im Hoch- und Spätmittelalter) und Yan Greub (Einebnen der dialektalen Variation durch die Kopisten), die einzelne ‚Orte‘ der Schaffung supralokaler Sprachformen benennen, aber nicht von einem punktuellen Entstehen des französischen Standards ausgehen (S. 98–105). Vielleicht deutet sich mit den genannten Autoren an, dass die Annahme von Varietätenmischungen in der mittelalterlichen Verschriftlichung der Volkssprache in Frank-reich kein Tabu mehr ist und es deshalb möglich wird, (endlich!) empirisch nach den Situationen und Gruppen zu suchen, in denen solche Ausgleichsprozesse sinnvoll verortet werden können.

Auch Raymund Wilhelm („Lombardische Schreibtraditionen im 14. und 15. Jahrhundert. Zur empirischen Methodik der historischen Sprachwissenschaft“, S. 151–169) diskutiert anhand der Entwicklung der lombardischen Schriftlichkeit die Frage, inwieweit Prozesse der Koineisierung die mittelalterliche Sprachsituation bestimmen. Der Begriff der Koiné ist in der italienischen Sprachgeschichte, anders als in der französischen, fest verankert, weil es ein historisches Beispiel gibt: die lingua cortigiana/koiné padana des späten 15. und 16. Jhs., eine stabile Sprachtradi-tion, die bereits von den Zeitgenossen der toskanischen Literatursprache gegenübergestellt und im Unterschied zu dieser als Ausgleichs- und Mischsprache defi niert wurde. Die immer wieder aufgeworfene Frage, ob die Koiné bereits in den Anfängen der norditalienischen Schriftlichkeit im 13. und 14. Jh. herausgebildet wurde, ist für Wilhelm der Anlass, einige grundsätzliche Über-

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legungen zur Interpretation der in den mittelalterlichen Texten dokumentierten Sprachformen anzustellen. Er kann zeigen, dass die Annahme, die Manuskripte der Werke des Mailänders Bonvesin da la Riva († 1314) refl ektierten noch unmittelbar den Mailänder Dialekt, in dieser Einfachheit nicht stimmen kann. Denn sie verkennt die Tatsache, dass auch die frühen mittel-alterlichen Manuskripte für einen nicht ausschließlich lokalen, sondern „regionalen oder sogar überregionalen Wirkungsradius“ (S. 165) gedacht sind. Insofern kann ihre Sprache nicht als Refl ex des jeweiligen Lokaldialekts interpretiert werden, sondern ist qua Schriftsprache von Delokalisierungsprozessen geprägt (und zwar sowohl, in koineisierender Bewegung, durch die Annäherung an andere Dialekte als auch durch die Orientierung am Lateinischen, S. 165). Au-ßerdem ist die Vorstellung, nach Bonvesin führe die zunehmende Toskanisierung der Mailänder Schreibsprache dazu, dass das Lombardische erst wieder in den dialektalen Texten der frühen Neuzeit repräsentiert sei, falsch. Die genaue Analyse der Manuskripte des 14. und 15. Jhs. zeigt vielmehr, dass die Orientierung am Toskanischen je nach Textsorte unterschiedlich stark ist. In den religiösen Gebrauchstexten ist sie deutlich geringer als in den Dokumenten der her-zoglichen Kanzlei, sodass sich in der unterschiedlichen ‚Toskanität‘ eine interne Differenzie-rung der Schreibproduktion nach Zielpublikum, Thema usw. erkennen lässt. In den religiösen Texten lässt sich außerdem das auf den ersten Blick paradoxe Faktum beobachten, dass neben den toskanischen, also supralokalen, Formen auch eindeutig lombardische Merkmale, und zwar in verstärktem Maße, auftreten (S. 166). Dieses Nebeneinander zeigt, dass sich abseits der literatur- und verwaltungssprachlichen Traditionen Formen von sprachlichem Ausgleich mit nicht nur einer, sondern mehreren Zielvarietäten etablieren können, die in der bisherigen Sprachgeschichtsschreibung viel zu wenig Beachtung gefunden haben. Das Fazit von Wilhelm in Bezug auf die Frage nach der Vorgeschichte der koiné padana lautet dann entsprechend: Die mittelalterlichen Texte sind von Beginn an durch sprachliche Ausgleichsprozesse bestimmt. Diese Ausgleichsprozesse führen allerdings nicht zur Verfestigung einer stabilen (mischsprachlichen) Schreibsprache, die als Vorläufer der koiné padana interpretiert werden könnte. Stattdessen bleibt die Praxis des sprachlichen Ad-hoc-Ausgleichs lebendig und wird, zumindest im Bereich der religiösen Gebrauchsprosa, auch in den nächsten Jahrhunderten weitergeführt (S. 166–169).

Der Beitrag von Wilhelm eröffnet auch die Frage, ob nach den Kodifi zierungen des 16. Jhs. und nach dem Scheitern der lingua cortigiana jede Abweichung von der toskanischen Norm automatisch den Status einer bewussten Verschriftlichung des Dialekts hat und nicht mehr nach dem Modell des sprachlichen Ad-hoc-Ausgleichs interpretiert werden kann (S. 168).7 In diesem Kontext ist der Beitrag von Amina Kropp interessant („Accomodandosi alla capacità de gli as-coltanti. Die sprachliche Anpassung als kommunikative Strategie der tridentinischen Volkspredigt im spanischen Vizekönigreich Neapel“, S. 203–218). Sie untersucht die sprachlichen Praktiken im Bereich der Volkspredigt, die im Zuge der Gegenreformation von der katholischen Kirche als Mittel der religiösen Unterweisung (und der gesellschaftlichen Kontrolle) der, sagen wir, mittleren und unteren Schichten verstärkt eingesetzt wurde. Kropp zeigt auf, dass in den Predigt-handbüchern die Existenz der supralokalen Leitvarietät, also der toskanischen Literatursprache,

7 Die Beiträge von Sascha Diwersy und Rembert Eufe („Die karolingische correctio und der lateinische Wortschatz – Kommunikationsverben in Heiligenviten als Fallbeispiel“, S. 111–131) sowie Pierre Swiggers („La (relative) standardisation de l’ancien occitan appréhendée à travers les premières descriptions grammaticales“, S. 133–149) konzentrieren sich auf die Kodifi zierungen des mittelalter-lichen Lateins in der karolingischen Renaissance bzw. die explizite Normierung der altokzitanischen Literatursprache in den dichtungstheoretischen Schriften aus der Spätphase der Trobadorlyrik. In beiden Fällen zeigt sich, wie notwendig die Kontextualisierung der einzelnen Kodifi zierungsbemü-hungen ist, denn in beiden Fällen ermöglichen genaue empirische Analysen wichtige Präzisierungen und Korrekturen am traditionellen Bild der mittelalterlichen Kodifi zierungen.

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auch für den Bereich der medial mündlichen und aufgrund des angesprochenen Publikums sicher nicht ausgeprägt distanzsprachlichen Predigt durchaus anerkannt wird. Dennoch gibt es weiter-hin Belege dafür, dass die Prediger sich auch an die jeweilige diatopische Varietät anpassten, also ad hoc zwischen der supralokalen Varietät und den vernacoli ausglichen. Es ist fraglich, ob hier ein Beleg für das Weiterbestehen der mittelalterlichen Toleranz gegenüber sprachlichen Ausgleichsprozessen und gegenüber ‚mischsprachlichen‘ Texten über die Epochenschwelle der frühneuzeitlichen Kodifi zierung hinaus vorliegt. Ausgenommen von dem Normierungs-postulat sind ja nur bestimmte sozial niedriger konnotierte Kommunikationsbereiche, und die Ideale der Sprachreinheit und Korrektheit, die durch Pietro Bembo und andere Intellektuelle im Bereich der Volkssprache durchgesetzt wurden, werden von einer solchen Ausnahme nicht prinzipiell tangiert. Angesichts derartiger Beobachtungen sollte man aber im Kontext der Standardisierungs- und Koineisierungsdebatte die Frage stellen, auf welchen Voraussetzungen die Eindeutigkeit von Konzepten wie Sprache, Dialekt oder Varietät sowie die Vorstellungen von der sprachlichen Identität/Homogenität von Kommunikationsakten aufbauen. Erst dann ist die Gefahr gebannt, dass man die seit den frühneuzeitlichen Kodifi zierungsprozessen für Sprecher (und Linguisten!) selbstverständlich gewordene Existenz von klar abgegrenzten Hoch- bzw. Nationalsprachen und das genauso selbstverständlich gewordene Ideal der sprachlichen ‚Reinheit‘ auch auf die nähesprachlichen Bereiche des Varietätenraums überträgt und von der Existenz stabiler und klar konturierter Dialekte und von der Normalität dialektaler ‚Reinheit‘ in der Nähekommunikation ausgeht, ohne die diskursiven Dimensionen solcher Abstraktionen und Behauptungen zu bedenken.

Die historischen Fallstudien, die in den bisher behandelten Beiträgen vorliegen, verweisen mehrfach auf die Notwendigkeit, Konzepte, die in der traditionellen Sprachgeschichtsschrei-bung – und in der neueren Soziolinguistik – nicht mehr überprüft werden, zu historisieren und einer genauen sprachtheoretischen Prüfung zu unterziehen. Auch die Beiträge, die sich nicht mit der Vergangenheit beschäftigen, sondern aktuelle sprachliche Situationen untersuchen, geben wertvolle Hinweise in diese Richtung. Heidi Aschenberg beispielsweise entwickelt das Modell des plurizentrischen Standards weiter und analysiert, mit welchen diskursiven Ver-fahren die Gleichzeitigkeit von regionaler Differenz und behaupteter Einheit aufrechterhalten wird („Projektionen und Realitäten: linguistische und sprachpolitische Argumente zur Einheit des Spanischen“, S. 187–201). Auffällig ist, dass in allen von ihr untersuchten Ansätzen die behauptete Einheit des Spanischen nicht an den sprachlichen Fakten, sondern am einheitlichen Sprachbewusstsein oder besser am einheitlichen Sprachwollen der gente culta in den jeweiligen Gesellschaften festgemacht wird. Dies steht ganz in Übereinstimmung damit, dass zahlreiche Arbeiten zur Standardisierung und zur Standardisierungsideologie aufgezeigt haben, dass die standardsprachlichen Situationen sehr viel mehr von der gemeinsamen Anerkennung eines Ideals als von einer gemeinsamen standardsprachlichen Praxis zusammengehalten werden.

Die Eigenständigkeit der kommunikativen Praxis ist auch das Thema von Georges Lüdi („‚Sprechen Sie (Pan-)Romanisch?‘ Neue alte Kommunikationsformen in der Romania“, S. 235–252). Er referiert die Ergebnisse von Untersuchungen, die zeigen, dass in der mehr-sprachigen oder fremdsprachlichen Kommunikation in globalisierten Unternehmen bzw. in modernen Transit-Räumen wie Flughafen, Bahnhof etc. Praktiken der Ad-hoc-Sprachmischung verbreitet sind, die die Grenzen der (monolingualen) Standardideologien und die Grenzen der Privilegierung der einzelsprachlichen Korrektheit vor der kommunikativen Funktionalität sichtbar machen. Auch Daniela Marzo („Konvergenz und Standardisierung im Sardischen“, S. 219–233) kann Prozesse des sprachlichen Ausgleichs in der interdialektalen Kommunikation von Sprechern des Sardischen nachweisen. Die von ihr in spontanen Alltagsgesprächen beobach-teten Ad hoc-Formen werden, so die Autorin, nach Prinzipien ausgewählt bzw. gebildet, die in Koineisierungsprozessen mehrfach belegt sind (S. 225–228). Dagegen fi nden diese Prinzipien

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in den beiden von Sprachplanern entwickelten Vorschlägen für eine zukünftige sardische Stan-dardvarietät (Limba sarda unifi cada und Limba sarda comuna) allenfalls sporadisch Beachtung (S. 228–232). Die Autorin kommt zu dem Schluss, die Akzeptanz der geplant geschaffenen Standardvarietäten könne dadurch verbessert werden, dass die vorgeschlagenen Formen nach den ‚natürlichen‘ (S. 231) Prinzipien der strukturellen Koineisierung ausgewählt werden. Ob derartige Simulationen struktureller Koineisierungsprozesse beim Ausbau der romanischen Kleinsprachen hilfreich sind oder ob das Gelingen der Standardisierungen von sprachstruk-turellen ‚Verbesserungen‘ gar nicht tangiert ist, weil die kollektive Anerkennung des neuen Standards ganz andere, nämlich soziale Voraussetzungen hat, will ich nicht weiter diskutieren. Zumindest geben die Überlegungen von Christian Münch zum spanglish („Spanglish und die Illusion der sprachlichen Diskontinuität des Spanischen der USA“, S. 253–268) Anlass, die ‚Natürlichkeit‘ von Koineisierungsprozessen erst einmal zu problematisieren. Er zeigt, dass man die identitätspolitischen Diskurse, in denen die Existenz einer eigenständigen ‚Sprache‘ spanglish behauptet wird, mit den Fakten konfrontieren muss. Die von den sprachpolitischen Aktivisten angesprochene Herausbildung einer Koiné, eines nordamerikanischen Spanisch, das die Differenzen zwischen den lateinamerikanischen Ursprungsdialekten einebnet, kann in empi-rischen Untersuchungen nämlich nicht nachgewiesen werden. Diese zeigen vielmehr, dass auch weiterhin die regionalen Differenzen im lateinamerikanischen Spanisch und die Rückbindung an die spanische Standardsprache eine zentrale Rolle spielen.

Man kann an dieser Stelle den Bogen zur perzeptiven Varietätenlinguistik schlagen, die die sprechereigenen Wahrnehmungen und Kategorisierungen des Varietätenraumes untersucht. Sebastian Postlep („Koinéisierung, Dialektausgleich und/oder Entdialektalisierung? Überle-gungen zu Kontaktphänomenen in den spanischen Zentralpyrenäen“, S. 171–186) kann zeigen, dass bei Erhebungen zum Sprachbewusstsein im Übergangsgebiet zwischen Aragonesisch und Katalanisch bei der Verortung der abgefragten diatopischen Varianten die Probanden durchaus Dialekträume, und zwar lebensweltlich verankerte, voneinander abtrennen. Es scheint also keineswegs nur ein Phänomen der Überdachung durch eine Standardsprache zu sein, wenn Grenzziehungen in dialektalen Kontinua gemacht werden. Die Frage, auf welcher Grundlage die Probanden derartige Grenzen vorschlagen, bleibt meines Erachtens aber unbeantwortet. Wenn ich es recht verstehe, werden die im sprechereigenen Metadiskurs abgegrenzten Dialekträume nämlich ohne weitere Begründung mit konkreten Kommunikationsnetzen identifi ziert (S. 172 f.). Das erscheint mir gewagt, und es wäre hier eine intensivere Diskussion des Verhältnisses zwischen der Perzeption und Kategorisierung sprachlicher Daten durch die Sprecher und ihrer sprachlichen Praxis notwendig, die diese Daten generiert.

Postlep schlägt außerdem vor, den Begriff der Koiné so zu präzisieren, dass er nur dann angewendet werden kann, wenn die sich in den bekannten Ausgleichsprozessen formierende Varietät als „zusätzliche Varietät im Repertoire der Sprecher entsteht“ (S. 173). Für sprachliche Ausgleichsprozesse unter gleichwertigen nähesprachlichen Varietäten ohne Schaffung einer zusätzlichen diatopischen Varietät verwendet Postlep daher den Begriff des „Dialektausgleichs“ und für die im Kontakt zwischen Dialekten und Standardsprache verankerten Advergenzprozesse den der „Entdialektalisierung“. Die Vorschläge sind bedenkenswert, und insgesamt teile ich die Auffassung, dass man nicht bei jedem spontanen diatopischen Ausgleichsprozess von Koineisie-rung sprechen sollte. Bei der Diskussion der Frage, ob es im mittelalterlichen Aragon zu einer Koineisierung kam (S. 181–184), ist die von Postlep vorgenommene begriffl iche Präzisierung allerdings hinderlich, weil sie mit der in der Forschung verbreiteten Praxis kollidiert, nicht nur das Entstehen einer supralokalen Varietät über den diatopischen Varietäten als Koineisierung zu bezeichnen, sondern jede Art von ungelenkter Varietätenmischung, ob das Ergebnis dieser Mischung nun ein neues vernacular ist, das die alten Dialekte verdrängt, oder eine regional koiné ‚über‘ den alten Dialekten. Man sollte bedenken, dass diese Praxis zwar terminologisch

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äußerst unglücklich ist, dass sie aber zumindest dazu geführt hat, dass Delokalisierungsprozesse durch Varietätenmischung in der mittelalterlichen Sprachgeschichte kein Tabu mehr sind. In diesem Sinne sollte man auch im Falle des mittelalterlichen Aragonesischen wohlwollend prüfen, ob nicht auch hier Verfahren der Dialektmischung zur Schaffung von supralokalen Varietäten beigetragen haben oder ob bei den Versuchen, nicht lokal zu sprechen/zu schreiben, nur die Ausrichtung am Kastilischen, also Prozesse der Advergenz, eine Rolle spielten.

