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7/23/2019 MPF_2004_4 Max Planck Forschung http://slidepdf.com/reader/full/mpf20044-max-planck-forschung 1/42 MaxPlanckForschung MaxPlanck Forschung Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft ZUR SACHE Einstein und die Kraft des leeren Raums ZUR SACHE Einstein und die Kraft des leeren Raums FOKUS Chips mit Grips FOKUS Chips mit Grips  ANTHROPOLOGIE Was unser Urahn im Kopf hatte  ANTHROPOLOGIE Was unser Urahn im Kopf hatte PRIVATRECHT „Die Afghanen haben wenig Vertrauen in den Staat“ PRIVATRECHT „Die Afghanen haben wenig Vertrauen in den Staat“ B20396F 4/2004

MPF_2004_4 Max Planck Forschung

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MaxPlanckForschungMaxPlanckForschungDas Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 

ZUR SACHE

Einstein und

die Kraft des

leeren Raums

ZUR SACHE

Einstein und

die Kraft des

leeren Raums

FOKUS

Chips mit Grips

FOKUS

Chips mit Grips

 ANTHROPOLOGIE

Was unser Urahn

im Kopf hatte

 ANTHROPOLOGIE

Was unser Urahn

im Kopf hatte

PRIVATRECHT

„Die Afghanen haben

wenig Vertrauen

in den Staat“

PRIVATRECHT

„Die Afghanen haben

wenig Vertrauen

in den Staat“

B20396F4/2004

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4 / 2 0 0 4 M A X  P  L A N C K F  O R S C H U N G   32   M A X  P L A N C K F  O R S C H U N G   4 / 2 0 0 4

INHAL

NOTIZEN des Präsidenten   4 Mehr Freiraum für Talente

FORSCHUNG aktuell    5 Frauenmantel mit Nässeschutz

7  Atmosphäre löst sich in Luft auf

8 Sonne im Leistungshoch

9  Wie Keime um die Welt jetten

10 Kinder schaffen Sprache

11 Stadtleben beflügelt Brutgeschäft

12 Gedanken – in Bildern gestapelt

13 Panorama

Zur  SACHE   14 Einstein und die Kraft

des leeren Raums

FOKUS   ■   CHIPS MIT GRIPS

20 Der Chip lebt

24 Das geschrumpfte Chemielabor 

30 Sensoren für das Unsichtbare

36 Gene, die ans Herz gehen

WISSENSCHAFTSgeschichte    40 Einstein-Jahr

Das Institut im Dachzimmer 

WISSEN aus erster Hand    48 Klimaforschung

 Aerosole – Würzstoffe in der Klimaküche

RÜCKblende    54  Am 1. April schlug Alcobacillus zu

FASZINATION Forschung   56 Evolutionäre Anthropologie

 Was unser Urahn im Kopf hatte

FORSCHUNG & Gesellschaft    60 Privatrecht

„Die Afghanen haben

wenig Vertrauen in den Staat“

NEU erschienen   66 Entwicklung und Schule

66 Tour zu den Vorfahren

67 Die Wurzeln der Schrift

Zur  PERSON   68 Dirk G. Kurth

MAX PLANCK aktuell 73 Zwischen Tradition und Moderne74 Fruchtbare Partnerschaft mit China

76 Keimzelle eines internationalen Netzwerks

77 Max-Planck-Forscher im Großeinsatz

78 Infothek

STANDorte    79 Forschungseinrichtungen

der Max-Planck-Gesellschaft

79 Impressum

BLICK punkt    80  Wie kosmische Kanonenkugeln…   F   O   T   O   S  :   T   I   T   E   L  -   C   O   R   B   I   S    /   M   P   I   F    Ü   R   P   O   L   Y   M   E   R   F   O   R   S   C   H   U   N   G    /   M   P   I   F    Ü   R   K   O   H   L   E   N   F   O   S   C   H   U   N   G    /   M   P   I   F    Ü   R   M   O   L   E   K   U   L   A   R   E   G   E   N   E   T   I   K    /   W   O   L   F   G   A   N   G   F   I   L   S   E   R

DER RÖNTGEN-CHIP: Wasverbindet ferne Galaxienhaufenmit Goethes Faust ? Beide lassensich mit Röntgenaugen genauer

untersuchen. Die Herzstückefür die komplexen Detektoren

kommen aus dem Halbleiterlaborder Max-Planck-Gesellschaft.

3030

36DER LABOR-CHIP: Einer großen Heraus-forderung stellt sich eine Gruppe am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung. Gehtes doch darum, chemische Analyseverfahrenso zu miniaturisieren, dass sie auf eine Fläche

von wenigen Quadratzentimetern passen.

DER ABHÖR-CHIP: Das Gespräch zwischenZellen belauschen Wissenschaftler amMax-Planck-Institut für Polymerforschung.In der Praxis könnte diese Technik unteranderem dazu führen, Substanzen auf ihre

Tauglichkeit als Medikament zu testen.

DER DNA-CHIP: Am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik legenForscher den Grundstein für die Medizinvon morgen. Mit Micro-Arrays spürensie normalen oder krankhaften

Prozessen innerhalb von Zellen nach.

3624242020

MAX:Magie desetfelds" –hen amlpunkt der Erde.AX: „Organe aus dembor“ – wie Bioingenieureliche Gewebe schaffen.

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NOTIZEN des Präsidenten

4   M A X P  L A N C K F  O R S C H U N G   4 / 2 0 0 4

Mehr Freiraum für Talente

■  Nachwuchs – Auch Forschen will ge-lernt sein. Deshalb hat die Max-Planck-Gesellschaft schon vor geraumer Zeit eigeneGraduiertenschulen, die so genannten Inter-national Max Planck Research Schools(IMPRS), gegründet. Gemeinsam mit der Hochschulrektorenkonferenz haben wir einKonzept dafür erarbeitet, begabte Uniabsol-

 venten noch besser auf eine wissenschaft-liche Laufbahn vorbereiten zu können.Damit holen wir junge Forscher aus aller 

 Welt zur Promotion nach Deutschland.Tatsächlich stammen 60 Prozent der Dok-toranden an den IMPRS ausanderen Ländern. In Koope-ration mit deutschen undzum Teil ausländischen Uni-

 versitäten hat jede Research

School ein abgestimmtes Ausbildungsprogramm ent-wickelt, um die jungen Talen-te intensiv zu betreuen undzu fördern. Insgesamt habenwir in den vergangenen vier Jahren 36 International MaxPlanck Research Schools ein-gerichtet, sieben davon be-finden sich noch im Aufbau.2005 werden wir das Pro-gramm noch einmal auswei-ten. Schon jetzt zeichnet sichab, dass aus den Instituten rund ein Dutzendneuer Vorschläge für weitere ResearchSchools kommen wird.

■  Zuwachs – Damit junge Wissenschaft-ler in der Postdoc-Phase eigenverantwort-lich forschen und in eine Führungspositionhineinwachsen können, gibt es in der Max-Planck-Gesellschaft „Selbständige Nach-wuchsgruppen“. Fünf Jahre lang erhaltendie Gruppenleiter Geld und Mitarbeiter, uman einem eigenen Projekt zu arbeiten. Ende2004 haben wir zusätzlich zu den bestehen-den 72 Nachwuchsgruppen 20 neu ausge-

schrieben – und zwar themenoffen. Zumersten Mal können die Forscher in ihrer Be-werbung angeben, an welchem Max-Planck-Institut sie ihre wissenschaftlichen Pläne

 verwirklichen möchten. Für uns ist das eineMöglichkeit, viel versprechende junge Talen-te an unsere Institute zu holen, die den Mutund die Ideen haben, in der Forschung neue

 Wege zu gehen. Dadurch ergänzen die Nach-wuchsgruppen die Arbeit unserer etablierten

 Wissenschaftler. Mehr als 700 Kandidatenaus über 15 Ländern haben sich auf unsere

 Ausschreibung beworben. Das zeigt, wie be-kannt und attraktiv die Max-Planck-Gesell-schaft in der Forschungswelt ist. Nun habendie Jurys unserer drei Sektionen die schwie-rige Aufgabe, die besten Bewerber und derenProjekte auszuwählen. In den nächsten Wo-chen und Monaten werden wir diese Kandi-daten einladen, damit sie auf Symposienihre Fähigkeiten unter Beweis stellen.

■  Einsatz – Es war reiner Zufall, aber für die Max-Planck-Gesellschaft ein besondersglücklicher, dass sich die Bestätigung der 

EU-Kommission durch dasEuropäische Parlament mo-natelang hinauszögerte. Dennauf diese Weise konnte der neue Forschungskommissar,

Janez Potocnik, seine Arbeiterst am 22. November 2004offiziell aufnehmen – genauan dem Tag, an dem sichdie Max-Planck-Gesellschaftin Brüssel der europäischenPolitik präsentierte. Der ersteTermin des neuen Forschungs-kommissars war eine Podi-umsdiskussion, moderiert vondem britischen Nobelpreisträ-ger Tim Hunt, in der wir mitzwei Abgeordneten des Parla-

ments über das 7. Rahmenprogramm derEuropäischen Union diskutierten. Nachmit-tags stellten Direktoren aus verschiedenenMax-Planck-Instituten ihre Ideen für mögli-che EU-geförderte Projekte vor. Mit den sogenannten Rahmenprogrammen unterstütztdie Europäische Union Forschungsprojekte inganz Europa. Das laufende Programm endeterst 2006; doch bereits jetzt werden die Wei-chen für das 7. Programm gestellt. Uns ist esein besonderes Anliegen, dass die EU damit

 vor allem die Grundlagenforschung unter-stützt. Außerdem ist uns wichtig, dass einpolitisch und wirtschaftlich unabhängiges

Gremium aus Experten darüber entscheidet,an wen die Gelder vergeben werden. Dabeisollten ausschließlich Qualitätskriterien eineRolle spielen. Denn nur wenn die EU gezieltSpitzenforschung fördert, kann sie gegen dieUS-amerikanische und asiatische Konkurrenzbestehen. Das 7. Rahmenprogramm soll eineLaufzeit von vier Jahren haben und voraus-sichtlich rund 30 Milliarden Euro umfassen.Zum Vergleich: Die Landwirtschaft in der Europäischen Union wird jedes Jahr mit 50Milliarden Euro unterstützt...

Peter Gruss, Präsidentder Max-Planck-Gesellschaft

   F   O   T   O  :   A   N   T   J   E   M   E   I   N   E   N

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Der „Lotos-Effekt" lässtWasser von den Blätternmancher Pflanzen abperlenund entfernt dabei zugleichSchmutzteilchen von derBlattoberfläche. Auf welchenphysikalischen Ursachendieses Phänomen beruht,war unklar. Stephan Her-minghaus, Direktor am Max-Planck-Institut für Dynamik

und Selbstorganisation inGöttingen, und sein KollegeAlexander Otten von derUniversität Ulm haben dasRätsel jetzt zu lösen begon-nen. Sie beschreiben zweiausgeklügelte Mechanismen,dank derer die Blätter ver-schiedener Pflanzenartentrotz Regenschauern oderMorgentau trocken bleiben.(LANGMUIR 2004, Band 20,Seite 2405)

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BIONIK

Frauenmantel mit NässeschutzAnders als es der Name „Lo-tos-Effekt" vielleicht vermutenließe, ist dieser nicht auf dieasiatische Pflanze Nelumbo nu-cifera (Lotosblume) beschränkt.Die verschiedensten Pflanzenzeigen ihn: Sie sind super-hy-drophob – Wasser perlt perfektvon ihren Blättern ab. Dabeinimmt es Staub und Schmutzmit, sodass sich die Pflanze

von selbst reinigt. Diesen Lotos-Effekt gibt es auch bei Tieren:Mit seiner Hilfe bleiben vieleKäferarten ständig sauber, ob-wohl sie im Erdreich leben unddurch verwesende Tierkörperkrabbeln. Das Phänomen kann

 jedoch auch stören: Wenn In-sektizide versprüht werden, sol-len sie an den Pflanzen haftenund Schädlinge abtöten – stattabzuperlen und zu Boden zutropfen.

Die Forscher wissen seit lan-gem, dass der Lotos-Effekt beiPflanzen mit der Mikrostrukturihrer wächsernen Außenschicht(Cuticula ) zusammenhängt undbei Insekten mit der Mik-rostruktur des Chitin-Panzers.Welche physikalischen Mecha-nismen laufen dabei im Einzel-nen ab? Stephan Herminghausund Alexander Otten haben

 jetzt begonnen, an die Stellevon Vermutungen Tatsachen zusetzen. Dazu untersuchten sienicht etwa exotische, seltenePflanzen, sondern die einhei-mischen beziehungsweise leichtzu kultivierenden Arten Kapu-zinerkresse (Tropaeolum majus )und Frauenmantel (Alchemilla vulgaris ): An beiden perlt Was-ser in kugelförmigen Tröpfchenab, doch ihre Blattstrukturenunterscheiden sich erheblich

 Von den Blätternder Kapuzinerkresseperlen Wasser-tropfen perfekt ab.

   F   O   T   O   S  :   L   A   N   G   M   U   I   R   2   0   0   4 ,   2   0 ,   2   4   0   5  –   2   4   0   8  –   S   T   E   P   H   A   N   H   E   R   M   I   N   G

   H   A   U   S    /   A   L   E   X   A   N   D   E   R   O   T   T   E   N

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Der Sonnenwind dringt tiefin die dünne Gashülle desPlaneten Mars ein und könntedadurch wesentlich für denschleichenden Verlust seinerAtmosphäre verantwortlichsein. Das zeigen Messungender Raumsonde Mars Express,die Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Sonnen-systemforschung in Katlen-burg-Lindau mit ausgewertethaben. (SCIENCE, 24. Septem-ber, 2004)

Beim Mars gibt es im Gegen-satz zur Erde wegen der gerin-gen Dichte der Gashülle keinenscharfen Übergang von der Re-gion der neutralen Atmosphärezur Ionosphäre. Meist wird derBereich zwischen 100 und 500Kilometer über der Marsober-fläche als Ionosphäre oderauch als „obere Atmosphäre“bezeichnet. Dass der Sonnen-wind so tief – nämlich bis zu270 Kilometer – in die Atmo-sphäre eindringt, liegt am feh-

lenden Eigen-Mag-netfeld des Plane-ten; früher erzeugte

er dieses Magnet-feld – wie aktuelldie Erde – durch Dy-namoeffekte in sei-nem Inneren. Heutebesitzt der Mars nurnoch ein schwachesMagnetfeld, das imWesentlichen vongeladenen Teilchenaus dem Weltrauminduziert wird.

„Das fehlende ei-gene Magnetfeld hatzur Folge, dass derenergiereiche Son-nenwind fast unge-hindert auf die Mars-

atmosphäre einwirken kannund auf diese Weise mögli-cherweise auch für ihren Ver-lust gesorgt hat“, erklären Joa-chim Woch und Markus Fränzvom Max-Planck-Institut fürSonnensystemforschung. Auf der Erde hingegen schützt dasMagnetfeld die Atmosphäre,

indem es elektrisch geladeneTeilchen des Sonnenwinds ab-fängt und sie um den Globusleitet.

Die neuen Daten vom RotenPlaneten wurden nun mit demTeilchendetektor ASPERA (Ana-lyzer of Space Plasma and Ener-getic Atoms) an Bord von Mars Express  gewonnen. Mit diesenMessungen untersuchen dieWissenschaftler die Wechselwir-kungen zwischen dem Sonnen-

wind und der tagseitigen Iono-sphäre des Mars; zudem bestim-men sie Menge und Masse derIonen sowie die Energie vonElektronen und Ionen in jenermarsnahen Region, in der dieInteraktion des Sonnenwindsmit der Marshülle abläuft.

Die Astrophysiker wissen be-reits, dass unterhalb einerGrenze, der so genannten indu-zierten Magnetosphärengrenze(IMB), in einer Höhe von 650bis 1200 Kilometern über derMarsoberfläche planetare Io-nen – vor allem Wasserstoff undSauerstoff – das Plasma domi-

nieren. Unterhalb der Photo-elektronengrenze (PEB), in einerHöhe zwischen 250 und 500Kilometern, befinden sichhauptsächlich ionosphärischeElektronen, die durch die UV-Strahlung der Sonne entstehen.

Mit den ASPERA-Daten ha-ben die Wissenschaftler jetztnachweisen können, dass derSonnenwind sehr tief in die At-mosphäre des Mars gelangt.„Die Sonnenwind-Ionen drin-gen bis in eine Höhe von 270Kilometern in die Ionosphärevor und verursachen dort einenAbfluss planetarer Sauerstoff-Ionen“, sagt Markus Fränz. Da-mit hat der Sonnenwind einenweit effektiveren Einfluss auf die Marsatmosphäre als bisherangenommen: „Unsere Auswer-tungen zeigen, dass das indu-zierte Magnetfeld des Mars füreinen Teil des Sonnenwindsdurchlässig ist.“

Damit erscheint die Region

zwischen den beiden Grenzen,der IMB und der PEB, von be-sonderer Wichtigkeit, um dieWechselwirkung zwischen Son-nenwind und planetarem Plas-ma besser zu verstehen. Ausder Datenanalyse erhoffen sichdie Wissenschaftler genauereInformationen auch darüber,auf welche Weise der Planet inden vergangenen vier Milliar-den Jahren seine vermutetenUr-Ozeane verloren hat.   ●

FORSCHUNG aktue

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sammen? Noch dazu scheintdie Kugel über der Blattober-fläche zu schweben. Sie hängtnur an den Härchen, die sichbüschelweise zusammendrän-gen, sodass sie sich genau ander Grenze zwischen Luft undWassertropfen überkreuzen.

Wegen ihrer chemischenStruktur ziehen die Härchendas Wasser zu sich hin. EinHärchen, das in die Wasserober-fläche ragt, verformt diese –und das kostet Energie. Aller-dings bedarf es weniger Auf-wands, wenn die Härchen sichdabei zusammentun, statt als„Einzelkämpfer" die Oberflächezu verformen. Deshalb werdendie Härchen büschelweise zu-sammengezogen und dabei ge-

bogen. Die Härchen setzen demaber Widerstand entgegen undlassen sich nicht ohne weiteresbiegen: Die Blattoberfläche, inder die Härchen festsitzen, unddie Tropfenoberfläche, an derdie Härchen in den Tropfen ra-gen, stoßen einander ab. DerTropfen wird an den Härchenhochgehoben und scheint überder Blattoberfläche zu schwe-ben: Dieses „Emporhüpfen"konnten die Wissenschaftler un-ter dem Mikroskop beobachten.

Der eine Teil des Lotos-Effek-tes ist durch die beiden Mecha-nismen erklärt: Bei der Kapuzin-erkresse lässt die Hierarchieverschiedener Längenskalen inder Blattstruktur die Blättersuper-hydrophob werden. BeimFrauenmantel sorgt das Wech-selspiel von Oberflächenverfor-mung und Verbiegung dafür,dass die Tropfen von Wasser an-ziehenden Härchen emporgeho-ben werden und an diesen über

der Wasser abstoßenden Blatt-oberfläche schweben. WeitereUntersuchungen sind jedochnotwendig, um auch den an-deren Teil des Lotos-Effektes –die Selbstreinigung – genau zuverstehen. Aber egal ob selbst-reinigende Wandfarbe, robusteAutolacke oder wasserdichteOutdoor-Bekleidung entwickeltwerden sollen: Die Forschungs-arbeit dürfte sich in jedem Fallbezahlt machen. ●

Büscheln und der Rauigkeitdurch die Nanoröhrchen selbst.Setzten die Wissenschaftler ei-nen Wassertropfen auf das zu-vor trockene Muster, so perlteer kugelförmig ab. An derGrenzfläche zwischen künstli-chem Muster und Wasser wur-de Luft zwischen den Büscheln

aus den Nanoröhrchen einge-schlossen. Die Bläschen diesesLuftpolsters erstreckten sich je-weils von einem Büschel zumnächsten und riefen einen hell-silbrigen Schimmer hervor.

Bildete sich der Tropfen hin-gegen aufgrund kondensierterLuftfeuchtigkeit, war das Mus-ter bei der Entstehung desTropfens schon befeuchtet. DerTropfen begann sich in diesemFall zwischen den Büscheln ausden Nanoröhrchen herauszu-bilden – also dort, wo im an-deren Fall die Lufteinschlüssegewesen waren. Es war keinhell-silbriger Schimmer zu be-obachten, und die Tropfen perl-ten auch nicht kugelförmig ab.

Während bei der Kapuziner-kresse (und bei dem künstlichenMuster) also die Mikrostrukturdes Wachses – eine an sichschon wasserabstoßende Ober-fläche – die Wassertropfennoch stärker abperlen lässt,

kommt beim Frauenmantel einanderer Mechanismus zum Tra-gen. Hier sind die Blätter vonvielen feinen Härchen bedeckt,die jedes für sich wasseranzie-hend sind. Eigentlich sollteman deshalb erwarten, dass dasWasser wie bei Löschpapieraufgesogen wird. Wieso alsofließt ein Wassertropfen auf ei-nem Blatt des Frauenmantelsnicht etwa auseinander, son-dern rollt sich kugelförmig zu-

RSCHUNG aktuell 

6   M A X  P L A N C K  F O R S C H U N G   4 / 2 0 0 4

voneinander. Herminghaus undOtten konnten mittels Raster-elektronenmikroskopie sowieoptischer Messverfahren zei-gen, dass auch die Mechanis-men ganz verschieden sind, auf denen der Lotos-Effekt bei die-sen Pflanzen beruht.

Bei der Kapuzinerkresse ent-hält die Cuticula  Bündel vonkleinen Kristallen aus Wachs;sie lassen die eigentlich glattePflanze matt erscheinen. Wird

 jetzt ein Wassertropfen aufein Blatt gesetzt oder konden-sieren dort Tautropfen, so ent-stehen zwischen den Kristallentaschenartige Lufteinschlüsse.Schräg einfallendes Licht wirdan der Grenze zwischen Luftein-schluss und umgebendem Was-

sertropfen totalreflektiert – dasBlatt unter dem Wassertropfenglänzt silbrig. Das Wasser bildetüber den Lufteinschlüssen einenTropfen, der dann von der Blatt-oberfläche abperlt.

Das Entscheidende: Auf denBlättern gibt es Strukturen un-terschiedlicher Größe – „Hierar-chie der Längenskalen" nennendas die Forscher. Die überge-ordnete Struktur bilden die ei-nige zehn Mikrometer großenZellen der wachsüberzogenenCuticula ; darauf befinden sichim Abstand von ungefähr fünf Mikrometern die Bündel ausWachskristallen, von denen je-der etwa einen Mikrometermisst. Jede dieser Hierarchie-stufen hat eine eigene Rauig-keit. Wenn die verschiedenenRauigkeiten in geeignetem Ver-hältnis zueinander stehen, perltdas Wasser ab.

Wie wichtig das Vorhanden-sein der taschenförmigen Luft-

einschlüsse für diesen Effekt ist,wiesen Herminghaus und Ottenauch an einer künstlichenStruktur nach: Auf einer Silizi-um-Fläche stellten sie ein Mus-ter aus Kohlenstoff-Nanoröhr-chen her. Ovale Büschel vonNanoröhrchen waren in regel-mäßigen Abständen angeord-net. Damit besaß auch daskünstliche Muster eine Struk-tur-Hierarchie, bestehend ausden Abständen zwischen den

WeitereInformationenerhalten Sie von:PROF. DR. STEPHAN

HERMINGHAUS

Max-Planck-Institutfür Dynamik undSelbstorganisation,GöttingenTel.: 0551 5176-200Fax: 0551 5176-664E-Mail: [email protected]

@

Erosion in derIonosphäre des

Mars: PlanetareIonen werden in

der Region zwischender Photoelektro-

nengrenze (PEB)und der Grenze der

induzierten Mag-netosphäre (IMB)beschleunigt und

stromabwärtstransportiert.

MARSFORSCHUNG

 Atmosphäre löst sich in Luft auf 

WeitereInformationenerhalten Sie voDR. JOACHIM WO

Max-Planck-Infür Sonnensystforschung,Katlenburg-Lin

Tel.: 05556 97Fax: 05556 97E-Mail: [email protected]

DR. MARKUS FRÄ

Max-Planck-Infür Sonnensystforschung,Katlenburg-LinTel.: 05556 97Fax: 05556 97E-Mail: fraenzlinmpi.mpg.de

@

ierarchie derängenskalen:uf der Blatt-berfläche derpuzinerkressegibt es einigen Mikrometerße Zellen derchsüberzoge-nen Cuticula

oben), ebensoe Bündel auschskristallen,on denen je-

er etwa einenMikrometer

misst (unten).

   F   O   T   O  :   A   S   P   E   R   A  -   K   O   O   P   E   R   A   T   I   O   N

Wie hat der Rote Planet seineeinst dichte Atmosphäre verlo-ren? Dies zählt zu den span-nendsten Fragen der Mars-forschung. Als ein wichtigerMechanismus kommt dabei dieErosion durch Ladungs- undEnergieaustausch mit den Teil-chen des Sonnenwinds in Frage;

dieser solare Partikelstrom be-steht hauptsächlich aus Proto-nen und Elektronen sowie ausHeliumkernen. Um das Rätselzu lösen, haben Wissenschaftlerdes Max-Planck-Instituts fürSonnensystemforschung Datender europäischen RaumsondeMars Express  ausgewertet. Da-nach dringt der Sonnenwind tief in die Ionosphäre des Mars einund „fegt“ planetare Sauerstoff-Ionen ins Weltall.

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FORSCHUNG aktue

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RSCHUNG aktuell 

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die ein infiziertes Individuumdurchschnittlich auslöst, sowieHeilungs- und Mortalitätsraten.Auf diese Weise konnten dieGöttinger Forscher nachweisen,dass große Knotenpunkte imLuftverkehrsnetz, wie London,New York und Frankfurt, für ei-ne rapide weltweite Ausbrei-tung einer Epidemie verant-wortlich sind – und das nahezuunabhängig davon, wo derKrankheitserreger zum ersten

EPIDEMIOLOGIE

 Wie Keime um die Welt jetten

Auf welche Weise breitensich hoch virulente Infek-tionskrankheiten aus – undwas kann man dagegen tun?Dieser Frage gehen Wissen-schaftler des Max-Planck-Instituts für Dynamik undSelbstorganisation in Göttin-gen und der UniversitätGöttingen nach. Sie haben jetzt ein mathematischesModell vorgestellt, das dieweltweite Ausbreitung vonEpidemien beschreibt; außer-dem erlaubt es Prognosenüber die Ausbreitungswegeneu ausgebrochener Infek-

tionskrankheiten sowie diedavon bedrohten Regionen.(PNAS, vol. 101, 15124-15129, 19. Oktober 2004)

Dank der hohen Mobilität inmodernen Gesellschaften – ins-besondere durch den interna-tionalen Flugverkehr – könnensich tödliche Krankheitserregerrasend schnell über alle besie-delten Gebiete der Erde ausbrei-ten. Wie und auf welchen We-gen das geschieht, haben LarsHufnagel, Dirk Brockmann undTheo Geisel vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbst-organisation jetzt berechnet. Inihrem Modell bewegen sich infi-zierte Individuen zwischen denverschiedenen Knotenpunktendes globalen Flugnetzes und in-fizieren auf diese Weise andereIndividuen.

