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MaxPlanckForschung MaxPlanck Forschung Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft B20396F 3/2004 ZUR SACHE Auf der Suche nach Nischen in der Weltgesellschaft EISENFORSCHUNG Ausgekochter Stahl für das Auto von morgen ZUR SACHE Auf der Suche nach Nischen in der Weltgesellschaft EISENFORSCHUNG Ausgekochter Stahl für das Auto von morgen FOKUS Zellverkehr FOKUS Zellverkehr SOZIALRECHT „Kündigungsschutz wird überbewertet“ SOZIALRECHT „Kündigungsschutz wird überbewertet“

MPF_2004_3 Max Planck Forschung

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Magazin des Max Planck Instituts

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Page 1: MPF_2004_3 Max Planck Forschung

MaxPlanckForschungMaxPlanckForschungDas Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft

B20396F3/2004

ZUR SACHE

Auf der Suchenach Nischen in der

Weltgesellschaft

EISENFORSCHUNG

Ausgekochter Stahl für das Autovon morgen

ZUR SACHE

Auf der Suchenach Nischen in der

Weltgesellschaft

EISENFORSCHUNG

Ausgekochter Stahl für das Autovon morgen

FOKUS

ZellverkehrFOKUS

Zellverkehr

SOZIALRECHT

„Kündigungsschutzwird überbewertet“

SOZIALRECHT

„Kündigungsschutz wird überbewertet“

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INHALT

NOTIZEN des Präsidenten 4 Was uns Einstein lehrt

FORSCHUNG aktuell 5 Nervenzellen mit Vorratshaltung7 Was Galaxien im Herzen tragen 8 Dem kontrollierten Zelltod auf der Spur9 Wie sich Pflanzen Leibwachen halten10 Nachfragepolitik wieder gefragt?11 Diamanten – aus Stickstoff gefügt12 Dicke Luft über dem Golf von Bengalen13 Panorama

Zur SACHE 14 Auf der Suche nach Nischen in der Weltgesellschaft

FOKUS ■ ZELLVERKEHR

20 Die Triebfeder des Lebens24 Stau auf der Zellautobahn28 Kollektivarbeit im Nanokosmos32 Spurwechsel auf dem

molekularen Schienennetz

FASZINATION Forschung 36 EisenforschungAusgekochter Stahl für das Auto von morgen

KONGRESSbericht 42 PflanzenphysiologieEin Unkraut macht Karriere

RÜCKblende 46 Asterix, Giotto und die Powenzbande

WISSEN aus erster Hand 48 GesellschaftsforschungEinkommensteuer in der globalen Arena

FORSCHUNG & Gesellschaft 54 Soziale Sicherheit„Kündigungsschutz“ wird überbewertet

NEU erschienen 58 Erstaunliche Tatsachen59 Transparente Chemie59 Aufgeheiztes Klima

Zur PERSON 62 David Audretsch

MAX PLANCK aktuell 67 Mit Zweien sieht man besser70 Tiefer Einblick ins menschliche Gehirn71 Nachwuchsarbeit für die Biomimetik72 Innovative Software73 Neuronova setzt Erfolgskurs fort74 Infothek

STANDorte 75 Forschungseinrichtungen der Max-Planck-Gesellschaft

75 Impressum

BLICKpunkt 76 Importierte FitnessFOTO

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282824242020 STAU: Etwa eine Million Menschen in Deutschland leiden an MorbusAlzheimer. Über die Ursachen dieser Krankheit rätseln die Forscher noch. Eine Spur führt mitten hinein ins molekulare Frachtsystem. Wehe, wenn der Zellverkehr stockt!

TRIEBFEDER: Winzige Eiweiß-maschinen leisten in unserem Körperständig Schwerstarbeit und ver-schieben „Stückgut" von einem Ende der Zellen zum anderen. Max-Planck-Forscher erkunden den Kosmos dieser molekularen Maschinen.

KOLLEKTIVARBEIT: Bewegung und Kraft sind in der Natur all-gegenwärtig. Wie aber gelingt es Pantoffeltierchen, durchs Wasser zu schwimmen? Und was passiert,wenn wir den Arm heben? Die Ener-giequelle steckt in der Nanowelt.

SPURWECHSEL: Andauernd teilen sich Zellen. Der Mecha-

nismus ist kompliziert und ohne „Helfer" nicht denkbar.

Am Computer verfolgen Wissen-schaftler in biomimetischen

Modellsystemen, wie sich winzigeZellmotoren organisieren.

Neugierig aufWissenschaft?MAXPLANCKFORSCHUNG

berichtet allgemein ver-ständlich über die Arbeitin den 78 Instituten derMax-Planck-Gesellschaft.Das Magazin erscheintvierteljährlich und ist kostenlos. Abonnieren Siejetzt Ihren direkten Drahtzur Wissenschaft

über das Internet:www.mpg.de

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oder per Fax: 089 2108-1405

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NOTIZEN des Präsidenten

4 M A X P L A N C K F O R S C H U N G 3 / 2 0 0 4

Was uns Einstein lehrt

■ Potenzial – Beim Stichwort „Relativitäts-theorie" fällt jedem der Name Albert Einsteinein. Wenn auch die wenigsten die Formelnverstehen, so profitieren heute die meistenvon den grundlegenden Erkenntnissen, dieder geniale Physiker vor einem Jahrhundertgewann. Ob Flugzeuge, Schiffe oder Autos:Sie alle bestimmen dank des „Global Positio-ning System" zentimetergenau ihren Stand-ort – und dieses GPS beruht eben auf Ein-steins Theorien. Natürlich konnte selbst dervisionäre Wissenschaftler nicht ahnen, wasdie Technik eines Tages aus seinem Gedan-kengebäude machen würde. Wenn die Bun-desrepublik im nächsten Jahrden 50. Todestag Albert Ein-steins und den 100. Geburts-tag der Relativitätstheorie fei-ert, sollte dieser Aspekt nichtzu kurz kommen: Grundla-genforschung ist oft das ersteGlied einer langen Kette, anderen Ende neue Technologi-en, ja ganze Wirtschaftsfelderstehen können. Sicherlichverändert nicht jede Ent-deckung das Leben so starkwie Fernsehen oder Compu-ter; dennoch steckt in derGrundlagenforschung einnicht zu unterschätzendesPotenzial an Innovations-kraft. In diesem Bewusstsein arbeiten die etwa 4200 Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler an unseren 78 Instituten – und ver-stehen sich in dieser Hinsicht ein wenig als„Einsteins Erben". Übrigens gibt es noch eine weitere Verbindung zwischen der Max-Planck-Gesellschaft und Albert Einstein: Er war erster Direktor des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik, dem heutigenMax-Planck-Institut für Physik. Und unserInstitut für Wissenschaftsgeschichte hat dasProgramm des Einstein-Jahrs 2005 maßgeb-lich mitgestaltet, zum Beispiel die Ausstel-lung „Einstein – Ingenieur des Universums",die Ende Februar im Berliner Kronprinzen-palais eröffnet wird. Ich hoffe, dass die Akti-vitäten zum Jubiläum nicht nur die PersonEinstein ins Bewusstein der Öffentlichkeit ru-fen, sondern auch den hohen Stellenwert vonvermeintlich zweckfreier Spitzenforschung.

■ Projekt – Wissenschaft darf sich nichtim Elfenbeinturm einschließen. Ihre Erkennt-nisse müssen möglichst offen zugänglichsein. Die Max-Planck-Gesellschaft hat das

schon sehr früh erkannt und die „Berliner Erklärung für Open Access" auf den Weg ge-bracht. Darin bekennen sich deutsche undinternationale Forschungsorganisationen zu dem freien Zugang zum Wissen. Das In-ternet bietet für Open Access die ideale Büh-ne. Denn Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler von morgen forschen zunehmendauf der Grundlage internationaler Koopera-tion, interdisziplinär, mobil und im virtuellenLabor. Jetzt zeigen wir, dass die Berliner Er-klärung für uns kein Lippenbekenntnis war:Im Rahmen des Pilotprojekts eSciDoc sollerstmals in Deutschland eine Informations-

und Publikationsplattform fürwissenschaftliches Arbeiten im Netz entwickelt werden. In dem Projekt kooperierenwir eng mit dem Fachinfor-mationszentrum Karlsruhe.Das Zentrum entwickelt dieentsprechenden Programme,während die Max-Planck-Gesellschaft das System testet.Das Bundesministerium fürBildung und Forschung för-dert das Projekt mit rund 6,1Millionen Euro. eSciDoc sollneue Maßstäbe für eine digi-tale Infrastruktur setzen: Be-reits in einer frühen Projekt-phase dokumentieren Wissen-

schaftler ihre Daten für die Öffentlichkeitund tauschen sie mit Kollegen aus. eSciDocsoll Schule machen: Auch andere Einrich-tungen können das System später nutzen.

■ Partner – Max-Planck-Wissenschaftlerbeteiligen sich an internationalen Großpro-jekten – auch außerhalb Europas. In Nami-bia ist gerade das Gammastrahlen-TeleskopHESS eingeweiht worden. Die Anlage ergrün-det unter anderem energiereiche Strahlungvon Galaxien und Supernova-Überresten.An diesem Projekt beteiligen sich Forscheraus acht Ländern. Die Max-Planck-Gesell-schaft trägt nicht nur einen erheblichen An-teil der Kosten, sondern steuert wesentlicheswissenschaftliches und technisches Know-how bei. Gefragter Partner sind wir auch inden USA beim Large Binocular Telescope,dem größten optischen Fernrohr der Welt:Unter Leitung des Max-Planck-Instituts fürAstronomie liefern fünf deutsche Einrichtun-gen High-Tech-Bauteile – und sichern sichdamit ein Viertel der Beobachtungszeit. DerKosmologe Einstein wäre begeistert.

Peter Gruss, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft

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Einem anfliegenden Schnee-ball auszuweichen, ein hu-pendes Auto zu orten oderwährend konzentrierter Ar-beit rasch einen störendenTelefonanruf zu beantworten:Solche Fähigkeiten erschei-nen uns selbstverständlich.Doch dahinter stecken Ner-venzellen und neuronale Mechanismen, die uns ent-sprechend schnell auf uner-wartete Anforderungen reagieren und umschaltenlassen: Was Hirn- und andereNervenzellen so reaktionsbe-reit und jederzeit ansprech-bar macht, haben jetzt For-scher der beiden GöttingerMax-Planck-Institute für ex-perimentelle Medizin und fürbiophysikalische Chemie un-ter der Leitung der Neurobio-logen Nils Brose und ChristianRosenmund entdeckt – unddamit möglicherweise einenneuen Ansatzpunkt erschlos-sen, über den sich die Hirn-leistung medikamentös be-einflussen und steigern lässt.(CELL, 6. August 2004)

Nervenzellen stehen miteinan-der über so genannte Synapsenin Verbindung: Über Kontakt-stellen, an denen sie wechsel-seitig Botenstoffe – Neuro-

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NEUROWISSENSCHAFTEN

Nervenzellen mit Vorratshaltung

transmitter – austauschen. Mit-tels dieser molekularen Signalebeeinflusst die sendende Ner-venzelle die Aktivität der emp-fangenden Zelle – die dann ih-rerseits wieder als Sender aufandere, mit ihr verknüpfte Ner-venzellen einwirkt.

Die Ausschüttung der Boten-stoffe an den Synapsen ge-schieht über Vesikel: über klei-ne, von einer Membran um-hüllte Bläschen, die jeweils bestimmte Neurotransmitterenthalten. Die Membran dieserVesikel verschmilzt auf entspre-chende Signale ihrer Trägerzellehin mit der Membran der Sy-napse und ergießt ihren Inhaltin den schmalen Zwischenraum

(den synaptischen Spalt) zwi-schen den Kontakten der Sen-der- und Empfänger-Zelle: Vondort wirken die Signalmoleküleauf spezifische Strukturen ander Synapse der empfangendenZelle – und übertragen damitdie an sie gebundenen Bot-schaften.

Um nun jederzeit auch aufUnvorhersehbares angemessenreagieren und entsprechendrasch Signale an benachbarteZellen senden zu können, musseine Nervenzelle in all ihrensynaptischen Kontakten einegewisse Menge an Signalstof-fen auf Abruf bereithalten. DieFachleute sprechen in dem Zu-sammenhang von „akut frei-

An Nervenzellen einer Maus ver-raten rosa gefärbteBereiche die Synap-sen, in denen dasMunc13-Protein aufAbruf bereit liegt.

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tung von Transmittern an denSynapsen führt.

Doch man wusste nicht, überwelchen Mechanismus die Kal-zium-Ionen das bewerkstelli-gen – was angesichts der Tatsa-che, dass die Kurzzeit-Plasti-zität eine der grundlegendenund zudem bemerkenswertes-ten Hirnleistungen darstellt, alsschmerzhafter Mangel und zu-gleich als Herausforderung emp-funden wurde: Aufzudecken,auf welchem molekularen Wegdie Kalzium-Ionen am Ende die„Feuerbereitschaft“ von Ner-venzellen erhöhen, wurde vonmanchen Neurowissenschaft-lern als Zugriff auf den „Heili-gen Gral“ der Kurzzeit-Plasti-zität bezeichnet.

Brose und Rosenmund, sosieht es aus, haben diesen Graljetzt gefunden. Denn sie habenden Sensor aufgespürt, überden die Kalzium-Ionen, die sichbei starker Aktivität in einerNervenzelle anreichern, wirk-sam werden: ein Signalproteinnamens Calmodulin. An diesesCalmodulin lagern sich die Kal-zium-Ionen im Innern der Ner-venzelle an – und die dadurchgebildeten Calmodulin-Kalzi-um-Komplexe aktivieren dann,indem sie sich an Munc13 bin-den, schließlich die Produktionakut freisetzbarer Vesikel.

Die Göttinger Forscher sindüberzeugt, damit den Kernpro-zess hinter dem Phänomen derKurzzeit-Plastizität enthüllt zuhaben. Das bedeutet zunächsteinen wichtigen Fortschritt aufdem Weg zu einem tieferenVerständnis der erstaunlichenLeistungen des Gehirns. Doch inder neuen Erkenntnis stecktnoch mehr. Denn sie weistMunc13 als potenzielles Ziel fürPharmaka aus, mit denen mandie Hirnleistung beeinflussenkönnte – indem man den Ner-venzellen gewissermaßen aufdie Sprünge hilft. Das sei zwarnoch Zukunftsmusik, meintBrose vorsichtig, aber dennochein nahe liegender Gedanke.Und deshalb ist diese Idee in-zwischen auch schon Gegen-stand eines Patents. ●

freisetzbaren Vesikeln unab-dingbar ist. Und vor kurzemkonnten sie nun mit weiterenBefunden aufwarten, aus de-nen die fundamentale Rolledieses Proteins – das unter demKürzel Munc13 firmiert – fürdie „Schlagfertigkeit“ von Ner-venzellen hervorgeht. So stelltesich heraus, dass die Aktivitätdes Munc13 von der Aktivitäteiner Nervenzelle abhängt: Istdie Zelle sehr aktiv, werdenüber Munc13 auch sehr vieleneue akut freisetzbare Vesikelnachgeliefert; ist die Nerven-zelle hingegen still, sinkt auchdie Aktivität des Munc13-Pro-teins. Diese Regulation seinerAktivität durch Kopplung andie Tätigkeit der Nervenzelleweist Munc13 eine Schlüssel-funktion für das Phänomen derKurzzeit-Plastizität zu.

Um so bedeutsamer deshalb,dass die beiden Göttinger For-scher auch den molekularenMechanismus aufdecken konn-ten, über den Munc13 an dieAktivität der Nervenzelle ge-koppelt ist. Dabei knüpften siean einen Sachverhalt an, der imZusammenhang mit der Kurz-zeit-Plastizität zwar schon län-ger bekannt, aber nicht erklärtwar: Man wusste, dass sich beianhaltender Aktivität einerNervenzelle in deren Inneremvermehrt Kalzium-Ionen anrei-chern; ferner stand fest, dassdieser erhöhte Spiegel an Kalzi-um-Ionen schließlich zur ver-stärkten Bildung von Vesikelnund zur vermehrten Ausschüt-

Diese Ergebnisse sprecheninsgesamt für die These des„Cosmic Downsizing“, das heißtfür eine Evolution des Kosmoszu immer kleineren Skalen. Da-nach verschiebt sich die aktiveSternentstehung wie auch dasWachstum Schwarzer Löchermit dem Alter des Universumshin zu Galaxien mit immer we-niger Masse – ein Sachverhalt,der Theoretikern als Paradoxonerscheint. Denn sie versuchenumgekehrt zu verstehen, wiesich Galaxien aus geringenDichteschwankungen gebildethaben, die unmittelbar nachdem Urknall auftraten.

Die derzeit gültige Standard-theorie betrachtet nicht diebaryonische, also die „gewöhn-liche“ Materie – aus der Men-schen ebenso wie Sterne beste-hen – als den dominierendenStoff im Universum, sonderneine bisher nicht direkt beob-achtbare Dunkle Materie, diesich allein durch ihre Gravitati-on verrät. Die Masse dieserDunklen Materie allerdingsunterliegt nicht dem „CosmicDownsizing“: Ihre Zusammen-ballung beginnt auf kleinenSkalen und verläuft hin zu im-mer massereicheren Strukturen.Und darin liegt gegenwärtig ei-nes der drängendsten Proble-me der Kosmologie: zu verste-hen, warum sich Galaxien undDunkle Materie in ihrem evolu-tionären Verhalten so grundle-gend unterscheiden. ●

Im Innersten der Milchstraßesitzt ein Schwarzes Loch, dessen Masse etwa drei Mil-lionen Sonnenmassen aus-macht: Das ließ sich jüngstaus den Bewegungen einzel-ner Sterne ableiten, die naheum das Zentrum der Galaxislaufen. Inzwischen sindSchwarze Löcher auch in ei-nigen Dutzend nahe gelege-ner Galaxien nachgewiesenworden – und dabei stießendie Astronomen, darunterGuinevere Kauffmann vomGarchinger Max-Planck-Ins-titut für Astrophysik, auf einen interessanten Zusam-menhang: Je größer die Masse des Schwarzen Lochsim Kern einer Galaxie, destogrößer ist auch die Masse des so genannten galakti-schen Sphäroids – jener hellleuchtenden Ausbauchungum die Zentralregion einerGalaxie. (ASTROPHYSICAL

JOURNAL, im Druck)

FORSCHUNG aktuell

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FORSCHUNG aktuell

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ASTRONOMIE

Was Galaxien im Herzen tragennoch immer Sphäroideund Schwarze Löcheroder ist deren Ent-wicklung schon langeabgeschlossen?

Um diese Fragen zuklären, haben Wissen-schaftler des Max-Planck-Instituts fürAstrophysik in Gar-ching bei Münchenmit Kollegen von deramerikanischen JohnsHopkins University inBaltimore mehr als22 000 Galaxien mit aktivenKernen unter die Lupe genom-men: Galaxien, in denen Mate-rie auf ein zentrales SchwarzesLoch stürzt und dabei ionisie-rende Strahlung erzeugt, diesich durch charakteristische„Fingerabdrücke“ im Spektrumder Sternsysteme verrät. DieAnalysen deuten darauf hin,dass Schwarze Löcher mitvergleichsweise niedriger Mas-se, das heißt mit weniger als

100 Millionen Sonnen-massen, noch immer einsignifikantes Wachstumaufweisen. Weiter wur-de die Rate der Stern-entstehung in nahe ge-legenen galaktischenSphäroiden geringerMasse ermittelt: Siemacht, so der Befund,etwa das Tausendfacheder Rate aus, mit der dieSchwarzen Löcher imZentrum wachsen – einFaktor, der sehr gut mit

dem Massenverhältnis zwischendem Schwarzen Loch und demgalaktischen Sphäroid in inak-tiven Galaxien übereinstimmt.

Im Unterschied dazu wach-sen die größten SchwarzenLöcher im lokalen Universumkaum noch. Sie umfassen bis zuzehn Milliarden Sonnenmassenund sitzen in gigantischen el-liptischen Galaxien. Vermutlichhaben sie sich in einer sehrfrühen Epoche des Kosmos ge-bildet.

setzbaren“ Vesikeln – und diemolekularen Grundlagen dieserArt Vorratshaltung oder Stand-by-Schaltung von Nervenzellensind seit Jahren Gegenstand der Forschungen von Nils Broseund Christian Rosenmund. Da-bei geht es nicht bloß um einakademisches Problem, wieBrose erklärt: „Die Zahl der akutfreisetzbaren Vesikel einerSynapse entscheidet über derenZuverlässigkeit. Hat sie davonzu wenige und werden diesezudem noch zu langsam nach-geliefert, ermüdet die entspre-chende Synapse unter dauer-hafter Belastung sehr schnell.“Das Gegenteil ist der Fall, wenneine Synapse bei Bedarf raschweitere dieser akut freisetzba-ren Vesikel nachliefert. Dannkann sogar eine Art Trainings-effekt eintreten, das heißt: DieSynapse wird bei dauerhafterAktivierung besser, reagiert alsoschneller.

Diese Anpassungsfähigkeit ih-rer Synapsen, die so genannteKurzzeit-Plastizität, zeigen fastalle Nervenzellen. Sie ist für viele wichtige Hirnprozesse un-verzichtbar: Ohne sie ließen sichbeispielsweise Geräuschquellennicht orten, und auch dieselbstverständliche Schnelligkeitund Flexibilität, mit der wir un-ser Verhalten ändern und unsereAufmerksamkeit auf neue Zielerichten können, wäre dahin.

Nils Brose und Christian Ro-senmund hatten bereits vorJahren ein Protein entdeckt,das für den Nachschub an akut

Weitere Informationen erhalten Sie von:DR. THOMAS JANKA

(Pressestelle)Max-Planck-Institutfür Astrophysik, GarchingTel.: 089 30000-2228Fax: 089 30000-2235E-Mail: [email protected]

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WeitereInformationen

erhalten Sie von:PROF. DR. NILS BROSE

Max-Planck-Institutfür experimentelleMedizin, GöttingenTel.: 0551 3899-725Fax: 0551 3899-715E-Mail:[email protected]

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Schnitt durch die Schaltzentraledes Gedächtnisses

einer Maus. DerHippocampus er-

zeugt hier stattdes normalen

Proteins die fluo-reszierende Vari-ante Munc13-1.

Die grünen Berei-che zeigen daher

Hippocampus-Areale mit hoherDichte an Synap-

sen, in denen besonders viele

Munc13-1-Pro-teine „stecken“.

Dieses Sphäroid birgt jeweilsetwa das Tausendfache derMasse des Schwarzen Lochs. InGalaxien ohne Sphäroid dage-gen sitzt offenbar auch keinzentrales Schwarzes Loch. Dasgilt als Hinweis darauf, dassSchwarze Löcher und galakti-sche Sphäroide gemeinsamentstehen. Daran wiederumknüpfen sich interessante Fra-gen: Wie und wann bildetensich diese Objekte? Und: Ent-stehen in manchen Galaxien

Das Diagrammzeigt die engeVerknüpfung zwischen der imSphäroid einerGalaxie konzen-trierten Masseund der Masse des zentralenSchwarzen Lochs.

Geburt und Wachs-tum von SchwarzenLöchern – hier derkünstlerische Blickauf einen solchen

kosmischen Schlund –geben den Astro-

nomen immer noch Rätsel auf.

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Enzyme, die andere Proteinespalten und somit den Abbauder Zelle herbeiführen können.Die Balance zwischen Caspase-aktivierenden und -blockieren-den Einflüssen bestimmt alsodarüber, ob eine Zelle stirbtoder weiterlebt.

Die Wissenschaftler in derAbteilung Molekulare Zellbiolo-gie am Max-Planck-Institut fürBiochemie sind Experten in derErforschung des zellulären Pro-teinabbaus. Einige Details der„Müllentsorgung“ der Zelle, desUbiquitin-Proteasom-Systems,haben sie schon entschlüsseltund zum Verständnis seiner Regulation beigetragen. Nun ist es Forschern um Direktor Stefan Jentsch gelungen, dieFunktionsweise von BRUCE, ei-nem zentralen Protein des Ubi-quitin-Proteasom-Systems, auf-zuklären. Till Bartke, ChristianPohl und George Pyrowolakiskonnten im Detail zeigen, dassdieses Protein sowohl als Apop-tose-Inhibitor wirkt als auchein spezielles Enzym des Ubi-quitin-Proteasom-Systems ver-körpert.

BIOCHEMIE

Dem kontrollierten Zelltod auf der SpurAlle Zellen des Körpers be-sitzen ein eigenes „Selbst-mordprogramm“, das geschä-digte, überflüssige oderüberalterte Zellen zerstört.Der Apoptose genannte pro-grammierte Zelltod erlaubtes, die Anzahl der Zellen imKörper und damit auch dieGröße von Organen und Ge-weben zu kontrollieren sowiefür den Körper schädlicheZellen zu beseitigen. Pro-grammfehler, die entwederzu vermehrtem oder vermin-dertem Zelltod führen, kön-nen Ursachen für Krankhei-ten wie Krebs, Rheuma, Alz-heimer oder Parkinson sein.Wissenschaftler um StefanJentsch vom Max-Planck-Institut für Biochemie inMartinsried haben nun dieFunktion eines für die Zell-tod-Signalkette wichtigenProteins namens BRUCE auf-geklärt. (MOLECULAR CELL,18. Juni 2004)

Der menschliche Körper be-steht aus etwas 100 BillionenZellen; in jeder Sekunde bildensich durch Teilung rund 4 Mil-lionen neue Zellen, vor allemim Blut, im Darm und in derHaut. Damit die Zahl der Zellenim Körper konstant bleibt,müssen allerdings auch ent-sprechend viele vernichtetwerden. Zudem kann es passie-ren, dass eine Zellteilung miss-lingt und eine für den Organis-mus gefährliche, weil entarteteZelle entsteht. Ein Mechanis-mus sorgt dafür, dass solcheZellen „Selbstmord“ begehen.Diese Apoptose macht die Zel-len also unschädlich. Umge-kehrt müssen funktionierendeZellen davor bewahrt werden,sich selbst zu zerstören. Kom-plexe Signalketten regulierendie Entscheidung für den pro-grammierten Zelltod: Sie akti-vieren die zentralen Akteureder „Selbstmord-Maschinerie“,die so genannten Caspasen –

BRUCE heißt „BIR-Repeatcontaining Ubiquitin-Conjuga-ting Enzyme“ und ist eines dergrößten bekannten Proteine inZellen höherer Organismen. DieSequenz der DNA, der geneti-schen Information, welche dieZelle zur Synthese dieses Pro-teins benötigt, hatte bereitsHans-Peter Hauser am Martins-rieder Max-Planck-Institut auf-geklärt. Er fand heraus, dassBRUCE ein bestimmtes Struk-turmerkmal, eine „BIR-Domä-ne“ besitzt, die man bereits vonanderen Proteinen der IAP-Fa-milie kennt. IAP („Inhibitor ofApoptosis Proteins“) binden di-rekt an Caspasen, blockierenderen enzymatische Aktivitätund schützen die Zellen aufdiese Weise vor dem Unter-gang. Daher vermutete manseit einiger Zeit, dass BRUCEden programmierten Zelltodverhindert.

Um die Funktion des Proteinsaufzuklären, haben Till Bartkeund seine Kollegen Gen-Mu-tanten von BRUCE hergestellt.Damit konnten sie beweisen,dass es sich bei BRUCE tatsäch-

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Mit einem BRUCE-spezifischen Antikörper haben Forscher die Nervenzelle einer Ratte gefärbt. BRUCE zeigt sich auf dieser Immunofluoreszenz-Aufnahme am Trans-Golgi-Netzwerk (grün) und an anderen Membran-umhüllten Vesikeln der Zelle.

Weitere Informationen erhalten Sie von:PROF. DR. STEFAN

JENTSCH

Max-Planck-Institutfür Biochemie, MartinsriedTel.: 089 8578-3000Fax: 089 8578-3011E-Mail: [email protected]

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CHEMISCHE ÖKOLOGIE

Wie sich Pflanzen Leibwachen halten

Manche Pflanzen, so etwa die Akazie, beherbergen Ko-lonien von Ameisen. Oder sielocken fallweise Ameisen ausder Umgebung an, indem sieihnen süßen Blattnektar bie-ten: Die derart verköstigtenHautflügler vertreiben odertöten dann die Fraßfeindedieser Pflanzen. Wissen-schaftler in der von WilhelmBoland geleiteten Abteilungdes Max-Planck-Instituts fürchemische Ökologie in Jenahaben jetzt gemeinsam mitdeutschen und französischenKollegen in Mexiko heraus-gefunden, wie die Leistungenso genannter Ameisenpflan-zen an diese raffinierte Ver-teidigungsstrategie angepasstsind. (NATURE, 8. Juli 2004)

Ameisen kooperieren. Die Sträu-cher produzieren auf ihren Blät-tern Nektar, der ausschließlichdazu dient, „Schutzameisen“ zuernähren oder anzulocken.

Entsprechend diesen ver-schiedenen Zwecken unter-scheidet sich auch das Sekreti-onsmuster dieses Blattnektars:Die erste Gruppe ernährt ihreAmeisenkolonie durch fort-währenden „Zuckerfluss“, pro-duziert also ununterbrochenBlattnektar, die zweite Gruppedagegen produziert den süßenSaft nur dann, wenn sie „ange-fressen“ ist und akut die Hilfeder Ameisen benötigt.

Dieser Befund hat weit rei-chende Konsequenzen. Denndurch Fraß aktivierte pflanzli-che Verteidigung gibt es nichtnur bei Ameisenpflanzen: Vielepflanzliche Gift- oder Bitter-stoffe werden über denselbenSignalweg aktiviert wie derBlattnektar, und ebenso Duft-stoffe, über die viele Pflanzenverteidigende Insekten anlo-cken. Dass diese Mechanismeneine pflanzeneigene Verteidi-gung darstellen, macht sie fürdie biologische Schädlings-bekämpfung interessant – unddie an den Ameisenpflanzengewonnenen Ergebnisse zeigen,dass sich die Art und Weise die-ser Abwehrstrategien offenbarverändern und anpassen lässt.

Die Frage war, welche Formdes Nektar-Einsatzes die ältereist. Dazu galt es, den Stamm-baum der Ameisen-Akazienzu enträtseln. Ergebnis: Der„Nektarfluss auf Abruf“ stelltdie ältere, also ursprünglicheStrategie dar, die stetige Ver-sorgung von „Dauermietern“kam erst später auf. Nun wollendie Wissenschaftler weiter un-tersuchen, ob und inwieweitsich auch andere chemischeVerteidigungsmechanismen vonnur fallweisem Einsatz auf Dau-erbetrieb umstellen lassen. ●FO

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Die dauerhaft von Ameisenko-lonien besiedelten Akazien pro-duzieren ständig Blattnektar,um ihre „Untermieter“ zu er-nähren. Andere Arten, die Amei-sen aus der Umgebung lediglichim Notfall anlocken, produzie-ren den Blattnektar nur, wennsie angefressen werden; sie spa-ren also Nektar und investierennur bei Bedarf. Martin Heil, Sa-bine Greiner und Ralf Krüger –sie arbeiten in der Abteilung fürbioorganische Chemie des Jena-er Max-Planck-Instituts – ha-ben in Mexiko verschiedeneAkazienarten verglichen, die auf unterschiedliche Weise mit

Die Schutztruppen der Akazie: symbiontische Pseudomyrmex-Ameisen an den Blattnektarien einer Pflanze.

Weitere Informationen

erhalten Sie von:DR. MARTIN HEIL

Max-Planck-Institutfür chemische Ökologie, JenaTel: 03641 57-1820Fax: 03641 57-1202E-Mail: [email protected]

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lich um ein IAP-Protein han-delt – denn BRUCE bindet anCaspasen, blockiert diese undverhindert damit die Zer-störung der Zelle. Zu ihrem Er-staunen fanden die Forscheraber auch heraus, dass BRUCEselbst wiederum durch Caspa-sen gespalten und dadurch in-aktiviert wird. Das zelluläreSelbstmordprogramm machtalso selbst vor seinem eigenenInhibitor nicht Halt.

Bei weiteren Untersuchun-gen über die Wirkungsweisevon BRUCE stellten die Wis-senschaftler fest, dass BRUCEzugleich auch ein sehr speziel-les Enzym des Ubiquitin-Pro-teasom-Systems ist. Diese Ma-schinerie des zellulären Pro-teinabbaus verknüpft über ei-ne Enzymkaskade ein sehr klei-nes Protein – Ubiquitin – mitjenen Proteinen in der Zelle,die abgebaut werden sollen.Erst durch die Markierung mitUbiquitin werden diese Protei-ne erkannt und dann vom Pro-teasom, gleichsam dem „Pro-tein-Schredder“ der Zelle, ab-gebaut.

Das Protein BRUCE ist somitein sehr ungewöhnliches En-zym des Ubiquitin-Proteasom-Systems, vereint es in sich dochdie Eigenschaften von mehre-ren verschiedenen Enzymen,die normalerweise getrenntvorkommen. Die neuen Befun-de ergänzen frühere Studien,wonach BRUCE nicht überall inder Zelle zu finden ist, sondernnur in ganz bestimmten Berei-chen, nämlich auf den Vesikelndes Golgi-Apparates.

Die Max-Planck-Wissen-schaftler vermuten deshalb,dass BRUCE die Funktion hat,dieses zelluläre Membransys-tem während des Zelltods zuschützen, indem es dort dieCaspasen lokal blockiert. WirdBRUCE jedoch selbst von denCaspasen vernichtet, kannauch der Golgi-Apparat nichtmehr vor dem Abbau bewahrtwerden. BRUCE könnte alsospeziell für den geordnetenAblauf der Zerstörung einerZelle wichtig sein. ●

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CHEMIE

Diamanten – aus Stickstoff gefügt

Anders als zweiatomigerStickstoff, der wegen seinerchemisch hoch stabilen Drei-fachbindung ausgesprochen re-aktionsträge ist, verkörpert derpolymere, über Einfachbindun-gen verknüpfte Stickstoff einMaterial mit enorm hoher Ener-giedichte. Das liegt daran, dassbeim Stickstoff in einer Drei-fachbindung sehr viel wenigerEnergie steckt als in drei jeweilseinfachen Bindungen. Deshalbwerden, wenn der einfach ge-bundene, polymere Stickstoff innormalen, dreifach gebundenenStickstoff übergeht, gewaltigeEnergien freigesetzt – dieoben erwähnte fünffacheMenge als bei der Explosion derbrisantesten bislang verfügba-ren chemischen Sprengstoffe.

Da das Endprodukt einer sol-chen explosiven Umwandlunggewöhnlicher, umweltneutralerStickstoff ist, wird jetzt ge-prüft, ob und wie man den po-lymeren Stickstoff als Treibstoffoder Sprengstoff einsetzenkönnte. Dazu allerdings musserst ein Weg gefunden werden,den „diamantenen“ Stickstoffbei normalen Temperaturenund Drücken zu erhalten. ●

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Polymere kubische Gitterstruktur: Alle Stickstoff-atome sind mit-tels kovalenterEinfachbindungenmiteinander verknüpft.

GESELLSCHAFTSFORSCHUNG

Nachfragepolitik wieder gefragt? Seit dem Jahr 1999 bestimmtdie Europäische Zentralbankdie Zinsen für alle EU-Mit-gliedsländer. Damit stehendie Nationalstaaten vor einerdoppelten Herausforderung:Sie müssen ohne eigeneGeldpolitik auskommen undgleichzeitig neuartige Desta-bilisierungen ihrer Konjunk-tur ausgleichen. In seinerStudie kommt Henrik Ender-lein vom Max-Planck-Institutfür Gesellschaftsforschung zudem Schluss: Die Länder ha-ben sich zwar im Rahmen ih-rer jeweiligen Möglichkeitengut an die neue Situationangepasst, aber noch sindnicht alle Probleme gelöst. So geriet vor allem Deutsch-land wegen hoher Realzinsenund der dezentralen Finanz-verfassung in Schwierigkei-ten. Eine gemeinsame eu-ropäische Wirtschaftspolitikkönnte Abhilfe schaffen, istaber kaum durchzusetzen.

„One size fits all“ – nach diesemPrinzip legt die EuropäischeZentralbank die Zinsen für dieMitgliedsländer der Europäi-schen Währungsunion fest. Da-bei orientiert sie sich an denwirtschaftlichen Durchschnitts-werten der Eurozone. Das Er-gebnis ist für die einzelnen Na-tionalstaaten alles andere alsmaßgeschneidert: Für mancheLänder liegen die Realzinsen zu hoch, für andere zu niedrig.Gerade Deutschland muss seitdem Beginn der Währungsuni-on mit überhöhten Realzin-sen zurechtkommen. Die unter-schiedlich hohen Realzinsenbremsen oder beschleunigendie Konjunktur in den einzel-nen Staaten. Da die Mitglieds-länder jedoch die Geldpolitik andie europäische Ebene abgege-ben haben, können sie nurnoch in der Finanz- und Lohn-politik gegensteuern.

Wie aber sollen die Instru-mente zur Stabilisierung der

Wirtschaftszyklen eingesetztwerden? Um diese Frage drehtsich die aktuelle Debatte übereine Renaissance der Nachfra-gepolitik. Seit Mitte der1980er-Jahre waren Finanz-und Lohnpolitik bei der Stabili-sierung der Konjunktur so gutwie überflüssig, da die Zentral-banken und damit die Geldpoli-tik diese Aufgabe beinahe voll-ständig übernommen hatten.Die Währungsunion jedochstellt die zyklische Wirtschafts-politik in den Staaten der Euro-zone vor neue Herausforderun-gen. Wie haben die Länder da-rauf reagiert?

Dazu Henrik Enderlein, mitt-lerweile Juniorprofessor an derFreien Universität Berlin: „DieMitgliedstaaten der Europäi-schen Währungsunion habenzwar versucht, ihre wirtschafts-politischen Institutionen an dieneue Situation anzupassen –aber auf sehr unterschiedlicheArt und Weise.“ Dafür gibt esdrei Gründe. Zum einen war das Zusammenspiel von Geld-,Finanz- und Lohnpolitik in deneinzelnen Ländern schon vorder Währungsunion verschie-den. Zweitens unterscheidensich die strukturellen Faktoren,die bestimmen, ob ein Landnach dem Beitritt mit zu hohenoder zu niedrigen Realzinsenkonfrontiert ist. Und schließlichist auch das historisch gewach-sene, institutionelle Zusam-menspiel zwischen den wirt-schaftspolitischen Akteurennicht in allen Ländern gleich. Inseiner Studie unterscheidet En-derlein drei Anpassungsmuster:

Länder mit hohen Realzin-sen und geringem Wachstumkonzentrieren ihre Reformbe-mühungen auf die Finanzpoli-tik, weil sie die Lohnpolitiknicht zur Stabilisierung einset-zen können; hierzu zählenFrankreich und Deutschland.Besonders in Deutschland rücktdie aktuelle Diskussion über eine nachfrageorientierte Erhö-

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hung der Staatsausgaben einweiteres Problem in den Vor-dergrund: die Aufgabenteilungzwischen Bund und Ländern inder Finanzpolitik. Um die He-rausforderungen der Währungs-union zu meistern, müsste dieAusgabenstruktur der Länderund Gemeinden reformiertwerden. Doch eine Zentralisie-rung ist in Deutschland schwerdurchzusetzen, weil hier derFöderalismus historisch starkverankert ist.

Für Länder mit niedrigenRealzinsen und hohem Wachs-tum ist nur ein Zusammenspielvon Finanz- und Lohnpolitiksinnvoll, deshalb werden beideangepasst; das betrifft unteranderem Irland, Spanien undPortugal. Dort sind gleichzeitignationale Stabilitätspakte undeine stärkere Zentralisierungder Lohnpolitik zu verzeichnen.

In solchen Staaten schließ-lich, die schon vorher gut aufdie Währungsunion vorbereitetwaren, wirkt sich der Beitrittgar nicht auf die wirtschafts-politischen Institutionen aus.Das gilt vor allem für die Nie-derlande: Sie waren bereitsvor der europäischen Wäh-rungsunion faktisch eine Wäh-rungsunion mit Deutschlandeingegangen und kamen seitden 1980er-Jahren ohne natio-nale Geldpolitik aus.

Der Studie zufolge haben diemeisten Länder die notwendi-gen Reformen eingeleitet. Den-noch bleiben Zweifel, ob dienationale Anpassung jeweilsausreicht, um die Probleme zubewältigen. ●

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Stickstoff, der Hauptbe-standteil der Luft, setzt sichgewöhnlich aus reaktionsträ-gen Molekülen zusammen, indenen zwei Stickstoff-Atomedreifach aneinander gebun-den sind. Jetzt haben For-scher um Mikail Eremets undReinhard Boehler vom Main-zer Max-Planck-Institut fürChemie erstmals eine poly-mere kubische Form synthe-tisiert, in der die Stickstoff-Atome über Einfachbindun-gen aneinander gekoppeltsind – ähnlich wie Kohlen-stoff-Atome in einem Dia-manten. Diese kubische Formhat man bisher bei keinemanderen Element gefunden,und dieser polymere Stick-stoff besitzt einzigartige Ei-genschaften: zum Beispiel einen Energieinhalt, derfünfmal größer ist als jenerder stärksten nichtnuklearenSprengstoffe. (NATURE MATE-RIALS, August 2004)

Bereits seit zwei Jahrzehntenwurde aufgrund theoretischerÜberlegungen vermutet, esmüsse auch einfach gebunde-nen Stickstoff geben: Danachsollte sich molekularer Stick-stoff unter hohem Druck zu einem atomaren Festkörper mitder Struktur eines kubischenGitters fügen. Deshalb versuch-

ten Forscher intensiv, diesenpolymeren Stickstoff herzustel-len, und zwar unter hohenDrücken und in unterschiedli-chen Temperaturbereichen. Da-bei fanden sich zwar verschie-dene neue Stickstoff-Konfigu-rationen – darunter auch einenichtmolekulare Halbleiter-phase –, doch nie die prognos-tizierten „Stickstoff-Diamanten“.