Abschließen kann ich mit dem letzten Artikel des Bandes, dem Beitrag von Thomas Kre-feld („Alter Standard – Neue Medien. Zur Erfassung von Restandardisierungsprozessen im Italienischen“, S. 269–281). Wichtig erscheinen mir seine präzise Darstellung der Veränderung der italienischen Standardsprache unter den Bedingungen der Moderne und Postmoderne und die dadurch ausgeworfene Frage nach den Restandardisierungsprozessen (S. 270–273). Die betreffenden Veränderungen des Italienischen, etwa die Entstehung der italiani regionali, können als die Schaffung einer neuen Varietätenebene mit mittlerer diatopischer Markiertheit ‚über‘ den Dialekten gesehen werden. Dass hier Prozesse der Advergenz der Dialekte an den Standard und sicher auch Prozesse der Dialektkonvergenz/Koineisierung gegriffen haben, und zwar ausschließlich ungelenkt in der durch die neue Mobilität verstärkten überregionalen Kommunikation bzw. in den neuen Massenmedien, ist klar. Zusätzlich stellt sich aber die Fra-ge, ob sich unter den Bedingungen der modernen und postmodernen Gesellschaft nicht auch die Vorstellung von Standardsprachlichkeit verändert hat. In der diglossischen Vormoderne ist der Abstand zwischen den regionalen Varietäten des Nähebereichs und der supralokalen Lite-ratursprache eindeutig, und die Standardsprache ist ein fassbares, wenn auch unerreichbares Ideal. Unter den Bedingungen der Moderne, die von der Idee der freien Zugänglichkeit aller Kommunikationsbereiche ausgeht, ist dies nicht mehr der Fall. Vielleicht sollte die Linguistik daher unter dem Begriff der Restandardisierung nicht nur über die Veränderungen des standard-sprachlichen Formeninventars durch die Aufnahme von Formen aus dem italiano parlato bzw. aus den Dialekten nachdenken. Es wäre auch der Anlass, die moderne Prägung des Begriffs der Standardsprache aufzuarbeiten und Konzepte von Standardsprachlichkeit zu entwickeln, die in vormodernen und in postmodernen Situationen angemessen sind.

Ein generelles Fazit aus dem Band zu ziehen, ist schwer. Es überwiegen die Einzelbetrach-tungen – und zwar, wie ich fi nde, zu Recht. Das Ziel war ja, die vermeintliche Geschlossenheit der Standardisierungs- und Koineisierungstheorien einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Dies ist gelungen. Die einzelnen Beiträge geben wichtige Hinweise darauf, wo eine Differen-zierung, manchmal sogar eine Neubestimmung der konzeptuellen Grundlagen der genannten soziolinguistischen Konzepte notwendig sind, und sie können diese Hinweise geben, weil eine bestimmte historische Situation in ihrer Vollständigkeit analysiert wird. In den Beiträgen un-terbleibt erfreulicherweise das sonst oft übliche Ausblenden jedes kulturell-gesellschaftlichen Aspektes bei der Analyse von Sprachwandelprozessen – so als ob sprachliche Kommunikation in einem ‚natürlichen‘, der Historizität und der Gesellschaftlichkeit enthobenen Raum auf im-mer gleiche Weise stattfi nden könnte (und sich die Verbreitung und Stabilisierung sprachlicher Innovationen in seltsam konturlosen, homogenen Sprechergemeinschaften vollzöge!). Dass gängige Standardisierungs- und Koineisierungsmodelle oftmals begriffl iche Klarheit und Ge-schlossenheit vermissen lassen, ist also ein Aspekt der Diskussion, und die Beiträge schlagen wichtige Präzisierungen vor. Das zweite, vielleicht wichtigere Ergebnis des Bandes ist aber, dass die Standardisierungs- und Koineisierungsmodelle solange wertlos, weil unterkomplex, sind, wie sie blind für die Vielfalt der historischen Situationen sind und diese noch nicht zu einem integralen Bestandteil der Theoriebildung gemacht haben.

Regensburg Maria SELIG

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Francis GINGRAS, Le Bâtard conquérant. Essor et expansion du genre romanesque au Moyen Âge (Nouvelle bibliothèque du Moyen Âge, 106), Paris: Champion, 2011, 529 S.

Georg Lukács’ einfl ussreiches, an Hegels geschichtsphilosophisch fundierter Theorie der Gattungen orientiertes Diktum, dass der Roman als „Epopöe des bürgerlichen Zeitalters“ die moderne Erzählgattung par excellence darstelle, hat in der internationalen Mediävistik längst seine Geltung verloren. Zu unbefriedigend war die durch Lukács entstandene Situation, alle Großdichtungen vor Cervantes entweder als ‚Epen‘ oder als ‚Vorläufer‘ der Entgegensetzung von krisenhaftem Helden und transzendentaler Obdachlosigkeit einstufen zu müssen, die er ins Zentrum seines Entwurfs gestellt hatte. Auch wenn für den Prosaroman der Frühen Neuzeit – in der Germanistik – mit Clemens Lugowskis Form der Individualität im Roman ein anregender Versuch vorlag, die Historizität der Gattung kategorial und interpretatorisch zu erfassen, war dafür erst mit den Schriften Michail M. Bachtins seit den 1980er Jahren in der Mediävistik ein wirklich tragfähiger Ansatz gegeben. Für einige Romantypen, wie den Liebes- und Abenteu-erroman oder den Schwankroman, hat sich dies allerdings als langfristig produktiver erwiesen als für andere, wie den Artusroman, und Bachtins Thesen zu Dialogizität, Hybridität und Chro-notopik des Romans bedurften vielfacher Differenzierung.1 In der Romanistik scheint sich die Gattungsdiskussion lange auf den Chrétien’schen Roman konzentriert zu haben und wendet sich erst seit kürzerer Zeit auch der Konzeptualisierung weiterer Subgattungen zu.2 Eine Studie, die sich der Grundlagenarbeit einer Geschichte des französischen Romans im Mittelalter annimmt, wie die 2011 erschienene Untersuchung des in Montréal lehrenden Romanisten Francis Gingras, ist deshalb ein Ereignis, dessen Bedeutung über die Grenzen der Romanistik hinausreicht. Dies gilt auch deshalb, weil die betreffenden Dichtungen oft in mehrere Sprachen übertragen worden sind. Aus Gingras’ Untersuchung ist einerseits tatsächlich eine sehr französische Romange-schichte geworden, die andererseits dennoch Anregungen für andere Fächer bietet, in diesem Fall – dem Fachgebiet der Rezensentin folgend – für die Germanistik.

Gingras’ Ansatz lässt sich als Versuch der Erschließung einer immanenten Gattungspoetik charakterisieren, welche er in erster Linie aus volkssprachlichen Texten des 11. bis 13. Jhs. ableitet, die sich entweder selbst als Roman bezeichnen oder aber – ebenso wichtig – die sich von ihm abgrenzen. Er lenkt das Untersuchungsinteresse damit auf einzelne Formulierungen und Erzähleraussagen: Wann tritt die Bezeichnung roman auf, welche Autoren verwenden sie, welche Zuschreibungen und Assoziationen gehen mit ihr einher, wie verfestigen sich die For-mulierungen sukzessive und indizieren damit die allmähliche Konstitution der Gattung? Dieses Vorgehen ist teilweise der immanenten Gattungspoetik vergleichbar, die Walter Haug mit seiner Literaturtheorie im deutschen Mittelalter in die germanistische Mediävistik eingeführt hatte.3 Im Zentrum von Haugs Arbeit stand allerdings eine Theorie der Fiktionalität des höfi schen Ro-mans, und um eine solche geht es Gingras nicht, auch wenn Fiktionalität für ihn durchgängig ein Kriterium bildet, um die Selbstrefl exivität der mittelalterlichen Gattungen zu thematisieren.

Der Verfasser strebt vielmehr eine historisch fundierte Gattungstheorie an (vgl. auch S. 22–24) und bezieht sich dafür – etwas unerwartet – auf Hans Robert Jauß und dessen Kategorie des ‚Erwartungshorizonts‘ („horizon d’attente“, S. 24). Der rezeptionsästhetische Begriff

1 Dazu hat nicht zuletzt die Altphilologie beigetragen, vgl. Tim Whitmarsh (Hg.), The Cambridge Companion to the Greek and Roman Novel, Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 2008.

2 Vgl. dazu jetzt auch Friedrich Wolfzettel, „Ein idyllischer Roman ohne Idylle: Zu Paris et Vienne“, in: Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit, hg. v. M. Baisch u. J. Eming, Berlin: Akademie Verlag, 2013, S. 27–40.

3 Vgl. Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1985.

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scheint Gingras geeignet, um ein Gattungsbewusstsein historischer Autoren zu rekonstruieren, das sich um den Gebrauch des Wortes roman entwickelt. Er möchte sich allerdings nicht auf die Ebene der Bezeichnung fi xieren, sondern die Kontinuität des intertextuellen historischen Dialogs verfolgen. Die Anfänge der Gattung sucht er – anders als Bachtin oder Margaret Anne Doody in ihrer komparatistischen, historisch-tropologisch angelegten Arbeit The True Story of the Novel4 – nicht im griechischen Roman, weil dieser zunächst nur in der byzantinischen Kultur rezipiert werde (S. 27–29); dass der von ihm mehrfach besprochene Floire in dieser Tradition steht, wird nicht weiter problematisiert. Den Grund dafür, dass die Gattungspoetik des französischen Romans im Mittelalter bislang vernachlässigt wurde, sieht der Verfasser in der allgemeinen Hochschätzung der Werke Chrétiens de Troyes, der er selbst sich, wie im Laufe der Untersuchung deutlich wird, allerdings nicht enthält (vgl. S. 38).

Das erste Kapitel („Roman et Romain“, S. 49–94) von insgesamt vier, die ein erster sys-tematischer Abschnitt unter dem Titel „Une langue qui se donne un genre“ zusammenfasst, zeichnet die semantischen Verschiebungen nach, die sich zwischen den ersten Verwendungen von roman bzw. lingua romana bis zur Mitte des 13. Jhs. vollziehen. Die Beobachtungen, die der Verfasser hier trifft, gehen weit über die linguistisch-lexikalische Ebene hinaus und legen Grundlagen für die poetologischen Untersuchungen der nachfolgenden Kapitel. Durch dieses Vorgehen gewinnt das, was einen mittelalterlichen französischen Roman ausmacht, sukzessive seine Konturen.

Von Beginn an, so Gingras, eignet den Termini eine spezifi sche Distinktionsabsicht und oppo-sitionelle Kraft, die sich zunächst auf kulturgeschichtliche Entgegensetzungen bezieht und dabei mitunter überraschende Ergebnisse zeitigt: Während wir heute problemlos von romans latins sprechen können, wäre diese Formulierung im Frühmittelalter als vollkommen widersprüchlich empfunden worden. Denn zwischen dem Ende des 8. und der Mitte des 9. Jhs. bezieht sich die Formulierung parler en romain gerade nicht auf die Verwendung des Lateinischen: „Le roman est d’abord la langue de ceux qui n’entendent pas le latin avant d’être la langue d’un groupe ethnique ou politique particulier“ (S. 62). Zum Zeitpunkt der Straßburger Eide ist eine grundle-gende Identifi kation zwischen einem Volk und der Sprache, die es spricht, einerseits (vgl. S. 55), zwischen zwei Formen von Volkssprachen (vgl. S. 58) andererseits vollzogen. Die älteste Ver-wendung des Ausdrucks mettre en roman fi ndet sich in der anglonormannischen Übersetzung der Navigatio Sancti Brendani (um 1120). Dort zum ersten Mal und fortan durchgängig ist zudem eine Verbindung von mise en roman mit mise en lettre zu beobachten, die sich am Ende des 12. Jhs. bereits als Distinktionsmerkmal gegenüber anderen Gattungen durchgesetzt hat: „Ainsi on chante ou on vielle une chanson de geste; de même on conte ou on trouve un fabliau ou un lai; mais on peut lire ou faire lire un roman“ (S. 83). Das ganze Mittelalter hindurch wird mettre en roman zudem für Übertragungen zumeist, doch nicht nur, aus dem Lateinischen verwendet. Seit der Mitte des 12. Jhs. wird bei der Verwendung des Ausdrucks dire en roman zudem ein Verständnis für eine ästhetische Dimension manifest (vgl. S. 76 f.), die sich gerade in Übertra-gungen aus anderen Sprachen bemerkbar macht. Es ist wesentlich Chrétien zu verdanken, dass schon in den 70er Jahren unter einem Roman keine Übersetzung mehr verstanden wird, sondern eine Komposition (vgl. S. 82). Der Umstand, dass diese Komposition thematisch-tropologisch eine Beziehung zum Ungewissen und Abenteuer (l’aventure) einerseits, zur Liebe andererseits integriert und bald als Konstituenten der Gattung schlechthin erscheinen lässt, ist einer der wichtigsten Gründe für die von klerikaler Seite einsetzende Kritik an ihrer Verunglimpfung als romans de vanité (vgl. S. 88–90). Tatsächlich werden zwischen dem Ende des 12. und dem

4 Margaret Anne Doody, The True Story of the Novel, New Brunswick, New Jersey: Rutgers University Press, 21997.

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Ende des 13. Jhs. Kerne einer Kritik der Romanpoetik formuliert, welche die Gattung bis zur Mitte des 19. Jhs. begleiten. Zugleich wird in diesem Zeitraum eine charakteristische formale Offenheit des Romans erkennbar, die sich aller Regelpoetik entzieht und dazu führt, dass seine Merkmale primär auf inhaltlicher Ebene beschreibbar werden. An solchen Stellen zeigt sich eine der wichtigsten Leistungen von Gingras’ Untersuchung: detaillierte Nachweise zu erbringen für eine überaus früh einsetzende Romankritik, für das, was Bachtin als Tendenz der Gattung beschrieben hatte, sich ständig selbst erneuern zu können.

Im relativ kurzen zweiten Kapitel („Roman et Plurilinguisme“, S. 95–118) wird das Kriterium der Vielsprachigkeit, das im Zentrum von Bachtins Schriften steht, mit Blick auf die Genese des französischen Romans zur Geltung gebracht. Bereits vor der normannischen Eroberung ist am englischen Hof neben zwei Verwaltungssprachen (Lateinisch/Angelsächsisch) vermutlich eine Reihe weiterer Volkssprachen bekannt, im Mindesten das Altnordische. Nach 1066 tritt das Normannische als weitere Sprache hinzu und bereichert das multikulturelle Klima des Hofes, um schließlich zum Idiom des ersten nachweisbaren Auftragswerkes en roman zu werden, der Voyage de Saint Brendan. Dies bedeutet indessen nicht, dass Plurilingualität nicht literaturfä-hig würde. In Waces Übertragung der Historia Regum Britanniae wird sie in gallischen und bretonischen Wörtern manifest, die offenbar bewusst anstelle der englischen und französischen Äquivalente gewählt worden sind und an das protonormannische Erbe Englands erinnern sollen (vgl. S. 113 f.).

Im dritten Kapitel („Roman et Translation“, S. 119–158) wird weit in die Karolingerzeit und darüber hinaus ausgeholt, um das theologische Verständnis einer Dignität von Übersetzungen in die Volkssprachen zu explizieren, die generell am hermeneutischen Unterfangen einer Vermitt-lung des göttlichen Sinns partizipierten. In Anbetracht der Tatsache, dass sich seit dem 9. Jh. in England eine entsprechend reiche religiöse Schrift- und Übersetzungskultur in der Volkssprache entwickelt habe, auf deren fruchtbaren Boden nach 1066 das Anglonormannische trifft, könne es, so Gingras, nicht mehr erstaunen, dass die älteste Handschrift der ältesten Chanson de geste in dieser Sprache verfasst sei (S. 126). Durch die berühmten Verse zur molt bele conjointure in Chrétiens Érec et Énide legitimiert ein Romancier sein Unterfangen erstmals nicht mehr im Rekurs auf das Lateinische, sondern holt – im Begriff der conte d’aventure – die Dimension der Zukunft in seine Dichtung ein. Ihm folgt kurz darauf Renaut de Beaujeu. Das ist, wird etwa an die Ausführungen von Haug zu Chrétien gedacht, nicht ganz neu; origineller sind die Überlegungen zum Verhältnis von Wahrheitsbeteuerungen zum Wunderbaren (S. 150 f.), die später in einem eigenen Kapitel expliziert werden und die nicht zuletzt ein ausgewiesenes Forschungsgebiet des Verfassers bezeichnen.5

Ab dem vierten Kapitel („Roman et genre littéraire“, S. 159–189) geht es um die nähere Defi nition des roman, der sich um 1177 neben Chanson de geste und Fabliau als Genre etabliert hat. Gingras verfährt, auf Grundlage der Gattungsrefl exion des 12. und 13. Jhs. (vgl. S. 159–164), strikt historisierend und chronologisch im Sinne seiner These, dass eine immanente Romanpoetik zunächst über die Wortwahl manifest wird, bevor sich der Roman weitere Charakteristika zu-schreibt (vgl. S. 188 f.). Er beschäftigt sich deshalb mit den Selbstbezeichnungen der narrativen Literatur und ihrer Rubrizierung, also mit den generischen Namen, welche die Autoren selbst oder die Inventarien zumeist des 14. und 15. Jhs. ihnen gegeben haben. In dieser inhärenten Poetik der Texte erkennt der Verfasser keine Übernahme der Dreiteilung von Fabel, Geschichte und argumentum wie in der lateinischen Dichtungslehre. Fable, lateinisch fabula, ist vielmehr zumeist negativ besetzt, ja wird beinahe identisch mit Lüge verwendet, so in Heiligenerzäh-

5 Vgl. Francis Gingras, Érotisme et merveilles dans le récit français des XIIe et XIIIe siècles (Nouvelle bibliothèque du Moyen Âge, 63), Paris: Champion, 2002.

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lungen (S. 168 f.). Aus vielen Belegstellen, die der Autor anführt, geht hervor, dass fable vor allem bei den Gegnern der Gattung schließlich zum Synonym für roman wird (S. 170). Das Kapitel vermittelt damit einen weiteren Einblick in die frühe Romankritik, insbesondere von den Verfassern von Viten.

Mit dem Verhältnis von roman zu histoire beschäftigt sich das folgende kurze fünfte Ka-pitel („Roman et Histoire“, S. 193–214), mit dem zugleich der nächste große systematische Abschnitt der Arbeit einsetzt („Un genre à faire des histoires“). Die Bezeichnung histoire wird von Autoren in Anspruch genommen, um die Wahrheit ihrer Erzählung zu behaupten, zumeist die Wahrheit einer Quelle – und dies natürlich auch dann, wenn diese nachweislich erfunden ist. Dies schlägt sich bald in rekurrenten formelhaften Wendungen nieder (vgl. S. 195). Wer einen Roman verfasst, eröffnet „une brèche dans son rapport à la source qui n’est plus une histoire véridique méritant un respect scrupuleux, mais bien une base (une histoire, cette fois au sens où l’entend la narratologie) sur laquelle le romancier se peut broder [...]“ (S. 201). Auch hier ist Chrétien wieder ein Kronzeuge (vgl. S. 202–204). An die Stelle einer Vermittlung von Wahrheit trete Wahrscheinlichkeit; ‚Geschichte‘ wird schließlich zu einer Funktion nicht des Wahren, sondern des Wahrscheinlichen, die Autoren treiben ein ‚Spiel‘ mit Geschichte, Zeugenschaft und verschiedenen Masken des Erzählers (vgl. S. 209–211).