Für die Simulation habendie Wissenschaftler den Com-puter mit Daten von mehr als

zwei Millionen Flügen proWoche zwischen den 500 größ-ten Flughäfen der Welt gefüt-tert, das entspricht etwa 95Prozent des gesamten zivilenLuftverkehrs. Die Ausbrei-tungs- und Ansteckungsdyna-mik wird durch so genanntestochastische Differenzialglei-chungen beschrieben: Sieberücksichtigen krankheitsspe-zifische Größen, wie etwa dieZahl von Sekundärinfektionen,

Simulationen zeigen, dass nureine schnelle und konzentrierteReaktion die Chance bietet, dieglobale Ausbreitung modernerEpidemien einzudämmen“, er-läutert Geisel. Das BeispielSARS hat gezeigt, wie stark un-sere vernetzte Welt durchneuartige infektiöse Krankhei-ten bedroht ist. Im Fall der

 Vogelgrippe könnte eine gene-tische Vermischung mit

menschlichen Grippeviren so-gar zum Entstehen einesgänzlich neuartigen „Supervi-rus“ führen, befürchten dieExperten. Nach ihrer Einschät-zung wäre eine weltweite Epi-demie mit erheblichen Konse-quenzen die Folge. Allein in denUSA müsste man, vorsichtigenSchätzungen zufolge, mit rund200000 Toten und Kosten zwi-schen 60 und 160 MilliardenUS-Dollar rechnen.   ●

Starke VernetzDie Linien symlisieren den Vezwischen den 5größten Flughäweltweit. Die Fder Linien koddie „Stärke“ de Verbindungenheißt die Anzader Reisenden schen zwei Fluhäfen pro Tag;schen ChicagoNew York etwadas täglich run25000 Mensch

Die Sonne ist seit etwa 60Jahren aktiver als jemals in8000 Jahren zuvor. Dies hateine internationale Forscher-gruppe um Sami K. Solankiund Manfred Schüssler vomMax-Planck-Institut fürSonnensystemforschung inKatlenburg-Lindau heraus-gefunden. Die Wissenschaft-ler prognostizieren darüberhinaus, dass die solare Akti-vität in wenigen Jahrzehntenabflauen wird. (NATURE,28. Oktober 2004)

ASTRONOMIE

Sonne im Leistungshoch

kühlen die Gebiete um etwa1500 Grad ab und erscheinenim Vergleich zu ihrer rund 5800Grad heißen Umgebung dunkel.Die Zahl der Sonnenfleckenschwankt in einem etwa elf-

 jährigen Zyklus. Für die „prä-teleskopische" Zeit vor 1610lässt sich die Sonnenaktivitätnicht aus direkten Beobachtun-gen ableiten. Dennoch gelan-gen die Wissenschaftler an diegewünschten Informationen:Sie sind als so genannte kos-mogene Isotope gespeichert –radioaktive Atomkerne, die inder oberen Atmosphäre der Er-

de produziert werden, wennein energiereiches Teilchen derkosmischen Strahlung auf einLuftmolekül trifft.

Dazu gehört das Isotop C-14,radioaktiver Kohlenstoff, derauch zur Altersbestimmung vonHolz dient. Die Menge des pro-duzierten C-14 hängt davon ab,wie viele Teilchen der kosmi-schen Strahlung die Erdatmo-sphäre erreichen. Deren Zahlwiederum schwankt mit derStärke der Sonnenaktivität: Istsie hoch, so bildet das solareMagnetfeld einen Schutzschildgegen diese aus den Tiefen desWeltalls kommenden Partikel;bei niedriger Aktivität dagegensteigt die Intensität der kosmi-schen Strahlung, weil sie vomschwächeren Magnetfeld derSonne nur mehr ungenügendabgeschirmt wird. Ergebnis: Beihöherer Sonnenaktivität ent-steht weniger, bei geringererSonnenaktivität mehr C-14.

Das auf diese Weise gebildeteC-14 findet sich unter anderemin Baumstämmen. Einige dieserStämme lassen sich noch Jahr-tausende nach ihrem Absterbenintakt aus dem Untergrund ber-gen. Die Forscher messen das inihnen gespeicherte C-14 undbestimmen aus den Baumringendas Jahr, in dem der radioak-tive Kohlenstoff aufgenommenwurde. Auf diese Weise hat dasTeam um Solanki und Schüssler

WeitereInformationenerhalten Sie von:PROF. DR. SAMI

K. SOLANKI

Max-Planck-Institutfür Sonnensystem-forschung,Katlenburg-LindauTel.: 05556 979-325

Fax: 05556 979-190E-Mail: [email protected]

PROF. MANFRED

SCHÜSSLER

Max-Planck-Institutfür Sonnensystem-forschung,Katlenburg-LindauTel.: 05556 979-469Fax: 05556 979-190E-Mail: [email protected]

Fingerabdruck der Sonnenaktivität: Aus C14-Datenrekonstruierte Fleckenzahlen für die vergangenen 11400Jahre erscheinen im oberen Teil des Diagramms als blaue,die direkt beobachteten Fleckenzahlen seit 1610 als roteKurve. Die verlässlichen C14-Daten enden 1900 – derstarke Anstieg der Sonnenaktivität im 20. Jahrhunderttritt dort nicht in Erscheinung. Die Rekonstruktion zeigtdeutlich, dass ein vergleichbarer Zeitraum hoher Son-nenaktivität mehr als 8000 Jahre zurückliegt. Unten:

 Vergrößerter Ausschnitt des im oberen Bild schraffiertenZeitraums mit mehreren Episoden hoher Sonnenaktivität,die sich mit jener im 20. Jahrhundert vergleichen lässt.

r große Son-fleck tauchteg September004 auf. Das

dfeld umfassta 45000 mal00 Kilometerf der Sonne –e Erde würde

   F   O   T   O  :   M   P   I   F    Ü   R   S   O   N   N   E   N   S   Y   S   T   E   M   F   O   R   S   C   H   U   N   G    /   V   A   S   I   L   Y   Z

   A   K   H   A   R   O   V

   F   O   T   O  :   M   P   I   F    Ü   R   D   Y   N   A   M   I   K   U   N   D   S   E   L   B   S   T   O   R   G   A   N   I   S   A   T   I   O   N

Schon 2003 hatten die Forschererste Hinweise darauf entdeckt,dass die Sonne heute aktiver istals in den vergangenen 1000Jahren. Mittels einer Isotopen-analyse von jahrtausendealtenBäumen konnten sie jetzt denZeitraum auf 11400 Jahre –dem Ende der letzten Eiszeit –ausdehnen. Dabei stellten dieAstrophysiker fest, dass dieSonne seit den 1940er-Jahrenaktiver ist als in den acht Jahr-tausenden zuvor. Dies bedeutet,dass sie mehr dunkle Sonnen-flecken, aber auch mehr Erup-

tionen und Gasausbrüche zeigtals in der Vergangenheit. Ursa-che und Energiequelle für allediese Phänomene ist das solareMagnetfeld.

Seit dem frühen 17. Jahrhun-dert beobachten Astronomendurch ihre Teleskope regel-mäßig die Sonnenflecken –Regionen auf der Oberfläche,in denen starke Magnetfelderdie Energieversorgung aus demInneren behindern. Dadurch

mehrfach auf Foto passen.

onnenfleckeneinen dunkel,das in ihnen

rch die Ober-che tretende

e MagnetfeldEnergietrans-rt durch Gas-ungen unter-t. Im inneren,leren BereichSonnenflecksbra) steht dasnetfeld senk-cht, währendin der etwas

en Peripherieumbra) weit-nd horizontal

verläuft.

von SARS lieferten aber nichtnur eine genaue Vorhersage derAusbreitung, sondern ermög-lichten auch Prognosen darü-ber, welchen Erfolg potenzielleImpf- und Kontrollstrategienhaben würden.

Künftig soll das neue Modellhelfen, sowohl die Ausbreitungneu ausgebrochener Infekti-onskrankheiten als auch die da-von besonders bedrohten Re-gionen vorherzusagen. „Unsere

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erhalten Sie voPROF. DR. THEO GMax-Planck-Infür Dynamik unSelbstorganisatGöttingenTel.: 05515176-400Fax: 05515176-402E-Mail: [email protected]

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Mal auftritt. Dabei ist die Kapa-zität des Flughafens an einemKnotenpunkt viel weniger ent-scheidend als der Grad seiner

 Vernetzung. „Wir konnten zei-gen, dass der Versuch,eine Epidemie durch Isolationder zentralen Knoten einzu-dämmen, viel versprechend ist,während eine Blockade derstärksten Verbindungslinienpraktisch kaum einen Effekt

hat“, sagt Theo Geisel.Zur Überprüfung ihres Mo-dells simulierten die Wissen-schaftler die Ausbreitung derLungenerkrankung SARS (Se-vere Acute Respiratory Syndro-me) und verglichen sie mitder Realität aus dem Frühjahr2003. Dabei erzielten die For-scher eine hohe Übereinstim-mung mit dem tatsächlichen

 Verlauf der Epidemie. Die Co m-putersimulationen am Beispiel

die Produktionsrate von C-14über 11400 Jahre zurückver-folgt und daraus schließlich dieZahl der Sonnenflecken ermit-telt. Der Wert liefert auch eingutes Maß für verschiedene an-dere Phänomene der solarenAktivität. Da die Leuchtkraftder Sonne im Promille-Bereichschwankt, ergibt sich aus derneuen Rekonstruktion, dass derStern heute ein wenig hellerstrahlt als in den 8000 Jahrendavor. Aus dem Studium derfrüheren Perioden mit hoherSonnenaktivität sagen die For-scher aber auch voraus, dass diegegenwärtig hohe Aktivität derSonne wahrscheinlich nur nochwenige Jahrzehnte andauernwird.

Ob dieser Effekt wesentlichzur globalen Erwärmung des

Erdklimas im vergangenenJahrhundert beigetragen hat,ist ungeklärt. Die Max-Planck-Forscher weisen darauf hin,dass die Sonnenaktivität seitetwa 1980 auf ungefähr kons-tantem Niveau verharrt – ab-gesehen von Schwankungenmit dem elfjährigen solaren Ak-tivitätszyklus –, dass aber dieTemperatur auf der Erde indiesem Zeitraum stark gestie-gen ist.   ●

   G   R   A   F   I   K  :   M   P   I   F    Ü   R   S   O   N   N   E   N   S   Y   S   T   E   M   F   O   R   S   C   H   U   N   G

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Das jahreszeitlich früheBrüten von Stadtvögeln istnicht nur umweltbedingt,sondern auch genetisch ver-ursacht. Das haben JeskoPartecke und der im Septem-ber verstorbene EberhardGwinner vom Max-Planck-Institut für Ornithologie inAndechs/Seewiesen zusam-men mit Thomas Van’t Hof von der Wright State Uni-versity (USA) am Beispielvon Amseln nachgewiesen.(PROCEEDINGS OF THE ROYAL

SOCIETY B, 7. Oktober 2004)

Stadtvögel starten im Frühlingfrüher mit Partnersuche undBrutaktivitäten als ihre Artge-nossen im Wald. Für dieses

 Verhalten bieten sich zwei Er-klärungen an: Zum einen könn-ten die Differenzen auf denverschiedenen Umweltbedin-gungen beruhen, denen Stadt-und Waldvögel ausgesetzt sind,zum anderen auf einer unter-schiedlichen genetischen Aus-stattung. Diesen beiden Ansät-zen gingen Jesko Partecke undEberhard Gwinner vom Max-Planck-Institut für Ornithologienach. An Stadtamseln unter-suchten sie, ob deren – im Ge-gensatz zu den im Wald leben-den Artgenossen – früherePartnersuche und Brutaktivitä-ten das Resultat von direkterphysiologischer Anpassung andie unterschiedlichen Umwelt-bedingungen sind, oder ob siedurch die genetische Ausstat-tung hervorgerufen werden.

Noch vor 200 Jahren war dieAmsel ein scheuer Waldbewoh-ner. Erst Anfang des 19. Jahr-hunderts begann sie, Dörferund Städte zu besiedeln. Im Zu-ge der Verstädterung habensich die Lebensweisen von inder Stadt und im Wald leben-den Amseln in vielfältiger Wei-se verändert. Dass Stadtamselnim Vergleich zu Waldamselnfrüher im Jahr mit dem Brütenbeginnen, ist seit längerem be-

kannt. Der Grund dafür warbisher jedoch unklar.

Um diese Frage näher zu un-tersuchen, zogen die ForscherAmsel-Nestlinge aus Münchenund aus einem 40 Kilometerentfernten Waldgebiet auf undhielten beide Gruppen in einem

 Vogelraum über zwei Jahre zu-sammen. Während der Studieverfolgten die Wissenschaftler

netische Unterschiede vorhan-den sind und wahrscheinlich zuden zeitlichen Abweichungenim Brutbeginn beitragen“, sagtJesko Partecke.

Welche Umweltbedingungennun konkret die frühe Brutsai-son der Stadtamseln verursa-chen, wissen die Ornithologennoch nicht. Immerhin ließensich schon zwei Faktoren aus-

ORNITHOLOGIE

Stadtleben beflügelt Brutgeschäft

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erhalten Sie voJESKO PARTECKE

WashingtonState UniversitPullman (USA)Tel: +01 509335-7961Fax: +01 509335-3184E-Mail: partecwsu.edu

Die Amsel, ursprünglichein Waldbewohner,fliegt heute zunehmendauf Städte. Diese Tiere

unterscheiden sich inPartnersuche und Brut-aktivitäten von ihrenländlichen Artgenossen.

Kinder erkennen nicht nureffizient Muster in ihrerSprache, sondern sie ent-wickeln diese Muster weiter,indem sie elementare Lern-mechanismen anwenden.Dies haben Wissenschaftle-rinnen vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistikin Nijmegen (Niederlande),dem Barnard College in New York (USA) und der Univer-sität Bristol (Großbritannien)in einer Studie zur Entste-hung einer neuen Gebärden-sprache beobachtet. Damitkonnten sie zeigen, dass der

Spracherwerb die kognitivenFähigkeiten von Kindern ent-scheidend formt. (SCIENCE,17. September 2004)

System. Aus einem ungeordne-ten entwickelte sich ein geord-netes Sprachsystem, das zweiEigenschaften aufweist, die al-len Sprachen gemein sind: Ers-tens besteht jede Sprache auseiner Anzahl von Elementen,die miteinander verknüpft wer-den. Laute werden zu Worten,Worte zu Phrasen und Phrasenzu Sätzen. Zweitens gibt eszwischen den Elementen Rege-lungen, in welcher Reihenfolgesie angeordnet werden. DieseEigenschaften erlauben mit ei-nem endlichen Repertoire anElementen eine unendliche An-

zahl von Äußerungen.Doch können diese Eigen-

schaften als ein Produkt vonkindlichen Lernmechanismen

sonen die Beschreibungen vonBewegungsabläufen mit sol-chen Gesten begleiten. VieleSprachen jedoch funktionierenanders: Sie zerlegen den Ablauf in separate Elemente und ord-nen diese sequenziell an.

Die Wissenschaftlerinnenverglichen nun die Beschrei-bungen, die sie mit den ge-hörlosen Probanden der dreiSprachgenerationen aufge-nommen hatten, und fandenunterschiedliche Strategien.Während die Gebärdensprecherdes ersten Jahrgangs ganzheit-liche Darstellungen wählten,

bevorzugten die Jüngeren einesequenzielle Beschreibung. Siegaben die Art und die Richtungder Bewegungen häufiger mitseparaten Gebärden an. Die

 jüngeren NSL-Sprecher über-nahmen nicht nur das sprachli-che System, sondern entwickel-ten es weiter.

Dieser Prozess verdeutlichtzwei wesentliche Lernstrategi-en bei Kindern: einerseits eineanalytische Herangehensweise,die ihnen hilft, ganzheitlicheSachverhalte in Einzelteile auf-zubrechen, und andererseits dieNeigung, Elemente linear anzu-ordnen. Auf den ersten Blick isteine einzige Geste, die sowohlArt als auch Richtung einer Be-wegung erfasst, ökonomischerals zwei einzelne. Doch erstdurch die separate Form derDarstellung gewinnt eine Spra-che ihre kombinatorische Stär-ke, die sie zu einem effizientenKommunikationsmittel macht.

Denn beide Teile lassen sichwieder mit neuen Gebärdenverwenden.

In ihrer Studie konnten dieWissenschaftlerinnen wesentli-che Mechanismen identifizie-ren, mit denen Kinder Sprachenlernen und weiterentwickeln.Sie gehen außerdem davon aus,dass diese natürlichen Lern-fähigkeiten von Kindern dieStruktur einer Sprache elemen-tar prägen.   ●

LINGUISTIK

Kinder schaffen Sprache

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(Pressebeauftragte)Max-Planck-Institutfür Psycholinguistik,Nijmegen (NL)Tel.: +31 24352-1454Fax: +31 24352-1213E-Mail: [email protected]

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   F   O   T   O  :   M   P   I   F    Ü   R   P   S   Y   C   H   O   L   I   N   G   U   I   S   T   I   K

der erweisenh als kreativerachdesigner zeigen diese

gkeit auch anr Art, wie sieen einsetzen.

   F   O   T   O  :   I   N   G   O   T   E   I   C   H

Eine seltene Gelegenheit habenAsli Özyürek und ihre Kollegin-nen Ann Senghas und KitaSotaro genutzt, um die Entste-hung einer Sprache zu beo-bachten: Sie untersuchten eineGemeinschaft gehörloser Nica-raguaner, die in den vergange-nen 25 Jahren eine neue Gebär-

densprache entwickelt haben.Mittlerweile gibt es drei Gene-rationen gehörloser Sprecherder Nicaraguan Sign Language(NSL) im Alter von vier bis 45Jahren. Die junge Historie die-ser Sprache erlaubte es denWissenschaftlerinnen, verschie-dene Stadien miteinander zuvergleichen.

Über drei Generationen hin-weg veränderten sich die Ges-ten zu einem linguistischen

entstehen, auch wenn sie zu-nächst nicht in den Äußerun-gen vorkommen, die Kinder vonälteren Personen sehen? Umdiese Frage zu klären, baten dieForscherinnen jeweils zehnAngehörige der drei Sprach-generationen, einen Zeichen-trickfilm nachzuerzählen. Die

Probanden sollten Bewegungs-abläufe wie „den Hügel hin-abrollen“ oder „die Wandhinaufklettern“ beschreiben.Darstellungen solcher Bewe-gungsabläufe enthalten Infor-mation sowohl über die Art derBewegung als auch über derenRichtung. Eine Geste würde zumBeispiel eine kreisende Bewe-gung nach unten machen.Tatsächlich haben frühere Stu-dien gezeigt, dass hörende Per-

die saisonale Entwicklung derGonaden (Keimdrüsen) undnahmen Blutproben für die Be-stimmung des so genannten lu-teinisierenden Hormons, das diesaisonale Entwicklung der Go-naden und die Bildung der Ge-schlechtshormone stimuliert.Das Resultat überraschte: Ei-nerseits fanden die Forscher,dass vornehmlich die urbanenUmwelteinflüsse das frühereBrüten der Stadtamseln imFreiland auslösen; denn die imFreiland drastischen Unter-schiede im Gonadenwachstumwaren unter Laborbedingungendeutlich reduziert und im zwei-ten Jahr ganz verschwunden.

Auf der anderen Seite gab eszwischen den beiden Laborpo-

pulationen klare Unterschiede;so begannen die männlichenStadtamseln im ersten Jahrfrüher als ihre ländlichen Art-genossen mit dem Gonaden-wachstum und der Hormonaus-schüttung. Zudem beendetenAmsel-Weibchen aus der Stadtihre reproduktive Phase früherals die Weibchen aus dem Wald.„Diese Befunde lassen uns ver-muten, dass zusätzlich zu denUmweltbedingungen auch ge-

schließen – zusätzliche Nah-rung und die milderen Tempe-raturen in Städten. „Aber esgibt weitere Einflüsse, diewahrscheinlich eine Rolle spie-len“, vermutet Partecke. „Zumeinen könnte die hohe Popula-tionsdichte von Stadtamseln alssozialer Stimulans das Paa-rungsverhalten früher im Jahranregen. Ein anderer Grundliegt vielleicht in der Überwin-terungsstrategie.“

Die Forscher gehen davonaus, dass ein großer Teil derStadtamseln auch in den Städ-ten überwintert, währendWaldamseln den Winter meistim Süden verbringen. „DieStadtvögel wären somit in derLage, früher im Jahr mit der Re-

produktion zu beginnen“, sagtPartecke. Als weitere Ursachekommt das Kunstlicht in denStädten in Frage. Die Zunahmeder Tageslänge im Frühjahr kur-belt das reproduktive Systembei Vertebraten an. Stadtvögelsind noch zusätzlich demKunstlicht ausgesetzt. WelcheAuswirkungen die Verstädte-rung auf die dort lebenden Tier-arten hat, sollen weitere Experi-mente klären helfen.   ●

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FORSCHUNG aktue

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     P    a    n    o    r    a    m    a

Mehr zu dieseThemen findenSie unter wwwmaxplanck.de

roskopie; diese nutzt Elektro-nen, die durch den dünnen Ge-

webeschnitt hindurchscheinen.Dagegen bedienen sich die Hei-delberger Wissenschaftler jenerElektronen, die von der Ober-fläche des Gewebeblocks zu-rückgeworfen werden, und ar-beiten außerdem mit dem indie Vakuumkammer des Elek-tronenmikroskops montiertenMikrotom. In ihm bewegt sichdie Probe während des Schnei-devorgangs nicht. Das istwichtig, besteht doch einerder Vorteile der SBFSEM-Me-thode darin, dass die Aufnah-men im Bilderstapel sehr gutüberlappen – wodurch sich dieneuronalen Fortsätze besserverfolgen lassen.

Ungenauigkeiten bei derÜberlappung sowie Verzerrun-gen des Schnitts sind dieHauptprobleme der konventio-nellen Serienschnitt-Elektro-nenmikroskopie. Aufnahmenvon großen Gewebebereichenwaren deshalb bisher praktisch

unmöglich. Mit ihrer SBFSEM-Methode nehmen die Max-Planck-Forscher problemlosStapel mit 2000 Bildern auf.Denk und Horstmann erwarten,dass neue Färbetechniken undautomatische Bilderkennungs-methoden es in Zukunft er-möglichen, Nervenfortsätze inSBFSEM-Bilderstapeln in gro-ßem Stil zu verfolgen und da-mit detaillierte Pläne neurona-ler Schaltungen zu erzeugen. ●

RSCHUNG aktuell 

12   M A X  P L A N C K  F O R S C H U N G   4 / 2 0 0 4

Eine neue Methode zurEntschlüsselung neuronalerSchaltkreise haben Wissen-schaftler des Max-Planck-Instituts für medizinischeForschung in Heidelberg ent-wickelt. Damit wollen siedie „Verdrahtung“ des Ge-hirns sichtbar machen undden Informationsfluss beimDenken verfolgen. (PLOSBIOLOGY , 19. Oktober 2004).

Herzstück der neuen Entschlüs-selungsmethode neuronalerSchaltkreise ist ein von Win-fried Denk und Heinz Horst-

mann entwickeltes Gerät, dases erlaubt, automatisch drei-dimensionale Bilder von bio-logischen Geweben zu erstel-len. Dank der hohen Auflösunglassen sich auch noch diedünnsten Ausläufer von Ner-venzellen verfolgen – gleich-sam die „Drähte“ des Gehirns.Mit ihrer Hilfe gelingt es auchnoch weit voneinander ent-fernten Nervenzellen, Signaleauszutauschen. Mit einemDurchmesser von oft wenigerals einem zehntausendstel Mil-limeter (100 Nanometer) liegendie Nervenfortsätze deutlichunter der optischen Auflö-sungsgrenze des Lichtmikros-kops. Zudem sind sie fast über-all im Gehirn dicht gepackt.

Um die nötige Auf-lösung zu erzielen,verwendeten die Max-Planck-Forscher einElektronenmikroskopund kombinierten es –und das ist das Neuean der Methode – miteinem in der Proben-kammer montiertenMikrotom; ein solcherApparat erlaubt es,sehr dünne Gewebe-schnitte herzustellen.Das Mikrotom schnei-det etwa 50 Nanometer dickeScheibchen von einem Plas-

tikblock ab, der das zu unter-suchende Gehirngewebe ent-hält. Nach jedem Schnittmacht das Elektronenmikro-skop ein Bild der Fläche. Auf diese Weise entsteht ein digi-taler Bilderstapel und damitein räumliches Abbild der Ge-webeprobe. Darin lassen sichselbst dünnste Nervenfortsätzeerkennen und in drei Dimen-sionen verfolgen.

„Serielle Rasterelektronen-mikroskopie der Blockober-fläche“ (Serial Block-face Scan-ning Electron Microscopy,SBFSEM) heißt das Verfahren.Es unterscheidet sich von derbisher zur Beobachtung vonbiologischen Proben verwende-ten Durchlicht-Elektronenmik-

MEDIZINISCHE F ORSCHUNG

Gedanken – in Bildern gestapelt

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erhalten Sie von:PROF. DR.WINFRIED DENK

Max-Planck-Institutfür medizinischeForschung, HeidelbergTel.: 06221 486-335Fax: 06221 486-325E-Mail:[email protected]

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Rekonstruktioneiniger „Nerven-drähte“ unter Verwendung einesdreidimensionalenBilderstapels, dermit der SBFSEM-Technik gewonnenwurde. Ein Haupt-dendrit – ein baum-artig verzweigtesSystem von Nerven-zellfortsätzen, dasEingangssignale vonden Synapsen ein-sammelt – erscheintblau; ein dendriti-scher Seitenast istgrün gefärbt. Beiden anderen Fort-sätzen handelt essich um Axone, alsoNervenzellfortsätze,die eine elektrischeErregung weiter-leiten und dann viaSynapsen auf dieDendriten andererZellen übertragen.

   F   O   T   O  :   M   P   I   F    Ü   R   M   E   D   I   Z   I   N   I   S   C   H   E   F   O   R   S   C   H   U   N   G

HRE  M EINUNG IST GEFRAGT

ugegeben, es war von der Redaktion nicht ganz so geplant – hat sich aber wunderbarefügt. Doch der Reihe nach. Mit dem neuen Jahr wollen wir auch eine neue Rubrik ein-ühren: Darin sollen Sie zu Wort kommen! Das klappt natürlich nur bei engagierten

eserinnen und Lesern. In dieser Hinsicht können wir beruhigt sein, denn in Heft 3/2004aben wir Sie gleich an zwei Stellen erfolgreich (wenn auch unfreiwillig) auf die Probeestellt. So hieß es in einem Teil unserer Auflage auf Seite 25, der menschliche Körperesitze drei Milliarden Zellen; in Wirklichkeit sind es etwa 100 Billionen. Und im Bildtextuf Seite 22 ist vom „Wettlauf der Spermien hin zum befruchteten Ei" die Rede; wir

wollen die Biologie nicht auf den Kopf stellen, „befruchteten" also bitte streichen. Dieahlreichen Reaktionen zeigen, dass unsere Leserinnen und Leser mitdenken. Dafür danken

wir und hoffen auch in Zukunft auf lebhaftes Echo – nicht nur bei Fehlern, die uns imbrigen genauso ärgern wie Sie.

hre Zuschriften unter dem Stichwort „Leserbriefe" erreichen uns via E-Mail: [email protected] per Fax: 089 2108-1405 oder auf dem Postweg: MAXPLANCKFORSCHUNG, Hofgartenstraße 8, 80539 München

Als Schlüssellöcher zum genetischen Archiv wir-ken die Poren in der Hülle des Zellkerns höhererOrganismen: Über sie gelangen Abschriften derErbinformationen – also Baupläne für Eiweiß-Moleküle – aus dem Zellkern in den umgebendenZellraum und dienen dort als Vorlagen für dieProduktion der entsprechenden Proteine. Umge-kehrt laufen über diese Poren auch Signale ausdem Zellkörper in den Kern, um von dort jeweilsbenötigte „Unterlagen“ für die Lebensmaschinerieder Zelle abzurufen. Am Max-Planck-Institut fürBiochemie in Martinsried ist es jetzt erstmals ge-lungen, die dreidimensionale Struktur von Kern-poren an völlig intakten Zellen des SchleimpilzesDictyostelium darzustellen. Ermöglicht wurde dasdurch eine besondere, am Martinsrieder Institutentwickelte Technik, die so genannte Kryo-Elek-tronentomografie. Mit ihrer Hilfe wurden rund250 verschiedene Kernporen des Schleimpilzes inihrem dreidimensionalen Bau analysiert. Jede die-ser Poren arbeitet hoch spezifisch, lässt also je-

weils nur ein bestimmtes Protein durch die Kern-membran passieren. Dennoch gleichen sie sich inihrer grundsätzlichen Architektur: Sie bestehenaus etwa 30 Proteinbausteinen, die einen rundenKanal in der Kernmembran umgeben; im Innerndes Kerns bilden diese Proteine eine Art Korb, zumZellraum hin fädige Fortsätze. Die zentrale Öff-nung der Poren weist einen Durchmesser von 60millionstel Millimetern auf. In weiteren Studienmit definierten Transportmolekülen wollen dieForscher jetzt die genaue Funktion der Kernporenaufdecken.