Wissenschaftlern der Hoch-druckgruppe am Mainzer Max-Plack-Institut für Chemie ist esjetzt gelungen, diese lange gesuchte polymere Form desStickstoffs zu erzeugen: Siesynthetisierten ihn aus zwei-atomigem Stickstoff – undzwar bei Temperaturen vonmehr als 2000 Grad Kelvin undDrücken von über 110 Gigapas-cal (entsprechend 1,1 MillionenAtmosphären). Dazu nutztendie Forscher eine neue, laser-beheizte Diamant-Hochdruck-zelle. Analysen des so „erzwun-genen“ transparenten Kristallsbelegten, dass es sich tatsäch-lich um polymeren Stickstoffmit der theoretisch vorherge-sagten kubischen Gitterstrukturhandelte. Diese Zustandsformist charakteristisch für stark kovalent gebundene Festkörper.„Wir nennen sie deswegenStickstoff-Diamant“, sagt Mik-ail Eremets, einer der MainzerMax-Planck-Forscher.

SchematischerQuerschnitt einerDiamantstempel-

Apparatur: Der Strahl eines

Infrarotlasers beheizt die Pro-be, während ein

Argon-Ionenlaserzur Anregung

eines Rubinsplit-ters für spektro-skopische Druck-messungen dient.G

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Mit einer Kombination vonSatellitenbeobachtung undComputermodell haben Wissenschaftler um Mark Lawrence vom Mainzer Max-Planck-Institut für Chemiedie Luftverschmutzung durchStickoxide über dem Indi-schen Ozean untersucht. Dabei fanden die Forscherwährend der Monsunüber-gangszeiten beträchtlicheVerschmutzungen durchLuftmassen, die aus Afrikaund Südostasien stammen.Das am stärksten belasteteGebiet ist der Golf von Ben-galen. (GEOPHYSICAL RESEARCH

LETTERS, 30. April und 11. August 2004)

Weil bisher nur wenige Lang-zeitbeobachtungen vorliegen,die sich über alle Jahreszeitenerstrecken, wissen die Forscherüber die chemischen Vorgängein der Atmosphäre über demIndischen Ozean noch nicht all-zu viel. Mit dem „Indian OceanExperiment" (INDOEX) – einer

internationalen Messkampagnewährend der Monsunzeit imWinter 1999 – wollten die Wis-senschaftler untersuchen, wiedie Luftverschmutzung Klima-prozesse über dem tropischenIndischen Ozean beeinflusst.Satellitenaufnahmen zeigteneine dicke Dunstglocke, eineder mittlerweile weltweit be-kannten „atmosphärischen brau-nen Wolken", die sich währenddieser Zeit über Tausende vonKilometern südlich von Indienerstreckte. Im Gegensatz zu derstarken Verschmutzung in dernördlichen Hemisphäre weisendiese Messergebnisse auf ver-gleichsweise reine Luft in dersüdlichen Hemisphäre hin.

Die Nachwuchsgruppe SA-PHIRE („Southern Asian Photo-chemistry and Impacts of theRedistribution of Emissions")berichtet nun über neue Ergeb-nisse zur Luftverschmutzungüber dem Indischen Ozean. Dazu hatten die Forscher eineKombination aus Satellitenda-ten der Jahre 1996 bis 2000und globalen Modellrechnun-gen verwendet und sich auf dieVerschmutzung durch Stickoxi-de in den Zeiträumen zwischendem Sommer- und dem Win-termonsun (den Monsunüber-gangszeiten) konzentriert. Dieneuen Befunde zeigen ausge-prägte, halbjährlich auftreten-de „Plumes" der Stickoxidver-schmutzung: Sie erstrecken sichvor allem in der mittleren Tro-posphäre über dem zentralenIndischen Ozean und stammenaus Afrika und aus Südostasien.

„Unseren Ergebnissen zufolgeist der zentrale Indische Ozeankeineswegs immer so rein, wieman es bisher während derWintermonsunzeit beobachtethat", sagt Mark Lawrence, derLeiter der Nachwuchsgruppe.„Besonders interessant er-scheint, dass der Grad der Ver-schmutzung während der Über-gangszeiten südlich 10 Grad so-gar größer ist als im nördlichen

Pflanzen reagieren auf Bisse mit der Produktionvon giftigen oder ungenießbaren Substanzen, umsich weiterer Attacken seitens ihrer Fraßfeinde zuerwehren. Außerdem können sie gezielt räuberi-sche Insekten anlocken, die dann als eine ArtLeibgarde die schädlichen Kostgänger anfallen.Dass diese Strategien nicht nur gegen diejenigenInsekten wirken, die traditionell auf eine be-stimmte Pflanze fliegen, haben Wissenschaftleram Max-Planck-Institut für chemische Ökologiein Jena herausgefunden: Sie hatten an wildem Ta-bak die Gene für einige der Enzyme ausgeschaltet,über die nach Bissverletzungen die Verteidigungs-reaktionen ausgelöst und gesteuert werden, unddie Pflanzen dann in ihren natürlichen Lebens-raum im Freiland ausgepflanzt. Wie sich dabeizeigte, wurden die derart wehrlosen Pflanzennicht nur verstärkt von ihren angestammtenFraßfeinden überfallen, sondern auch von zweineuen Insektenarten angegriffen, die normaler-weise nicht an ihnen fressen. Demnach entschei-det nicht nur der „Geschmack“ einer Pflanze darüber, welchen Insekten sie traditionsgemäßzur Speise dient, sondern auch die Art und Wei-se, über die sie sich biochemisch ihrer Feinde erwehrt – ein Sachverhalt, der unter Laborbedin-gungen und ohne gentechnisch veränderte Pflan-zen nicht ans Licht gekommen wäre.

Säuger-Eizellen sind richtungslos: Sie bergen,im Unterschied zu den Eizellen der meisten ande-ren Tiere, keinerlei Informationen über die Kör-perachsen des künftigen Embryos. Das belegenStudien am Max-Planck-Institut für Immunbiolo-gie in Freiburg, in deren Rahmen die Entwicklungvon Maus-Embryonen mittels einer besonderenZeitraffer-Technik von der Eizelle bis zum Zwei-Zellen-Stadium verfolgt wurde. Dabei fanden dieForscher, dass sich die Ebene der ersten Zellteilungunabhängig von morphologischen Strukturen inder Eizelle einstellt: Ihre Orientierung wird viel-mehr durch die zufällige Lage der beiden Pro-nuklei bestimmt – jener „Vorkerne“ von Ei- undSamenzelle, die den weiblichen beziehungsweisemännlichen Chromosomen-Satz enthalten. DieKlärung dieser bislang umstrittenen Frage ist in-sofern bedeutsam, als künstliche Befruchtungenbeim Menschen häufig mittels Injektionstechnikerfolgen, bei der Spermien an einer zufällig ge-wählten Stelle in die Eizelle eingeführt werden.

Nervenzellen auf Abruf liegen in bestimmtenHirnregionen erwachsener Säugetiere bereit: inGestalt undifferenzierter Stamm- oder Vorläufer-zellen, aus denen sich im Bedarfsfall neue Ner-venzellen bilden. Die molekularen Mechanismen,die zum einen für die „Lagerhaltung“ solcherStammzellen und zum anderen für deren Ausrei-fung zu fertigen Nervenzellen sorgen, sind nochkaum bekannt. Am Berliner Max-Planck-Institut

für molekulare Genetik ist es jetzt gelungen, ersteEinblicke in die genetische Kontrolle dieser Pro-zesse zu gewinnen, und zwar an Stammzellen ausdem Hirn von Mäusen. Dazu wurde die Aktivitättausender Gene während der verschiedenen Ent-wicklungsstadien dieser Zellen registriert – vonder ruhenden, unreifen Vorläuferzelle bis hin zurvoll differenzierten, also „ausgewachsenen“ Ner-venzelle. Auf diese Weise stieß man auf eine Reihevon Genen, deren Aktivitäten sich jeweils syn-chron zum Entwicklungszustand der Zellen verän-derten – und die demzufolge für die Erhaltungder Stammzellen im Wartestand wie auch für dieKontrolle der einzelnen Differenzierungsschritteund schließlich für die Wanderung und Eingliede-rung der fertigen Zellen an ihren Bestimmungsortmaßgeblich sind. Jetzt geht es darum, die Produk-te dieser Gene und deren Wirkungsweise im Detailkennen zu lernen. Und dann wird man sehen, obsich daraus neue Ansätze für die Therapie von de-generativen Erkrankungen oder Verletzungen desNervensystems ergeben.

Ein müder Gammablitz erregt Aufsehen unterAstrophysikern: Aufgefangen hat diesen Blitz am3. Dezember 2003 das Gammastrahlen-Observa-torium Integral der europäischen Raumfahrt-agentur ESA. Als seineQuelle wurde eine Gala-xie in 1,3 MilliardenLichtjahren Entfernunggeortet, was ihn als ei-nen der nahesten „Gam-ma-Bursts“ auszeichnet,die jemals aufgefangenwurden. Doch das be-deutete, so fand ein in-ternationales Team vonAstronomen – darunterauch des Max-Planck-Instituts für Astrophysikin Garching –, dass dieGammastrahlung dieses Objekts ungewöhnlichschwach war: Ihre Energie betrug nur etwa einTausendstel dessen, was bisher als „Norm“ galt –wobei man den Ursprung von Gammablitzen inSchwarzen Löchern vermutet, die sich in den Zentren sterbender Sterne bilden: Heißes Gas, ausder Umgebung angesaugt, sollte beim Einsturz inein solches Schwarzes Loch gewaltige Energie-mengen in Form von Gamma- und Röntgenstrah-lung freisetzen. Die Energie und somit die Inten-sität solcher Gammablitze sollte dabei immer ineiner vergleichbaren Größenordnung liegen undinsofern als „Standard-Kerze“ für die Entfernungder jeweiligen Strahlungsquelle dienen – eineVorstellung, die es nun zu überdenken gilt: Mög-licherweise hat Integral am 3. Dezember 2003nur den ersten Vertreter einer neuen Klasse ener-giearmer Gammablitze aufgespürt. ●

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Mit Gamma-Augenspäht der europäi-sche Wissenschafts-satellit „Integral“ in die Tiefen desWeltalls.

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: ESA

Indischen Ozean. Wir begegnenhier also gerade der entgegen-gesetzten Situation wie bei derINDOEX-Messkampagne."

Die Wissenschaftler habenbei ihren Forschungen auch zuklären versucht, auf welcheWeise die Emissionen aus denumgebenden kontinentalen Ge-bieten die Stickoxid-Verschmut-zung über dem Indischen Ozean beeinflussen. Resultat:Rückkopplungen in der Atmo-sphärenchemie können dazuführen, dass manche Abwind-gebiete nur wenig empfindlichgegenüber Aufwindemissionensind. Das heißt, eine Verringe-rung der globalen Stickoxideaus allen Quellen um 50 Pro-zent würde über Teilen des In-dischen Ozeans nur zu einerVerringerung ihrer Pegel um 15Prozent führen. Das gilt umge-kehrt auch für einen Anstiegder Stickoxid-Emissionen.

Weiterhin zeigen die Ergeb-nisse, dass der Einfluss von Emis-sionen aus Indien auf den zen-tralen Indischen Ozean sich aufdie Zeit des Wintermonsuns be-schränkt und sehr gering ist. Dassteht im Gegensatz zu dem star-ken Einfluss, den der Ausstoßvon Aerosolen und langlebigenGasen wie Kohlenmonoxid ausIndien hat und beruht auf derkurzen Lebensdauer der Stick-oxide sowie auf der oben er-wähnten Rückkopplung.

Den größten Einfluss auf dieStickoxid-Chemie über demzentralen Indischen Ozean übtwährend des ganzen Jahres Südostasien aus. Emissionenaus Afrika sind besonders fürgrößere Höhen von Bedeutung.Das Gebiet mit der stärkstenVerschmutzung ist der Golfvon Bengalen, der mehr durchkontinentale Emissionen be-einflusst wird als das Arabi-sche Meer. Die Verschmutzungstammt die meiste Zeit des Jah-res aus dem Ausstoß Indiensund Südostasiens, sonst ausChina. ●

KLIMAFORSCHUNG

Dicke Luft über dem Golf von Bengalen

Säulenwerte dertroposphärischen

Stickoxide (in 1014

Molekülen proQuadratzentime-

ter), berechnet mitdem Computer-

modell für Januar1999 während derINDOEX-Kampag-ne und September

1998 während der Monsun-

übergangszeit.

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Max-Planck-Institutfür Chemie, MainzTel.: 06131 305-331Fax: 06131 305-388E-Mail: [email protected]

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Januar 1999

September 1998

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GESELLSCHAFTSforschung

Eine globale Weltgesellschaft besteht spätestens seitEnde des 15. Jahrhunderts. Damals trafen die beiden

Zweige der Menschheit, die sich von Afrika ausgehendüber den Globus verbreitet hatten, in der heutigen Kari-bik wieder aufeinander. Mit der Eroberung des späterenMexico City durch spanische Truppen 1521 begann danneine den Erdball umfassende Weltpolitik – mit vielfälti-gen wirtschaftlichen und kulturellen Wechselwirkungenzwischen Völkern und Kontinenten: Das Gold der Azte-ken beschleunigte den Übergang zur Geldwirtschaft inEuropa und damit zum Kapitalismus. Die überlegeneLandwirtschaft der amerikanischen Indianer verändertedie Essgewohnheiten und prägte die nationalen Esskul-turen der Europäer (keine deutsche Küche ohne Kartof-feln, keine italienische ohne Tomaten oder Mais).

Und als das britische Weltreich das spanische abgelösthatte, konnte Karl Marx schon 1848 im Kommunisti-schen Manifest von einem „Weltmarkt" sprechen, der„die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopo-litisch gestaltet" habe: „Die uralten nationalen Industri-en sind vernichtet worden und werden noch täglich ver-nichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien (...),die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den

entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeitenund deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondernin allen Weltteilen zugleich verbraucht werden (...) Andie Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenüg-samkeit und Abgeschlossenheit tritt (...) eine allseitigeAbhängigkeit der Nationen voneinander."

In Wirklichkeit also begann die Globalisierung vor derBildung von Nationalstaaten. In Europa verlief sie pa-rallel zu einem anderen weltgeschichtlichen Prozess,den die soziologische Theorie als Modernisierung be-zeichnet: die Ausdifferenzierung sozialer Ordnungen infunktional spezialisierte und dadurch aufeinander ange-wiesene Teilsysteme. Schon die Klassiker wussten, dassfunktionale Differenzierung – das, was Adam Smith,Karl Marx und Emile Durkheim als Arbeitsteilung be-zeichneten – eng mit der territorialen Reichweite der so-zialen Beziehungen zusammenhängt. Das Ausmaß derArbeitsteilung, so Smith in The Wealth of Nations, wirdbestimmt von der Größe des Marktes. Die Entstehungder Nationalstaaten wurde denn auch von den Klassi-kern zunächst durchaus als Prozess der Vereinheitli-chung, Zentralisierung und Ausweitung sozialer Zusam-menhänge verstanden und begrüßt.

Auf der Suche nach Nischen in der

WeltgesellschaftDer aktuellen politischen Mythologie zufolge setzte die Globalisierung in den

80er-Jahren des 20. Jahrhunderts ein und ist heute dabei, den Nationalstaat als

politische Organisationsform obsolet zu machen. In Wirklichkeit ist weder die

Globalisierung neu, noch der Nationalstaat überholt. WOLFGANG STREECK skizziert,

wie sich das System der Nationalstaaten im Umgang mit komplexen Koordinierungs-

problemen in einer weltweit ausdifferenzierten Sozialstruktur lediglich verändert hat.

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die Gleichgewichtspolitik des 19.Jahrhunderts. Wie die beiden großenKriege des 20. Jahrhunderts gezeigthaben, ließ sich mit ihr die geradewegen ihrer strukturellen Ähnlichkeit

unvermeidliche Rivalität der nationa-len Teilgesellschaften nicht unter Kon-

trolle halten. Hinzu kam, dass das Staaten-system der Zwischenkriegszeit ein krisenfreies

Zusammenwirken der Teilsysteme einer schon sehrweitgehend integrierten Weltwirtschaft nicht zu ge-währleisten vermochte: Im Medium der Innen- undAußenpolitik einer Vielzahl souveräner und rivalisie-render Territorialstaaten ließ sich Weltwirtschaftspolitiknur um den Preis nationaler politischer und weltweiterwirtschaftlicher Instabilität betreiben.

Allerdings hat das mehrmalige katastrophale Schei-tern der nationalstaatlichen Organisation der Globali-sierung weder den Nationalstaat diskreditiert, nochkonnte es die Globalisierung bremsen. Im Gegenteil ha-ben die beiden Weltkriege sie weiter vorangetrieben.Und anders als 1918 und wiederum 1945 von vielen er-wartet, wurde durch diese Kriege der Nationalstaatnicht infrage gestellt. Vielmehr hatten sie jeweils einedeutliche Zunahme der Zahl der Nationalstaaten zurFolge sowie, nach 1945, deren flächendeckende globaleInstitutionalisierung als international obligatorischepolitische Organisationsform moderner Gesellschaften.Hatten die Vereinten Nationen bei ihrer Gründung noch51 Mitglieder, so war deren Zahl – im Wesentlichen alsFolge der Entkolonialisierung – im Jahr 1960 auf 82gestiegen; 1973 lag sie bei 135, und 1988 zählte man159. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawi-ens gehören der UNO heute 191 Staaten an, die das ge-samte Territorium der Erde, mit sehr wenigen Ausnah-men, unter sich aufgeteilt haben.

Vielfältige separatistische Bestrebungen in aller Weltlassen erwarten, dass die Zahl der Nationalstaaten inden kommenden Jahren noch wachsen wird. Dabeischeint es für die Entstehung neuer oder das Überlebenalter Nationalstaaten keine Mindestgrößen zu geben: Sohaben etwa Estland, Lettland und Litauen, die zusam-men weniger Einwohner haben als Niedersachsen, nach1989 nie daran gedacht, sich anders denn als selbststän-dige Nationalstaaten zu organisieren – und konnten alssolche, ebenso wie Malta und Zypern oder andere kleineLänder, der Europäischen Union beitreten.

Begreift man die Herausbildung des globalen Systemssouveräner Nationalstaaten als Moment eines dem Na-tionalstaat vorausgehenden Prozesses der gleichzeitigenModernisierung und Globalisierung sozialer Ordnungen,so wird man aus dem Fortgang dieses Prozesses alleinnicht mehr ohne weiteres auf ein bevorstehendes Endedes Nationalstaats schließen wollen. Rückblickend wirddeutlich, dass das System der Nationalstaaten schon

Zumindest dort, wo es politisch verfassten territori-alen Gemeinschaften gelingt, sich als Ausgleich für dieverlorene Kontrolle über ihre Grenzen durch Ausbau ihrer komparativen Vorteile eine Nische in einer zuneh-mend offeneren und systemisch integrierten Weltwirt-schaft zu sichern, ist deshalb heute nicht Konvergenzdie beherrschende Tendenz der Globalisierung, sondernKonvergenz in Wechselwirkung mit Divergenz. Dabeinimmt interessanterweise in dem Maße, wie national-staatliche Einheiten aufhören, nach funktionaler Voll-ständigkeit zu streben, ihre Vergleichbarkeit ab (ArndtSorge): Ziel staatlicher Politik ist ja nicht mehr, den an-deren gleich, sondern anders als die anderen zu sein! Andie Stelle von Homogenität potenziell autarker Teilseg-mente tritt Komplementarität im Rahmen weltweiter Ar-beitsteilung. Die frühere segmentäre Integration funk-tionaler Differenzierung im nationalstaatlichen Rahmenwird durch eine neuartige Verschränkung von politisch-territorialer und funktionaler Differenzierung abgelöst:Politisch organisierte territoriale Gemeinschaften spe-zialisieren sich auf ausgewählte Teilsysteme einer zu-nehmend funktional und immer weniger segmentär differenzierten Weltwirtschaft.

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Allerdings sahen sie darin nichtmehr als ein kurzes Zwischenstadiumim Übergang zu einer Weltwirt-schaftsgesellschaft, in der für die Au-toren des Kommunistischen Manifests,ebenso wie letzten Endes für Smith,partikulare staatliche Herrschaft keinenPlatz mehr hatte. Der Aufstieg des moder-nen Nationalstaats zur dominierenden Form so-zialer Ordnung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts muss-te deshalb Liberalen wie Sozialisten als erstaunlicherRückfall gegenüber dem mit dem Fortschritt der Indus-trialisierung längst erreichten Niveau weltgesellschaft-licher Integration erscheinen. Die meisten Fachleutestimmen darin überein, dass die Entstehung der Natio-nalstaaten als eine erste Antwort auf die mit funktiona-ler Differenzierung verbundenen Koordinierungs- undIntegrationsprobleme verstanden werden muss. Um dasreibungslose Zusammenwirken der voneinander abhän-gigen spezialisierten Subsysteme der modernen Gesell-schaft zu gewährleisten, nutzte das 19. Jahrhundert dendurch Bürokratisierung rationalisierten Feudalstaat alsInstrument partieller – genauer: segmentärer – Re-Integration.

immer eine Organisationsform der Weltgesellschaft war:eine institutionelle Architektur zur Bearbeitung kom-plexer Koordinierungsprobleme in einer längst weltweitausdifferenzierten Sozialstruktur. Was wir heute als Glo-balisierung erfahren, ist deshalb nicht ein Übergang vonnationalen Gesellschaften zu einer globalen Gesell-schaft, sondern eine – wenn auch weitgehende – Reor-ganisation der letzteren. Veränderungen in Rolle undFunktionsweise des Nationalstaats müssen dabei imKontext eines sich verändernden Verhältnisses zwischeninterner Koordinierung innerhalb politischer Einheitenund externer Koordinierung zwischen denselben ver-standen werden; treibende Kräfte sind dabei der Fort-schritt der weltweiten Arbeitsteilung einerseits und dieEigenlogik der Evolution politischer Ordnungen und In-stitutionen andererseits.

Es ist oft bemerkt worden, dass Internationalisierungnationale Unterschiede einebnen kann. Auch der für dieÖffnung der nationalen Volkswirtschaften erforderlicheAbbau von Handelshemmnissen im weitesten Sinnekann diese Folge haben. Gleichzeitig lässt sich aber be-obachten, dass Konvergenz häufig mit Divergenz ein-hergeht: Überall gibt es chinesische Restaurants, aber injedem Land schmeckt chinesisches Essen anders. Deut-sche Kartoffeln sind peruanischen sehr unähnlich, undFranzosen verstehen unter europäischer Integration et-was anderes als Iren oder Ungarn. Vor allem aber kannKonvergenz in einem Bereich Bemühungen um Diver-genz in anderen auslösen – zur Verteidigung von Iden-tität und Eigenständigkeit, aber auch, um einem allzuscharfen Wettbewerb unter Gleichen zu Gunsten vonAustausch unter Verschiedenen aus dem Weg zu gehen.

Eben dieser Mechanismus, dessen fundamentale Be-deutung für die Struktur sozialer Ordnungen als ersterEmile Durkheim beschrieben hat, scheint in der gegen-wärtigen Phase der Globalisierung am Werk zu sein. Ei-ne wichtige Rolle spielen dabei die von vielen totgesag-ten Nationalstaaten. Deren politisches Instrumentariumwird von den nach außen geöffneten nationalen Gesell-schaften genutzt, um unter dem Druck des wachsendeninternationalen Wettbewerbs ihre besonderen Stärken zu identifizieren und auszubauen. Globalisierung wirddamit zu einem politisch vorangetriebenen Prozess dersektoralen Spezialisierung territorialer Wirtschaftsgesell-schaften. Deren genaue Zusammensetzung folgt wirt-schaftsgeographischen Prinzipien der Agglomerations-bildung, über die wir noch wenig wissen. Diese Prinzi-pien scheinen aber eher denen regionaler Ökonomien zugleichen als jenen traditioneller Volkswirtschaften. In je-dem Fall löst sich dabei die wirtschaftliche Arbeitstei-lung aus ihrer Einbindung in parallele nationalstaatlicheKoordinierungsregime und schreitet tendenziell zu einerweltweiten Arbeitsteilung fort, deren funktionale Unter-einheiten sich in unterschiedlichen nationalstaatlich or-ganisierten Territorien konzentrieren.

Der Apparat des entstehenden Nationalstaats ermög-lichte die Koordinierung der ausdifferenzierten Teilsys-teme einer Gesellschaft, die tendenziell bereits eineWeltgesellschaft war, indem er diese in lokale Segmenteunterteilte. Jedes einzelne davon enthielt im Prinzip allefunktionalen Teilsysteme der Moderne als nationaleTeilsysteme, verstand und organisierte sich als funktio-nal vollständiger Mikrokosmos der modernen Wirt-schaftsgesellschaft – mit eigener Industrie, eigenenStrom-, Eisenbahn- und Telefonnetzen, einem eigenenWissenschaftssystem, eigener Zivilreligion oder eigenerArmee mit allen drei Waffengattungen. Zugleich war je-des Segment klein genug, um mit den hierarchischenMitteln bürokratischer Kontrolle, unterstützt von natio-nalistisch-partikularistischen Identifikationen der Bür-ger mit ihrer jeweiligen imagined community, durchkontinuierliche autoritative Abstimmung seiner Teilsys-teme zusammengehalten und gesteuert zu werden.

Mit anderen Worten: Der Nationalstaat löste das Prob-lem der Koordinierung der funktionalen Subsystemeder sich entwickelnden modernen Weltgesellschaft, in-dem er es gewissermaßen modularisierte und in interneKoordinierungsprobleme einer Vielzahl parallel operie-render territorialer Subsysteme verwandelte. National-staatliche Grenzen dienten dabei als „Interdepen-denzunterbrecher" (Franz Xaver Kaufmann). Für dieexterne Koordinierung der nationalstaatlichen Segmen-te stand allerdings nichts Besseres zur Verfügung als

Die Spezialisierung politisch organisierter territorialerGemeinschaften auf bestimmte Sektoren folgt den Ska-lenökonomien sich ausdehnender weltweiter Märkte biszu einem Punkt, wo die Kernsektoren eines Landes undderen Infrastruktur tendenziell die gesamte nationaleProduktionskapazität beschäftigen. Sektoren ohne kom-parative Vorteile verschwinden; ihre Produkte werdenimportiert. Indem nationale Ökonomien sich auf inter-nationale Marktnischen hin umstrukturieren, die im Idealfall nur sie bedienen können, suchen sie einen har-ten Preiswettbewerb zu Gunsten eines Substitutions-wettbewerbs zu vermeiden, bei dem es vornehmlich aufdie Fähigkeit zur Innovation ankommt – das heißt da-rauf, die Qualität der Produktion fortwährend an die Be-dürfnisse der Abnehmer anzupassen.

Anders als im Mythos der Globalisierung unterstellt,kann dabei von einem Bedeutungsverlust staatlicher Po-litik keine Rede sein. Die Spezialisierung auf bestimmteSektoren erfordert im Gegenteil eine integrierte, auf denAusbau vorhandener komparativer Vorteile hin maßge-schneiderte nationale Wirtschafts-, Struktur-, Sozial- und Bildungspolitik. Sie verlangt ferner angepasste in-stitutionelle Regelwerke – etwa für den Arbeitsmarkt –,die eine optimale Nutzung der nationalen Ressourcen zu-gunsten der jeweiligen Kernsektoren ermöglichen. Soberuhte der Strukturwandel der Niederlande in den letz-ten beiden Jahrzehnten zum logistischen Zentrum deseuropäischen Kontinents auf dem Ausbau des Amster-damer Flughafens und des Rotterdamer Hafens, der För-

Ein vollständiger Mikrokosmos der ModerneMaßgeschneiderte Politik bringt Erfolg

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GESELLSCHAFTSforschung

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derung einer hoch leistungsfähigen Speditionswirt-schaft, einer dienstleistungsfreundlichen Tarif- undSteuerpolitik sowie nicht zuletzt auf hohen bildungspo-litischen Aufwendungen zur Erhaltung der Vielspra-chigkeit der Bevölkerung.

Ähnlich politisch gewollt war die rapide Umwandlungder irischen Volkswirtschaft in eines der wichtigstenProduktionszentren der amerikanischen Mikroelektro-nik-Industrie, um derentwillen wohl auch das unlängstverhängte Rauchverbot in irischen Pubs eingeführt wor-den sein dürfte. In diesen und anderen Fällen dient dasInstrumentarium des Nationalstaats dazu, einheimischeSektoren mit komparativen Vorteilen zu identifizierenund ihren Wettbewerbsvorsprung mit oft einschneiden-den politischen Maßnahmen zu verteidigen.

In der Literatur gibt es zahlreiche Versuche, die ge-genwärtigen Veränderungen in der Funktionsweise desNationalstaats auf einen Begriff zu bringen. Die Zunah-me grenzüberschreitender sozialer Beziehungen, diedem regulierenden Zugriff des Nationalstaats entzogensind, lässt manche von einer allgemeinen „Erosion vonStaatlichkeit" sprechen. Dies scheint jedoch nur zumTeil berechtigt. Wo nationale Gesellschaften auf denVerlust der Kontrolle über ihre Grenzen mit sektoralerSpezialisierung antworten, stützen sie sich auf einennach wie vor höchst aktiven Staat.

men war oder dazu diente, dessen Resultate teilweiserückgängig zu machen, wird im Wettbewerbsstaat zumStandortfaktor: Sie dient nicht mehr der Korrektur, son-dern der Akkommodierung von Märkten – weniger der„sozialen Gerechtigkeit" als der Aktivierung und Quali-fizierung flexibel einsetzbaren Humankapitals. Sozial-und Wirtschaftspolitik sind dabei immer schwerer zuunterscheiden. Ihr gemeinsames Ziel ist die Verbesse-rung der internationalen Marktgängigkeit der Gesell-schaftsmitglieder und der Gesellschaft insgesamt.

Zu den überraschenden Konsequenzen der neuen An-forderungen an Binnenstruktur und auswärtige Politikvon Nationalstaaten gehört, dass sich der herkömmli-che Vorteil größerer gegenüber kleineren Ländern insein Gegenteil zu verkehren scheint. Eine Ausnahmesind die Vereinigten Staaten, die zusätzlich zu ihremsektoralen Monopol auf die Anwendung militärischerGewalt über die vollständigste aller Volkswirtschaftenverfügen und deshalb von jedem einzelnen ihrer Han-delspartner weniger abhängig sind als dieser von ihnen.Die mittlere Größe eines Landes dagegen scheint zumProblem geworden zu sein. In den 90er-Jahren, demJahrzehnt der Reformen, waren die kleinen Länder Eu-ropas bei der Anpassung an die neuen globalen Bedin-gungen in der Regel erheblich erfolgreicher als diegroßen, insbesondere Deutschland, Frankreich und Ita-lien. Dies könnte daran liegen, dass kleine Länder nichtnur früher als große auf eine Strategie sektoraler Spe-zialisierung angewiesen sind, sondern sie auch leichterzu realisieren vermögen als Länder, deren Bevölkerungzu groß ist, um in einer kleinen Anzahl von Kernsekto-ren aufgehen zu können.

Das internationale System der Vergangenheit prämi-ierte die Größe eines Landes. Wer nicht groß genug, werkein „Machtstaat" im Sinne Max Webers war, musstefürchten, von anderen beherrscht zu werden. Heute da-gegen bedeuten Größe und Heterogenität eines Landesvor allem, dass sie Institutionen und Politiken notwendigmachen, die auf viele sektorale Sonderbedingungen glei-chermaßen passen müssen und deshalb auf keine einzel-ne genau passen können – allein deshalb, weil sie nurdurch Kompromisse zwischen widerstreitenden Interes-sen zu Stande kommen können. Die dafür nötige interneUmverteilung verursacht Kosten, und ebenso lässt dieungenügende Passung allgemeiner Regeln auf spezielleBedingungen Ressourcen ungenutzt. Größe und interneVielfalt, früher Garanten äußerer Souveränität, habenheute vor allem zur Folge, dass sie Regierungen daranhindern, nationale Regelsysteme und politische Interven-tionen auf die besonderen Bedürfnisse von Kernsektorenabzustellen, die einem weltweiten Innovations- und Substitutionswettbewerb standhalten müssen.

Überlegungen dieser Art werfen ein interessantesLicht auf Deutschland. Die Entwicklung der Wirtschaftnach der Wiedervereinigung könnte als Beleg dafür die-

nen, dass unter den heutigen interna-tionalen Wettbewerbsbedingungeneinheitliche Regelwerke für heteroge-ne Wirtschafts- und Branchenstruktu-ren verheerende Auswirkungen habenkönnen. Dass 1990 das gesamte Institu-tionensystem der westdeutschen Bundes-republik auf die DDR übertragen wurde, hatdiese der Notwendigkeit enthoben und ihrgleichzeitig die Möglichkeit genommen, ein eigenes, aufihre besondere wirtschaftliche Lage maßgeschneidertesRegelwerk zu entwickeln – wie dies etwa in Ungarn, Po-len oder Tschechien der Fall war. Wenn heute das Brut-to-Inlandsprodukt der seit fast anderthalb Jahrzehnten„neuen" Länder unterhalb des portugiesischen liegt, sokönnte dies auch darauf zurückgehen, dass die aus demWesten importierten Institutionen eine aufholende sek-torale Spezialisierung behinderten.

Zugleich stehen die zur Aufrechterhaltung einheitli-cher Lebensverhältnisse erforderlichen Transfers für dieSicherung der sektoralen Wettbewerbsfähigkeit im We-sten des Landes nicht mehr zur Verfügung. Solidarische,den Lebensstandard der Bürger angleichende Umvertei-lung innerhalb eines großen und heterogenen National-staats ist so lange kein Problem, wie Volkswirtschaftennoch überwiegend Volkswirtschaften sind und potenzi-ell mobile Produktionsfaktoren gezwungen werden kön-nen, im Lande zu bleiben. Beide Bedingungen sind heu-te nicht mehr gegeben.

Dass es zum Nachteil geworden ist, größer alsHolland, aber kleiner zu sein als die USA, erklärt wohlauch das zunehmende Verlangen nach Dezentralisie-rung des deutschen Bundesstaats. Mehr Autonomie fürdie Bundesländer, so eine Analyse zur Arbeit der Fö-deralismuskommission von Bundestag und Bundesrat,„könnte (...) die Anpassung rechtlicher Regeln an die be-sonderen Standortbedingungen und die Wirtschafts-struktur des einzelnen Landes ermöglichen und so dieAusschöpfung von ökonomischen Spezialisierungsvor-teilen begünstigen." Die heute notwendige Optimierungder „rechtlichen Rahmenbedingungen der Unterneh-menstätigkeit" könne „angesichts der heterogenen deut-schen Wirtschaftsstruktur (und dementsprechend unter-schiedlicher Interessen im Bundesrat) durch generellgeltende Änderungen des einheitlichen Bundesrechtskaum geleistet werden." Deshalb seien „erweiterteHandlungsspielräume der Landesgesetzgeber (...) einenotwendige Vorbedingung höherer wirtschaftlicher In-novations- und Wettbewerbsfähigkeit."

Spinnt man den Gedanken weiter, so kann man ihndurchaus auch auf die Vertretung regionaler Interessennach außen beziehen. Den deutschen Bundesländernfehlt nicht nur die Möglichkeit, ihre Regelwerke –einschließlich etwa der Ausgestaltung von Sozialstaatund Tarifautonomie – auf die Bedürfnisse und Entwick-

lungschancen ihrer jeweiligen Wirt-schaftsstruktur abzustimmen. Andersals die ähnlich großen Wirtschafts-räume der Niederlande, Dänemarksund Schwedens verfügen sie darüber

hinaus auch nicht über das außenpoliti-sche Instrumentarium souveräner Natio-

nalstaaten, um ihre Position im internatio-nalen Markt zu optimieren. Die Chemiepolitik

der Europäischen Union sähe wohl anders aus, hättenicht nur der Ministerpräsident von Schweden, sondernauch der von Nordrhein-Westfalen einen Sitz im Eu-ropäischen Rat.

Zur SACHE

Allerdings ändert sich die Qualität von Staatlichkeit.In Bezug hierauf ist von einer Transformation des „Key-nesianischen Sozialstaats" der Nachkriegszeit in einen„Schumpeterianischen Wettbewerbsstaat" die Rede,dessen wichtigstes Ziel die Sicherung internationalerWettbewerbsfähigkeit sei. Freilich verbindet sich mitdem Begriff häufig die Vorstellung eines internationalenUnterbietungswettbewerbs, bei dem es vor allem darumgehe, welcher Staat sich am schnellsten seiner wohl-fahrtstaatlichen Erbschaft zu entledigen vermag. Diesaber ist allenfalls eine mögliche Variante sektoraler Spe-zialisierung, deren Ziel – die Eroberung von Nischen in-nerhalb des entstehenden Systems weltweiter Arbeitstei-lung – unter günstigen Bedingungen auch mit anderenMitteln erreicht werden kann.

Doch setzt auch dies den umverteilenden und status-sichernden Sozialstaat Kontinentaleuropas unter Druck– und zwar durchaus im Sinne einer Erosion des Staates,insoweit dieser als Agentur einer autoritativen Zutei-lung von Werten fungiert. Gesellschaften im Prozesssektoraler Spezialisierung ähneln Konglomeraten, diesich auf ein Kerngeschäft fokussieren: Sie beenden dieumverteilende Quersubventionierung schwacher zuGunsten von Investitionen in die Leistungsfähigkeitstarker, am Weltmarkt aussichtsreicher Sektoren. Sozial-politik, die vorher aus dem Wettbewerb herausgenom-

Wettbewerbsfähigkeit als oberstes Ziel

Triebkräfte des Wandels sozialer Ordnungen sindStrategien kollektiven Handelns, die unter hoher Unge-wissheit gewählt werden müssen und oft nicht mehrsind als Wetten auf eine erhoffte Zukunft. Ob sie gelin-gen und zu welchen gesellschaftlichen Strukturen siesich am Ende verdichten, weiß man mit Sicherheit im-mer erst im Rückblick. Widerspruchsfrei und einzigmöglich erscheinen soziale Formationen nur im Nach-hinein; kaum eine Gegenwart, die nicht als Krise emp-funden, und kaum eine Lösung, die nicht irgendwannauch zum Problem würde. Sektorale Spezialisierung sollstaatlich organisierten Nationalgesellschaften einenPlatz in einer sich über nationale Grenzen hinweg neuordnenden Weltwirtschaft sichern; zugleich aber machtsie auf neue Weise verwundbar – nicht zuletzt, weil Spe-zialisierung oft nur um den Preis verminderter Anpas-sungsfähigkeit zu haben ist.

Auch andere Fragen bleiben offen. Reicht eine erwei-terte Leistungsethik industrieller Distrikte – wie sie Mar-shall Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben hat – aus,um moderne Gesellschaften zu integrieren und die Legi-timität ihrer staatlichen Ordnung zu sichern? Können dieentstehenden regionalen Zentren internationaler wirt-schaftlicher Exzellenz wirklich alle Mitglieder ihrer je-weiligen Gesellschaft beschäftigen, oder doch nur einenTeil? Wie können diejenigen, die dem verschärften Leis-tungswettbewerb nicht gewachsen sind, in einer Leis-tungsgesellschaft ohne umverteilenden Sozialstaat einenPlatz finden? Welche Möglichkeiten gibt es überhauptnoch, der zunehmenden Ungleichheit zwischen erfolgrei-chen und erfolglosen Regionen der Weltwirtschaft durcheine investive internationale Sozialpolitik zu begegnen?Antworten hierauf kann letztlich nur die Praxis finden.Der Beitrag der Wissenschaft ist es vor allem, die richti-gen Fragen zu stellen. ●

WOLFGANG STREECK ist Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Der Beitrag ist die gekürzte und

bearbeitete Fassung des Festvortrags, gehalten auf der Haupt-versammlung 2004 der Max-Planck-Gesellschaft in Stuttgart.

Lösungen, die zum Problem werden

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FOKUS

Das Diktum gilt als eine der äl-testen und anschaulichsten De-

finitionen des Lebendigen: Leben istBewegung. Wo sich etwas von allei-ne regt und rührt, da rumort das Le-ben und bietet dem Tod die Stirn. Jeder Schritt, jeder Atemzug, selbstjeder Wadenkrampf ist ein untrügli-ches Zeichen unserer Vitalität. Dochohne molekulare Motoren wäre alldas unmöglich. Seit einigen Jahr-zehnten sind diese Eiweißkomplexebekannt, doch ihre überraschendeVielfalt beginnen die Wissenschaft-ler erst in jüngster Zeit zu verstehen.

Vor allem drei Familien von Ei-weißmolekülen sind für den zellu-lären Nahverkehr verantwortlich: dieMyosine, die Kinesine und die Dyne-ine. Jede dieser Familien besitzt Dut-zende von Varianten, die jeweils un-terschiedliche Aufgaben erfüllen.Doch der grundlegende Mechanis-mus aller drei Motortypen ist ebensoeinfach wie genial: Alle drei Proteinekönnen ihre komplizierte räumlicheStruktur derart verändern, dass bei-spielsweise ein hebelartig hervorste-hender Eiweißarm umklappt – undso einen winzigen Bewegungsimpulserzeugt.

Dabei verbrauchen die Motoren ei-ne Art Zelltreibstoff, das Adenosintri-phosphat (ATP). In den kleinen ATP-Molekülen speichert die Zelle die Energie, die bei der Verbrennung derNahrungskalorien freigesetzt wird.Will man die molekularen Maschinenmit Automotoren vergleichen, dannwäre ATP das Benzin. Tatsächlichliegt hierin eine der großen Überra-schungen der Zellbiologie: In derWelt der Moleküle finden sich auspurem Eiweiß aufgebaute Motoren,die – analog zu den technischen,vom Menschen gemachten Maschi-nen – Scharniere, Hebel, Federn undKupplungsmechanismen aufweisenund deren Kraft und Geschwindigkeitsich mit ausgeklügelten Experimen-ten genauso messen lässt wie die Lei-stung eines 7er-BMW.