Das sechste Kapitel („Roman et individu“, S. 215–250) geht in angenehm unaufgeregter Weise auf die traditionelle Verknüpfung von Roman und Individualität ein, stellt sich allerdings auch nicht dem Umfang der Problematik, die mit dem Begriff des Individuums für die mittelal-terliche Kultur verbunden ist.6 Die Thesen wirken entsprechend holzschnittartig. Bestimmend ist auch hier der genetische Zugang; deshalb setzen die Überlegungen bei den literarischen Heiligen und – wie in der Alexiuslegende – ihrer Abkehr vom Vater bzw. von der familiären Gemeinschaft ein. Weil der Heilige sich letztlich wieder auf eine ideelle Gemeinschaft beziehe, sei Lukács’ Diktum von der Abwesenheit von Individualität in der Vormoderne in gewisser Weise bestätigt, erst der chevalier errant markiere hier einen Bruch (S. 222). Immerhin sei der erste Roman, der historisch diesen Namen trage, einer der Navigation (Brandan-Legende). Die Suche nach Wundern trete hier an die Stelle der Eremitage (S. 223) und wird auch im Apollonius-Stoff (ebd.) und im französischen Flore-Roman bestimmend (vgl. S. 225–227), obwohl letzterer bereits von Spannungen zwischen chevaleresker und maritimer Welt geprägt ist. Eine Tendenz ‚vom Meer zur Erde‘ (wie auch im Tristan-Roman und im Partonopeus, vgl. S. 231) wird für die narrative Struktur des mittelalterlichen Romans prägend, was wenigstens zum Teil durch die Verlagerung der wesentlichen Literaturproduktion von der anglonormannischen Welt auf das nordfranzösische Festland erklärlich sei (vgl. S. 234 f.). Ein weiterer Kontext, in den der Autor den Individualisierungsschub im Roman rückt, ist die im religiösen Diskurs kultivierte Bewusstseinserforschung, für die Abaelard hier als Gewährsmann dient. Die bei Chrétien oder dem Autor des Partonopeu de Blois zu beobachtende Tendenz zur Introspektion nimmt bei Thomas von Britannien Züge einer ‚Theatralisierung‘ an, d. h. das Innere werde regelrecht dialogisch strukturiert. Generell wird der Erzähler zur privilegierten Instanz, die Zugang zum Inneren ihrer Figuren erhält (S. 245–247).

Weil die unterschiedlichen Modulationen des Begehrens das eigentliche Terrain des Romans bildeten (siebtes Kapitel, „Roman et amour“, S. 251–275), werden sie in den zunächst noch an der Geschichtsschreibung orientierten narrativen Dichtungen weitgehend marginalisiert. Begehren erscheint als regelrechtes ‚Störelement‘ innerhalb der menschlichen Geschichte (S. 253). Dies

6 Auch das Buch von Peter Haidu, The Subject Medieval/Modern. Text and Governance in the Middle Ages, Stanford: Stanford University Press, 2004, das sich unter anderem mit den Romanen Chrétiens auseinandersetzt, ist nicht berücksichtigt worden.

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ändert sich mit der Ovid-Rezeption, die eine entscheidende Rolle für die Formulierung einer Liebes-Semantik erhält (S. 257–259), insbesondere für die Gestaltung von Soliloquien. Eine Herausforderung für die Überführung der fi n’ amors vom lyrischen in das narrative Register stellt insbesondere die Vermittlung mit der Dimension der Zeit dar (vgl. S. 260 f.), was noch nicht mit Chrétien, doch mit dem Flore-Roman und dem Tristan gelungen sei (S. 271).

Nach der Liebe wird als zweite große thematische Komponente des Romans das Abenteuer thematisiert (achtes Kapitel, „Roman et aventure“, S. 277–319), und zwar mit Blick auf die Aspekte des Zukünftigen und Ungewissen. Mit Erich Köhler werden Abenteuer als Mittel der Auszeichnung des Helden verstanden, was insbesondere durch das Wunderbare unterstützt werde, das zudem zentrales handlungsantreibendes Moment des Romans wird: „Motif, la merveille est aussi le moteur qui lance le récit; elle est la cause étrange d’événements extraordinaires“ (S. 284). Dies rückt den Roman erneut tendenziell in die Nähe zur Lüge (S. 285). Der Umstand, dass der Verfasser ausführlich thematisiert, dass so gut wie nie von roman de fées (im Unterschied zu conte de fées) die Rede sei (S. 288), und die marginale Rolle der Feenfi guren diskutiert, deutet darauf hin, dass in der Romanistik die Gattungsdiskussion über die Begrenztheit des Lai nicht in ähnlicher Weise geführt worden ist wie in der Germanistik.7 Während sich im Bereich der religiösen Kurzerzählungen miracle seit dem 12. Jh. als Gattungsbezeichnung ausdifferenziert (vgl. S. 303–305), vermag das Wunderbare sich zwar mit der Liebe ebenso wie mit dem Aben-teuer als einer der Konstituenten des Romans zu verbinden, aber es spielt anders als diese (als romanz d’aventure oder roman d’amour) für Eigen- und Fremdzuschreibungen keine Rolle. Mit anderen Worten, es defi niert den Roman nicht (vgl. S. 318 f.), was mit Blick auf die früh-neuzeitliche und moderne Identifi kation der Gattung mit Abenteuerlichkeit bemerkenswert ist.

Mit dem neunten Kapitel („Roman et narration longue“, S. 323–351) beginnt der letzte große Abschnitt des Buches, der den ironischen Titel trägt: „Les attraits d’un mauvais genre“. Im vorangegangenen Kapitel hatte sich in Ausführungen zu einer ‚Ästhetik der Kürze‘, welche das miracle für sich in Anspruch nimmt (S. 316 f.), bereits angekündigt, dass der historische Diskurs über den Roman eine Reihe formaler Kennzeichen aufnimmt, die seine Geringschätzung mit begründet haben. Folgerichtig geht es im neunten Kapitel zunächst um Länge als einem formalen Kennzeichen eines Romans. Entgegen einer These von Paul Zumthor sieht Gingras in Eigenbezeichnungen wie fabliau, exemple, dit ein nuanciertes Gattungsbewusstsein am Werk, deren Abgrenzung sich insgesamt mehr auf das Verhältnis zur Wahrheit als auf formale Kriterien stützt. Das fabliau erscheint dabei als Inbegriff der rein unterhaltenden Kurzform (vgl. S. 332). In ähnlicher Weise wird der arturische Roman als Inbegriff der lügenhaften Erzählung bezeichnet, und dies vor allem in der didaktischen und Erbauungs-Literatur: „La vanité de la forme tient à la vacuité du sujet; les aventures de la Table Ronde ne sont que fables, et tout particulièrement mesurées à l’aune des vérités de l’evangile“ (S. 334). Die alte Opposition zwischen fabula und historia wird damit wieder belebt. Zum ‚neuralgischen Punkt‘ einer Re-Systematisierung der Gattungen wird die Konfrontation eines funktionalen Elements (Fiktionalität) mit einem ästhetischen (Länge oder Kürze) (S. 336 f.). Schließlich kann eine kurze Erzählung nicht mehr als Roman verstanden werden (S. 351).

Wenn Gingras zu Beginn des zehnten Kapitels („Roman et prose“, S. 353–377) feststellt, dass die Verbindung des Romans mit der Prosaform nicht nur heute selbstverständlich erscheine, sondern schon im 14. Jh. zur dominanten Form narrativer Genres wird (S. 353), sind spezifi sch französische Verhältnisse angesprochen, die sich nicht auf den deutschen Sprachraum über-

7 Für die Germanistik vgl. vor allem Ralf Simon, Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1990.

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tragen lassen, für den diese Entwicklung erst ab etwa 1500 gilt. Der Umstand, dass Coudrette sich für seine Mélusine gegen den Trend (und gegen seine Prosa-Vorlage von Jean d’Arras) noch einmal für die Versform entscheidet, bildet den interessanten Fall einer Hinwendung zu einer vergangenen Form (S. 355). Wie seit der Karolingerzeit in erster Linie versifi zierte antike Klassiker in die Schullektüre übernommen werden (vgl. S. 356 f.), wird conter en rime seit den Anfängen der volkssprachlichen Literatur zum Mittel einer Nobilitierung (S. 358 f.). Schon zu Beginn des 13. Jhs entwickelt sich eine gedankliche Verknüpfung von Prosa mit Wahrheit und von Vers mit Lüge; rimer und fabloier sind – etwa bei Jean Bodel – identisch (S. 361 f.). Versmaß und Strophenform werden darüber hinaus zum Indikator von Gattungen (S. 365 f.). Zwischen Chanson de geste und Roman werden ferner unterschiedliche Zeitordnungen zu einem wichtigen Differenzkriterium (vgl. S. 368–370). Während erstere zentrale historische Momente oder Episoden herausgreifen und die Narration um sie herum entwickeln, organisiert die Temporalität des Romans mehrere Jahre (Tristan) oder Generationen (Cligès) oder, wie in Érec et Énide, den teils in einzelnen Tagen präzise nachvollziehbaren Ablauf eines Jahres. Im Prosaroman wird geschichtliche Zeit zu einem der Garanten von Wahrheit (S. 372–374). Ins-gesamt situiert sich der Roman zwischen Geschichte und Fiktion (S. 375).

Im elften Kapitel („Roman et antiroman“, S. 379–409) bezieht Gingras engagiert gegen Theoretiker des nouveau roman Stellung, welche für diesen einen Bruch mit der überkom-menen Ästhetik geltend machen, und weist erneut mit Nachdruck darauf hin, dass die Tendenz zu Selbstkritik, Erneuerung und Offenheit der Form gattungsinhärent sei: „Bâtard conquérant, né de la rencontre furtive entre le vulgaire et le savant, le roman a une histoire qui est celle d’une généalogie impossible, toujours à réinventer“ (S. 404 f.). Gegen Sartre hält er fest, dass Romane immer schon auch Anti-Romane gewesen seien (vgl. S. 380) und dass intertextuelle Bezugnahmen auf vorgängige Romane – insbesondere auf Chrétien – eine Vielzahl mittelalter-licher Vertreter auszeichnen (S. 381 f.). Im Rekurs auf Bachtins Polyphonie-Konzept werden vor allem Strategien der Ironisierung beschrieben, die sich Chrétiens Romane zu einem ihrer liebsten Gegenstände nehmen, oder auch, wie in einem eigenen Abschnitt gezeigt wird, die Figur des Gauvain (S. 388–390), dessen Nachkommen aus seinen unübersehbar vielen Liebschaften in neuen Romanen eigene Abenteuer zugeschrieben werden. Ein klassisches Beispiel bietet dafür der raffi nierte Bel Inconnu, der ausführlich besprochen wird (S. 394–396).

Ein abschließendes Kapitel über die Entwicklung des Romans zum Buch (zwölftes Kapitel, „Roman et livre“, S. 411–457) führt in die Materialität der mittelalterlichen Überlieferung. Gingras bespricht die Zwei-Kolumnen-Einrichtung als auffälligstes Merkmal einer romanesken mise en page (vgl. S. 412–414); ein weiteres Merkmal sind Abkürzungen, die einen gebildeten Leser voraussetzen (vgl. S. 414 f.). In Bezug auf Romane ist lange so gut wie keine Tendenz zu Sammlungen festzustellen, was der Autor als Koinzidenz von Text und Buch wertet (S. 416). Die Kompilationstendenzen vom Ende des 13. und des 14. Jhs. folgen dann dem Prinzip der Autor-Attribution (vgl. S. 417, zur Chrétien-Überlieferung S. 418 f.). Als ersten ‚rein roman-haften‘ Überlieferungszeugen („livre exclusivement romanesque“, S. 422) identifi ziert Gingras eine Sammelhandschrift des frühen 13. Jahrhunderts, in dem vier verschiedene Hände zunächst Chrétiens Perceval, dann zwei Continuations und schließlich als eine Art Prolog den Bliocadran eintragen. Neben solchen Bemühungen, Einheitlichkeit durch Zusammenfügung verschiedener Textzeugen zu schaffen, bespricht Gingras auch Formen der internen Organisation der Narration, insbesondere der Kapitel-Unterteilung. Eine wichtige Funktion übernimmt in diesem Zusam-menhang die Formulierung or dit li contes (S. 429 f.) oder einfach or. Die großen Handschrif-tensammlungen sind Dokumente einer informierten, in der Gattung des Romans beschlagenen, aktiven Lektüre (S. 430–444). Sie bezeugen „cette faculté de découpage et de recomposition qu’avaient auteurs et lecteurs médiévaux et qui, si souvent, semble nous faire défaut lorsque

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nous sommes confrontés aux beaux monstres hybrides qu’ils nous ont laissés“ (S. 443). Auch die zahlreichen Verwerfungen des Romans zwischen dem Ende des 12. und dem 14. Jahrhundert verweisen auf die zunehmende Popularität der Gattung in allen gesellschaftlichen Schichten, auch wenn mit Blick auf Spuren in den Handschriften bislang alles auf die Dominanz des Adels als Handschriften-Besitzern hindeutet (S. 447 f.). Der Roman als Gattung hat sich zwischen dem 13. und dem 16. Jh. ‚materialisiert‘ und ‚objektiviert‘ (S. 457).

In der Schlusszusammenfassung („Conclusion“, S. 459–472) lässt Gingras noch einmal die wesentlichen Ergebnisse seiner Untersuchung Revue passieren und schließt mit einem Ausblick: „Cette forme post-babélienne aux origines douteuses s’est imposée bien au-delà des frontières temporelles et géographiques du Moyen Âge français.“ (S. 472)

Die gewichtige Studie beeindruckt insgesamt weniger durch die Bildung neuer Kategorien für die Romananalyse als durch die Verifi zierung eingeführter Kategorien am historischen Mate-rial. Sie ersetzt keine Gattungstheorie, sondern setzt die Kenntnis der Schriften von Lukács und Bachtin und die schwierige Diskussion um das Verhältnis von Roman und Individualisierung vielmehr voraus. In diese Diskussion greift sie teilweise ein, umschifft schwierige Punkte der Theoriebildung jedoch ebenso stillschweigend wie sie die stereotype Verknüpfung von Liebe und Abenteuer als konstituierenden Prinzipien des Romans aufrechterhält und in keiner Weise, etwa für Gattungen, differenziert.

Das ist angesichts der Vorzüge der Arbeit indessen zu verschmerzen. Auf Grundlage der historischen Textzeugen gelingt Francis Gingras im Gang seiner Argumentation die präzise Konstitution eines Simulacrums roman. Positiv hervorzuheben sind die Subtilität seiner Be-obachtungen, die Gründlichkeit der Materialauswertung, die Stringenz, um nicht zu sagen Suggestionskraft in den Linien der Argumentation und die gelungenen Verbindungen der phi-lologischen Methode mit ihrer kulturgeschichtlichen Kontextualisierung. Argumentativ wird jeder Stein umgedreht, an wichtigen narrativen Texten scheint nichts unberücksichtigt geblieben zu sein; beides erinnert an das Vorgehen von Francis Dubost, dem anderen umfassend infor-mierten, neueren Theoretiker der französischen narrativen Dichtungen des Mittelalters,8 dem der Band gewidmet ist. Angefangen bei der titelspendenden Metapher habe ich selten so viele elegante Formulierungen gerade in einer gattungsgeschichtlichen Untersuchung gelesen, einer Textsorte, welche in der deutschen Forschung mitunter Gefahr läuft, von der strukturalistischen Kategorienkeule erschlagen zu werden.

Obwohl aus der Arbeit eine Fülle von Anregungen auch für die Arbeiten an deutschen Ro-manen des Mittelalters hervorgehen, sind dem Transfer von Gingras’ Ergebnissen auf andere Literaturen Grenzen gesetzt, was nicht nur am augenfälligsten, linguistischen Kriterium liegt. Im deutschsprachigen Raum gibt es kein vergleichbar dominantes Werk wie das von Chrétien, stattdessen wird mit Unterscheidungen wie ‚klassisch‘/‚nachklassisch‘, höfi scher Roman/Min-ne- und Aventiureroman operiert, die fraglos eigene Probleme bergen, aber doch unterschied-lich konstituierte Sub-Gruppen von Werken identifi ziert haben, die für Jahre und Jahrzehnte die mittelalterliche Romanproduktion angestoßen haben. Auch der heterogene Bereich des Prosaromans ist anders konstituiert. Umso wichtiger wäre es also, die Anstrengungen um eine Konzeptionalisierung des ‚siegreichen Bastards‘ im Mittelalter nicht abreißen zu lassen.

Berlin Jutta EMING

8 Vgl. Francis Dubost, Aspects fantastiques de la littérature narrative médiévale (XIIe–XIIIe siècles). L’Autre, l’Ailleurs, l’Autrefois (Nouvelle bibliothèque du Moyen Âge, 15), Genf: Slatkine u. a., 1991.

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Jean-Louis JEANNELLE, Résistance du roman. Genèse de « Non » d’André Malraux, Paris : CNRS Éditions, 2013, 327 p.

« Un sentiment de perte, c’est-à-dire une attitude qui qualifi e et déplore l’élimination des œuvres. […] En l’absence de ce sentiment, les œuvres annihilées ne sont rien »,1 c’est sans nul doute ce sentiment, décrit par Judith Schlanger, qui a guidé l’écriture du dernier livre de Jean-Louis Jeannelle, spécialiste de Malraux et de l’écriture des Mémoires au XXe siècle. Son essai est à la fois une expertise génétique audacieuse, une réfl exion sur le genre romanesque et la fi ction dans leur relation au témoignage et une considération sur la mémoire, mémoire per-sonnelle de l’écrivain, mémoire collective de la France, mémoire de l’écrit, de ce qui subsiste de la perte : un essai-miroir-des-limbes, celles d’un roman projeté, imaginé et jamais écrit. La formule paraît facile. Pourtant l’évidence même témoigne du caractère fascinant de ce travail.