Als Scheinwerfer energiereicher Gammastrahlunghaben Astronomen den Überrest einer Supernovaim Sternbild Skorpion ausgemacht – eine Explo-sionswolke, die am Himmel unter dem doppeltenDurchmesser des Vollmonds erscheint. Aus derRandregion dieser Wolke entspringt Gamma-Strah-lung mit einer Energie im Bereich von BillionenElektronenvolt, wie ein internationales Team –darunter Forscher des Heidelberger Max-Planck-Instituts für Kernphysik – gefunden hat. Darauslässt sich schließen, dass innerhalb dieser Gamma-quelle nicht nur Elektronen, sondern auch schwe-rere geladene Teilchen auf Energien von mehr als100 Billionen Elektronenvolt beschleunigt werden –

ein Befund, der für die Frage nach dem Ursprungder Kosmischen Strahlung bedeutsam ist, also desStroms hoch energetischer Teilchen, der beständigaus dem Weltraum auf die Erde eindringt. Geortetwurde der „kosmische Teilchenbeschleuniger“ mitdem 2003 in Betrieb genommenen Gammastrah-len-Observatorium H.E.S.S. in Namibia.

Einzelne maßgefertigte Photonen liefert einelaserähnliche Lichtquelle, die am Garchinger Max-Planck-Institut für Quantenoptik entwickelt wur-de. Das Herzstück dieser Lichtquelle bildet ein iso-

liertes Kalzium-Ion, das mit einer örtlichen Ge-nauigkeit von nur wenigen millionstel Millimeternin einer Ionenfalle zwischen zwei Spiegeln festge-halten wird, die einen so genannten Resonatorbilden. Dieses Kalzium-Ion kann von außen durchLaser-Pulse „gepumpt“ und dadurch zur Emissioneinzelner Photonen angeregt werden – wobei sichüber den anregenden Laser-Puls der Zeitpunkt derEmission sowie die spektralen Eigenschaften die-ser Photonen gezielt festlegen lassen. Zu dieserkontrollierten Emission einzelner Photonenkommt noch die lange Betriebsdauer der Licht-quelle: Sie liegt bei mehreren Stunden, und zwarentsprechend der Speicherzeit der einzelnenKalzium-Ionen innerhalb der Falle. Mit diesemEin-Ion/Ein-Photon-Laser ist ein grundlegenderSchritt hin zur Quanten-Informationsverarbei-tung gelungen – deren zentrales Problem darinliegt, gezielt und kontrolliert an der „quantenphy-sikalischen“ Schnittstelle zwischen Atomen undPhotonen eingreifen zu können.

Mäuse erschnuppern den Immun-Steckbrief ih-rer Artgenossen – und erkennen daran jedes Indi-viduum, dessen Geschlecht und sozialen Status.Zu diesem Befund kam ein internationales Team,darunter Wissenschaftler des Freiburger Max-Planck-Instituts für Immunbiologie. Ausgangs-

punkt war die Tatsache, dass Mäuse und zahlrei-che andere Tiere einander über den Geruch erken-nen und auch ihre Partnerwahl über die Nasetreffen – oder genauer: über das so genannte

 Vomeronasalorgan in der Nasenscheidewand. Un-

bekannt war allerdings, welche Duftstoffe dieseSignale vermitteln. Wie sich jetzt zeigte, sprichtdas Vomeronasalorgan auf kleine Eiweißmoleküle– Peptide – an, die normalerweise mit Zellen desImmunsystems zusammenarbeiten und in ihrenStrukturen jeweils hoch spezifisch die immun-genetische Identität eines Individuums wider-spiegeln. Damit fungieren diese Peptide alsSignalträger sowohl im Immunsystem als auchim Nervensystem: eine Doppelrolle, deren Ur-sprung und tieferen Sinn weitere Untersuchungenaufdecken sollen. ●

Schnitt durch  Vomeronasaloeiner winzigenStruktur in derder Maus. Die den Zonen mitsorischen Nervzellen sind rot grün angefärbIn der basalen nen) Schicht bden sich die Zekörper der durPeptide erregbNeuronen.

   F   O   T   O  :   U   N   I   V   E   R   S   I   T   Y   O   F   M   A   R   Y   L   A   N   D   S   C   H   O   O   L   O   F   M   E   D   I   C   I   N   E

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KOSMOlo

 A lbert Einstein startete seinen Großangriff auf das

 Weltall im Kriegswinter 1916/17, der wegen der Nahrungsmittelknappheit den Namen „Steckrübenwin-ter“ bekam. Im Herbst des Jahres 1916 hatte Einsteinwieder einmal seine Freunde und Kollegen in der holländischen Universitätsstadt Leiden besucht. Dorttraf er auch mit dem Astronomen Willem de Sitter zu-sammen. Wahrscheinlich war es diese Begegnung, dieihn veranlasste, seine neue Theorie der Schwerkraft -die Allgemeine Relativitätstheorie – auf das Weltall alsGanzes anzuwenden.

 Am 1. Februar 1917 erklärte die deutsche Heeres-führung den uneingeschränkten U-Boot-Krieg; sie ahnte

nicht, dass sie damit den Eintritt Amerikas in den Krieg

und damit die endgültige Niederlage besiegelte. Eine Woche danach hielt Albert Einstein vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften einen Vortrag über die Anwendung seiner neuen Theorie auf das gesamte Uni- versum. Das hatten Physiker und Astronomen auchschon früher im Rahmen der klassischen NewtonschenTheorie der Schwerkraft versucht, aber ohne Erfolg. Esstellte sich als prinzipiell unmöglich heraus, das Schwe-refeld eines bis ins Unendliche gleichförmig mit Sternenerfüllten Weltalls zu bestimmen. Zwar war es möglich,die Schwerkraft in einem Kosmos zu berechnen, der bisin große Entfernungen mit Sternen erfüllt, der Raum

Einstein und dieKraft des

leeren RaumsWoher kommen wir? Wohin gehen wir? Wie ist der Kosmos beschaffen? Diese

Fragen beschäftigen die Menschen seit Jahrtausenden. Im Lauf der Geschichte

haben sich die Weltbilder gewandelt, haben Theologen und Philosophen, Physiker 

und Astronomen ganz unterschiedliche Antworten gegeben. Zu Beginn des

20. Jahrhunderts entstand die moderne Kosmologie – und Albert Einstein war

einer ihrer Schöpfer. RUDOLF KIPPENHAHN beschreibt, wie sehr der „Ingenieur 

des Universums“ unsere Vorstellungen von Raum und Zeit geprägt hat.

   F   O   T   O  :   T   H   E   H   U   N   T   I   N   G   T   O   N

   L   I   B   R   A   R   Y

SACHE

Erhellender Augenblick: Albert Einstein

blickt durch das 2,5-Meter-Teleskop auf dem Mount Wilson, an dem Edwin Hubble

(im Hintergrund mit Pfeife) im Jahr 1931

die Flucht der Galaxien entdeckte.

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SACHE

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gänzung in seinen Gleichungen nannte Einstein das„kosmologische Glied“. Damit gelang es ihm, eine Lö-sung für ein gleichförmig mit Materie ausgefülltes Welt-all zu finden.

Im Gegensatz zu dem von der Newtonschen Theoriebeschriebenen Kosmos hat dieser Weltraum aber nocheine zusätzliche Eigenschaft: Er ist gekrümmt. Das heißt,die normale Geometrie gilt nicht mehr. Die Winkelsum-

me im Dreieck ist nicht mehr 180 Grad. Aber das war nicht verwunderlich, denn in Einsteins Theorie krüm-men Schwerefelder den Raum. Einsteins Kosmos istzwar unbegrenzt, aber er hat ein endliches Volumen.Mathematikern sind solche Raumformen nichts Neues.Der einfachste Raum mit dieser Eigenschaft ist die Ober-fläche einer Kugel. Auch sie ist endlich. Wenn man aber auf ihr immer in eine Richtung wandert, kommt mannie an eine Grenze, dafür erreicht man wieder den Aus-gangspunkt. Der zweidimensionale Raum der Kugel-fläche ist zwar unbegrenzt, aber nicht unendlich groß.

Für Einstein war die Welt in Ordnung. Er hatte einengleichförmig mit Materie angefüllten Kosmos, der imGleichgewicht verharrte. Natürlich erfüllt die Materiedas wirkliche Weltall nicht gleichförmig. Sie steckt inSternen, die sich in Sternsystemen ansammeln. Dazwi-schen ist der Raum leer. Doch über große Entfernungensind die Sternsysteme gleichförmig verteilt, und einRaum mit konstanter Dichte ist eine gute Annäherungan die Wirklichkeit. In Einsteins Kosmos ist die Dichteseit ewigen Zeiten dieselbe – und sie wird sich auch inZukunft nicht ändern. Das passte gut damit zusammen,dass die Geschwindigkeiten der Sterne und Sternsyste-me, die Einstein kannte, gering waren.

Doch noch im selben Jahr veröffentlichte Willem de

Sitter in Holland eine Arbeit, in der er zeigte, dass Ein-steins Gleichungen auch zeitlich veränderliche Weltmo-delle zulassen. De Sitter hatte eine besonders merkwürdi-ge Lösung gefunden. Die Materiedichte in seinem Kosmoswar null, es gab also keine Anziehungskraft. Wohl aber enthielten die Gleichungen das „kosmologische Glied“mit seiner abstoßenden Wirkung, und deshalb expandiertde Sitters Kosmos. Dass dieses Weltmodell keine Materieenthält, ist kein Grund, es abzulehnen, denn es beschreibteine Welt, in der die Materiedichte so niedrig ist, dassihre Schwerkraft klein ist im Vergleich zur durch das„kosmologische Glied“ verursachten Abstoßkraft.

Bild von Gasschwaden zwischen den Ster-nen nicht passten. Da ist zum Beispiel der schon

mit freiem Auge sichtbare Nebel im Sternbild Androme-da. Er kommt mit 300 Kilometern pro Sekunde auf unszu geflogen. Man kannte aber auch elliptische Nebel-flecke, die mit mehr als 1000 Kilometer in der Sekunde

 von uns wegfliegen. Solche und viel höhere Geschwin-digkeiten, wie sie amerikanische Astronomen immer 

häufiger bei elliptischen Nebeln fanden, legten nahe,dass diese Nebel nicht in unserem Sternsystem liegen.

KOSMOlo

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weiter draußen aber leer ist. Doch solch eine Materiean-sammlung würde letztendlich durch die Schwerkraft insich zusammenstürzen. Man suchte aber nach einem

 Weltall, das seit eh und je existieren und auch bis inalle Ewigkeit bestehen sollte.

Eigentlich müsste ein bis ins Unendliche gleichförmigmit Materie ausgefülltes Weltall leicht zu verstehen sein:Da es in ihm keine ausgezeichnete Richtung gibt, sollte

auch keine Schwerkraft wirken, denn die in verschiede-ne Richtungen ziehenden Kräfte heben sich gegenseitigauf. Die resultierende Schwerkraft ist null. Doch dieseeinfache Überlegung erweist sich als falsch. Das merk-ten die Physiker und Astronomen, vor allem der inMünchen arbeitende Hugo von Seeliger, schon Ende des19. Jahrhunderts.

Im Jahr 1921 zeigte der russische Me-teorologe Alexander Friedman, dass EinsteinsGleichungen – mit und ohne „kosmologischem Glied“ -

 Weltmodelle liefern, die expandieren oder in sich zu-sammenfallen können. Albert Einstein war von denzeitlich veränderlichen Weltmodellen nicht begeistert. Er glaubte auch, in Friedmans Rechnungen einen Fehler gefunden zu haben, musste aber später zugeben, dass er 

sich geirrt hatte. Einstein war überzeugt, dass nur einstatisches Modell die wirkliche Welt richtig beschreibt.Das „kosmologische Glied“ hielt er für nötig, um „eine

 Verteilung der Materie zu ermöglichen, wie sie der Tat-sache der kleinen Sterngeschwindigkeiten entspricht“.Um das zu verstehen, müssen wir uns das Bild vom

 Weltall vorstellen, das im Jahr 1917 vorherrschte.Zu der Zeit, als Einstein seine kosmologische Arbeit

schrieb, hatten die Astronomen längst erkannt, dass wir mit unserer Sonne und mit Milliarden anderen Sonnenin einem flachen Raumgebiet stehen, dessen Form an ei-ne Scheibe erinnert. Heute wissen wir, dass ein Licht-strahl, der von einem Punkt am Rand quer durch dieMitte zum entgegengesetzten Punkt dieser Scheibe läuft,dafür etwa 100 000 Jahre benötigt. Die Sterne des Sys-tems bewegen sich um das Zentrum. Die Geschwindig-keiten liegen bei etwa 100 Kilometern pro Sekunde. DasSystem als Ganzes verändert seine Größe nicht. Das wa-ren die „kleinen Sterngeschwindigkeiten“, auf die sichEinstein in seiner Arbeit bezog. Offensichtlich hatte er keine Ahnung von den Nebelwölkchen, die mit großenGeschwindigkeiten durch den Raum fliegen.

Es war der 31-jährige Immanuel Kant, der schon 150Jahre früher auf elliptische Nebelchen aufmerksam ge-macht hatte, die man im Fernrohr zwischen den Sternen

erkennen kann. Er vermutete, sie wären scheibenför-mige Ansammlungen von Sternen – ähnlich unseremSternsystem, nur weit draußen im Raum. Blicken wir senkrecht von oben auf sie, erscheinen sie uns als Kreis-scheiben, blicken wir schräg, erscheinen sie uns ellip-tisch. Waren diese Nebel ferne Weltinseln, bestehend ausMilliarden von Sternen? Oder waren sie vielleicht nur leuchtende Gasschwaden in unserem Sternsystem, vondenen es viele im Raum zwischen den Sternen gibt?

 Als Albert Einstein seine kosmologische Arbeit schrieb,war die Frage noch nicht entschieden. Es gab allerdingsNebelflecken mit großen Geschwindigkeiten, die zum

Notgedrungen änderten die Forscher das NewtonscheGesetz der Gravitation, indem sie eine zusätzliche ab-stoßende Kraft einführten. Im Sonnensystem, ja sogar bis in Weiten von Hunderten von Lichtjahren, spielt siezwar keine Rolle; in den großen Entfernungen der Kos-mologie aber kann sie die Anziehungskraft sogar über-winden. Dieses modifizierte Schwerkraftgesetz ermög-lichte es, das Schwerefeld eines bis ins Unendlichegleichförmig mit Materie erfüllten Weltalls zu bestim-men. Und tatsächlich: Die Anziehungskräfte in ver-schiedene Richtungen heben einander auf; in diesem

 Weltall ist die Schwerkraft überall null, es ist schwere-frei. Aber das war nur durch das modifizierte Schwer-kraftgesetz möglich: Newtons Schwerkraft, ergänztdurch eine zusätzliche Abstoßung, für deren Existenz es

sonst keinen Hinweis gab. Als Einstein seine neue Theorie der Schwerkraft auf 

die Materie des ganzen Weltalls anwandte, stieß er auf die gleiche Schwierigkeit. Kein Wunder, denn im Fallschwacher Schwerefelder geht seine Theorie in die New-tonsche über – mit all ihren Problemen. Aber ohne diePrinzipien, die er bei der Herleitung der AllgemeinenRelativitätstheorie angewandt hatte, ernstlich zu verlet-zen, konnte Einstein seine Gleichungen so ergänzen,dass sie ebenfalls eine zusätzliche Abstoßung lieferten.

 Auch in der Allgemeinen Relativitätstheorie wird diese Abstoßung erst in großen Entfernungen wichtig. Die Er-

Der nächste Schritt kam im Jahr 1924, als der amerika-nische Astronom Edwin P. Hubble mit dem damals größ-ten Fernrohr der Welt, dem 2,5-Meter-Spiegel des Mount

 Wilson Observatoriums nördlich von Los Angeles, im Andromedanebel einzelne Sterne erkannte. Das ermög-lichte ihm, die Entfernung zu bestimmen: eine MillionLichtjahre. Der Andromedanebel ist ein anderes Sternsys-tem, ähnlich dem unsrigen – eine Weltinsel im Raum, soweit draußen, dass das Licht seiner Sterne selbst ingroßen Fernrohren zu einem Nebelfleck verschmilzt.Heute wissen wir, dass diese Weltinsel sogar doppelt soweit entfernt ist, als Hubble damals vermutete.

Nun versuchte Hubble die Geschwindigkeiten anderer  Weltinseln (Galaxien) zu bestimmen. Das war keineleichte Aufgabe, denn für diese lichtschwachen Objektewaren Belichtungszeiten von 50 bis 100 Stunden nötig.Das Fernrohr musste also in mehreren aufeinander-folgenden Nächten auf dasselbe Objekt gerichtet wer-den. Im Jahr 1929 wusste Hubble, dass sich alle entfern-ten Sternsysteme von uns weg bewegen, und zwar umso

schneller, je weiter sie von uns entfernt sind. Dabei gilt:doppelte Entfernung – doppelte Geschwindigkeit; Ge-schwindigkeit und Entfernung sind also zueinander pro-portional. Die Expansion hat vor einer endlichen Zeitbegonnen, die sich aus der Expansionsrate bestimmenlässt. Der Andromedanebel selbst ist eine Ausnahme. Er steht so nahe, dass seine Fluchtgeschwindigkeit durchdie Anziehungskraft seiner benachbarten Sternsystemegestört wird. Deshalb bewegt er sich auf uns zu.

Im Jahr 1931 besuchte Albert Einstein anlässlich einer  Amerikareise das Observatorium auf dem Mount Wil-son. Dort hatte Edwin Hubble seine Entdeckung ge-

eltall mit null Schwerkraft 

Galaxien auf der Fluch

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macht, und Einstein ließ sich davon über-zeugen, dass das wirkliche Weltall sich anders

 verhält als sein zeitlich unveränderlicher Kosmos. DieSchwerkraft und die von ihm zusätzlich eingeführte ab-stoßende Kraft halten sich nicht das Gleichgewicht.

 Vielmehr expandiert das Weltall, getrieben von einemihm anfangs erteilten Schwung, dem die Schwerkraftzwar entgegenwirkt, den sie aber bis heute nicht brem-

sen konnte. Der Grund, weswegen Einstein die zusätz-lich abstoßende Kraft eingeführt hatte – nämlich einenzeitlich unveränderlichen Kosmos zu erhalten – war miteinem Mal verschwunden. Nun wollte er nichts mehr 

 von dieser Kraft wissen. Noch im Jahr 1946 schrieb er:„Wäre die Hubblesche Expansion schon zur Zeit der Entstehung der Allgemeinen Relativitätstheorie bekanntgewesen, das kosmologische Glied wäre niemals einge-führt worden.“

sondern so, wie sie sich bewegten, als dasLicht ausgesandt wurde, das uns heute von ih-

nen erreicht. Weil explodierende Sterne von großenLichtausbrüchen begleitet sind, kann man sie auch ingroßer Entfernung beobachten. Da der Blick in die Fernegleichzeitig ein Blick in die Vergangenheit ist, gestattenes diese Supernovae, die Rate der Expansion während

 verschiedener Epochen der Entwicklung des Weltalls zu

bestimmen. Das Ergebnis: Anfangs bremste die wechsel-seitige Anziehung der Schwerkraft der Sternsysteme dieExpansion, doch dann begann sich die Expansion zubeschleunigen und auch heute hält diese Beschleuni-gung an. Offensichtlich wirkt neben der anziehendenSchwerkraft bei großen Abständen der Körper eine zu-sätzliche abstoßende Kraft. Das Weltall verhält sich ge-nau so, wie es Einsteins Gleichungen mit „kosmologi-schem Glied“ verlangen!

Doch woher kommt es? Wahrscheinlich handelt essich nicht um eine von der Relativitätstheorie geforderteneue Kraft, sondern um eine Art neuer Materie, die an-dere Kräfte ausübt als die bisher bekannte. Physiker sindunabhängig von der Frage nach dem Aufbau des Welt-alls auf sie gekommen. Ihre Ursache liegt in der Quan-tenmechanik, die keinen absolut leeren Raum gestattet.Er ist von virtuellen, sich sonst nicht bemerkbar ma-chenden Teilchen und ihren Antiteilchen bevölkert. Nur gelegentlich tritt eines davon zusammen mit einem ent-sprechenden Teilchen der Antimaterie für kurze Zeit indie Realität. Diese gespenstische Teilchenwelt übt einenDruck aus, bewirkt also eine abstoßende Kraft. In denGleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie erzeugtder leere Raum genau so eine Kraft wie das „kosmologi-sche Glied“. Noch kennen wir die Stärke der Kräfte des

leeren Raumes nicht. Können sie die beobachtete Be-schleunigung der Expansion erklären? Albert Einstein wäre wohl nicht begeistert gewesen,

hätte er erlebt, dass die Kosmologie, deren Grundstein er im Jahr 1917 gelegt hatte, einmal von Effekten der Quantenmechanik abgerundet werden sollte – denn mitder konnte er sich zeitlebens nicht anfreunden ...   ●

RUDOLF KIPPENHAHN war von 1975 bis 1991

Direktor des Max-Planck-Instituts für Astrophysik

und lebt heute als freier Schriftsteller in Göttingen.

SACHE

Trotzdem stand er vor einem Problem, denn er be-nutzte wie Hubble selbst einen heute veralteten Wertfür die Rate der Expansion, der ein Weltalter von 1,5Milliarden Jahre lieferte. Dem stand die Theorie der zeitlichen Entwicklung der Sterne gegenüber, die auf ein wesentlich höheres Weltalter hindeutete. Der Grundfür diese Diskrepanz: Die astronomischen Entfernungs-bestimmungen waren damals falsch, und die Theorieder Sternentwicklung überschätzte das Alter der ältes-ten Sterne. Heute schätzen die Astronomen deren Alter auf 13,6 Milliarden Jahre und das aus der Expansionhergeleitete Weltalter auf 13,7 Milliarden Jahre.Einstein hatte Recht, das Weltall lässt sich mit seinen

Gleichungen beschreiben, ohne dass man die durchdas „kosmologische Glied“ hervorgerufene abstoßendeKraft zu Hilfe nimmt.

Seit einigen Jahren haben die Astronomen ein neuesHilfsmittel an der Hand, um die Entfernung weitdraußen im Raum stehender Sternsysteme auszuloten.Eine bestimmte Art von explodierenden Sternen, so ge-nannte Supernovae vom Typ Ia, sind hervorragendeMeilensteine im Raum. Da sie in großer Entfernung ste-hen und da Licht zwar mit großer, aber doch endlicher Geschwindigkeit durch den Raum eilt, sehen wir dieentfernten Objekte nicht so, wie sie sich heute bewegen,

erbende Sterne als Meilensteine 

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CHIPS mit Gr

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Der Chip lebt

Die Chips vonChristiane Thiele-

mann sind bewohnt. Unter dem Mikroskop werden nebendicken schwarzen Leiterbahnenkleine durchscheinende Punktesichtbar. Sie liegen über die Chip-Oberfläche verstreut, als hätte je-mand eine Packung Gries ausge-kippt. Manche sind aufgereiht wiePerlen an der Schnur, andere schei-nen zu zerfließen. Es sind Nerven-zellen, Neuronen. Innerhalb von nur drei Wochen wachsen die kleinenPunkte zu einem verzweigten, funk-tionstüchtigen Netzwerk. Auf einemUntergrund, der so gar nicht natür-lich ist, entsteht Leben – auf einer Struktur aus Glas und Gold.

In ihrem Labor am Max-Planck-Institut für Polymerforschung inMainz ist es Christiane Thielemann,

Professorin für Mikrosystemtechnik und Leiterin der Arbeitsgruppe Bio-elektronik, gelungen, Leben undTechnik zu verschmelzen. Ihr Werk-zeug sind briefmarkengroße so ge-nannte Microelectrode Array Chips(MEA). Im Zentrum dieser Elektro-plättchen sitzen auf einer Fläche vonetwa 2,5 Quadratmillimetern rund 60zu einem gleichmäßigen Viereckras-ter angeordnete Elektroden. Jede ist30 Mikrometer (tausendstel Millime-

Dauer der einzelnen Spikes nahmentsprechend ab.

Entscheidend ist für ChristianeThielemann, dass sich ihre Forschungin praktische Anwendungen umset-zen lässt. So kooperiert die Mainzer 

 Arbeitsgruppe unter anderem mit der University of Florida in Gainesville.Dort entwickeln Kooperationspartner mit Öl gefüllte Nanokapseln – milli-onstel Millimeter kleine Hohlku-geln –, die fettlösliche Substanzenaufnehmen. Die Idee: Die Nano-kapseln könnten zukünftig als Rei-nigungskügelchen in den Körpergespritzt werden. Im Falle einer Überdosierung sollen sie Medika-mente aufsaugen wie ein Schwammund die Konzentration des Wirkstoffsim Körper absenken. Mit dem Herz-muskel-Chip überprüfte Mark Pottek in Mainz die Wirksamkeit der Ku-geln. Er untersuchte, ob die Nanokü-gelchen die Konzentration des Anti-depressivums Amitriptylin senkenkönnen. Amitriptylin wirkt nicht nur auf das Hirn; als unerwünschte Ne-

benwirkung setzt es die Herzfrequenzherab. Bei einer Überdosierung kannes gar zum Herzstillstand kommen.

Der Chip reagierte wie erhofft. AlsPottek den Wirkstoff auf den Chipträufelte, meldeten die Elektroden ei-ne Reduzierung der Spikefrequenz.Die Aktivität der Herzmuskelzellennahm also ab. Nach Zugabe der Na-nokapseln aber stieg sie wieder an.Die Nanokapseln funktionierten. „Eswäre also tatsächlich denkbar, derar-

Welche Sprache sprechen Nervenzellen? Wie reagiert ein Netzwerk aus solchen Zellen auf Umweltreize? Das herauszufinden, ist ein Ziel

von CHRISTIANE THIELEMANN und ihrer Arbeitsgruppe am MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR POLYMERFORSCHUNG in Mainz.

Dort wollen die Wissensch aftler biologische Analysechips auf Basis von Neuronen oder auch Herzmuskelzellen entwickeln,

mit denen sich Gifte nachweisen oder unbekannte Substanzen auf ihre Tauglichkeit als Medikament untersuchen lassen.

OKUS

lung aber erfolgreich, lässt sich mitden Elektroden en detail der Funk-

 verkehr der Zellen abhören. Dank des Elektroden-Rasters können dieForscher genau ermitteln, wann undan welchem Ort ein elektrisches Sig-nal auftritt.

EIN „WELLENSCHLAG“IN MILLIVOLT

Mark Pottek, Neurobiologe undwissenschaftlicher Mitarbeiter amInstitut, hat die Netzwerke eingehenduntersucht – zum Beispiel die Herz-muskelzellen. „Bei Herzmuskelzellenkönnen wir die Erregung der Zellenan kleinen Spannungsänderungenim Millivolt-Bereich messen.“ So be-obachtete Pottek, dass sich eine Erre-gung ähnlich wie im Herzen über dieganze Fläche des MEAs fortsetzt. Of-fenbar übernehmen bestimmte Berei-che des Zellverbands die Rolle desTaktgebers und lösen Kontraktionenin den benachbarten Herzmuskelzel-len aus. Pottek: „Innerhalb weniger Millisekunden wandert die elektri-

sche Spannungsänderung über dasganze Array.“ Der Wissenschaftler untersuchte, wie sich Medikamenteund Chemikalien auf die Erregungder Herzmuskelzellen auswirken. Der 

 Wirkstoff Isoproterenol etwa istdafür bekannt, die Schlagfrequenzdes Herzens zu steigern. Tatsächlichreagierten auch die Herzmuskelzellenauf den MEAs auf die Chemikalie.Sie sendeten deutlich schneller elek-trische Signale („Spikes“) aus. Die

tige Nanokapseln in Zukunft in dieBlutbahn zu spritzen, um einen Herz-

stillstand zu verhindern“, sagt Pottek.Die junge Bioelektronik-Arbeits-

gruppe – ein interdisziplinäres Teamaus Neurobiologen, Biotechnologenund Elektrotechnikern – aus der Ab-teilung Materialwissenschaften von

 Wolfgang Knoll hat in den vergan-genen zwei Jahren weitere viel ver-sprechende MEA-Projekte vorange-bracht. Immerhin ist Thielemann Ex-pertin für Mikrosystemtechnik, jeneDisziplin, die Apparate mit Fein-strukturen in Mikrometer-Dimensio-nen entwickelt. Das Fach lehrt sie ander Fachhochschule Aschaffenburg.