Bestes Beispiel für die Arbeit dermolekularen Motoren ist die Muskel-kontraktion. Legt man Muskelfasernunter ein Mikroskop, lassen sich da-rin zwei Typen von Filamenten –haarfeine, lang gestreckte Eiweißfä-den – entdecken. Die dünnen Fila-mente bestehen großteils aus demZelleiweiß Aktin. Die dicken Fila-mente dagegen setzen sich aus Myo-

sin zusammen. Wie in einem mitzwei verschiedenen Garnen saubergewebten Tuch liegen dicke unddünne Filamente im Wechsel neben-einander. Zieht sich der Muskel zu-sammen, gleiten die dicken und dün-nen Filamente aneinander vorbeiund schieben sich ineinander wie dieFinger zweier Hände. Dadurch ver-kürzt sich die Muskelfaser binnenMillisekunden auf einen Bruchteilihrer ursprünglichen Länge.

MYOSINMOLEKÜLE

MIT HEBELWIRKUNG

Unter einem hoch auflösendenElektronenmikroskop kann man denMechanismus dieser Gleitbewegungerkennen: Zwischen den dicken Myo-sin- und den dünnen Aktinfilamen-ten gibt es nämlich brückenartigeQuerverbindungen. Diese sind nichtsanderes als die beweglichen Arme derMyosinmoleküle, die um bis zu 70Grad abknicken können und dabeiwie winzige Hebel wirken. Jeder die-ser Nanohebel kann freilich nur eineverschwindend geringe Kraft erzeu-gen, und Berechnungen legen nahe,dass zehn Milliarden Myosinmotorennotwendig sind, um eine Einkaufsta-

sche von fünf Kilogramm Gewicht zuheben. Tatsächlich sind in den Mus-kelfasern unzählige Myosinmolekülehintereinander geschaltet, deren Ar-me bei der Muskelkontraktion in ko-ordiniertem Takt zu schlagen begin-nen. Wie eine Galeere mit vielen Ru-derern schiebt sich dadurch das Myo-sinfilament an den benachbarten Ak-tinfäden vorbei.

Doch ist die Muskelkontraktion nurder offensichtlichste – und täglich er-fahrbare – Effekt, den molekulareMotoren haben. Denn nicht nur derrekordverdächtige 100-Meter-Sprint,auch der Wettlauf der Spermienzellenin den Eileitern hin zum befruch-tungsfähigen Ei wäre ohne die mi-kroskopisch kleinen Maschinchennicht denkbar. Spermien bewegensich mittels einer langen Geißel vor-wärts, die eine wellenförmige Schlag-bewegung ausführt. Der schnelleGeißelschlag wird dabei offenbar erstdurch besondere Signalstoffe imweiblichen Reproduktionstrakt inGang gesetzt. Die eigentliche An-triebsmaschine im Innern der Geißelbesteht aus zahlreichen Dyneinmoto-ren, die in einen kompliziert aufge-bauten Eiweißfaden (dem Axonem)eingelagert sind und durch Verbie-gungsbewegungen das Schlagen desSpermienschwänzchens auslösen.

Ein ähnlicher Vortrieb findet sichauch bei Bakterien, die ebenfalls

häufig über Geißeln verfügen. Aller-dings wird der Bakterienmotor nichtdurch Dyneinmoleküle, sondern an-dere, großteils noch unverstandenemolekulare Mechanismen angetrie-ben. Fest steht, dass es sich dabei umeinen rotierenden Motor handelt, dermit einer atemberaubenden Ge-schwindigkeit von bis zu 100 000Umdrehungen pro Minute wie eineTurbine um eine Achse kreist und dieBewegungsenergie dabei auf dieBakteriengeißel überträgt.

EINE ZELLE IST

KEIN WACKELPUDDING

Während sich diese Bewegungs-vorgänge noch vergleichsweise ein-fach unter dem Mikroskop betrach-ten lassen, bedarf es schon ausgeklü-gelter Visualisierungsmethoden, umjene Transport- und Bewegungsvor-gänge zu erfassen, die sich innerhalbeinzelner Zellen abspielen. Längsthat sich durch die molekularbiologi-sche Forschung auch das Bild davongeändert, was eine Zelle eigentlichist: Weit davon entfernt, eine Art or-ganischer Wackelpudding zu seinoder wie Mutters Nähkörbchen allesnur in buntem Durcheinander zuenthalten, besitzen Körperzellen ei-nen hoch organisierten und aktiv ge-steuerten Binnenverkehr, gegenüberdem jedes großstädtische U-Bahn-Netz lächerlich simpel erscheint.

Die Infrastruktur für diesen Zell-verkehr bilden vor allem die „Mikro-tubuli”; das sind winzige Eiweiß-röhrchen, welche die Zelle kreuz undquer durchziehen. Direkt unterhalbder Zellmembran, in der Zellperiphe-rie, enden die Mikrotubuli allerdings.

Die Triebfeder des LebensIn den Körperzellen herrscht ein

ständiger Verkehr von Zellbaustoffen,

Signalmolekülen, Krankheitserregern und

Stoffwechsel-Abbauprodukten. Hinter

der Transportleistung stecken Zigtau-

sende von molekularen Motoren.

Die winzigen Eiweißmaschinen ver-

frachten nicht nur zelluläres Stückgut

von einem Ende der Zelle zum anderen.

Ebenso machen sie Zellteilungen und

auch Muskelbewegungen überhaupt

erst möglich. Molekulare Motoren

findet man in Bakterien und Amöben

ebenso wie in Pflanzen, in Muskelfasern,

in weißen Blutkörperchen oder in

Nervenzellen – und sie sind

Forschungsgegenstand an Instituten

der MAX-PLANCK-GESELLSCHAFT.

ZELLverkehr

ADP PaATP

ActinfilamentMyosinkopf

ADP

Die Draisine liefert eine schöne Analogie zum Bewegungsablauf des Motor-moleküls Myosin. Währendsich das Laufrad jedoch mitMuskelkraft fortbewegt, wirdder Schwenk des Hebelarmsbeim zellulären Motor durcheine Art Zelltreibstoff, das so genannte Adenosintriphos-phat (ATP), ausgelöst.

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Page 13: MPF_2004_3 Max Planck Forschung

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FOKUS

Hier finden sich stattdessen zahlrei-che Aktinfilamente, die in den meis-ten Körperzellen – anders als inMuskelfasern, wo sie sauber parallelnebeneinander liegen – ein dichtesGeflecht bilden. Während Mikrotu-buli gewissermaßen die Autobahnender Zelle sind, gleichen die Aktinfila-mente eher den verwinkelten Gasseneiner Altstadt. Zusammen mit den sogenannten intermediären Filamentenbilden diese drei Filamenttypen dasZell- oder Cytoskelett.

Dieses Skelett dient den Zellenzum einen als dreidimensionalesStützgerüst und fungiert zum ande-

ZELLverkehr

können. Hinzu kommt, dass mancheZellfracht zunächst entlang derschnellen Mikrotubuli durch die Zel-le rast, um in der Nähe der Zellmem-bran mittels Myosinmotoren auf dieAktintrassen überzuwechseln – ganzso, wie manche Straßenbahnen überLand auf Bundesbahngleisen fahrenkönnen, innerhalb der Stadt aber miteinem anderen Stromabnehmer dieTramschienen benutzen.

In den vergangenen Jahren hat dieForschung am Zellskelett auch ge-zeigt, dass das Zusammenspiel dereinzelnen Komponenten ein nochweitaus komplexeres Zellverhaltenauslösen kann. Tatsächlich handeltes sich bei den Mikrotubuli und denAktinfilamenten keineswegs umstarre Baumaterialien, sondern umsich dynamisch auf- und abbauendeMikrostrukturen. „Das Zellgerüstwird ständig umgebaut, und dabeisind zahlreiche regulierende Mo-leküle im Spiel”, erklärt JonathonHoward, Direktor am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologieund Genetik in Dresden. So könnenMikrotubuli, ähnlich wie Aktinfila-mente, von einem Wachstums- in ei-nen Schrumpfmodus umschalten –„catastrophe” nennen Wissenschaft-ler diesen Vorgang –, um dann wie-der in den Wachstumsmodus („res-cue”) zurückzukehren. „Mikrotubulisind Maschinen, sie verbrauchen Energie, können schieben und ziehenund alles Mögliche in der Zelle hin-und herbewegen”, sagt Howard. DieZelle verlegt also nicht nur gewisser-maßen ihre eigenen Transportgleiseständig neu, sondern die Gleise sel-ber werden zu molekularen Motoren.

Dieses Verhalten wird nirgendsdeutlicher als bei der Zellteilung, derMitose. Seit langem wissen die For-scher, dass sich dabei die Chromoso-menhälften (Chromatiden) gleich-mäßig auf die Tochterzellen vertei-len. Zunächst reihen sich die Chro-mosomen hübsch regelmäßig amZelläquator auf. Dann wandern dieChromatiden zu den Zellpolen, dieZelle schnürt sich in der Mitte ab. Ei-ne entscheidende Rolle spielt dabeidie so genannte Mitosespindel, die inerster Linie aus Mikrotubuli besteht.

Die Tubuli docken von beiden Seitenan die Chromosomen an und ziehendie Chromatiden – ähnlich wie Seil-winden – zu den entgegengesetztenPolen. Wird der dynamische Umbauder Mikrotubuli dagegen mit dem„Spindelgift” Colchicin blockiert, un-terbleibt auch die Mitose.

DAS GEHEIMNIS

DER ASYMMETRIE

Noch rätseln die Wissenschaftlerdarüber, wie die Dynamik des hochkomplexen Spindelapparats – einerwahren Präzisionsmaschine – imEinzelnen gesteuert wird. „Wahr-scheinlich spielen dabei verschie-denste Interaktionen zwischen denMikrotubuli, Aktinfilamenten undklassischen Motorproteinen eineRolle”, sagt Howard. Seine Arbeits-gruppe konnte beispielsweise nach-weisen, dass sich Zellen nicht genauin der Mitte, sondern asymmetrischteilen, wenn die mit den Mikrotubuligenerierten Zugkräfte auf der einenSeite des Spindelapparats größersind als auf der anderen und da-durch die Mitosespindel in eine ex-zentrische Position verlagert wird.Dieser Mechanismus, der Zellen unterschiedlicher Größe produziert,könnte für die Gewebe- und Organ-entwicklung während der Embryo-nalphase von entscheidender Bedeu-tung sein.

Unterdessen denken Howard undseine Kollegen bereits weiter. Dennwenn, so die Überlegung, molekulareMotoren in den Zellen derart präzisearbeiten, dann könnte man sie mög-licherweise auch für miniaturisierteHerstellungsprozesse technisch nut-zen. Beispielsweise ließen sich DNA-Stücke an Motormoleküle koppeln,um die Strom leitenden Gen-Schnip-sel zu miniaturisierten Drähten zu-sammenzubauen. Dereinst könntensogar ganze Nano-Fabriken mithilfeder Zellmaschinchen betrieben wer-den, spekuliert Howard. Wenn auchsolche molekularen Produktions-straßen derzeit noch Zukunftsmusikbleiben – unvorstellbar ist es nicht,dass die Motoren des Lebendigen ei-nes Tages die Welt der Technik er-obern. MARTIN LINDNER

ren als Leitsystem für den Zellbin-nenverkehr. Molekulare Motorenkönnen an das Cytoskelett andockenund auf den fadenförmigen Eiweiß-schienen wie Draisinen auf Eisen-bahngleisen hin- und herfahren. Da-bei nehmen die Motorproteine dasunterschiedlichste Transportgutgleichsam huckepack, befördern bei-spielsweise molekulare Baustoffeund Rezeptoren vom Zellzentrumzur Zellmembran und bringen vondort Signalmoleküle zum Zellkernzurück, um hier wiederum geneti-sche Botensubstanzen (messengerRNA) aufzuladen und zu den Ei-weißfabriken der Zelle zu verfrach-

ten. Kurz: Motorproteine sind diePackesel der Körperzellen.

Erst teilweise ist bekannt, wie esdie molekularen Motoren schaffen,die unterschiedlichen Transportpake-te auf ihrer Reise durch die Zelle ansich zu binden. Offenbar gibt es eineganze Reihe von „Linker-Proteinen”,die wie eine spezifische Anhänger-kupplung die jeweilige Fracht an dieMotoren koppeln. Tatsächlich kannein und dasselbe Frachtgut auf ver-schiedenen Motortypen huckepackreiten, wodurch im Wesentlichen dieTransportrichtung bestimmt wird. Soweiß man, dass Kinesine – die in ih-rer Struktur mit den Myosinen eng

verwandt sind und sich mit ihren beweglichen Armen an den Mikrotu-buli entlanghangeln – häufig ihrFrachtgut vom Zellinnern zur Zell-peripherie befördern. Dyneine dage-gen scheinen sich oft in umgekehrterRichtung, also von außen nach in-nen, zu bewegen.

MARSCH IN

BEIDE RICHTUNGEN

Doch ist die Koordination des Zell-verkehrs noch weit ausgeklügelterals bisher angenommen. Inzwischenhaben die Forscher Kinesine ent-deckt, die nicht nur in einer, sondernin beiden Richtungen marschieren

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Nicht nur der rekordverdächtige 100-Meter-Sprint (rechts) bei OlympischenSpielen, sondern auch der Wettlauf der Spermienzellen (unten) hin zum Ei wäre ohne molekulare Motoren nicht denkbar.

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Stau auf der Zellauto bahnAm Anfang wirken die Men-

schen nur zerstreut und fahrig,vergessen Telefonnummern und Na-men. Sie wiederholen sich oft – undes wird immer schlimmer. Mit denJahren nimmt der Gedächtnisverlustdramatische Ausmaße an. Am Endewissen Patienten mit der Alzheimer-schen Krankheit nicht einmal mehrvon sich selbst, geschweige dennvon Lebenspartnern, Freunden oderVerwandten. Sie können nicht alleinessen und kaum noch sprechen. Sieverlieren ihre Identität und lebenausschließlich im Kosmos ihres un-tergehenden Gehirns.

Im mikroskopischen Bild von Alz-heimer-Gehirnen zeigt sich einschwerer Schwund von Nervenzellenin Hirnregionen, die Gedächtnis-funktionen und essenzielle Denkpro-zesse verarbeiten. Seit langem wis-sen die Experten, dass sich in undzwischen den Neuronen der Betrof-fenen auffällige Verklumpungen ausProteinen oder deren Fragmentenablagern, bevor die Zellen letztlichmassenweise absterben. Doch wie esim Detail zu diesem dramatischenUntergang kommt, ist trotz immen-sen Forschungsanstrengungen bisheute ungeklärt.

Auf der Suche nach den Ursachengerät das Transportsystem der Zellesamt seiner molekularen Motoren in

jüngster Zeit zunehmend in den Fo-kus der Fachwelt. „Schon in frühenStadien der Krankheit bricht derFrachtverkehr in den Axonen derNervenzellen in Richtung der Synap-sen zusammen”, sagt Eckhard Man-delkow, Leiter der Hamburger Max-Planck-Arbeitsgruppe für strukturel-le Molekularbiologie. Die Axone sinddie teilweise meterlangen Fortsätzevon Nervenzellen. An ihren Spitzentauschen sie über einen schmalenSpalt (die Synapsen) elektrische undbiochemische Botschaften mit ande-ren Neuronen aus, was die Leis-tungs- und Lernfähigkeit des Gehirnsmanifestiert. Die neuen Erkenntnissekönnten ein Schlüssel zum Verständ-nis des Krankheitsprozesses sein –„und ein Tor für eine frühzeitigeTherapie, die die Krankheit aufhält”,wie Eva-Maria Mandelkow sagt, diemit ihrem Mann in Hamburg zusam-menarbeitet.

Seit die biologische Grundlagen-forschung die elementare Rolle derMotorproteine und des Transportsys-tems von Zellen zumindest ansatz-weise begreift, erkennt sie immerneue Querverbindungen zu menschli-chen Erkrankungen. „Davon werdenwir noch viel hören”, prophezeit Eck-hard Mandelkow, dessen Team vorallem die Kinesine genannten Motor-proteine beleuchtet. Mandelkows

Allein in Deutschland leiden etwa eine

Million Menschen an der Alzheimerschen

Krankheit – jeder einzelne Fall eine

Tragödie für die Patienten und ihre An-

gehörigen. Im Verlauf dieser Erkrankung

gehen massenweise Gehirnzellen unter.

Über die genaue Ursache rätseln die

Wissenschaftler noch. Eine Spur führt

aber mitten hinein ins Frachtsystem der

Zellen. ECKHARD MANDELKOW,

Leiter der Hamburger MAX-PLANCK-

ARBEITSGRUPPE FÜR STRUKTURELLE

MOLEKULARBIOLOGIE, und seine Frau

EVA-MARIA MANDELKOW setzen mit

ihrer Forschungsarbeit genau dort an.

FOKUS

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Vermutung mag nicht sonderlichüberraschen – angesichts der Tatsa-che, dass in fast jeder der etwa 100Billionen Zellen des menschlichenKörpers Kinesine, aber auch andereMotorproteine wie etwa das Dyneinoder das Myosin den Transport wich-tiger zellulärer Verkehrsgüter sichern.

So können Organe und Gewebenicht auf ihre Leistungen verzichten– vor allem das Gehirn nicht. Zerstörtman manche Kinesin-Gene in Mäu-sen, sterben die Tiere frühzeitig. An-dererseits: Gerade weil die Transport-

ZELLverkehr

systeme so wichtig sind, arbeitet dieNatur zuweilen mit Netz und doppel-tem Boden. Fällt ein Kinesin-Typ we-gen einer Störung aus, kann ein ver-wandtes Molekül nicht immer, abermanchmal die Funktion der ausgefal-lenen Motoren übernehmen. Nichtweniger als 45 Varianten zählt diegroße Familie der Kinesine in denZellen von Säugetieren. Die dreidi-mensionale Struktur einiger Motor-proteine hat das Hamburger Team inden vergangenen Jahren mithilfe derSynchroton-Strahlung am Elektro-nenbeschleuniger DESY entschlüs-selt. Inzwischen kennen die Forscheretliche Krankheitsphänomene, die di-rekt oder indirekt mit den Kinesinenzusammenhängen.

WENN KINESINE DEN

KÖRPER KRANK MACHEN

Infektionen durch Viren undBakterien: Vaccinia-Viren beispiels-weise nutzen Kinesine, um bestimm-te Proteine in den befallenen Zellentransportieren zu lassen. Herpes-Viren wandern über die Verkehrs-wege von Neuronen nach Ruhepha-sen im Nervensystem immer wiederin die Lippen zurück, um den Men-schen mit den bekannt unangeneh-men Bläschen zu quälen. Der Aids-Erreger HIV wiederum zerstört dieInfrastruktur in den infizierten Im-munzellen.

Erkrankungen, die auf Proble-men mit Cilien beruhen – kurzen,haarartigen Zellfortsätzen an derAußenseite von Zellen: Die Ciliensind beweglich und werden von ver-schiedenen Motorproteinen aufge-baut und angetrieben. In den Lungenfächern sie beispielsweise Staub undSchadstoffe von der Oberfläche desAtemorgans. Ein häufiges angebore-nes Nierenleiden, die „polyzystischeNiere”, kann durch Fehler in einemKinesin-Gen begründet sein, in demdie Baupläne für ein Kinesin-Proteingespeichert sind.

Wachstum von Krebs: Tumor-zellen teilen sich wie gesunde Zellenbei der Mitose mithilfe von Motor-proteinen. Ziel innovativer Thera-pien ist es, bestimmte Kinesine vo-rübergehend auszuschalten und sodie Vermehrung der Tumorzellen zustoppen (siehe Kasten auf Seite 27).

Entstehung von Leiden des Ner-vensystems, wo der zelluläre Trans-port von mehreren Kinesin-Proteinengestört werden kann: Dazu gehört ein Typ der „Charcot-Marie-Tooth-Krankheit”, die vielfach die Bewe-gungs- und Empfindungsfähigkeitder Betroffenen stark beeinträchtigt.Hier wurde ein Defekt in einem der Kinesin-Gene nachgewiesen. Be-kannteste Beispiele sind allerdingsdie neurodegenerativen Demenzen,allen voran der Morbus Alzheimer.

In einer gesunden menschlichenNervenzelle rackern die Kinesine vorallem in den Axonen und Dendriten –Fortsätzen, die Signale von anderenNervenzellen aufnehmen. Wie aufeiner kerzengeraden Bahnstrecke

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Wenn sich aufgrund übermäßiger Produktion das Tau-Protein (blau) auf den zellulären Verkehrsschienen – den Mikrotubuli – ablagert, können die Kinesin-Moleküle (gelb)nicht mehr andocken. Der Verkehr der Motormoleküle stoppt,das Ampelsignal steht daher auf rot. Nur wenn die Gleise frei sind, die Ampel also grün zeigt, kommen die kleinenTransporter in Fahrt und nehmen den Frachtverkehr auf.

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Neuronen der Alzheimer-Patienten:Dort wimmelt es von abnorm struk-turierten Tau-Proteinen. Die Eiweißerotten sich erst zu Aggregaten zu-sammen; dann winden sich die Ag-gregate paarweise umeinander undbilden schließlich neurofibrilläreBündel, die als längliche Fasern denZellkörper durchziehen.

TAU LÄUFT PLÖTZLICH

AUS DEM RUDER

Das sieht Tau eigentlich nicht ähn-lich: Normalerweise gehört es zu je-nen Proteinen, die sich in der „Sup-pe” einer Zelle am besten lösen undim mikroskopischen Bild gar nichtauffallen. Wie es zum abnormen Tau-Verhalten kommt, ist eine der großenentscheidenden Fragen der Alzhei-mer-Forschung. Besiegelt das Proteindirekt den Untergang der Nervenzel-len, indem es auf die Neuronen wieein Gift wirkt? Oder lässt Tau erst denKinesin-Transport entlang der Axoneversiegen, was zum Tod der Zelleführt? Genau das legen diverse Studi-en unter anderem aus dem Max-Planck-Labor nahe. In jahrelangerArbeit ist es den Hamburger Wissen-schaftlern gelungen, zunächst einZellkultursystem zu entwickeln, indas man verschiedene Varianten desTau-Gens einschleusen und zu belie-bigen Zeitpunkten ein- und ausschal-ten kann, um die Herstellung desTau-Proteins in allen möglichenMengen zu starten und zu stoppen.Die untersuchten Zellen stammen un-ter anderem aus einer Hirnregion, dieeine wichtige Rolle für das Gedächt-nis spielt und bei der AlzheimerschenKrankheit als erstes erfasst wird.

Kurbeln die Forscher in diesen Zel-len eine übermäßige Produktion von

FOKUS

Tau an – wie man es in menschli-chen Alzheimer-Hirnen üblicherwei-se findet -, dann stellen die Kinesin-Transporter ihre Arbeit rasch ein.Das lässt sich mit der Konfokal-Flu-oreszenz-Mikroskopie verfolgen, wel-che die Bewegung der mit einemFarbstoff markierten Moleküle inEchtzeit erfasst. Wanderten zuvorgrün schimmernde Kinesin-Proteine(als Pünktchen erkennbar) mit ihrerFracht auf den Mikrotubuli des Fort-satzes entlang, stoppt der Verkehrbei Tau-Überfluss in Richtung Axon-Spitze: Die Laufwerke der Kinesin-Motoren finden keine Haftung anden Schienen. Alle Signale stehenauf Stopp, die Versorgung der Synap-se bricht zusammen. Dem Fortsatzfehlen dann beispielsweise die Mito-chondrien, um Energie herzustellen.Und es fehlen die Peroxisomen.Schutzlos und ohne Saft und Kraftwird der Fortsatz rasch von Sauer-stoffradikalen gestresst. „Die Zell-fortsätze entleeren sich allmählich”,erklärt Eva-Maria Mandelkow dieLage im Axon, das dann „ziemlichschnell kaputtgeht.”

Das alles geschieht vermutlichschon vor der Bildung der für dieAlzheimer-Krankheit so typischenneurofibrillären Bündel. Später stirbtauch noch der Zellkörper. Das glei-che Phänomen beobachten die Wis-senschaftler in gentechnisch verän-derten Mäusen, die nach einer be-

ZELLverkehr

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stimmten Lebenszeit vermehrt Tau-Protein herstellen – so ähnlich wiebeim Menschen.

Der Transport von der Synapsezurück funktioniert hingegen zu-nächst noch ungestört, weil er überein anderes Motorprotein läuft: So-zusagen in einer Einbahnstraßeschafft das Dynein Müll in den Zell-körper, der sich dort anhäuft und dasNeuron zusätzlich belastet. Vor allemaber staut sich die für das Axon ge-dachte Ladung. Dazu zählt auch eineganz brisante Fracht: Es sind kleinerundliche Pakete, so genannte Vesi-kel, mit dem Alzheimer-Precursor-Protein (APP). Das sind jene Mo-leküle, aus denen die berühmten Be-ta-Amyloid-Plaques in den Gehirnenvon Alzheimer-Patienten hervorge-hen. „Je länger und je mehr APP imZellkörper bleibt”, glaubt Eva-MariaMandelkow, „desto häufiger werdenaus den APP die Beta-Amyloid-Pep-tide herausgeschnitten” – der nächstegroße Schritt im Krankheitsprozess.

Die Störung im Kinesin-getriebe-nen Transportsystem der Zelle durcheine irgendwie veränderte Tau-Pro-duktion im alternden Menschen istnach Ansicht der Hamburger For-scher ein wichtiger Faktor der Alz-heimerschen Erkrankung. In Rich-tung eines Transportdefekts gehtauch die These des US-Wissenschaft-lers Lawrence Goldstein. Der Fach-mann von der University of Califor-nia in San Diego misst einer Verän-derung im APP-Stoffwechsel einezentrale Rolle bei. Goldstein hat inTiermodellen eine Überproduktionvon APP erzeugt und beobachtet,dass der Kinesin-Transport dadurchüberfordert wird. Die Kinesine schaf-fen es nicht mehr, alles APP in Rich-tung Synapse weg zu schaffen – wasspäter die Plaque-Bildung begüns-tigt. Auch hier ist der Zusammen-bruch des Transports in den Axonenein erster fundamentaler Schritt.

Nach den neuen Resultaten desMandelkow-Teams vermag Tau dasTransportsystem der gesunden Ner-venzelle zu regulieren, indem es dieBindung der Kinesin-Moleküle be-einflusst. Je mehr Tau ein Neuronherstellt, desto öfter haften diese

Moleküle auf den Mikrotubuli unddesto seltener finden die Motorpro-teine Ansatzpunkte zum Laufen. InMäusen mit übermäßiger Tau-Pro-duktion bricht das Transportsystemin Richtung Synapse zusammen –auch wenn die Mikrotubuli noch un-versehrt bleiben und sich noch keineTau-Bündel formieren, die für diespätere Phase des Krankheitsprozes-ses so typisch sind. „Schon normalesTau in Überdosis schädigt die Zelle,ohne dass sich Aggregate bilden”,sagt Eckhard Mandelkow.

FAHNDUNG IN

DER SUBSTANZBIBLIOTHEK

Auffälligerweise finden sich inNervenzellen von Alzheimer-Patien-ten viele Tau-Moleküle mit Phos-phat-Gruppen. Einige Forscher glau-ben, dass erst die Phosphorylierungaus Tau ein unlösliches Molekülmacht und die Entstehung der Bün-del begünstigt. Resultate aus Zellex-perimenten indes besagen das Ge-genteil: Dort scheinen die überzähli-gen Phosphatgruppen Tau eher vorder Aggregat-Bildung zu schützen.Eva-Maria Mandelkow wertet dieÜbertragung der Phosphatgruppenals Rettungsversuch der Zelle, dievon Tau geradezu gepflastertenSchienen wieder frei zu machen.Denn nur phosphorylierte Tau-Pro-teine lösen sich von den Mikrotubu-li ab. Die Übertragung der Phosphat-gruppen erledigen bestimmte Enzy-me, die Proteinkinasen. Tatsächlichhat die Hamburger Gruppe gezeigt,dass sich der Transportstau in Zellenmit übermäßiger Tau-Produktionwieder umkehren lässt, indem manbestimmte Proteinkinasen hinzugibt.Reift da etwa eine Therapie-Optionheran? „Vielleicht”, sagt Eva-MariaMandelkow. „An diesen Regulati-onsmechanismen werden wir anset-zen, um den Transport im Axon zusichern.”

Überdies hat das Team am DESYeine molekulare Bibliothek von200 000 Substanzen durchsucht; siebinden an die deformierten Tau-Pro-teine, die sich zu den verheerendenneurofibrillären Bündeln formieren.In Zellversuchen haben sich inzwi-

ziehen sich die Mikrotubuli genann-ten Proteinfasern als Gleise und mo-lekulare Ansatzpunkte für die Kine-sine durch die Nervenfortsätze. Aufihnen laufen Komplexe von Pro-teinen entlang, getrieben von denMotordomänen der Kinesine, die beijedem Schritt ein Molekül des Ener-gielieferanten ATP spalten. Trotz ihrer Last rasen die Kinesine mit ei-nem Mikrometer pro Sekunde fürzelluläre Verhältnisse förmlich da-hin; in einer Stunde legen sie einpaar Millimeter zurück. Huckepacktragen sie aus dem Zellkörper wich-tige Fracht bis in die Spitze des Ner-venfortsatzes: ganze Organellen wiedie Mitochondrien, die Kraftwerkeeiner Zelle, aber auch wichtige Pro-teine, Nährstoffe und andere Mo-leküle. Und Peroxisomen – kugelarti-ge Strukturen, die Enzyme enthalten,welche die Zelle beispielsweise vorden unentwegt im Stoffwechsel ent-stehenden Sauerstoffradikalen unddem damit verbundenen „oxidativenStress” schützen. „Durch Fehler die-ses Transportes muss das Axonzwangsweise verkümmern”, sagtEckhard Mandelkow.

In einer Computeranimation zeigtder Wissenschaftler, dass sich imAxon einer gesunden Zelle auf demrötlich schimmernden, fadendünnenMikrotubulus üblicherweise Proteineanlagern, die man „Tau” nennt. Innormalen Konzentrationen stabili-siert Tau die Mikrotubuli, behindertaber nicht die Kinesin-Molekülebeim Laufen. Auf der anderen Seitesteht die Extremsituation in den

schen einige Dutzend Kandidatenmit viel versprechender Wirkungherauskristallisiert. Sie können dieBildung der Bündel unterbinden, oh-ne dass die normale Funktion vonTau in den Neuronen gestört wird.Jetzt wollen die Forscher eine „Leit-substanz” mit optimalem Effekt ent-wickeln und zunächst im Tierversuchtesten. Das Zeug für ein möglichesMedikament hätte ein solcher Stoff,wenn man ihn in die Lage versetzenkönnte, über das Blut leicht ins Ge-hirn einzudringen. Allerdings würdedie Arznei nur nützen, wenn die Alz-heimer-Krankheit wirklich früh er-kennbar wäre, bevor die massivenSchäden in den Nervenzellen einset-zen. Eva-Maria Mandelkow: „Durchdie Entwicklung neuer Diagnosever-fahren könnte das in ein paar Jahrenmachbar sein.” KLAUS WILHELM

MOLEKÜLE UNTER KONTROLLE

Krebs ist primär ein Problem einer unkontrollierten Zellteilung. Bei dieser Mitose verdoppeln sich zuerst dieErbinformation DNA und die Chromosomen, bevor sichdie Zelle teilt. Die Tochterchromosomen werden auf diebeiden neuen Zellen über den so genannten Spindelap-parat verteilt: eine sternförmige Struktur mit zwei ge-genüberliegenden Polen. Die dort ansetzenden Fasern(Mikrotubuli) durchziehen die Mutterzelle. Beeindru-ckend präzise ziehen die Mikrotubuli die Tochterchromo-somen zu den gegenüberliegenden Polen der Mutterzelle.Kinesine gelten als entscheidende Moleküle in diesemProzess: Sie verankern die Mikrotubuli an den Spindel-polen, die Chromosomen an den Mikrotubuli und regulie-ren die Dynamik an den Fasern.

Damit bieten Kinesine „ideale Angriffspunkte für Medi-kamente, um die Zellteilung in Tumoren zu stoppen”,sagt Eckhard Mandelkow von der Max-Planck-Arbeits-gruppe für strukturelle Molekularbiologie in Hamburg.Solche Präparate sind dringend gefragt, denn die gängi-gen Mittel der Chemotherapie verlieren oft ihre Wirk-samkeit, weil die Krebszellen resistent werden. Tatsäch-lich testen Forschergruppen derzeit einige Stoffe, die ander Mitose beteiligte Kinesine an verschiedenen Stellendes Spindelapparates ausschalten sollen.

Am weitesten fortgeschritten ist die Entwicklung einerals SB-715 992 bezeichneten Substanz. Das Medikamenthat nach Angaben des kalifornischen Herstellers Cytoki-netics gerade eine erste klinische Studie mit Krebskran-ken bestanden, bei der die maximale Dosis gefundenwerden sollte, die die Patienten vertragen. Obwohl es wieherkömmliche Chemotherapeutika die Zellteilung verhin-dert, seien kaum die sonst üblichen Nebenwirkungen wieErbrechen oder Haarausfall aufgetreten. Zudem wurdenauch im Gehirn keine Komplikationen beobachtet. Wiegut das Mittel wirkt, wollen die Mediziner nun in weite-ren größeren Studien herausfinden.

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YFluoreszenzaufnahmen von Nervenzellen, die mit Tau-Protein infiziert sind: Die Motor-proteine funktionieren nicht mehr richtig.

Querschnitt durch das Gehirn eines Alz-heimer-Kranken in einer computertomogra-phischen Aufnahme: Die braunen Bereichezeigen abgestorbenes Hirngewebe.

Page 16: MPF_2004_3 Max Planck Forschung

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Es sind wahrscheinlich die kleins-ten Filmschauspieler der Welt:

Im obersten Stockwerk des Max-Planck-Instituts für molekulare Zell-biologie und Genetik, hoch über denDächern von Dresden, drehen For-scher Filme mit molekularen Moto-ren. Über den Monitor wandernleuchtende Punkte und Stäbchen,manchmal kreuz und quer, manchmalgleichmäßig schräg übers Bild, mit-unter auch auf farbigen Bahnen imKreis oder auf komplizierten Kurven.

Natürlich drehen Jonathon Ho-ward, einer der Institutsdirektoren,und seine Mitarbeiter diese Filmenicht zum Vergnügen. Der australi-sche Biophysiker will gemeinsam mitseinem Team herausfinden, welcheKräfte die kleinen Maschinen aus-üben und wie man sie praktisch nut-zen kann. Dazu haben die Forscherfluoreszierende Etiketten an den Mo-toren angebracht und können sienun als leuchtende Punkte unterdem Mikroskop bei der Arbeit beob-achten. Und die ist schwer – imwahrsten Sinne des Wortes. „Mole-kulare Motoren sind wie Ameisen“,sagt Howard. „Sie können ein Vielfa-

ches ihres Eigengewichts transpor-tieren. Ein Kinesinmotor ist vielleichtnur einen Nanometer (millionstelMillimeter) groß, aber er transpor-tiert Dinge, die ein oder gar zehn Mi-krometer groß sind, also tausendmalgrößer als das Molekül selbst.“

So befestigten die Wissenschaftlerbeispielsweise an einzelnen Motorenkleine Glasperlen, die sie dann mit-hilfe von Laserstrahlen in einer opti-schen Falle festhielten. Auf dieseWeise konnten sie beobachten, wiedie ausgeübte Kraft die Bewegungder Motoren beeinflusste – einer derBausteine zu ihrem Verständnis.Heute weiß man immerhin, dass eineinzelner Motor etwa ein Pikonew-ton (ein billionstel Newton) an Krafterzeugt.

Bewegung und Kraft sind in derNatur allgegenwärtig, im Großen wieim Kleinen, im Bewussten wie imUnbewussten. Trotzdem lagen ihreUrsprünge bis vor kurzem nochweitgehend im Dunkeln. Man hattelediglich untersucht, wie die Mus-keln funktionieren, der Rest warnoch unbekannt. Erst seit wenigenJahren gehen Forscher der Frage

nach, wie winzigste Moleküle im Na-nomaßstab es schaffen, makroskopi-sche Bewegungen hervorzurufen.Wie erzeugt ein Spermium die kraft-vollen Schläge seiner Geißel, mit de-nen es in der Lage ist, die Eizelle zuerreichen? Warum können Pantoffel-tierchen mit hoher Geschwindigkeitdurchs Wasser schwimmen? Wieschafft es eine Fliege, ihre Flügelhundertfach pro Sekunde auf und abzu bewegen, damit sie sich in derLuft halten kann? Wie spannt derSportler seine Muskeln?

AUF DER SUCHE

NACH DEM PRINZIP

Klar ist heute, dass Auslöser fürderartige Bewegungen das Zusam-menwirken vieler molekularer Moto-ren ist – etwa beim Zusammenzieheneines Muskels (MAXPLANCKFORSCHUNG

2/2001, Seite 48 ff.).Frank Jülicher, Direktoram Max-Planck-Institutfür Physik komplexerSysteme in Dresden, er-forscht gemeinsam mitden Experimentatorenum Jonathon Howard,wie sich aus den winzi-gen molekularen Umset-zungen am Ende spür-bare, makroskopischeBewegungen ergeben.Der 39-jährige Phy-

„Gemeinsam sind wir stark!“ – Das

gilt auch für molekulare Motoren, denn

Bewegung entsteht, wo viele von ihnen

zusammenwirken. Dass das nicht immer

gleichmäßig vonstatten geht, sondern

mit großen Überraschungen verbunden

ist, zeigt FRANK JÜLICHER am

MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR PHYSIK

KOMPLEXER SYSTEME. Und seine

Kollegen JONATHON HOWARD und

STEFAN DIEZ am ebenfalls in Dresden

beheimateten MAX-PLANCK-INSTITUT

FÜR MOLEKULARE ZELLBIOLOGIE

UND GENETIK setzen die Erkenntnisse

um in geniale Nanomaschinen.

FOKUS

Kollektivarbeit im Nanokosmos

3 / 2 0 0 4 M A X P L A N C K F O R S C H U N G 29

ZELLverkehr

sikprofessor ist Theoretiker, und des-halb interessiert er sich in erster Liniefür die übergeordneten Prinzipien, diehinter den Phänomenen stecken.

Das gilt auch für die Krafterzeu-gung der Nanomaschinen: „Die Kraftentsteht nicht im Motor allein, son-dern immer aus einer subtilen Wech-selwirkung zwischen Motor und Fila-ment, das wie eine Art Gleis wirkt.Der Motor allein kann keine Kraft erzeugen. Auch die Richtung derKraft wird vom Filament bestimmt,nicht vom Motor.“ So wandern diemeisten Motoren auf ihrer Unterlagenormalerweise immer in dieselbeRichtung. Und gerade diese Eigen-schaft hat Jülicher und seinen Mitar-beitern zu einer grandiosen Ent-deckung verholfen, die grundlegendeErklärungsmuster für viele biologi-sche Phänomene liefert. Die Wissen-

schaftler sagten voraus, dass es beimZusammenwirken vieler gleichartigerMotoren unter bestimmten Bedin-gungen zu so genannten dynami-schen Instabilitäten kommen sollte,die das Verhalten des Ensembles voneinen Augenblick auf den anderenradikal umkehren, ohne dass sich dieEigenschaften der Motoren selbst än-dern. Etwas Ähnliches passiert bei-spielsweise bei physikalischen Pha-senübergängen; auch dort kommtkollektives Verhalten zum Tragen.„Flüssiges Wasser wird plötzlich zuEis“, erläutert Frank Jülicher die Pa-rallelen, „aber wenn ich mir das aufder Ebene der einzelnen Wassermo-leküle anschaue, sehe ich kaum einenUnterschied. Die Wechselwirkung mitden Nachbarn ändert sich nur wenig,aber das gesamte System ändert seineEigenschaften total.“

Der Beweis, dass die theoretischeVorhersage stimmte, gelang im Expe-riment: Man brachte Aktinfilamenteauf eine geriffelte Unterlage, auf derMyosinmotoren befestigt waren. Wieein Laufband können diese die Fila-mente vorwärtsschieben. Nun beein-flusste man die Anordnung durchelektrische Felder. Normalerweisekönnen die Motoren die Filamentenur entlang der Rillen bewegen. Un-ter bestimmten Bedingungen aberkehrte sich ihre kollektive Bewe-gungsrichtung spontan um. „Es han-delt sich um ein nichtlineares Phäno-men“, so Jülicher, „ein Motor bewegtsich gerade noch vorwärts – undgleich darauf bewegt er sich rück-wärts. Dazwischen ist ein Sprung.“

Derartiges kollektives Verhaltenentsteht, weil sich an diesem Punkt

Vier Schritte der mitotischen Zellteilung: Interphase - Prometaphase - Metaphase - Ana-phase (von links). Auf diesen Fluoreszenzaufnahmen erscheinen die Mikrotubuli grün, dieDNA blau. Man erkennt, wie sich die Chromosomen in der Zellteilungsebene anordnen unddann durch die Zellteilungsspindel (die Mikrotubuli) zu den Zellpolen gezogen werden.

Jonathon Howard vom Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden beobachtet den Zellverkehr am Mikroskop.

Frank Jülicher (Mitte) im Gespräch mit zwei Mitarbeitern am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden.

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nutzen der viskosen Reibungskräftehingegen befähigt die Pantoffeltier-chen, sogar verhältnismäßig schnellzu schwimmen.“

Besonders interessant wird es,wenn man die komplizierten Ver-haltensmuster der Ensembles auf dasHörsystem anwendet. Dort, so glau-ben Frank Jülicher und seine Kolle-gen, dienen sie dazu, die erstaunli-chen Eigenschaften des Gehörs her-vorzubringen. Denn dieses Sinnesor-gan besitzt herausragende Fähigkei-ten der Schallwahrnehmung. Es istin der Lage, Schall über einen Be-reich von sechs Größenordnungen inder Lautstärke wahrzunehmen. DieTrennung zwischen den Frequenzenist hervorragend, und das Ohr kannaußerdem sehr schwache Schallsig-nale empfangen, die kaum über demnatürlichen Rauschen liegen. „Diese

FOKUS

Schwingungen. Letztere entstehendurch das Eintreffen des Schalls vonaußen; aber entscheidend für dasFunktionieren des Froschohrs sinddie spontanen Oszillationen. Siewerden vom System aus sich herauserzeugt, nicht von außen ange-stoßen. „Man kann sich einen passi-ven Oszillator vorstellen wie eineSaite im Klavier, die nur eine Weileschwingt, wenn man sie anstößt“, er-klärt Jülicher. „Spontane Schwin-gungen hingegen brauchen diesesAnstoßen nicht. Das Ohr erzeugtselbst Vibrationen, die als aktiveVerstärker wirken.“

Auch bei vielen anderen Tierendienen aktive Schwingungen derSchallwahrnehmung. Dass es sie

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ZELLverkehr

einen nichtlinearen Verstärker fürRadios zu bauen. Das Prinzip setztesich in der Folge technisch nichtdurch, ist aber bis heute bekannt un-ter dem Namen „heterodynes Prin-zip“.