Le roman manquant : un objet d’étude incertain

Résumons d’abord brièvement le cadre et les circonstances de cette étude. Elle se présente comme une entreprise de légitimation intellectuelle et littéraire d’une autre publication, celle des fragments d’un roman inachevé sur la Résistance, édité par Jean-Louis Jeannelle et Henri Godard2 à partir de deux dossiers manuscrits – « Non, 1971 », dossier I, et « Anti-II, en cours, Morceaux Maquis », nommé dossier II – dont l’un seulement porte explicitement le titre de la fi ction projetée. L’essai constitue donc le « complément indispensable », à la fois documentaire et théorique, d’un « geste critique et éditorial » (p. 14) qui consiste à mettre en forme et à faire valoir des brouillons et des notes préparatoires en l’absence de l’horizon d’une œuvre narrative véritable. Le chapitre central du livre présente un tableau de tous les documents du dossier et les hypothèses d’architecture, tandis que les chapitres I et III replacent ce projet dans la continuité d’une inspiration par l’étude en amont des archives des Noyers de l’Altenburg, le ‹ dernier › roman de Malraux publié en 1943, et, en aval, celle des Antimémoires et tout particulièrement du dernier volume de celles-ci, Lazare, paru en 1974. Le plan choisi pour l’édition de « Non » « montre que le romancier avait pour intention d’offrir un vaste tableau de la Résistance, couvrant trois espaces et trois temps différents – Paris, Les Maquis, L’Alsace – et esquissant la dynamique d’une libération du pays par lui-même depuis la lutte clandestine jusqu’à la reconquête armée des territoires occupés et la libération de l’Allemagne » (p. 129).

Ce travail soulève un certain nombre de questions en même temps qu’il ouvre sur des propositions qui l’inscrivent dans la réfl exion contemporaine que mène la critique génétique sur sa propre démarche et sur la notion d’œuvre elle-même. « Existe-t-il une œuvre intitulée ‹ Non › ? » se demande Jean-Louis Jeannelle dans les premières pages du livre pour y revenir à la pénultième, adoptant pour son compte l’attitude circonspecte dont le geste de Max Brod, publiant les manuscrits inachevés de Kafka et les dotant d’un titre qui les instituait en œuvre, représente la contradiction. Dans l’étagère des romans inachevés, « Non » se placerait non loin de L’Homme sans qualités de Musil, roman laissé en chantier et dont les manuscrits révèlent la progression vers l’inachevable. À la différence près que le roman fantôme de Malraux est constitué à partir de morceaux, scènes et notes, que l’auteur n’a pas organisés en une suite narrative même inaboutie : « ‹ Non › se situe à un état intermédiaire entre le simple brouillon n’intéressant que le chercheur et l’œuvre posthume lisible. » (p. 11) Jean-Louis Jeannelle pré-

1 Judith Schlanger, Présence des œuvres perdues, Paris : Hermann, 2010, p. 169.2 André Malraux, (Les Cahiers de la NRF), Paris :

Gallimard, 2013.

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cise qu’on ne peut même pas vraiment parler d’avant-textes « puisqu’aucune œuvre fi nale ne permet de les situer dans un processus déterminé, qu’attesterait comme un repère précis un geste de publication validant l’intention de l’écrivain » (p. 312). Il propose alors la belle formule de « manuscrits orphelins » (p. 105) – même si l’on trouve parfois la métaphore inverse d’embryon ou d’œuvre avortée (p. 103) – pour désigner l’absence du texte ne varietur qui guide et autorise habituellement la lecture des brouillons. L’analyse s’attelle donc au « cas, relativement rare, d’un roman resté à l’état embryonnaire et néanmoins assez avancé pour qu’il s’en dégage le sens d’une unité, plus précisément d’une architecture et qu’en émerge un petit nombre de fi gures marquantes » (p. 102).

Le lecteur est malgré tout autorisé à se demander s’il se trouve avec « Non » devant un livre signé Malraux ou signé Henri Godard et Jean-Louis Jeannelle. Le geste de rendre public des brouillons participe à la fois du culte de l’auteur (tout ce qu’il a écrit est valable) et en même temps conteste son autorité (aurait-il voulu que cela soit publié ?). L’essai dont il est question a pour but, en établissant « l’importance d’un tel projet romanesque dans la production de Malraux qui y a rêvé plusieurs années durant » (p. 105), de justifi er l’édition d’une œuvre qui n’existe pas sans en évacuer les marges d’indéterminé. L’on est alors invité, si l’on veut pénétrer les intentions d’un tel travail et suivre la démarche de l’essai, à adopter des notions comme celle de ‹ projet littéraire ›, qui invite à modifi er le regard sur la valeur d’un texte et sur son rapport à la création, à prendre en compte aussi la projection du livre par les lecteurs des Conquérants, de L’Espoir et des Noyers de l’Altenburg, l’ombre du livre attendu, du livre regretté, du livre dû en somme. L’essai prouve qu’il est possible, à condition d’en posséder quelques traces – la recherche s’appuie sur deux lieux de manifestation de la trace : les brouillons d’un côté et les intentions d’auteur présentes dans les témoignages allographes et les propos rapportés de l’autre côté – de bâtir une étude sérieuse sur un ‹ désir de roman › rémanent en même temps que sur son impossibilité : une étude donc qui aurait pour ambition, sans se départir d’un réel souci d’objectivité et en gardant sans cesse l’interprétation biographique et psychologique à distance raisonnable, de toucher aux espérances et aux craintes de l’écrivain, cette zone hautement improbable et instable qui est fi nalement l’ambition secrète de tout critique. Un Malraux du désir et du tâtonnement plus que de la maîtrise, proche du Barthes de la Vita Nova, c’est cela aussi que nous découvrons. Par l’étude d’un « livre dont l’absence a exercé des effets indirects sur l’histoire littéraire d’après 1945 » (p. 292) nous entrons dans une histoire qui fraye avec les zones de non-savoir et d’incertitude et en retire une certaine fraîcheur, y trouve en tous les cas la voie d’un discours mesuré et plus proche de la vraie tension vers l’objectivité qui est le programme de toute écriture de l’histoire, littéraire ou non.

Présence du roman

La publication de « Non » est l’occasion, Jean-Louis Jeannelle le revendique explicitement, de relancer les études peu nombreuses sur les manuscrits de l’écrivain dans le souci de « modifi er le regard sur son œuvre » (p. 12). Dans les notes prises sur le vif dès 1944 et dans les ébauches de récits, le roman malrucien confi rme qu’il est bien autre chose qu’un bavardage d’idées et le talent de l’écrivain pour croquer une attitude, pour créer une atmosphère est patent. Résistance du roman s’attache, de façon inhabituelle pour Malraux, à une œuvre conçue comme procès et ouvre sur la fabrique de l’écrit depuis la fi n de la guerre jusqu’à la mort de l’écrivain. On y découvre un écrivain à « déclenchement rédactionnel » (p. 122) pour qui l’écriture précède l’architecture, un écrivain de la « scène » qui prime « sur l’intrigue ou les personnages » (p. 122), ces derniers incarnant non des idées statiques mais des crises, des situations dynamiques. Sur le plan de ce que raconte l’esquisse de roman, « Non » apparaît comme ce qu’il aurait pu être, un pendant de L’Espoir en tant que roman de la lutte contre l’occupant et une suite, envisagée

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dès les années 1940, des Noyers de l’Altenburg. En défi nitive, plus que de l’accès à un atelier du roman, il faudrait parler d’une déambulation dans les sentiers d’une création, marquée par un va-et-vient constant des discours offi ciels du ministre du Général de Gaulle aux fi ctions, puis aux écrits mémoriaux dont les fragments sur la Résistance constituent, d’une façon que le livre révèle avec perspicacité, le nœud vif et signifi ant, à la fois comme échangeur, confl uent, et concentré d’imaginaire. On mesure la place que « cette époque occupe dans la mémoire textuelle du dernier volume du Miroir des Limbes » (p. 235) : Lazare, volume dans lequel fi -gure l’unique scène de « Non » publiée par Malraux, en prend d’une certaine manière la suite. L’essai est alors un parcours virtuose dans le labyrinthe d’une pratique créatrice marquée par l’incessante reprise et le recyclage, proche parfois de ce que la poétique contemporaine a appelée une écriture du ressassement.

L’un des enjeux du livre est d’ailleurs de fournir matière à dissiper l’idée reçue selon laquelle la trajectoire littéraire de Malraux serait marquée par une rupture profonde séparant le romancier d’avant la guerre et celui qui, après 1945, ministre du Général, abandonne la fi ction pour les discours et les grands livres sur l’art et se fait mémorialiste.3 La permanence de l’appel du récit fi ctionnel, dont l’essai porte témoignage pendant trois cents pages, contredit cette division et plaide fortement pour une perception continue de Malraux, depuis Les Conquérants jusqu’aux Antimémoires :

Tout lecteur familier de l’œuvre de Malraux est frappé de la prégnance, dans les scènes rédigées de « Non », de situations, d’images ou de formules caractéristiques de ses romans des années 30. Dans les passages les plus aboutis, les éléments d’une écriture épique qui fi rent la gloire de l’écrivain durant l’entre-deux-guerres, font retour et ressurgissent brus-quement dans les dernières années de sa vie. Nombreux sont les détails dont il est diffi cile de savoir s’il s’agit d’autocitations volontaires de la part de Malraux, ou de simples tics chez un créateur qui, renouant avec une veine romanesque abandonnée depuis plusieurs années retrouve certains réfl exes. (p. 197)

Sont réintégrés dans les Antimémoires des notes et propos destinés en 1952 au roman sur la Rési-stance, ce qui permet à Jean-Louis Jeannelle de conclure que, contrairement à l’opinion admise, « l’écriture des Antimémoires et par la suite du Miroir des Limbes ne résulte aucunement d’un soudain et miraculeux regain d’inspiration survenu en juin 1965 lors d’un voyage conduisant l’écrivain en Egypte et en Extrême-Orient mais était préparé d’assez longue date » (p. 52). Plus inattendue est la suggestion, appuyée sur le témoignage d’entretiens, que le désir de poursuivre la fi ction pourrait coïncider avec l’abandon en 1952 de l’activité de propagande pour le RPF (dont Malraux était chargé depuis 1947) afi n de se consacrer pleinement aux écrits sur l’art, contredisant ainsi l’idée selon laquelle l’essai esthétique consacre le renoncement à la fi ction.

La matière « Résistance »

L’auteur effectue un considérable travail de débroussaillage d’une matière dense et complexe. Le va-et-vient entre les genres – les discours de l’ère gaullienne, les Mémoires, le roman, les entretiens télévisés même –, la circulation des scènes et des schèmes de l’imaginaire concernant le quotidien de l’armée des ombres favorisent la compréhension de la manière dont les fonc-tions offi cielles de Malraux, dans leur lien au discours et à l’écriture, peuvent interférer avec

3 « Comme si la fi ction n’était plus possible pour lui, il abandonne d’ailleurs le genre romanesque en pleine gloire après L’Espoir (1937, il n’a que trente-six ans) et n’écrira plus que ce pour quoi il était fait : essais, discours, Mémoires » (Thomas Clerc, « Malraux et ses mythes », in: Le Monde, 21 novembre 2001).

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le travail de création fi ctionnelle autrement que sur le mode de la contamination rhétorique ou idéologique, en touchant à ce qui est le plus diffi cile à étudier et pourtant certainement le plus proche des mécanismes véritables de la création littéraire : le domaine des virtualités, des possibles, l’amont secret de l’écrit.

Cette matière traitée par l’essai et le ‹ roman › qu’il commente n’est pas neutre en ce qu’elle touche à l’un des éléments les plus polémiques du cas Malraux : la place de ce dernier dans la Résistance et son rôle dans le mythe « résistancialiste » selon le néologisme créé en 1987 par l’historien Henry Rousso. Il faut par conséquent saluer la manière dépassionnée dont Jean-Louis Jeannelle analyse les faits sans chercher à dédouaner Malraux. Il rappelle que ce dernier a livré son récit offi ciel de la guerre et de la résistance à la Libération dans trois longues interviews, où il prend de très larges libertés avec les faits. L’essai se confronte aux questions posées par la conjonction du nom Malraux, du mot fi ction et du mot Résistance. La mise au point ne porte pas sur une défense idéologique – « Non » « épouse étroitement la chronologie de la mémoire nationale gaulliste » (p. 71) – mais ne se prive pas de fournir ponctuellement des éclairages historiques précis : par exemple l’affaire Courouge (p. 46–54). La méfi ance de l’écrivain vis-à-vis de l’historiographie est retournée avec pertinence : « Il existe bien un démon de l’histoire mais ce démon s’avère plus retors que l’écrivain ne le pense lui-même. Derrière les témoignages destinés à lutter contre la propension des savants à ignorer l’expérience vive au profi t de la chronique offi cielle se profi le une autre tentation, tout aussi dangereuse : celle d’une histoire exemplaire, pourvoyeuse de valeurs idéologiques et garante du consensus national. » (p. 72) L’essai avance de ce fait une autre explication que celle, psychologique et toujours suspecte de la mythomanie de Malraux au sujet des contre-vérités avancées par l’écrivain concernant le rôle du colonel Berger dans la Résistance : une explication sociale liée à la nécessité de justifi er symboliquement sa place auprès du Général De Gaulle et son statut de « héraut » de l’activité commémorative (« et non de héros », précise Jean-Louis Jeannelle) (p. 73).

Le rassemblement et l’étude comparée des différents fragments des scènes de résistance, celles publiées dans Les Noyers de l’Altenburg, celles reprises ou inédites du Miroir des Limbes et celles présentes dans le manuscrit de « Non », l’éclaircissement des glissements entre fi ction et mémoire du vécu, entre vraie fi ctionnalisation et « fausse défi ctionnalisation » (p. 85) conduisent également à réévaluer la mythomanie en rappelant la part d’autodérision qui accompagne, dans le récit des événements (notamment dans Le Miroir des Limbes), la fi gure du colonel Berger : « Nous touchons ici l’envers de cette posture héroïque adoptée par l’écrivain ministre dans le cadre des fonctions offi cielles » (p. 85), écrit Jean-Louis Jeannelle, insistant sur le burlesque, la mise en scène de « situations d’échec et d’impuissance » (p. 87) et « l’insolence et le panache » (p. 83) des personnages de résistants dans « Non ». Le farfelu et le détail incongru qui participent de « l’impression d’irréalité » (p. 218) ou d’écart avec la tonalité épique attendue, dans ce qui s’imagine, de l’aveu même de Malraux, comme une épopée, associés à un réalisme lucide dans les allusions aux enjeux précis (idéologiques comme littéraires) de l’époque, témoigne que ce projet de livre sur la Résistance n’est pas seulement une épopée gaullienne.

Le travail entrepris sur ces fragments a d’ailleurs permis de mettre au jour des formules qui, de la part de Malraux, attestent d’une distance critique à l’égard du « résistancialisme » que ses interventions publiques avaient semblé cautionner jusqu’alors. Dans un feuillet correspondant à ce que les éditeurs ont appelé « Veillée des chefs de maquis et annonce du débarquement » (p. 17), Malraux résume par exemple la situation du pays à la veille du débarquement : « Dans les villages, les abrutis dorment, et quelques hommes écoutent ».4 Cette phrase fait écho au discours du commandant Dubart « qui renverse le mythe d’une France tout entière gagnée à

4 « Non », op. cit., p. 56.

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la Résistance » (p. 217) : « Autour de nous il y en a quarante millions d’aplatis ».5 Jean-Louis Jeannelle souligne que la provocation vis-à-vis d’une France encore peu préparée à remettre en cause la légende nationale devance de quelques années le deuxième tome de La Grande Histoi-re des Français sous l’Occupation d’Henri Amouroux, paru en 1977 chez Laffont et intitulé Quarante millions de pétainistes.6

Cependant, si le livre n’a jamais vu le jour, il ne semble pas que la raison première en fût que Malraux craignait de trahir la geste héroïque dans la liberté de la fi ction. Au contraire, l’essai insiste sur la relation passionnelle de l’écrivain à la Résistance au tournant des années 1970, face à la mise sur le devant de la scène historique du passé vichyste de la France et à « la politique d’amnistie » promue par Pompidou dans son effort de liquidation de l’héritage de De Gaulle : « tous ces livres, tous ces fi lms enragés à ne montrer que ceux qui n’ont jamais rien fait » (cité p. 257). Le projet de roman serait lié à un désir violent de prendre parti et de témoigner pour « l’humble honneur des hommes » (p. 259). Il est ainsi réévalué à l’aune d’un contexte idéologique précis et de la restitution d’un cadre éthique où reprennent sens les fi gures de l’héroïsme tragique et du sacrifi ce souvent associées à un aveuglement mythomaniaque ou à une simple manipulation politique.

Roman empêché et histoire littéraire

Toutefois, ce désir de témoigner par le roman n’a pas pris forme. Pourquoi n’existe-t-il pas d’épopée du maquis ? La question est à l’horizon de tous les commentaires sur ce projet nauf-ragé et en marque les limites. L’inaboutissement tient non pas à l’intervention de perturbations externes mais à de profondes et complexes motivations internes. La Résistance apparaît comme un terrain privilégié pour penser de manière non réductrice les liens entre littérature et histoire, entre vie et œuvre, entre texte et contexte dans la mesure où il s’agit là d’une expérience fonda-mentale dans la vie de Malraux mais aussi dans son rapport à l’écriture. En effet, celle-ci, comme le dit très bien Jean-Louis Jeannelle, correspond à « un besoin de ressaisir les événements en cours par la fi ction et l’impression au contraire d’atteindre les limites de ce domaine » (p. 29). C’est ainsi que l’étude des avant-textes de Lazare, qui nous donne la transcription diploma-tique (p. 252–261) d’un passage, retiré de la version fi nale, sur la mort de Raymond Maréchal, compagnon de la guerre d’Espagne, fusillé en 1944, où s’affi chent les sentiments profonds de Malraux sur la résistance, permet, selon l’auteur de l’essai, dans le geste même de rejet de « cet épanchement brusque et révélateur » (p. 262), de comprendre le mélange de passion et de recul entretenu avec la période de la guerre à l’origine de la persistance et de l’empêchement de ce roman du maquis mort-né.