 Viele Reaktionen lassen sich inMikrosystemen besser steuern, Subs-tanzen lassen sich gezielter mischen.Die Systeme arbeiten ausgesprocheneffizient, weil kleine Volumina zumEinsatz kommen.

MEDIKAMENTEN-TEST

ÜBER MIKROKANÄLE

So entwickeln die Mainzer For-

scher in Zusammenarbeit mit der Firma Gesim in Dresden unter ande-rem Mikrofluidik-Systeme. Diesehandlichen Apparate enthalten einenKunststoffkern; diesem werden mitfotolithografischen Verfahren, wieman sie auch bei der Herstellung vonComputerchips nutzt, Mikrokanäleaufgeprägt. In den Kanälchen strömtFlüssigkeit zu einer kleinen Reakti-onskammer, in welcher der Chipsitzt. Versetzt man den Flüssigkeits-

strom mit Chemikalien, werden dieseam Chip vorbeitransportiert. Anhandder Reaktion der Herzmuskelzellenkann man dann auf die Wirkungs-

weise der Substanz schließen. „Einsolches System könnte man zukünf-tig beim Medikamenten-Screeningin der Pharmaindustrie nutzen“, sagtChristiane Thielemann. So ließensich bestimmte Stoffe in Windeseileim Durchfluss testen. Anhand cha-rakteristischer Reaktionsmuster desZellnetzwerks könnte man erkennen,ob die neue Substanz einem bekann-ten Wirkstoff ähnelt oder gewünsch-te Eigenschaften hat.

ter) breit und da-mit so klein, dass sie

die schwachen elektrischenSignale einer einzelnen Zelle

wahrnehmen und zur Analyse an ei-nen Computer weiterleiten kann.„Neben Neuronen nutzen wir auchHerzmuskelzellen. Beide Zelltypenerzeugen elektrische Signale, die sichüber den Zellverband ausbreiten“,sagt Thielemann.

Herzmuskelzellen etwa werdendurch einen Reiz zur Kontraktion an-geregt. Im intakten Herzen wanderteine solche Erregung vom Taktgeber,zum Beispiel dem Sinusknoten, wieeine Welle über das Organ. So ent-steht eine großflächige Kontraktion.Neuronen hingegen geben Informa-tionen über Sinnesreize in Form elek-trischer Signale weiter. So bewegensich charakteristische Erregungs-

muster durch das Hirn. Die Mainzer Max-Planck-Forscher nutzen beideFunktionsprinzipien.

Zunächst stellen sie eine Suspen-sion her, in der aus Gewebe isolierteZellen schwimmen. Damit werdendie MEAs benetzt. Im Brutschrank wachsen die Zellen auf der Chip-Oberfläche zum Verband heran. Unddann wird es spannend: Längst nichtimmer entsteht ein Netzwerk funkti-onstüchtiger Zellen. War die Besied-    F

   O   T   O   S  :   M   P   I   F    Ü   R   P   O   L   Y   M   E   R   F   O   R   S   C   H   U   N   G

Mark Pottek bereitet Proben für eine extrazelluläre Ab-leitung vor. Die Zellkulturen müssen bis zur endgültigen wendung unter keimfreien Bedingungen gehalten werde

Abhöranlage:Innerhalb des Glasrings

sitzen Zellen auf einemMEA-Chip, der ihre schwachen

elektrischen Signale erfasst.

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diesen Botenstoff-Chemismus, be-einflussen also die Signalleitung der Neuronen. Manche hemmen die

 Ausschüttung von Neurotransmit-tern, andere fördern sie.

Tatsächlich spiegeln die Netzwerkeauf den MEAs diesen Einfluss wider.Die Vermessung des Neuronennetz-werks mit den 60 Elektroden ergab,dass die Substanz Bicucullin ein sehr auffälliges Muster erzeugt. Der Stoff bewirkt ein gleichzeitiges, synchro-nes Feuern der Neuronen. Für ge-wöhnlich aber funken stets nur eini-ge der Nervenzellen auf den MEAssynchron. Manche wiederum sind

OKUS

einem weiteren Schritt wollen wir diese Aktivitätsmuster auf künstlicheneuronale Netze übertragen. EineSoftware könnte dann die Signaleder MEAs interpretieren und be-stimmten Substanzen zuordnen“,sagt Christiane Thielemann.

BIOSENSOREN ERSETZEN

KANARIENVÖGEL

 Auch Programme für die Sprach-erkennung, die auffällige Muster imSprachsignal interpretieren, könntensich zum Auslesen der Elektroden-Daten eignen. Letztlich möchte dieForscherin ein solches System in

CHIPS mit Gr

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len zu ungenau. Eine differenzierteNeuronen-Antwort wäre da zuver-lässiger.

 Was so einfach klingt, ist für dieMainzer Forscher eine Herausforde-rung. Schließlich ist es keineswegstrivial, lebende Zellen und Hightechmiteinander zu verbinden. Immer wieder ziehen die Wissenschaftler MEAs aus dem Laborschrank, auf denen nach dreiwöchiger Bebrütungnur wenige Neuronen aktiv sind.Und gelegentlich lässt sich über-haupt kein Signal ableiten. Selbsteine dicht bewachsene Chip-Ober-fläche ist keine Erfolgsgarantie. Im

man aber die gesamte Oberfläche mitden Haftsubstanzen, siedeln sich dieZellen überall an – und weniger ge-zielt an den Elektroden.

STERNFÖRMIGES MUSTER

FÖRDERT VERKNÜPFUNG

Seit geraumer Zeit tragen For-schergruppen die Haftsubstanzendeshalb mit einem mikrometerfeinenStempel auf die Chips auf. Meistist dieser Stempel schachbrettartigstrukturiert, weil die Neurone gerich-tet an den Strukturen entlang wach-sen sollen. Darüber hinaus lässt sichso eine weniger komplexe Netzwerk-

Freilich müssen die Mainzer zu- vor die Sprache ihrer MEAs genau verstehen, Signalmuster der Zellendeuten und die entscheidenden Para-meter herausfiltern. Bei Herzmuskel-zellen sind wichtige Kriterien unter anderem die Dauer eines Spikes oder die Spike-Rate, die Anzahl der Spikespro Zeit. Die bisherigen Versuchehaben bereits gezeigt, dass die Mik-rofluidik-Systeme funktionieren. Ihr 

 Vorteil: Der Flüssigkeitsstrom trans-portiert nicht nur die Wirkstoffe zumChip. Er dient zugleich zum Auswa-schen der Testsubstanz, also zumReinigen des Chips. So lassen sich im

Durchfluss nacheinander in kurzer Zeit viele Substanzen auf ihre Eig-nung als Wirkstoff testen.

WIE CHEMIKALIEN

DAZWISCHENFUNKEN

 Auch die mit Neuronen bewachse-nen MEAs könnten sich für die Be-stimmung und Charakterisierung

 von Substanzen eignen. So beein-flussen viele Chemikalien die Sig-

nalübertragung zwischen Neuronen.Nervenzellen tauschen Signale über Neurotransmitter aus. Diese chemi-schen Botenstoffe werden an denEnden der Neuronen-Verzweigungen(Synapsen) freigesetzt. Empfängt einNeuron einen Reiz, geben die Synap-sen den Botenstoff ab. Der diffun-diert zum benachbarten Neuron undkann dort wiederum ein Signal aus-lösen. So wandert die Erregung wei-ter. Viele Substanzen modifizieren

inaktiv, während andere häufig sen-den. So ergeben sich je nach Subs-tanz ganz verschiedene Aktivitäts-muster, die die Forscher zukünftig

 verstehen wollen. Von besonderem Interesse sind da-

bei die „Bursts“. Dabei handelt essich nicht um einzelne Signale, son-dern eine extrem schnelle Abfolgemehrerer Spikes – ein starkes Funk-signal. Bursts eignen sich besonders

gut, um in der Tiefe des Nervensys-tems Signale verlässlich weiterzuge-ben. Sie sind letztlich die Träger der Information. Thielemann und ihreMitarbeiter messen die Burst-Rate,die Dauer einzelner Bursts oder ver-gleichen akribisch die Aktivität an

 verschiedenen Elektroden im Mikro-Elektroden-Array. Das Ziel ist eswiederum, charakteristische Signal-muster zu ermitteln, die Aussagenüber bestimmte Stoffe zulassen. „In

tragbaren Umweltmessgeräten ein-setzen. Giftstoffe in der Luft oderim Wasser würden charakteristischeneuronale Signale erzeugen – der Giftstoff wäre entlarvt. Früher, er-zählt Thielemann, dienten Kanarien-

 vögel als Biosensoren in Bergwer-ken, um die Kumpel vor giftigenGasen zu warnen. Fielen die Tiere

 von der Stange, war es höchsteZeit, den Stollen zu verlassen. Thie-

lemann ist überzeugt: „Zukünftigübernehmen Chips Wachfunktio-nen.“ Ihre Vorteile könnten solcheChips vor allem bei Substanzen aus-spielen, die sich mit herkömmlichenchemischen Sensoren nicht sicher ermitteln lassen. So existieren vonmanchen Chemikalien verschiedene

 Varianten, von denen aber nur einetoxisch ist. Nur auf die sollte ein

 Warngerät ansprechen. Herkömm-liche Sensoren sind in solchen Fäl-

 Winkel wandern“, sagt Melanie Jung-blut. Die Forscherin kam ihnen entge-gen. Sie strukturierte den Stempel miteinem Dreiecksmuster, sodass von je-der Elektrode sternenförmig Wachs-tumsbahnen ausgehen. So entstehenauch 120-Grad-Knicke, die den Neu-ronen das Wachstum erleichtern.Jungblut: „Zudem gibt es in einemsternförmigen Netzwerk mehr Mög-lichkeiten zur Verzweigung der Aus-läufer, was wiederum die Verknüp-fung der einzelnen Neurone im Netz-werk intensiviert.“ Das neue Designbrachte den erhofften Erfolg. Die Neu-ronen wachsen in den meisten Fällenexakt an den Strukturen entlang.Mehr noch: Viele Zellkörper siedelnsich tatsächlich in der Mitte der Stern-

chen an, direkt auf den Elektroden.Die Menge der Daten, welche die

 Wissenschaftler aus ihrem Array her-auslesen, ist enorm. Pro Sekunde sen-den die Neuronen auf einem MEA biszu 20 Spikes – und alle sollen vomComputer verarbeitet und miteinan-der korreliert werden. „Wir haben dieZahl der Elektroden deshalb bewusstauf rund 60 beschränkt“, sagt Chris-tiane Thielemann. Ihr Ziel sei esschließlich, ein neuronales Modell zuerzeugen, welches man noch inter-pretieren kann. Und auch die Soft-ware soll die Daten mit vertretbaremZeitaufwand analysieren können.„Letztlich wollen wir ja verstehen,wie das lebende System funktioniert,denn nur dann kann es uns Aussagenliefern – über den Charakter von

 Wirkstoffen oder eben über Gifte inunserer Umwelt.“ TIM SCHRÖDER

vier Tagen in Kultur bilden die Neuronen ein regelmäßig gewachsenes Muster. Die Elektrodeneiterbahnen des Chips erscheinen schwarz. Rechts eine einzelne Zelle auf einem Kreuzungspunkt

Mikro-Elektroden-Array (MEA); ihre Ausläufer folgen den gestempelten Proteinlinien.

In Sternmustern kultivierte Neuronen: Rotes Fluoreszenzlichtverrät ein zelltypisches Protein. Die synaptischen Kontakte wurdenmit einem grün leuchtenden Farbstoff markiert.

Gegenteil. „Letztlich erhalten wir Signale nämlich nur von jenen Neu-ronen, die direkt auf den Elektrodensitzen“, sagt Melanie Jungblut, die inihrer Doktorarbeit die Wachstumsbe-dingungen der lebenden Zellen auf dem Chip optimiert. Da die Nerven-signale recht schwach sind, nehmendie Elektroden nur jene aus derunmittelbaren Umgebung wahr. Die

 Wissenschaftler müssen die wach-

senden Nervenzellen also zunächstan die richtigen Stellen lotsen.

 Auf den wenig einladenden Chip-Oberflächen benötigen Neuronen

 Wachstumsanreize, um zu gedeihenund sich anzuheften. Deshalb wer-den die Oberflächen mit dem Ami-nosäure-Polymer Poly-D-Lysin oder dem Protein Laminin benetzt. Vor al-lem Letzteres wirkt wie ein Halte-griff, an dem Eiweiße der Neuronen-membran andocken können. Benetzt

struktur erzeugen, ein überschauba-res Neuronen-Standardmuster.

 Auf diese Weise können die Wis-senschaftler ähnliche Netzwerkezüchten, die besser miteinander ver-gleichbar sind. „Nervenzellen lassenihre Ausläufer, die Dendriten und

 Axone, allerdings ungern um rechte

Extrazelluläre Ableitung der 60 Kanäle eines Mikro-Elektroden-Array; rechts untenist ein Bild der entsprechenden MEA-Region mit Neuronen unterlegt. Die Ableitung eineseinzelnen Kanals mit einem Burst-Signal sowie mehreren Spikes ist rechts dargestellt.

Unter dem Fluoreszenzmikroskoperscheinen Herzmuskelzellen grün gebän-dert, ihre Kerne wurden blau angefärbt.

   F   O   T   O   S  :   M   P   I   F    Ü   R   P   O   L   Y   M   E   R   F   O   R   S   C   H   U   N   G

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 A uf den ersten Blick sieht es un-spektakulär aus, das durchsich-

tige Plättchen in der Hand des Gastsam Max-Planck-Institut für Kohlen-forschung. Im Glas zeichnet sich einKreuz aus hauchdünnen Linien ab.Diese enden in winzigen Vertiefun-gen, kleiner als Stecknadelköpfe. DieLinien sind feine Kanäle, in denenkleinste Mengen an chemischenSubstanzen fließen können. „DieseKapillaren sind nur fünfzig Mikro-meter breit und zwanzig Mikrometer tief“, erklärt Detlev Belder stolz, „siehaben also ungefähr ein Viertel desDurchmessers eines menschlichenHaares“. Belder ist analytischer Che-miker und leitet die Abteilung Chro-

matografie am Institut, die auch ansolchen Chips forscht.

Der Glaschip könnte – wie einstdie ersten Transistoren – den Beginneiner neuen Ära markieren, in der komplette Chemielabors auf dieGröße eines Mikrochips schrumpfen.Es erginge ihnen wie den frühenGroßrechneranlagen, die heute lo-cker auf einen Mikroprozessor pas-sen. Lab-on-the-Chip, Labor auf demChip, heißt das Zauberwort, das eine

keitsmengen arbeitet, sollten auchdie chemischen Reaktionen viel

schneller laufen“, erklärt Detlev Bel-der einen weiteren Vorteil. Das Labor auf einem kleinen Chip würde au-ßerdem ganz neue Anwendungsge-biete eröffnen. Ärzte könnten damitBlutproben von Patienten in weni-gen Minuten analysieren. KünstlicheSpürnasen, die anders als Hunde nieermüden, könnten nach Sprengstof-fen oder Drogen „schnüffeln“ – oder im Dienst der Umweltüberwachungnach gefährlichen Gasen.

WIE 100000 PROTEINE

MITEINANDER LEBEN

Laborchips könnten auch dasnächste große Projekt der Lebens-wissenschaften entscheidend voran-bringen. Den Forschern steht heutezwar eine ausgereifte Technik zumDechiffrieren von Genomen zur Ver-fügung, aber nun müssen sie dienoch viel komplexere Choreografieder Proteine im lebenden Organis-mus entschlüsseln. Diese Aufgabe ist

noch viel gigantischer als das berühmt ge-wordene Human Ge-nome Project, denndas menschliche Pro-teom umfasst gut100000 Proteine. Diemolekularen Tausend-sassas erledigen oftauch noch mehrerebiochemische Jobsgleichzeitig. Dieses

komplexe Spiel wird sich erst mitsehr schnellen und massiv parallelen

Methoden im großen Stil chemischanalysieren lassen. Laborchips geltendafür als heiße Kandidaten.

Chemiker sind heute in einer ganzanderen Situation als die Erfinder des ersten Transistors im Jahr 1947:Ihnen ist das enorme Potenzial der Miniaturisierung bewusst. Amerika-nische Wissenschaftler versuchendeshalb mit großem Aufwand, neueTechniken für Laborchips zu ent-wickeln. Auch in Japan fließen großeInvestitionen in das junge For-schungsgebiet, sagt Detlev Belder:„Die Gefahr besteht, dass uns die Ja-paner überholen.“ Trotz dieser be-rechtigten Sorge beweisen die Mül-heimer Chemiker, dass man auch miteiner kleinen Gruppe ganz vornemitmischen kann. Dazu braucht maneine fruchtbare Arbeitsumgebung,wie sie am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung herrscht, guteIdeen, einen Schuss Hartnäckigkeit –und ein geschickt geknüpftes Netz-

werk von Kooperationen mit ande-ren Forschungseinrichtungen undder Industrie.

 Vor allem haben sich die Mülhei-mer den Blick für das Machbare be-wahrt. „Der Hauptteil der Forschungfindet zurzeit sicher in der Industriestatt, damit wollen wir als Grundla-genforscher erst gar nicht konkurrie-ren“, sagt Belder. „Deshalb haben wir uns auf einige Punkte gestürzt, wonach unserer Einschätzung noch

Entwicklungsbedarf besteht.“ Mitdieser bescheidenen Philosophie ist

seine Gruppe erstaunlich weit ge-kommen, sogar bis zum Weltrekord-halter im schnellen Analysieren be-stimmter Substanzen. Schnelligkeitist in der analytischen Chemie beilei-be kein sportlicher Selbstzweck, son-dern eröffnet – genau wie schnelleComputerchips – ganz neue Mög-lichkeiten.

Bei der Entwicklung ihrer La-borchips konzentriert sich BeldersGruppe auf ein chemisches Analyse-

 verfahren, das Elektrophorese heißt.Es spielt zum Beispiel bei der Ent-schlüsselung von Genomen einezentrale Rolle. Vergleicht man denheutigen Entwicklungsstand desLab-on-the-Chip mit der Elektronik,dann befinden wir uns in der Phaseder Bauteilentwicklung: So wie dieMaterialforscher in den 1960er-Jah-ren erst Leiterbahnen, Transistorenoder Kondensatoren in Mikrostruk-turen aus Silizium und Metall über-setzten, müssen die Chemiker heute

ihre Grundtechniken in den Chip-maßstab übertragen – eine davon istdie Elektrophorese.

GEN-FRAGMENTE IM

GEL-PARCOURS

„Die klassische Elektrophoresekennen Fernsehzuschauer von Kri-mis wie Tatort oder CSI“, sagt Belder und denkt dabei an folgende Szene:Die – natürlich attraktive – Wissen-schaftlerin zeigt dem Kommissar ei-

ne weiße Platte mit gestuften Farb-spuren und stellt sachlich-kühl fest,dass der genetische Fingerabdruck des Verdächtigen mit demjenigen

 vom Tatort übereinstimmt. Doch wiefunktioniert das?

Die Platte besteht aus einem Gel.Das genetische Material kommt zur 

 Analyse auf eine Seite dieser Platte,gewissermaßen in den Startblock.Dort verdauen es zuerst Enzyme,welche die Erbsubstanz DNA in der Probe in verschiedene, elektrisch ge-

ladene Molekülbruchstücke zerlegen.Ein sehr starkes elektrisches Feldtreibt sie durch das Gel hindurch, dasals molekularer Hindernisparcourswirkt. Darin reiben sich die größtenMolekülbruchstücke am stärksten:Sie bleiben im Rennen zum anderenEnde der Platte hinter den kleinerenBruchstücken zurück. Das molekula-re Marathonfeld zieht sich ausein-ander und die gleichstarken Läufer sammeln sich in Gruppen. Diese hin-

Manchem Labor steht vielleicht das gleiche Schicksal bevor wie den alten Großrechnern: Es könnte sich auf die Größe eines Mikrochips verkleinern.

An der Verwirklichung des Traums vom „Lab-on-the-Chip“ arbeiten viele Forscher rund um die Welt. Zu ihnen gehört die Gruppe von DETLEV BELDER

am MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR KOHLENFORSCHUNG in Mülheim an der Ruhr. Die Chemiker dort halten sogar einen Weltrekord.

CHIPS mit Gr

weltweit wachsende Zahl von Forschern elektrisiert.

Längst arbeitet auch dieIndustrie an der Realisa-tion dieses Traums. Allerdings ist die Minia-

turisierung von chemi-schen Prozessen zu einer Mikrofluidik eine große

Herausforderung. MikroskopischeFlüssigkeitsmengen lassen sich näm-lich viel schwerer manipulieren alselektrische Ströme in der Mikroelek-tronik. Das Mischen gelöster Reak-tionspartner oder das Steuern che-mischer Reaktionen in winzigenKanälen oder Kammern ist sehr an-spruchsvoll. Deshalb hält die Minia-turisierung in die Chemie auch viellangsamer Einzug als das in der Elektronik der Fall war. Auf demMarkt gibt es zwar schon erste kom-merzielle Laborchips, doch sie sindnoch sehr einfach konstruiert.

Ungeachtet der Schwierigkeitensteckt die Mikrofluidik voller Ver-heißungen. Weil sie nur winzige

Mengen an chemi-schen Substanzen be-nötigt, ist sie viel um-weltfreundlicher undspart teure Chemikali-en. „Wenn man mitsehr kleinen Flüssig-

Detlev Belder vom Max-Planck-Institut für Kohlenforsch justiert den Chip im Strahlengang des Fluoreszenz-Mikro

Reaktor und Rennbahnfür Moleküle: Ein Chip

im Größenvergleich miteiner 2-Euro-Münze.    F

   O   T   O   S   U   N   D   A   B   B   I   L   D   U   N   G   E   N  :   M   P   I   F    Ü   R   K   O   H   L   E   N   F   O   S   C   H   U   N   G

Ein Elektrophoresechip auf dem Plantisch eines Fluores-zenzmikroskops. Dessen Objektiv beobachtet die Probe, diedurch grünes Licht zum Leuchten angeregt wird.

OKUS

Das geschrumpfte   Chemielabor

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Kanalsystem geschleust werden kön-nen. Dabei darf sie nicht zerflie-ßen oder in die falschen Kanäle ab-biegen – bei Flüssigkeiten ein echtesProblem. Um es zu lösen, wollenmanche Forscher Mikroventile undMikropumpen in Chips einbauen.„Daran arbeiten viele Gruppen, dieauch bemerkenswerte Fortschrittegemacht haben“, sagt Belder. Dochmikromechanische Bauteile sind inder Herstellung anspruchsvoll, teuer,nutzen sich ab und sind anfälliggegen Stöße.

„Wenn ich Chemiefabriken auf ei-

nem Chip integrieren möchte, dannmit möglichst wenig bewegten Tei-len“, erklärt der Max-Planck-Wis-senschaftler: „Und das ist gerade dasSchöne an der Chip-Elektrophorese,denn wir brauchen gar keine Pum-pen oder Ventile auf dem Chip.“ Weilsie auf elektrische Felder reagieren,lassen sich Flüssigkeiten und daringelöste Partikel relativ einfach undelegant durch Anlegen von elektri-schen Spannungen steuern.

CHIPS mit Gr

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OKUS

terlassen eine charakteristische Spur 

 von Stufen auf der Gelplatte: Das istder genetische Fingerabdruck.

Die Elektrophorese trennt also diemolekularen Bestandteile eines zer-legten großen Makromoleküls auf und enthüllt so dessen Zusammen-setzung. Allerdings hat die klassi-sche Methode mit dem Gel einengravierenden Nachteil: Sie benötigt

 viele Stunden Zeit. Die Molekülfrak-tionen kriechen durch die Gelplatteungefähr so schnell hindurch wieSchnecken über einen großen Park-platz. Hätten die Forscher des Hu-man Genome Project mit diesem

 Verfahren das menschliche Genomdechiffrieren müssen, wären sie andieser Langsamkeit gescheitert.

Retten konnte das ambitionierteUnterfangen eine neue Methode:die Kapillarelektrophorese. Bei die-sem Miniaturisierungsschritt erset-zen dünne Kapillaren aus Quarzglasdie Gelplatten. Sie haben einenDurchmesser von nur 25 bis 100 Mik-

rometer (millionstel Meter) und sindbis zu einem Meter lang. Gefüllt sindsie mit einer Pufferlösung, in der dieDNA-Bruchstücke erheblich schnel-ler wandern können. Weil die Kapil-laren sehr dünn sind, brauchen sieauch viel weniger Probenmaterial.„Mit der Kapillarelektrophorese dau-ert eine Analyse zum Beispiel nichtmehr vierzehn Stunden, sondern nur noch fünfzig Minuten“, erklärt Bel-der. „Außerdem arbeitet man nicht

aus Videokamera und Mikroskop.Hinzu kommt bei Bedarf noch einSpektrometer; das kann die charak-teristischen Leuchtspektren der Mo-lekülbruchstücke wie Fingerabdrückedetektieren.

Besonders kritisch ist die Handha-bung der Probe. Wie bekommt manso ein winziges Probentröpfchen indie mikroskopischen Kanäle hinein?Und wie manipuliert man es danngezielt? Auf solche Fragen müssendie Chipkonstrukteure Antworten inForm praktikabler Techniken finden.Das ist keineswegs trivial. Nicht vonungefähr gerät Detlev Belders Be-schreibung der Chipfunktionen zum

 Ausflug in die seltsame Welt mikros-kopischer Flüssigkeitsmengen.

DAMIT PROBEN NICHT

AN DIE WAND FAHREN

In der Mikrofluidik ist es zum Bei-spiel ganz entscheidend, ob die Flüs-sigkeit die Wand der Kapillare anzie-hend oder abstoßend findet. Je nach-dem verhält sich Wasser wie zäher Honig und will partout nicht durchenge Öffnungen hindurch. Anderer-seits kann eine Kanalwand aus demrichtigen Material Wasser so anzie-hen, dass der Kanal sich sogar vonselbst befüllt. Auf diesen Kapillar-effekt setzt Belders Gruppe. Dazumuss die Kanalwand hydrophil sein,also Wasser liebend, denn diemeisten Lösungsmittel sind wässrig:Chemische Prozesse zwischen Bio-molekülen brauchen bekanntlich alle

 Wasser. Außerdem verhindern hydro-phile Kanalwände einen anderen un-erwünschten Effekt: Viele Probenneigen sonst dazu, an der Wand fest-zukleben anstatt durch die Trennka-

pillare zu wandern.Ungünstigerweise ist gerade Quarz

hydrophob, also Wasser abweisend.Doch ausgerechnet synthetischer Quarz (Fused Silica) ist ein wichtigesMaterial für die Analytiker. Andersals Glas ist er nämlich für ultravio-lettes Licht durchlässig – und damitbei der Analyse bestimmter Subs-tanzen fast unverzichtbar. Proteinelassen sich zum Beispiel im Trenn-kanal nur gut sichtbar machen,

wenn UV-Licht sie zur Fluoreszenzanregt. Um das Problem in derKapillarelektrophorese zu lösen, er-halten dort die Quarzkapillaren eineInnenbeschichtung aus einem sehr hydrophilen Material. „Dafür eignetsich zum Beispiel Polyvinylalkohol“,erzählt Belder.