Die Fähigkeit mancher Systeme,sich aufzuschaukeln und plötzlichein völlig neues Verhalten zu zeigen,birgt andererseits eine große Ge-fahr: Das System kann völlig außerKontrolle geraten. Gerade beim Ohrist dies nicht erwünscht; die Sin-neswahrnehmungen sollen gewisseGrenzen nicht überschreiten. Um einderartiges System zu bändigen, sindRückkopplungsmechanismen nötig,die allzu große Abweichungen im-mer wieder dämpfen und das Systemherunterregeln. Im Hörorgan könn-ten Jülicher zufolge diese AufgabeKalzium-Ionenkanäle übernehmen,

die in engem Zusammenwirken mitden molekularen Motoren die Ab-stimmung des Gesamtsystems besor-gen. Die Hoffnung, dass diese Er-kenntnisse eines Tages auch hörbe-hinderten Menschen zu Gute kom-men werden, ist nach seiner Ansichtberechtigt. Aber, so glaubt der Max-Planck-Forscher, das wird noch etli-che Jahre dauern.

Das Gleiche gilt auch für die er-staunlichen Zukunftspläne, die Jo-nathon Howard und seine Mitarbei-ter hegen: „Die Erfolge der jüngstenZeit legen es nahe, dass man bio-molekulare Maschinen auch alstechnische Nanomaschinen einsetzenkann“, begeistert sich der 47-Jähri-ge. „Sie könnten beispielsweise alswinzige Roboter in molekularen Fa-briken arbeiten, wo sie mithel-fen, komplizierte Strukturen aufzu-

bauen.“ In lebenden Zellen dienendie winzigen Arbeitspferde dazu, zel-luläre Bestandteile wie Proteine, Mit-ochondrien und Chromosomen hinund her zu transportieren. Aber nichtnur im komplexen Gefüge der Zellefunktionieren sie, sondern auchaußerhalb. So hat man sie, wie obenerwähnt, am Max-Planck-Institut fürmolekulare Zellbiologie und Genetikbereits kleine Glaskügelchen trans-portieren lassen und mit ihrer HilfeDNA-Stränge auseinandergezogen.Die Pläne gehen aber weit darüberhinaus: Die molekularen Helfer sol-len Netzwerke aus Leiterbahnen undTransistoren für elektronischeSchaltkreise im Nanoformat bauen,oder sie sollen in selbstorganisiertenStrukturen patrouillieren und diese,falls nötig, reparieren.

20 MILLIARDEN MOTOREN

FÜR EINEN US-CENT

Damit beschreiten die DresdenerForscher einen Weg, der zwar welt-weit seit Jahren als Vision beschwo-ren wird, aber bisher aus Mangel anpraktischen Möglichkeiten reineTheorie geblieben ist: Sie versuchen,Nanostrukturen von der molekula-ren Ebene her aufzubauen – bottom-up –, und nicht aus makroskopischenStrukturen herunter zu verkleinern –top-down –, wie das bis heute ge-schieht. Wenn es gelingt, mit mole-kularen Motoren Maschinen im Nanoformat herzustellen, wäre das wesentlich einfacher und sinnvollerals die heutige Vorgehensweise, beider in einer Vielzahl mühsamer Fer-tigungsschritte unter dem Mikroskopauf Halbleiterschichten Struktureneingebrannt, aufgedampft oder ge-ätzt werden.

„Unsere Idee ist wirklich aufre-gend, denn die molekularen Maschi-nen haben eine ganze Reihe von Vor-teilen“, sagt Gruppenleiter StefanDiez. Sie sind robust und winzigklein, weshalb sie hervorragend pa-rallel arbeiten können; sie lassen sicheinfach herstellen und gentechnischmodifizieren. Und: „Sie sind extremkostengünstig. Man erhält zum Bei-spiel heute bei kommerziellen Anbie-tern 20 Milliarden Kinesinmotoren

sowohl die Geschwindigkeit als auchdie Bindungswahrscheinlichkeit dereinzelnen Motoren plötzlich ändern.So kommt es zu einer Art Lawine,bei der die Motoren sich gegenseitigin ihrem Verhalten mitreißen. Wennausreichend viele von ihnen zusam-menarbeiten, entstehen auf dieseWeise Oszillationen, also ein regel-mäßiger Wechsel zwischen den bei-den Zuständen. So schlägt auch eineFliege mit ihren Flügeln – die Auf-und Abbewegung ist aller Wahr-scheinlichkeit nach eine solche oszil-lierende Instabilität.

WIE DAS SCHWIMMEN

IN EINEM SIRUP

In der Praxis erklärt das Auftretenvon Oszillationen beispielsweiseauch, warum der Schwanz (Flagel-lum) eines Spermiums, der aus Mi-krotubuli mit regelmäßig dazwi-schengeschalteten Motoren besteht,periodisch schlagende Bewegungenausführt: Die Motoren können keinekonstante Geschwindigkeit haben,denn sie sind zwischen den Mikro-tubuli nicht beliebig verschiebbar.Wenn viele in dieselbe Richtungwandern, verbiegt sich das Flagel-lum, bis sich die Bewegung abruptumkehrt. Jülicher, der Theoretiker,erklärt dies so: „Eine Lösung derphysikalischen Gleichungen gibt esnur im Ruhezustand oder unter derBedingung, dass eine dynamischeInstabilität auftritt. Die Oszillationist die einzige Möglichkeit dafür.“

Das gleiche Schema liegt der Be-wegung der Haare eines Pantoffel-tierchens zu Grunde. Der Einzellerbesitzt einen dichten Pelz von Cilien,die im Wasser in eine Richtungschlagen; dann ziehen sie sich wie-der zurück und schlagen erneut indieselbe Richtung. „Ein menschlicherSchwimmer funktioniert ganz an-ders“, sagt Jülicher, „er bewegt sichvor allem durch Zurückschieben desWassers voran. Bei den winzigenMaßstäben der Pantoffeltierchen hin-gegen wirken nur viskose Kräfte. Füreinen Menschen würde sich das an-fühlen, als ob er in einem zähflüssi-gen Sirup schwimmen würde. Er kä-me nur schwer vorwärts. Das Aus-

schon zum Preis von einem US-Cent.Wenn die Produktionsmenge steigt,wird das noch billiger.“ Außerdemhaben die molekularen Motoren einehohe Effizienz bei der Energieum-wandlung, weil sie chemische Ener-gie ohne Umwege über Wärme oderStrom in Bewegung umsetzen.

Alles in allem berauschende Aus-sichten: Molekulare Sortiermaschi-nen ließen sich erzeugen, aber auchmehrdimensionale DNA-Schaltkrei-se, die dadurch entstehen, dass dasGenmaterial nach Wunsch geformtund dann metallisiert wird. Zurzeitarbeiten die CBG-Forscher daran,die Grundlagen für eine molekulareFabrik zu entwickeln: Wie kann bei-spielsweise ein Filament am Punkt Aeine Last aufnehmen, sie auf demLaufband der Motoren zu einemPunkt B bringen und dort wiederabladen? Die Forscher erproben zurzeitlichen und räumlichen Kontrolleder kleinen Lastenträger Verände-rungen der Oberfläche, chemische,elektrische, magnetische und opti-sche Einflüsse und Kombinationendieser Methoden. Und sie untersu-chen, wie man Lasten auf- und ab-lädt.

Ein Problem konnten die Wissen-schaftler bisher aber noch nicht lö-sen: Wie können molekulare Moto-ren außerhalb ihrer gewohnten flüs-sigen Umgebung arbeiten? Hier istTräumen noch erlaubt: Vielleichtkönnte man entsprechend stabileMotoren aus Halobakterien isolieren,die Temperaturen bis 112 Grad Cel-sius und hohe Salzkonzentrationenaushalten? Oder könnte man die be-kannten Motoren gentechnisch soverändern, dass sie auch auf demTrockenen arbeiten? Als Fernziel er-hoffen sich die Dresdener Forscher,die Designprinzipien der natürlichenMaschinen so genau zu kennen, dasssie nach ihrem Vorbild künstlichemolekulare Motoren bauen könnten,die allen Ansprüchen genügen. Dienötige Energie könnten sie zum Bei-spiel aus der Oberfläche aufnehmen,über die sie laufen. Bisher ist dasnoch Zukunftsmusik, aber der Wegscheint bereits vorgezeichnet.

BRIGITTE RÖTHLEIN

Eigenschaften lassensich eigentlich nurdurch aktive nichtli-neare Verstärkungsme-chanismen erklären“,meint Jülicher.

Besonders genaukennen die Forscherdie Vorgänge im Ohrdes Froschs: In der Schnecke des In-nenohrs, der Cochlea, sitzen Tausen-de von Sinneszellen, die auf dieWahrnehmung von Schall speziali-siert sind. Sie haben kleine Härchen,die Aktinfilamente enthalten undbeim Eintreffen eines Schallsignalszu schwingen beginnen. Frank Jüli-cher und seinen Kollegen gelang eszu zeigen, dass molekulare Motorendiese Härchen zum Schwingen brin-gen – und zwar in zweierlei Hin-sicht: in spontanen und in passiven

gibt, weiß man schonrelativ lange. Und esgelingt heute ohneweiteres, sie bei Wir-beltieren als sehrschwache Schallwel-

len zu messen, die selbst bei völligerStille aus dem Ohr herausdringen.Wenn nun der spontane Oszillatordurch ein Schallsignal von außenangeregt wird, zeigt er nichtlinearesVerhalten – im Gegensatz zu einerSaite. Sie kann nur mitvibrieren,wenn sie angeregt wird. Die sponta-nen Oszillatoren hingegen könnendas Schallsignal zusätzlich verstär-ken. Der amerikanische IngenieurEdwin Howard Armstrong nutztediesen Effekt aus, um bereits 1912

Ein Grundprinzipfür unterschiedli-che Organismen:Ob bei Spermien-zellen (links), Pantoffeltierchen(Mitte) oder Fliegen (rechts) -der Vortriebsmechanismus be-ruht nach Untersuchungen derBiophysiker auf so genanntendynamischen Instabilitäten.

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Spurwechselauf dem molekularen Schienennetz

In der von Reinhard Lipowsky gelei-teten Theorieabteilung des Instituts

untersucht Stefan Klumpp gemein-sam mit Kollegen biomimetische Mo-dellsysteme, in denen die Komple-xität der Zelle auf wenige Kompo-nenten reduziert wird. Die Forscherwollen den Teilprozessen des zel-lulären Gesamtgeschehens nach-spüren und vielleicht die Grundlagefür nichtbiologische Anwendungender kleinen Motoren schaffen. Nach-bauen will Stefan Klumpp die Zell-motoren allerdings nicht. „Das hatkeinen Sinn“, sagt der Physiker, die

phat oder kurz ATP. Die Motordomä-ne bindet daran und baut es zu ADP(Adenosindiphosphat) um; dabeiwird eine Phosphatgruppe abgespal-ten. Während diese das Molekül ver-lässt, ändert sich dessen räumlicheAnordnung. Im Zuge dieser Ände-rung wechselt das Protein von einemfest an das Filamentgleis gebunde-nen in einen ungebundenen Zu-stand. Durch diesen Zyklus aus Fila-mentbindung, Änderung der räumli-chen Anordnung des Moleküls, Lö-sen vom Filament, Rückstellen derMolekülordnung und erneutem Bin-

Die Fähigkeit kleiner Teilchen, sich

selbstständig aneinander zu lagern und

geordnete Strukturen zu bilden, fasziniert

die Forscher. Im Zusammenhang mit

Nanotechnologie sprechen sie gerne von

Selbstorganisation. Auch so genannte

molekulare Motoren werden häufig unter

diesem Aspekt betrachtet. So untersucht

STEFAN KLUMPP am MAX-PLANCK-

INSTITUT FÜR KOLLOID- UND GRENZ-

FLÄCHENFORSCHUNG in Golm, wie sich

die winzigen Zellmotoren bewegen.

FOKUS

legt die Art des Gleises und die Rich-tung der Bewegung fest, ähnlich wieZüge mit einer bestimmten Spurbrei-te auch nur ein für diese ausgelegtesSchienennetz benutzen können. DieFracht (und damit die biologischeFunktion der einzelnen Motoren)wird durch den Schwanz des Motor-proteins bestimmt. Diese lange Dop-pelwendel bindet an eine entspre-chende Last – Organellen, RNA oderandere Zellbestandteile.

Als „Benzin“ für den Motor dientgewissermaßen ein Energie speichern-des Molekül, das Adenosintriphos-

den bewegt sich das Motorproteinmit der angebundenen Fracht Schrittfür Schritt auf den zellinternen Glei-sen entlang.

KLEINE SCHRITTE

UNTER DEM MIKROSKOP

Diese Bewegung ist minimal – sieumfasst üblicherweise eine Entfer-nung von mehreren Nanometern(milliardstel Meter); aber entlang ei-ner molekularen Achse verstärkt siesich. Chemische Energie wird also inmechanische Energie umgewandelt.„Unter dem Mikroskop und in zeitli-

cher Auflösung betrachtet, sieht estatsächlich aus, als würde der MotorSchritte machen und laufen“, sagtStefan Klumpp.

Was experimentell – auch außer-halb der Zelle – so schön funktio-niert und erst kürzlich von amerika-nischen Wissenschaftlern in hoherAuflösung sichtbar gemacht wurde,vollzieht Stefan Klumpp in seinenModellen theoretisch nach. Dabei in-teressiert ihn vor allem, was passiert,wenn man den Prozess auf einergrößeren Ortsskala betrachtet. „Inden Dimensionen einer Zelle macht

Natur sei viel zu komplex. Aber dieMoleküle für andere, nichtbiologi-sche Dinge einzusetzen, zum Beispielin der Nanotechnologie, das kann ersich vorstellen.

Wie solche Motoren arbeiten, ist inden vergangenen Jahren vielfach un-tersucht worden und inzwischen gutverstanden. Man kennt ihre Strukturund weiß, dass es sich um komplexeProteine handelt. Mit ihrer „Kopf“-Region – Fachleute nennen sie Motor-domäne – lagern sie sich an die zel-lulären Gleise, die so genannten Fila-mente. Die jeweilige Motordomäne

Im biomimetischen Experiment(siehe auch Fotos unten) ist dasMotormolekül Kinesin an ein Latexkügelchen gebunden, das es mit einer Geschwindigkeit von 1 Mikrometer pro Sekunde entlang der Mikrotubuli vonlinks nach rechts bewegt (Pfeil).

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hydrodynamischen Fluss gibt undein Transport mittels normaler Diffu-sion zu langsam wäre. Doch bevorman über konkrete Anwendungennachdenkt, wollen die Theoretikeraus Golm die Effekte verstehen undphysikalisch beschreiben.

Für seine Berechnungen hat StefanKlumpp alles, was er braucht. Das Fi-lament betrachtet er als eindimensio-nales Gitter. An einem Platz diesesGitters sitzt der Motor, den er mit ei-ner bestimmten Wahrscheinlichkeitlaufen lässt. Als Parameter benutzt erdie Laufgeschwindigkeit sowie diedurchschnittliche Strecke, die derMotor zurücklegt bevor er abfällt,dann die Bindungsenergie ans Fila-

FOKUS

nen Simulationen gezeigt, wie solcheStauprofile aussehen. Sind nur weni-ge Motoren unterwegs, sammeln siesich am Ende einer Schiene. Sind esviele, verteilen sie sich gleichmäßigauf der Strecke. „Ob es Staus auch inder Zelle gibt, ist noch unklar“, sagtder 30-jährige Postdoc. Möglicher-weise, so die Vermutung, verfügt einegesunde Zelle über Abschaltmecha-nismen, indem sie Motoren, die sichbehindern, vom Filament abwirft.

Immer wieder suchen die GolmerTheoretiker den Austausch mit expe-rimentell arbeitenden Kollegen, umihre Modelle zu überprüfen und sorealistisch wie möglich zu halten.Doch Biologen und Biophysiker ha-

ZELLverkehr

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Zelle. „Wenn man mehrere Filamenteparallel zueinander anordnet, dannkönnte es sein, dass entgegen kom-mende Motoren sich zunächst blo-ckieren, bis einer das Filament ver-lässt und eine andere Spur nimmt“,sagt der Physiker. Im Modell kannman berechnen, unter welchen Be-dingungen so etwas funktioniert. Dietheoretisch berechneten und durchSimulation sichtbar gemachten Er-gebnisse gestatten einen ersten Blickauf die Selbstorganisation.

Wenn Theoretiker wie StefanKlumpp ihren Gedanken freien Lauflassen, dann fallen ihnen schnellweitere Fragen ein, die sie mit Simu-lationen beantworten könnten. „Zum

Der Golmer Wissenschaftler hat je-denfalls registriert, dass sich dieweltweite Forschung inzwischenauch für das Zusammenwirken vonmehreren molekularen Motoren in-teressiert. „Wenn man biologischeTransportprozesse verstehen undmolekulare Motoren gezielt anwen-den möchte, ist das unabdingbar“,meint Klumpp. Immerhin werdengrößere Organellen in der Zelle nor-malerweise auch von mehreren Mo-toren gemeinsam bewegt. Im Experi-ment wie auch im Modell kann maneine solche Situation nachstellen.Man muss nur dafür sorgen, dassmehrere Motormoleküle an das zutransportierende Teilchen binden.

ein Motor durchschnittlich etwa 100Schritte, dann fällt er von dem Fila-ment ab“, erläutert der Max-Planck-Forscher. Das liegt daran, dass dieBindungsenergie zum Filament nichtviel größer ist als die thermische Energie, die von Schwingungen derMolekülbestandteile herrührt. DieBindung an das Filament geht des-halb irgendwann verloren.

Abgelöst von der Schiene vollziehtdas Motormolekül in Lösung so ge-nannte Brown’sche Bewegungen, diedurch einen Diffusionskoeffizienten –er wird in Quadratzentimetern proSekunde gemessen – gekennzeichnetsind. Da es dabei ständig mit ande-ren Molekülen in der Zelle zusam-

Stau und Gegenverkehr verhindernlassen. Für das gezielte Anwendender Motoren in der Nanotechnologiekönnten die beiden Effekte nämlichzum Problem werden. Beispielsweise,wenn man die Motoren benutzenwill, um sie Kabel verlegen zu lassenund elektrische Schaltkreise zu bau-en. In den winzigen Dimensionen, indenen man kaum noch mit optischerLithographie arbeiten kann, könntedies eine Alternative zur Nanostruk-turierung von Materialien sein. Diesklingt zwar abenteuerlich, doch amDresdner Max-Planck-Institut fürmolekulare Zellbiologie und Genetikwird unter Leitung von JonathonHoward bereits erfolgreich daran ge-arbeitet (siehe Beitrag Seite 28ff.).

STRUKTUREN, DIE SICH

SELBST ORGANISIEREN

Molekulare Motoren könnten so-gar noch viel mehr zur Selbstorgani-sation von Nanostrukturen beitra-gen. Zum Beispiel, indem ein Motoran zwei Filamente bindet. An demeinen läuft er entlang, das ande-re transportiert er. „Die bekanntenAster-Strukturen der Zellteilungs-spindel werden auf diese Weise gebildet“, sagt Stefan Klumpp. Esscheint also auch möglich, dass dieMotoren in gleicher Art und Weisezunächst ihre Schienen in parallelerRichtung verlegen und sie dann be-nutzen, um etwa Gegenverkehr ausdem Weg zu gehen. Andere Versuchezeigen, dass molekulare Motorenauch in der Lage sind, ein Molekülwie die DNA zu spannen. Dazu wirddie DNA an einem Ende fixiert, dasandere Ende bindet an ein Motormo-lekül. Läuft dieses los, nimmt es einEnde mit – und es entstehen faszi-nierende Strukturen.

Von Zellen lässt sich also eineMenge lernen. Und wenn man schonnicht live zuschauen kann, wie mo-lekulare Motoren arbeiten, dann helfen Simulationen. Mit diesen Mo-dellen dringen Forscher wie StefanKlumpp tief ein in die rätselhafteWelt der „biologischen Draisinen“ –und wer weiß, vielleicht lassen siesich eines Tages doch nachbauen...

INA HELMS

menstößt und abprallt, sind dieseBewegungen rein zufällig. Die Kom-bination aus diesen zufälligen sowieden am Filament entlang gerichtetenBewegungen nennen die Wissen-schaftler „random walks“.

Die „random walks“ sind sowohlin theoretischer als auch in prakti-scher Hinsicht interessant. Denn, sovermutet Klumpp, sie könnten ano-male Drifteigenschaften und einestark beschleunigte Diffusion desMoleküls zur Folge haben. „Für be-stimmte Anwendungen könnte esnützlich sein, wenn man die Diffusi-on von Molekülen verstärken kann.Um das zu erreichen, könnte manwomöglich auf die Ablöseprozessezwischen Filament und Motorzurückgreifen“, nennt Klumpp einemögliche Idee. Er denkt dabei anTransportprozesse in einem Gel, indem es wegen der Viskosität keinen

ment und den Diffusionskoeffizien-ten der Brown`schen Bewegungen.Die Werte für diese Parameter ent-nimmt der Forscher experimentellenUntersuchungen. Am Computer – zu-weilen auch mit Papier und Bleistift –entwickelt er Algorithmen, mit denensich die Zellprozesse am besten simu-lieren lassen. Die Ergebnisse dieserSimulationen können experimentellbislang nicht erfasst werden.

AUSTAUSCH ZWISCHEN

THEORIE UND PRAXIS

„Wir betrachten zum Beispiel, waspassiert, wenn mehrere Motoren imEinsatz sind und diese sich treffen“,sagt Klumpp. Staus und Gegenver-kehr sind offenbar nicht nur einProblem auf den Straßen – auch immolekularen Schienenverkehr könnensie den Ergebnissen aus Golm zufolgeauftreten. Stefan Klumpp hat mit sei-

ben sich in den vergangenen Jahrenmehr auf die Erforschung der Einzel-moleküle konzentriert. „Durch dievielen neuen Methoden zur Betrach-tung von Einzelmolekülen haben sichspannende Fragen gestellt, und eswurden auch große Durchbrüche er-zielt“, meint Stefan Klumpp. Dochman habe dabei ein bisschen verges-sen, dass man es meist mit vielenMolekülen zu tun hat und andere Ef-fekte zu berücksichtigen sind. ZumProblem des Gegenverkehrs auf derSchiene gibt es zum Beispiel bislangkeine Experimente, lediglich Hinwei-se auf zusätzliche Wechselwirkungen.

Für Stefan Klumpp gehört die Un-tersuchung eines möglichen Gegen-verkehrs zu den interessanten Fra-gestellungen, die er mit seinen Mo-dellrechnungen beantworten will.Denn möglicherweise stecke dahintereine Form der Selbstorganisation der

Eine Struktur von Filamenten auf einer Oberfläche kann verwendetwerden, um die Diffusion von Teil-chen mit Motoren zu verstärken.

Beispiel könnte man mit genetischenMethoden molekulare Motoren um-bauen und so gezielt ihre Eigen-schaften verändern“, sagt Klumpp.Anhand eines Modells könnte mansehen, welche Veränderung einenpositiven Effekt erzielt und demzu-folge erwünscht ist. Einen Zusam-menhang zwischen einer bestimmtenEigenschaft und einer entsprechen-den Änderung in der Proteinstrukturherzustellen scheint aber noch Zu-kunftsmusik zu sein. Stefan Klumppkommt deshalb auf näherliegendeAnwendungen zu sprechen. „Stauskönnte man zum Beispiel verwen-den, um Motoren gezielt zu ver-langsamen“, sagt er. Zum Beispiel,wenn man einen Reaktionspartnerzu einem bestimmten Ort transpor-tieren möchte und dieser eine gewis-se Zeit verweilen soll, damit die Re-aktion auch tatsächlich abläuft.

Mit seinen Berechnungen ermitteltStefan Klumpp, um welchen Faktorsich die Strecke verlängert, die einsolches Teilchen transportiert werdenkann, wenn es von einem, zwei odermehreren Motoren getragen wird.Bei mehreren Motoren bleiben im-mer noch Lastenträger übrig, wennein Motor abfällt – Schluss ist erst,wenn alle Motoren die Bindung zumFilament verloren haben. Zu diesenBerechnungen erhält Klumpp auchbald einen experimentellen Ver-gleich. Janina Beeg, eine Doktoran-din aus Jena, arbeitet seit Dezember2003 in Golm an genau dieser Fra-gestellung. Erste Ergebnisse erwartendie Theoretiker bald.

Für das Verständnis von biologi-schen Transportprozessen bildentheoretische Modellrechnungen einewichtige Grundlage. Mit ihnen kannman ausprobieren, wie sich etwa

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Die Abbildung unten zeigtschematisch die Kombi-nation aus gerichteter Bewegung und Diffusion.

Im Mikroskop überprü-fen Forscher die Theo-

rie in der Praxis (rechts).

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Besonders fest und zugleich dehnbar – dies zeichnet die Leichtbaustähle aus, die Wissenschaftler

um GEORG FROMMEYER am Düsseldorfer MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR EISENFORSCHUNG

entwickelt haben. Das geringe spezifische Gewicht und die mechanischen Eigenschaften machen

das Material zum idealen Werkstoff für die Fahrzeugindustrie. In verschiedenen Kooperations-

projekten mit Industrieunternehmen werden die Stähle jetzt zur Marktreife gebracht.

Ausgekochter Stahl für das Autovon morgen

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FASZINATION Forschung

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EISENforschung

Wenn man ans Stahlkochendenkt, stellt man sich wohl

für gewöhnlich mächtige Hochöfenvor, in denen rot glühende Metall-schmelze vor sich hin brodelt. Hatsie die richtige Temperatur erreicht,wird sie einfach abgegossen undflugs in eine neue Form gebracht. Soscheint es. Doch die Stahlproduktionist mehr als überdimensioniertesBleigießen. Sie ist im wahrsten Sinnedes Wortes mit der hohen Schule desKochens vergleichbar. Um einenStahl mit bestimmten Eigenschaftenherzustellen, bedarf es der richtigenZutaten, des richtigen Rezepts undeiner gehörigen Portion Kreativität.

Georg Frommeyer ist einer dieserfindigen Stahlexperten. Am Düssel-dorfer Max-Planck-Institut für Ei-senforschung hat der Professor fürWerkstofftechnik mit seinen Mitar-beitern einen neuen Stahltyp ent-wickelt, der von großen Konzernenals „deutlicher Entwicklungssprung”bezeichnet wird. Diese Stähle sindzugleich sehr leicht, extrem stabilund besonders dehnungsfähig. Da-mit eignen sich diese – wie es amMax-Planck-Institut heißt – „hoch-

festen supraduktilen TWIP/TRIP-Leichtbaustähle” vor allem für dieFahrzeugindustrie. Ganz egal, obAuto oder Eisenbahn, stets geht esdarum, die Verkehrsmittel zugleichstabiler, leichter und sicherer zu ma-chen. Zum einen sollen die Insassenbei Unfällen besser geschützt sein;

zum anderen streben die Konstruk-teure leichtere Karosserien an, umden Kraftstoffverbrauch und die Ab-gasemissionen zu senken.

Die Stahlhersteller haben längsterkannt, dass ihnen Aluminium undneue Materialien wie Magnesiumoder Kunststoffe zunehmend Kon-

kurrenz machen. Um im Rennen zubleiben, müssen ihre Stähle leichter,fester und stabiler sein als die Pro-dukte der Konkurrenten. Zudemwachsen die Ansprüche an Sicher-heit und Crashstabilität – eine echteHerausforderung.

Stahl besteht zum großen Teil ausEisen. Seine unterschiedlichen Ei-genschaften erhält er unter anderemdurch Zugabe (Legieren) verschiede-ner Metalle wie Mangan, Nickel undChrom. So entstehen rostfreie Stähle,hoch- oder gar höchstfeste Stähle –eben der richtige Werkstoff für jedeAnwendung. An Karosserien stellendie Autohersteller besondere Anfor-derungen. Sie sollen stabil genugsein, um das Gewicht des Fahrzeugs

zu tragen, ohne sich zu verformenoder zu schwingen. Sie sollen starrgenug sein, um die Insassen bei einerKollision wie eine Schutzhülle zuumgeben; und bei einem Unfall sol-len sie sich kalkulierbar verformen,um die Aufprallenergie zu schlucken.Freilich lassen sich nicht alle Eigen-schaften mit einem einzigen Werk-stoff erreichen.

ALTER WERKSTOFF

MIT NEUEN FACETTEN

Der Stahl aus den DüsseldorferMax-Planck-Laboren aber ist einwahrer Multifunktionswerkstoff, dernicht alle, aber doch ganz verschie-dene Funktionen übernehmen kann.„Vor wenigen Jahren noch ging die

Fachwelt davon aus, dass die Eigen-schaften von Stählen bereits weitge-hend ausgereizt sind”, sagt GeorgFrommeyer. „Durch Zulegieren ande-rer Elemente ließen sich bereits eineVielzahl von Funktionen einstellen.”Die Max-Planck-Forscher waren aberdavon überzeugt, dass sich aus demaltbewährten Werkstoff noch mehrherausholen lässt – zunächst nur auf-grund theoretischer Überlegungenund langjähriger Erfahrung.

Die Eigenschaften verschiedenerStähle werden durch ihre Kristallgit-terstrukturen bestimmt, also durchdie räumliche Anordnung der Atome.

FASZINATION Forschung

Betrieb wie im Stahlwerk: Am Max-Planck-Institut für Eisenforschung kochen und gießen Wissenschaftler bis zu zentnerschwere Stahlproben, um anschließend deren Eigenschaften zu untersuchen.

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EISENforschung

Durch Zugabe der Legierungselemen-te bilden sich bestimmte Kristall-strukturen bevorzugt aus. Werkstoff-forscher sprechen von energetischbegünstigten Kristallgitterstrukturen.So lässt sich der Charakter des Stahlsfein justieren. Aus thermodynami-schen Berechnungen folgerten dieWissenschaftler, dass sich für dieEntwicklung der neuen Leichtbau-stähle vor allem eine Kombinationaus Mangan, Silizium und Alumini-um eignen müsste. Zum einen sinddiese Elemente leichter als Eisen, zumanderen zwingen sie das Kristallgitterin bestimmte Strukturen: Eisen kannzwischen verschiedenen Kristallan-ordnungen wechseln.

FREMDATOME ÄNDERN

DEN CHARAKTER

So gibt es eine so genannte ku-bisch flächenzentrierte Anordnung,die Fachleute auch als Austenit be-zeichnen. Die Eisenatome sitzen hierauf den Ecken des Kristallgitterwür-fels, und zusätzlich befindet sich jeein Atom in der Mitte der Würfel-flächen. Des Weiteren existiert diekubisch raumzentrierte Variante.Hier ordnen sich die Eisenatomewiederum auf den Würfelecken an;außerdem sitzt eines im Zentrum desWürfels. Darüber hinaus gibt es ei-nen hexagonalen Typ, in dem die Ei-senatome in Sechseck-Form verteiltsind. Sowohl die kubisch raumzen-trierte als auch die hexagonale Formwerden traditionell auch als Marten-sit bezeichnet. Je nachdem, wie großdie Gehalte der einzelnen Legie-rungselemente (der fremden Atomeim Kristallgitter) sind, verändert sichdas Kristallgitter und somit der Cha-rakter des Stahls.

In den großen Werkhallen desMax-Planck-Instituts kochten dieWissenschaftler ihre verschiedenenStahllegierungen und untersuchtenverschiedene Varianten. MannshoheSchmelzanlagen stehen dort. Mehrals zentnerschwere Gussblöcke lassensich mit unterschiedlichen Schmelz-verfahren herstellen und anschlie-ßend zu Blechen auswalzen. An an-deren Maschinen testen Techniker

fingerbreite Stahlproben; die werdenin eine Art Schraubstock eingespanntund mit einer bestimmten Kraft ge-dehnt. Wie stark gibt der Stahl nach?Wann reißt er?

Die Messwerte, die die neu ent-wickelten Stähle lieferten, warenüberwältigend. Die Stähle waren ex-trem fest und zugleich sehr dehnbar.Als besonders fest erwies sich Stahlmit einem Gehalt von 15 ProzentMangan und jeweils 3 Prozent Alu-minium und Silizium: Er lässt sichum mehr als 50 Prozent dehnen. Zu-gleich verfestigt er sich stark, ohne zuzerreißen. Er widersteht Spannungenvon bis zu 1100 Megapascal – ent-sprechend etwa dem Gewicht vonzehn Elefantenbullen auf einer Brief-marke. Herkömmliche höherfeste Ka-rosseriestähle reißen bereits bei etwa700 Megapascal. Verblüffend warauch das Verhalten von Stahl mit ei-nem Anteil von 25 Prozent Manganund jeweils 3 Prozent Aluminiumund Silizium (MnAlSi 25 3 3). Zwarverfestigte er sich nicht so stark, ließsich aber um etwa 90 Prozent in dieLänge ziehen, ohne zu zerreißen.Frommeyer: „Eine solche Duktilität,also Dehnbarkeit, erreicht nicht ein-mal Gold, das als ausgesprochen duk-til gilt. Bei 60 Prozent Dehnung istSchluss.”

Die neue Legierung ähnelt den sogenannten TRIP-Stählen (Transfor-mation Induced Plasticity – durchKristallgitter-Transformation indu-zierte plastische Verformbarkeit), dieseit etwa 10 Jahren auf dem Marktsind. Auch sie zeichnen sich durcheine hohe Festigkeit von bis zu 700Megapascal aus. Ihre Dehnbarkeithingegen ist mit rund 35 Prozenteher moderat. Ihr Verhalten – Deh-nung bei gleichzeitiger Verfestigung– ist auf Umformungen im Kristall-gitter zurückzuführen. Werden Kräfteauf den Stahl ausgeübt, kippen dieKristallgitter aus der kubisch flächen-zentrierten Austenit-Form in die ku-bisch raumzentrierte – den Martensit.Diese kollektive Scherung der Kris-tallgitterebenen (die Transformation)bewirkt letztlich die Dehnbarkeit imherkömmlichen TRIP-Stahl.

Für die Autoproduktion ist dasvon großer Bedeutung, denn Karos-serie-Bleche werden zumeist mitdem so genannten Tief- oder Streck-ziehen umgeformt. Dabei wird einBlech in eine Presse gelegt und indie richtige Form gedrückt. Je dehn-barer ein Stahl, desto eher macht erdie Verformung mit, ohne zu zer-reißen. Allerdings wird beim her-kömmlichen TRIP-Stahl bereits beimTiefziehen eine gewisse Menge desAustenit-Anteils in seine martensi-tische Form verwandelt – jene festeKristallstruktur, die sich kaum nochdehnen lässt. Für den Fall einesCrashs bleiben nur etwa fünf Pro-zent Dehnungsreserve übrig.

Auch der neue Stahl aus Düsseldorfhat TRIP-Eigenschaften. Dank der be-sonderen Legierungszusammenset-zung der im Eisenkristall gelöstenMangan-, Silizium- und Aluminium-Atome verfügt dieser aber über einendoppelten TRIP-Effekt. Er besitzt alsoeine Art doppelte Dehnungsreserve.Der Grund: Die Legierungselementeermöglichen zwei martensitische Um-wandlungen – zunächst einen Wech-sel vom Austenit zum hexagonalenMartensit und im zweiten Schritt vonder hexagonalen Struktur zum ku-bisch raumzentrierten Martensit. Wir-ken Kräfte auf den Stahl, etwa beimTiefziehen, wandelt sich der Austenitzunächst zum Teil in die erste mar-tensitische Stufe um, in die hexago-nale Kristallform. Wird der Stahl einzweites Mal beansprucht, kippt dashexagonale Gitter in die endgültigekubisch raumzentrierte Form – wiebeim herkömmlichen TRIP-Stahl. Aufdiese Weise behält der Stahl auchnach dem Tiefziehen ein gute PortionDehnungsvermögen. Bis zu 35 Pro-zent kann sich das Material bei einemAufprall noch verformen, ehe es versagt. So eignet sich FrommeyersTRIP-Stahl beispielsweise für denSeitenaufprall-Schutz. Das Materialgibt nach und federt die Wucht desAufpralls ab. Zugleich verfestigt essich aber extrem stark – was verhin-dert, dass die Seitenteile zu sehrnachgeben und die Fahrzeuginsassenverletzt werden.

Die besondere Dehnbarkeit der Le-gierung mit einem Mangan-Gehaltvon 25 Prozent lässt sich mit demdoppelten TRIP-Effekt indes nichterklären. „Ursache sind hier kleineFehler im Kristall – die so genann-ten Stapelfehler”, erläutert GeorgFrommeyer. Stapelfehler kann mansich als Verschiebung in einem Ras-ter aus säuberlich auf- und neben-einander gestapelten Kristallwürfelnvorstellen. Schiebt man von obeneinen zusätzlichen Würfelstapel indas Gitter hinein, werden die be-nachbarten Kristallwürfel zur Seitegedrängt. An einem solchen Stapel-fehler kann eine Kristallstruktur um-klappen. Da dieser Umklappmecha-nismus an einer Spiegelebene ab-läuft, entstehen regelmäßig gespie-gelte Kristallbereiche. Expertensprechen von Zwillingsbildung. Unddie macht sich von außen als extre-me Dehnung bemerkbar.

AUF DIE ZÜNDTEMPERATUR

KOMMT ES AN

Für die Werkstoffforscher bestanddie Herausforderung darin, diesenMechanismus zu erleichtern. Dennum die Zwillingsbildung zu starten,muss die so genannte Stapelfehler-Energie aufgebracht werden – eineArt Zündtemperatur. Ist die erforder-liche Stapelfehlerenergie zu hoch,bleibt die Zwillingsbildung aus. Wirdder Stahl gedehnt, verschiebt sichder Kristall stattdessen an Versetzun-gen, ungeordneten mikroskopischkleinen Kristallbaufehlern. So lässtsich der Stahl zwar ebenfalls verfor-men. Die Dehnung aber ist wesent-lich geringer, da sich die Versetzun-gen nach kurzer Zeit blockieren undgegenseitig an der Ausbreitung hin-dern. Der Werkstoff reißt. Wie sichzeigte, ist die Stapelfehler-Energie inder MnAlSi-25-3-3-Legierung soweit herabgesetzt, dass die Zwil-lingsbildung rasch einsetzt. Bereitsbei Kräften um die 300 Megapascalbeginnt sich der Stahl plastisch zuverformen. Experten sprechen vomTWIP-Effekt (Twinning Induced Plas-ticity – durch Zwillingsbildung indu-zierte Plastizität).

SO DEHNBAR WIE GUMMI

Gummibänder lassen sich weit in die Länge ziehen, ohne zu zerreißen. Das weiß jedes Kind. Dassauch Stähle so dehnbar sind, dürfte verblüffen. So ist es den Werkstoffkundlern am Max-Planck-Institut für Eisenforschung in den vergangenen Jahren gelungen, Stähle herzustellen, die sich bis zu1000 Prozent dehnen lassen, ohne zu brechen. Anders als beim Gummiband ist diese Verformungfreilich bleibend – plastisch, wie Experten sagen. Wie die Forscher in der Arbeitsgruppe von GeorgFrommeyer herausfanden, ist diese so genannte Superplastizität auf sehr feine und gleichmäßigeKörnchen, so genannte Kristallite, im Stahl zurückzuführen. Mikroskopische Analysen der Stähle er-gaben, dass sich unter bestimmten Temperaturen und Umformbedingungen gleichmäßig rundlicheKristallite in Mikrometergröße bilden. Dehnt man den Stahl, gleiten und rotieren die Kristalliteleicht aneinander vorbei. Wären sie langgestreckt, würden sie sich eher blockieren. Auch hier spie-len wieder verschiedene Gefügebestandteile im Stahl eine Rolle – etwa Austenite oder Karbide, be-sonders feste Metall-Kohlenstoffverbindungen. Denn die Gleitbewegung spielt sich vor allem an denGrenzen dieser Gefüge ab.

Bislang ist die Düsseldorfer Arbeitsgruppe weltweit die einzige, die in der Lage ist, besonders festesuperplastisch dehnbare Stähle für den Leichtbau zu erzeugen. Denn das typische Kristallgefügestellt sich nur bei ganz bestimmten Herstellungsprozessen und Legierungen (Metallmischungen) ein.So werden die superplastischen Stähle beispielsweise bei nur etwa 700 bis 800 Grad Celsius verar-beitet und zu Bauteilen geformt; für gewöhnlich schmiedet man bei etwa 1050 bis 1150 Grad Celsius. Darüber hinaus wird der superplastische Stahl etwas langsamer in seine Endform gepresstbeziehungsweise geschmiedet. Nur so kommen die superplastischen Verformungsmechanismen voll zum Tragen.

Superplastische Stähle lassen sich beispielsweise zu Getriebeteilen wie Ritzeln schmieden. Ihr Vor-teil: Da sie sich so stark dehnen, können sie leichter in Form gebracht werden. Die Umformwerkzeu-ge verschleißen dadurch weniger schnell. Das gleiche gilt für die Nachbearbeitung an Dreh- oderFräsmaschinen. Ein weiterer Vorzug: Dank der niedrigen Bearbeitungstemperatur lässt sich Energiesparen. Bislang nutzen Hersteller die superplastischen Stähle vor allem für den Bau von Maschinen.Inzwischen zeigen aber auch die Automobilkonzerne Interesse an dem reißfesten Hightech-Material.