Si ce livre nous fait entrer dans les sentiers de la création c’est aussi que le projet de roman fut, pour Malraux, selon son commentateur, l’occasion de s’interroger sur sa propre création, sur la résistance de la langue fi ctionnelle face à la vie d’une part et sur sa place en tant que romancier après 1945 d’autre part. À partir de cette proposition, l’essai apprécie la place de Malraux dans l’histoire littéraire de la seconde moitié du XXe siècle et son décalage avec les pratiques de la fi ction en cours. Il réévalue le rapport avec la catégorie de l’autofi ction, mais surtout montre l’infl uence du genre nouveau du témoignage, écrit ou cinématographique (Nuit et brouillard d’Alain Resnais en 1955, Le Chagrin et la pitié de Max Ophüls en 1971), qui met au premier plan l’anéantissement de la parole des survivants contre l’appel épique du résistant.

5 Ibid., p. 66.6 On notera également la convocation d’un texte de Malraux peu souvent cité : « Sauver les meubles »,

Œuvres complètes. Tome VI : Essais (Bibliothèque de la Pléiade), Paris : Gallimard, 2010, p. 394.

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Il est salutaire, pour lire un écrivain aussi violemment ignoré que Malraux, de refaire l’histoire de la mémoire collective. Cette dernière manifeste l’intempestivité de l’écrivain, dans le dernier tiers du XXe siècle, et a contrario la coïncidence de sa pensée avec la réestimation, aujourd’hui, d’un consensus intellectuel. Jean-Louis Jeannelle cite de façon éclairante les travaux récents de l’historien Pierre Laborie, pour qui la critique de la place prétendument usurpée de la Résistance française peut à son tour être assimilée à un ensemble d’idées reçues et à une déformation du réel. La vision d’un Malraux défenseur d’un lieu commun héroïque et contresignant ainsi sa réputation de chantre du résistancialisme pourrait bien alors s’inverser, sans contredire pour autant celle de l’identifi cation au régime gaullien, dans la fi gure d’une résistance éthique à une mythologie collective placée sous le signe de l’antihumanisme et de la mise au premier plan des valeurs d’humilité, d’épuisement et d’annihilation. L’essai propose donc un point de départ idéal pour reprendre à nouveaux frais la réfl exion sur le rapport de Malraux au roman et au témoignage, sur une stratégie romanesque en porte-à-faux dans l’évolution que subit, dans les années 1960–1970, au cœur du genre, l’articulation du fi ctionnel et du référentiel. Malraux aurait pris conscience du décalage de sa pratique du roman comme « légendaire biographique » (p. 310) – la formule est juste et effi cace – avec l’horizon d’attente du genre et du risque de voir celui-ci transformé en roman à clés. C’est une des raisons principales, et sans aucun doute la plus neuve, qu’avance cet essai à l’absence du roman.

Pau Dominique VAUGEOIS

Kathryn KLINGEBIEL, Bibliographie linguistique de l’occitan médiéval et moderne (1987–2007) (Publications de l’Association Internationale d’Études Occitanes, 8), Turnhout: Brepols, 2011, 544 S.

Diese Bibliographie linguistique de l’occitan médiéval et moderne (1987–2007) von Ka-thryn Klingebiel in der Reihe Publications de l’Association Internationale d’Études Occitanes, Turnhout 2011, ist die beste existierende Übersicht mit über 6000 Titeln und Hunderten von Besprechungen. Dabei ist es erstaunlich, dass diese unentbehrliche Forschungsgrundlage von einer Forscherin zusammengestellt wurde, die weit entfernt von der Heimat der Troubadours und Felibres auf Hawaii lehrt.

Die Gliederung ist übersichtlich und umfasst: „Bibliographies imprimées et électroniques – Internet“, „Dictionnaires“, insbesondere zu den Sprachregionen Südfrankreichs, „Atlas – Études diverses sur atlas“, „Grammaires“, „Histoire de la linguistique et de la lexicographie“, „Socio-linguistique“, „Dialectologie“. Es folgt ferner ein Abschnitt zu „Langue Littéraire – Langue du Moyen Âge“, unterteilt in „Graphies – Scripta“, „Phonétique et Phonologie“, „Morphologie et Syntaxe“, „Lexique et Lexicologie“ médiéval et moderne, „Onomastique“, „Textes et Manus-crits“ und „Études Linguistiques des Textes“.

Besonders nützlich sind die vier Indices: „auteurs cités“, „titres cités“, „mots et dialectes cités“, „auteurs modernes“. Man muss freilich einschränkend erwähnen, dass Interessierte an der Troubadourforschung neben der Arbeit von Klingebiel die Bibliographie de la Littérature Occitane: Trente Années d’Études (1977–2007), Nummer 6 der Publications de l’Association Internationale d’Études Occitanes, von Wendy Pfeffer und Robert A. Taylor als Ergänzung benötigen.

Die littérature occitane und die linguistique de l’occitan lassen sich nicht getrennt behandeln, sondern bilden eine untrennbare Einheit der philologie occitane. Wer sich z. B. über Wilhelm IX.,

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den ersten Troubadour, informieren will, braucht Angaben zu seiner Sprache (Klingebiel), aber auch Angaben über die bestehenden Ausgaben, über die éditions de textes (Pfeffer/Taylor). Nur eine gleichzeitige Benutzung beider Bibliografi en führt zum Ziel. Für den Studienanfänger wäre überdies eine selektive, kritische Bibliografi e wünschenswert, wie sie sich bei Taylor für den literarischen Teil der Jahre vor 1977 fi nden lässt: Robert A. Taylor, La Littérature Occitane du Moyen Âge: bibliographie sélective et critique, Toronto: University of Toronto Press, 1977.

Da die Textausgaben in beiden Bibliografi en großen Raum einnehmen, sind Überschnei-dungen unumgänglich. Bei gleichzeitiger, ergänzender Benutzung beider Werke wird ein hoher Grad an Vollständigkeit erreicht. Bedenkt man den Umfang der Materialfülle, so ist die Zahl der Lücken verschwindend gering. Beschränkt man sich auf die beiden Troubadoure Wilhelm IX. und Marcabru, so fehlen z. B. folgende Angaben:

Gizzi, Luca, „Un tassello per ‚Sobre·l vieill trobar e·l novel‘ (BdT 323, 24). Peire d’Alvernh e Guglielmo IX“, in: Annali dell’Istituto Universitario Orientale di Napoli. Sezione Romanza 42 (2000), 307–314.

Gruber, Jörn, „Porque trobar é cousa en que jaz entendimento. Zur Bedeutung von trobar natural bei Marcabru und Alfons dem Weisen“, in: Homenagem a Joseph M. Piel por ocasião do seu 85. aniversário, Tübingen: Niemeyer, 1988, 569–579.

Lazzerini, Lucia, „Briciole marcabruniane“, in: Studi di fi lologia medievale offerti a D’Arco Silvio Avalle, Mailand: Ricciardi, 1996, 217–236.

Als weitere Lücke ist mir aufgefallen:

Bellone, Luca, „La lingua della Moralitas Sancti Heustacii (1504)“, in: Bollettino dell’Atlante Linguistico dell’Italiano III.30 (2006), 155–235.

Bei meinen eigenen Arbeiten zur Okzitanität sind vielleicht bei einer Neuaufl age zu ergänzen:

Pfi ster, Max, „Panorama de la lexicographie de l’ancien occitan de 1976 à 1981“, in: Atti del Secondo Congresso della „Association Internationale d’Études Occitanes“, Torino, 31 agosto – 5 settembre 1987, Turin: Università di Torino, 1993, vol. 2, 923–954.

Pfi ster, Max, „L’area galloromanza“, in: Lo spazio letterario del Medioevo, 2.1. Il Medioevo volgare, vol. II: La circolazione del testo, hg. v. P. Boitani, M. Mancini u. A. Vàrvaro, Rom: Salerno, 2002, 13–96.

und folgende Besprechungen zu:

Raimon Vidal, Il Castia-Gilos e i testi lirici a c. di G. Tavani, Milano/Trento, 1999, in: ZrP 117 (2001), 550–555.

Le Poesie di Folchetto di Marsiglia, ed. critica a c. di P. Squillacioti, Ospedaletto (Pisa), 1999, in: ZrP 118 (2002), 513–516.

Bardell, Matthew (Hg.), La Cort D’Amor. A Critical Edition, Oxford, 2002, in: ZrP 120 (2004), 564–568.

Corradini, Maria S./Periñan, Blanca (Hgg.), Giornate di Studio di Lessicografi a Romanza. Il linguaggio scientifi co e tecnico fra Medioevo e Rinascimento. Atti del Convegno internazi-onale Pisa, 7–8 nov. 2003, Pisa, 2004, in: ZrP 125 (2009), 676–678.

Haupt, Hans-Christian, Le Roman d’Arles dans la copie de Bertran Boysset (manuscrit Aix-en Provence, Musée Paul Arbaud, M.O. 63): études et édition, Tübingen, 2003, in: Vox Roma-nica 63 (2004), 358.

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014

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207Besprechungen

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Abschließend kann man feststellen: Kathryn Klingebiel, ebenso wie Wendy Pfeffer und Robert A. Taylor, haben bedeutende Beiträge zur Okzitanistik geleistet. Die Aufnahme der beiden Bibliografi en als Bände 6 und 8 der Publications de l’Association Internationale d’Études Occitanes unter der Leitung von Walter Meliga ist daher aufgrund der hohen Qualität dieser beiden Bibliografi en angemessen.

Saarbrücken Max PFISTER

Nathalie KREMER, Vraisemblance et représentation au XVIIIe siècle (Les dix-huitièmes siècles, 156), Paris : Champion, 2011, 341 p.

Il y a des sujets dans l’air du temps. La réfl exion sur le vraisemblable a été lancée dès 1968 dans un numéro historique de Communications. Elle montrait la relativité des notions de repré-sentation, de mimesis et de réalité. Les publications se sont multipliées, ces années dernières, sur une catégorie centrale de la pensée classique, qui change progressivement de sens et de statut au cours du XVIIIe et du XIXe siècles. Dans La Vraisemblance narrative en question, Fiona McIn-tosh étudie Walter Scott et Barbey d’Aurevilly (Paris : Presses de la Sorbonne Nouvelle, 2002). Le numéro 280 de la Revue des sciences humaines, « Le Vrai et le vraisemblable. Rhétorique et poétique » (2005), traverse les littératures et les siècles, de Rome au Japon, du XVIe siècle à Queneau et à Claude Simon. Le collectif, coordonné par Marco Baschera et ses collègues, est plus ciblé chronologiquement (Vraisemblable et représentation au XVIIe siècle, Dijon : Centre de Recherche Interactions Culturelles Européennes, 2004), de même que la thèse d’Anne Duprat qui met le terme au pluriel et privilégie l’axe italo-français dans Vraisemblances. Poétiques et théorie de la fi ction, du Cinquecento à Jean Chapelain (1500–1670) (Paris : Champion, 2009). Nathalie Kremer a déjà consacré un chapitre de ses Préliminaires à la théorie esthétique du XVIIIe siècle (Paris : Kimé, 2008, p. 67–91) au dépassement du vrai par le vraisemblable dans les querelles du XVIIe siècle autour de deux chefs-d’œuvre contestés, Le Cid et La Princesse de Clèves. L’essentiel est ce que le public peut accepter, ce que l’opinion considère comme la norme.

N. Kremer reprend et élargit sa réfl exion dans ce nouvel essai qui distingue une vraisemblance rhétorique, cherchant à entraîner le lecteur, une vraisemblance poétique qui est fondée sur la cohérence interne du récit et enfi n une vraisemblance esthétique qui vise un idéal au-delà de l’anecdotique et l’accidentel. Pour fi xer sinon une doctrine classique, du moins des postulations classiques, elle analyse essentiellement des traités, les Réfl exions sur la Poétique d’Aristote du père Rapin (1674), transformées en Réfl exions sur la poétique de ce temps (1675), les Nouvelles réfl exions sur l’art poétique qui constituent une réponse du père Lamy (1678), ainsi que les trois discours antérieurs de Corneille (1660). Elle y montre les lignes de fracture entre acceptation et condamnation de la fi ction, mais aussi les glissements autour du statut de l’extraordinaire et du merveilleux. Jusqu’où le lecteur ou spectateur est-il prêt à permettre à l’écrivain de s’éloigner du quotidien et de l’habituel ? Ces textes théoriques sont suivis au XVIIIe siècle des Réfl exions critiques sur la poésie et sur la peinture de l’abbé Du Bos (1719), des Beaux-Arts réduits à un même principe de l’abbé Batteux (1746), de La Poétique française de Marmontel (1763), pour ne citer que les repères principaux. Les enjeux théoriques sont mis en œuvre dans des discussions critiques particulières. Les débats sur l’Œdipe (1719) et sur le Mahomet (1743) de Voltaire fournissent de bons exemples. Œdipe peut-il n’avoir pas reconnu son père, puis sa mère ? Voltaire, qui s’attaque lui-même sur scène au mythe antique, critique les versions données par

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Sophocle et par Corneille. Il se propose d’atténuer ce qui lui apparaît comme un artifi ce et un défi au bon sens. Mais la reconnaissance du père et du fi ls qu’il met en scène quelques années plus tard dans son Mahomet est elle-même critiquée par L’Année littéraire. Les uns et les autres semblent se référer à la même catégorie du vraisemblable, mais ils n’en donnent pas la même défi nition. Au cours du XVIIIe siècle, la Providence est progressivement remplacée par le hasard et un équilibre doit être trouvé entre la norme et l’exception.

Le siècle des Lumières développe une autonomie de l’esthétique et pense la diversité des mises en forme de la réalité selon les arts. Les arts de l’espace jouent d’un type de représenta-tion qui n’est pas celui des arts du temps. La métaphore traditionnelle de la poésie ut pictura se défait dans la conscience de modalités différentes. Le théâtre et le roman, la peinture et la sculpture revendiquent une illusion de réalité qui n’est plus contradictoire avec la conscience qu’il s’agit d’une illusion. L’émotion qui parle au cœur devient plus importante que le trompe-l’œil qui ne s’intéresse qu’aux sens. Il s’agit alors d’embellir ou d’exagérer la nature plutôt que de la reproduire immédiatement. Marian Hobson dans L’Art et son objet a bien distingué, en ce sens, une représentation comme simulation et une illusion qui n’est pas incompatible avec une conscience de l’artifi ce. N. Kremer essaie de raffi ner sur cette opposition, en appliquant à la pratique critique de Diderot le jeu d’illusion et de désillusion, caractéristique chez M. Hobson de l’art rocaille. À propos de la peinture, Cochin parle d’un « second degré d’illusion impropre-ment dite » qui s’émancipe de la réalité pour produire un plaisir et un intérêt du spectateur. La vraisemblance ne repose plus alors sur la répétition de l’identique, elle n’est plus reproduction et reconnaissance, mais production et connaissance.

Le livre offre un ensemble d’analyses fi nes sur la théorie littéraire, du milieu du XVIIe à la fi n du XVIIIe siècle. Il fait miroiter la diversité des signifi cations d’un outil conceptuel central et marque bien les enjeux qu’il engage. Mais l’historien des textes et des idées reste un peu déçu par l’enfermement dans le seul propos théorique. La théorie n’a de sens et d’intérêt qu’en dialogue avec la création littéraire, avec les pratiques concrètes d’écriture, de lecture et de repré-sentation théâtrale. Dans cette perspective, le plus intéressant serait alors de mettre en relation la vraisemblance littéraire et le probable, tel qu’il est défi ni à la même époque par la théorie mathématique des probabilités ou bien par les nouvelles procédures policières et juridiques dans l’enquête criminelle. La théorie littéraire peut alors s’ouvrir à l’ensemble des pratiques sociales et des constructions conceptuelles.

Paris Michel DELON

Aïno NIKLAS-SALMINEN, Le bilinguisme chez l’enfant. Étude d’un cas de bilinguisme précoce simultané français-fi nnois (Langues et écritures), Aix-en-Provence : Publications de l’Université de Provence, 2011, 202 p.

L’ouvrage d’Aïno Niklas-Salminen décrit d’une manière claire et détaillée les résultats d’une étude longitudinale portant sur le processus d’acquisition du langage d’une enfant bi-lingue précoce. L’enfant étudiée habite en France. Sa mère, qui est bilingue tardive fi nnophone-francophone, parle fi nnois avec sa fi lle. Son père, francophone, lui parle en français. Le corpus étudié consiste en 40 heures d’enregistrements et en des prises de notes. Le corpus a été construit lorsque l’enfant avait entre un an et cinq ans et demi. Bien que l’étude se base sur une seule informatrice, elle est extrêmement riche, et elle constitue un bon point de départ pour des études ultérieures plus vastes.

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014

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Le fait que l’auteur étudie le langage de son propre enfant n’est pas gênant. Comme l’auteur le dit elle-même (p. 71), cela lui a permis d’enregistrer une grande variété de situations authen-tiques de la vie quotidienne et d’observer le processus d’acquisition du langage d’une manière globale. Par conséquent, les analyses présentées sont approfondies, et elles illustrent bien les différentes phases du développement de l’enfant. Comme l’auteur réussit à analyser les énoncés de son enfant d’une manière très objective et transparente, la relation proche entre la chercheuse et l’informatrice constitue ici un fait enrichissant.

L’auteur commence par défi nir la notion de bilinguisme (p. 13–24). En effet, en plus du bilinguisme individuel faisant l’objet de cet ouvrage, la notion de bilinguisme peut être abordée sur des plans institutionnel et territorial (p. 13, 22). Les différentes défi nitions du bilinguisme individuel varient aussi considérablement. Selon certaines conceptions, il suffi t de pouvoir parler, comprendre, lire ou écrire dans une langue autre que sa langue maternelle pour être considéré comme bilingue. D’autres défi nitions délimitent la portée du terme aux personnes dont les compétences linguistiques sont au niveau d’un locuteur natif dans les deux langues (p. 13 sq.).