Diese Beschichtungstechnik konn-ten die Mülheimer Chemiker nunauch auf ihren Quarzchip übertra-gen. „Das Hauptproblem ist immer das Blockieren der Kanäle gewesen“,berichtet Belder, „Wir haben be-stimmt ein Jahr daran rumgefum-

melt, und der Doktorand war schonein bisschen frustriert, aber jetztklappt es eigentlich hervorragend.“Das verhilft den Max-Planck-For-schern zu einem regelrechten Tech-nologie-Vorsprung. „Als das 2002funktionierte, haben wir einen Sektaufgemacht“, so Belder.

Die Chiptechnologie birgt aber noch eine weitere Herausforderung.Damit der Chip steuerbar ist, mussdie Probe ganz gezielt durch sein

nur mit einer Kapillare, sondern mit

einem ganzen Bündel.“ Ein solchesKapillar-Array (Kapillarfeld) ermög-licht viele Analysen zur selben Zeit:Erst diese massive Parallelisierung

 verhalf dem Human Genome Projectzum Durchbruch.

STARKES FELD

AUF KURZEM WEG

Der Erfolg weckte die Hoffnung,dass der nächste Miniaturisierungs-schritt ein noch viel effizienteres

 Analysewerkzeug schaffen wird:Forscher wie Detlev Belder verpflan-zen nun die Elektrophorese auf einen

Mikrochip. Auf dem Mülheimer Pro-totypen hat sich die Kapillare in ei-nen Kanal verwandelt. Dabei ist der Durchmesser fast gleich geblieben,aber die Länge schrumpfte auf weni-ge Zentimeter. Während der Analyseliegt nun an dieser kurzen Sprint-strecke ein gewaltiges elektrischesFeld an, das die Moleküle beschleu-nigt. „Bei der Kapillarelektrophoresebeträgt die Hochspannung bis 35000

 Volt, bei den Chips arbeiten wir mitbis zu 10000 Volt, aber das auf einer Strecke von nur vier Zentimetern.Das ergibt also ganz ordentlicheFeldstärken“, sagt Belder. Die klas-sische Gelplatte würde dabei sofort

 verkochen.Die Kombination aus kurzem Weg

und starkem elektrischen Feld redu-ziert die Analysezeit nochmals umeinen Faktor Zehn und mehr. Aller-dings trennen sich die Bestandteileder Probe auf der kurzen Streckeauch kaum voneinander. Sie liegenim Zieleinlauf so dicht wie 100-Meter-Sprinter – viel enger als dieMarathonläufer in der langen Kapil-lare oder auf der Gelplatte. Entspre-chend gut muss die Zielkamera sein.Sie besteht aus einer starken Licht-quelle, welche die Probenzonen inder Kapillare zum Fluoreszenzleuch-ten anregt, und einer Kombination

Chemielabors könnten eines Tages auf Chipgröße schrumpfen –ein Traum, der in der Mikroelektronik längst Wirklichkeit geworden ist.

Der Mülheimer Elektrophorese-Chip im Aufbau: Das Kreuz aus eingeätzten Kanälenbefindet sich in einer Unterplatte, die ein Deckel abschließt. Die mikroskopische Aufnahmezeigt den Kreuzungspunkt beider Kanäle (1µm entspricht einem tausendstel Millimeter).

So funktioniert die Elektrophorese auf dem Chip: Die Kreise zeigen die Schritte in Vergrößerung. Die kurze Flüssigkeitssäule der Probe wird in die Kreuzung der Kanälegefahren (links); Start der Analyse durch Injektion in den langen Kanal (Mitte); dorttrennt sich die Probe in eine langsamer und eine schneller laufende Zone (rechts).

Diese Videosequenz gibt die Injektion der Probe und deren Trennung im Kanal wieder.

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steuert man die chemische Reaktiongleich so, dass möglichst nur das er-wünschte Enantiomer entsteht. Für eine solche „enantionselektive“ Re-aktion benötigen die Forscher einenKatalysator, der das selektiv fördert.Enzyme können das als Biokatalysa-toren leisten, zum Beispiel in der Herstellung von Pharmawirkstoffen.

„Die chirale Katalyse ist eine der Hauptforschungsrichtungen am Ins-titut“, erzählt Belder. An ihr arbeitetdie Gruppe von Manfred Reetz, ei-nem der Institutsdirektoren. Reetzhat ein völlig neues Verfahren ent-wickelt, um für eine gewünschteenantioselektive Reaktion möglichstschnell das optimale Enzym zu fin-den. Er nennt es „gerichtete Evolu-

tion enantioselektiver Enzyme“. Da-bei erzeugen die Wissenschaftlermit molekularbiologischen Metho-den Tausende von Varianten einesursprünglich völlig unselektiven En-zyms. Diese Enzym-Mutanten testensie in einem hoch parallelen Verfah-ren durch. Gewinner ist die selek-tivste Mutante. Mit ihr wiederholendie Forscher die Prozedur: So ent-steht ein evolutionärer Druck, der schließlich zum optimal enantio-selektiven Enzym führt. Für dieses

 Verfahren mussten die Mülheimer Chemiker neue, hoch parallele Ex-perimentiertechniken entwickeln: Zudiesen „Hochdurchsatz-Screening-Systemen“ gehört auch die Elektro-phorese mit Kapillarbündeln.

Noch effizienter wäre es, die En-zym-Reaktion und ihre Analyse inZukunft auf einen Chip zu verpflan-zen. „Und hier schließt sich der Kreis“, meint Belder, denn für diese

 Anwendung braucht der Analyse-

chip nur noch einen vorgeschaltetenTeil. Dort „katalysiert“ das zu testen-de Enzym zuerst die chemische Re-aktion. Das Reaktionsprodukt fließtdanach in den zweiten Teil mit der Elektrophorese. An einem solchenkombinierten Chip arbeiten die Mül-heimer Max-Planck-Forscher gerade.Ihr Fernziel ist die Parallelschaltung

 vieler solcher Chips zu einem sehr schnellen Hochdurchsatz-Screening-System.

Detlev Belder träumt auch von ei-ner ganz neuen Technologie, mit der 

 jedes Chemielabor seine eigenenChips billig, schnell und für eine ge-rade anliegende Anwendung maßge-schneidert herstellen kann. Dieses„Rapid Prototyping“ (schnelle Proto-typ-Herstellung) erzwingt aber den

 Abschied von bisherigen Herstel-lungsmethoden. Bis dato entstehenGlas- und Quarzchips nämlich wieelektronische Mikrochips: Sie erhal-ten eine Maske und werden dannnass geätzt. Das bringt zwar perfekteStrukturen, erfordert aber eine auf-wändige und teure Reinraumtechnik.Die Mülheimer Chemiker müssendeshalb ihre Chips bei spezialisiertenIndustriepartnern wie Micronit inEnschede (Holland) ordern.

NEUE CHIPS –AUS KUNSTSTOFF?

Eine gute Lösung für das RapidPrototyping könnten Kunststoffchipssein. Diese erhalten ihre Struktur nicht durch Ätzen, sondern zum Bei-spiel durch einen heißen Stempel.Besonders elegant wäre es, den Chipaus einem hydrophilen Kunststoff herzustellen. Die heute für Mikro-strukturen eingesetzten Kunststoffesind dagegen stark hydrophob. „Wir dachten uns, schön wäre doch ei-gentlich ein Chip aus Polyvinylalko-

hol“, meint Belder. „Nur ist Po-lyvinylalkohol leider wasserlöslich.“Die wässrige Pufferlösung würde denChip von innen auflösen. Aus dieser Sackgasse führte die Wissenschaftler schließlich die Idee, den Chip aus Po-lyvinylacetat zu fertigen. Das ist einKunststoff, der Farben, Lacken oder Kaugummi zugesetzt wird. Der Trick:Spült man eine Kapillare aus diesemMaterial mit einer basischen Lösung,dann entsteht an der Wandober-fläche eine dünne, gut haftendeSchicht aus Polyvinylalkohol.

„Allerdings waren die ersten Re-sultate nicht viel versprechend, dasergab so komisch labbrige Chips.

 Aber dann haben wir von der Firma Wacker Chemie ein besseres Materialbekommen“, sagt Belder. Mit diesemMaterial konnten die Mülheimer zu-sammen mit Microfluidic ChipShopin Jena einen viel festeren Prototy-

pen entwickeln. Das Projekt ist soaussichtsreich, das es die DeutscheForschungsgemeinschaft fördert. Was kühne Visionen betrifft, bleibt

Detlev Belder allerdings – trotz aller Begeisterung – lieber auf dem Tep-pich: „Ich glaube nicht, dass es inden nächsten Jahren schon kleineGeräte zur Analyse von Blutprobengeben wird, bei denen ein Arzt nur noch auf den Knopf drücken muss!“

ROLAND WENGENMAYR

CHIPS mit Gr

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Die Mülheimer nutzen noch eineweitere Eigenschaft mikroskopischer Flüssigkeitsmengen geschickt aus: Inden engen Röhren können sich Flüs-sigkeiten kaum mischen. „Das ist wiebei den bunten Cocktails, bei denenman Bananensaft und andere Geträn-ke übereinander schichtet“, so Belder.Denkt man sich das Cocktailglas zueiner langen und sehr dünnen Kapil-lare auseinander gezogen, dann wer-den die Grenzflächen zwischen denübereinander geschichteten Kompo-nenten des Cocktails winzig klein.Die Komponenten können sich aber nur an diesen Grenzflächen vermi-schen – was kaum noch passiert. Die-ses Verhalten wird zum Problem,wenn Substanzen auf dem Mikrochip

miteinander reagieren sollen. Bei der Elektrophorese gerät es aber zum

 Vorteil, weil dort die flüssige Probeals stabiles Rohrpostpäckchen durchdie Kapillaren geschickt werden soll.

Diese vielen Facetten der Mikroflui-dik nutzen die Mülheimer Forscher mit einer verblüffend einfachenStruktur aus: Nur zwei Kapillarenkreuzen sich auf ihrem Elektro-phorese-Chip. Der lange Balken desKreuzes ist die eigentliche Analyse-Rennstrecke. An ihrem Anfangdurchbohrt sie ein kurzer Kanal alsQuerbalken. Der Kreuzungspunkt istder Startblock. Vor einer Analyse füllen die For-

scher zuerst das komplette Systemmit einer Pufferlösung als Trägerme-dium. Die Probe geben sie nun in ei-ne der kleinen Vertiefungen an denEnden der kurzen Kapillare. Mit ei-nem elektrischen Feld fahren sie dieProbe als kompakte Flüssigkeitssäulezur Kreuzung und fokussieren sie

dort. Dann schalten sie ein zweiteselektrisches Feld ein. Es stanzt einenkurzen Abschnitt aus der Probe ausund jagt ihn durch die lange Kapilla-re, wo er sich in seine molekularenBestandteile auftrennt.

Die Chip-Elektrophorese kann aber nicht nur kleinere von größeren Mo-lekülstücken schnell trennen. Sieschafft das sogar, wenn die Moleküleexakt gleich groß sind und sich nur in einer einzigen Eigenschaft unter-

scheiden: der Chiralität. Viele größe-re Moleküle besitzen einen räumlichgespiegelten Zwilling; er verhält sichzu ihnen wie ein linker Handschuhzum rechten. Solche Zwillingeheißen Enantiomere und die Spiege-lung Chiralität (vom altgriechischen

 Wort für „Händigkeit“).Enantiomere können unterschied-

liche chemische Wirkungen entfal-ten. Aus dem Alltag kennen wir die-sen Effekt von Jogurts, die mit über-wiegend rechtsdrehender Milchsäurebekömmlicher sein sollen. Tatsäch-lich reagiert unser Organismus auf die Enantiomeren mancher Substan-zen sehr unterschiedlich. Bei medizi-nischen Wirkstoffen kann sich dasdramatisch auswirken, wie die Con-

tergan-Tragödie in den 1960er-Jah-ren gezeigt hat: Während das links-händige Enantiomer des WirkstoffsThalidomid die gewünschte Wirkungals Schlafmittel entfaltete, soll dasrechtshändige die schweren Missbil-dungen von Föten verursacht haben.

EIN SCHNELLTEST

AUF DREHSINN

Deshalb muss heute auf der Packung eines Medikaments mit ei-nem chiralen Wirkstoff ausgewiesensein, wie „enantiomerenrein“ dieser hergestellt ist. „Es darf kein solchesMedikament auf den Markt kommen,ohne dass dafür eine chirale Tren-nung entwickelt worden ist“, sagtBelder. „Diese Verbindungen sindsich aber sehr ähnlich, deshalb ist esschwierig, sie auseinander zu tren-nen.“ Ein links- und ein rechtshändi-ges Molekül haben nämlich diesel-ben physikalischen Eigenschaften,haben dasselbe Molekulargewicht

oder sieden bei derselben Tempera-tur. Sie verhalten sich wie Schrau-ben, die in allem gleich sind – nur dass eine Sorte linksdrehende Ge-winde hat und die andere rechtsdre-hende. Wie kann man sie auseinan-der sortieren? Ganz einfach: Manprüft die Gewinderichtung.

Genau das kann die Elektrophore-se. Wegen ihres geringen Durchsat-zes ist sie zwar nicht direkt zur Her-stellung eines enantiomerenreinen

 Wirkstoffs geeignet. Aber sie kannüberwachen, ob ein chemischer Pro-zess nur die gewünschten Enantio-mere produziert. Das sollte sie auchmöglichst in Echtzeit schaffen, er-klärt Belder: „Wenn ich schnell mer-ke, da läuft etwas im Reaktor schief,dann kann ich den Ansatz noch ret-ten und muss ihn nicht kostenträch-tig entsorgen.“ Das spart nicht nur Herstellungskosten, sondern ist auchumweltfreundlicher.

Im Prinzip ist die Chip-Elektropho-rese für eine solche Echtzeit-Analysegeeignet. Allerdings, so Belder, musssie zur chiralen Trennung umgerüs-tet werden: „Dazu muss man demSystem chirale Information zufü-gen.“ Einfach gesagt, muss die Flüs-

sigkeit im Trennkanal wie ein Ge-winde funktionieren, das linksdre-hende Schrauben von rechtsdrehen-den unterscheiden kann. Die Chemi-ker erreichen das, indem sie der Puf-ferlösung große Moleküle, chiraleKäfigverbindungen, zusetzen. Dieser Trick gelingt auf den Mülheimer Chip-Prototypen schon sehr gut:„Bevor wir anfingen, brauchte dieschnellste chirale Trennung ungefähr 

 vierzig Sekunden. Mittlerweile hal-ten wir den Rekord mit siebenhun-dertzwanzig Millisekunden“, berich-tet Detlev Belder. Knapp eine Sekun-de für eine Analyse wäre praktischschon Echtzeit – verglichen mit der Behäbigkeit vieler Prozesse in riesi-gen Industriereaktoren. Wie wichtig das Thema ist, wird

daran deutlich, dass jedes molekula-re Zwillingspaar ein eigenes chiralesTrennverfahren braucht. Am besten

Erster Prototyp eines Chips aus demKunststoff Polyvinylacetat. Solche Chipssollen unkompliziert und billig herzustellensein. Außerdem ließen sie sich nachMaß für bestimmte Anwendungen per„Rapid Prototyping“ fertigen.

Kombinierter Chip zur schnellen Suche nach Enzymen, die eine chirale Reaktionoptimal katalysieren. Im mäandernden Kanal mischen sich die Reaktionspartner mitdem Katalysator-Kandidaten und reagieren miteinander. Das Produkt fließt direktin den Elektrophorese-Abschnitt auf demselben Chip und wird dort analysiert.

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 A uch eingroßer 

Dichter findet nicht auf Anhiebdie richtigen Worte. So fügte Johann

 Wolfgang von Goethe nachträglichseinem Faust I hie und da noch einpaar Zeilen hinzu und strich dafür andere – und zwar erst, nachdem er Faust II bereits beendet hatte. Diekleine Schummelei des Dichterfürs-ten kam auf, als Oliver Hahn von der Bundesanstalt für Materialprüfung,angeregt durch Kunsthistoriker, sichdas Originalmanuskript vornahmund dessen Tinte einer genauen Un-tersuchung unterzog. Hahn bedientesich dazu des Verfahrens der Rönt-genfluoreszenzanalyse. Dabei be-

strahlt man ein Material mit Rönt-genlicht; dieses regt die Atome zur Fluoreszenz an, die ebenfalls imRöntgenbereich liegt. Ihre Wellen-längensignatur ist so charakteris-tisch, dass sich – wie in diesemFall – unterschiedliche Tintenmi-schungen erkennen lassen.

Oliver Hahn benutzte bei seinenUntersuchungen ein Messgerät miteinem hoch empfindlichen Detektor,der am Halbleiterlabor der Max-

ben die Grenzen des technisch Mach-baren immer näher zu den Grenzen

des physikalisch Möglichen. Nie-mand hätte geglaubt, dass sich heutemit einem kleinen SiliziumplättchenMessungen besser und genauer aus-führen lassen als noch vor rund 15Jahren mit großen Instrumenten da-maliger Spitzentechnologie.

In erster Linie entwickeln die HLL- Wissenschaftler ihre Chips für dieGrundlagenforschung. Es hat sich je-doch schnell gezeigt, dass die klei-nen Sensoren auch in anderen Fach-bereichen hoch begehrt sind – wennes darum geht, Röntgenstrahlungoder Teilchen zu messen und zu ana-lysieren. Neben den beiden Institutenwirkt deshalb auch die Firma PNSen-sor im Halbleiterlabor. Das Unter-nehmen ist einerseits an den Ent-wicklungsarbeiten der Röntgende-tektoren beteiligt; andererseits ver-treibt es im Auftrag der Institute De-tektorchips, die in der Grundlagen-forschung der beiden Institute nichtmehr zum Einsatz kommen.

VOM MIKROKOSMOS

ZUM RAND DES KOSMOS

Die Entwicklung von hoch emp-findlichen Röntgendetektoren für die

 Astro- und von Spurdetektoren für die Teilchenphysik zählt weiterhin zuden Hauptaufgaben und ist gleich-zeitig die Triebfeder des Labors.Denn wenn die physikalischen Er-kenntnisse in immer extremere Be-reiche vorstoßen, benötigen die Wis-

senschaftler auch immer bessere Ins-trumente. Die Grundlagenforscher an

den großen Beschleunigern dringenbei ihren Experimenten immer tiefer ins Innere der Materie vor. Dabeimüssen sie Teilchen mit extrem ho-hen Energien registrieren und verfol-gen. Die haushohen Detektoren beimCERN in Genf oder am Hamburger DESY bestehen aus Tausenden hochentwickelter, raffiniert verschalteter Spezialmessgeräte.

 Ähnliches gilt für die Astrophysi-ker. Sie suchen heute den Himmelmit Teleskopen ab, die Röntgenstrah-lung von weit entfernten Objektenaufspüren. Die Instrumente befindensich auf Satelliten, damit sie außer-halb der störenden Atmosphäre auch

 jene Strahlung registrieren, die gar nicht mehr zur Erdoberfläche durch-dringt. „Messzeit auf einer Raum-fahrtmission ist teuer”, sagt Strüder,„deshalb müssen die Detektoren soempfindlich wie möglich sein. Diewenigen Photonen, die während der kurzen Messzeit einfallen, muss der 

Chip zuverlässig registrieren. UnsereDetektoren erreichen hier eine Effizi-enz von mehr als 90 Prozent.”

So fliegt beispielsweise ein HLL-Chip seit 1999 auf dem Röntgentele-skop  XMM-Newton (X-Ray Multi-Mirror Mission). Viele wunderbareBilder, die nicht nur Laien, sonderngerade auch die Fachwelt entzücken,hat es schon zur Erde gefunkt. Diese

 Aufnahmen ermöglichen den Astro-nomen und Kosmologen Einblicke

in ferne Regionen des Universumsund lassen Rückschlüsse auf die

Entstehung und Entwicklung unse-rer Welt zu.

EINEN HURRIKAN IM

UNIVERSUM AUFGESPÜRT

So veröffentlichten Ulrich Briel vom Max-Planck-Institut für Extra-terrestrische Physik und seine Kolle-gen im Oktober 2004 folgende Be-obachtung mit  XMM-Newton: ImSternbild Hydra, etwa 800 MillionenLichtjahre von der Erde entfernt,fand vor 300 Millionen Jahren einFrontalzusammenprall mehrerer Tau-send Galaxien mit einigen TrillionenSternen statt. Die dabei freigesetztenEnergien werden nur noch vom Ur-knall übertroffen. Der Zusammenstoßhat Hurrikan-ähnliche Verhältnisseim All verursacht und eine Schock-welle mit 100 Millionen Grad heißemGas ausgelöst – was sich im Rönt-genlicht zeigt. Temperatur- undDichteverteilung hat  XMM-Newton

genau vermessen und so die Kollision

rekonstruiert. In einigen hundert Mil-lionen Jahren wird das Licht vomEnde des Zusammenpralls und der Formierung eines neuen Riesengala-xienhaufens auf der Erde ankommen.

„Unser XMM-Detektor steht mitseinen Fähigkeiten ziemlich einzigar-tig da”, betont Gerhard Lutz, „bisher wurden etwa 5000 Beobachtungenmit  XMM-Newton gemacht, und bei80 Prozent davon war unser Chip be-teiligt. Seit dem Start am 10. Dezem-

ber 1999 arbeitet er fehlerfrei”. Der Chip besitzt eine hohe Empfindlich-keit für Röntgenstrahlen in einembreiten Energiebereich; gleichzeitig

ist er strahlenhart, widersteht alsoweitgehend dem Teilchenbombarde-ment des Sonnenwinds. Das ist wich-tig für die Arbeit im All, denn dortsehen sich die Wissenschaftler einemDilemma gegenüber: Einerseits sinddie energiereichen Teilchen Gegen-stand der Forschung, andererseitsstören sie die Messgeräte. Lutz: „Umdiesen Widerspruch aufzulösen, ha-ben wir eine spezielle Herstellungs-technik entwickelt. Mit den pnCCDs,

Ob ein Blick zu fernen Galaxien, in die Welt der Elementarteil chen oder auf alte Handschriften: Ohne moderne Analysemethoden kommt die Wissenschaft

heute nicht aus – und ohne das Münchener HALBLEITER LABOR DER MAX-PLANCK-GESELLSCHAFTwären viele dieser Detektoren nichts wert.

Denn im HLL entwickeln die Wissenschaftler hoch empfind liche Sensorchips für astrophysikalische Missionen sowie für Teilchen- und Materialforschung.

CHIPS mit Gr

Planck-Gesellschaft (HLL)in München entwickelt

wurde. Dieser Detektor ist in der Lage, Röntgen-strahlen zu erkennen undihre Energie zu messen –

eine Fähigkeit, die bei den ex-trem energiereichen Quanten keines-wegs selbstverständlich erscheint.Um so erstaunlicher ist das Könnendes Detektors, wenn man bedenkt,dass er lediglich aus einem wenigeQuadratmillimeter großen Silizium-chip besteht.

„In unseren Röntgenchips stecken15 Jahre intensiver Entwicklungsar-beit”, sagt Lothar Strüder, der zusam-men mit Gerhard Lutz das HLL seitseiner Gründung durch die beidenMax-Planck-Institute für Physik undfür Extraterrestrische Physik im Jahr 1990 leitet. Strüder repräsentiert dieFraktion der Astrophysiker, währendGerhard Lutz einer der Pioniere beider Entwicklung und dem Einsatzder Detektoren in Experimenten der Teilchenphysik ist. Er übergibt dem-

nächst sein Amt an den Teilchen-physiker Hans-Günther Moser.

Die 15 Jahre manifestierten sichnicht nur in wechselnden Standortenmit immer besseren Labors und Ferti-gungsanlagen, sondern auch in einer stetigen Verbesserung der erzieltenProdukte durch intensive Entwick-lungsarbeit: Die Chips, die hier im-mer wieder neu erdacht und gefertigtwerden, zeigen eine zunehmendhöhere Empfindlichkeit und verschie-

Sensoren für das Unsichtbare

Dieser Raum ist in gelb-oranges Kunstlicht getaucht,gegen das der Fotolack auf den Chips unempfindlich ist.

Für den europäischen Röntgensatelliten XMM-Newton

hat das Münchener Halbleiterlabor einen CCD mit integrier-ter Elektronik entwickelt – den schnellsten der Welt.

OKUS

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Unterschiede. So müssen sie eine ho-he Ortsauflösung garantieren unddabei auch noch extrem schnell, ge-nau und strahlenhart sein, denn imBeschleuniger trifft 100000-mal so

 viel Strahlung auf sie wie im Weltall;dafür sind die Anforderungen an dieEnergieauflösung gering.

Im Jahr 2007 wird voraussichtlichder LHC (Large Hadron Collider) amCERN seinen Betrieb aufnehmen –und mit ihm der Atlas-Detektor: ein

15 Meter hoher Koloss, der aus einer schichtweisen Kombination verschie-dener Messgeräte besteht. Er umgibteinen der Kollisionspunkte des Be-schleunigers, an dem Milliarden vonProtonen mit entgegenkommendenProtonen zusammenstoßen und eine

 Vielzahl verschiedener Teilchen er-zeugen. In der innersten Schicht,dem Spurdetektor, stecken 20000Siliziumscheiben, wie sie am Münch-ner Halbleiterlabor entwickelt wur-

den. „Wegen ihrer großen Zahl wur-den die Chips dann jedoch industriellhergestellt”, sagt Teilchenphysiker Moser. Wenn der LHC eines Tages die ers-

ten Ergebnisse liefert, werden dieHLL-Forscher bestimmt ebenso ge-spannt den Atem anhalten wie ihreKollegen aus aller Welt: Soll dochan dem neuen Riesen-Beschleuniger nichts Geringeres gefunden werdenals das ominöse Higgs-Teilchen, des-sen Entdeckung und Vermessung

 viele Fragen der Physik auf einenSchlag klären oder zumindest erhel-len könnte.

PROTONEN LIEFERN AUCH

VIEL „SCHROTT“

Parallel zu den Arbeiten am Pro-

tonen-Speicherring LHC richten diePhysiker am Max-Planck-Halblei-terlabor ihr Augenmerk auch auf dieKonkurrenz, die mit Elektronen undPositronen arbeitet. „Beim Zusam-menstoß von Protonen entsteht vielunnützes Beiwerk, und es bedarf echter Detektivarbeit, um aus demGewirr von Teilchen die wirklichrelevanten Spuren herauszufiltern”,erklärt Hans-Günther Moser. „Beider Kollision eines Elektrons mit

seinem Antiteilchen hingegen sinddie Verhältnisse sauberer. Dort wirdes wahrscheinlich möglich sein, diegenauen Eigenschaften des Higgs-Teilchens zu ermitteln – wenn manerst einmal weiß, bei welcher Ener-gie man es zu suchen hat.” Eine sol-che Anlage wird der geplante ILC(International Linear Collider) sein,ein 30 bis 40 Kilometer langer Line-arbeschleuniger, dessen Standortheute noch nicht feststeht, der je-doch um das Jahr 2015 in Betriebgehen soll.

Heute schon Realität sind die An-wendungen der am HLL entwickeltenDetektoren in der Materialforschung.So kann beispielsweise in einemRasterelektronenmikroskop ein sepa-

rater Sensor zusätzlich zur Intensitätder gestreuten Elektronen auch nochdas Energiespektrum der Röntgen-fluoreszenzstrahlung erfassen unddaraus die chemische Zusammenset-zung der Probe ermitteln. Markiertman im Computer die Elemente mitunterschiedlichen Farben, so entstehtauf diese Weise ein „Farbfoto”, das

 viel mehr über die Probe aussagt alsdas übliche Schwarz-Weiß-Bild. Diebesondere Fähigkeit dieser Detek-toren liegt darin, dass sie bei sehr hohen Datenraten von etwa einer Million Photonen pro Sekunde undbei Raumtemperatur oder nur sehr mäßiger Kühlung exzellente spek-troskopische Messungen erlauben.Überdies sind sie sehr klein und las-sen sich daher leicht in Anlagen wiedem Rasterelektronenmikroskop in-tegrieren. Bisher benutzte Detektorenerforderten Kühlung mit flüssigemStickstoff und vertrugen nur eine umeinen Faktor 100 kleinere Datenrate.