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FASZINATION Forschung

„Auch der TWIP-Effekt ist für dieNutzung in Fahrzeugen von großerBedeutung”, betont Udo Brüx, wis-senschaftlicher Mitarbeiter am Düs-seldorfer Max-Planck-Institut. „EinFahrzeug besitzt verschiedene Crash-bauteile – zum Beispiel im Motor-raum, die sich bei einem Aufprall gezielt zusammenfalten. Hier ist ho-hes Energieabsorptionsvermögen ge-fragt.” Und genau das besitzen die

Versuchslänge

2 cm

Gleichmaßdehnung: ∈gleichm. = 850%

Bruchdehnung: ∈Bruch = 1025%

TWIP-Stähle mit ihrer einzigartigenDehnungsreserve. Beinahe nochwichtiger, sagt Brüx, ist ihre Fähig-keit, Kräfte extrem schnell aufzuneh-men. Selbst bei einem Aufprall mithoher Geschwindigkeit setzt derTWIP-Effekt ein. Die Bewegung vonVersetzungen hingegen ist ge-schwindigkeitsabhängig: Je schock-artiger der Aufprall, umso wenigersetzen sie sich fort. Im Extremfall

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werden. Schließlich verhalten siesich deutlich anders als herkömmli-che TRIP-Stähle. Letztlich hat dieneue Klasse hochfester TRIP-Stählemit den klassischen TRIP-Qualitätennur noch wenig gemein. Die Salz-gitter AG wird sie deshalb unter derBezeichnung HSD-Stahl – HighStrength and Ductility – (hohe Fes-tigkeit und Duktilität) auf den Marktbringen. „Ein kleiner Nachteil ist ihrim Vergleich mit höchstfesten Stäh-len etwas geringeres E-Modul”, sagtPrivatdozent Matthias Niemeyer,Geschäftsführer der Salzgitter Man-nesmann Forschungs GmbH – alsoeine geringere Steifigkeit. So müss-ten tragende Karosserieteile aus HSD eventuell konstruktiv andersgestaltet werden, um so steif zu sein wie Werkstücke aus hochfestenStählen.

Die Karosserie macht gut ein Vier-tel des gesamten Fahrzeuggewichtsaus. Unterm Strich wird sich durchden Einsatz von HSD-Stählen folg-lich deutlich Gewicht einsparen las-sen, so die Experten. Denn zum ei-nen sind diese Stähle dank der gerin-gen Dichte ihrer Legierungselementeausgesprochen leicht. Zum anderensind sie zwar nicht so steif, aber im-merhin etwa doppelt so fest wie diederzeit verwendeten höherfesten Ka-rosseriestähle. Die TWIP/TRIP-Stählelassen sich also in dünneren Blech-stärken verbauen. Wie hoch die Ge-wichtseinsparung am Ende sein wird,kann Niemeyer derzeit noch nichtgenau sagen. Denn je nachdem, wodie Automobilproduzenten das Ma-terial einsetzen, liegt der Wert höheroder niedriger. „Derzeit gehe ich voneiner Gewichtseinsparung zwischen10 und 20 Prozent aus, wobei fürmanche Bauteile auch bis zu 30 Pro-zent möglich sind”, sagt er.

Noch weiß niemand Genaues. Si-cher aber ist, dass die neuen Stähleerheblich zur Verringerung des Fahr-zeuggewichts und zur Reduzierungdes Kraftstoffverbrauchs beitragenwerden – dank der findigen Stahlre-zeptur aus dem Düsseldorfer Max-Planck-Institut für Eisenforschung.

TIM SCHRÖDER

EISENforschung

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reißt der Stahl – das Energie-Auf-nahmevermögen ist dahin. „Für dieAutomobilhersteller ist gerade dieschnelle Dehnungsfähigkeit desTWIP-Stahls von großem Interesse”,sagt Brüx.

Frommeyers Arbeitsgruppe koope-riert seit längerer Zeit mit der BMWAG und dem Ford-Forschungszen-trum in Aachen. An Prototypen undverschiedenen Karosseriebauteilenwerden dort Tiefziehfähigkeit undandere Eigenschaften getestet. Zuden Partnern gehören auch die Salz-gitter AG und die ThyssenKrupp

FASZINATION Forschung

Stahl AG. „Wir räumen den TWIP/TRIP-Stählen große Chancen ein”,sagt Volker Schwich, Vorstand Stahlund Verarbeitung bei der SalzgitterAG. Das Unternehmen hat im ver-gangenen Jahr ein Karosseriekonzeptvorgestellt, etwa auf der Interna-tionalen Automobilausstellung inFrankfurt, das leichter und zugleichstabiler war als alle Stahlvorgänger.Das Fachpublikum war positiv über-rascht. TWIP/TRIP-Stähle würdenhervorragend in dieses Konzept hin-einpassen und Bauteile ermöglichen,die leichter als Aluminiumkompo-

nenten sind. „Natürlich geben wiruns keinen Illusionen hin”, sagtSchwich, „das Auto der Zukunft wirdaus einem Multimaterialmix beste-hen – aus ganz verschiedenen Werk-stoffen, die vor allem leicht und zu-gleich stabil sein sollen.” Doch dieStahlindustrie stelle sich der Heraus-forderung – und dafür hätten From-meyer und seine Mitarbeiter einehervorragende Grundlage bereitet.

AUS DEM LABOR

IN DIE FABRIKHALLE

Derzeit rollen indes noch keineTWIP/TRIP-Stähle nach FrommeyersRezept vom Band. Zuvor müssen dieProzesse optimiert, die Produktionaus dem Labormaßstab in eine effi-ziente großtechnische Herstellungumgesetzt werden. So fließt dieTWIP/TRIP-Stahlschmelze anders alsvergleichbare Sorten, was die Verar-beitung beeinflusst. Das so genannteBandgießen (DSC – Direct Strip Cas-ting), bei dem die Schmelze auf eineArt Förderband gegossen wird, istein Verfahren, das besonders geeig-net erscheint, um diese Werkstoffeherzustellen. Inzwischen ist die Ent-wicklung der Produktionsprozessesoweit fortgeschritten, dass die Ein-führung der TWIP/TRIP-Stähle imAutomobilbau in Sicht ist. Schwich:„Wir rechnen fest damit, dass dieStähle bei den neuen Fahrzeuggene-rationen ab 2009 oder 2010 ersteAnwendungen finden.”

Unter der Bezeichnung TRIP-Stahlsollen sie jedoch nicht ausgeliefert

Das Spannungs-Dehnungs-Diagramm (oben) macht den unterschiedlichen Charakter von TRIP- und TWIP-Stahl deutlich. TRIP-Stahl kann hohe Kräfte aufnehmen, ohne sich zu stark zu dehnen; TWIP-Stahl hingegen dehnt sich bereits bei geringerer Spannung, reißt dafür aber erst bei einer Dehnung um die90 Prozent. Das untere Diagramm zeigt im Vergleich mit herkömmlichen Stählen(blau), dass TRIP/TWIP-Stähle (rot) höchsten Kräften widerstehen können.

Ganz schön nachgie-big: Gezogene undverdrillte TRIP/TWIP-Stahl-Proben gebeneinen Eindruck ihrerguten Verformbar-keit. Die zweite Probevon unten wurde ein-mal, die untere Probedreimal um ihre eige-ne Achse verdrillt.

TRIP-STAHL

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Austenitische RostfreistähleHochmanganhaltigeTRIP/TWIP-Stähle

Eisen-AluminiumLeichtbaustähleIF (hochfest)IF (weich) FeP05SULC

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KONGRESSbericht

Ein Unkrautmacht Karriere

Das mit dem Raps verwandte Wildkraut erweist sich als Glücksgriff: Schon vor vielen Jahren

wählten Pflanzengenetiker Arabidopsis thaliana als Modellorganismus. Mitte Juli trafen sich

1200 Wissenschaftler zur 15. INTERNATIONALEN ARABIDOPSIS-KONFERENZ in Berlin,

um über neueste Erkenntnisse zu diskutieren und Ergebnisse auszutauschen. Dabei zeigte die

Ackerschmalwand einmal mehr ihren beispielhaften Charakter für die Pflanzenforschung.

Rein optisch gesehen, hat Arabi-dopsis wenig zu bieten. In mo-

lekulargenetischer Hinsicht ist dasallerdings ganz anders: Das Erbgutdieses Unkrauts wurde bereits vorJahren vollständig entschlüsselt; esist zehn- bis hundertmal kleiner alsdas der meisten Kulturpflanzen unddeshalb leichter zu überblicken. Mitrund 26 000 Genen besitzt Arabidop-sis thaliana fast doppelt so viele Ge-ne wie die Taufliege und kaum weni-ger als der Mensch. Das zeigt, dassdie Zahl der Gene alleine kein Indi-kator für die Vielgestaltigkeit einesOrganismus ist. Diese lässt sich eheran der Aktivität der Gene und derKomplexität der Regulation ablesen.

Der Aufbau einer multilateralen Datenbank zur Genexpression zähltdeshalb zu den wichtigsten Aufga-ben der Arabidopsisforschung.

Über dieses zunächst in Deutsch-land initiierte und dann auch vonanderen Ländern unterstützte „At-GenExpress-Programm“ berichteteThomas Altmann, Universität Pots-dam und Max-Planck-Institut fürmolekulare Pflanzenphysiologie inGolm. Im Rahmen des Programmshaben die Forscher verschiedeneSchnappschüsse vom Geschehen inder Zelle gemacht. Sie sollen zeigen,wie Arabidopsis auf Stress oderSchädlingsbefall reagiert – oder waspassiert, wenn Arabidopsis zu

blühen beginnt. Man erhofft sich da-von Rückschlüsse auf die Funktionder einzelnen Gene. Während dieWissenschaftler vor vier Jahren nurneun Prozent der Gene eine Funkti-on zuordnen konnten, ist das heutebei 20 Prozent der Fall. Und weilsich die Gene im Lauf der Evolutionnur wenig verändert haben, wirdman von ihrer Aufgabe bei Arabi-dopsis auch auf ihre Aufgabe bei an-deren Pflanzen schließen können.

Schwierigkeiten bereitet allerdings,dass Arabidopsis große Teile des Ge-noms während der Evolution ver-doppelt hat. Daher gibt es von vielenGenen zwei oder mehrere ähnlicheKopien. Schaltet man eine Kopie aus,

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PFLANZENphysiologie

kann sich die Pflanze oftmals mit ei-ner zweiten Kopie behelfen. Vielekünstlich erzeugte Mutanten zeigendeshalb keine leicht zu erkennendeVeränderung.

Mit dem „AtGenExpress-Pro-gramm“ und den anderen Projektenzur funktionalen Genomforschungverfolgen Wissenschaftler wie MarkStitt vom Max-Planck-Institut fürmolekulare Pflanzenphysiologie inGolm noch ein weiteres ehrgeizigesZiel: den Einstieg in die Systembiolo-gie. Die Systembiologie will die Naturbis in ihre molekularen Details hineinverstehen und nachstellen. Sie führtdabei ganz unterschiedliche Diszi-plinen zusammen, etwa die Proteom-forschung, die Metabolomforschungund die Bioinformatik. Es geht alsonicht mehr nur darum, welche Genewelche Proteinfunktionen hervor-bringen, sondern darum, wie die Pro-teine miteinander reagieren, welcheBotschaften sie dabei austauschen,welche Stoffwechselprodukte sie er-zeugen, wie sie ihre Konzentrationenverändern und welche Dynamik siebei diesem Auf und Ab an den Taglegen. Im Vordergrund dieser For-schung stehen also nicht mehr diemolekularen Details, sondern dasganze „System Pflanze“. Dazu bedarfes jedoch anderer Methoden – undauch auf diesem Gebiet setzt die Ara-bidopsisforschung neue Akzente.

PFLANZEN HABEN

KEINE BEINE

Bei der Konferenz kamen zudemeinige pflanzenphysiologische De-tails zur Sprache. Pflanzen sind sess-hafte Lebewesen. Sie leben und ster-ben, wo sie aufgekeimt sind. Siekönnen sich widrigen Umständennicht durch Flucht entziehen undbrauchen deshalb ein exzellentesFrühwarnsystem, um ihre Anpas-sung vorbereiten zu können. Siemüssen sich also zuverlässige Infor-mationen darüber verschaffen, wasin ihrer Umgebung vor sich geht. Siemüssen wissen, ob Nährstoffe knappgeworden sind, ob der Boden mitSalz oder Schwermetallen belastet istoder ob sie die Hauptachse oder Sei-

tentriebe verloren haben. Sie brau-chen auch Informationen darüber, obsich Schädlinge auf ihren Blätternniedergelassen haben oder ob dieSonneneinstrahlung das normaleMaß überstiegen hat.

Da Pflanzen weder ein Nervensys-tem noch einen Blutkreislauf für dieWeiterleitung der Signale besitzen,haben sie das „Long distance signa-ling“ entwickelt. Welche Botenstoffedaran beteiligt sind, erläuterte bei derBerliner Konferenz Ottoline Leyservon der University of York in Eng-land. In den vergangenen Monatenals äußerst wichtig entpuppt habensich unter anderem Pflanzenhormonewie Auxin und Kinetin, Peptide oderdie so genannten MikroRNAs, die zueiner Gruppe von kleinen Ribonukle-insäuren zählen. Sie werden von spe-ziellen Enzymen (den „Dicern“) aus

größeren, zu einem Doppelstrang zu-sammengelagerten Vorstufen heraus-geschnitten. MikroRNAs gehen auszelleigenen Ribonukleinsäuren her-vor, siRNAs oder Interferenz-RNAsstammen zumeist von Ribonukle-insäuren ab, die sich unrechtmäßigenZugang zur Zelle verschafft haben.Nach dem Zurechtschneiden suchendiese kurzen Ribonukleinsäuren ihrekomplementären Sequenzen auf. DiePflanze kann dadurch die Menge anzelleigenen Boten-Ribonukleinsäurenregulieren oder sich vor eindringen-den Viren schützen.

Bemerkenswert ist bei den Pflan-zen auch ihre ungeheure Vielfalt bei einem sehr ähnlichen Karyotyp,also ähnlicher Chromosenausstat-tung. Blickt man allein auf die Fami-lie der Nachtschattengewächse, sotrifft man auf so unterschiedliche

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Studienobjekt mit vielen Facetten: Die Ackerschmalwand beschäftigt Genetiker weltweit. Im „Arabidopsis thaliana Functional Genomics Project" (hier der Titel des Jahresberichts) haben sie sich zusammengeschlossen.

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KONGRESSbericht

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PFLANZENphysiologie

Pflanzen wie Tomaten, Paprika, Au-berginen, Kartoffeln oder Petunien.Einige dieser Pflanzen sind Nutz-pflanzen, andere erfreuen nur dasAuge. Wie Steven Tanksley von derCornell University in Ithaca/USA erläuterte, müssen sich diese Varia-tionen während der Evolution extremlangsam entwickelt haben. Bei gro-ben Veränderungen bestünde die Ge-fahr, dass die Pflanze daran zu Grun-de geht. Wie Tanksley weiter aus-führte, können diese Variationen aufzwei verschiedenen Mechanismen be-ruhen: auf einer Änderung der Gen-funktion oder auf einer Änderung derGenregulation, wobei die letzte Mög-lichkeit als die wahrscheinlichere gilt.

Wichtige Erkenntnisse haben dieForscher auch bei der Gestaltbildungsowie bei der Resistenz gegenüberSchädlingen erzielt. Eine eindrucks-

volle Präsentation zur Gestaltbildunggab Enrico Coen vom John InnesCentre im englischen Norwich. Coenzeigte, dass Pflanzen Formen undMuster nie unabhängig voneinanderbilden, sondern stets im Verbund.

SIGNALE BESTIMMEN

DAS WACHSTUM

Der Grund: Die Zellen sind festmiteinander verknüpft, und Zellver-bände verformen sich, sobald einzel-ne Zellen schneller wachsen als an-dere. Wird eine quadratische Fläche,die aus einer Zelllage besteht, zumBeispiel nur in eine Richtung erwei-tert, so wird die Seite, die nicht mit-wächst, automatisch in Falten ge-worfen. Form und Muster einerPflanze werden demnach vor allemvon drei Größen bestimmt: derWachstumsrate (also der Zeit zwi-schen zwei Zellteilungen), der An-isotropie (bevorzugte Achse desWachstums) und der Wachstumsrich-tung (Winkel, den die Zellen bei ih-rer Teilung im Hinblick auf ein ge-dachtes Koordinatensystem einneh-men). Die gebildete Form ergibt sichdann aus diesen drei Größen.

Welche Gene hinter dieser Muster-bildung stecken und wie sie überneue Anforderungen bei der Gestalt-bildung informiert werden, wissendie Forscher noch nicht. Fest stehtnur, dass diese Wachstumsprozessedurch mobile Signale bestimmt wer-den, die sich in den Wachstumszo-nen wie Vektoren aufbauen und deneinzelnen Regionen eine gewisseIdentität verleihen. Die chemischeNatur dieser Signale ist zumeist of-fen. Vermutlich spielen die Mikro-RNAs auch hier eine große Rolle, wieDetlef Weigel vom Max-Planck-In-stitut für Entwicklungsbiologie inTübingen berichtete: Er hat eine MikroRNA identifiziert, die bei Ara-bidopsis eine übermäßige Zellteilungin den Blättern verhindert; die Blät-ter würden sich ansonsten verziehen,statt flach zu bleiben. Auch diesesBeispiel von der Konferenz in Berlinzeigt, dass Arabidopsis ein Schritt-macher für die gesamte Pflanzenfor-schung ist. HILDEGARD KAULEN

„Gesetz soll Grüne Gentechnik verhindern“

Die Grüne Gentechnik ist derzeit wieder einmal Gegenstand von hitzigen Debatten in Politik

und Medien. MAXPLANCKFORSCHUNG sprach darüber mit MARK STITT, dem Geschäftsführenden

Direktor des MAX-PLANCK-INSTITUTS FÜR MOLEKULARE PFLANZENPHYSIOLOGIE in Golm.

MAXPLANCKFORSCHUNG: Die in Berlinvorgestellten Ergebnisse haben auchAuswirkungen auf die molekularePflanzenzüchtung. Derweil sind IhreVersuchsfelder mit gentechnisch ver-änderten Kartoffeln komplett zerstörtworden. Dabei hatte es nicht an einer offenen Informationspolitik gefehlt. Wieso jetzt diese Aktion?MARK STITT: Die Zerstörung unseresFreilandversuchs in den frühen Mor-genstunden des 22. Juni hat unsselbst überrascht, aber sie kam nichtganz unerwartet. Freisetzungsversu-che mit gentechnisch verändertenKartoffeln laufen am Institut seit1996. Abgesehen von symbolischenZerstörungen in den Jahren 1996und 1997, die unsere Arbeit nichtgravierend behinderten, hatten wirbisher keine Probleme. Die diesjähri-ge Aktion ist vermutlich daraufzurückzuführen, dass die GrüneGentechnik wegen der Novelle desGentechnik-Gesetzes wieder in allerMunde ist. Gerade deshalb haben wirin diesem Jahr eine umfassende In-formationspolitik gestartet, inklusiveWeb-Site und täglichen Feldführun-gen. Daran wird sich auch in Zu-kunft nichts ändern. Wir setzen auchweiterhin auf eine offene und sachli-che Diskussion und leisten unserenBeitrag zur Aufklärung der Öffent-lichkeit. Nicht weil man das von unsverlangt, sondern weil wir vom Nut-zen überzeugt sind. Allerdings mussklar sein, dass eine Feldzerstörungkein probates Mittel für eine sachli-che Auseinandersetzung ist.

MPF: Sie sprachen von der Novelledes Gentechnik-Gesetzes. Ihre Arbeitwird durch den Gesetzentwurf, derjetzt allerdings vom Bundesrat an

den Vermittlungsausschuss weiterge-leitet worden ist, sicher nicht einfa-cher. Welche Nachbesserungen sindaus Ihrer Sicht notwendig?STITT: Grundsätzlich begrüße ich einGesetz, dass die Koexistenz zwischenökologischer Landwirtschaft und demAnbau von gentechnisch veränder-tem Saatgut regelt. Eine solche Ko-existenz wird ja auch von der EU ge-fördert. Allerdings dient der neue Ge-setzesentwurf diesem Anliegen nicht.Man gewinnt den Eindruck, dass erdie Grüne Gentechnik verhindernsoll. Nehmen wir nur das Beispiel derHaftung. Fliegen Pollen von einemFeld mit gentechnisch verändertenPflanzen auf das Feld eines Ökobau-ern und kann dieser seine Ernte dar-aufhin nicht mehr als gentechnikfreivermarkten, muss der Bauer, der dasgentechnisch veränderte Saatgut an-gebaut hat, dafür haften. Ist der Pol-lenflug nicht genau zuzuordnen,müssen alle Bauern aus der Umge-bung, die gentechnisch verändertesSaatgut angebaut haben, haften. Einesolche Regelung ist absurd.

MPF: Was halten sie von dem ge-planten Standortregister, in dem alle Anbauflächen genau aufgelistetwerden sollen?STITT: Gegen ein Standortregister ha-be ich nichts Grundsätzliches einzu-wenden. Ich bin für eine sachlicheAuseinandersetzung mit klarenSpielregeln, an die sich dann aberauch alle zu halten haben. Allerdingsdarf das Register kein Wegweiser fürFeldzerstörungen sein.

MPF: Wir haben gerade über Haf-tung gesprochen. Wer haftet eigent-lich für ein zerstörtes Versuchsfeld?

STITT: Eine gute Frage! Weil die Per-sonen, die das Feld zerstört haben,anonym sind – niemand. Da siehtman das Paradoxe an dieser Ausein-andersetzung. Es wird mit zweierleiMaß gemessen.

MPF: Die Sicherheitsforschung zeigt seit zehn Jahren immer wiederdas Gleiche: Von gentechnisch ver-änderten Pflanzen geht kein höheresRisiko aus als von herkömmlichenZüchtungen. Fakt ist auch, dass dieEntwicklungsländer dringend besserePflanzen brauchen. Welche Argu-mente können die Gegner der Grü-nen Gentechnik eigentlich nochüberzeugen?STITT: Ein zentraler Kritikpunkt in Be-zug auf die Entwicklungsländer istja, dass die Grüne Gentechnik nurden Interessen der multinationalenKonzerne dient und die Menschendort in neue Abhängigkeiten zwingt.Das stimmt aber so nicht. Die GrüneGentechnik kann in jedem Land ent-wickelt und angewendet werden,auch in der Dritten Welt – und zwarin selbstständiger Weise. Viele Län-der tun dies ja auch schon, etwa diePhilippinen oder China. Ich sehe un-sere Aufgabe zunehmend in der Un-terstützung solcher Bemühungen.Ich denke, wir werden in Zukunftkeine Produkte exportieren, sondernKenntnisse und Kooperationen.

MPF: Wie soll das genau aussehen?STITT: Ich glaube, dass solche Koope-rationen unter drei Bedingungenfunktionieren werden. Erstens: Allewissenschaftlichen Daten müssen ineiner frei zugänglichen Datenbankhinterlegt werden. Bei Arabidopsisfunktioniert das hervorragend. Jetzt

kann man natürlich sagen: Wer in-teressiert sich schon für ein Un-kraut? Das stimmt zwar, aber ichglaube, dass dies auch bei Weizen,Reis und den anderen wichtigenKulturpflanzen funktionieren wird.Zweitens: Wir müssen die ausländi-schen Wissenschaftler sorgfältigausbilden. Und drittens: Wir müssengenau zuhören, was sie über ihrePflanzen, Anbausysteme und Be-dürfnisse zu sagen haben. Diese In-formationen müssen wir im gegen-seitigen Interesse nutzen.

MPF: Wie wird es mit der GrünenGentechnik hier zu Lande weiter-gehen?STITT: Bleibt das Gentechnik-Gesetzwie es ist, werden wir auf vieles ver-zichten müssen. Nicht nur bei derNahrung, sondern auch bei dennachwachsenden Rohstoffen. DenNutzen aus den Erkenntnissen derGrundlagenforschung werden andereziehen. Neue Entwicklungen und diedazu nötigen Investitionen werdennicht mehr in Deutschland getätigtwerden. Statt selbst neue Produktemarktreif zu machen, werden wirsie bald teuer einkaufen müssen.Darüber hat man sich bei uns bisherwenig Gedanken gemacht.

INTERVIEW: HILDEGARD KAULEN

Weitere Informationen erhalten Sie unter:www.mpimp-golm.mpg.de

www

Angeregte Gespräche unter Fachleuten gab es genug auf der Arabidopsis-Konferenz in Berlin.

Völlig verwüstet: Das Versuchsfeld mit gentechnisch ver-änderten Kartoffeln des Golmer Max-Planck-Instituts.

VERNETZTE FORSCHUNG

Arabidopsis thaliana ist nicht nur ein Modell für alle Samenpflanzen, sondern auch ein Musterbeispiel fürmultilaterale Zusammenarbeit und vernetzte Forschung.Zur Arabidopis-Gemeinde zählen inzwischen 13 000 Wissenschaftler, 1200 davon trafen sich zur 15. Interna-tionalen Arabidopsis-Konferenz, die seit fast 30 Jahrenerstmals wieder in Berlin stattfand. Der Kontakt ist eng,die Daten werden zügig ausgetauscht und in öffentlicheDatenbanken eingestellt. Wie reibungslos die Zusammen-arbeit funktioniert, zeigt sich am „AtGenExpress-Pro-gramm“. Initiiert wurde es in Deutschland, als Teil desvon der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten„Arabidopsis Functional Genomics Program“. Inzwischenstellen britische, amerikanische und japanische Forscher-gruppen ihre Datensätze dafür zur Verfügung. Auch beider Entschlüsselung der Genfunktionen ist die Koopera-tion ungewöhnlich eng. Das von der National Science Foundation in den Vereinigten Staaten geförderte „2010Project“ und das von der Deutschen Forschungsgemein-schaft geförderte „Arabidopsis Functional Genomic Net-work“ arbeiten Hand in Hand. Dass sich diese Vernetzunglohnt, zeigt der Erfolg. Arabidopsis – ein Modell, dasSchule machen sollte.

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Unsere Sprache ist angefüllt mit wissenschaftlich-technischen Kunstwörtern, die wir wie selbstverständ-lich benutzen, ohne uns über ihre Herkunft Gedankenzu machen. Oft lohnt es allerdings kaum, diesen Ursprüngen nachzugehen, da sich hinter den Begriffen nur eine simple Abkürzung verbirgt wie Laser – „LightAmplification by Stimulated Emission of Radiation”.Woher aber stammen die „Quarks”? Und was hat es mit „Giotto” oder „Thisbe” auf sich?

Manche Namen in der Wissenschaft haben ihre Ur-sprünge in Literatur oder Kunst. Hier kann man alswohl bekanntestes Beispiel die Quarks nennen. Der

amerikanische Physiker Murray Gell-Mann schlug diesen Be-griff im Jahr 1963 als Bezeichnung für die von ihm vorher-gesagten fundamentalen Bausteine der Nukleonen vor. Erhatte das Wort beim Schmökern in Finnegans Wake von Ja-mes Joyce gefunden, und zwar in dem Satz „three quarks forMuster Mark” (vermutlich die Verballhornung einer Geträn-kebestellung „three quarts for Mister Mark”). Warum Gell-Mann gerade die Quarks auswählte, wird damit erklärt, dassderen Zahl drei („three”) genau mit der Art und Weise über-einstimmt, in der die von ihm prognostizierten Bausteine inder Natur vorkommen: Sowohl das Proton als auch das Neu-tron werden jeweils aus drei Quarks zusammengefügt. Dasist freilich nicht die ganze Wahrheit: Gell-Mann berichtetenämlich, dass er von Anfang an eine feste Vorstellung vomKlang des neuen Namens hatte – er sollte sich wie „kworks”anhören -, ohne damit allerdings eine Buchstabenfolge zuverbinden. Diesem Klang kamen die Quarks am nächsten.Ebenso häufig erwähnt, aber längst nicht so bekannt, ist dieGeschichte, wie es zur Namensgebung der europäischenRaumsonde kam, die sich Mitte März 1986 bis auf 600 Kilo-meter dem Halleyschen Kometen näherte und mit ihrer amMax-Planck-Institut für Sonnensystemforschung gebautenKamera spektakuläre Aufnahmen des Kometenkerns lieferte.Berichtet wird, eine amerikanische Kunsthistorikerin habeim Jahr 1979 in einem Artikel darauf hingewiesen, dass dasvermutlich erste realistische Bild des Halleyschen Kometenin einem Fresko des italienischen Renaissance-Malers Giottodi Bondone in Padua zu sehen ist. Dieses etwa um 1304 ent-standene Fresko, das zum weltbekannten Zyklus in der Ka-pelle der Familie Scrovegni gehört, stellt die Anbetung derHeiligen Drei Könige dar und zeigt als Stern von Bethlehemeinen Kometen. Bei ihm, so die Autorin, könne es sich nurum den Halleyschen gehandelt haben, der 1301 besondersspektakulär zu sehen gewesen und deshalb sicher auch vonGiotto wahrgenommen worden sei.

Ein junger deutscher Wissenschaftler, der an europäischenWeltraumprogrammen mitarbeitete, machte Kollegen aufdiesen Artikel aufmerksam. Unter ihnen war ein Forscheraus Padua, der sofort vorschlug, die geplante europäischeHalley-Sonde nach Giotto zu benennen – eine Idee, die aufZustimmung stieß. So dauerte es nicht mehr lange, bis derName des Malers als Bezeichnung einer Kometensonde inden offiziellen Dokumenten der Europäischen Raumfahrt-behörde ESA auftauchte.Wie sich die Belesenheit eines Forschers im Namen eines wis-senschaftlich erzielten Ergebnisses niederschlagen kann,zeigt ein weiteres Beispiel. Am Tübinger Max-Planck-Institutfür Biologie war es Georg Melchers in den 1970er-Jahren ge-lungen, Tomaten- und Kartoffelzellen miteinander zu ver-schmelzen – allerdings nicht mit dem Ziel, die Früchte dieserneuen Pflanze zu ernten, sondern in der Hoffnung, damit dieKälteunempfindlichkeit der Kartoffel auf die Tomate über-tragen zu können. Um die Bedeutung dieses Experiments et-was herunterzuspielen, belegte er den entstandenen Hybridmit dem Spottnamen „Tomoffel”; diesen Begriff hatte Mel-chers in dem 1930 erschienenen Schelmenroman Die Po-wenzbande von Ernst Penzoldt gefunden. Bei Penzoldt wares Heinrich Powenz, dem nach man-cherlei Missgeschick (die neue Pflanzebesaß zunächst über der Erde die Ei-genschaften der Kartoffel und unterder Erde die der Tomate) der Ruhmgebührte, die Tomoffel gezüchtet und

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e zu einem wirtschaftlichen Faktor gemachtzu haben. Leider führte die Benutzung desNamens Tomoffel durch Melchers dazu,dass kein Mensch mehr dieses Mischge-wächs mit Penzoldts Romanfigur in Ver-bindung brachte: Als Vater der Tomoffelgalt von nun an der Tübinger Biologe –sehr zu seinem Leidwesen.Ebenfalls als belesen, wenn auch auf ei-nem anderen Gebiet der Literatur, erwie-sen sich Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik und des Che-mischen Instituts der Universität Mün-chen, als sie in den 70er-Jahren mit derEntwicklung chemischer Laser begannen.Diese Arbeiten führten schließlich zumBau einer Serie von Hochleistungs-Jodla-sern, die in der Plasmaforschung zumEinsatz kamen. Als Namen wählten dieForscher „Asterix”. Tatsächlich lässt sichdas Namensrätsel leicht lösen: Im Jahr1959 startete eine französische Comicserie, die schnell inviele Sprachen übersetzt wurde und Leser in aller Welt zufaszinieren begann, darunter offenbar auch Forscher imRaum München. Der quirlige Titelheld heißt Asterix. SeinTexter René Goscinny schildert ihn als „listigen kleinen Krie-ger, voll sprühender Intelligenz”, der seine übermenschlicheKraft aus dem Zaubertrank des Druiden Miraculix schöpft.Goscinnys Beschreibung enthielt Schlüsselworte, die auchauf die in Garching gebauten Jodlaser zutrafen: klein, listig,intelligent, voller Kraft. Denn während zu jener Zeit in denUSA und in der Sowjetunion riesige Hochleistungslaser mitgewaltigem finanziellen und personellen Aufwand ent-wickelt wurden, versuchten das Max-Planck-Institut fürPlasmaphysik und später die aus ihm hervorgegangene Pro-jektgruppe Laserforschung, sich mit kleinen, intelligentenund trotzdem kraftvollen Lösungen in diesem internationa-len Wettbewerb zu behaupten. Erfolgreich: Der 1977 in Be-trieb genommene Asterix III war mit seiner maximalenStrahlungsleistung von einer Milliarde Kilowatt lange Zeitder weltweit stärkste Laser dieses Typs. Und sein NachfolgerAsterix IV erreichte im 1981 gegründeten Max-Planck-Insti-tut für Quantenoptik eine noch um den Faktor zehn höhereStrahlungsleistung.Später wurde die Laserforschung an dem Garchinger Institutbeendet, die Anlage abgebaut und1997 an das Institut für Plasma-physik der Tschechischen Akade-mie der Wissenschaften in Pragtransferiert. Dort wird sie unterdem Namen PALS (Prague AsterixLaser System) noch heute genutzt– mit Oszillatoren und Verstärkern,die ebenfalls nach Comicfigurenwie Idefix, Obelix und Majestix be-nannt sind.Ein letztes Beispiel soll zeigen, wiesehr ein Name auch auf gedankli-che Abwege führen kann. Ende der

Asterix, Giotto und die Powenzbande

RÜCKblende

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: AKG

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So sah Giotto diBondone den Hal-leyschen Kometenim Jahr 1301 – und in „Rückschau" auf Christi Geburt.

60er-Jahre begann das Heidelberger Max-Planck-Institutfür Astronomie seine bis dahin nur erdgebundenen For-schungen in extraterrestrische Gefilde auszudehnen. ImAuftrag des Instituts baute die Firma Dornier Systems ei-ne Gondel, die mit Teleskopen bestückt und von einemmit Helium gefüllten Plastikballon bis in 40 Kilometer

Höhe transportiert werden konnte. Auf diese Weise ließensich Messungen in jenen Bereichen des elektromagnetischenSpektrums (Ultraviolett, fernes Infrarot) durchführen, wel-che die unteren Schichten der Erdatmosphäre nicht zudurchdringen vermögen. Halbautomatisch und ferngesteu-ert wurden so zum Beispiel die Verteilung der Sterne imZentralbereich unserer Milchstraße oder ausgedehnte Stern-entstehungsgebiete untersucht. Nach einem etwa zehnstün-digen Beobachtungsprogramm trennte man die Gondeldann per Funk vom Ballon; sie schwebte an einem Fallschirmzur Erde und konnte geborgen werden. Mit mehr als einemDutzend Flügen betrieb das Institut „Weltraumforschungdes kleinen Mannes”, wie die Experimente selbstironisch ti-tuliert wurden.Die Gondel, und deshalb wird diese Geschichte hier berich-tet, trug den Namen „Thisbe”. Das lässt natürlich sofort andie Sage vom Liebespaar Pyramus und Thisbe denken, dieOvid in seinen Metamorphosen erzählt. Ihre Eltern wider-setzten sich einer Verbindung beider Liebender, die sichdeshalb heimlich außerhalb der Stadt zu treffen versuch-ten. Hier verfehlten sie sich jedoch auf tragische Weise undschieden deshalb vor Kummer aus dem Leben. Eine vageVerbindung zwischen dem Liebespaar und der Ballongondelscheint es zu geben, denn das Paar musste die Stadt verlas-

sen, um sich zu treffen – und dieBallongondel musste die Erdat-mosphäre durchstoßen, um ihreTeleskope zu nutzen. Vielleichtexistierten im Hinterkopf man-cher Forscher tatsächlich solchegedanklichen Verknüpfungen.Doch offiziell steht der Name„Thisbe” für etwas anderes: „Teles-cope of Heidelberg for InfraredStudies by Balloon-borne Experi-ments”. Nicht immer ist die grie-chische Mythologie hilfreich.

MICHAEL GLOBIG

So sah ein Grafiker im Jahr 1986 die Sonde Giotto vor demHalleyschen Kometen –in „Vorschau" auf das Rendezvous.

„präsent“ (Innsbruck) vom 7. 4. 1988 (Auszug)

Genetik: Wie entsteht die Tomoffel? – ErfolgreicheZüchtung einer neuen Kreuzung Tomate und Kartoffel zu kreuzen – das haben Pflanzen-züchter oft versucht. Immer waren ihre Bemühungen um-sonst. Nun ist es Genetikern gelungen, „Tomoffelpflan-zen“ biotechnologisch herzustellen.Prof. Georg Melchers, ein Forscher am Max-Planck-Institut in Tübingen (BRD), konnte mit viel Geduld sol-che Pflanzen entwickeln. Zuerst hielt er Tomaten- undKartoffelzellen in eine Nährlösung, und dann wurdendurch Zugabe von bestimmten Eiweißsubstanzen (Enzy-men) die festen Wände der Zellen abgebaut…

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WISSEN aus erster Hand

In Deutschland steht die Einkommensteuer seit längerem im

Mittelpunkt politischer Debatten. Immer häufiger wird auf die Zwänge

der Globalisierung und des Steuerwettbewerbs verwiesen. In seinem

Beitrag beleuchtet STEFFEN GANGHOF vom MAX-PLANCK-INSTITUT

FÜR GESELLSCHAFTSFORSCHUNG in Köln die Hintergründe

der Diskussion und beschreibt zwei unterschiedliche Reformmodelle.

nicht so sehr darin, dass die Einnah-men aus der Körperschaftsteuer dras-tisch gesunken sind. Die meisten Re-gierungen konnten Einnahmeausfälledurch die Verringerung oder Ab-schaffung von Investitionsanreizenund Steuervergünstigungen vermei-den. Das eigentliche Dilemma ergabsich aus den indirekten Auswirkun-gen, die niedrigere Körperschaftsteu-ersätze für die persönliche Einkom-mensteuer haben: Liegt der Körper-schaftsteuersatz nämlich stark unterdem Spitzensteuersatz der persönli-chen Einkommensteuer, so kann diesnicht nur zu einer unerwünschtenVerzerrung ökonomischer Entschei-dungen führen, sondern auch dazu,dass Steuerzahler die Form der Kapi-talgesellschaft benutzen, um einenTeil ihrer Kapitaleinkommen von derhöheren und progressiven Besteue-rung in der persönlichen Einkom-mensteuer abzuschirmen. Zugespitztformuliert: Ein immer niedrigerer

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GESELLSCHAFTSforschung

Einkommensteuerin der globalen Arena

Welche Auswirkungen hat derProzess der Globalisierung auf

die Einkommensteuer? Wie hängendiese Auswirkungen mit den steuer-politischen Konflikten zusammen?Solche und ähnliche Fragen beschäf-tigen die Experten seit geraumerZeit. Im Verlauf der Diskussion überdie Einkommensteuer – sie meinthier sowohl die Besteuerung vonPersonen als auch von Kapitalgesell-schaften (Körperschaftsteuer) – ha-ben sich zwei mittlerweile klar kon-turierte Reformmodelle herauskris-tallisiert. Sie bilden gleichsam diePole des Konflikts.

Die Flat Tax: Alle Einkommens-arten werden mit einem niedrigenproportionalen Steuersatz – zumBeispiel 25 Prozent – belegt.

Die duale Einkommensteuer:Nur Kapitaleinkommen werden miteinem einheitlichen niedrigen Satzbesteuert, für Arbeitseinkommen gibtes weiterhin einen progressiven Tarifmit höherem Spitzensteuersatz.

Am offensichtlichsten ist der vomSteuerwettbewerb ausgehende An-passungsdruck bei der Körper-schaftsteuer. Bis Mitte der 1980er-Jahre waren die Körperschaftsteuer-sätze auf einbehaltene Unterneh-

unilateral an, so entstehen ihm we-niger Kosten als einem kleinen Land,weil es gemessen in Pro-Kopf-Ein-heiten weniger Kapital aus dem Landtreibt.

Dies bestätigt sich nicht nur fürdie fortgeschrittenen Industrieländer,sondern für die 74 Länder, die imRahmen des weltweiten CorporateTax Survey der Wirtschaftsprüfungs-gesellschaft KPMG nach einheitli-chen Kriterien erfasst werden (Abbil-dung 2). Während große Länder wieIndien oder die USA relativ hoheKörperschaftsteuersätze von um die40 Prozent haben, bewegen sich dieSteuersätze vieler kleiner Länderzwischen 10 und 20 Prozent. Imneuen EU-Mitgliedsland Estlandwird auf einbehaltene Gewinne vonKapitalgesellschaften sogar über-haupt keine Steuer erhoben.

Das Problem dieses Wettlaufs umniedrigere Steuersätze bestand für dieNationalstaaten – zumindest bisher –

mensgewinne in entwickelten Indust-riestaaten relativ hoch, sie lagen imDurchschnitt bei etwa 50 Prozent.Gleichzeitig förderten die Länder Investitionen durch steuerliche An-reize wie etwa eine beschleunigteAbschreibung der Wirtschaftsgüter. Dadurch wurde die Steuerbasis zwarinvestitionsfreundlicher, aber auchschmaler und unsystematischer.

Ab Mitte der 80er-Jahre zeigtesich, dass dieses System der Be-steuerung im internationalen Wett-bewerb nicht überlebensfähig war.Hohe Körperschaftsteuersätze kön-nen ausländische Direktinvestitio-nen – insbesondere von profitablenUnternehmen – abschrecken, und sie geben internationalen Konzerneneinen starken Anreiz, Gewinne inNiedrigsteuerländer zu verlagern.Steuerreformen in Großbritannien(1984) und in den USA (1986) gabenden Startschuss für einen Wettlaufum niedrigere Körperschaftsteuer-sätze, der bis heute anhält. DerDurchschnitt der Steuersätze ist seit-dem um mehr als ein Drittel gefal-len; im Jahr 2003 lag er bei etwa 32Prozent (Abbildung 1).