De même, on peut distinguer le bilinguisme précoce et le bilinguisme tardif (p. 15). Le bilinguisme est considéré comme précoce lorsque l’apprentissage des deux langues se fait avant l’âge de six ans. Si le locuteur est en contact avec les deux langues dès le début, on parle du bilinguisme précoce simultané. Lorsque l’apprentissage de la deuxième langue commence après l’âge de trois ans, le bilinguisme précoce est considéré comme étant consécutif. Si le contact avec la deuxième langue commence seulement après l’âge de six ans, il s’agit du bilinguisme tardif et non pas précoce, puisque les mécanismes d’apprentissage de la langue sont différents après cet âge. Comme l’informatrice de cette étude a été en contact avec les deux langues – le fi nnois et le français – depuis sa naissance, elle est bilingue précoce simultanée.

Ensuite, l’auteur donne un aperçu des résultats d’études antérieures portant sur l’acquisition du langage (p. 25–37). La première phase du processus d’acquisition consiste en l’organisation de la perception des sons (p. 25 sq.). Les mécanismes commencent à s’adapter à la langue parlée dans l’entourage de l’enfant. L’infl uence de la langue maternelle de l’enfant sur son système de perception des sons peut être observée à partir de l’âge de six mois. Les premiers traits spécifi ques d’une langue particulière apparaissent dans le babillage vers l’âge de dix mois, et le système phonologique de la langue maternelle émerge peu après. La prosodie joue aussi un rôle important dans l’acquisition du langage, puisque l’enfant se sert des indices prosodiques notamment pour reconnaître des frontières de mots et la voix de sa mère (p. 26).

Quant à l’acquisition du lexique, les premiers mots sont produits à la fi n de la première année ou pendant la première moitié de la deuxième année (p. 28). Le lexique s’accroît drastiquement entre l’âge d’un an et demi et deux ans (p. 26). Les enfants ont tendance à apprendre d’abord surtout des noms, ensuite des verbes et des adjectifs, et en dernier des mots grammaticaux (p. 30). En ce qui concerne l’acquisition de la grammaire, le fait de débuter par l’association de deux mots – c’est-à-dire le fait d’apprendre à former d’abord des énoncés de deux mots seulement – constitue un trait universel (p. 36). L’aperçu du processus d’acquisition du langage est très intéressant et varié, mais il serait encore meilleur si les phases du développement de l’informatrice de cette étude y étaient brièvement décrites à titre d’exemple.

L’auteur remarque que les bilingues précoces parlent généralement les deux langues aussi bien que les monolingues (p. 39). Leur vocabulaire n’est pas moins riche que celui d’un mo-nolingue, et la prosodie de leur parole ne porte pas d’accent étranger. Bien que les bilingues précoces doivent apprendre à reconnaître et à utiliser deux systèmes linguistiques différents, ils peuvent les acquérir simultanément, sans prendre deux fois plus de temps que les monolingues (p. 40). En effet, les études récentes effectuées dans le domaine de la neurolinguistique montrent que le cerveau humain n’est pas ‹ programmé › pour l’acquisition d’une seule langue, mais

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plutôt pour l’acquisition simultanée de plusieurs langues (p. 47). À l’instar des monolingues, le développement lexical des bilingues précoces est très rapide autour de l’âge de 18 mois (p. 41). Néanmoins, les lexiques des deux langues ne se développent pas nécessairement au même rythme, puisque souvent l’enfant n’est pas constamment exposé aux deux langues d’une manière égale.

Avant de présenter les analyses d’exemples, l’auteur donne un aperçu des particularités du fi nnois, qui est une langue fi nno-ougrienne (p. 56–68). L’accent est mis sur les traits liés au caractère ‹ agglutinant › du fi nnois. Cette langue comporte quinze cas de déclinaison. Les suffi xes possessifs et les particules enclitiques sont également caractéristiques. Ces unités sont ‹ agglutinées › aux mots pour remplir, dans beaucoup de cas, les fonctions des prépositions et des pronoms typiques des langues indo-européennes. Le genre grammatical et les articles, ca-ractéristiques des langues indo-européennes, n’existent pas en fi nnois. Bien que la conjugaison des verbes soit relativement simple en fi nnois, l’existence de nombreuses formes nominales complique un peu le système verbal. En effet, le fi nnois comporte cinq participes et cinq infi nitifs. L’interrogation totale est exprimée à l’aide de la particule enclitique -ko/-kö, et l’interrogation partielle à l’aide d’un mot interrogatif. À la différence du français, l’intonation montante n’a pas de fonction interrogative en fi nnois. La description du fi nnois donnée dans cet ouvrage est claire et pertinente. Le manque total de références à Iso suomen kielioppi (‹ La grande grammaire du fi nnois ›) de Hakulinen et al. (2004)1 semble cependant étonnant.

L’auteur commence la présentation de ses exemples par les énoncés à un mot (p. 81). L’infor-matrice – à laquelle l’auteur se réfère par « M » – produit son premier mot vers l’âge de douze mois (p. 82). Son vocabulaire s’élargit d’abord lentement, ce qui est tout à fait typique d’après les études antérieures présentées dans les premiers chapitres de l’ouvrage. Ensuite, il y a une extension rapide du vocabulaire entre quinze et 19 mois (p. 82). Lorsque M a un an et dix mois, son vocabulaire comporte 173 mots fi nnois et 105 mots français (p. 84). Les deux lexiques ne se développent donc pas tout à fait au même rythme. Les noms sont la partie du discours la plus grande dans le vocabulaire de M aussi bien en fi nnois qu’en français. Les verbes, les adjectifs et les mots grammaticaux sont nettement moins fréquents dans cette phase. La plupart des mots qu’elle utilise ont deux syllabes (p. 84).

M commence à produire des énoncés à deux mots vers l’âge de 18 mois (p. 97). Souvent, l’énoncé consiste en un nom et en un verbe, par exemple : bébé dodo (p. 97) ou heppa keinuu (‹ le cheval se balance ›, p. 103). Souvent, les deux mots appartiennent à la même langue, mais il y a aussi des énoncés hybrides comportant un mot fi nnois et un mot français (p. 106–108). Il peut s’agir d’une répétition bilingue où un mot est énoncé d’abord dans une langue et tout de suite après dans l’autre, par exemple : isä papa (p. 107). Un nom produit dans une langue peut également être associé à un verbe ou à un adjectif produit dans l’autre langue, par exemple : setä gentil (‹ tonton gentil ›, p. 108).

L’auteur présente aussi des cas où les deux langues sont présentes à l’intérieur d’un mot (p. 116–118). Ce sous-chapitre extrêmement intéressant comporte des exemples comme kilttiment (kiltti, ‹ gentil › + -ment, p. 117) et je vais huutaa minoulle (‹ je vais crier au minou ›, p. 117). L’auteur remarque que les énoncés à un mot ne comportent pas de cas de ce type, puisque les énoncés à un seul mot consistent en des mots non déclinés, comprenant souvent uniquement un morphème (p. 116). Par conséquent, l’apparition des mots hybrides dans les énoncés où il y a des mots à plusieurs morphèmes témoigne de la conscience de l’existence des catégories grammaticales (p. 117). Les constructions syntaxiques hybrides présentées par l’auteur sont aussi très intéressantes (p. 133–142). Les exemples où le verbe est en français et le COD est en fi nnois évoquent la parole de beaucoup de Finlandais de langue suédoise. En effet, on entend

1 Hakulinen, Auli et al., Iso suomen kielioppi, Helsinki : Suomalaisen Kirjallisuuden Seura, 2004.

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souvent dans les rues de Helsinki des énoncés du type moi je veux oman kynän (‹ moi je veux un propre crayon ›, p. 137), où le sujet et le verbe sont en suédois et le COD est en fi nnois.

Les fusions sémantiques et syntaxiques prises dans les énoncés de M ressemblent à celles que l’on peut trouver aussi dans la parole des apprenants fi nnophones du français comme langue étrangère. Par exemple, un énoncé comme combien ça paye (p. 152) pourrait très bien apparaître également dans la parole d’un lycéen fi nnophone apprenant le français. L’emploi du verbe payer s’explique ici par le fait que le verbe maksaa du fi nnois signifi e aussi bien ‹ payer › que ‹ coûter › (p. 152). Les énoncés comme il pleut de la neige (au lieu de il neige, p. 158) ou c’est mon (au lieu de c’est à moi, p. 158) semblent aussi tout à fait typiques de la parole des apprenants fi nnophones du français.

Dans l’ensemble, l’ouvrage d’Aïno Niklas-Salminen est très intéressant, informatif, bien écrit et agréable à lire. L’ouvrage est basé sur une étude empirique très systématique et approfondie. Les exemples sont bien choisis, et leurs analyses sont très claires et convaincantes. Dans cette étude, l’auteur analyse des énoncés. Si l’auteur envisage de continuer à travailler sur ce corpus, une étude adoptant une approche plus interactionnelle pourrait être fructueuse. En analysant des séquences plus larges on pourrait éventuellement obtenir de nouvelles informations sur la façon selon laquelle les enfants bilingues précoces apprennent à comprendre par exemple des sens implicites interactionnels de différentes unités de la langue.

Helsinki Mari WIKLUND

Valeska VON ROSEN (Hg.), Erosionen der Rhetorik? Strategien der Ambiguität in den Künsten der Frühen Neuzeit (culturæ – Intermedialität und historische Anthropologie, 4), Wiesbaden: Harrassowitz, 2012, VII + 356 S.

In den letzten Jahren ist ein gesteigertes Interesse und Bestreben in der Forschung auszu-machen, in interdisziplinärer Perspektive die Vielfalt der Formen und Funktionen strategischer künstlerischer Ambiguität systematisch zu fassen. Dabei wird zum einen an einem gemein-samen theoretischen Rahmen für die Werkanalysen und an der Defi nitionsschärfe der Termi-nologie gearbeitet. Zum anderen wird das Augenmerk darauf gerichtet, Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit differenziert in ihren je spezifi schen „historischen Erscheinungsweisen und Wandlungsprozesse[n]“ zu untersuchen.1

Aus einer von Valeska von Rosen konzipierten Tagung an der Ruhr-Universität Bochum im Mai 2009 hervorgegangen, analysiert der vorliegende Sammelband „Strategien der Ambigui-tät“ in der bildenden Kunst, Literatur und Musik in ihrem Verhältnis zum System der Rhetorik

1 Zum Zitat: Verena Krieger, „‚At war with the obvious‘ – Kulturen der Ambiguität. Historische, psy-chologische und ästhetische Dimensionen des Mehrdeutigen“, in: Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas, hg. v. V. Krieger u. R. Mader, Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2010, S. 13–49, S. 47. Vgl. zudem z. B. aus interdisziplinärer Perspektive, mit Anspruch auf Theoriebildung, das 2013 eingerichtete DFG-Graduiertenkolleg 1808 Ambiguität – Produktion und Rezeption (beteiligte Disziplinen sind u. a.: Romanistik, Allgemeine Rhetorik, Medienwissenschaf-ten, Sozialpsychologie) sowie: Wolfgang Klein/Susanne Winkler (Hgg.), Ambiguität. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 158 (2010).

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während der europäischen Frühen Neuzeit.2 Die Rhetorik wird als transdisziplinär verbindliche Produktionswissenschaft angesetzt, welche die „Rezipientenorientiertheit“ (S. 1) und Ausdrucks-sprache frühneuzeitlicher Kunstwerke prägte und mit der Kategorie des decorum die angemessene Beziehung von res und signa, von „inhaltlich-semantischen und morphologisch-formästhetischen Aspekten“3 regelte. Aufbauend auf Forschungsrichtungen, die für die frühneuzeitlichen Künste eine intensive Auseinandersetzung mit dem Prozess und der Problematik der Bedeutungsgenerie-rung und -zuschreibung als charakteristisch herausgearbeitet haben, fokussiert die vorliegende Publikation nun gerade jene Kunstwerke, die durch „Strategien der Ambiguität“ die Form-Inhalt-Adäquanz beeinfl ussen und destabilisieren. Es wird der Frage nachgegangen, ob dieses Eingreifen in die Regeln des decorum innerhalb oder außerhalb des Systems der Rhetorik anzusiedeln sei. Während nach 1800 eine radikale Loslösung von der systematischen Einfl ussnahme der Rhetorik auszumachen sei, ließe sich diese Frage für den frühneuzeitlichen Zeitraum größtenteils nicht eindeutig beantworten, wie von Rosen in ihrer Einleitung resümierend vorausschickt. Dieser Umstand mindert jedoch in keiner Weise Potentiale und Notwendigkeit der Herangehensweise und Fragestellung des Bandes. So formuliert die Herausgeberin einführend zwei äußerst relevante konzeptionelle Anliegen, die in den Beiträgen verfolgt werden: Es sollen einerseits Parallelen in Werken der bildenden Kunst, Literatur und Musik in Bezug auf Formen und Funktionen von Ambiguität sowie deren Auswirkungen auf die Rolle des Systems der Rhetorik aufgezeigt und untersucht werden. Andererseits soll ein „Perspektivenwandel in der Forscherhaltung“ initiiert werden, im Zuge dessen die Frage entschieden in den Fokus zu rücken sei, wie man „praktisch und theoretisch-methodisch argumentiert, wenn Divergenzen zwischen der Norm und der Pra-xis zu konstatieren sind“ (S. 3 f.). Damit wird das Augenmerk überzeugend auf ein Desiderat der Forschung gerichtet und interdisziplinär folgender Fragenkomplex verhandelt: Bedingen Formen künstlerischer Ambiguität in der Frühen Neuzeit Erosionen der Rhetorik, indem sie die Gültigkeit des Systems in Frage stellen oder gar außer Kraft setzen? Oder vollziehen sich die Ambiguisierungen vielmehr innerhalb des Systems als spielerische Thematisierung des semantischen Bezugssystems? Sind sie als kalkuliertes Ausreizen der Grenzen von Gattungen sowie als Abweichen von Normen im Rahmen des ornatus zu verstehen und werden als Codes eines Diskurses unter Eingeweihten eingesetzt?4

Ambiguität wird so auf rezeptions- und produktionsästhetischer sowie auf poetologischer, kunst- und musiktheoretischer Ebene thematisiert. Die titelgebende Begriffswahl Strategien der Ambiguität sowie das breite Spektrum an Phänomenen, die die Aufsätze in ihrer Zusammenschau

2 Die Erforschung von Strategemen der Ambiguität in der italienischen Malerei zählt zu den For-schungsschwerpunkten der Herausgeberin, vgl. u. a.: Valeska von Rosen, „Res et signa. Formen der Ambiguität in der Malerei des Cinquecento“, in: Kann das Denken malen? Philosophie und Malerei in der Renaissance, hg. v. I. Bocken u. T. Borsche, München: Fink, 2010, S. 243–274. Valeska von Rosen, Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600, Berlin: Akademie Verlag, 2009.

3 Klaus Krüger, „‚...fi gurano cose diverse da quelle che dimostrano‘. Hermetische Malerei und das Geheimnis des Opaken“, in: Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne, hg. v. G. Engel u. a. (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, 6), Frankfurt am Main: Klostermann, 2002, S. 408–435, S. 412.

4 Bezüglich des Verständnisses des Systems der Rhetorik hätte generell die Pluralität der frühneuzeit-lichen Rhetorik mit ihren unterschiedlichen Traditions- und Lehrsträngen wie auch die Rolle der Sophistik eingehender und differenzierter bewusst gemacht werden können. Vgl.: Gerhart Schröder u. a. (Hgg.), Anamorphosen der Rhetorik. Die Wahrheitsspiele der Renaissance (Ursprünge der Moderne, 1), München: Fink, 1997. Auch eine explizite Auseinandersetzung mit der argutia-Lehre, die von Rosen einleitend erwähnt, bleibt aus.

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aufzeigen, ergeben ein weitgefasstes Verständnis des Terminus ‚Ambiguität‘ in Anlehnung an Verena Kriegers Defi nition als Metaterminus für intendierte, strukturelle und strategische künst-lerische Ambiguität, die sich durch einen „Mangel an semantischer Eindeutigkeit“ auszeichnet und Ambivalenz, Mehrdeutigkeit, semantische Offenheit bzw. Unbestimmtheit und Rätselhaf-tigkeit umfasst (Krieger 2010, S. 15). Von Rosen zitiert diese Begriffsbestimmung Kriegers einleitend in einer Fußnote, verweist zugleich aber auf die „systematische Zusammenstellung von Ambiguitätsphänomenen“ in dem Beitrag Ulrich Pfi sterers, der als Auftakt und Orientierung in die Thematik dienen soll (S. 2).