 Auch auf dem Mars haben Chipsaus dem Münchener HLL schon guteDienste geleistet: In den SondenSpirit und Opportunity helfen Silizi-um-Driftdetektoren bei der Analysedes Marsbodens. Und schließlich set-zen Kunsthistoriker auf die Zuverläs-sigkeit der Detektorchips, wenn siedamit Gemälde, altägyptische Lei-chentücher untersuchen – oder ebenHandschriften wie von Johann Wolf-gang von Goethe. BRIGITTE RÖTHLEIN

OKUS

Ein monolithischer, rauscharmer und strahlenhartertgen-CCD mit einer Fläche von 40 Quadratzentimetern,

wie er an Bord des XMM-Satelliten arbeitet, deckte denkosmischen Crash zwischen zwei Galaxienhaufen auf.

Materialanalyse eines defekten Druck-sensors: Die obere Aufnahme wurde mit

einem Rasterelektronenmikroskop (REM)aufgenommen und zeigt das typischeBild der gestreuten Elektronen; darun-ter derselbe Defekt, dargestellt mittelsRöntgen-Fluoreszenzstrahlung.

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 A llein in Deutschland kommen jähr lic h 6000 Kind er mit

Herzfehlern auf die Welt – fast 20am Tag. Damit sind Fehlbildungendes Herzens der häufigste Geburts-defekt beim Menschen. Währendfrüher die Patienten meist im Kin-desalter starben, können Mediziner heute fast alle Herz- und Gefäßfehl-bildungen durch Operation korrigie-ren. So erreichen die meisten der be-troffenen Kinder inzwischen das Er-wachsenenalter. Gleichwohl bleibendie Patienten lebenslang krank, dasich das Herz nicht heilen, sondernnur reparieren lässt.

„Obwohl die verschiedenen For-men der angeborenen Herzfehler schon lange bekannt sind, wusstenwir bis vor kurzem fast nichts über die genetischen Ursachen“, sagt Silke

Sperling vom Max-Planck-Institutfür molekulare Genetik in Berlin.„Doch nun“, so die Ärztin, „habenwir die ersten molekularen Porträts

 von Herzfehlern mit klar umrissenenklinischen Bildern.“ Den Fortschritt –auch mit Blick auf neue therapeuti-sche Optionen – verdankt SperlingsTeam vor allem einem Werkzeug der Molekularbiologie, das in den ver-gangenen Jahren in der Szene der Molekularbiologen einen regelrech-

chemischer Bausteine, den Basen Adenin, Cytosin, Guanin und Thy-

min; in der Schreibweise der Geneti-ker wird die Basenabfolge durch dieentsprechenden Anfangsbuchstaben

 A, C, G und T dargestellt.Die vier Basen sind über ein

„Rückgrat“ aus Zucker und Phosphatzu einer langen Kette verknüpft. Inder DNA-Doppelhelix lagern sichzwei dieser Ketten aneinander undschrauben sich dann um eine un-sichtbare zentrale Achse. Dabei kön-nen sich nur bestimmte Basen paa-ren: An einen Baustein mit Adeninlagert sich immer nur ein Bausteinmit Thymin an und umgekehrt. Cyto-sin und Guanin bilden das anderekomplementäre Basenpaar. Lautet dieSequenz auf einem Strang TGAATT-CC, heißt die Abfolge auf dem ande-ren Strang folgerichtig ACTTAAGG. Wenn man die DNA erhitzt, tren-

nen sich die komplementären Strän-ge leicht voneinander. Jeder beliebi-ge andere DNA-Strang kann sich –solange er die komplementäre Ba-

senfolge aufweist – an einen derarti-gen DNA-Einzelstrang anlagern undihn wieder zum Doppelstrang ver-

 vollständigen. „Genau auf diesemPrinzip der Hybridisierung beruhen

 viele biologische DNA-Testverfah-ren“, betont Claus Hultschig, eben-falls Wissenschaftler am Berliner Max-Planck-Institut für molekulareGenetik. „Aber DNA-Chips erledigenabertausende solcher Messungengleichzeitig.“ Das macht sie einzigar-

tig. Dank der Entschlüsselung desmenschlichen Erbguts im Rahmen

des Humangenomprojekts kenntman inzwischen die Basen-Sequen-zen fast aller Gene, die sich imZellkern einer jeden Körperzellebefinden. Die entsprechenden DNA-Ketten lassen sich beliebig verviel-fältigen und für verschiedene Ana-lyse-Anwendungen als Einzelstrangfest auf den Chips verankern.

 Am Max-Planck-Institut für mole-kulare Genetik produzieren vieleForscher die Micro-Arrays selbst.Zwar bieten Firmen inzwischen seri-enmäßige DNA-Chips an, doch sindlaut Hultschig „die Produkte von der Stange nicht unbedingt besser undoft auch nicht preiswerter“. Das Teamum den Chemiker arbeitet seit eini-gen Jahren daran, die Produktion der Chips zu optimieren. Denn was sichtheoretisch bestechend anhört, istpraktisch ein schwieriges Unterfan-gen – wie so oft steckt der Teufel imDetail. Noch immer gilt die mög-lichst optimale Produktion der Chips

als Kunst. Dabei konkurrieren meh-rere Verfahren miteinander, wie manDNA am besten auf die Chips bringt.

Hultschigs Team arbeitet mit ei-ner Art Stempel-Methode. Zunächstwerden die einzelnen DNA-Stückemit den ausgewählten Sequenzenauf so genannte Mikrotiter-Plattengebracht – simple Kunststoffplatten

 von der Größe zweier Zigaretten-schachteln und mit fast 400 kleinen

 Vertiefungen. In jeder Vertiefung be-

findet sich in einem Lösungstropfenein bestimmtes Gen oder der Teil

eines Gens. Ein Roboterarm – eine Art Nadelkissen mit 48 Stiften, denPins – taucht in die Lösungen so tief ein, dass DNA an den Spitzen klebenbleibt. Danach setzt der Roboter diePins parallel auf der Oberfläche desChips ab. Die DNA-Stücke gelangendabei an einem vorbestimmtenPunkt auf den Chip und werden ei-nes neben dem anderen in einemRaster angeordnet.

WIE VIEL DNA PASST

AUF EINEN CHIP?

Dies ist ein hoch automatisierter Prozess – jeden Arbeitsschritt desRoboters steuert eine spezielle Soft-ware mit hoher Qualitätskontrolle:

 Wie schnell sollen die Pins auf der Oberfläche aufsetzen? Wie wäschtund trocknet man sie nach einem

 Arbeitsgang? All das sind vermeint-liche Kleinigkeiten, die die Leistungdes Micro-Arrays aber letztlich ent-scheidend beeinflussen.

 Wenn die Lösung eintrocknet, wirddie DNA mit der Oberfläche chemisch

 verknüpft. Durch den schrittweisenTransfer lassen sich die DNA-Stücke

 viel dichter auf den Chip packen alssie ursprünglich auf der Mikrotiter-Platte vorlagen. Der Micro-Array selbst ist dann mit etwa zwei malfünf Zentimetern nur so klein wie einfrischer Kaugummi. Inzwischen ha-ben die Max-Planck-Wissenschaftler den Abstand zwischen den Punkten

auf den Chips auf 130 tausendstelMillimeter gedrückt.

Immer mehr Proben auf derselbenoder einer noch kleineren Chip-Fläche? „Das ist eine Herausforde-rung, ganz klar“, sagt Claus Hult-schig. Mehr als 30 000 verschiedene,einzelnen Genen entsprechendeDNA-Proben kann die Max-Planck-Gruppe heute auf einem Chip unter-bringen – im Vergleich zu einigenTausend noch vor wenigen Jahrenist das ein Riesenschritt. Und noch

 viel wichtiger: Die Forscher weisenheute nach, ob die DNA-Probenauch wirklich auf den Chips ange-kommen sind. Denn bislang wurdeder Erfolg der Produktion lediglichmit dem bloßen Auge, durch Mikro-skopie oder durch stichprobenartigeKontrollen einzelner Chips aus einer Charge geprüft. „Wir können jetztsagen: Hier sind 99, da nur 90 Pro-zent aller Proben übertragen wor-den“, so Hultschig. Für Tests mit

Gene, die ans Herz gehenMaßgeschneiderte Therapien f ür Krankheit en wie Krebs oder angeborene Herzfehler gehören heute noch ins Reich der Sciencefiction. Gleichwohl ist der

Grundstein für die Medizin der Zukunft gelegt: DNA-Chips haben in den vergangenen Jahren die Molekularbiologie einen Schritt vorangebracht. Mit solchen

Micro-Arrays spüren Wissenschaftler des MAX   PLANCK-INSTITUTS FÜR MOLEKULARE GENETIK normalen oder krankhaften Prozessen innerhalb von Zellen nac

CHIPS mit Gr

ten Hype ausgelöst hat: den DNA-Chips oder Micro-Arrays.

„Die Technik hat uns enorm vo-rangebracht, weil man unglaublicheMengen von genetischen Daten miteinem Schlag erfassen kann“, sagtdie Wissenschaftlerin. Das ist einer der großen Vorteile dieser Micro-

 Arrays: Sie beschleunigen die Erfor-schung normaler und krankhafter Prozesse in Zellen – und könntenauch eine genauere Diagnose vieler Erkrankungen wie Krebs ermögli-chen (Kasten Seite 39). Zudem hofftdie Branche mit weltweit einigenDutzend Unternehmen, dass sich mitderartigen Chips eines Tages die in-dividuelle genetische Ausstattung ei-nes Patienten ermitteln lässt, um ei-ne Therapie nach Maß zu schneidern.Doch so weit ist es noch lange nicht.

VIER BASEN LIEFERN

ZWEI PAARE

DNA-Chips nutzen eine Besonder-heit des Erbmoleküls: die so genann-te komplementäre Basenpaarung. In

 jeder Zelle – sei es von Rosen, Bie-nen, Heringen, Mäusen oder Men-schen – sind die Gene verborgen, dieals Bauanleitung für Proteine die-nen. Jedes Gen besteht aus DNA miteiner genau festgelegten Reihenfolge

Computerprogramme liefern ein farbcodiertes Bild derDNA-Proben auf dem Analysechip. Die unterschiedlicheIntensität der Punkte auf dem Bildschirm verrät dieMenge bestimmter Sequenzen in den Proben.

Ein Roboterarm nimmt mit 48 PinsDNA-Proben von Mikrotiter-Platten auf und überträgt sie auf einen Analysechip.

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OKUS

DNA aus besonders wertvollen Ge-webeproben können somit gezieltnur die besten Chips ausgewählt

werden.Knapp 1000 Micro-Arrays für di-

 verse Anwendungen hat das Team imJahr 2004 produziert – nicht nur Chips mit menschlichem Erbgut, son-dern auch aus anderen wichtigenbiologischen Modellorganismen wieetwa der Maus. Grundlagenforscher 

 vergleichen beispielsweise die DNA aus unterschiedlichen Geweben mitden DNA-Proben auf dem Chip. Da-bei markieren sie diese „DNA-Son-

auch äußere Einflüsse, etwa Medika-menteneinnahme der Mutter, dieEntwicklung des Herzens negativ be-einflussen. Kommt es zu einer Fehl-bildung, „passen sich die Herzmus-kelzellen sekundär an die veränder-ten biomechanischen Verhältnissean“, sagt Silke Sperling.

So bestimmen primäre und sekun-däre Faktoren die komplexen klini-

schen Formen, die auch unter den500 untersuchten Patienten auftra-ten. Diesen entnahmen die Ärzte beiohnehin anstehenden Operationenkleine Gewebestücke aus den ver-schiedenen Herzbereichen – linkeund rechte Kammer, linker und rech-ter Vorhof und Herzscheidewand.

 Aus den Gewebeproben isolierten dieForscher wiederum die mRNA-Mo-leküle für ihre Micro-Array-Analy-sen. Bestückt waren die Chips mitrund 3000 menschlichen Genen, diesich in Vorversuchen als wichtig für Herzentwicklung und -funktion er-wiesen hatten.

BIOINFORMATIK DECKT

VERBORGENE MUSTER AUF

Die jeweiligen Gen-Expressions-muster der verschiedenen Patienten-proben mit typischen klinischenKrankheitsbildern wurden unterein-ander, aber auch mit denen gesunder Herzen verglichen. Die riesige Da-

tenmenge von mehr als neun Millio-nen Expressionswerten lässt sich nur mit Hilfe moderner Bioinformatik auswerten. „Tatsächlich“, sagt Sper-ling, „haben wir auf diese Weise Gen-Muster gefunden, die angeboreneHerzstörungen mit unterschiedlichenklinischen Bildern verursachen.“ Die-se veränderten Gene spielen auchnach der Embryonalentwicklung für die Herzfunktion eine Rolle – bei-spielsweise Gene, die an der Stress-

den“ zuvor mit einem Fluoreszenz-farbstoff. Die Sonden binden an dieBasen-Sequenzen auf dem Chip, vo-rausgesetzt, die Stränge sind komple-mentär zueinander. Nicht am Chiphaftende DNA wird abgespült. Nachdem Test geben die Forscher den Chipin einen speziellen Laserscanner, der die hybridisierte DNA mit dem flu-oreszierenden Farbstoff in wenigenMinuten erfasst. Computerprogram-me wandeln die Daten schließlich ineine farbcodierte Darstellung um.

 Ausgewertet sieht das Ergebnis fastso aus wie ein postmodernes Kunst-werk: viele bunte Punkte, deren un-terschiedliche Intensität auch etwasüber die Menge einzelner Sequenzenin der Gewebeprobe verrät. So lässt

sich in einem einzigen Experiment alldas messen, was zuvor nur in 1000Einzelexperimenten gelang.

DIE PARTITUREN

DER GEN-AKTIVITÄT

Die Nutzungsmöglichkeiten der Technik sind vielfältig. Ulrike Nuber baut sich am Berliner Max-Planck-Institut ihre eigenen Chips vor allemdeshalb, um „Expressionsprofile“

 von Stammzellen zu erhalten, diesich gerade in einen reifen Zelltypdifferenzieren. Ihr Biochip kann in-direkt ermitteln, welche Gene einer Zelle zum Zeitpunkt der Probenahmeaktiv oder stumm sind. „Die Zellenbrauchen immer nur einen Teil desGenoms; die meisten Gene sindstumm“, sagt Nuber. Von den jeweilsaktiven Genen, die abgelesen wer-den, um bestimmte Proteine zu pro-duzieren, erstellt die Zelle zunächst

 Abschriften in Form der Boten-RNA (messenger RNA oder kurz mRNA).

 Weil sich die Chemie von mRNA undDNA grundsätzlich ähnelt, könnendie Forscher DNA-Chips zur Analyse

 verwenden. Aus den adulten Stammzellen des

Gehirns entwickeln sich in einemfließenden Prozess und in begrenz-tem Umfang reife Nervenzellen. Umzunächst bei Mäusen herauszufin-den, wie sich das Expressionsmuster der Gene dabei verändert, hat NubersTeam 24, 48 und 96 Stunden mit Be-

ginn der Differenzierung die kom-plette mRNA der Zellen isoliert, auf-bereitet und auf einen Chip gegeben.

 Auf diesem befanden sich mehrals 20000 definierte Gene der Maus.„Im Laufe dieser vier Tage verändernüber 400 Gene ihre Aktivität“, er-klärt Ulrike Nuber. Gene, die bei-spielsweise die Teilungsaktivität der Zellen kontrollieren, werden gleichzu Beginn abgeschaltet. Sie agieren –genauso wie Gene für die Zellstruk-tur und den Zellzusammenhalt –

 vor allem im unreifen Zustand der Stammzellen. Andere Gruppen vonGenen hingegen werden im Zuge der Reifung hochreguliert. Dazu zählenbeispielsweise bestimmte Transkrip-tionsfaktoren, die wiederum die Ak-

tivität anderer Gene steuern.In einer Art Schrotschussverfahren

hat das Team der Medizinerin jeneGene identifiziert, die den Differen-zierungsprozess bestimmen und die

 jetzt mit anderen Verfahren weiter untersucht werden. „Eine solche Vor-auswahl können Sie nur mit Micro-

 Arrays so schnell erreichen“, sagt dieForscherin. Nachteil: Die Chips sindbislang noch nicht empfindlich ge-nug für jene Gene, die nur schwachaktiv sind, aber im Zellgeschehendurchaus eine entscheidende Rollespielen. „Dennoch lernen wir die Dy-namik des Prozesses viel besser ken-nen“, sagt Nuber. Davon erhofft sichihre Gruppe langfristig Ansätze für neue Therapien bei Krankheiten desNervensystems. Ähnliche therapeutische Perspekti-

 ven sieht Silke Sperling, die mit ei-nem Micro-Array die DNA aus Ge-webeproben von Patienten mit ver-schiedenen angeborenen Herzfehlern

AUF DEM WEG IN DIE PRAXIS

Krankheiten mit DNA-Chips früh und sicher zu diagnostizieren, daraus Therapieempfehlungen abzuleiten undden Behandlungserfolg molekular zu verfolgen – das isteine der Visionen, die sich an die Micro-Arrays knüpfenChips dieser Art entwickelt unter anderem die ScienionAG, die als Spin-off aus dem Berliner Max-Planck-Institut für molekulare Genetik hervorgegangen ist.

„Allerdings ist die Chiptechnologie in der klinischenPraxis noch nicht weit verbreitet“, erklärt der Geschäftführer des Berliner Unternehmens, Holger Eickhoff.Gründe dafür sind die zu hohen Anschaffungskostender Analysegeräte und Probleme bei der sehr komplexenDatenauswertung. Micro-Arrays mit einer begrenztenGen-Bestückung für spezifische Anwendungen könntendeshalb eine aussichtsreiche Alternative zu Chips mitdem vollständigen menschlichen Erbgut sein. Scienionhat zwei derartige DNA-Chips mit 400 bis 700 Genenentwickelt und getestet – in Zusammenarbeit mit demBerliner Max-Planck-Institut.

Herzinsuffizienz ist eine Krankheit nach jahrelanger

Überbelastung des Herzens mit möglichem Versagen desOrgans. Die Forscher haben Gene ermittelt, die in denkranken Herzzellen vom Normalzustand abweichen, undeinen Chip mit den entsprechenden DNA-Sequenzen bestückt. „Alles Gene“, so Eickhoff, „ die von entscheidender Bedeutung bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind“.Ein ähnlicher Chip wurde für die Diagnose von entzünd-lichen Darmerkrankungen und Rheuma entwickelt.Beide Micro-Arrays setzen Wissenschaftler derzeit inder Grundlagenforschung und bei der Entwicklungneuer Medikamente ein.

Demnächst will die Firma zusammen mit einem Partnerso genannte Multiparameter-DNA-Arrays mit klinischwichtigen molekularen Krebsmarkern auf den Marktbringen – vor allem für die Darmkrebsdiagnostik. Miteinem neuen Verfahren sollen bekannte und neue Markfür Tumorentstehung, Tumorwachstum und Therapie-resistenz miteinander verknüpft werden. Die mit Markebestückten DNA-Chips werden bei retrospektiven Untersuchungen in der Robert-Rössle-Klinik der BerlinerCharité und am Max-Delbrück-Centrum für MolekulareMedizin an Tumorgewebe von 1000 Patienten auf ihrenAussagewert überprüft.

 verarbeitung der Herzmuskelzellenmitwirken. Als Folge des ursprüng-lich molekularen Defekts kommt es

dann zu sekundären Verdickungender Herzwand in der rechten Kam-mer, wie beim Morbus Fallot.

Erstmals haben die Wissenschaft-ler jetzt eine Ahnung von den mole-kularen Abläufen bei der Herzent-wicklung. „Wir stehen am Anfangeines langen Forschungsweges, umdieses komplexe Netzwerk zu ent-flechten und die Zusammenhänge zu

 verstehen“, sagt Silke Sperling.KLAUS WILHELM

Baufehler am Herzen: Links ein normales Herz, in der Mitte ein Septum-Defekt –ein Loch in der Scheidewand der Kammern –, rechts ein Herz mit Fallot’schemDefekt – einer Kombination mehrerer angeborener Fehlbildungen.

Mikro-Arrays legen einen Grundsteinfür die medizinische Diagnostik der Zukunft.

untersucht hat. Dabei geht es nichtnur um eine auf den Patienten abge-stimmte Behandlung und Ansatz-punkte für neue, spezifische Medika-mente. Auch die Frage, mit welcher 

 Wahrscheinlichkeit die Kinder dieser Patienten betroffen sein könnten,ließe sich beantworten, wenn mandie molekularen Defekte der Herz-störungen kennen würde. GenugMotivation also für Sperlings Team,um herauszufinden, „was da bei der Entwicklung des Herzens im Embryogeschieht“, so die Ärztin.

Dazu wurden zunächst die Herzenund die klinischen Symptome vonrund 500 Patienten mit angeborenenHerzfehlern detailliert erfasst undmit einer speziellen Software ausge-wertet. 250 verschiedene Faktoren

gingen in die Analyse ein: Hat dasHerz ein Loch? Ist die Herzwand ver-dickt? Ist der Blutdruck erhöht?Tatsächlich bieten angeborene Herz-störungen ein sehr vielfältiges klini-sches Bild mit dutzenden Kombina-tionen krankhafter Merkmale. Einigesind klar umrissen, andere nicht. In

 jedem Fall sind sie während der Em-bryonalentwicklung entstanden, undzwar infolge von Mutationen in vie-len Genen. Andererseits können aber 

Durch farbig markierte Sonden kann dieExpression eines Gens im Herzen einesMausembryos sichtbar gemacht werden –das gesamte Herz erscheint lila.

 Verschiedene angeborene Herzfehler lassen sichanhand der jeweils spezifischen Expressionsmusterder beteiligten Gene klar unterscheiden.

Septum-Defekt

Fallot’scher Defekt

Hypertrophie

Aorta

 Ventrikel

 Vorhof 

Normales Herz

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EINSTEIN- JaSSENSCHAFTSgeschichte 

Im Oktober 1917 nahm in Berlin unter der Führung von Albert Einstein

das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik offiziell seinen Betrieb auf –

allerdings nicht in einem großzügigen Gebäude, sondern in der Wohnung seines berühmten

Direktors. Fünf Jahre lang leitete Einstein dieses ungewöhnliche Institut mehr schlecht als recht.

Das belegt eine Studie, entstanden unter Leitung von JÜRGEN RENN, Direktor am MAX-

PLANCK-INSTITUT FÜR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE in Berlin. GIUSEPPE CASTAGNETTI,

Mitarbeiter dieses Instituts, und HUBERT GOENNER von der UNIVERSITÄT GÖTTINGEN

beschreiben in ihrer Arbeit, wie schwer sich Einstein als „Wissenschaftsmanager“ tat.

Einstein öffnete sich endlich die langersehnte akademische Laufbahn: Ha-bilitation und Stelle eines Privatdo-zenten an der Universität Bern(1908), außerordentliche Professur für Theoretische Physik an der Uni-

 versität Zürich (1909), Ordinariat ander Universität Prag (1911), ordentli-che Professur für Theoretische Physik an der ETH Zürich (1912).

NATURWISSENSCHAFTLER

KOMMEN IN MODE

Fast zeitgleich mit Einsteins Kar-riere vollzog sich in Berlin ein Wan-del im Wissenschaftsbetrieb, der schließlich in der Gründung der Kai-ser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förde-rung der Wissenschaften e.V. (KWG)

mündete. In der zweiten Hälfte des19. Jahrhunderts hatte eine rasantetechnische Entwicklung eingesetzt.In zunehmendem Maße wurden dieNaturwissenschaften ein integraler Bestandteil des Produktionsprozes-ses; der Bedarf an Naturwissen-schaftlern, Ingenieuren und Techni-kern in den Unternehmen stieg. Da-rauf musste die Bildungspolitik rea-gieren. Die Universitäten wurdenausgebaut und insbesondere physi-kalische Institute erweitert. Dennochreichte dies nicht aus, um die natur-wissenschaftliche Forschung voran-zutreiben, weil die Universitäten vor allem mit der Ausbildung von Stu-denten befasst waren.

Der Experimentalphysiker undNobelpreisträger Philip Lenard hattedeshalb schon 1906 dem Preu-ßischen Kultusministerium die

Gründung eines Insti-tuts für physikalischeForschung vorgeschla-

gen. Zwei Jahre nachdiesem erfolglosen Ver-such scheiterte Walter Nernst mit dem Antrag,ein Forschungsinstitutfür Radioaktivität und

Elektronik zu gründen. Aussicht auf Erfolg hatten diese Anstrengungenerst mit der Gründung der KWG imJuni 1911. Die Kaiser-Wilhelm-Insti-tute (KWI) sollten ausschließlich der Forschung dienen und finanziell

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Das Institut imDachzimmer

 A m 1. April 1914 trat Albert Ein-stein das Amt als ordentliches

Mitglied der Preußischen Akademieder Wissenschaften in Berlin an. Da-mit war sein lang gehegter Traum,sich voll und ganz der Forschungwidmen zu können, in Erfüllung ge-gangen – denn von nun an musste er keinerlei Lehrveranstaltungen mehr halten. „Ostern gehe ich nämlichnach Berlin als Akademie-Menschohne irgendwelche Verpflichtung,quasi als lebendige Mumie. Ich freuemich auf diesen schwierigen Beruf!“,

schrieb er seinem Freund und Kolle-gen Jakob Laub. Dreieinhalb Jahrespäter wurde Einstein erster Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik. Dem vorausgegangen war ei-ne erstaunliche Karriere.

Nach dem Abitur an der Kantons-schule im schweizerischen Aarauund dem anschließenden Diplom alsMathematiklehrer an der Eidgenössi-schen Technischen Hochschule inZürich im Jahr 1900 bemühte sich

führen. Diese Arbeit brachte wegwei-sende Erkenntnisse über die Atomeund Moleküle. In engem Zusammen-hang damit entstand im selben Jahr auch Einsteins Dissertation über dieBestimmung der Moleküldimensio-nen, mit der ihm endlich die Promo-tion an der Universität Zürich gelang.Innerhalb eines Vierteljahres hatte

 Albert Einstein zunächst vergeblichum eine feste Stelle. Wahrscheinlichum einer Ablehnung zuvorzukom-men, hatte er eine bei der UniversitätZürich eingereichte Doktorarbeit zu-rückgezogen und sich damit eineakademische Karriere verbaut. Nunmusste er sich seinen Lebensunter-halt vorerst als Privatlehrer ver-dienen. Überglücklich war Einsteindeshalb, als er 1902 am Berner Pa-tentamt als „Technischer Experte III.Klasse“ eine Stelle bekam. Erstmalshatte er ein sicheres Einkommen und

einen geregelten Arbeitstag.

DIE GRUNDPFEILER

INS LOT GEBRACHT

In seiner Freizeit befasste sich Ein-stein jedoch mit Problemen ausden unterschiedlichsten Bereichender Physik. Zentral war für ihnaber ein Widerspruch zwischen der Newtonschen und der MaxwellschenTheorie, welche die Grundpfeiler der damaligen Mechanik und Elektro-

dynamik bildeten. Während nachNewton alle physikalischen Vorgän-ge in Systemen, die sich mit kons-tanter Geschwindigkeit zueinander bewegen, gleich ablaufen, schiendieses Gesetz nach Maxwell für dasLicht nicht zu gelten. Albert Einstein löste diesen Wider-

spruch mit seiner Speziellen Rela-tivitätstheorie. Hierin postulierte er,die Geschwindigkeit eines Licht-strahls sei immer gleich groß –gleichgültig wie schnell man sichrelativ zu ihm bewegt. Aus dieser

radikalen Behauptung ergaben sichdie bekannten, seltsamen Konse-quenzen, wonach die Zeit umsolangsamer vergeht, je schneller mansich bewegt, und schnell bewegteObjekte verkürzt erscheinen. Auchseine berühmte Formel E = mc2, wel-che die Äquivalenz von Masse undEnergie beschreibt, ergibt sich ausder Speziellen Relativitätstheorie.