Es gibt wenige Anzeichen dafür,dass sich diese Abwärtsspirale ab-

schwächt. Österreich bietet dafür eingutes Beispiel: Ende der 80er- undAnfang der 90er-Jahre wurde dortder Unternehmensteuersatz (Körper-schaftsteuer plus Gewerbesteuer) in-nerhalb weniger Jahre drastisch ge-senkt – von über 60 auf 34 Prozent.Nachdem dieser Satz lange Zeit zuden niedrigsten in Europa gehörteund somit stabil war, kündigte dieösterreichische Regierung kürzlicheine neuerliche Senkung auf 25 Pro-zent an – nicht zuletzt als Reaktionauf die relativ niedrigen Körper-schaftsteuern in den neuen EU-Mit-gliedsländern.

DER ABWÄRTSTREND

HAT VIELE URSACHEN

Natürlich ist der Steuerwettbewerbnicht die alleinige Ursache für denAbwärtstrend. Viele Regierungenhatten auch andere Gründe, dieSteuersätze zu senken und im Ge-genzug die steuerliche Bemessungs-grundlage zu verbreitern. Diegroßzügigen Investitionsanreize, diein Kombination mit hohen Steuer-sätzen gewährt worden waren, grif-fen tief in die Struktur der Investi-tionen ein und verzerrten somitMarktprozesse. Diese Verzerrungen

sollten abgebaut werden. Dass derSteuerwettbewerb indes tatsächlicheine zentrale Triebkraft hinter denSteuersatzsenkungen darstellt, zeigtsich an Folgendem: Im Zuge der Ab-wärtsentwicklung hat sich zwar dieVariation der Steuersätze in den fort-geschrittenen Industriestaaten nichtverkleinert – schwankten sie vor derReformwelle zwischen 62 und 42Prozent, so variieren sie heute zwi-schen 33 und 13 Prozent –, aber diePosition einzelner Länder innerhalbder Steuersatzverteilung hat sich zu-nehmend an der Ländergröße ausge-richtet (Abbildung 1). Genau dies hatdie ökonomische Theorie des asym-metrischen Steuerwettbewerbs vor-hergesagt. Einem kleinen Land fälltes leichter, die Steuersätze zu senken,weil die eigene Steuerbasis relativklein ist im Vergleich zu der, die esdurch einen niedrigen Steuersatz im-portieren kann. Anders formuliert:Hebt ein großes Land den Steuersatz

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WISSEN aus erster Hand

Körperschaftsteuersatz kann gleich-sam zum Loch im Eimer werden,durch das ein Teil der Kapitaleinkom-men der progressiven Besteuerungverloren geht.

Ideal wäre es deshalb aus inner-staatlicher Perspektive, wenn derSpitzensteuersatz der Einkommen-steuer mit dem Körperschaftsteuer-satz übereinstimmt. Genau dies warlange Zeit ein zentrales Prinzip derSteuerpolitik in Deutschland und ineinigen anderen Ländern. Die An-gleichung der beiden (Spitzen-)Steu-ersätze wurde als notwendig angese-hen, um sich dem Ideal einer „syn-thetischen“ Einkommensteuer an-zunähern. Gemäß diesem Ideal sol-len alle Einkommen gemeinsam undgleichmäßig besteuert werden. Be-stimmte Einkunftsarten sollen nichtgegenüber anderen steuerlich bevor-zugt werden – und dementsprechendsollen auch (einbehaltene) Gewinnevon Kapitalgesellschaften nicht ge-ringer besteuert werden als etwa dieGewinne von Personengesellschaf-ten, aus Bankzinsen oder Arbeits-einkommen.

Der Steuerwettbewerb hat dieDurchsetzung des Prinzips gleicher

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GESELLSCHAFTSforschung

turen dar, die von politischen Akteu-ren erst in kollektiv verbindlicheEntscheidungen übersetzt werdenmüssen. Statistische Analysen zei-gen, dass in diesem Prozess vor al-lem zwei Variablen eine Rolle spie-len: die ideologische Ausrichtungder Regierungen auf nationaler oderföderalstaatlicher Ebene und dasAusmaß der Machtteilung in politi-schen Systemen – das Ausmaß also,in dem Regierungen gezwungensind, die Präferenzen weiterer Akteu-re wie Oppositionsparteien, Verfas-sungsgerichten oder gliedstaatlicherRegierungen einzubeziehen.

Bei der Festlegung der Körper-schaftsteuersätze sind politisch-in-stitutionelle Faktoren mittlerweilevon untergeordneter Bedeutung. Diedurch den Steuerwettbewerb gesetz-ten Anreize sind so stark, dass sichdie Positionen rechter und linkerParteien deutlich angleichen. Es istdeshalb vergleichsweise unbedeu-tend, welche Parteien regieren undwie stark sie auf Kompromisse mitanderen Akteuren angewiesen sind.Linksgerichteten Regierungen, wie inSkandinavien oder in Deutschland,

halb ist in den meisten Sozialversi-cherungsländern die Besteuerung derArbeitseinkommen innerhalb derEinkommensteuer vergleichsweiseprogressiv ausgestaltet – mit höhe-ren Spitzensteuersätzen als Folge.

LOGIK IM SCHNITTFELD

DER KRÄFTE

Am Ideal der synthetischen Ein-kommensteuer wird also gleichsamaus zwei unterschiedlichen Richtun-gen gezerrt. Die Festlegung der Kör-perschaftsteuersätze folgt in großemMaße der ökonomischen Logik desinternationalen Steuerwettbewerbs.Die Festlegung der (Spitzen-)Steuer-sätze der persönlichen Einkommen-steuer folgt dagegen viel stärker ei-ner innerstaatlichen, eher politischbestimmten Logik, für die das histo-risch gewachsene Niveau sozialstaat-licher Absicherung und somit auchdas Niveau der Steuer- und Abga-benbelastung des Faktors Arbeit vonzentraler Bedeutung ist.

Im Schnittfeld dieser Kräfte habenanspruchsvolle Formen einer syn-thetischen Einkommensbesteuerungkaum eine Chance. Am ehesten ist dieAngleichung von Körperschaft- undSpitzensteuersatz in großen Ländernmit niedriger Steuer- und Abgaben-belastung möglich. In den USA etwalagen beide Steuersätze im Jahr 2003– unter Einbeziehung variierenderSteuersätze in den Einzelstaaten – beidurchschnittlich etwa 39 Prozent.Umgekehrt ist eine Satzangleichungin kleinen Ländern mit hoher Steuer-und Abgabenbelastung in weite Fer-ne gerückt. In Dänemark beträgt dieSpanne 29 Prozentpunkte, in Schwe-den 28, in Österreich demnächst 25,in Finnland 24, in Belgien 22,5 undin den Niederlanden 17,5 Prozent-punkte. Nicht zuletzt deshalb habensich diese und andere Länder vomIdeal einer synthetischen Einkom-mensteuer verabschiedet. Viele vonihnen orientieren sich stattdessen amModell einer dualen Einkommensteu-er, das in den skandinavischen Län-dern entwickelt wurde.

Dieses Modell erkennt an, dass dieBesteuerung von Kapital- und Ar-beitseinkommen unterschiedlichen

Anforderungen und Beschränkungenunterliegt und versucht deshalb, einemöglichst systematische Trennliniezwischen den beiden Bereichen derEinkommensteuer zu ziehen. Alle Ka-pitaleinkommen werden mit einemniedrigen, proportionalen Steuersatzbelegt, der dem Körperschaftsteuer-satz entspricht. So wird zumindestinnerhalb der Kapitalbesteuerung amIdeal einer gleichmäßigen Besteue-rung festgehalten, vor allem um in-effiziente Eingriffe in die dezentralenProzesse an den Kapitalmärkten zuvermeiden. Arbeitseinkommen wer-den dagegen progressiv und mit einem höheren Spitzensteuersatz be-steuert. Dies erleichtert den Regie-rungen die Verfolgung ihrer ver-teilungs- und haushaltspolitischenZiele, führt jedoch zu neuen adminis-trativen Problemen bei der Unter-scheidung von Arbeits- und Kapital-einkommen, beispielsweise bei Per-sonengesellschaften.

Aber natürlich ergibt sich dieStruktur der Einkommensbesteue-rung nicht allein aus Variablen wieLändergröße oder Abgabenquote.Diese Faktoren stellen Anreizstruk-

(Spitzen-)Steuersätze für Kapitalge-sellschaften und Personen für diemeisten Länder unmöglich gemachtoder zumindest stark verteuert. Wirdnämlich der Spitzensteuersatz derpersönlichen Einkommensteuer aufdas im Steuerwettbewerb verträgli-che Niveau der Körperschaftsteuerheruntergesetzt, so schwappt derSteuerwettbewerb gleichsam in dieBesteuerung der weniger mobilenEinkommensarten über. Dieses Prob-lem betrifft insbesondere die Löhne,die für die Steuerbasis des Sozial-staats von viel größerer Bedeutungsind als die Kapitaleinkommen. Einestarke Absenkung des Spitzensteuer-satzes würde in vielen Ländern ent-weder zu großen Einnahmeausfällenoder einer reduzierten Steuerpro-gression führen – oder zu beidem.

Für den erwähnten Sonderfall Est-land ist dies am offensichtlichsten:Senkt man auch den Spitzensteuer-satz der Einkommensteuer auf null,fiele das Steueraufkommen der Ein-kommensteuer von etwa 8,5 Prozentdes Bruttoinlandsprodukts ganz weg.Dies entspricht etwa einem Vierteldes estnischen Gesamtaufkommensaus Steuern und Abgaben. Wenigerhypothetisch stellt sich das Problemfür Länder wie Irland oder Däne-mark dar.

AGIEREN IN

ENGEN SPIELRÄUMEN

Irland verfolgt seit Jahrzehnten eine offensive Strategie steuerpoli-tischer Anreize für ausländische Investitionen und hat den Körper-schaftsteuersatz auf 12,5 Prozent gesenkt. Würde sich der Spitzensteu-ersatz der persönlichen Einkommen-steuer ebenfalls auf diesem Niveaubewegen, wäre es unmöglich, dasAufkommen aus der Einkommen-und Körperschaftsteuer (in den ver-gangenen Jahren 13 bis 14 Prozentdes Bruttoinlandsprodukts) aufrechtzu erhalten. Irlands Spitzensteuersatzwurde deshalb zwar in den letztenbeiden Jahrzehnten deutlich abge-senkt – aber doch nur auf 42 Prozent.

Noch enger sind die Spielräume ineinem Land wie Dänemark, dessenEinkommensteueraufkommen mit

fast 30 Prozent mehr als doppelt sogroß ist wie das von Irland. Auchhier sah sich die Politik gezwungen,den Körperschaftsteuersatz auf 30Prozent festzulegen, ohne dass eineentsprechende Absenkung des Spit-zensteuersatzes auch nur denkbar ge-wesen wäre. Auch bei drastischer Bereinigung der Steuerbasis undvollständiger Abschaffung jeglicherSteuerprogression wäre eine aufkom-mensneutrale Absenkung des Spit-zensteuersatzes für Arbeitseinkom-men auf 30 Prozent unmöglich ge-wesen; derzeit beträgt er 59 Prozent.

Vor diesem Hintergrund verwun-dert es nicht, dass sich die Spitzen-steuersätze der persönlichen Ein-kommensteuer in den fortgeschritte-nen Industriestaaten nicht an derLändergröße ausgerichtet haben. Eszeigt sich vielmehr ein statistischsignifikanter Zusammenhang zwi-schen dem Niveau der direkten Be-steuerung von Arbeitseinkommen(persönliche Einkommensteuer undSozialabgaben in Prozent des Brut-toinlandsprodukts) und den Spitzen-steuersätzen (Abbildung 3). Hinterdiesem Zusammenhang stehen zweiverschiedene Mechanismen.

In Staaten wie Dänemark, die Ar-beitseinkommen hauptsächlich überdie Einkommensteuer belasten, er-gibt sich aus einem höheren Niveauder Lohnbesteuerung in der Regelauch ein höherer Spitzensteuersatz.In „Sozialversicherungsländern“ wieDeutschland oder den Niederlandenwerden Arbeitseinkommen dagegenweniger über die Einkommensteuerund zusätzlich durch Sozialabgabenbelastet. In diesen Ländern wärenniedrigere Spitzensteuersätze leichterzu erreichen, weil das Aufkommenaus der Einkommensteuer ver-gleichsweise gering ist. Gleichzeitigwerden die Löhne aber in viel größe-rem Maße außerhalb der Einkom-mensteuer durch die Sozialabgabenbelastet. Diese sind vom ersten Euroan zu zahlen, werden aber häufigoberhalb einer bestimmten Beitrags-bemessungsgrenze nicht mehr fällig.Als Steuer betrachtet sind Sozialab-gaben also proportional und teils re-gressiv ausgestaltet. Wohl auch des-

Abb. 1: Entwicklung der Unternehmensteuersätze (Körper-schaftsteuer plus Gewerbesteuern) und der Korrelation zwi-schen diesen Sätzen und der Ländergröße (natürlicher Loga-rithmus der Bevölkerung) 1980 bis 2003 in 21 Ländern.

Unternehmensteuersatzin %

Korrelation Steuersatzund Ländergröße

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1985 1990 1995 20001980

ANMERKUNG: UNTERNEHMEN-STEUERSATZ: EINSCHL. LOKALER

STEUERN UND ZUSCHLÄGE, UNGEWICHTIGER DURCHSCHNITT

FÜR 21 OECD-LÄNDER; LÄNDERGRÖSSE: NATÜRLICHER

LOGARITHMUS DER BEVÖLKE-RUNG (IN MIO., JAHR 1996);KORRELATION: PEARSONS

R-KORRELATIONSKOEFFIZIENT.

QUELLEN: BEVÖLKERUNG: OECD STATISTICAL

COMPENDIUM; UNTERNEHMENSTEUERSÄTZE:KPMG UND BUNDESMINISTERIUM DER FINANZEN.

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ANMERKUNG: UNTERNEHMEN-STEUERSATZ: EINSCHL. LOKALER

STEUERN UND ZUSCHLÄGE, LÄNDERGRÖSSE: NATÜRLICHER

LOGARITHMUS DER BEVÖLKE-RUNG (IN MIO.)

QUELLEN: BEVÖLKERUNG: UNTERNEHMENSTEUERSÄTZE:KPMG UND BUNDESMINIS-TERIUM DER FINANZEN; BEVÖLKERUNG UND

PRO-KOPF-EINKOMMEN:WELTBANK/WORLD

DEVELOPMENT INDICATORS

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Variation der Ländergröße nach statistischer Kontrolle für Pro-Kopf-Einkommen

Abb. 2: Partieller Zusammenhang zwischen Ländergröße und Körperschaftsteuersatz, 2003.

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WISSEN aus erster Hand

einer Flat Tax überzugehen, bei derjeder Steuerzahler denselben niedri-gen Grenzsteuersatz zahlt, der demKörperschaftsteuersatz entspricht.

Duale Einkommensteuer: Ent-scheidet sich die Regierung dagegenfür eine Variante der dualen Einkom-mensteuer, kann sie flexibler auf den Steuerwettbewerb reagieren. Siemuss aber im Gegenzug die adminis-trativen Schwierigkeiten akzeptierenund bewältigen, die eine Trennungvon Arbeits- und Kapitaleinkommenin der Praxis mit sich bringt.

Im internationalen Vergleichdurchaus außergewöhnlich sind al-lerdings die institutionellen Bedin-gungen, unter denen die deutschePolitik diese Entscheidung treffenmuss. Denn Deutschland gehört zuden politischen Systemen mit dergrößten institutionellen Machttei-lung. Eine systematische und durch-greifende Reform der Einkommen-steuer benötigt im verflochtenendeutschen Föderalismus zum einenbreite und schwer zu findende Mehr-heiten in Bundestag und Bundesrat;zum anderen gibt es in Deutsch-land enge verfassungsrechtliche Be-schränkungen für die Steuerpolitik,die von einem mächtigen Verfas-sungsgericht interpretiert und durch-gesetzt werden.

Welchen Weg die Bundesrepublikbei der Gestaltung der Einkommen-steuer im Prozess der Globalisierungeinschlägt, ist deshalb schwer vor-herzusagen. Sicher ist nur: Es wirdein beschwerlicher Weg sein. ●

fiel es häufig sogar leichter, den Kör-perschaftsteuersatz stark zu senken,da sie das Ideal einer synthetischenEinkommensteuer mit angeglichenenSpitzensteuersätzen gar nicht mehrverfolgten.

PARTEIEN SUCHEN

DEN WÄHLER IN DER MITTE

Bei der Festlegung der Grenzsteu-ersätze der progressiven Einkom-mensteuer sind politisch-institutio-nelle Variablen bedeutender. Diesliegt nicht zuletzt daran, dass dieHöhe der Steuer- und Abgabenbelas-tung zumindest mittelfristig poli-tisch veränderbar ist. Konservativeund liberale Parteien verfolgen des-halb in einigen Ländern die Sen-kung und Abflachung der progressi-ven Einkommensteuer als Teil einerGesamtstrategie zur Zurückdrän-gung des Staatssektors. Trotzdemsind die Auswirkungen von Regie-rungswechseln auf das Niveau unddie Struktur der Einkommensbe-steuerung in den fortgeschrittenenwestlichen Industrieländern häufigbegrenzt. Dies liegt daran, dass diePolitik in den meisten dieser Ländereine stark „zentripetale“ Tendenzhat: Regiert wird zumeist in Koali-tionen mehrerer Parteien, deren Po-litik sich an der Mitte des Wähler-spektrums (dem „Median-Wähler“)ausrichtet. So haben sich etwa inden Niederlanden oder in Österreichauch Mitte-Rechts-Koalitionen dafür

entschieden, den Spitzensteuersatzbei 50 Prozent oder mehr zu belas-sen und somit eine starke Spreizungzum Körperschaftsteuersatz zu ak-zeptieren.

Deutlicher treten parteipolitischeUnterschiede immer dann hervor,wenn Regierungen aus nur einerPartei bestehen, eine absolute Mehr-heit im Parlament besitzen und sichkeinen starken Vetoakteuren ge-genüber sehen. So haben etwa links-gerichtete Einparteienregierungen inSpanien und Griechenland an ver-gleichsweise hohen Einkommensteu-ersätzen festgehalten, während rechts-gerichtete Einparteienregierungen inGroßbritannien und Neuseeland dieSpitzensteuersätze stark abgesenkthaben. Neuseeland ist auch dasLand, das trotz des Steuerwettbe-werbs und seiner geringen Größeviele Jahre am Ideal einer syntheti-schen Einkommensteuer festgehaltenhat. Gegen gesellschaftlichen Wider-stand senkte die Regierung den Spit-zensteuersatz innerhalb kurzer Zeitvon 66 auf 33 Prozent, um ihn an ei-nem wettbewerbsfähigen Körper-schaftsteuersatz auszurichten. Auchin Neuseeland war dies jedoch aufDauer nicht durchzuhalten. Einelinksgerichtete Koalitionsregierungerhöhte den Spitzensteuersatz imJahr 2000 auf 39 Prozent, und eineweitere Absenkung des Körper-schaftsteuersatzes ist wohl nur eineFrage der Zeit.

Die Befunde des internationalenVergleichs zeigen, dass die kontrover-se Diskussion über die Zukunft derEinkommensteuer in Deutschlandnicht außergewöhnlich ist. Wie in an-deren Ländern geht es um die Grund-entscheidung zwischen den zwei ein-gangs erwähnten Reformpfaden.

Flat Tax: Hält die Politik amIdeal der synthetischen Einkommen-steuer fest, dann muss sie bereit sein, die Einkommensteuerprogres-sion deutlich abzusenken oder dasAufkommen aus der Einkommen-steuer deutlich zu reduzieren – ent-weder durch Ausgabenkürzungenoder durch eine weitere Verlagerungder Steuerlast auf Sozialabgaben undKonsumsteuern. Letztlich muss sie zu

DR. STEFFEN GANGHOF

(Jahrgang 1971) istseit 1998 wissen-schaftlicher Mitarbeiterund seit 2003 Mitgliedder Forschungsgruppe„Politik und politischeÖkonomie" am Max-Planck-Institut für

Gesellschaftsforschung. Er studierte Politik-wissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Soziologie an der Universität Göttingen, der Freien Universität Berlin und der Stan-ford University und promovierte im Jahr2003 an der Universität Bremen. Seine Forschungsinteressen gelten der politischenÖkonomie fortgeschrittener Industriestaatenund der vergleichenden Analyse politischerInstitutionen.

Abb. 3: Zusammenhang zwischen Einnahmen der persönlichen Einkommensteuern und Sozialabgaben und Spitzensteuersätzen der Einkommensteuer, 2003.

Einnahmen der persönlichen Einkommensteuern und Sozialabgaben in Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

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ANMERKUNG: EINNAHMEN: 1998 -2002, EINSCHL. LOHNSUMMENSTEUERN; SPITZENSTEUERSÄTZE: EINSCHL. LOKALER STEUERN UND ZUSCHLÄGE

OUELLEN: EINNAHMEN: OECD REVENUE STATISTICS; SPITZENSTEUER-

SÄTZE: BUNDESMINISTERIUM

DER FINANZEN, NATIONALE QUELLEN

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FORSCHUNG & Gesellschaft

Weniger ist mehr: Das meinen viele, wenn es um das Thema Kündigungsschutz geht.

Nicht zuletzt Politiker suggerieren, dass sich so die Zahl der Arbeitslosen erheblich reduzieren

ließe. ALEXANDER GRASER vom MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR AUSLÄNDISCHES UND

INTERNATIONALES SOZIALRECHT in München sieht für diese Hoffnung wenig Anhaltspunkte.

Stattdessen, so sagte er im Gespräch mit MAXPLANCKFORSCHUNG, sollte man Arbeits- und Sozial-

recht besser verzahnen. Und wenn man schon auf die USA als Beispiel vermeintlich fehlenden

Kündigungsschutzes blickt, könnte man vielmehr deren „experience rating” diskutieren.

sogar einem politischen Attentatzum Opfer. Das zeigt auf bestürzendeWeise, wie emotionalisiert die Debat-te dort war. Auch in Spanien war esauf Grund des öffentlichen Drucksschier unmöglich, Änderungen zuerreichen, die Reform des Kündi-gungsschutzes musste per Not-standsgesetz beschlossen werden.Aber es gibt natürlich auch Gegen-beispiele von Ländern, wo dem Kün-digungsschutz traditionell keine her-vorgehobene Bedeutung zugemessenwird. In den USA etwa wären derar-tig heftige Auseinandersetzungen zudiesem Thema kaum denkbar.

MPF: Seit wann gibt es den Kündi-gungsschutz bei uns?GRASER: Ein erster Schritt war das Be-triebsrätegesetz von 1920. Für denFall, dass einem Arbeitnehmer zuUnrecht gekündigt wurde, sollte derUnternehmer eine Abfindung zahlen.Solche Ansätze gab es damals auchin anderen Ländern. Ähnliche Wur-zeln finden sich selbst in einigenGliedstaaten der USA, die aber spätereine ganz andere Entwicklung ge-nommen haben. In Deutschlandwurde aus dem Abfindungssystemim Lauf der Zeit ein individuellesKündigungsschutzrecht, weg von derGeldleistung, die allein den Einkom-mensverlust abfedern sollte, hin zumErhalt des Arbeitsverhältnisses. An-ders in den USA, wo das Verfas-sungsgericht derlei sozial motivierteRegulierungen des Arbeitsverhältnis-ses lange Zeit verhindert hat. Aller-dings hat sich dort auch später, alsdiese verfassungsrechtlichen Schran-ken längst gefallen waren, kein Kün-digungsschutz nach hiesigem Musterdurchsetzen können.

MPF: Die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten könnten keinMaßstab für uns sein, sagen die Gewerkschaften. GRASER: Ich denke, bei uns besteht einbreiter gesellschaftlicher Konsensdarüber, dass ein System des „hireand fire“ nicht akzeptabel wäre. Eineandere Frage ist, inwieweit das Bildzutrifft, das man hier zu Lande von

Soziale SICHERHEIT

„Kündigungsschutzwird überbewertet“

MAXPLANCKFORSCHUNG: Seit Jahrenliegt die Zahl der Arbeitslosen inDeutschland bei mehr als vier Millio-nen. Ist der Kündigungsschutz nocheine sinnvolle Einrichtung, wenn erKündigungen nicht verhindern kann?ALEXANDER GRASER: Auf den erstenBlick könnte man darin wirklich einVersagen des Kündigungsschutzessehen. Allerdings war der Kündi-gungsschutz nie darauf ausgerichtet,alle Kündigungen zu verhindern,gleich aus welchem Grund sie vorge-nommen werden. Außerdem kannman nicht nur durch Kündigung ar-beitslos werden. Es kann auch sein,dass der Arbeitgeber Pleite geht oder

dass man erstmals einen Jobsucht. Dementsprechend

wird dem Kündigungs-schutz derzeit auchmeist der umgekehrteVorwurf gemacht,nämlich dass er all-zu viele Kündigun-gen verhindere: Ersei so weitrei-chend, dass er die

te Wirkung hätte. Es ist zwar richtig,dass wir in Deutschland ein beson-deres Problem mit den Einstel-lungschancen älterer Arbeitnehmerhaben. Aber der Kündigungsschutzist hier wieder nur eine unter vielendenkbaren Ursachen. Manche schrei-ben zum Beispiel der Lohnstruktureine entscheidende Rolle zu und ver-weisen darauf, dass ältere Arbeitneh-mer bei uns vergleichsweise viel ver-dienen. Andere sehen den Grundeher darin, welches Bild man von derLeistungsfähigkeit älterer Arbeitneh-mer hier zu Lande hat. Angesichtsdieser Ungewissheit über die Ursa-chen sollte man sich solche Ein-schnitte, wie sie Herr Merz vor-schlägt, gründlich überlegen.

MPF: Welche gesellschaftliche Funk-tion hat der Kündigungsschutz?GRASER: Zum einen ist der Kündi-gungsschutz dazu da, bestehendeBeschäftigungsverhältnisse zu si-chern. Es geht um persönliche Pla-nungssicherheit und damit indirektauch um Stabilität für Familien.Außerdem hat die Frage, wie derKündigungsschutz gestaltet ist, im-mer auch Rückwirkungen auf dasArbeitsverhältnis. Wenn ein Arbeit-geber rasch und problemlos kündi-gen kann, dann stärkt das seine Po-sition auch im betrieblichen Alltag.Ist es dagegen praktisch unmöglich,einen Mitarbeiter zu entlassen, sowie das die Kritiker des bestehendenKündigungsschutzes suggerieren,dann sind umgekehrt die Arbeitneh-mer in einer besseren Lage.

MPF: Wenn man die Diskussion über den Kündigungsschutz verfolgt,gewinnt man den Eindruck: DieFronten sind seit vielen Jahren ver-härtet, die Argumente immer diegleichen. Ist das Thema in anderenLändern genauso umstritten? GRASER: Es sind nicht nur die Deut-schen, die sehr sensibel auf das The-ma reagieren. In Italien zum Beispielgab es scharfe Auseinandersetzun-gen. Ein Wissenschaftler, der als po-litischer Berater Änderungen zumKündigungsschutz ausarbeitete, fiel

Zeitpunkt der Entscheidung ab, vonder konkreten Situation des Unter-nehmens und sicherlich auch davon,wie der Kündigungsschutz öffentlichwahrgenommen wird. Der einstel-lungshemmende Effekt ist deswegenschon im Einzelfall kaum zu ermit-teln und noch schwieriger zu verall-gemeinern.

MPF: Seit Jahren streiten die Partei-en über den Kündigungsschutz. Wirddiese Dauerdiskussion den Realitätenüberhaupt gerecht?GRASER: In der öffentlichen Debattegeht es nahezu ausschließlich umdas Kündigungsschutzgesetz. Tat-sächlich gelten dessen Regelungenauch für das Gros der Kündigungen,aber keineswegs für alle: Ausgenom-men sind Arbeitnehmer, die erst seitkurzem beschäftigt sind oder die inkleineren Betrieben arbeiten. Umge-kehrt gibt es außerhalb des Kündi-gungsschutzgesetzes eine Vielzahlvon Spezialregelungen, die besonde-ren Schutz vor Kündigungen ge-währen, etwa für Arbeitnehmer mitBehinderungen, für Betriebsräte, fürwerdende Mütter oder auch im Fallvon Betriebsübergängen. Angesichtsdieser Vielfalt ist es umso schwerer,die Effekte von einzelnen dieser Nor-men zu ermitteln.

MPF: Der stellvertretende Fraktions-vorsitzende der Union, FriedrichMerz, hat gefordert, den Kündi-gungsschutz für Beschäftigte, die älter sind als 53, ganz abzuschaffen.Sein Argument: Die Unternehmerhätten endlich einen Anreiz, auchältere Arbeitskräfte einzustellen.Was halten Sie von diesem Vor-schlag?GRASER: Zunächst einmal nehme ichan, dass es Herrn Merz nur um sol-che Arbeitnehmer ging, die nachdem 53. Lebensjahr neu eingestelltwerden. Jedenfalls wäre es kaumnachvollziehbar, warum man auchden anderen, die seit langem eineStelle innehaben, den Schutz neh-men sollte. Aber auch in dieser ein-geschränkten Form ist sehr zweifel-haft, ob der Vorschlag die gewünsch-

Arbeitgeber davon abschrecke, Stel-len neu zu besetzen. Der Kündi-gungsschutz gerät in dieser Perspek-tive oft zum Symbol für die Überre-gulierung des deutschen Arbeits-marktes. Ich halte aber auch dieseSicht für sehr problematisch.

MPF: Warum?GRASER: Wir wissen einfach viel zuwenig über diese Zusammenhänge.Natürlich ist es plausibel, dass derKündigungsschutz ein Hindernis fürNeueinstellungen darstellt. Aber em-pirisch kann man diese Wirkungkaum nachweisen, geschweige dennquantifizieren.

MPF: Gibt es dazu keine Studien?GRASER: Doch, aber die Materie istallzu komplex. Wenn ein Unterneh-men darüber entscheidet, ob es Ar-beitsplätze ins Ausland verlagert, obes Stellen abbaut oder neue schafft,dann spielen viele Faktoren eineRolle. Der Kündigungsschutz ist da-bei nur einer unter vielen. WelchesGewicht ihm zukommt, hängt vom FO

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FORSCHUNG & Gesellschaft

den USA zeichnet. Da wird in der öf-fentlichen Diskussion meist allzusehr vereinfacht. Denn selbst wennman in den USA auch heute nocham Grundsatz des „employment atwill“ festhält, gibt es doch inzwi-schen eine Vielzahl von Regelungen,die diese vermeintliche „Kündi-gungsfreiheit“ erheblich beschrän-ken. Ein besonders nahe liegendesBeispiel sind die Normen zum Schutzvor Diskriminierungen, die gerade inden USA besonders zahlreich undweit entwickelt sind. Wer zum Bei-spiel geltend machen kann, seinenArbeitsplatz aufgrund seiner Haut-farbe verloren zu haben, hat guteAussichten, den Prozess um die Kün-digung zu gewinnen. Und es gibt ei-ne Vielzahl anderer Diskriminierun-gen, die ebenso verboten sind. Wennman demnach die Systeme in denUSA und hier wirklich vergleichenmöchte, müsste man all diese Rege-lungen in den Blick nehmen. Undman müsste darüber hinaus auch be-trachten, wie sie in der Praxis wir-ken. Denn nicht nur bei uns, auch inden USA gelten zum Beispiel dieProzesse um Kündigungen als Prob-lem, weil sie aufwändig, langwierigund im Ergebnis oft schwer zu prog-nostizieren sein können.

MPF: Der Kündigungsschutz in denUSA enthält ein Element, das viel-leicht modellhaft für Deutschlandsein könnte, das so genannte „expe-rience rating”. Hat sich das bewährtund könnten wir es übernehmen?GRASER: „Experience rating” ist eineForm sozialrechtlichen Schutzes fürbestehende Arbeitsplätze. Das funk-tioniert im Prinzip wie die Kfz-Versi-cherung bei uns: Im Falle eines Un-falls erhöht sich automatisch die Prä-mie. In den USA behandelt man Ar-beitslosigkeit als vom Arbeitgeberverursachtes Risiko. Deshalb mussder Unternehmer höhere Beiträge indie Arbeitslosenversicherung einzah-len, je mehr Leute er – über einenlängeren Zeitraum betrachtet – ent-lässt. Man verspricht sich davonzunächst eine allgemein beschäfti-gungsfördernde Wirkung. „Experien-

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Arbeitnehmern. Früher waren fünfdie Grenze. Allerdings gibt es eineÜbergangsregelung: Für Arbeitsver-träge, die vor der Änderung ge-schlossen wurden und die bisher un-ter den Kündigungsschutz fielen,bleibt dieser Schutz so lange beste-hen, wie dies bei Anwendung desbisherigen Schwellenwertes der Fallgewesen wäre.

MPF: Wie sieht es mit der Mög-lichkeit aus, künftig mehr auf Ab-findungen zu setzen, um lange Prozesse vor dem Arbeitsgericht zu vermeiden?GRASER: Bei betriebsbedingten Kündi-gungen hat man einen vorsichtigenSchritt in diese Richtung unternom-men: Danach bekommt der Arbeit-nehmer eine pauschalierte Abfin-dung von einem halben Monatsver-dienst pro Beschäftigungsjahr – vo-rausgesetzt, der Arbeitgeber hat ihnim Kündigungsschreiben auf dieseMöglichkeit hingewiesen und derArbeitnehmer verzichtet auf eineKlage.

MPF: Hat sich denn aus Ihrer Sichtder Kündigungsschutz in Deutsch-land bewährt?GRASER: Ich halte den Kündigungs-schutz für eine wichtige Institution.Er bietet Planungssicherheit für denEinzelnen und prägt den Umgangzwischen Arbeitgeber und Arbeit-nehmer – selbst dann, wenn es über-haupt nicht zur Kündigung kommt.Gleichzeitig steht außer Frage, dassder Kündigungsschutz auch Schat-tenseiten hat. Deswegen kann mansich durchaus darüber streiten, wieviel Kündigungsschutz sinnvoll ist,ebenso wie über die Frage, wie derKündigungsschutz im einzelnen aus-gestaltet werden sollte. Da gibt esnoch viel Raum für Verbesserungen,und es ist gut, wenn weiter über Re-formen nachgedacht wird. Nur sollteman sich dabei nicht vormachen,dass hier der Schlüssel zur Lösungunserer Probleme mit dem Arbeits-markt liegt. Da werden die Wirkun-gen des Kündigungsschutzes oftüberbewertet. INTERVIEW: CHRISTIAN MAYER

Maßnahmen der Arbeitgeberergriffen hat, ob der Be-

triebsrat ordnungs-gemäß eingeschaltetwurde und so weiter,und so weiter. Kurz:Solche Verfahren sindschwierig, sowohl wasdie Fakten betrifft, als

auch wenn es darum geht, das in-zwischen hoch ausdifferenzierteRecht anzuwenden. Da kann es langedauern, bis ein Fall ausgefochten ist,umso mehr natürlich, als man auchhier mehrere Instanzen hat und dieGerichte mit einer Vielzahl anhängi-ger Verfahren zu kämpfen haben.

MPF: Sollte man Maßnahmen zurVerkürzung der Verfahren treffen? GRASER: Wünschenswert wären sol-che Verkürzungen ohne Frage. Dennlange und komplizierte Verfahrensind nicht nur aufwändig für beideSeiten, sie bedeuten auch erheblicheUnsicherheit. Beides sind Reibungs-verluste, die niemandem nutzen. DasProblem ist nur, dass nicht ohneweiteres Abhilfe zu schaffen ist.Denn das bestehende System mit all seinen Differenzierungen undVerfahrensgewährleistungen hat jadurchaus seinen Sinn. Vereinfachun-gen bedeuten da nahezu zwangsläu-fig auch Abstriche in puncto Einzel-fallgerechtigkeit oder Rechtsstaat-lichkeit. Und wenn man wollte, dassdie Gerichte schneller arbeiten, dannbräuchte man realistischerweiseauch Geld für mehr Personal. Einfa-che Lösungen gibt es also auch hiernicht. Aber es lohnt sich wohl den-noch, in dieser Richtung nach Ver-besserungsmöglichkeiten zu suchen.

MPF: Auch in Deutschland gibt eszaghafte Reformbemühungen. Washat sich denn durch die Gesetzes-reform vom 1. Januar 2004 beimKündigungsschutz verändert?GRASER: Es gibt zwei wesentliche Än-derungen: Zum einen hat man in derKleinbetriebsklausel die Schwelle fürdie Geltung des Kündigungsschutzesangehoben. Der Schutz greift künftigerst in Betrieben mit mehr als zehn

ce rating“ hat aber auch einen spezi-ell bestandsschützenden Effekt. Denneine Neueinstellung kompensiert eineEntlassung nur teilweise. Es bleibtein Malus für den Arbeitgeberbeitragzur Arbeitslosenversicherung zurück.

MPF: Wie könnte man das Modell des „experience rating“ indas deutsche System einbauen?GRASER: Das amerikanische Modell istkeine Möglichkeit, unseren individu-alrechtlichen Kündigungsschutz adä-quat zu ersetzen. Man könnte sichaber vorstellen, in den Bereichen, indenen wir mit unserem System Prob-leme haben, etwa bei Kleinbetrie-ben, eine Form des „experience ra-ting“ einzuführen. Schließlich giltder allgemeine Kündigungsschutzderzeit nur in Betrieben, deren Mit-arbeiterzahl über einem gesetzlichbestimmten Schwellenwert liegt. Da-hinter steht die Einschätzung, dasssolche Kleinbetriebe überfordert wer-den könnten, wenn sie die Kostenund insbesondere den Verwaltungs-aufwand einer Kündigungsschutz-klage zu tragen hätten. Hier könnte„experience rating“ eingreifen: fi-nanzielle Anreize also für den Unter-nehmer, der weniger in die Arbeits-losenversicherung einzahlt, wenn erkeine Entlassungen vornimmt. Sowürde auch in kleinen Betrieben eineForm von Bestandsschutz gewährt,ohne dass damit die besonderen Be-lastungen eines möglichen Prozessesverbunden wären.

MPF: Würde das nicht auf eine Ausweitung des bisherigen Bestandsschutzes hinauslaufen?GRASER: Nicht zwangsläufig. Denn derEinsatz von „experience rating“ ist jaunabhängig davon, ab wie vielen Ar-beitnehmern die Kleinbetriebsaus-nahme greift – ab fünf, wie es die bis-herige Untergrenze war oder ab 20,wie es beispielsweise der bayerischeMinisterpräsident gefordert hat. „Ex-perience rating“ bewirkt hier nur eineAufweichung der Grenze. Bisher hatdie Politik nur mit der Alternativeoperiert, das Kündigungsschutzgesetzentweder volle Anwendung finden

zu lassen oder aber ganz auszu-setzen. „Experience rating“ würde ei-ne differenzierende Lösung erlauben.

MPF: Gibt es derartige Ansätze bereits in der Reformdiskussion?GRASER: Die Hartz-Kommission hatein Modell erwogen, das dem „expe-rience rating“ stark ähnelt. Auch dortging es darum, in die Arbeitslosen-versicherung finanzielle Belohnun-gen für Unternehmen aufzunehmen,die eine günstige Beschäftigungsbi-lanz vorweisen können. Leider habendiese Ansätze kaum Beachtung ge-funden. Überhaupt leidet die Reform-debatte bei uns daran, dass arbeits-rechtliche Instrumente, wie etwa un-ser Kündigungsschutz, zu selten imZusammenhang mit sozialrechtlichenModellen, wie eben dem „experiencerating“, gesehen werden.

MPF: Wie sieht die Praxis der Kündigungsprozesse bei uns aus? GRASER: Ganz anders, als es ein Blickins Kündigungsschutzgesetz vermu-ten ließe. Denn der gesetzliche Re-gelfall ist, dass ein Arbeitnehmerweiterbeschäftigt werden muss,wenn seine Kündigung nicht ge-rechtfertigt war. In der Praxis ist die-ses Ergebnis jedoch die Ausnahme.

MPF: Woran liegt das?GRASER: Zunächst sieht das Prozess-recht vor, dass es zu Beginn einesKündigungsschutzprozesses eine Gü-teverhandlung gibt: Der Richter hörtsich den Fall an und deutet an, wieder Prozess wahrscheinlich laufenwird. Er macht den Beteiligten vorallem klar, dass ein Verfahren auf-wändig werden kann und dass esbesser ist, sich schnell zu einigen.Dieser Verfahrensschritt hilft oft, denProzess frühzeitig zu beenden, etwaindem sich beide Seiten auf eine Ab-findung einigen. Aber auch, wenn eskeine Einigung gibt und der Prozessweitergeht, steht am Ende nicht un-bedingt die Weiterbeschäftigung desArbeitnehmers, selbst wenn er ge-winnen sollte. Denn oft können bei-de Seiten nach einer gerichtlichenAuseinandersetzung gar nicht mehr

Soziale SICHERHEIT

vernünftig zusammenar-beiten. Oder aber der Klägerhat inzwischen einen neu-en Job. Deswegen spielenin der Praxis auch hierAbfindungen eine gro-ße Rolle, obwohl sie imGesetz ursprünglichnur als Ausnahmegedacht waren.

MPF: Sollte der Gesetzgeber hier nicht gegensteuern?GRASER: Zumindest muss man sichfragen, welchem Zweck der Kündi-gungsschutz dienen soll. Abfindun-gen sind vor allem dazu geeignet,den Einkommensverlust zu über-brücken, bis der Entlassene einenneuen Job gefunden hat. Das Prob-lem ist nur, dass wir dafür auch dieArbeitslosenversicherung haben. Denentstehenden Überlappungen trägtdas Gesetz bisher nicht überzeugendRechnung. Wieder wäre es also wün-schenswert, wenn die Zusammen-hänge von Kündigungsschutz undSozialversicherung stärker berück-sichtigt würden.