Pfi sterer differenziert auf rezeptions- und produktionstheoretischer Ebene Ambiguität und Vagheit nun grundlegend voneinander. Ambiguität bedeutet für ihn, dass seitens des Werkes mehrere „klar benennbare Deutungsmöglichkeiten“ offeriert werden (S. 44). Vagheit hingegen bezeichne das „tendenziell offene Sinnpotential“ (ebd.). Er folge in dieser Differenzierung den antiken und frühneuzeitlichen Rhetoriklehren. Sein Beitrag ist in einen nah am Material dreier Fallbeispiele aus der Literatur arbeitenden Teil und in einen systematisch-theoretisch orientierten Part gegliedert, in dem sieben „Diskussionsfelder“ zu „visueller Ambiguität und Vagheit“ auf-gefächert werden (S. 44)5: 1. „Verschiedene Deutungsangebote auf einer tieferen Sinnebene“ (z. B. Allegorien), 2. „Unklarheiten auf der Ebene des konventionellen Sujets“ (z. B. das Oszil-lieren zwischen profan und sakral), 3. „Unbestimmtheiten der Form“ (wie non-fi nito, sfumato, vaghezza), 4. „visuelle Leerstellen“, 5. „Mehrdeutigkeit durch unterschiedliche Betrachter“, 6. „nicht intendierte Mehrdeutigkeit“ und 7. „vorgebliche Vagheit und Ambiguität“ (z. B. „als Schutzbehauptung für kontroverse Bildwerke“) (S. 45–54). Pfi sterer verwendet zur Erstellung seiner Ordnung zahlreiche Fallbeispiele, zeitgenössische Quellentexte und kunsttheoretische Begriffl ichkeiten. Er bietet den LeserInnen somit eine profunde Übersicht und Sensibilisierung für die Vielfalt ‚visueller Ambiguität und Vagheit‘. Vor allem überzeugt sein Aufsatz durch die Auswahl und Analyse seiner zentral gesetzten Fallbeispiele, deren tertium comparationis titelge-bend ist: „Akt und Ambiguität: 1552, 1559, 1640“. Der Autor bespricht drei literarische Texte, die sich auf je spezifi sche Weise des Motivs des Gemäldes eines weiblichen Aktes bedienen, um über das Aufrufen des Bildmediums unterschiedliche Formen und Funktionen visueller Ambiguität und Vagheit zu inszenieren und für ihre Erzählung zu nutzen. In Ferrante Pallavicinos Roman Il Principe Hermafrodito (1640) wird die bildliche Darstellung eines nackten, ikonographisch eindeutig weiblichen Körpers abhängig von den jeweiligen BetrachterInnen und ihrem Wissen über den eigenen Körper mal als weiblicher, mal als männlicher Körper gesehen (5. Diskussi-onsfeld). In einer Episode aus Valentin Schumanns Schwank-Sammlung Nachtbüchlein (1559) lässt der private Auftraggeber einer Bildtafel das Sujet der nackten Liegenden vom Künstler mit einem grünen Vorhang übermalen und den Frauenakt als „(wandelbare) Projektionsfl äche männlicher Phantasien“ in seine Imagination verlagern (S. 43) (4. ‚visuelle Leerstellen‘). In Giulia Bigolinas Roman La Urania (1552) wird, um einen Fürsten dazu zu bewegen, sich in eine Herzogin zu verlieben, von jener ein Gemälde angefertigt, das sie zum einen als nackte Liebesgöttin inszeniert und zum anderen porträthafte Züge zur Ermöglichung der Identifi zierung trägt. Derart werde ein Spiel mit den Regeln des decorum einer mythologischen Gestalt einerseits und denen des Porträts einer tugendhaften Herzogin andererseits sowie – aus der Perspektive der textinternen Figuren – zwischen Fakt und Fiktion evoziert. Bezüglich der von Pfi sterer hier nicht erörterten fundamentalen strukturellen Intermedialität und der Erzähltechniken der sehr gelungenen Textauswahl zeigen sich bei der Lektüre des Aufsatzes äußerst vielversprechende Ansatzpunkte, von denen aus herauszustellen wäre, wie die literarischen Werke ihre medienspe-

5 Die Siebenzahl wird nicht als Wiederaufnahme/Auseinandersetzung mit William Empsons „Seven Types of Ambiguity“ (1930) verstanden.

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zifi schen Potentiale konkret nutzen, um ‚visuelle Ambiguität‘ ästhetisch produktiv zu machen. Außerdem ließe sich derart der Aspekt von Fakt und Fiktion stärker konturieren und in Hinblick auf die Ambiguitäts-Thematik fruchtbar machen.6

Jörg Robert fokussiert in seiner Analyse von Werken der französischen Liebeslyrik des 16. Jahrhunderts hingegen insbesondere die Frage nach der Erosion der ars, die für ihn termi-nologisch das Feld von Poetik, Rhetorik und Stilistik umfasst.7 In seinem Aufsatz „Simple Venus vs. art de Pétrarquiser. Pluralität der Liebe und Erosion der Kunst bei Pierre de Ronsard und Joachim Du Bellay“ bespricht er Auszüge aus Ronsards erstem Buch der Amours (1560–1578), den Amours de Cassandre, und die „Elégie à son livre“, Einleitung der Amours de Marie, sowie – vergleichsweise knapper in der Ausführung – Du Bellays Gedicht „Contre les Pétrarquistes“ der Sammlung Divers jeux rustiques (1558). Robert weist in den Texten Bezüge zur römischen Liebeselegie (Ovid, Tibull, Properz) wie auch zur petrark(ist)ischen Liebesdichtung nach und macht evident, dass die ovidisch-elegische und die petrark(ist)ische Liebeslyrik einander in ihrer Widersprüchlichkeit pointiert gegenübergestellt und als „distinkte und ‚systemische‘ Ge-bilde“ markiert werden (S. 143). In Ronsards Gedichten z. B. verdeutlicht er, wie der antiken Elegie der Vorzug gegeben und ihr gemäß die Forderung nach Einfachheit, Natürlichkeit und Aufrichtigkeit gestellt werde. Das Ideal der semplicitas der römischen Liebeselegie gelte dabei sowohl als ethische wie auch stilistisch-poetologische Kategorie. Simplicité werde von Ronsard als kunstloser und natürlicher Stil, geeignet für eine aufrichtige Liebesdichtung, dem artifi ziellen Schreiben der petrark(ist)ischen Liebesdichtung entgegengesetzt. Auf der Basis der strukturellen Pluralität der Liebesdiskurse würden so Fragen nach der Angemessenheit von Gattung, Vorbild und Stil verhandelt. Mit seinem Plädoyer für die imitatio veterum und die semplicitas verorte sich Ronsard innerhalb einer aktuellen Debatte um Konzepte der literarischen imitatio gegenüber dem Petrarkismus und setze sich mit Positionen renommierter Vertreter des Antipetrarkismus in Italien (u. a. Niccolò Franco, Pietro Aretino) auseinander. Robert skizziert die in diesem Zusammenhang relevanten Aspekte der imitatio-Debatte und verweist u. a. auf Bezugnahmen Ronsards auf Erasmus’ Anticiceronianismus und dessen Unterscheidung der viva vox und mortua scriptura. Im Sinne dieser Gegenüberstellung könne die „stilisierte Dialogsituation der Elegie“ durch ihre Inszenierung von Mündlichkeit als Zeichen der Nähe und Natürlichkeit verstanden werden und der Schriftsprache als Mittel der Distanzschaffung entgegenstehen (S. 158). Über-zeugend kommt Robert zu dem Schluss, dass die Forderung nach simplicité sich jedoch nicht unabhängig von und außerhalb der ars, sondern über die imitatio veterum und das Referieren auf die semplicitas innerhalb des Systems der ars als eine „dissimulierte Erosion und Destruk-tion des petrarkistischen Systems“ vollziehe (S. 148). Damit fi nde keine veritable Erosion der Rhetorik, sondern eine Neuwahl der Vorbilder und Modelle statt.

Die Korrelation von Ethik und Ästhetik, wie Robert sie für die simplicité unterstreicht, setzt auch Jörn Steigerwald als ausschlaggebendes Charakteristikum seines Fallbeispiels an, um die Frage nach der Erosion der Rhetorik und den Grenzen der Gattung des Epos zu erörtern. Unter dem Titel „Meraviglioso Adone: Das Wunderbare als Lizenz episch-didaktischer Dichtung in Giovan Battista Marinos Adone“ analysiert er das 1623 erstmals in Paris publizierte Versepos. Er rekurriert dabei auf zentrale Aspekte von Jean Chapelains Lettre, die der frühneuzeitlichen Textedition des Adone vorangestellt ist. Chapelain betone die Neuheit von Marinos Epos, das die Gattungsgrenzen ausreize, aber nicht überschreite, und das Heldenepos als poème de paix ablöse.

6 Vgl. z. B.: Ulrike Schneider/Anita Traninger (Hgg.), Fiktionen des Faktischen in der Renaissance (Text und Kontext. Romanistik, 32), Stuttgart: Steiner, 2010.

7 Während die Beiträge im Band nach der Einleitung von Rosens und dem Auftakt Pfi sterers tenden-ziell chronologisch angeordnet sind, werden sie hier nach thematischen Gesichtspunkten gegliedert skizziert.

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Dabei sei das Friedensepos eine klar geordnete Mischung von Tragödie und Komödie. Die utilité des Werkes gründe in der Reinigung lasterhafter Leidenschaften, denen die ideale Liebe Amors und Psyches als vorbildhaft gegenübergestellt und in einer spezifi schen Form des Wunderbaren, den accidents, repräsentiert werde. Steigerwald nimmt diese Funktion des Wunderbaren in den Blick und ergänzt Chapelains Ausführungen um Aussagen aus Poetiken des Secondo Cinque-cento (Bonciani, Patrizi da Cherso), die die fi ktionsträchtige, „an das ‚meraviglioso‘ gebundene Form epischen Dichtens“ ausführten (S. 218). Im Adone seien es, so Steigerwald, gerade die sekundären Geschichten, die die amplifi catio des umfangreichen Epos bedingten und zugleich das Wunderbare evident machten. Anhand der Analyse der Erzählungen zur Liebe Amors und Psyches demonstriert er, dass Bewunderungswürdig-Sein und Bewundern-Können korrelierten und der Akt des Bewunderns zugleich zur Erkenntnis führe. Das Wunderbare werde derart zur „Lizenz episch-didaktischer Dichtung“ (S. 209). Marinos Stil sei demnach keine ins Leere lau-fende Rhetorisierung: Im Adone werde vielmehr eine spezifi sche Form der Erosion vollzogen, die ‚Korrosion‘, die als Reaktion auf ein Werk bzw. Genre zu dessen Veränderungen führte, im Falle Marinos zur „bewussten Transformation des Heldenepos in ein Friedensepos“ – maßgeblich gestaltet durch die amplifi catio der Haupthandlung (S. 211). Den didaktischen Anspruch dieser „neuen Liebesethik der höfi schen Gesellschaft“, die Engführung von Ethik und Ästhetik sowie die das Werk kommentierende Lettre Chapelains setzt Steigerwald als Modell und Wegbereiter der Galanterie des siècle classique an (S. 237).

Im Anschluss an Steigerwalds Beitrag wird auf sehr anregende Weise eine Gegenposition präsentiert. Bereits im Titel gibt David Nelting seine divergierende Sichtweise an: „Jenseits des aptum. Überlegungen zu Giovan Battista Marinos L’Adone als Sonderfall frühneuzeitlicher imitatio“. Seine Lesart von Chapelains Lettre fasst diesen Text als Auftragswerk mit strategischer Funktion auf. Das Gründungsmitglied der Académie Française habe ihn zur Verteidigung des Adone gegen eventuelle Kritik seitens der italienischen Akademien formuliert. Chapelain ver-suche mit Anstrengung, das neuartige Werk innerhalb der aristotelischen Regelpoetik zu verorten und die Regeln des aptum befolgt zu sehen. Die Angemessenheit der Kunstmittel gegenüber dem Gegenstand der Darstellung samt einem moralisch-ethischen Anspruch spricht Nelting Marinos Adone entschieden ab. Seine Argumentation präsentiert den Adone als einen Text, der einer „Poetik der vollständig desubstantialisierten schönen Rede“ angehöre, als ein „poëme sur rien“, indem weder die imitatio naturae noch die imitatio auctorum/veterum als Modell greife (S. 247). Die Gattung des Epos werde so weit gespreizt, dass ihre Tradition gekappt werde. „Poetologische Bezugssysteme oder Einzelreferenzen“ seien nicht nach „Maßgabe eines gat-tungsspezifi schen aptum“ präsent, sondern „dekontextualisiert“ und in „ostentativer Gleichgül-tigkeit“ kombiniert (S. 254 f.). Er macht dies u. a. an der paradoxalen Verkehrung von Motiven in der inventio sowie an der Erweiterung der Haupthandlung fest. Allein die „Ingeniosität des Autors“ werde durch diese Schachzüge bedeutsam gemacht (S. 249). Nelting greift im Zuge dieser Ausdeutung Aspekte aus Marinos Dicerie sacre auf, in denen Gott als pittore capriccioso und der Schöpfungsakt als capriccio präsentiert würden, die von funktionalen aptum-Regeln gänzlich unabhängig seien. Demgemäß sei auch der Adone ein Werk „jenseits des aptum“, in dem „über das rhetorisch einholbare Spiel formaler und semantischer Ambiguisierungen hinaus, […] das System der Rhetorik […] in grundsätzlichem Sinne“ erodiere (S. 243).

Einen Bruch mit der Gattungstradition des Madrigals identifi ziert Laurenz Lütteken in seinem musikwissenschaftlichen Beitrag „Die Erregung der Affekte. Imagination und Dar-stellung in Monteverdis Combattimento“. Anhand der Analyse des Combattimento und der Vorrede Monteverdis eruiert Lütteken den Einsatz strategischer Ambiguität v. a. auf stilistischer Ebene mit dem Ziel der Affektansprache der RezipientInnen: Im Zentrum der Musik habe die Erregung der Affekte zu stehen, hatte der Komponist in seinem Vorwort bereits expliziert und

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drei musikalische Stillagen unterschieden: concitato, molle und temperato. Für erstere gebe es noch kein Muster, jenes habe er, Monteverdi, nun erfunden. In stetem Abgleich mit vier Noten-beispielen veranschaulicht Lütteken die intermedialen Darstellungsmodi des Combattimento. Er differenziert drei Ebenen der Darstellung: die instrumentale, jene der eigentlichen Szene mit den handelnden, wörtlich redenden Clorinda und Tancredi und die der „chronikalen Rolle des Erzählers“ (S. 203). Lütteken macht deutlich, wie diese Ebenen in einem „komplizierten Gefl echt von Intensivierung und Distanzierung“ zum Geschehen miteinander verwoben und die Grenzen intendiert unscharf gehalten seien (ebd.). Die „Ausdifferenzierung der verschie-denen Rezitations ebenen“ bringt Lütteken überzeugend mit der aus dem psalmodischen Gesang entwickelten responsorialen Passion der liturgischen Praxis des späten 16. Jahrhunderts in Verbindung (S. 196). Die Assoziation der zeitgenössischen RezipientInnen mit der liturgischen Praxis intensivierte die Erregung der Affekte. Die Ambiguität des Combattimento gründe dem-zufolge maßgeblich in der Überlagerung von Darstellungsmodi aus dem sakralen und profanen Kontext. Lütteken sieht die Forderung Monteverdis nach einem neuen Stil eingelöst und stellt heraus, dass die neue musikalische Stillage auf einer radikalen „Verletzung aller Satzregeln“ bestehe, der Normverstoß zum „wesentlichen Bestandteil der Affektdarstellung“ werde und die Erosion der Rhetorik durch die Überdehnung der Gattung des Madrigals in Gang gesetzt werde (S. 200, 205).8

Das Oszillieren zwischen profan und sakral auf der Ebene des Sujets und seiner Motivik ist das Thema von Alexandra Zianes Beitrag zur „Ambiguität der Mariendarstellung in geistlicher Musik um 1600 in Italien“. Sie fokussiert Thematik und Semantik der Texte musikalischer Madrigal- und Canzonetten-Sammlungen anhand der Figuren Maria und Aurora. Textgrundlage bildeten zumeist weltliche Gedichte wie Auszüge aus Petrarcas Canzoniere, v. a. die Vergine bella-Canzone. Die Überlagerung der Figuren Maria und Aurora analysiert Ziane u. a. anhand der Canzonetta Aurora consurgens. Ecco di rose infi ora aus Agostino Agazzaris Stille soavi di celeste aurora (1620). Agazzari spiele mit der Ambiguität Auroras als weltlicher und geistlicher Figur, indem er zwar innerhalb des Textes der 1. Strophe keinerlei Hinweise auf eine Assozia-tion Auroras mit Maria gebe, jedoch durch Titel und Einbettung der Canzonetta in eine Mariae geweihte Sammlung die Sinnbildlichkeit Auroras als Marienfi gur impliziere. Als entscheidend für die Semantisierung der Werke setzt Ziane performative und kontextuelle Aspekte an. Kom-positorische Kennzeichen spielten keine Rolle. Die profan-sakrale Ambiguität sei weniger eine künstlerische Strategie, als vielmehr ein Ausnutzen und Transferieren neuer Ausdrucksmöglich-keiten profaner Musik in den geistlichen Kontext. Nähere Hinweise auf die Aufführungspraxis sowie den Rezeptionskontext der Fallbeispiele gibt die Autorin an dieser Stelle leider nicht.

Diese im betrachteten Zeitraum äußerst relevante Form künstlerischer Ambiguität, das Changieren der Darstellung zwischen profan-mythologischem und christlich-religiösem Ge-halt, thematisiert auch Valeska von Rosen anhand von Darstellungen des Jesuskindes und des Amorknabens in Italien um 1600. In ihrer transdisziplinär perspektivierten Einleitung „Erosi-onen der Rhetorik? Strategien der Ambiguität in den bildenden Künsten, Dichtung und Musik. Einleitende Überlegungen“ führt sie die gerade auch epistemologischen Analysepotentiale der Parallelisierung des Materials und der Herangehensweisen der unterschiedlichen Disziplinen des Sammelbandes vor. Sie skizziert die bewusste Reduzierung bzw. Mischung von Attributen und Hinweisen, die eine eindeutige Identifi zierung des Jesuskindes bzw. Cupidos erschwerten und den Assoziationsspielraum erweiterten. So entspreche die musikalische Notation von Claudio

8 Kontroversen um Monteverdis Verstoß gegen die Normen der Komposition könnten, so Lütteken, zur Verzögerung der Publikation beigetragen haben, die erst 1638, 14 Jahre nach der Uraufführung, stattfand.

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Monteverdis Lamento Pianto della Madonna exakt jener seines Lamento d’Arianna. Durch die Überlagerung der Stücke im Wissenshorizont der zeitgenössischen ZuhörerInnen werde das Wechselspiel zwischen profaner und sakraler Motivik in Szene gesetzt und ein reizvolles Spiel des Ausdeutens gegenläufi ger Assoziationen evoziert. Eine derartig eingesetzte „Nivellierung einer distinkten Ausdruckssprache“ fi nde sich parallel in der Lyrik wieder, wie bei Giambattista Marino und Antonio Grillo (S. 10). Mitunter werde nur durch die Kontextualisierung eines Ge-dichts innerhalb einer eindeutig als sakral bezeichneten Sammlung die Profanisierung des Sujets austariert. Bei den Beispielen aus der Malerei (v. a. Werke Guido Renis und seines Umkreises sowie Caravaggios) richtet von Rosen ihr Interesse insbesondere auf den performativen Prozess der Umsemantisierung auf produktionsästhetischer Seite. Technische Untersuchungen einer Amor-Darstellung Caravaggios lassen z. B. nachweisen, dass die Flügel und Pfeile Cupidos mit den Arma Christi übermalt wurden und nachträglich einen Bambino Gesù zur Anschauung brachten. Zugleich sei der Entstehungskontext der Gemälde als private Sammlerbilder aus-schlaggebend für den strategischen und spielerischen Einsatz von Ambiguität.