Neben dem Aufsatz zur Speziel-len Relativitätstheorie veröffentlichte

Einstein in seinem annus mirabilis(Wunderjahr) 1905 – dessen hun-dertste Wiederkehr 2005 weltweit ge-feiert wird – eine revolutionäre Ar-beit über den Fotoeffekt, worin er Licht als Strom von Energiequantenbeschrieb und nicht, wie damalsüblich, als Welle. Damit lieferte er ei-ne Erklärung für das 1900 von Max

Planck eingeführte Wirkungsquan-tum und deckte den Welle-Teilchen-Dualismus auf, der erst in der Quan-tentheorie der 1920er-Jahre seine Er-klärung fand. In einer dritten Arbeitlieferte er die erste vollständige Er-klärung der Brownschen Bewegung –einer regellosen Zitterbewegung, diewinzige Schwebeteilchen in einemGas oder in einer Flüssigkeit aus-

Einstein seine dreibahnbrechenden Arbei-ten bei der Zeitschrift

 A NNALEN DER PHYSIK ein-gereicht. Max Planck erkannte alsErster die „kopernikanische Tat“ desunbekannten Patentbeamten undsorgte für deren Verbreitung unter den Kollegen. Nach und nach etab-lierte sich die neue Physik – und für 

Die Aufnah-me aus dem

Jahr 1914zeigt Einsteinmit Fritz

Haber, dem Direktor desKaiser-Wilhelm-Institutsfür Physikalische Chemieund Elektrochemie.

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SSENSCHAFTSgeschichte 

großzügig ausgestattet werden, wo-bei sich an der Finanzierung auchSpender – wie Unternehmer undBankiers – beteiligen sollten.

Kurz nach der Gründung der KWGbegann der Aufbau erster Institute,beispielsweise für Physikalische Che-mie und Elektrochemie sowie für Chemie, beide in Berlin-Dahlem be-heimatet. Nun standen die Zeichengut für ein physikalisches Institut.Erneut setzten sich Fritz Haber,

 Walther Nernst, Max Planck, Hein-rich Rubens und Emil Warburg für eine solche Einrichtungein, bis schließlich am21. März 1914 der Se-nat der KWG derenGründung beschloss.

 Von entscheidender Be-deutung war die Zusageder Stiftung des Ban-kiers und IndustriellenLeopold Koppel, dasGebäude zu stellen und ein Drittelder Kosten zu übernehmen. Ein wei-teres Drittel sollte der preußischeStaat beisteuern.

„ÜBER DIE INSTITUTSFRAGE

HÖRTE ICH NICHTS …“

Umgehend nahm die Kaiser-Wil-helm-Gesellschaft Kontakt mit dem

 Architekten Carl Duisberg auf, unter dessen Leitung das neue Institut auf dem Gelände des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie entstehen sollte.Doch die Pläne waren schon wenigspäter Makulatur: Am 31. Juli ver-weigerte das Preußische Finanz-ministerium jede Finanzierung. Amdarauf folgenden Tag begann der Erste Weltkrieg. Damit war das Pro-

 jekt eines KWI für Physik erneut ge-

storben. Einstein kam trotzdem nachBerlin, zunächst als Mitglied der Preußischen Akademie der Wissen-schaften. Wann die Initiatoren des neuen

KWI mit Albert Einstein zum erstenMal über einen möglichen Postenals Gründungsdirektor sprachen, istnicht ganz geklärt. Spätestens imOktober 1913 muss er jedoch davonunterrichtet worden sein, denn da-mals schrieb er seiner Cousine und

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EINSTEIN- Ja

kurz zuvor umgezogen und wohntenun Tür an Tür mit Elsa. Anfang der 1920er-Jahre baute man eine Treppehöher – unter dem Dach – ein Zim-mer aus, in das er sich zum Arbeitenzurückzog. „Die eine Wand stand vollmit Büchern“, erinnerte sich später die Haushälterin an den Raum undfuhr fort: „In einer Ecke war der Fuß-boden etwas erhöht. Da hat der Pro-fessor immer gesessen. Da stand seinSchreibtisch.“ An der Wand hingenBilder von Newton, Maxwell, Fara-day und Schopenhauer. Ein Foto, dasEinstein neben dem Bild Newtonszeigt, war offensichtlich gestellt, wieseine ordentliche Kleidung beweist;normalerweise gab er sich in dieser Einsiedelei eher leger bis nachlässig.

Das Haus in der Haberlandstraße unddamit auch das KWI für Physik wur-de im Zweiten Weltkrieg bei einemBombenangriff bis auf die Grund-mauern zerstört.

EIN „THINK-TANK“DER QUANTENPHYSIK

Die Organisation dieses Institutsunterschied sich erheblich von derje-nigen anderer KWG-Einrichtungen.Es wurde von zwei Gremien geleitet:einem sechsköpfigen Kuratorium –drei Vertreter der KWG, zwei von der Koppel-Stiftung und einer aus demKultusministerium – sowie einemDirektorium. Letzteres setzte sich ausdem Direktor Einstein und den fünf Gründungsinitiatoren Haber, Nernst,Planck, Rubens und Warburg zusam-men. Im Lauf der Jahre wechselten

 jedoch die Mitglieder. Das Direktori-um traf sich vermutlich nie in Ein-steins Wohnung, sondern in denRäumen der Akademie im Anschluss

an die dortigen Sitzungen. Aller-dings versuchte Einstein, diese Tref-fen auf ein Minimum zu reduzieren.In seiner Amtszeit von 1917 bis 1922fand sich das Direktorium nur ganzeelf Mal zusammen. Albert Einstein, Max Planck und

 Adolf von Harnack hatten gemeinsameinen Text zur Eröffnung des Institutsentworfen. Er erschien in Form einer 

 Anzeige in mehreren Zeitungen. Da-rin heißt es: „Die Auswahl der Prob-

mit dem Gravitationsproblem (...)Gegen dieses Problem ist die ur-sprüngliche Relativitätstheorie eineKinderei“. Enttäuscht berichteteSommerfeld seinem Kollegen DavidHilbert in Göttingen: „Einsteinsteckt offenbar so tief in der Gravi-tation, daß er für alles andere taubist.“ Das änderte sich auch nicht, alsihn Max Planck warnte: „Als alter Freund muß ich Ihnen davon abra-ten, weil Sie einerseits nicht durch-kommen werden; und wenn Siedurchkommen, wird Ihnen niemandglauben.“

Doch Einstein kam durch. Am 25.November 1915 konnte er nach jah-relangem Ringen endlich vor dem

Es folgten weitere fruchtbare Jahre,in denen Einstein beispielsweise eineneue Kosmologie des Universumsentwarf. Auch zur Quantentheorieder Strahlung veröffentlichte er weg-weisende Arbeiten, von denen einedas Prinzip des Lasers vorwegnahm.Privat erlebte Einstein in den Kriegs-

 jahren ein heftiges Auf und Ab. Sotrennte er sich kurz nach seiner An-kunft in Berlin von seiner ersten FrauMileva. Der hiermit verbundene Ab-schied von seinen beiden Söhnenschmerzte ihn sehr. Zunehmend littendie Menschen in Deutschland undinsbesondere in der Reichshauptstadtunter dem Krieg. Ein internationaler wissenschaftlicher Austausch zwi-schen Deutschland und den alliierten

Staaten war kaum mehr möglich. Indieser Zeit begann Einsteins öffentli-ches Engagement für Pazifismus.Schon Ende 1914 unterzeichnete er den „Aufruf an die Europäer“, in demsich Intellektuelle gegen den Kriegaussprachen. Wenig später trat er dem Bund Neues Vaterland bei, der sich für einen raschen Friedens-schluss einsetzte.

Im Januar 1917 meldete sich der Berliner Industrielle Franz Stock beider Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft undbot eine Spende von 540000 Mark 

an. Diese Gelegenheitwurde genutzt. Am 26.Juni beschloss dieKaiser-Wilhelm-Gesell-schaft die Eröffnungdes KWI für Physik zum1. Oktober. Das jährli-che Budget wurde auf 75000 Mark festgelegt.Damit verfügte das Ins-

titut zwar über weniger Finanzen als

die anderen naturwissenschaftlichenEinrichtungen der KWG, hatte aber mehr Geld als die drei Physikinstituteder Universität Berlin zusammen.

Einstein wurde Direktor mit einem jährlichen Gehalt von 5000 Mark. An-fänglich zog man in Erwägung, einkleines Institutsgebäude in Berlin-Dahlem zu errichten. Doch verwarf man den Plan wieder und siedeltedas KWI in der Haberlandstraße 5 inSchöneberg an. Dorthin war Einstein

späteren zweiten Frau Elsa Löwen-thal: „Über die Institutsfrage hörteich nichts; ich denke nicht mehr daran. Das wird sicher in das wohl-

 verdiente Wasser fallen.“ Einsteins Wechsel von Zürich nach Berlinblieb davon jedoch unberührt. Be-reits im Juli 1913 hatten Planck undNernst bei Einstein vorgefühlt, ob er Interesse an einem Wechsel an diePreußische Akademie der Wissen-schaften habe. Einstein stimmte dem

 Angebot zu. Zum einen reizte ihndie Aussicht auf eine reine Forscher-

stelle ohne Lehr- verpflichtung. Zum an-deren würde er so inder Nähe von Elsa le-

sichtiger Komplex von Hypothesenund wenig verstandenen physikali-schen Entdeckungen, die mit PlancksEnergiequantum zusammenhingen. Walther Nernst war in dieser Hin-

sicht völlig von Einstein überzeugt,nachdem es gelungen war, Experi-mente zur spezifischen Wärme beitiefen Temperaturen mit EinsteinsQuantentheorie fester Körper zu er-klären. In diesem Bereich „ange-wandter Quantentheorie“ sahen diedamaligen Physiker große Chancenfür wissenschaftliche und wirtschaft-liche Fortschritte. Albert Einstein indes hatte etwas

ganz anderes im Kopf. Schon inihrem Wahlvorschlag hatten Planck 

ben, in die er sich zuvor bei einemBesuch in Berlin verliebt hatte.

In dem Wahlvorschlag zugunstenEinsteins, den Max Planck und seineKollegen bei der Akademie vorleg-

ten, hoben sie insbesondere EinsteinsFähigkeit hervor, „fremden neu auf-tauchenden Ansichten und Behaup-tungen schnell auf den Grund zugehen“. Wie Giuseppe Castagnettiund Hubert Goenner in ihrer Studiezeigen, erhoffte man sich von ihminsbesondere neue Impulse für dietheoretische und experimentelle Ent-wicklung der Quantenphysik. Indieser früheren Phase war dieQuantenphysik noch ein undurch-

und seine Kollegen geschrieben,Einstein arbeite intensiv an einer neuen Gravitationstheorie („Mitwelchem Erfolg, kann auch erst dieZukunft lehren.“) Die hierin ge-

äußerte Skepsis war noch verhaltenformuliert. Schon im Herbst 1912hatte der Münchner Physiker ArnoldSommerfeld einen Vorgeschmack 

 von Einsteins kompromissloser Schaffenswut zu spüren bekommen.

 Als er ihn zu einer Vortragsreiheüber Probleme der Quantentheorieeinlud, lehnte Einstein mit den Wor-ten ab, er wisse „in der Quantensa-che nichts Neues zu sagen (...) Ichbeschäftige mich jetzt ausschließlich

Einstein bei einem Vortragim Berliner Harnack-Hausam 11. Dezember 1929.Erst im Mai desselbenJahres war

das Harnack-Haus ein-geweiht und„getauft“worden.

 Auditorium der Akade-mie der Wissenschaftenüber „Die Feldgleichun-gen der Gravitation“

 vortragen. Er endete mit den Worten.

„Damit ist endlich die allgemeine Re-lativitätstheorie als logisches Gebäu-de abgeschlossen.“ Es folgten Tageund Wochen voll überschäumen-der Freude. Gegenüber Freundenschwärmte er, die Theorie sei „vonunvergleichlicher Schönheit“ undseine kühnsten Träume seien in Er-füllung gegangen. Gegenüber Som-merfeld versicherte er, es sei „der wertvollste Fund, den ich in meinemLeben gemacht habe“.

Max Planckund AlbertEinsteintrafen sicham 17. Juni1930 in Ber-

lin im Rahmen der „WorldPower Conference“; Ein-stein referierte dort überseine Theorie des Raums.

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KWI für Physik eine Stelle am Astro-physikalischen Observatorium inPotsdam. Dort arbeitete er sich in dieTechnik der Astrofotografie ein und

 versuchte einen weiteren Effekt vonEinsteins Gravitationstheorie nach-zuweisen: die Verschiebung vonSpektrallinien im Sonnenspektrum.Dieses Vorhaben war jedoch schwie-riger als gedacht; um es weiter zu

 verfolgen, wurde unter FreundlichsLeitung schließlich der Einstein-Turm errichtet.

Zu den überraschenden Funden von Giuseppe Castagnetti und Hu-bert Goenner gehört die Einsicht,dass Albert Einstein neben der

Förderung von Freundlich nur nochin zwei weiteren Fällen die finanzi-ellen Mittel seines Instituts für seineeigenen Forschungszwecke einsetzte– und das auch nur in bescheidenemMaße. In den Jahren 1919 und 1921erhielt der Mathematiker JakobGrommer insgesamt 3200 Mark ausder Institutskasse. Ein geringer Be-trag, gemessen an dem jährlichenEtat von 75000 Mark. In dieserZeit arbeitete Grommer beispielswei-se an einem mathematischen Beweisfür das Gesetz der Energieerhaltungim Rahmen der Allge-meinen Relativitäts-theorie.

Im zweiten Fall musste Einsteinsogar weitere private Spenden ein-treiben, um ein von ihm favorisiertesProjekt zu unterstützen. Im Frühjahr 1919 diskutierte er mit LeonhardGrebe und Albert Bachem, zwei Pri-

 vatdozenten der Universität Bonn,erneut über die Möglichkeit, die vonder Allgemeinen Relativitätstheorie

 vorausgesagte Spektralverschiebungim Sonnenspektrum zu messen.Hierfür benötigten die Forscher einspezielles Spektrometer, für das sieanfänglich 2000 Mark vom KWI er-

hielten. Diese Summereichte keinesfalls aus.

 Als das KWI keine wei-teren Gelder mehr ge-nehmigte, wandte sich

Einstein an den Verle-ger Richard Fleischer,der nochmals 2000

Mark spendete. Doch selbst hierfür war das Spektrometer nicht zu be-kommen. Schließlich arbeiteten Gre-be und Bachem mit Erwin Freundlicham Astrophysikalischen Observatori-um in Potsdam zusammen. Doch dieBeobachtungsergebnisse waren zuungenau, um die Spektrallinienver-schiebung zweifelsfrei zu bestätigen.

Das Direktorium des KWI für Phy-sik war offenbar nicht bereit, weitereUntersuchungen zur Überprüfung

 von Einsteins Gravitationstheorie zufördern. Andererseits war Einsteinselbst kein Freund der physikali-

EINSTEIN- Ja

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leme, der Methoden sowie des Ar-beitsplatzes liegt in der Hand desDirektoriums. Doch sollen auch vonanderen Physikern an das Direktori-um gelangende Anregungen von die-sem erwogen und die vorgeschla-genen Untersuchungen im Falle der Billigung gefördert werden.“ Diese

 Vorgehensweise war in der Kaiser- Wilhelm-Gesellschaft äußerst unge-wöhnlich.

BÜROKRATIE

WAR IHM EIN GRÄUEL

 Am KWI für Physik selbst solltekeine experimentelle Forschung be-trieben werden, man wollte vielmehr ein Forschungsprogramm mit demZiel erarbeiten, die Probleme der 

Quantenphysik zu lösen. Man streb-te also eine Art „Think-tank“ an. DieMitglieder des Direktoriums sollten

 Vorschläge für Forschungsprojektemachen. Von Einstein erhoffte mansich Denkanstöße und wissenschaft-liche Leitung. Die im KWI für Physik entwickelten Ideen und Forschungs-pläne sollten in Fremdinstitutendurchgeführt werden. Anders als beianderen KWI sollte der jährliche Etatdes KWI für Physik dazu eingesetztwerden, um die Forschungsprojektean solchen Fremdinstituten finanzi-ell zu unterstützen. Der Grund für diese besondere Organisationsform,so Castagnetti und Goenner, war die

 Vorstellung, dass der Gedankenaus-

tausch und die Zu-sammenarbeit der besten Köpfe der damaligen theoreti-schen und experi-mentellen Physik und physikalischenChemie die geeig-netsten Mittel seien,um einen For-schungsplan zu ent-wickeln und fortzu-setzen, der sich mitProblemen an der Grenze der damali-gen Physik undphysikalischen Che-mie beschäftigt.

Die Erwartungen

waren also sehr groß. Albert Ein-stein musste jedoch bald feststellen,dass er in seinem Institut fast keineHandlungsfreiheit besaß. So mussteer eine halbe Stelle für eine Se-kretärin zu 50 Mark pro Monat vomKuratorium bewilligen lassen, die er an seine Stieftochter Ilse vergab.Selbst für den Kauf einer Schreib-maschine benötigte er die Einwilli-gung dieses Gremiums. Einstein, der nur Weniges mehr hasste als Büro-kratie, schrieb deshalb an das Kura-toriumsmitglied Wilhelm von Sie-mens: „Am besten wäre es wohl,wenn ich bei mir zuhause eine Insti-tutskasse mit einigen hundert Mark Inhalt hätte und in bestimmten Zeit-

abschnitten darüber Rechnung gäbe.“

 Weitere Briefe zeu-gen von EinsteinsUnmut in dieser Hinsicht. Im Jahr 1918 klagte er sei-nem Freund MicheleBesso gegenüber:„Das K.W. Institutbringt eine ziemlichgrosse Korrespon-denz mit sich.“ UndMax Born schrieber, das Institut sei„ziemlich schwer-fällig“.

Das erste For-schungsprojekt, wel-

ches das KWI förderte, war sicherlichim Sinne Einsteins. Im Februar 1918wurde der Astronom Erwin Freund-lich damit beauftragt, Vorhersagender Allgemeinen Relativitätstheoriezu überprüfen. Albert Einstein hatteschon Jahre zuvor mit FreundlichKontakt aufgenommen. Er wollte ihndafür gewinnen, bei einer totalenSonnenfinsternis die Positionen vonSternen in der Umgebung der Sonneexakt zu vermessen. Diese solltennämlich wegen der Lichtablenkungim Schwerefeld der Sonne gering-fügig gegenüber ihrer normalenPosition verschoben sein.

Freundlich erhielt für die Dauer  von drei Jahren als Angestellter des

SSENSCHAFTSgeschichte 

UND UM EINSTEIN

. JANUAR:stein-Salon. Offener Abend in der

rlin-Brandenburgischen Akademie Wissenschaften zur Eröffnung Einstein-Jahres mit populärwis-schaftlichen Kurzvorträgen,

eaterstücken, Lesungen, Perfor-nces und Filmen. www.bbaw.de

BIS 9. MÄRZ:hrestagung der Deutschen Physi-ischen Gesellschaft mit allenchverbänden und der Astronomi-en Gesellschaft, Berlin, mit Fach-

und öffentlichen Vorträgen in derHumboldt-Universität, TU und derUr ani a. w ww. dp g- phy si k. de /  

wyp2005/index.html

APRIL/MAI BIS DEZEMBER:Einsteinbus. Ein speziell ausgebauterBus fährt sechs Monate lang ver-schiedene Wirkungs- und Lebens-stätten Einsteins in Berlin, Potsdamund Caputh an und informiert alsfahrendes Kompaktseminar undInfotainment-Kino über Leben undWerk des Physikers. Träger des Pro-

 jekts ist die Berlin-BrandenburgischeAkademie der Wissenschaften.

www.bbaw.de

5. BIS 8. APRIL:Geometry and Physics after 100

years of Einstein´s relativity . Tagung

am Max-Planck-Institut für Gravita-tionsphysik (Albert-Einstein-Institut)mit öffentlichem Vortrag am 5.4.,18 Uhr, im Audimax der Uni Potsdamvon Sir Martin Rees, Institute ofAstronomy, Cambridge (UK).

www.aei.mpg.de/events/conference/ 

6. MAI BIS 31. DEZEMBER:Sonderausstellung Abenteuer der

Erkenntnis – Albert Einstein, Deut-sches Museum, München. Gezeigtwerden bedeutende historische Ori-ginalobjekte, Hands-On!-Experimen-

te und Computersimulationen.www.deutsches-museum.de/ ausstell/sonder/einstein.htm

16. MAI BIS 30. SEPTEMBER: Albert Einstein – Ingenieur des Uni-

versums. Ausstellung im Kronprin-zenpalais, Unter den Linden, Berlin,organisiert vom Max-Planck-Institutfür Wissenschaftsgeschichte, unterMitarbeit zahlreicher Institute,darunter das Deutsche Museum.

www.mpiwg-berlin.mpg.de/ projects/einstein/index_html

11. BIS 26. JUNI:Wissenschaftssommer zum Thema

Einstein. Wissenschaft im Dialogdes BMBF organisiert in Potsdamund Berlin den diesjährigen Wissen-

schaftssommer. In Potsdam finden Vorträge, Ausstellungen und einFilmfestival statt. Die Berliner Bei-träge standen bis Redaktionsschlussnoch nicht fest. Beteiligt sind zahl-reiche Institute aus der Region, wiedas Albert-Einstein-Institut, dasAstrophysikalische Institut mit demEinstein-Turm und dem großenRefraktor sowie das Geoforschungs-zentrum Potsdam.Außerdem fährt das Wissenschafts-schiff mit einer Einstein-Ausstellungan Bord voraussichtlich von Juni an

durch Deutschland.www.wissenschaft-im-dialog.de

SEPTEMBER 2005 BIS APRIL 2006:Einstein begreifen! Sonderausstel-lung des Landes Baden-Württembergam Landesmuseum für Arbeit undTechnik, Mannheim. Die Ausstellungsetzt auf Interaktivität und Media-lität, Erlebnis und Spiel. Die Besucherbewegen sich in einer Art Comic-strip-Welt, in der sich Wirklichkeitund Fiktion nahtlos berühren.

www.landesmuseum-mannheim.de

NOVEMBER:Akademiewoche. Mitglieder der

Berlin-Brandenburgischen Akademieder Wissenschaften halten anBrandenburger Schulen Vorträge

zum Thema Einstein. www.bbaw.de

14. BIS 18. NOVEMBER:Relativistic Astrophysics: Einstein’s

Legacy. Fachtagung in München, or-ganisiert vom Max-Planck-Institut fürextraterrestrische Physik. Vorgestelltwerden astrophysikalische und kos-mologische Forschungsergebnisse, dieauf der Relativitätstheorie basieren.

16. JUNI 2005 BIS 17. APRIL 2006:Einstein begegnen – Physik erleben.Das Bernische Historische Museum

zeigt eine Sonderausstellung undveranstaltet einen ErlebnisparkPhysik (16. Juni bis 16. Oktober)

und ein Energie-Spektakel (6. bis21. August). An der Ausstellungbeteiligt ist das Stadthaus Ulm.

www.bhm.c

Das Einstein-Haus in Bern, Kram-gasse 49. Einsteins frühere Wohnunim 2. Stock wird durch eine Reno-vierung dem ursprünglichen Zustandbesser angeglichen. Ausgestelltsind originale Möbelstücke aus demPatentamt, Faksimiles, Reproduk-tionen und Multimedia.

www.einstein05.ch/ein.htm

Eine erlesene Tischrunde:Walther Nernst, AlbertEinstein, Max Planck, Ro-

bert Millikanund Max

von Laue(von links) imJahr 1928.

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übergab der deutschen Gesandtschaftseinen deutschen Pass. Gleichzeitigbat er Max von Laue darum, seinen

 Austritt aus allen deutschen Institu-tionen und Vereinigungen – darun-ter auch der Kaiser-Wilhelm-Gesell-schaft – zu veranlassen.

Nach dem Krieg musste die For-schungslandschaft in Deutschlandneu aufgebaut und organisiert wer-den. Hierzu gehörte auch die Grün-dung der Max-Planck-Gesellschaft(MPG) als Nachfolgerin der KWGam 26. Februar 1948. Fast alle ehe-maligen KWG-Institute wurden indie MPG überführt. Lediglich dieBerliner Institute wurden erst im Juli1953 übernommen.

Einstein wollte jedoch nichts mehr 

mit deutschen Institutionen zu tunhaben. So sehr er sich für eine Ent-spannung der Weltlage einsetzte undsie sich wünschte, so unerbittlichblieb er gegenüber Deutschland. AlsOtto Hahn ihn bat, Auswärtiges Wis-senschaftliches Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft zu werden,lehnte er verbittert ab: „Ich empfindees als schmerzlich, dass ich geradeIhnen, d.h. einem der Wenigen, dieaufrecht geblieben sind und ihr Bes-tes taten während dieser bösen Jah-re, eine Absage senden muss. Aber esgeht nicht anders (...) Die Haltungder deutschen Intellektuellen – alsKlasse betrachtet – war nicht besser als die des Pöbels. Nicht einmal Reueund ein ehrlicher Wille zeigt sich,das Wenige wieder gut zu machen,was nach dem riesenhaften Mordennoch gut zu machen wäre. Unter die-sen Umständen fühle ich eine unwi-derstehliche Aversion dagegen, anirgend einer Sache beteiligt zu sein,

die ein Stück des öffentlichen Lebens verkörpert, einfach aus Reinlich-keitsbedürfnis.“

Gleichwohl wusste Einstein sehr wohl zu unterscheiden zwischen dem„Land der Massenmörder“ und ein-zelnen Personen, die standhaft ge-blieben waren wie Planck, Laue,Hahn oder Sommerfeld. Mit ihnennahm er auch sofort wieder Brief-kontakt auf. Deutschen Boden betrater jedoch nie wieder. THOMAS BÜHRKE

EINSTEIN- Jahr 

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schen Großforschung. „Er zog es gar nicht in Betracht, dass teure Appa-rate oder gar der Aufbau einer neuenForschungsgruppe nötig waren, umseine Allgemeine Relativitätstheoriezu testen“, stellen Castagnetti undGoenner in ihrer Studie fest. Aller-dings: Auch die ursprüngliche Ab-sicht der Institutsgründer, selbstExperimente vorzuschlagen undForschungsprojekte zu Fragen der Quantenphysik zu initiieren, wurdenie verwirklicht.

EINSTEIN SAH SICH

ALS „EINSPÄNNER“

Im März 1919, als die vom Kriegerzwungene erste Phaseder Untätigkeit endete,

lud das Direktorium miteinem Rundbrief allePhysik-Institute der deutschen Universitä-ten dazu ein, selbst Forschungspro-

 jekte vorzuschlagen, für die das KWIunabhängig von spezifischen The-men Unterstützung zusicherte. WieCastagnetti und Goenner dokumen-tieren, beschränkte sich das KWI für Physik von da an darauf, Gelder für die vorgeschlagenen Untersuchun-gen zu verteilen – wobei sich Ein-stein bei der Beurteilung der Projektemeist eines Kommentars enthielt.

Die meisten geförderten Projektebefassten sich mit Spektroskopie undStrahlungsphänomenen, in denendas Plancksche Gesetz eine herausra-gende Rolle spielte. In anderen Fäl-len ging es um die Eigenschaften

 von Materialien und um Molekül-physik. Insgesamt förderte das KWIfür Physik von 1918 bis 1922 zuetwa drei Viertel Projekte, die in

irgendeiner Form mit der Weiterent-wicklung der Quantentheorie zu tunhatten. Darunter waren auch Arbei-ten wie das später mit dem Nobel-preis gewürdigte Experiment vonOtto Stern und Walther Gerlach. Sieentdeckten 1921, dass das magneti-sche Moment von Atomen in einemMagnetfeld nur ganz spezifische

 Werte annehmen kann, also quanti-siert ist. „Es ist klar, dass das KWI für Physik erheblich zum Fortschritt der 

Physik beigetragen hat“, schlussfol-gern Castagnetti und Goenner.