MPF: Eigentlich wäre doch jeder entlassene Arbeitnehmer gut beraten,zu klagen, um eine möglichst hoheAbfindung herauszuschlagen?GRASER: Ich bin da sehr vorsichtig.Man weiß zum Beispiel, dass diegroße Mehrheit entlassener Arbeit-nehmer sich nicht gerichtlich wehrtgegen ihre Kündigung. Nun kann dasviele Ursachen haben. In jedem Fallaber spricht es dagegen, dass Arbeit-nehmer von der Klagemöglichkeitexzessiven Gebrauch machen, nurum auch noch eine Abfindung „mit-zunehmen“. Dafür sind solche Pro-zesse auch für sie zu aufwändig.

MPF: Warum dauern Kündigungs-prozesse oft so ermüdend lange?GRASER: In den Prozessen geht es da-rum, dem Einzelfall gerecht zu wer-den. Da wird dann zum Beispiel ge-fragt, wie oft und wie viele Minutenein gekündigter Arbeitnehmer zuspät zur Arbeit erschienen ist, wasdie Gründe dafür waren, welche

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Erstaunliche TatsachenLewis Wolpert, UNGLAUBLICHE WISSEN-SCHAFT, 312 Seiten, Eichborn Verlag,Frankfurt am Main 2004, 27,50 Euro.

Lewis Wolperts Buch ist ein lan-ger Essay über das Verhältnis

der Naturwissenschaften zur Gesell-schaft, der schon 1992 unter dem Ti-tel The Unnatural Nature of Sciencein London veröffentlicht wurde. Fürdie deutsche Ausgabe wäre also derBuchtitel „Unnatürliche Wissen-schaft“ korrekt gewesen. In der Ein-leitung beklagt der Autor die wissen-schaftsfeindlichen Einstellungen ei-nes großen Teils der Bevölkerung:„Die Wissenschaft wird als materialis-tisch gesehen und als zerstörerische

Kraft für jede Art geistigenBewusstseins.“ Wolpert zi-tiert als Beleg D.H. Law-rence: „Wissen hat die Son-ne getötet und einen flecki-gen Ball aus Gas aus ihr ge-macht (...) Die Welt der Ver-nunft und der Wissenschaft(...) das ist die trockene undsterile Welt, die der abstrak-te Geist bewohnt.“ Lewis

Wolperts zentrale Erklärung für die-ses Phänomen ist, dass die Wissen-schaft grundsätzlich unnatürlich ist,weil sie ein spezielles Denken erfor-derlich macht, das sich vom Com-mon Sense unterscheidet. „Wissen-schaftliche Ideen“, schreibt der Au-tor, „sind mit wenigen Ausnahmenanti-intuitiv. Sie können nicht durchdie einfache Beobachtung von Phä-nomenen gewonnen werden und lie-gen oft außerhalb unserer Alltagser-fahrung.“

Beispiele für einen irreführendenCommon Sense nimmt Wolpert ausunserer häufigen Unfähigkeit, in sta-tistischen Wahrscheinlichkeiten zudenken und die Möglichkeit des Zu-falls einzukalkulieren, sowie aus derintuitiven Physik und Biologie vonKindern. Wenn man fünfmal hinter-einander eine Sechs würfelt, wiehoch ist dann die Wahrscheinlich-

keit, auch beim sechsten Mal eineSechs zu erhalten? Kinder hätten(Wolpert zitiert Piaget) eine spontaneTendenz zum Animismus und zumArtifizialismus, würden also vielesals belebt und mit einem eigenenWillen ausgestattet erleben und mei-nen, dass alles zu einem bestimmtenZweck geschaffen sei. In der Alltags-erfahrung kann man nicht erkennen,dass etwa die Empfindungen vonWärme und Kälte auf eine moleku-lare Bewegung zurückgehen. Auf ei-ne echte Definition dessen, was derCommon Sense ist, verzichtet Wol-pert letztlich, so wie er im Kapitel 6etwa betont, dass auch die wissen-schaftliche Methode nicht klar defi-nierbar ist. Kein Wunder, wo es dochan Max-Planck-Instituten ganze Ab-teilungen gibt, die menschliche All-tagstheorien und Heuristiken unter-suchen.

Gleichzeitig allerdings sollte mannicht alles so wörtlich nehmen, wiees in der deutschen Ausgabe geradeim ersten Kapitel steht: Wenn Kinderder Meinung sind, dass Pflanzen ihreNährstoffe aus dem Boden erhalten(S. 42), dann liegen sie im deutschenSprachgebrauch nicht falsch, wieWolpert meint, der Ernährung reinauf die Energiegewinnung bezieht –die Lehrstühle für Pflanzenernährungsollten sich sonst schnell umbenen-nen. Auch sagt das erste NewtonscheAxiom der Mechanik nicht (S. 22 f.),dass die gleichförmige Bewegung dennatürlichen Zustand eines physikali-schen Körpers darstellt, sondern dassein Körper, auf den keine Kräfte ein-wirken, entweder stillsteht oder sichgleichförmig bewegt. Die sprachlicheLogik geht hier noch mehrfach überStock und Stein, was vermutlich deroffenbar eiligen Übersetzung anzu-kreiden ist.

Von den weiteren Kapiteln widmetWolpert eines dem Unterschied zwi-schen Wissenschaft und Technik, diesich für ihn jahrhundertelang ge-trennt voneinander entwickelten. Erschildert anschaulich die Entstehungder Wissenschaft im alten Griechen-land und die Abhängigkeit der wis-

senschaftlichen Entwicklung von re-ligiösen und philosophischen Ideenin Ost und West. Im Kapitel überKreativität verneint er die Bedeutungdes Zufalls, der „Serendipity“, undzitiert Pasteur: „In der Wissenschaftbegünstigt das Glück nur den wohl-vorbereiteten Geist.“

Das Buch ist eine Tour d'horizon,eine Auseinandersetzung mit diver-sen Phänomenen, die die Haltunggegenüber der Wissenschaft beein-flussen: Wissenschaftsphilosophieund -soziologie, Religion, Parawis-senschaften, Kreationismus. Unterdem Stichwort „Moralische und un-moralische Wissenschaft“ schildertLewis Wolpert die Haltungen man-cher Beteiligter zum Manhattan-Pro-jekt und zur Eugenik. Allerdings fin-den sich auch in diesen Kapitelnmanchmal Formulierungen, die anRadio Eriwan erinnern: „Die Ideendes Kopernikus waren im Prinzipauch schon den Griechen zugänglich(...) Weniger zugänglich waren viel-leicht die Ideen selbst.“

Wolperts Darstellung ist eine großeAntwort auf die Frage eines Laien aneinen Wissenschaftler: Was machenSie eigentlich? Und: Welche Rollespielt das für mich? Wie wider-sprüchlich solche Selbstauskünftedann ausfallen können, sollen Zitatevom Anfang und vom Ende des Bu-ches zeigen: „Es kann ziemlich un-bequem sein, mit der Wissenschaftzu leben – zumindest für mancheMenschen. Sie bietet keine Hoffnungfür ein Leben nach dem Tod an, sietoleriert keine Magie, und sie verrätuns nicht, wie wir leben sollen.“(Einleitung, S. 17); im letzten Kapitelheißt es dann in ganz anderer Ton-art: „Die Wissenschaft muss einezentrale Rolle in unserem Lebenspielen. Es ist an der Wissenschaftund an der Technik, uns aus demSchlamassel herauszuhelfen, in daswir uns selbst gebracht haben (...)Die Natur der Entdeckungen lässtdas detaillierte Aufzeigen von Lö-sungen nicht zu. Doch das Wissenüber die Welt mag ein Schlüssel zuihrer Errettung sein.“ GOTTFRIED PLEHN

NEU erschienen

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NEU erschienen

TransparenteChemieKristin Mädefessel-Hermann, FrederikeHammar, Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger,CHEMIE RUND UM DIE UHR, Wiley-VCH,Weinheim 2004, 19,90 Euro.

Das Szenario ist bekannt: DerNachwuchs stürmt ins Wohn-

zimmer und will die Welt erklärt be-kommen. Natürlich weiß man, wieDiamanten entstanden sind, wieFlachbildschirme funktionieren oderwarum die meisten Jeanshosen blausind. Sollte man sich doch bei derBeantwortung der einen oder ande-ren Frage der wissbegierigen Kinderunsicher sein, so gibt es jetzt einausführliches Nachschlagewerk, dasman in solchen Fällen schnell ausder Hinterhand ziehenkann. Denn alle diese Fra-gen haben zwei Dinge ge-meinsam: Sie begegnenuns im Alltag – und mankann sie mit der modernenChemie erklären.

Im Anschluss an das ver-gangene „Jahr der Chemie“haben Kristin Mädefessel-Hermann, Frederike Ham-mar und Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger in ihrem Buch Chemie rundum die Uhr, das vom Bundesministe-rium für Bildung und Forschung mitgefördert wurde, die interessantestenund spannendsten Fragen über dieAlltagschemie zusammengestellt. Sieerläutern sie ausführlich und für je-dermann leicht verständlich. Beson-dere Sympathien erwerben sich dieAutoren – alle drei promovierte Che-miker – durch die reiche und vielfäl-tige Bebilderung des Buches und denfast völligen Verzicht auf chemischeFormeln. Das ansprechende Layoutist es auch, was dieses „offizielleBuch zum Jahr der Chemie“ zu vielmehr macht als nur einem nüchter-nen Lexikon der Naturwissenschaft.Zudem sind die Beiträge in kurzwei-lig zu lesender und informativer Arti-kelform geschrieben. Das erscheintbesonders angenehm angesichts ei-

nes Themas, das vielen schon in derSchule Kopfzerbrechen bereitet. Spä-ter gehen die Kenntnisse dannschnell verloren, und die Erinnerungan die Chemie schnurrt auf ein paarFormeln zusammen.

Parallel zu den Alltagsphänome-nen in der Chemie, die uns vom Auf-stehen bis zum späten Abend beglei-ten, wagen sich die Autoren in ihremBuch aber auch an schwierige undkontrovers diskutierte Themen wieetwa die Genomforschung oder dieso genannten Bio-Produkte heran.Vor allem das Kapitel über die Gene-tik des Menschen ist in diesem Zu-sammenhang besonders lesenswert.Die Autoren ziehen hier eine Bilanz,was die Menschen nach 25 JahrenGentechnik heute mit ihrem Wissenanfangen können und stellen die

Frage, ob wir uns nach derEntschlüsselung unseresGenoms nun wirklich bes-ser kennen. Denn es zeigtsich immer deutlicher, dassman zwar eine Fülle vonEinzelinformationen überdie Biochemie des Men-schen in den Händen hat,das große umfassende Bildjedoch immer noch fehlt.

Auch wenn die Forscher alle che-mischen Bausteine kennen, aus de-nen ein Organismus besteht, so sindsie doch nicht in der Lage, daraus einfunktionierendes Lebewesen zusam-menzusetzen.

Im Anschluss an ihre Analyse wagen die Autoren einen Blick in die Zukunft der Genforschung. Auchbei diesem komplexen Thema fehltes nicht an Feingefühl für die all-gemeinverständliche und objektiveDarstellung der Gentechnik undihren Folgen für die Menschheit.

Ergänzt wird das Buch durch einausführliches Glossar, das viele che-mische Fachbegriffe schnell erklärt.Chemie rund um die Uhr ist informa-tiv und besitzt Unterhaltungswert.Man kann den Band auch gut nocheinmal zum Schmökern in die Handnehmen, wenn der Wissensdurst desNachwuchses gestillt ist. THORSTEN NAESER

AufgeheiztesKlimaMojib Latif, HITZEREKORDE UND JAHR-HUNDERTFLUT, Herausforderung Klima-wechsel – Was wir jetzt tun müssen, 160Seiten, Schwarzweiß-Abbildungen, WilhelmHeyne Verlag, München 2003, 10 Euro.

Das Klimasystem der Erde istträge: Es spricht auf Änderun-

gen seiner Stellgrößen – und so auchdes Kohlendioxid-Pegels der Atmo-sphäre – nur verzögert und zunächstkaum spürbar an. In dieser Trägheitliegt eine Chance. Denn die Spanne,während der sich die Reaktionen desKlimasystems noch in Grenzen hal-ten, bietet sich als Denkpause an, umaus dem Wissen über die drohendenAuswirkungen unseres Handelns zueinsichtigem Verhalten zukommen. So ließe sich dieZeit, die zwischen demDruck auf das Kohlendioxid-Gaspedal und der entspre-chenden Reaktion des Klima-systems liegt, dafür nutzen,noch einigermaßen rechtzei-tig auf die Bremse zu steigenund einen niedrigeren Gangzu fahren.

Inzwischen hat es allerdings denAnschein, als laufe die Transforma-tion von Wissen in Einsicht derMenschen noch um einiges trägerals die Räder der globalen Klima-maschine. Es scheint nicht so, alswürde der weltweite Kohlendioxid-Ausstoß noch innerhalb einer an-nehmbaren Frist auf nur einiger-maßen tolerierbare Werte begrenzt;eher steht zu befürchten, dass dieanthropogene Umwandlung der At-mosphäre weiterläuft, bis auch dieletzten Vorräte an fossilen Energie-trägern erschöpft sind.

Die Denkpause jedenfalls geht zuEnde, wie Mojib Latif in seinemBuch Hitzerekorde und Jahrhundert-flut unmissverständlich feststellt. Latif hat zwei Jahrzehnte am Ham-burger Max-Planck-Institut für Me-teorologie gearbeitet – und von dortaus, neben seiner wissenschaftlichen

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Arbeit an Klimamodellen, auch im-mer schon die Öffentlichkeit ange-sprochen und über die Klimaproble-matik informiert. Dafür wurde er imJahr 2000 mit dem „Max-Planck-Preis für öffentliche Wissenschaft“ausgezeichnet. Inzwischen ist Latifvon Hamburg nach Kiel gewechselt,ist jetzt Professor am Leibniz-Institutfür Meereswissenschaften

Dass er auch in Kiel „Öffentlich-keitsarbeiter“ bleibt, belegt sein Buch – dessen Titel auf den erstenBlick dramatisch anmuten mag,doch im Grunde nichts anderes wie-dergibt, als in den letzten Jahren inMitteleuropa zu erleben war: dassdas Wetter immer öfter Kapriolenschlägt und Extreme annimmt, diein ihrem Ausmaß und – vor allem –auch in ihrer Häufigkeit selbst jenenzu denken geben sollten, die denmenschlichen Einfluss auf das Klimain Abrede stellen. Wer dieser Mei-nung auch heute noch ist, der sollteLatifs Buch auf jeden Fall lesen. Erwird darin ebenso fundiert wie ver-ständlich über alle wesentlichenSachverhalte und Zusammenhängeaufgeklärt, die das globale Klimaoder auch regionale Wetterphä-nomene bestimmen – und das stilis-tisch wie didaktisch in sachlichemund unaufgeregtem Stil. Denn es

geht Latif nicht um Aufregung, son-dern um Aufklärung.

Schon in seinem Vorwort merkt derAutor an, dass Klimaforscher nichtvon einer Klimakatastrophe, sondernvon einem Klimawandel reden, under stellt weiter fest: „Ich möchte keineÄngste schüren, sondern so objektivwie möglich über die Klimaproble-matik informieren.“ Latif lässt ande-rerseits keinen Zweifel daran, dass erdie Überzeugung der meisten seinerFachkollegen teilt: „Der Mensch istdabei, das Klima der Erde durch denzusätzlichen Treibhauseffekt nachhal-tig zu verändern. Über Details lässtsich gewiss streiten, nicht aber da-rüber, dass eine Klimabeeinflussungdurch den Menschen existiert.“

Trotz dieser Überzeugung – unddes Wissens um die Konsequenzendieser Tatsache – alle wesentlichenDetails in Sachen Klima und Klima-wandel so ruhig und sachlich darzu-stellen wie Latif, ist bemerkenswert.Dazu kommt, dass er stets deutlichzwischen gesichertem Wissen undPrognosen unterscheidet sowie dieGründe für die Unsicherheiten derderzeitigen Modelle und Hochrech-nungen erläutert: Diese Ehrlichkeitseiner Darstellung schafft nicht nurVertrauen, sondern vermittelt zu-gleich eine Ahnung von der we-

sentlichen Arbeit und Aufgabe derKlimaforscher – davon, ein unge-mein komplexes System zu erfassen,das aus zahlreichen Komponentenbesteht, die untereinander nicht nur über vielerlei nichtlineareWechselwirkungen „chaotisch“ ver-knüpft sind, sondern zudem nochauf ganz unterschiedlichen Zeit-skalen arbeiten.

Ein solches System lässt sich nievollständig beschreiben, und jedePrognose über seine künftige Ent-wicklung schließt notwendig Unsi-cherheiten ein. Gewissheit wird amEnde nur das Experiment schaffen,das die Menschheit bereits seit gutzwei Generationen mit der Atmo-sphäre anstellt – und dessen grund-sätzlicher Ablauf sich inzwischenauch aus Beobachtungen und Mes-sungen erschließt. Dazu steht Nä-heres in Latifs Buch. Wer es liest,wird am Ende einsehen, dass undwarum das Klima-Experiment bessernicht bis zum Äußersten getriebenwerden sollte. Und er wird sich derHoffnung anschließen, die Mojib Latif in seinem Vorwort ausdrückt:„...dass die Menschheit endlich auf-wacht und die notwendigen Schritteunternimmt, um den globalen Kli-mawandel in Grenzen zu halten.“

WALTER FRESE

NEU erschienen

Aus der Reihe „Ergebnisse“, herausgegeben von derPräsidentenkommission „Geschichte der Max-Planck-Gesell-schaft im Nationalsozialismus“, sind erschienen:

Beyler, Richard H., „REINE“ WISSENSCHAFT UND PERSONELLE „SÄUBERUNGEN“, Die Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft 1933 und 1945, 60 Seiten, Ergebnisse 16, Berlin 2004, kostenlos.Lewin Sinne, Ruth, OTTO HAHN UND DIE MAX-PLANCK-GESELLSCHAFT, Zwischen Vergangenheit und Erinnerung, 70 Seiten, Ergebnisse 14, Berlin 2004, kostenlos.Satzinger, Helga, RASSE, GENE UND GESCHLECHT, ZurKonstituierung zentraler biologischer Begriffe bei RichardGoldschmidt und Fritz Lenz, 1916–1936, 36 Seiten, Ergebnisse 15, Berlin 2004, kostenlos.Weiss, Sheila Faith, HUMANGENETIK UND POLITIK ALSWECHSELSEITIGE RESSOURCEN, Das Kaiser-Wilhelm-

Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik im „Dritten Reich“, 60 Seiten, Ergebnisse 17, Berlin 2004, kostenlos.

Die genannten vier Bände sind über die Kommission (Glinkastr. 5-7, 10117 Berlin, Tel. 030/22667-154, Fax 030/22667-333, E-Mail [email protected]) zu beziehen und können unter der Internet-Adressewww.mpiwg-berlin.mpg.de/KWG/publications.htm auch als PDF heruntergeladen werden.

Blome, Hans-Joachim/Zaun, Harald, DER URKNALL, Anfang und Zukunft des Universums, 128 Seiten, Verlag C.H.Beck, München 2004, 7,90 Euro.Grundmann, Siegfried, EINSTEINS AKTE, Wissenschaft und Politik – Einsteins Berliner Zeit, 2. Auflage, 682 Seiten, 70 Abbildungen, Springer-Verlag, Heidelberg 2004, 39,95 Euro.

Weitere Empfehlungen

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ERFORSCHUNG von Wirtschaftssystemen

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niger die Leute, die Großkonzernemanagen oder besitzen. Entrepre-neurship hat viel mehr etwas mit derEntstehung von neuen Firmen zutun, mit Gründungsprozessen – nichtso sehr mit dem Statusdenken, dasmit dem deutschen Wort Unterneh-mer assoziiert wird.‘“

Vielleicht lässt sich die Geschichtevon Audretschs Entrepreneurship-Forschung am besten von Anfang anerzählen. Man könnte zum Beispielmit dem Schuh beginnen. Mit jenemSchuh „Made in Pirmasens“, mit demder sowjetische Staats- und Partei-chef Nikita Chruschtschow 1961 aufdas Rednerpult der Vereinten Natio-nen hämmerte und dabei in einschauriges Siegesgeheul ausbrach:„We will bury you!“ – „Wir werdeneuch begraben!“ Genau genommenhätte der Dolmetscher seine Worteeher mit „Wir werden auf euremGrab tanzen“ übersetzen müssen.Der Kapitalismus, glaubte Chruscht-schow, würde sich selbst zerstören.Und wenn man es wirklich pingeliggenau nimmt, sagte Chruschtschowdies auch nicht vor den VereintenNationen 1961, sondern schon 1956auf einem diplomatischen Empfangin Moskau. Aber in den Augen vielerZeitgenossen blendeten sich diesebeiden Szenen übereinander undverschmolzen zu einem einzigen Er-eignis, das sogar oft genug in histo-rischen Darstellungen als ein solchesbeschrieben wird.

David Audretsch kann sich an dieEpisode mit dem Schuh noch gut er-innern. Wir sitzen an dem kleinenBesuchertisch in seinem Arbeitszim-mer, mit Blick auf die Blumenstaudenvor der Fensterfront und auf den klei-nen Park, der die Gebäude des Insti-tuts umgibt. Es ist einer der erstenSchönwetter-Sommertage seit lan-gem. David Audretsch hat sich Zeitgenommen für das Gespräch undgerät ins Erzählen: „Ich war damals

Wie wirkt sich Wissen auf Wachstum aus? Was steckt hinter dem Spillover-Effekt?

Seit gut drei Jahrzehnten befasst sich DAVID AUDRETSCH, Direktor am

MAX-PLANCK-INSTITUT ZUR ERFORSCHUNG VON WIRTSCHAFTSSYSTEMEN in Jena,

mit diesen Fragen – und spürt dabei den Mustern der Industrieentwicklung nach.

Kurz: Audretsch ist Fachmann für Innovation und Entrepreneurship.

Arbeitsplätze geschaffen werden.Das würden viele gerne. Aber etwasunterscheidet Audretsch von den an-deren: Nicht, dass er die Antwortwüsste – aber er ist ihr wahrschein-lich ein ganzes Stück näher.

Seit gut 30 Jahren beschäftigt sichDavid Audretsch damit, Muster derIndustrieentwicklung aufzuspüren.30 Jahre hat sich der Gegenstandseiner Forschungen immer wiedervor seinen Augen verwandelt. MitAusdauer und Beharrlichkeit ist demWirtschaftswachstum nicht beizu-kommen, und mit den wissenschaft-lichen Standardmethoden womög-lich auch nicht. Audretsch betreibtEntrepreneurship-Studien, wie sie ankeiner Universität gelehrt werden.Entrepreneurship-Forschung konsti-tuiert sich nicht durch einen Kanonan Methoden, sondern durch ihrenGegenstand. Mit der Einrichtung derneuen Abteilung am Jenaer Max-Planck-Institut wird jetzt der Ver-such gestartet, eine neue For-schungsrichtung, für die Audretschmit seinen Arbeiten steht, institutio-nell zu etablieren.

ENTREPRENEURS SIND

KEINE UNTERNEHMER

Entrepreneurship – kann man dasnicht einfach mit „Unternehmertum“übersetzen? Wohl eher nicht. „Präsi-dent Bush hat einmal gesagt“, gibtAudretsch zum Besten: „The problemwith the French is that they don'thave a word for entrepreneur.“ Wirk-lich? „Wir waren neulich mit einerGruppe von Studenten in AngelaMerkels Büro. Und einer ihrer Leutesagte: ‚Der Engpass in Deutschlandbesteht darin, dass wir immer auf dereinen Seite die Gewerkschaften ha-ben und auf der anderen die Unter-nehmer – die Entrepreneurs.' Er hatdas auf Englisch gesagt. ‚Das ist ei-gentlich nicht das Problem', habe ichgeantwortet: ‚Entrepreneurs sind we-

Wir sind im Paradies. Oder sa-gen wir: nicht weit davon

entfernt. Es liegt irgendwo zwi-schen Berlin und München. „Para-dies“ heißt die provisorische ICE-Station, die an einer Aue der Saaleund doch zugleich mitten in derStadt gelegen ist – mitten in Jena.Von der Station aus gelangt man,den gelben Verkehrsschildern fol-gend, rasch ins Zentrum, wo sichunübersehbar der Spiegelglasturmdes Intershop-Hochhauses in die ber-gige Flusslandschaft erhebt. In deranderen Richtung erreicht man zuFuß binnen weniger Minuten das Ar-beitszimmer von David Audretsch.

David Audretsch ist einer der dreiDirektoren am Max-Planck-Institutzur Erforschung von Wirtschaftssys-temen in Jena. Im November ver-gangenen Jahres hat er dort denAufbau der neuen Abteilung „Entre-preneurship, Growth and Public Po-licy“ übernommen. Die Tür zu sei-nem Büro steht offen – und bleibtauch geöffnet, während wir uns un-terhalten. An diesem Morgen hat Da-vid Audretsch bereits ein Interviewmit dem MDR hinter sich. Thema:die 40-Stunden-Woche oder die 50-Stunden-Woche, die der Präsidentdes Deutschen Instituts für Wirt-schaftsforschung und der Chef derCommerzbank gerade ins Spiel ge-bracht hatten. Es ist der Beginn der„Arbeitszeit-Debatte“ – wie sie weni-ge Tage später genannt werden wird.

David Audretsch sieht nicht auswie jemand aus der „Mehr-arbeiten!-Fraktion“. Man würde ihn eher einengemütlichen Typ nennen. Keiner vondenen, die morgens um halb sechsfür den Marathon trainieren. In derTat kann man sagen, dassAudretschs Verhältnis zum ThemaArbeit ein wenig distanziert ist. Erforscht nämlich darüber, wie anderearbeiten. David Audretsch möchtewissen, wie Wachstum entsteht und

David Aud retschDavid AudretschZur PERSON

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ERFORSCHUNG von WirtschaftssystemenZur PERSON

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sieben Jahre alt. Chruschtschow hatden Leuten wirklich Angst eingejagt.Es gab zu jener Zeit sogar Beweisedafür, dass die Wachstumsrate derSowjetunion größer war als die imWesten. Man glaubte, dass die Sow-jetunion durch die Zentralisierung ei-ne wettbewerbsfähigere Ökonomiehatte als der Westen.“ Ob dieser Glau-ben auch den Tatsachen entsprach?„Die Statistiken waren schlecht“,lenkt Audretsch ein. Und grinst. „DieCIA hat vielleicht nicht gelogen, aber ... – genau wie man heute keineMassenvernichtungswaffen im Irakfinden konnte, gab es damals viel-leicht kein solches hohes Wachstum.Dennoch waren diese Sorgen im Wes-ten sehr weit verbreitet.“

DER MYTHOS ÜBER

DIE MASSENPRODUKTION

Die 1960er-Jahre waren in denUSA die Zeit des „Big Business“, dieÄra von Ford und General Motors,von Großunternehmen, die ihren Er-folg der Massenproduktion verdan-ken. Vor diesem Hintergrund erschiendie sowjetische Zentralwirtschaft ef-fizienter als das kapitalistische Mo-dell des Wettbewerbs. Zugrunde ge-gangen, behauptet Audretsch in sei-nem Buch Innovation and IndustryEvolution (MIT Press, 1995), sei daszentralwirtschaftliche Modell erst, alsmit der Informations- und Kommu-nikationstechnik ein neues „techno-logisches Regime“ begonnen habe.

Die neuen Möglichkeiten der Daten-verarbeitung und –übermittlung, soglaubt der Wissenschaftler, hätten dieÖkonomie des Ostens zu Fall ge-bracht, weil sie inkompatibel mit derkommunistischen Form des Wirt-schaftens waren und gleichzeitigdurch Dezentralisierung effizienteresProduzieren im Westen ermöglichten.

Der technologische Wandel hatnicht nur die Sowjetunion über-rascht, sondern auch die westlichenWissenschaftler. Bis in die 80er-Jah-re hinein hielt sich der Mythos, dassder wirtschaftliche Erfolg einer Nati-on vor allem der Massenproduktionin Großunternehmen zu verdankensei. „Die kleinen Unternehmen wur-den im Westen als Last wahrgenom-men“, erklärt David Audretsch.„Kann der Westen sich diesen Luxusleisten, wenn er gegen die Sowjet-union konkurrieren will? Das warder eigentliche Ausgangspunkt mei-ner Arbeit.“

Diese Arbeit begann nach demStudium und der Promotion an der University of Wisconsin, alsAudretsch 1984 als Forscher an das„International Institute of Manage-ment“ im Wissenschaftszentrum Ber-lin für Sozialforschung kam. UmGroßunternehmen sollte es gehen,genauer um das Thema: Innovationin Großunternehmen. „Mitte der80er-Jahre“, sagt Audretsch, „sprachman in Europa immer noch von derKonkurrenz mit US-Großunterneh-men wie General Motors.“ Aber mitdem Abstand von der Heimat wurdeihm klar, dass die Realität diesemBild schon längst nicht mehr ent-sprach. „Viel wichtiger als dieGroßunternehmen war mittlerweiledie Entstehung von High-Tech-Clus-tern wie Silicon Valley oder die Route 128 um Boston. Das hatte sichaber bislang in der Literatur derWirtschaftsforscher wenig niederge-schlagen und war auch in der Wirt-schaftspolitik und in der Pressekaum analysiert worden“, so derJenaer Wissenschaftler.

Das neu erwachte Interesse für diekleinen Unternehmen erwies sich alssolider Grundstein für eine ganze

Forscherbiographie. Aus den zweigeplanten Jahren in Berlin wurdendreizehn. Von Berlin aus hat DavidAudretsch Europa kennen gelernt,hier hat er die Wendezeit erlebt, hatgeheiratet – eine Amerikanerin –und wurde Vater von zwei Söhnen.Ende der 90er-Jahre ging es zurückin die Staaten. Audretsch erhielt eineProfessur erst an der Georgia StateUniversity, dann einen Posten alsLeiter des Institute for DevelopmentStrategies und als Direktor des Insti-tute of West European Studies ander Indiana University in Blooming-ton. Heute lebt die mittlerweile fünf-köpfige Familie Audretsch wieder inDeutschland, in Weimar – von woaus es mit dem Zug nach Jena auchnicht länger dauert als in Berlin mitder U-Bahn von Friedenau zum Wis-senschaftszentrum in der Nähe desPotsdamer Platzes.

SINKENDER LOHN FÜR

UNGELERNTE ARBEIT

In den 80er-Jahren hatte man sichnoch darum gesorgt, dass die Machtder Großunternehmen, Preise zu diktieren, die Inflation vorantreibenkönnte; danach jedoch zeichnetesich die Arbeitslosigkeit als dasgrößte Wirtschaftsproblem ab. In den USA sei die Arbeitslosigkeitzwar nicht das Problem Nummereins, sondern der sinkende Lohn fürungelernte Arbeiter und die wach-senden Unterschiede im Wohlstand,schränkt Audretsch ein. Aber: „DieSituation in den USA und die hoheArbeitslosigkeit in Europa sind beidedas Ergebnis von Globalisierung, eine Folge der zunehmenden Kon-kurrenz aus Asien, Osteuropa undSüdamerika.“ Durch eine höhereProduktionsrate in herkömmlichenUnternehmen seien die Probleme imWesten nicht zu lösen – wohl aberdurch Innovation.

Und hier schließt sich der Kreis.„Mit unseren Arbeiten in den 80er-Jahren konnten wir zeigen, dass gerade kleine Unternehmen zur In-novation beitrugen“, sagt DavidAudretsch. „Aber wie kam das? Esfehlte ihnen doch der nötige Input.

Bestandteil der so genannten Pro-duktionsfunktion ist, haben die Öko-nomen bereits in den 80er-Jahrenerkannt und in ihre Berechnungenmit einbezogen. David Audretschversucht heute, empirisch zu erfor-schen, wie genau die Mechanismendes Knowledge Spillovers funktionie-ren. Das Rückgrat seiner Arbeit istdie Analyse statistischer Daten – et-wa von Firmenregistern des NeuenMarkts, aus Datenbanken der Deut-schen Börse, des Statistischen Bun-desamts, aber auch der Science Cita-tion Index. „Kaum zu glauben, dassman lange Zeit nicht erkannt hat,wie wichtig Wissen für Wachstumund Innovation ist“, sagt Audretsch.„Was für blöde Menschen diese For-scher sein müssen, nicht wahr? Aber

Sie hatten keine Labore für For-schung und Entwicklung. Wie konnteMicrosoft gegen IBM konkurrieren?Woher kam das notwendige Wissen?Das schien so etwas wie ein Paradox.So sind wir zu den Knowledge Spill-overs gekommen.“ Bei diesem Ter-minus fällt einem die sprichwört-liche „verschüttete Milch“ ein – oderder Überlaufstutzen in der Bade-wanne. Im Jargon der Wirtschafts-forscher heißt das: Kleine Unterneh-men machen sich die Wissensressour-cen von öffentlichen Forschungs-und Bildungseinrichtungen zu Nutze:den Wissensüberfluss – oder das„verschüttete“, eigentlich anderenZwecken zugedachte Wissen.

Dass der Faktor Wissen neben Ka-pital und Arbeit ein wesentlicher

das hat etwas mit Wissenschaft zutun. Wenn wir etwas als relevant er-kennen, heißt das nicht, dass wir es auch verstehen und analysierenkönnen. Wir greifen immer erst aufdie herkömmlichen Arbeitsmethodenzurück. Und die sind schlecht geeig-net für die Erforschung von Entre-preneurship und Innovation.“

WAS WISSEN FÜR

WACHSTUM BEDEUTET

David Audretsch und seine Kolle-gen haben untersucht, in welcherHinsicht sich Wissen auf Wachstumauswirken kann. Spillover-Effektezum Beispiel, das hat er herausge-funden, wirken sich stärker in denSozial- als in den Naturwissenschaf-ten aus – vermutlich, weil das Wis-sen in diesem Bereich weniger starkkodifiziert ist. So etwas lässt sichstatistisch durch die Beziehung zwi-schen dem Spillover und der räumli-chen Entfernung zwischen For-schungseinrichtungen und Unter-nehmen nachweisen. Aber auch derdurch eine Hochschule in der Nähebedingte Ausstoß an „Humankapital“scheint ein wichtiger Faktor für dieAnsiedlung von Unternehmen in derNähe von Forschungseinrichtungenzu sein: Je größer die Anzahl vonAbsolventen, desto attraktiver ist einStandort.

David Audretsch erforscht abernicht nur, wie das Wissen „über-fließt“, sondern auch, wie dieserÜberfluss wirtschaftlich nutzbar ge-G

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Man sieht es David Audretsch und seinen Mitarbeitern an: Es macht offenbar Spaß, darüber zu forschen, wie andere arbeiten ...

„Kaum zu glauben, dass man lange Zeit nicht erkannthat, wie wichtig Wissen für Wachstum und Innova-tion ist“: So bezeichnet David Audretsch ein Ergebnisund zugleich eine Kernfrage seiner Forschungen.

An der Zahl der Start-ups, bezogen auf die Bevölkerungszahl, tretendeutliche regionale Unterschiede in Sachen„Unternehmungsgeist“innerhalb (West-)Deutschlands hervor.

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macht wird. Hypothesen über die Be-schaffenheit von Wissen spielen fürihn eine wichtige Rolle in der Beant-wortung der Frage, wie Innovationenund die Gründung neuer Unterneh-men ablaufen. Audretsch geht davonaus, dass der „ökonomische Akteur“(der Unternehmensgründer) einenspeziellen Anreiz haben muss, in einneues Unternehmen zu investieren.Dieser Anreiz kann eine eigene Ge-schäftsidee sein – eine Idee, für dieer vielleicht keine andere Firma alsGeschäftspartner gewinnen kann,von der er sich aber persönlich trotz-dem großen Erfolg verspricht. Viel-leicht sind die Gewinnaussichten fürihn auch besser, wenn er sein Wissenselbst ausbeutet, anstatt es anderenzu überlassen.

So betrachtet, ist die Neugründungeines Unternehmens so etwas wie einExperiment, mit dem man eine be-stimmte Geschäftshypothese über-prüft. Und das bedeutet: Je wenigersich Hypothesen, je weniger sich – ineinem akademischen Fach oder ei-nem Unternehmenszweig – ein „Wis-sen“ komplett darstellen und über-mitteln lässt, desto wahrscheinlicherist es, dass es auf diesem Gebiet zuNeugründungen kommt.

Neugründungen wiederum, glaubtDavid Audretsch, stehen in direkterRelation zum wirtschaftlichen Erfolgeiner Region. Er nennt diesen FaktorEntrepreneurship Capital. Das Ent-repreneurship-Kapital einer Regionist die Fähigkeit von ökonomischen

Zur PERSON

Akteuren, neue Firmen zu erschaf-fen. Je mehr Start-up-Firmen es inRelation zur Einwohnerzahl gibt,desto größer ist das Entrepreneur-ship-Kapital einer Gegend. Und jegrößer das Entrepreneurship-Kapi-tal, das zeigen statistische Analysen,desto größer ist die wirtschaftlicheProduktivität.

Sein Interesse für Entrepreneurshipführt David Audretsch zugleich aufein anderes großes Feld: die Inno-vationsforschung. „,Innovation falls like manna from heaven‘“ hat derNobelpreisträger Robert Solow ein-mal gesagt“, erklärt David Au-dretsch. „Manna ist wie Schnee. Eskommt von oben herunter. Man hatGlück, wenn man etwas davon abbe-kommt. Aber man kann es nicht be-einflussen.“ Trotzdem möchten alleherausfinden, welche Umstände be-sonders geeignet sind für das Gedei-hen von Innovation. Innovationsfor-schung wird in Deutschland zumBeispiel am Fraunhofer-Institut fürSystemtechnik und Innovationsfor-schung betrieben, am INNO-Tec ander Universität München, an derTechnischen Universität Berlin, amInstitut für angewandte Innovations-forschung an der Ruhr-UniversitätBochum und im Rahmen des Förder-programms „Innovationsprozesse inWirtschaft und Gesellschaft“ derVolkswagenstiftung.

STATISTISCHE MUSTER

ERZÄHLEN GESCHICHTEN

„Man darf nicht zu ungeduldigsein“, sagt David Audretsch. „Esbraucht einfach unglaublich vieleKonferenzen und Forschungsprojek-te, bis man in den Sozialwissen-schaften ein neues Phänomen in denGriff bekommt.“ Der Max-Planck-Wissenschaftler hat sich sein eige-nes Arbeitsgebiet selbst zurechtzim-mern müssen. Sein Ansatz unter-scheidet ihn von so gut wie allenanderen in Deutschland. Anders alsdie Forscher vom Fraunhofer-Insti-tut untersucht er keine konkretenEntwicklungen auf Gebieten wie E-Government, Elektromotorensys-temen oder Emissionshandel. Und

im Unterschied zu seinen Kollegenvon der Betriebswirtschaft in Mün-chen und in Bochum befasst sichDavid Audretsch auch nicht mit In-novation in Unternehmen, sondernmit Innovation in Regionen undWirtschaftszweigen – aus volkswirt-schaftlicher Perspektive. Dies kom-biniert er, wie in den Studien zu denSpillover-Effekten und zum Entre-preneurship-Kapital, mit einem mi-kroökonomischen Ansatz: mit Hy-pothesen über das Verhalten einzel-ner Akteure, vor deren Hintergrunddie statistischen Muster beginnen,Geschichten zu erzählen.

Leute wie Audretsch beraten eherdie große Politik als die Unterneh-men am Ort: die Weltbank, das Eu-ropäische Parlament, die UN, dieOECD, die US Federal Trade Commis-sion, das U.S. State Department – dieListe ließe sich beliebig fortsetzen.Welche Prognosen und Empfehlun-gen ergeben sich aus den statisti-schen Forschungen? „Letztendlich“,sagt David Audretsch, „kann mannur ganz allgemeine Ratschläge ge-ben – so wie wenn man jemandemempfiehlt, sich gesund zu ernähren.Innovation und Entrepreneurshipsind wichtig. Aber das heißt nicht,dass man schon weiß, in welche Be-reiche am besten investiert werdensoll, um die Wirtschaft anzukurbeln.Oder ob Eliteuniversitäten das geeig-nete Instrument sind. Aber es wirdzumindest eine Richtung deutlich:Bildung – da ist die Action. Vor 20Jahren wurde Bildung als Luxus be-trachtet, überall in der Welt. Heutesehen wir es als Faktor für das Wirt-schaftswachstum.“

Eines hätten wir fast vergessen zufragen. Aber die Antwort ist jetzt oh-nehin schon klar. Was hat DavidAudretsch der Journalistin geant-wortet, die ihn am Morgen nach sei-ner Meinung zu der Arbeitszeit-De-batte gefragt hatte? „Mehr arbeitenist nicht die Lösung. Nicht langfris-tig. Die Deutschen müssen irgendwieklüger arbeiten, innovativer. Ichweiß nicht, ob ich das der Journalis-tin so richtig begreiflich machenkonnte.“ RALF GRÖTKER

Welchen Weg ein neu gegründetes Unternehmennimmt, hängt von der zeitlichen Entwicklung seinerLeistung ab – die sich ihrerseits am Verhältnis der Einnahmen zu den Löhnen bemisst.

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deutsche Forschungseinrich-tungen unter der Leitung des Max-Planck-Instituts fürAstronomie in Heidelbergsind zu einem Viertel betei-ligt.

Der deutsche Beitrag zur Reali-sierung des LBT konzentriertsich auf die technologisch an-spruchsvollsten Entwicklungenim Bereich der Ausrüstung desTeleskops mit neuen Messgerä-ten. „Damit sichern wir uns einViertel der gesamten Beobach-tungszeit an diesem einzigarti-gen Teleskop der Superlative",sagt Thomas Herbst vom Hei-delberger Max-Planck-Institut,der Projektwissenschaftler desLBT in Deutschland (MAXPLANCK-FORSCHUNG 3/2001, S. 94f). Die

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Das weltweit größte Einzel-teleskop feiert im Oktober„die Nacht des ersten Lichts".Das gänzlich neuartige In-strument verfügt über zweiriesige Sammelspiegel mit je-weils 8,4 Meter Durchmesser,die – auf einer gemeinsamenMontierung installiert –gleichzeitig auf ferne Him-melskörper ausgerichtet wer-den. Das Prinzip gleicht demeines Feldstechers, daher derName Large Binocular Tele-scope (LBT). Das 120 Millio-nen Dollar teure Observatori-um steht auf dem MountGraham in Arizona. Das LBTwurde von einem internatio-nalen Konsortium unter ame-rikanischer Federführung geplant und gebaut: Fünf

dabei gesammelten zukunfts-weisenden Erfahrungen auftechnologischem Neuland wer-den darüber hinaus beim Bauvon Teleskopen der nächstenGeneration eine entscheidendeRolle spielen.