Von der Durchmischung des Sakralen mit dem Profanen zum Zwecke der Subversion des geistlichen Gehalts geht Peter Burgard in seinem Aufsatz „Desacralization of the Sacred: Ca-ravaggio, Bernini, Asam“ aus. Er verfolgt am Beispiel des Ungläubigen Thomas Caravaggios, der Cornaro-Kapelle Berninis in Rom und der Asamkirche in München die These, dass sakrale barocke Kunst sich durch eine fundamentale Dissimulation auszeichne, durch die der Fokus auf die Subversion des sakralen Themas gerichtet werde. Dissimulation gebraucht er im weit gefassten Sinne als Strategie des Verhüllens, die er als eine Form der Ambiguität verhandelt (S. 303). Die historische Semantik der dissimulatio und ihre Stellung im System der Rhetorik thematisiert er nicht. Am explizitesten sieht er eine barocke Ästhetik der Dissimulation und Subversion in der Münchner Asamkirche verwirklicht, deren Fassaden- wie Innenraumgestaltung auf fundamentale Weise mit dem Wohnhaus der bürgerlichen Bauherren verfl ochten worden sei. Im sakralen Raum fi nde sich dann „architectural painting‚ painterly sculpture, sculptural archi-tecture“. Dieses Spezifi kum seiner Lesart einer Ästhetik des Barock, die ‚non-self-identity‘ und die daraus resultierende ‚non-unity‘ als Ergebnis der Dissimulation, macht Burgard besonders stark: „[I]f painting is also sculptural and architectural, then painting is not painting, is not iden-tical to itself“ (S. 312). Eine Abgrenzung z. B. zum paragone und damit verbundenen, – alles andere als spezifi sch barocken – medial inszenierten Grenzgängen der Künste bleibt leider aus. In einer verkürzenden und dahingehend wenig überzeugenden Interpretation von Caravaggios Thomaszweifel hebt er auf eine eindeutige Demonstration des Unglaubens und die „unmistakably sexual terms“ ab (S. 306). Durch sie sei ein skandalöser Bruch mit dem decorum des sakralen Bildthemas gegeben. Die Wunde Christi und Thomas’ Finger mit Genitalien vergleichend, sieht Burgard einen sexuellen Akt zur Darstellung gebracht. Er zieht nicht in Betracht, dass das Bild durchaus die Frage nach dem Weg zur Gotteserkenntnis zu verhandeln vermag. In der drastischen Darstellung des Körperlichen kann es das physische Sehen und Tasten als nicht ausreichend vor Augen führen, um zum Glauben zu gelangen. Die Notwendigkeit eines andersgearteten Sehens würde so evident werden.9 Die decorum-Frage und die Ambiguität von Irdisch-Physischem und Überirdisch-Transzendentem wären damit gänzlich anders konzipiert und eingesetzt.

Die drastische Darstellung des Physischen im sakralen Sujet als Strategie der semantischen Ambiguisierung wie auch Anleitung zur intensivierten inhaltlichen wie ästhetischen Refl exion verhandelt Kristin Marek in ihrem Beitrag „Zwischen Verehrung und Ekel. Die Ambiguität des toten Christus als bildliche Rhetorik bei Holbein d. J.“. Sie macht den Text Les deux versions de

9 Vgl. für eine solche Deutung Klaus Krüger, Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien, München: Fink, 2001, S. 259–261.

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l’imaginaire (1951) des bisher vornehmlich als Literaturtheoretiker rezipierten Autors Maurice Blanchot für ihre anthropologisch akzentuierte bildtheoretische Untersuchung des Leichnam Christi im Grabe (1521/22) fruchtbar. Blanchots Analyse des Leichnams präpariere diesen als „ambivalentes Sujet par excellence“: als Verkörperung der Absenz des lebenden Körpers, als „materialisierte Anwesenheit und Abwesenheit“ zugleich (S. 62). Marek zeigt nun für Holbeins Werk auf, wie der im skulpturalen Sinne bildgewordene Leichnam Christi ins gemalte Bild überführt werde und das paragonale Verhältnis von Skulptur und Malerei sowie die Nachahmung von Lebendigkeit bzw. Leblosigkeit in der Ölmalerei mit der ihr eigenen Textur in Szene gesetzt würden. Der tote Körper werde auf äußerst drastische Weise mit Fokus auf Fleischlichkeit und Verwesung gezeigt. Zugleich machten das Christusbildformular und die Kreuzeswunden den Toten eindeutig identifi zierbar: „kaum deutlicher kann man auf die Körperlichkeit Gottes insi-stieren und damit darauf, dass Gott tatsächlich Mensch geworden ist“ (S. 67). Das Oszillieren zwischen Profanität und Sakralität in der künstlerischen Darstellung greife mit der Ambivalenz des Leichnams Christi per se ineinander: dem toten Körper und „lebenden Gott“ (S. 69). Marek skizziert die kulturhistorische Folie der Rezeption des Bildes u. a. mit Hinweisen auf die Funktion von Bildern der Wunden Christi in der Frömmigkeitspraxis und tariert so die Wirkung des Bildes „zwischen Verehrung und Ekel“ aus. Die Regeln des decorum würden dabei an ihre Grenzen getrieben. Das Gemälde sei dementsprechend wohl für einen privaten Auftraggeber entstanden. „Die Ambiguität des toten Christus als bildliche Rhetorik“ gründe in der Spannung von sakral und profan, Verehrung und Ekel, Tod und Lebendigkeit sowie Anwesenheit und Abwesenheit. Sie intensiviere die Refl exion über und die Vertiefung in das Sujet und verhandle im Medium des gemalten Bildes „die ästhetische Frage nach dem bildlichen Verhältnis von Leichnam zu lebendem Körper“ (S. 62).

Auch die in Kirsten Dickhauts Fallbeispielen zentrale Figur birgt Ambiguität bereits in sich: die Hexe in der Frühen Neuzeit. Aus diskursanalytischer Perspektive legt die Verfasserin dar, inwiefern die Identifi zierung von Hexen, deren Existenz man an und für sich im frühneuzeit-lichen Europa nicht anzweifelte, ein erkenntnispraktisches Problem darstellte und wie im Zuge der Inquisition mit einer Vielzahl von Begriffen um deren Defi nition gerungen wurde. Unter dem Titel „Zur Ambiguität der Evidenz von Hexenbildern: Hans Baldung Grien, Zwei Hexen (1523) und Gianfrancesco Pico della Mirandola, Strix oder La Strega (1523 und 1524)“ arbei-tet sie anhand eines Gemäldes und eines Dialoges unterschiedliche Modi der Darstellung und Funktionalisierung von Ambiguität im Sinne „hermeneutische[r] Unsicherheit“ als „strukturelles Moment“ heraus (S. 85). Sie macht in ihrer Bildanalyse Baldung Griens stark, dass die nackten Frauen als Hexen mit einerseits heilsamen, andererseits gefährlichen Kräften sowie zudem als Prostituierte oder als Liebesgöttinnen identifi ziert werden könnten. Die Darstellung von Feuer als Lichteffekt, der in der zeitgenössischen Kunsttheorie und -praxis das Evidenz-Potential der Malerei thematisierte, werde hier gerade zum Erhellen von Uneindeutigkeit eingesetzt und Mittel des Bildes, Ambiguität als „Indiz eines Problems des Wissens“ evident zu machen (S. 110). Im Gegensatz zu diesem Einsatz von Ambiguität stehe Picos fi ktionaler Dialog, ein Gespräch zwischen vier als Typen stilisierten Figuren (gelehrter Christ: Fronimo, Skeptiker: Apistio, Richter: Dicasto, Hexe: Strega), die sich anlässlich eines Hexenprozesses unterhalten. In Auseinandersetzung mit dem Vorwort Picos geht Dickhaut davon aus, dass eine Refl exion „zeitgenössische[n] Argumentationsinventar[s]“ in den Dialog eingewoben sei (S. 101). Der Dialog sei darauf ausgerichtet, letztlich jegliche Form von semantischer Uneindeutigkeit als Kennzeichen ‚des Bösen‘ zu entlarven. Die Autorin deutet ihre Beispiele als „Ort [, an dem] die Existenz von Hexen als erkenntnispraktisches und damit als zeichentheoretisches Problem par excellence […] im Rahmen des christlichen Glaubens“ erörtert werde (S. 88).

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Auf wieder andere und erhellende Weise zeichnet Christine Göttler ein semantisch kom-plexes Assoziationsfeld um die Figur des Silen nach: „‚Bootsicheyt‘: Malerei, Mythologie und Alchemie im Antwerpen des frühen 17. Jahrhunderts: Zu Rubens’ Silen in der Gemäldegalerie der Akademie der Bildenden Künste in Wien“. In der Kombination von Genremalerei, mytholo-gischem Sujet und Prunkstillleben sieht Göttler in Rubens Gemälde vor allem eines verbildlicht: den geistreichen Witz und die künstlerische Freiheit jenseits der Regelstrenge. Im Abgleich mit frühneuzeitlicher niederländischer Literatur(-) und Kunst(theorie) und deren Begriffl ichkeiten deckt sie die im Bild zur Anschauung gebrachte Verkettung der Motive und Konzepte von Silen, Satyr, Satire, capriccio, ingenium und Witz auf. Karel van Manders Schilder-boeck (1604) ist eine ihrer Hauptquellen, aus der sie den Begriff bootsicheyt als zentral herauspräpariert. Zur Be-zeichnung künstlerischen Eigensinns mit einer Überfülle an Witz werde bootsicheyt als spezifi sch niederländisches Produkt des ingenium stilisiert. Durch die imbibitio, das Trinken, nehme der Künstler diese Gabe auf und werde trunken. Das Prunkstillleben im Bildvordergrund erhält im Zuge von Göttlers Lesart so mehrere Funktionen: Zum einen stelle es vom Auftraggeber-Kreis des Gemäldes, der Antwerpener Handels-Elite, gesammelte Kristallgläser dar, deren alchemis-tischem Herstellungsprozess große Bewunderung galt. Zum anderen werde an den gemalten Gläsern die Kunst des Glas-Herstellens zur Kunst des Glas-Darstellens durch Glanzlichter und scheinbar refl ektierende Oberfl ächen aus Farben, die der Maler im Wissen um ihre Alchemie gemischt hatte. Nicht zuletzt seien sie die Gefäße, aus denen der Silen Rubens’ die Inspiration gesogen habe. Rubens, lateinisch ‚der vom Wein Glühende‘, habe somit bootsicheyt Bild wer-den lassen und das Künstlerwissen wie auch die Interessen der Sammler an Alchemie, Malerei, Kunsthandwerk und Mythologie sichtbar gemacht.

In seinem Beitrag „Metamorphosen der Skulptur: Michelangelos Sklaven in Buontalentis Grotte“ fokussiert Gerald Schröder das Ineinandergreifen der formalen Unbestimmtheit der non-fi niti belassenen Marmorskulpturen Michelangelos und die kontextabhängigen Semantisie-rungsprozesse in einem auf künstlerische Gestaltungsfreiheit hin angelegten Raum: der Grotte. Er deutet die um 1585 wohl eigens für die prigioni geschaffene Grotte im Boboli-Garten des herzoglichen Palazzo Pitti in Florenz als Ort, der in frühneuzeitlichen Gärten die schöpferische Kraft der Natur, die Poiesis, in Szene setze und per se durch das Thema der Metamorphose und damit durch Unbestimmtheit charakterisiert gewesen sei. Schröder zeigt die Vielfalt der thematisch-motivischen Bezüge auf, die sich im frühneuzeitlichen Rezeptionshorizont bei der Begehung der Grotte eröffnen konnten (z. B. zu Ovids Metamorphosen) und präsentiert die in ihr inszenierten prigioni als Figuren der Ambiguität und Vagheit, die auf formaler wie seman-tischer Ebene zwischen Formgebung und Formaufl ösung changierten und sich produktiv in die Poiesis-Thematik der Gesamtkonzeption einfügten. Der Impetus des Schöpferischen als genuiner Bestandteil des non-fi nito und Explikation des Künstler-ingenium werde nicht zuletzt in zeitge-nössischen Kommentaren zu Michelangelos Schaffen betont. Durch das Sujet des Decken freskos mit Satyr, das eine Analogisierung zu Michelangelo und über die Anspielung auf den panischen Schrecken zu dessen berüchtigter terribilità ins Bild setze, werde „das generative Spiel poly-valenter Semantik […] noch um eine witzige Komponente ergänzt“ (S. 134). Zudem verweist Schröder auf den Assoziationszusammenhang von Grotte und Groteske sowie auf den Konnex zum Themenbereich des Hybriden und Bizarren, der in Positionen der zeitgenössischen Kunst-theorie unter der wirkungsästhetischen Kategorie der meraviglia positiv verhandelt wurde. Ein decorum-Verstoß liege im Falle der Boboli-Grotte nicht vor, war doch die Grotte als „Raum […] am Rand höfi scher Repräsentation“ lizensierter Freiraum der schöpferischen Fantasie (S. 117). Leider führt Schröder an diesem Punkt keine Belege für eine frühneuzeitliche Theoretisierung einer solchen Lizenz zu spielerischer Regelferne an.

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014

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Am Beispiel der Malerei Piazzettas demonstriert Wolf-Dietrich Löhr durch pointierte Bildinterpretationen und eine dichte Skizzierung des zeitgenössischen Rezeptionshorizonts eine weitere spezifi sche Strategie der Ambiguität: Im Sinne der semantischen Offenheit eines Gemäldes wird sie vom Künstler eingesetzt, um die Aufmerksamkeit der BetrachterInnen auf die Faktur des Bildes zu lenken. Unter dem Titel „‚Vielleicht…‘. Sinnentzug und Faktur in Giambattista Piazzettas Kölner Pastorale (1740/45)“ zeigt er auf, dass in dem Gemälde die Dar-stellung der Natur, die konventionell das Genre der Pastorale prägt, zu einer Randerscheinung degradiert und die Narration im Historienformat auf ein Minimum zurückgedrängt sei. Bereits in vorhergehenden Werken des Malers macht Löhr eine „zunehmende Herauslösung der Figuren aus den narrativen Rudimenten der Genremalerei“ aus, wobei „bei aller pastoralen Spielerei […] das Thema von Blick und Spiegelung“ bestimmend sei (S. 339, 342). Löhr zeichnet die für den Entstehungs- und Rezeptionskontext relevanten Aspekte der venezianischen Salonkultur, Sammlungs- und Ausstellungspraxis sowie Kunsttheorie (u. a. Francesco Algarotti) nach, für die er die Beschäftigung mit der Optik sowie mit Stil und Geschichte der venezianischen Malerei als zentral herausstellt. In spezifi sch venezianischer Helldunkel-Manier würden genau diese Aspekte in der Malerei Piazzettas, v. a. dem Kölner Gemälde, zum eigentlichen Thema erhoben: die Oberfl äche des Bildes, Licht und Sehen sowie die Positionierung des Werkes innerhalb der Historie der venezianischen Malerei. Die Beziehung von res und signa sei aufgebrochen, die Erosion der Rhetorik vollzogen, lautet das Fazit des Beitrags, der so den gelungenen Abschluss des Sammelbandes darstellt.

Insgesamt präsentiert der sehr facettenreiche Band äußerst lesenswerte, material-, quellen- und ideenreiche Beiträge, die gerade auch in ihrem interdisziplinären bzw. transdisziplinären Zusammenspiel erhellend sind. Für die Forschung zum französischsprachigen Raum ist der Sammelband somit – neben dem Beitrag Roberts zur französischen Lyrik, den Diskussionen um Chapelains Lettre oder z. B. Mareks bildwissenschaftlicher, anthropologischer Lesart Blan-chots – gerade auch in seiner Gesamtkonzeption relevant: Er zeigt in Bezug auf die Relation von Ambiguität und Rhetorik eben diese Transferpotentiale einer parallelen Betrachtung von bildender Kunst, Literatur und Musik mit ihren Motiven, Darstellungsmodi, frühneuzeitlichen Theoretisierungen sowie Gattungs- und Stilfragen auf.10 In der vergleichenden Zusammenschau der Beiträge lässt sich festhalten, dass die AutorInnen zur Beschreibung strategischer künstle-rischer Ambiguität im weit gefassten Sinn unterschiedlich akzentuierte Begriffe ohne direkten Bezug auf Pfi sterers Systematik verwenden. Sie fokussieren in Auseinandersetzung mit den Termini frühneuzeitlicher Rhetorik, Poetik und Kunsttheorie sehr anschaulich verschiedene Formen und Funktionen von Ambiguität, wobei sie die Frage nach damit je einhergehenden Erosionen der Rhetorik unterschiedlich intensiv verfolgen und explizieren. Generell bleibt eine Problematisierung terminologischer Unschärfen aus. Von Rosen weist allerdings auch eingangs deutlich darauf hin, dass es sich um einen „empirisch“ und nicht „diskursiv-theoretisch“ arbei-tenden Band handele (S. 3). Diesen Anspruch löst der Band ein, gibt Antworten auf die einlei-tend skizzierten Fragen und führt die Komplexität des Phänomens der Ambiguität vor Augen.

Berlin Mira BECKER

10 Anzumerken sei, dass die kunst- und literaturwissenschaftlichen Beiträge gegenüber den musikwis-senschaftlichen anzahlmäßig deutlich überwiegen. Für die Musikwissenschaft wird im Hinblick auf die Bandthematik zudem auf vergleichsweise deutlich weniger Forschungsliteratur verwiesen.

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