Das Large Binocular Tele-scope entstand innerhalb vonacht Jahren auf dem 3190 Me-ter hohen Mount Graham, wodie Astronomen ideale Bedin-gungen vorfinden. Weder dieLichter einer Großstadt nochWasserdampf oder Staub in derAtmosphäre stören hier die Be-obachtungen. Der Berg ist dendeutschen Astronomen nichtunbekannt. Anfang der 1980er-Jahre errichteten dort die Uni-versität von Arizona in Tucsonund das Max-Planck-Institut

LARGE BINOCULAR TELESCOPE

Mit Zweien sieht man besser

Schutz vor Windund Wetter findetdas LBT im Innerndieses Gebäudes.Es steht auf dem3190 Meter ho-hen Mount Gra-ham im US-Bun-desstaat Arizona.

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Zunächst öffnet das LBT nurein Auge. An diesem einenSpiegel steht den Astronomenzunächst eine Primärfokus-Ka-mera und danach ein Spektro-graph namens LUCIFER 1 zurVerfügung. Dieser Spektrographund sein Zwilling LUCIFER 2entstehen unter der Leitung derLandessternwarte Heidelberg.Am Max-Planck-Institut für ex-traterrestrische Physik in Gar-ching werden wesentliche Teileder Optik gebaut, das Max-Planck-Institut für Astronomielieferte das Detektorpaket undentwickelte das Konzept für dieKühlung. Beiträge für weitereBauteile stammen von derRuhr-Universität Bochum undvon der Fachhochschule Mann-heim.

LUCIFER 1 wird Ende 2005fertig sein und am Teleskop in Betrieb gehen. Zu diesen Instrumenten wird sich späternoch ein hoch auflösenderSpektrograph namens PEPSIgesellen, der zurzeit am Astro-physikalischen Institut Potsdamentsteht. In Kombination mitdem LBT wird PEPSI der welt-weit leistungsfähigste Spektro-graph seiner Art sein. Zwei Zir-kular- und Linearpolarimetersowie zwei permanente Fokal-stationen füttern den Spektro-graphen über insgesamt 16Glasfaserkabel. PEPSI lässt sichim gesamten Wellenlängenbe-reich vom Ultravioletten biszum Infraroten mit höchsterspektraler Auflösung einsetzen.Sehr helle Sterne könnte PEPSIim hoch auflösenden Modusauch am Tag beobachten.

Ende 2005 soll auch derzweite Hauptspiegel installiertwerden. Damit wird das LBT seine volle Lichtstärke erhalten.Eine weitere Ausbaustufe sollEnde 2006 erreicht werden,wenn das am HeidelbergerMax-Planck-Institut konstru-ierte Instrument LINC-NIRVA-NA installiert wird. Dieses Gerätführt das von den beiden Spie-geln gesammelte Licht mithöchster Präzision in einer ge-meinsamen Brennebene zusam-men und überlagert es zu ei-

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haben sie sich weiter ent-wickelt? Mit dem LBT wollendie Forscher die Struktur derentferntesten Milchstraßensys-teme und die Dynamik ihrerSterne und Gaswolken studie-ren – und beispielsweise he-rausfinden, welche Rolle dieDunkle Materie bei der Bildungder Galaxien im frühen Uni-versum gespielt hat. Ein ande-rer Arbeitsschwerpunkt betrifftwesentlich nähere Objekte: ex-trasolare Planeten, die fremdeSterne umkreisen. Bislang sindetwa 140 Sterne mit solchenwinzigen, extrem lichtschwa-chen Begleitern bekannt. DieseHimmelskörper lassen sich heu-te noch nicht direkt beobach-ten. Dafür sind sie zu licht-schwach und stehen zu nahe anihrem millionen- bis milliarden-fach helleren Zentralstern, dersie überstrahlt.

Das Large Binocular Tele-scope wird voraussichtlich für10 bis 15 Jahre das größte Einzelteleskop der Welt sein.Seit einigen Jahren diskutierenAstronomen in Europa und inden USA darüber, ob es sinnvollund möglich ist, ein Teleskop zubauen, das über einen Spiegelvon 30 bis 100 Meter Durch-messer verfügt. Ein solchesOver-Whelmingly Large Tele-scope (OWL) wäre auf jeden Fallauf die adaptive Optik ange-wiesen. „Wir betrachten das LBTauch als Übergangsinstrumentzu den Großteleskopen dernächsten Generation", sagtHenning. Als Fernziel träumendie Heidelberger Astronomenvon einer Beteiligung an einemsolchen zukünftigen Riesente-leskop. ●

nem so genannten Interfero-gramm. Auf diese Weise ist estheoretisch möglich, Bilder voneiner Schärfe zu erhalten, wiesie sonst nur ein 23-Meter-Spiegel liefern könnte. Um die-se Leistung auch in der Praxiszu erreichen, müssen allerdingsdie von Turbulenzen entlangdes Lichtwegs durch die Erdat-mosphäre erzeugten Bild-störungen während der Mes-sung möglichst vollständigkompensiert werden. Das über-nimmt eine so genannte adap-tive Optik – neben dem Strahl-vereiniger und der Infrarotka-mera die dritte Komponentedes Instruments. „Mit diesemSchritt erreicht das LBT eine biszu zehnfach höhere Bildschärfeals das Weltraumteleskop Hub-ble", sagt Hans-Walter Rix, Di-rektor am Max-Planck-Institutfür Astronomie.

Wenn alles nach Plan ver-läuft, wird die Entwicklung undImplementierung der adaptivenOptik in LINC-NIRVANA im Laufdes Jahres 2007 zum Abschlusskommen – und das LBT seinevolle Leistungsfähigkeit er-reicht haben. Mit ihrer 25-pro-zentigen finanziellen Beteili-gung am LBT sichern sich dieAstronomen der fünf deut-schen Institute ein Viertel derBeobachtungszeit an diesemTeleskop. „Das gibt uns dieMöglichkeit, auch einmal expe-rimentelle Programme auszu-führen, für die man uns viel-leicht an anderen Observato-rien keine Beobachtungszeitgenehmigt hätte", erklärt Tho-mas Henning. Zwar wird dasLBT ein Allround-Instrumentsein, mit dem sich praktisch jede aktuelle astrophysikalischeFragestellung angehen lässt.Doch die Forscher des Max-Planck-Instituts für Astronomiehaben einige Vorlieben.

Da ist zum einen die Jagdnach den ersten Sternen imUniversum. Über diese Urahnenunserer Sonne wissen dieAstronomen bisher sehr wenig.Auf welche Weise haben sichGalaxien wie unser Milch-straßensystem gebildet und wie

Im Auge des Gi-ganten: Die hochgenau polierteOberfläche des8,4 Meter großenHauptspiegels istauf diesem Fotonoch nicht alumi-nisiert und lässtdaher die Waben-struktur des Spie-gelkörpers deut-lich erkennen.

Das Large Binocular Telescope im Internet:www.mpia.de/LBT/D_Pages.htmlhttp://lbto.org

www

für Radioastronomie in Bonngemeinsam das Heinrich-Hertz-Teleskop, das im Submillimeter-Wellenbereich – also am kurz-welligen Ende des Radiospekt-rums – arbeitet. Unweit davonsteht auch das Vatican Advan-ced Technology Telescope. DieErbauer des LBT konnten daherdie bereits bestehende Infra-struktur, insbesondere den Zu-fahrtsweg, nutzen.

Mit dem LBT wurde eineweltweit einzigartige Konstruk-tion realisiert. Für die Astrono-men ist die gesamte Licht sam-melnde Spiegelfläche eines Te-leskops von entscheidender Be-deutung: Je größer sie ist, destoschwächere Objekte lassen sichnachweisen und untersuchen.Die beiden LBT-Spiegel besitzeneinen Durchmesser von jeweils8,4 Metern. Zusammen span-nen sie eine Fläche von 110Quadratmetern auf und erzie-len die Leistungsstärke eineseinzelnen 12-Meter-Spiegelsund die Bildschärfe eines ein-zelnen 23-Meter-Spiegels. Mitdem LBT ließe sich das Licht einer brennenden Kerze noch in 2,5 Millionen Kilometer Ent-fernung – entsprechend demsechsfachen Abstand Erde-Mond – nachweisen.

Die beiden in Tucson herge-stellten Hauptspiegel sind nicht

seine Instrumente, die das Lichtempfangen und aufzeichnen",sagt Thomas Henning, Direktoram Max-Planck-Institut fürAstronomie. Vergleicht man diebeiden Spiegel des LBT mit demmenschlichen Auge, so entspre-chen die Kameras und Spektro-graphen der Netzhaut. Gesteu-ert wird das Teleskop mit zweiso genannten Leiteinrichtun-gen: Sie sagen dem LBT nichtnur, wohin es sich bewegenmuss, um ein bestimmtes astro-nomisches Objekt aufs Korn zunehmen, sondern sie sorgen mithilfe eines Leitsterns auchfür die korrekte Nachführung,wenn das Objekt am scheinbarsich drehenden Himmelszeltlängere Zeit mit höchster Präzi-sion verfolgt werden soll. DasLicht des Leitsterns wird auchgenutzt, um die Verformungdes aktiv unterstützten Haupt-spiegels ständig festzustellenund zu korrigieren, sodass er injeder Lage des Teleskops in sei-ner idealen Form gehalten wer-den kann. Diese beiden „Acqui-sition, Guiding- and Wave-front-sensing units" (AGW)werden am AstrophysikalischenInstitut Potsdam (AIP) gebaut –mit Beiträgen von INAF-Arcetri,von der Landessternwarte Hei-delberg und vom dortigenMax-Planck-Institut.

massiv: Ihr Spiegelkörper ist imWesentlichen hohl, er bestehtaus dem Wabenmuster einerSpezialkeramik; damit wird eineMinimierung des Gewichts beihoher Steifigkeit erreicht. DieOberflächen der Spiegel sindbis auf 20 Nanometer (20 milli-onstel Millimeter) genau po-liert. Denkt man sich einen sol-chen Spiegel auf die Ausdeh-nung Berlins mit etwa 35 Kilo-meter Durchmesser „projiziert",so wäre auf seiner Oberflächekeine Abweichung von der Soll-form größer als ein zehntelMillimeter.

Ein herkömmlicher 8-Meter-Spiegel würde 100 Tonnen wie-gen, die beiden LBT-Spiegelbringen nur je 15,6 Tonnen aufdie Waage. Dadurch lässt sichauch das Gewicht der Teleskop-Montierung, welche die Spiegelträgt und bewegt, in einemhandhabbaren Rahmen halten.Der insgesamt 850 Tonnenschwere „Feldstecher", dessenmechanische Teile in Italien ge-fertigt wurden, wird hydrau-lisch auf einem dünnen Ölfilmbewegt und lässt sich mithöchster Präzision auf jedenHimmelskörper ausrichten undseiner scheinbaren täglichenBewegung nachführen.

„Grundsätzlich gilt: Jedes Te-leskop ist bestenfalls so gut wie

Die gewaltigen Dimensionen desLarge Binocular Telescope (LBT)

verdeutlicht diesesBild. Der ersteHauptspiegel

(rechts) ruht bereitsin seiner Montie-

rung, hoch darüberist die Primärfokus-

Kamera LBC 1 fürden roten Spektral-

bereich zu sehen.

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Zum 15. Mal hat die von der Max-Planck-Gesellschafttreuhänderisch geführte Gertrud Reemtsma Stiftung Mitte September den Zülch-Preis für besondere Leistun-gen der neurologischenGrundlagenforschung ver-geben. Wie stets in den ver-gangenen Jahren wird dermit 50 000 Euro dotiertePreis auch dieses Mal geteilt.Geehrt werden zwei Wissen-schaftler, die Herausragen-des zur Aufklärung von Hirn-strukturen und –funktionengeleistet haben: RichardFrackowiak vom Institut fürNeurologie des UniversityCollege London und NikosLogothetis, Direktor am Max-Planck-Institut für biologi-sche Kybernetik in Tübingen.

Richard Frackowiak wurde aus-gezeichnet für seine Arbeitenüber die Entwicklung und denEinsatz bildgebender Messver-fahren zur Untersuchung kogni-tiver Leistungen des menschli-chen Gehirns. Die von ihm ent-wickelte Standardisierungsme-thoden der Positronen-Emis-sions-Tomographie (PET) undder Magnet-Resonanz-Tomo-graphie (MRT) eröffneten denEinsatz dieser Techniken für die vergleichende Untersuchungkomplexer Funktionsabläufe.Nikos Logothetis erhielt dieAuszeichnung für seine grund-legenden Beiträge zur funktio-nellen Magnet-Resonanz-Tomo-graphie (fMRT). Durch die Auf-klärung der funktionellen Grund-lagen des BOLD-(Blood OxygenLevel Dependent) Kontrastes gelang es ihm, Aktivitäten neu-ronaler Zellverbände mit hoher räumlicher Auflösung sichtbarzu machen.

RICHARD FRACKOWIAK, Jahrgang1950, ging in London zur Schu-le, studierte Medizin an derCambridge University und wur-de im Jahr 1983 mit einer an

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ZÜLCH-PREIS 2004

Tiefer Einblick ins menschliche Gehirnder MRC-Cyclotron Unit desHammersmith Hospital in Lon-don angefertigten Arbeit überdie quantitative Messung deszerebralen Blutflusses mittelsder Positronen-Emissions-To-mographie zum Doktor der Me-dizin promoviert; ein 1980 vonihm zu diesem Thema veröf-fentlichter Artikel war ein Jahr-zehnt lang die am häufigstenzitierte Publikation auf demGebiet des Computereinsatzesin Biologie und Medizin. Diewichtigsten Stationen seinerweiteren wissenschaftlichenLaufbahn: Von 1988 bis 1993leitete Frackowiak die neurolo-

gische Abteilung am Hammer-smith Hospital, 1990 wurde erProfessor für Neurologie, 1994übernahm er die Leitung desWelcome Departments für bild-gebende Neurowissenschaftenam University College London(UCL); im Jahr 1998 wurdeFrackowiak Direktor des Insti-tuts für Neurologie am UCL undseit 2002 ist er stellvertretenderVorstand dieses Colleges. Derbritische Forscher erhielt hohewissenschaftliche Auszeichnun-gen, darunter den WilhelmFeldberg Foundation Prize(1996) und den Preis der Ipsen-Stiftung (1997).

Zu Beginn seiner wissen-schaftlichen Karriere hatte sichRichard Frackowiak zunächstmit der Untersuchung patho-physiologischer Veränderungenbei unterschiedlichen neurolo-gischen Erkrankungen beschäf-tigt. Seine damaligen Arbeiten

legten wichtige Grundlagenfür die klinische Anwendungder Positronen-Emissions-To-mographie. Anfang der 90er-Jahre wandte er sich dann zu-nehmend Aktivierungsstudienzur Darstellung von Hirnfunk-tionen zu. Diese systematischausgebauten Untersuchungenverschafften Frackowiaks Ar-beitsgruppe bald eine weltweitführende Position auf dem Ge-biet der funktionellen Hirn-lokalisation. Die bevorzugteMethode bei solchen Forschun-gen war die funktionelle Mag-net-Resonanz-Tomographie, dieohne Strahlenbelastung aus-kommt und sowohl strukturelleals auch funktionelle Bilderhoher räumlicher Auflösungliefert.

In seinem Vortrag über „Diefunktionale Architektur desmenschlichen Gehirns” anläss-lich der Preisverleihung be-schrieb Frackowiak, wie der –automatisierte – Prozess derBilderzeugung und –analyse sostandardisiert werden konnte,dass sich seine Ergebnisse zurAnfertigung struktureller undfunktioneller Hirnkarten nut-zen lassen. Die aufregendsteund dramatischste Erkenntnisaus solchen Karten sei die dy-namische Plastizität in Funkti-on und Struktur, die sowohlnormale Gehirne als auch sol-che von Patienten mit neurolo-gischen und neuropsychiatri-schen Störungen aufweisen.Neuere Studien erbrachten in-zwischen interessante Informa-tionen über die Fähigkeit desHirns, sich nach Verletzungenund in Verbindung mit Übenund Lernen zu reorganisieren.

NIKOS LOGOTHETIS wurde 1950geboren und ist griechischerStaatsbürger. Er studierte Ma-thematik und Musik in Athensowie Biologie in Thessalonikiund in München. An der dorti-gen Ludwig-Maximilians-Uni-versität wurde er 1985 in Hu-

man-Neurobiologie promoviert.Von 1985 bis 1990 arbeiteteLogothetis als Postdoc und spä-ter als wissenschaftlicher Mit-arbeiter am Brain and Cogni-tive Science Institute des MIT inCambridge, USA. Im Jahr 1990wurde er Associate Professorund 1994 Professor am BaylorCollege of Medicine im ameri-kanischen Houston. Zwei Jahrespäter schließlich berief dieMax-Planck-Gesellschaft NikosLogothetis als Wissenschaftli-ches Mitglied und Direktor derAbteilung für Physiologie kog-nitiver Prozesse an das Max-Planck-Institut für biologischeKybernetik in Tübingen. Zu denhohen Auszeichnungen, dieihm verliehen wurden, gehör-ten der DeBakey Award for Ex-

cellence in Science (1996) undder Louis-Jeantet-Preis für Me-dizin (2003).

Logothetis kombiniert un-terschiedliche Untersuchungs-verfahren miteinander, um im-mer tiefere Einblicke in dasneuronale Hirngeschehen zugewinnen. Zwar liefert diebildgebende funktionelle Mag-net-Resonanz-Tomographieunter Nutzung der BOLD-Kon-traste eine Fülle von Informa-tionen über das Primatenhirn,doch wirft sie auch immerneue Fragen auf. Um sie beant-worten zu können, muss dieneuronale Organisation desHirns auf einem Niveau er-forscht werden, das mit dieserTechnik allein nicht zu errei-chen ist – elektrophysiologi-sche, histologische, neuroche-mische sowie spektroskopischeVerfahren und Methoden dermolekularen Bildgebung müs-

sen hinzukommen. In seinemVortrag bei der Verleihung desZülch-Preises sprach Logothe-tis über die multimodale Me-thodologie, die er bei seinenVersuchen mit Affen eingesetzthat und die es ermöglichte,Hirnstrukturen bis in den Milli-meterbereich aufzulösen.

Mit einer solchen Methoden-kombination gelang Nikos Lo-gothetis und seinen Mitarbei-tern im Jahr 2001 ein entschei-dender Durchbruch: Sie konn-ten klären, welche neuronalenAktivitäten durch die fMRT-BOLD-Messungen eigentlichwiedergegeben werden. Beidiesem Verfahren werden dieunterschiedlichen magneti-schen Eigenschaften von arteri-ellem (sauerstoffreichem) undvenösem (sauerstoffarmem)Blut dazu genutzt, im Hirnge-webe die Veränderungen desBlutes zu bestimmen, die durcheine erhöhte Neuronenaktivitätausgelöst werden.

Dabei blieb allerdings unge-klärt, ob diese Änderungenauftreten, wenn die Neuronen„feuern” – also ein Ausgangs-signal aussenden –, oder wennsie aus anderen HirnregionenEingangssignale empfangenund verarbeiten. Eine Antwortauf diese Frage durch zeitglei-che elektrophysiologische Mes-sungen schien unmöglich, dasich zum Beispiel die Elektro-denableitung aus den Zellenund das Magnet-Resonanz-Verfahren gegenseitig stark be-einflussen.

Dem Tübinger Team gelanges, dieses Manko durch Ver-wendung von Spezialelektro-den und mittels einer ausgeklü-gelten Datenverarbeitung zubeseitigen. Daher lassen sichjetzt beide Methoden gleichzei-tig im Tierversuch anwenden.Ein Vergleich der dabei gewon-nenen Messdaten führte zu derErkenntnis, dass das fMRT-BOLD-Bild nicht das Ausgangs-signal der Nervenzellen wider-spiegelt, sondern vorwiegendvom Eingangssignal und dessenlokaler Verarbeitung bestimmtwird. ●

Nikos Logothetis

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EU-GRADUIERTENPROGRAMM

Nachwuchsarbeitfür die Biomimetik

Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kolloid-und Grenzflächenforschungsowie der Universität Potsdamorganisieren seit 1. Septemberunter Leitung von Reinhard Lipowsky das internationaleMarie-Curie-Programm „ESTon Biomimetic Systems”. Voninsgesamt etwa 100 Anträgenim Bereich Physik erhielten nur vier den Zuschlag der Eu-ropäischen Kommission – da-runter war der des PotsdamerMax-Planck-Instituts. Im 6. Europäischen Forschungs-rahmenprogramm wird dasNetzwerk aus sechs europäi-schen Partnern über eine Lauf-zeit von vier Jahren gefördert.

Weltweit haben nur wenigeForschungseinrichtungen recht-zeitig das Potenzial im Bereichder „biomimetischen Systeme”erkannt. Hingegen wird am Max-Planck-Institut für Kolloid- undGrenzflächenforschung bereitsseit vier Jahren eine „Interna-tional Max Planck ResearchSchool on Biomimetic Systems”(IMPRS) mit dem Ziel betrieben,den besten Nachwuchswissen-schaftlern eine hoch qualifizierteund multidisziplinäre Ausbildungzu bieten.

Bis vor wenigen Jahren wurdedas Wort biomimetisch nur in ei-nem kleinen Kreis von Vorden-kern verwendet. Heute ist derBegriff schon bis in die Kino-und Werbewelt vorgedrungen,taucht in Serien wie „Star Trek”auf oder preist die Qualität vonHautcremes an. Doch was ver-birgt sich dahinter? In der Biomi-metik versucht man anhand vonModellsystemen, den komplexenAufbau und die Selbstorganisa-tion biologischer Systeme zu verstehen – wie die hierarchischeStruktur von Knochen und Holz.Dabei geht es insbesondere umdie verborgenen Dimensionender Selbstorganisation im Nano-

Richard Frackowiak

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Die Neuronova AG hat nachdem Abschluss des erstenTeils einer Finanzierungsrun-de im Herbst vergangenenJahres nunmehr im Juni undAugust die Finanzierung inHöhe von insgesamt vier Millionen Euro erfolgreichbeendet. Das Unternehmenwurde im Jahr 2002 als Spin-off des Max-Planck-Institutsfür Psychiatrie in Münchengegründet, um ein neuesKonzept zur Behandlung von depressiven Erkrankungenund Angstzuständen zu ver-wirklichen. Damit erfülltNeuronova einen akuten Be-darf, fehlen doch auf diesemGebiet schon seit Jahrenneue Impulse.

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ten und will dieses Gen als Ziel-struktur für eine neue Klassevon Medikamenten nutzen, dieerstmals ursächlich ins Krank-heitsgeschehen eingreifen – ei-ne hervorragende Ausgangsba-sis für das Unternehmen. So istes den Gründern schnell gelun-gen, ein erfahrenes Team anMitarbeitern zusammenzustel-len, um die Umsetzung der Er-kenntnisse in neue Therapienund deren Kommerzialisierungvoranzutreiben. Dies hat auchprofessionelle Kapitalgeber derBranche überzeugt: Die erste Finanzierungsrunde über vierMillionen Euro wurde jetzt ab-geschlossen und mit Life Scien-ces Partners ein renommiertereuropäischer Lead-Investor ge-wonnen. Neuronova war imvergangenen Jahr eine von nurzwei deutschen Firmen im Bio-technologiebereich, die eineErstrundenfinanzierung erhielt.

Die Neuronova AG hat es sichzum erklärten Geschäftsziel ge-setzt, auf Basis der neuartigenForschungskonzepte und -er-kenntnisse die interne Medika-mentenentwicklung so weit wiemöglich in Eigenregie voranzu-bringen. Dennoch haben bereitsdie ersten etablierten Unter-nehmen großes Interesse anForschungs- und Entwicklungs-partnerschaften bekundet. AlsGründungsstätte von Neurono-va konnte das Max-Planck-In-stitut für Psychiatrie seine Posi-tion als international führendeEinrichtung ein weiteres Malbelegen. ●

Zudem zeigen diese Medika-mente oft gravierende Neben-wirkungen und haben sehr lan-ge Anlaufzeiten, bis sich dieerste Besserung einstellt. DerBedarf an neuen Behandlungs-methoden ist daher enorm.

Allmählich beginnen die Wis-senschaftler, das Wechselspielvon Genetik, Stoffwechsel undUmwelt zu verstehen – Fakto-ren, die zur Entstehung von Depression und Angsterkran-kungen beitragen. Basierendauf wegweisenden Erkenntnis-sen langjähriger Studien desMax-Planck-Instituts für Psy-chiatrie in München entwickel-te das Neuronova-Team um denheutigen VorstandsvorsitzendenHerbert Stadler und um den Fir-

Ein neues Konzept zur Behandlung von Depressionen und Angst-erkrankungen verfolgt die Neuronova AG um deren Vorstandsvorsitzen-den Herbert Stadler (hier mit Laborantin Yvonne Grübler).

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Neuronova setzt Erfolgskurs fort

veranstaltungen sowie Gäste ausdem Ausland bietet die Schuleein einzigartiges Programm imBereich biomimetischer Systeme.Die jungen Wissenschaftler sinddadurch in der Lage, unter best-möglichen Bedingungen an For-schungsprojekten zu arbeitenund sich auf ihre Dissertation sowie auf eine erfolgreiche Kar-riere in der Forschung vorzube-reiten.

Aufgrund der fruchtbaren Zusammenarbeit mit der „IMPRSon Biomimetic Systems” erklär-ten sich im Jahr 2003 viele inter-nationale Forschungspartner be-reit, ein Graduiertenprogrammzu organisieren. So entstand eingemeinsames Ausbildungspro-gramm zwischen dem Max-Planck-Institut für Kolloid- undGrenzflächenforschung, dem Niels-Bohr-Institut in Kopenha-gen, dem Institute of Bioengi-neering in Mailand, dem CNRS inToulouse, der University of Edin-burgh und dem Institut für Metallforschung in Leoben. Das Marie-Curie-Programm „EST onBiomimetic Systems” wird seitdem 1. September mit einer Be-willigungssumme von rund 3,6Millionen Euro gefördert, kann27 Studenten aufnehmen undführt zu einem Abschluss in denFächern Physik, Chemie oder Bio-logie. Die Hauptaufgaben desProjekts bestehen darin, Lehrver-anstaltungen und Workshops zukoordinieren und den internatio-nalen wissenschaftlichen Aus-tausch zu fördern. ●

und Mikrometerbereich. DieProjekte beschäftigen sichdamit, wie das intrazellulä-re Netzwerk auf Reizungenaußerhalb der Zelle rea-giert oder auf welche Wei-se es „Nanomaschinen” ge-lingt, die Filamente diesesNetzwerks für den Transportinnerhalb der Zelle zu benut-zen. Außerdem werden die Eigenschaften von Lipid-Memb-ranen untersucht, die biologi-schen Membranen innerhalb undauf der Oberfläche von Zellenähneln. Die Wissenschaftler stu-dieren auch, wie sich Nanokap-seln aus Biomaterialien herstel-len lassen; mit deren Hilfe hofftman auf viel versprechende An-wendungen im medizinischenund pharmakologischen Bereich,beispielsweise in der Krebsthera-pie. Ähnliche Anwendungsmög-lichkeiten bietet auch die For-schung an so genannten Biosen-soren; hier werden die elektro-nischen Eigenschaften mancherBiomoleküle so optimiert, dasssich Signale – beispielsweise dieKonzentration freier Radikale –effizient messen lassen.

Um all diese unterschiedlichenAspekte biomimetischer Systemezu verstehen, brauchen die For-scher eine starke Vernetzung und Zusammenarbeit zwischentraditionell getrennten Fächern,wie theoretischer und experi-menteller Physik, Chemie undBiochemie, Biologie und Ingeni-eurswissenschaften. Denn für die Untersuchung benötigt man(bio)chemische Methoden, umdie Systeme aufzubauen, (bio)-physikalische Methoden, um ih-re supramolekulare Organisationund die einzelnen Bausteine zucharakterisieren sowie theoreti-sche Methoden, um diese Sys-teme zu modellieren und zu ana-lysieren.

Die am Max-Planck-Institutfür Kolloid- und Grenzflächen-forschung geführte „IMPRS onBiomimetic Systems” fungiert alsSchnittstelle und hat die Auf-gabe, ihren Doktoranden den di-rekten Kontakt zu Experten inden unterschiedlichen Fächernzu vermitteln. Durch viele Lehr-

Die Max-Planck-Gesellschaftplant ein neues Institut fürSoftwaresysteme. Es soll inForm zweier wissenschaftlichgleichwertiger Teilinstitute anden Standorten Kaiserslauternund Saarbrücken gegründetwerden. Dabei sind im Endaus-bau fünf Abteilungen mit ei-nem Gesamthaushalt von mehrals 10 Millionen Euro pro Jahrsowie etwa 280 Beschäftigtenvorgesehen.

Das neue Max-Planck-Institutwird die wissenschaftlichenGrundlagen für die Entwicklungkomplexer Softwaresysteme er-forschen. Diese spielen eine zu-nehmend wichtige Rolle – etwabei Betriebssystemen, unterneh-mensübergreifenden Geschäfts-prozessen, Telekommunikations-netzen oder in der Automobil-und Flugzeugindustrie. WeitereSchwerpunkte des neuen Max-Planck-Instituts sind innovativeProgrammiersprachen und Fra-gen der Datensicherheit.

Nach sorgfältiger Begutach-tung des wissenschaftlichenUmfelds und des Entwicklungs-potenzials hat sich die Max-Planck-Gesellschaft dafür ent-schieden, das neue Institut anzwei Standorten aufzubauen.Zusammen mit dem bestehen-den Max-Planck-Institut für In-formatik in Saarbrücken, denbeiden Fraunhofer-Instituten fürExperimentelles Software En-gineering sowie für Techno- undWirtschaftsmathematik in Kai-serslautern, dem Deutschen For-schungszentrum für künstlicheIntelligenz und den beiden Uni-versitäten soll ein national wieinternational führender For-schungscluster im Bereich derInformatik entstehen. Die ab-schließende Gründungsentschei-dung wird bei der nächsten Sit-zung des Senats der Max-Planck-Gesellschaft am 19. No-vember in München erwartet. ●

INSTITUT GEPLANT

Innovative Software

men-Mitgründer und Instituts-direktor Florian Holsboer völligneuartige Konzepte zur Be-handlung von Depressions-krankheiten und Angstzustän-den. Diese Ansätze beruhen vorallem auf der Entdeckung einesbestimmten genetischen Fak-tors, für den in umfangreichenUntersuchungen – auch amMax-Planck-Institut für Psy-chiatrie – an mehreren Bevölke-rungsgruppen ein eindeutigerZusammenhang mit der Ent-wicklung von Depression nach-gewiesen wurde. Neuronova hatexklusiven Zugang zu den Da-

Verfügbare Medikamente ba-sieren nach wie vor auf jahr-zehntealten Wirkprinzipien, dieaktuelle Erkenntnisse über daskomplexe Ursache-Wirkungs-Verhältnis bei der Krankheits-entstehung unberücksichtigtlassen. Praktisch alle Präparategreifen in den Monoamin-Haushalt im Gehirn ein, um dasdort auftretende krankhafteUngleichgewicht der Boten-stoffe auszugleichen. Diesereinseitige Ansatz bringt jedochnur für einen Teil der PatientenErleichterung, für andere fehlteine geeignete Therapieoption.

Forschen für den Menschen: Postdoc Markus Henniger und Yvonne Grübler.

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Blick in die Nanowelt: Das Kraftmikroskop nahm diese getrockneten polymeren Hohlkapseln auf.

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● Manaus

Forschungseinrichtungen derMax-Planck-Gesellschaft

● Institut/Forschungsstelle● Teilinstitut/Außenstelle❍ Sonstige Forschungs-einrichtungen

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Verantwortlich für den Inhalt:Dr. Bernd Wirsing (-1276)

MAXPLANCKFORSCHUNG will Mitarbeiter und Freunde der Max-Planck-Gesell-schaft aktuell informieren. Das Heft erscheint in deutscher und englischer Sprache (MAXPLANCKRESEARCH) jeweils mit vier Ausgaben pro Jahr. Die Auflage der MAXPLANCKFORSCHUNG beträgt zurzeit 36 000 Exemplare (MAXPLANCKRESEARCH: 8 000 Exemplare). Der Bezug des Wissenschaftsmagazins ist kostenlos. MAXPLANCKFORSCHUNG wird auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Nachdruck der Texte unter Quellenangabe gestattet. Bildrechte können nachRücksprache mit der Redaktion erteilt werden.Alle in MAXPLANCKFORSCHUNG vertretenen Auffassungen und Meinungen können nicht als offizielle Stellungnahme der Max-Planck-Gesellschaft und ihrer Organe interpretiert werden.

Die Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften unterhält 78 Forschungsinstitute, in denen rund 12 200 Mitarbeiter tätig sind, davon etwa 4200 Wissenschaftler. Hinzu kamen im Jahr 2003 rund 9600 Stipendiaten,Gastwissenschaftler und Doktoranden. Der Jahresetat 2004 umfasst insge-samt 1325 Millionen Euro. Die Forschungsaktivität erstreckt sich überwiegendauf Grundlagenforschung in den Natur- und Geisteswissenschaften. Die Max-Planck-Gesellschaft sieht ihre Aufgabe vor allem darin, Schrittmacherder Forschung zu sein. Die Max-Planck-Gesellschaft ist eine gemeinnützige Organisation des privaten Rechts in der Form eines eingetragenen Vereins. Ihr zentrales Entscheidungsgremium ist der Senat, in dem eine gleichwertige Partnerschaft von Staat, Wissenschaft und sachverständiger Öffentlichkeit besteht.

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Info

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DIE EINRICHTUNG des europäischen For-schungsrats für die Grundlagenforschung (Eu-ropean Research Council, kurz ERC) stand imMittelpunkt der Gespräche von Max-Planck-Präsident Peter Gruss und dem Leiter der Ge-neraldirektion Forschung der EU-Kommission,Achilleas Mitsos. Gruss und Mitsos trafen sichauf der jüngsten Sitzung des Europäischen Fo-rums der Max-Planck-Gesellschaft. Das Forumdient einerseits dem regelmäßigen Gedanken-austausch mit Führungspersönlichkeiten dereuropäischen Institutionen und andererseitsdem Ziel, Exzellenzforschung in Europa zumDurchbruch zu verhelfen. Die Max-Planck-Ge-sellschaft möchte die Grundlagenforschung inEuropa durch die Einrichtung eines ERC weitergestärkt wissen. Im Forum selbst und in an-schließenden Diskussionen gab es große Über-einstimmung mit der Kommission darüber, wie das ERC aussehen müsste. So sollte ein europäischer Forschungsrat eine Struktur miteinem hohem Maß an Unabhängigkeit bekom-men, um autonom operieren zu können. Dazusollte eine schlanke Administration mit großenFreiheitsgraden im Management ermöglichtwerden. Forschergruppen sollten sich individu-ell bewerben können, und einer Förderent-scheidung des ERC sei als einziges KriteriumExzellenz durch Wettbewerb zu Grunde zu legen. Am Ende könne über das 7. Forschungs-rahmenprogramm der EU (2007 bis 2010) eineEinrichtung verwirklicht werden, die vergleich-bar mit der amerikanischen National ScienceFoundation sei. Offen blieb im Gespräch mitGeneraldirektor Achilleas Mitsos jedoch, wel-che Rechtsform zur Verwirklichung dieser ge-meinsamen Ziele zu wählen sei. Das Max-Planck-Institut für Völkerrecht hat durch einenseiner Direktoren, Armin von Bogdandy, bereitszwei Rechtsgutachten vorgelegt, deren Vor-schläge derzeit von der Kommission geprüftwerden. Darüber hinaus wurde im Europäi-schen Forum über weitere Eckpunkte des 7. Forschungsrahmenprogramms der EU ausSicht der Max-Planck-Gesellschaft beraten.

EXZELLENZ ZAHLT SICH AUS: Mit zehn Mil-lionen Euro fördert die EU-Kommission jetztden Zusammenschluss europäischer Experten,die auf dem Gebiet der dreidimensionalenElektronenmikroskopie zusammenarbeiten. Mit dabei sind die Max-Planck-Institute fürBiochemie in Martinsried und für Biophysik inFrankfurt; sie gehören zu den insgesamt 15Partnern aus Deutschland, der Schweiz, Spani-en, den Niederlanden, Schweden, Frankreichund Großbritannien. Das Exzellenz-Netzwerk –dessen wissenschaftliches Management liegtbeim Martinsrieder Max-Planck-Institut – hatdas Ziel, die dreidimensionale Darstellung von

Makromolekülen und molekularen Maschinenin lebenden Zellen, langfristig sogar von Zellor-ganellen und ganzen Zellen, mit atomarer Auf-lösung zu erreichen. Dazu wollen die Partnerdie Kommunikation zwischen Wissenschaftlernund Unternehmen verbessern, gemeinsameForschungsprojekte und Datenstandards unter-stützen sowie anwendungsfreundliche Soft-ware zur Erhebung und Auswertung elektro-nenmikroskopischer Daten entwickeln. Einhochkarätiges Trainingsprogramm für denNachwuchs im Bereich der Strukturbiologie sollferner die Ausbildungschancen aufwerten.

ERST IM MAI LOCKTE der Katastrophenfilm„The Day After Tomorrow” die Menschen in die Kinos, im August und September schocktendie Hurrikane „Charley” und „Frances“ die Be-wohner des US-Bundesstaats Florida. Das Klimableibt also im Gespräch. Dass es auch zent-rales Forschungsthema ist, dafür sorgt das nunin Hamburg eröffnete Zentrum für Marine undAtmosphärische Wissenschaften (ZMAW): einegemeinsam von der Max-Planck-Gesellschaftund der Universität Hamburg betriebene Ein-richtung. Bundesforschungsministerin EdelgardBulmahn und Max-Planck-GeneralsekretärinBarbara Bludau weihten den 16 Millionen Euroteuren Neubau im Juni ein. Das Gebäude be-herbergt zwei Abteilun-gen des Max-Planck-Instituts für Meteorolo-gie sowie zahlreiche Institute der UniversitätHamburg – darunter dasInstitut für Meereskun-de, das MeteorologischeInstitut, die Institute fürGeophysik, Biogeoche-mie und Meereschemie,Hydrobiologie und Fischereiwissenschaft sowiedie Uni-Forschungsgruppe „Nachhaltige Ent-wicklung”. Die Wissenschaftler arbeitenfächerübergreifend daran, anhand von Simula-tionen und Erdsystemmodellen regionale Effekte globaler Klimaveränderungen zu erfor-schen und vorauszusagen. Und sie wollen Stür-me, Fluten, Erdbeben und Vulkanausbrüche be-rechenbarer machen. Dazu untersuchen sie so-wohl die physikalischen und chemischen Pro-zesse in der Atmosphäre als auch die Ozeaneund berücksichtigen die Wechselwirkungen mit den vielfältigen Eingriffen der Menschen.Die interdisziplinäre Zusammenarbeit der Wis-senschaftler, die Bibliothek, Werkstätten unddie Koordinierungsstelle für Forschungsschiffegemeinsam nutzen, verleiht dem ZMWA dieKapazität, um die logistisch aufwändige undteure Erdsystemforschung schlagkräftig zu betreiben. ●

Das Klima im Blick-punkt: Die Max-Planck-DirektorenGuy Brasseur undHartmut Graßl,Hamburgs Wissen-schaftssenator JörgDräger, Bundesfor-schungsministerinEdelgard Bulmahnund Universitäts-Präsident JürgenLüthje (von links)bei der Einweihungdes Zentrums fürMarine und Atmo-sphärische Wissen-schaften.

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BLICKpunkt

Importierte Fitness: Auch die Gerste ist nicht gegen Schädlinge gefeit. So befällt der Mehltaupilz die Pflanzeund vernichtet viele Ernten. Um das pflanzliche Immunsystem zu überwinden, manipuliert der Parasit ein MLO-Protein in derZellmembran. Fehlt das Mlo-Gen und damit das Protein, ist dem Pilz die Grundlage entzogen, um die Immunantwort derPflanze zu unterwandern: Der Feind kommt nicht zum Zug. Eine Mutation mit eben dieser Wirkung ist bei einer frühenGerstensorte aus Äthiopien aufgetreten (links); anders als die europäische Zuchtform (rechts) besitzt sie keine Grannen. Dieäthiopische Pflanze wurde in neue Gerstensorten eingekreuzt, die heute wegen ihrer Resistenz gegen Mehltau häufigangebaut werden und den Einsatz von Fungiziden überflüssig gemacht haben. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts fürZüchtungsforschung in Köln haben nun den Mechanismus dieser Resistenz aufgeklärt: Ein Bruchstück des Mlo-Gens tauchtwiederholt im Genom der Mutante auf - direkt neben dem regulären Gen - und zerstört das eigentliche Leseraster: Das Genlässt sich nicht mehr korrekt ablesen und das Protein nicht mehr produzieren. Eine Art „genetischer Fingerabdruck“ deräthiopischen Landrassen zeigt, dass die Mutation vor weniger als 10 000 Jahren entstanden ist. Dieser Zeitraum stimmt gutmit der Kultivierung der Gerste durch den Menschen überein. Die Forscher vermuten, dass die gegen Mehltau resistentenLandrassen möglicherweise von äthiopischen Ureinwohnern als vorteilhaft erkannt und vermehrt worden sind.

FOTO: MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR ZÜCHTUNGSFORSCHUNG/RALPH PANSTRUGA