Letztendlich war aber Albert Ein-stein nicht die richtige Persönlich-keit, um ein Institut zu leiten. Erhatte kein Interesse daran, neue Pro-

 jekte anzuwerfen und Wissenschaft-ler hierfür zusammenzuführen. Er sah es nicht als seine Aufgabe an,anderen eine Forschungsperspektivezu weisen. Er selbst verfügte niemalsüber eigene Doktoranden oder Assis-tenten und begründete auch keineeigene „Schule“. Nicht umsonst hater sich stets als „Einspänner“ be-zeichnet. Diese Gründe und der bürokratische Ballast veranlassten

men gelungen, die vorhergesagteLichtablenkung im Schwerefeld der Sonne während einer totalen Fins-ternis zu beobachten. Das machteEinstein auf einen Schlag welt-berühmt und begehrt. Für Vorträgeerhielt er bis zu 2000 Mark Honorar.Gleichzeitig hatte Einstein zusam-men mit dem Kieler Unternehmer Hermann Anschütz-Kaempfe an der Entwicklung eines Kreiselkompassesgearbeitet, der sich ausgezeichnet

 verkaufte. Anschütz-Kaempfe be-lohnte Einsteins Arbeit spontan miteiner Zahlung von 20000 Mark, dieEinstein – an der Steuer vorbei – anseine Kinder in die Schweiz über-wies. Weitere Zahlungen folgten,außerdem war Einstein mit einem

Prozent an jedem verkauften Kom-pass beteiligt. Auch als Buchautor verdiente er 

nicht schlecht. Sein Werk Über die spezielle und allgemeine Relati-vitätstheorie (Gemeinverständlich)erlebte von 1917 bis 1922 nicht we-niger als 14 Auflagen mit 65000

 verkauften Exemplaren. Hieraus be-zog Einstein jährlich mehr als 25000Mark an Tantiemen. Und schließlicherhielt er 1922 den Physik-Nobel-preis für das Jahr 1921. Das Preis-geld ging jedoch an seine erste FrauMileva in die Schweiz. Im Jahr 1922nahm Einstein mit all diesen Akti-

 vitäten mehr Geld ein als mit seinemGehalt an der Akademie und demKWI zusammen.

NIE WIEDER AUF

DEUTSCHEM BODEN

Zu Beginn des Jahres 1933 befandsich Albert Einstein mit seiner zwei-ten Frau Elsa in den USA. Als Adolf 

Hitler am 30. Januar zum Reichs-kanzler ernannt wurde und vier

 Wochen später nach dem Reichstags-brand die Nazis Politiker, Intellektu-elle und Juden verfolgten, beschlosser, nicht mehr nach Deutschlandzurückzukehren. Am 28. März, kurznachdem Hitler mit dem Ermächti-gungsgesetz seine Machtbefugnisseweiter ausgebaut hatte, legte Einsteinsein Amt bei der Preußischen Akade-mie der Wissenschaften nieder und

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   F   O   T   O  :   B   E   T   T   M   A   N   N    /   C   O   R   B   I   S

Albert

Einsteinvor seinemInstitut imApril 1920.

ihn, die Institutsleitung abzugeben.Im Juli 1922 bat er Max von Laue,die Leitung kommissarisch zu über-nehmen, weil er sich für unbestimm-te Zeit auf Reisen begeben wollte.

 Als Einstein im März 1923 zurück-

kehrte, übergab er von Laue formalalle Vollmachten des Direktors. Ob-wohl Einstein keine Funktion mehr innehatte, wurde er weiterhin offizi-ell bis 1932 als Direktor und vonLaue als sein Stellvertreter geführt. Albert Einstein konnte es sich

durchaus erlauben, auf das Gehaltder Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu

 verzichten, denn von 1921/22 anwar er finanziell unabhängig. ImJahr 1919 war es britischen Astrono-

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KLIMA forschuSSEN aus erster Hand 

Wo immer auf der Erde „dicke Luft“ herrscht,

wird es für sie besonders spannend. Denn

OLAF KRÜGER vom METEOROLOGISCHEN

INSTITUT DER UNIVERSITÄT HAMBURG und 

HARTMUT GRASSL, Direktor am Hamburger 

MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR METEORO-

LOGIE, interessieren sich für Aerosole: winzige 

Teilchen oder Tröpfchen, die in der Luft

schweben und eine bedeutende, doch in ihrem

Ausmaß noch weithin unklare Rolle im Strah-

lungs- und Wasserhaushalt der Atmosphäre 

spielen. Nachstehend schildern die beiden

Forscher, was diese Schwebeteilchen als

Klimafaktoren so „unberechenbar“ macht –

und weshalb Regionen mit extrem verschmutz-

ter Luft, wie das einstige „Schwarze Dreieck“

im östlichen Mitteleuropa oder das

Rote Becken im Süden Chinas, für die Aerosol-

forschung regelrechte Fundgruben darstellen.

So klein und leicht sie sind, soschwer wiegen Aerosole als lo-

kale und globale Klimafaktoren.Denn diese Schwebeteilchen – mitDurchmessern zwischen einem hun-dertstel und einem zehntausendstelMillimeter – greifen auf vielfältige

 Weise in den Strahlungs- und Was-serhaushalt der Atmosphäre ein. Dasgeschieht zunächst durch direkte

 Wechselwirkung: Die feinen Teil-chen streuen oder absorbieren Licht-und Wärmestrahlung und behinderndadurch den Energiefluss von der Sonne auf die Erde sowie, umge-kehrt, von der Erde zurück in den

 Weltraum.Noch bedeutsamer als ihre direkte

 Wechselwirkung mit Strahlung ist al-lerdings der indirekte Effekt, den Ae-rosole entfalten – und zwar als Kon-densationskeime: An ihnen schlägtsich der Wasserdampf der Luft nieder,bildet Tröpfchen und schließlich Wol-ken. Auch das modifiziert zunächstden Strahlungshaushalt der Erde: Im

 Allgemeinen verstärken Wolken dieso genannte Albedo, das Rückstreu-

 vermögen der Atmosphäre, da sie anihren Oberseiten die Strahlung der Sonne zurück in den Weltraum spie-geln und damit kühlend wirken; esgibt jedoch dünne Wolken, die dasSonnenlicht fast ungehindert zumErdboden durchlassen, die aber eine

„Sperrschicht“ für die Wärmestrah-lung vom Boden in den Weltraumbilden – und deshalb die Temperatur in Bodennähe nach oben treiben. Als Wolkenkeime bestimmen Ae-

rosole außerdem, wie viel Wasser –bei jeweils gegebener Luftfeuchteund Temperatur – am Ende in einer 

 Wolke steckt und wie groß die ein-zelnen Wassertröpfchen innerhalbder Wolke werden. Beides entschei-det darüber, wie lange eine Wolke ihr    F

   O   T   O  :   J   A   C   Q   U   E   S

   D   E   S   C   L   O   I   T   R   E   S ,   M   O   D   I   S   R   A   P   I   D

   R   E   S   P   O   N   S   E   T   E   A   M ,   N   A   S   A

    /   G   S   F   C

Auf dem Satellitenbildzeichnen dichte Wolkenund Aerosol-Dunst in derlinken unteren Bildhälfteden Umriss des RotenBeckens im SüdwestenChinas nach. Links dieserextrem belasteten Luft-massen treten klar diemehr als 7000 Meterhohen vergletschertenGipfel des „Blauen Tibe-tischen Gebirges“ hervor.

 Aerosole –

 Würzstoffein der

Klimaküche

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40˚N

35˚N

30˚N

25˚N

105˚E 125˚E 145˚E

50   M A X P L A N C K F O R S C H U N G   4 / 2 0 0 4

SSEN aus erster Hand 

„Wasser halten“ kann, also wannund wo Niederschläge auftreten: Dasmacht Aerosole zu einem wesentli-chen Faktor auch im Wasserhaushaltder Atmosphäre.

Dass die Schwebeteilchen als Kli-ma-Faktoren schwer in den Griff zukriegen sind, kommt in den Modell-rechnungen zum Ausdruck, die Auf-schluss über die vom Menschen an-gestoßene Erwärmung des Erdklimasliefern sollen: All diese Modelle wei-sen eine ziemlich weite Spanne aus,was die Erhöhung der globalen Tem-peraturen in den nächsten Jahrzehn-ten betrifft. Und diese Unsicherhei-ten gehen – via Wolken – wesentlichauf das Konto der Aerosole.

Denn deren Einfluss auf das regio-nale oder globale Klima, dabei insbe-sondere auf die Bildung von Wolken,hängt von vielfältigen physikalischenund chemischen Eigenschaften ab, indenen sich diese Partikel oder Tröpf-chen unterscheiden. So bestimmt be-

reits ihr Durchmesser, wie lange sie inder Luft schweben; diese Verweilzeitreicht von wenigen Stunden bis zumehreren Wochen – und dementspre-chend verteilen sie sich auch mehr oder minder weit in der Atmosphäre.

Ebenfalls von der Größe, zudemaber von der mikrophysikalischenBeschaffenheit eines Aerosols – so

 von der Struktur seiner Oberflächeoder seiner Farbe – hängt es ab, wel-che Wellenlängen der Licht- oder 

4 / 2 0 0 4 M A X P L A N C K F O R S C H U N G   51

KLIMA forschu

stark lichtschluckenden Aerosolen –oder um echte, also tatsächlich brau-ne Wolken? Wir nahmen dieses Phänomen des

„Asian Haze“ zum Anlass, den Zu-stand der Atmosphäre in jener Regi-on und insbesondere das Rückstreu-

 vermögen der Wolken über Chinaanhand von Satelliten-Messreihender vergangenen beiden Jahrzehntezu analysieren. Und im Zuge dieser Untersuchungen erwies sich das RoteBecken im Süden Chinas als ein Pa-radebeispiel dafür, was Aerosole undderen Wirkung anbelangt.

WO ES BOOMT,DA QUALMEN SCHLOTE

Das Rote Becken, rund eine Milli-on Quadratkilometer groß, ist fast

 vollständig von Gebirgszügen um-schlossen, die im Westen und Süd-

westen mehr als 7000, nach Nordos-ten und Südosten immer noch 3000Meter hoch aufragen. Entwässertwird diese gewaltige Mulde vomJangtse, und zwar durch die engenDrei Schluchten – die schon teilweisedurch einen Damm gesperrt und voneinem Stausee gefüllt werden. DasRote Becken zählt zu den Boom-Re-gionen Chinas; das Wachstum der 

 Wirtschaft liegt dort schon seit lan-gem bei etwa 10 Prozent pro Jahr.

kopischen Schwebeteilchen mit Wol-ken gewinnen. Der erste dieser beidenFälle spielt in Mitteleuropa, und zwar im Gefolge der politischen Wende1989: Nach diesem Datum wurden inder DDR, in Tschechien und Polenunzählige Industrieanlagen undKraftwerke saniert oder stillgelegt –Dreckschleudern, die einst gewaltigeMengen an Schadstoffen in die At-mosphäre gepumpt und dieser Regionden bezeichnenden Namen „Schwar-zes Dreieck“ eingetragen hatten.

Der Schauplatz des zweiten Fallsliegt im südöstlichen Asien, und dort

 vor allem im Roten Becken im SüdenChinas: Dort steigt infolge einerrasanten Industrialisierung die Be-lastung der Luft mit Schadstoffen

seit Jahren an, was auch die Aerosol-Pegel über dieser Region inzwischenauf weltweite Spitzenwerte treibt.

„SCHWARZES DREIEICK“UNTER HELLEN WOLKEN

 Wir haben – gestützt auf Messrei-hen von Satelliten – in den vergan-genen Jahren untersucht, wie sichdie Aerosol-Fracht über diesen Re-gionen jeweils auf die Wolkenbil-dung und damit auf die Strahlungs-bilanz der Atmosphäre auswirkt.Dabei bot sich im Fall des „Schwarz-en Dreiecks“ auch die bislang ein-malige Gelegenheit eines Vorher-Nachher-Vergleichs. Denn dort war nach 1989 die Belastung der Luftdurch Schwefeldioxid und Stick-oxide – aus denen sich Sulfat- undNitrat-Aerosole bilden – sowie durchRuß und Flugasche binnen weniger Jahre drastisch gesunken. Dieses„Großreinemachen“ kam einem Ex-periment gleich – und wir wollten

klären, ob und wie sich diese Säube-rung auf den regionalen Zustand der 

 Atmosphäre ausgewirkt hat.Dafür boten sich Satelliten-Daten

an. Denn von oben lässt sich am zu- verlässigsten messen, wie viel Licht von Wolken gestreut und in den Weltraum zurück geworfen wird.Dieses Rückstrahlvermögen (Albedo)ist bei Wolken, die über Gebieten mithoher Luftverschmutzung liegen, ge-wöhnlich stärker als bei Wolken über 

Regionen mit reiner Luft. Denn jemehr Schwebeteilchen in der Luftauftreten, desto mehr und zugleichkleinere Wassertröpfchen entstehenin einer Wolke – und umso stärker streut diese Wolke das von der Son-ne einfallende Licht zurück in den

 Weltraum. Von oben betrachtet er-scheinen deshalb Wolken über ver-schmutzten Gebieten heller als an-dernorts. Und so auch die Wolkenüber dem östlichen Mitteleuropa vor 1989: Das „Schwarze Dreieck“ leuch-tete für Satelliten besonders hell.

 Anders dagegen die Situation unter den Wolken; am Erdboden wurde esinfolge der verminderten Sonnen-strahlung dunkler.

Das änderte sich allerdings nach

1989, als der Schadstoff-Ausstoßund damit die Aerosol-Pegel über dem „Schwarzen Dreieck“ geradezuschlagartig sanken. Dadurch lichte-ten sich binnen weniger Jahre auchdie Wolken über Mittel- und Osteu-ropa, das heißt, sie reflektierten we-niger Licht in den Weltraum zurück und ließen vermehrt Strahlung zumErdboden durch. Wir prägten damalsden Begriff „Gorbatschow-Effekt“:Er hatte zur Folge, dass sich der Strahlungseinfall am Erdboden inMittel- und Osteuropa nach 1989 umetwa 1,5 Watt pro Quadratmeter ver-stärkte – und dass der ehedem durchden indirekten Effekt der Aerosolegebremste anthropogene Treibhaus-Effekt seitdem stärker auf Mitteleu-ropa durchschlägt (M AXPLANCK FOR-SCHUNG 3/2002, S. 16f).

In umgekehrter Richtung läuft daszweite „Großexperiment“ in der At-mosphäre über Süd- und Ostasien.Dort wachsen Wirtschaft, Industrie

und der motorisierte Verkehr wienirgends sonst auf der Erde – undparallel dazu der Ausstoß von Luft-schadstoffen und damit auch von

 Aerosolen. Als sichtbares Zeichendieser Entwicklung wurden 1999 imRahmen einer Messkampagne über dem südlichen Asien sowie über demIndischen Ozean von Satelliten ausbräunliche Schwaden gesichtet, de-ren Natur zunächst umstritten blieb:Handelte es sich um Schichten aus

 Wärmestrahlung an ihm bevorzugtgestreut oder von ihm absorbiertwerden. Und noch komplizierter alsbei diesen direkten optischen Wech-selwirkungen liegen die Dinge beimindirekten Effekt der Aerosole, alsoihrem Zusammenspiel mit Wasser-dampf und ihrem Einfluss auf die

 Wolkenbildung: Diese Prozesse hän-gen wesentlich auch von chemischenEigenschaften der Teilchen ab – undaußerdem von meteorologischen Pa-rametern, wie etwa von der Tempe-ratur der Luft oder deren Gehalt an

 Wasserdampf.

BUNTE MISCHUNG

IN REGEM WECHSEL

Dazu kommt, dass über jedem Ortder Erde ein Gemisch unterschiedli-cher Aerosole lagert, dessen Zusam-mensetzung – und damit auch Wir-kung – zeitlich mehr oder weniger rasch wechselt. Diese Aerosol-Frachtspeist sich zum einen aus zahlreichen

natürlichen Quellen: etwa aus der  Windgischt der Ozeane, aus der Staubfracht von Stürmen, aus Vulka-nen oder aus Vegetationsbränden.Zum anderen aber treibt auch der Mensch regional und global den Ae-rosol-Gehalt der Atmosphäre hoch:mit der Nutzung fossiler Energieträ-ger in Automobilen, Flugzeugen,Kraftwerken und Fabriken, mit der 

 Verbrennung von Kohle oder Holz inunzähligen „heimischen Herden“ und

Feuerstätten sowie über großflächigeBrandrodungen zur Gewinnung von

 Weide- oder Anbauflächen.Ihre Vielfalt, ihre Flüchtigkeit und

ihr komplexer Einfluss auf den Strah-lungs- und Wasserhaushalt der At-mosphäre machen die Aerosole zuinsgesamt schwer berechenbarenFaktoren im Klimageschehen – unddamit zu erheblichen Unsicherheits-faktoren in Klimamodellen. So giltzwar derzeit, dass sie den zusätzli-chen, anthropogenen Treibhaus-Ef-fekt global dämpfen. Demnach üben

 vor allem Sulfat-Aerosole, die über die Nutzung fossiler Energie durchden Menschen vermehrt in die At-mosphäre gelangen, einen erhebli-chen „Bremseffekt“ aus. Denn sie för-

dern die Bildung von Wolken und er-höhen deren Lebenszeit – und ver-mindern dadurch den Strahlungsfluss

 von der Sonne zum Erdboden um biszu zwei Watt pro Quadratmeter: Daswürde den zusätzlichen, anthropoge-nen Treibhaus-Effekt, den man ge-genwärtig auf einen um drei Wattpro Quadratmeter erhöhten Strah-lungsfluss veranschlagt, deutlichmindern und gleichsam maskieren.

Doch diese pauschalen Zahlen sindkeineswegs gesichert, und deshalbweisen Klimamodelle für den An-stieg der mittleren Temperatur in dennächsten Jahrzehnten immer nocheinen beträchtlichen Spielraum aus –Unsicherheiten, die sich wederdurch theoretische Berechnungennoch durch Experimente in einemLabor ausräumen oder eingrenzenlassen. Doch auch „Freilandstudien“,also Messungen vor Ort, liefern ge-wöhnlich keine global gültigen Aus-sagen. Denn der Aerosol-Status der 

 Atmosphäre ist örtlich wie zeitlichungemein wandelbar und hängt zu-dem von ebenfalls unsteten meteoro-logischen Bedingungen ab.

In seltenen Fällen allerdings bietensich Situationen, die einer Art Groß-experiment in Sachen Aerosolegleichkommen. Und über zwei solcheGlücksfälle konnten wir in den ver-gangenen Jahren interessante undüberraschende Einblicke in das kom-plexe Zusammenspiel dieser mikros-    G

   R   A   F   I   K  :   G   E   O   P   H   Y   S   I   C   A   L   R   E   S   E   A   R   C   H

   L   E   T   T   E   R   S ,   V   O   L .   3   1 ,   2   0   0   4

Um die Millionenstadt Chengdu im Roten Becken liegteine Industrierevier, dessen Schlote die Belastung der Lu

in dieser Region auf weltweite Spitzenwerte treiben.

32-40

24-32

16-24

8-16

> 64

56-64

48-56

40-48

Die Grafik zeigt dieBedeckung durchniedrige und mittel-hohe Wolken überChina, angegebenin Prozent: Sieweist ein deutlichesMaximum dieserBewölkung über demRoten Becken aus.

   F   O   T   O  :   C   O   R   B   I   S

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SSEN aus erster Hand 

wie im Roten Becken, sogar um biszu 10 Prozent, dann bedeutet das amBoden – etwa für die Bildung vonBiomasse in Getreide – einen Ausfall

 von 20 Watt pro Quadratmeter. Allerdings steckt diese am Boden

fehlende Energie in den Wolken unddamit in der unteren Atmosphäre.Und das berührt eine grundlegendeFrage der Klimaforschung: Wirken

 Aerosole, indem sie die Erdober-fläche via Wolken regional abdun-keln, der anthropogenen Erwärmungder Erde entgegen? Unsere Antwortdarauf: Jedenfalls nicht über demRoten Becken, denn dort wird zwar nicht am Boden, aber in der Atmos-phäre wesentlich mehr Sonnenlichtabsorbiert als noch vor 15 Jahren.   ●

Und mit fast derselben Rate steigtauch die Emission von Luftschad-

stoffen in dieser Region: von Flug-asche, von Ruß und anderen Aeroso-len sowie deren Vorläufergasen – diein dieser Gebirgssenke zudem nochlänger als anderswo gefangen blei-ben und die Luft erheblich trüben.

Erwartungsgemäß sollten die Wol-ken über dem Roten Becken, ähnlichwie über dem „Schwarzen Dreieck“

 vor dessen Säuberung, von Satellitenaus hell erscheinen, also viel Son-nenlicht in den Weltraum zurück-spiegeln. Doch das Gegenteil war der Fall: Die Satellitenbilder zeigten dort

 Wolken und Aerosolschwaden mitungewöhnlich niedriger Albedo.

RUSS UND ASCHE

BILDEN EINE HEIZDECKE

Dieser zunächst widersprüchlichanmutende Sachverhalt erklärt sichdaraus, dass die optische Wirkung

 von Aerosolen wesentlich von derenGehalt an stark absorbierenden Parti-keln wie Ruß oder Flugasche ab-

hängt. So erscheinen Aerosole mitnur mäßigem Rußanteil – vom Welt-raum aus gesehen – auch bei wolken-losem Himmel über dem dunklenOzean hell, über Schneeflächen hin-gegen dunkel. Entstehen unter demEinfluss dieser Aerosole dann noch

 Wolken, tritt ein überraschendes Phä-nomen auf: Dünnere Wolken erschei-nen heller, dickere hingegen dunkler – und dieser Umschlagpunkt ver-schiebt sich mit steigendem Rußanteil

des Aerosols hin zu immer dünneren Wolken. Deshalb beobachtet man beiextrem hohem Rußgehalt im Mittelüber alle Wolken eine Verdunklung,also ein vermindertes Rückstreuver-mögen. Und genau das ist über demRoten Becken der Fall: Der hohe Ge-halt an Ruß und Flugasche lässt dortdie Wolken vergrauen und macht siezu regelrechten Strahlenfallen, diedann infolge der absorbierten Strah-lung auch noch wie „Heizdecken“über der Region lasten.

Über Mitteleuropa hingegen über-wog vor 1989 der „erhellende“ Ef-fekt, da hier der Rußanteil im Aero-sol niedriger lag. Doch nach der 

 Wende – nachdem vor allem der Pe-gel an Sulfat-Aerosolen erheblich

gesunken war – kam der Rußanteil(insbesondere aus Dieselfahrzeugen)stärker zur Geltung. Und deshalbsank die Albedo der Wolken über Mitteleuropa um 2 bis 3 Prozent.

Das bedeutet, auf den Punkt ge-bracht, dass in China dickere Luft, inEuropa dagegen reinere Luft zudunkleren Wolken führt: Ein Befund,der die hintergründige Rolle von Ae-rosolen im Strahlungshaushalt der 

 Atmosphäre deutlich macht. In bei-den Fällen, in China wie in Europa,tragen diese Effekte zur Erwärmungbei, da mehr Sonnenstrahlung in der 

 Atmosphäre absorbiert wird. Dabeigeht es um erhebliche Energiemen-gen. Das zeigt das folgende Zahlen-beispiel: Würde die mittlere Albedoder Erde, die zurzeit bei 30 Prozentliegt, global um nur 1 Prozent ver-mindert, dann würde die Erde imMittel 2,4 Watt pro Quadratmeter mehr an Sonnenenergie aufnehmen –ein Betrag, der dem Hundertfachen

der Energieflussdichte der gesamtenMenschheit entspricht; denn derenEnergieumsatz macht, auf die Erd-oberfläche bezogen, nur 0,025 Wattpro Quadratmeter aus. Andererseits bleibt viel Energie in

den Wolken selbst hängen, wenn sichderen Albedo erniedrigt. Sinkt ihre

 Albedo, wie in Mitteleuropa, um 2 bis3 Prozent, dann gehen am Erdboden4 bis 6 Watt pro Quadratmeter verlo-ren; schrumpft die Wolken-Albedo,

PROF. DR. HARTMUT

GRASSL (Jahrgang 1940)studierte Physik an derUniversität München,wurde dort 1970 pro-moviert und habilitiertesich 1978 an der Uni-versität Hamburg. Von1976 bis 1981 leitete

er eine Wissenschaftlergruppe am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Ham-burg. Weitere Stationen seiner Laufbahnwaren das Institut für Meereskunde in Kielund das GKSS-Forschungszentrum in Geest-hacht. Im Jahr 1988 wurde Graßl als Direk-tor ans Max-Planck-Institut für Meteoro-logie berufen, von 1994 bis 1999 war erDirektor des Weltklima-Forschungspro-gramms. Im Jahr 2002 erhielt er das GroßeBundesverdienstkreuz der BundesrepublikDeutschland.

DR. OLAF KRÜGER (Jahr-gang 1963) studiertePhysik an der FreienUniversität Berlin undMeteorologie an der

Universität Hamburg.Die Promotion erfolgteam Fachbereich Geo-wissenschaften der

Universität Hamburg. Am GKSS-Forschungs-zentrum in Geesthacht und am Meteorolo-gical Synthesizing Center-West (EMEP) inOslo beschäftigte er sich mit der numeri-schen Modellierung des Transports und derchemischen Umwandlung von Luftbeimen-gungen. Seit 1999 arbeitet Krüger in Lehreund Forschung am Meteorologischen Insti-tut der Universität Hamburg. Sein For-schungsschwerpunkt ist gegenwärtig dieAnalyse von Satellitenmessungen.

nbegriff einer nach vorsintflutlichen Umweltstandardsebenen Industrialisierung wurde die Region um Bitter-Große wie kleine Dreckschleudern füllten die Luft über„Schwarzen Dreieck” mit Unmengen an Schadstoffen.

   F   O   T   O   S  :   C   O   R   B   I   S    /   M   P   G

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RÜCKblend

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Am 23. Juli 2004 starb der Biochemiker Peter HansHofschneider im Alter von 75 Jahren. In vielen Nach-rufen gedachte man des Virusforschers – als einemWegbereiter der Molekularbiologie in Deutschland undengagierten Aufklärer von Betrugsfällen in der Wissen-schaft. Doch der frühere Direktor am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried bei Münchenhatte sich nicht nur der hehren Wissenschaft verschrie-ben, sondern entwickelte auch einen ausgeprägten

Sinn für skurrilen Humor.

Während der Ölkrise 1973/74, so konnte man vor fastdrei Jahrzehnten im MPG-SPIEGEL (Ausgabe 4/75)lesen, wurden zwei auf einer Kongressreise befind-

liche Forscher namens P. Court und H. Taylor wegen akutenBenzinmangels zu einem mehrtägigen Aufenthalt am Max-Planck-Institut für Biochemie gezwungen. Aus diesem un-vorhergesehenen Zwischenstopp entwickelte sich einefruchtbare Zusammenarbeit: Die beiden Wissenschaftler un-tersuchten gemeinsam mit Kollegen aus Martinsried dieDarmflora vieler Bewohner Münchens und fanden dabeivereinzelt, „aber stark gehäuft bei Bierkutschern und ver-wandten Berufen”, einen Abkömmling des Lactobacillus acidophilus – jenes Keims, der mit als Erster den menschli-chen Darm besiedelt.Überraschenderweise hatte dieser Keim, wenn er im „häufigalkoholisierten Erwachsenen-Darm einschlägiger Berufs-gruppen” aufgespürt wurde, seine Fähigkeit zur Lactosever-gärung verloren. Dafür war er in der Lage, in Anpassung anseine alkoholreiche Umwelt sehr effektiv Äthanol zu fer-mentieren und abzubauen – was dazu führte, dass seineEntdecker ihm die Bezeichnung Alcobacillus acidophilus adulti gaben.Die beiden Forscher fanden auch eine plausible Erklärungfür die Alkoholtoleranz: Bei Trägern dieses Keims kommt esnicht zum üblichen Ansteigen des Blut-Alkoholwertes, weil

„die mittlere intestinale Verweilzeit des Alkohols zum Abbaudesselben durch Alcobacillus völlig ausreicht”. Nicht klärenließ sich damals allerdings die geringe infektiöse Ausbrei-tung des Keims über größere Bevölkerungskreise. Die Wis-senschaftler vermuteten aber, dass er sich in der normalenDarmflora nur bei ständiger und reichlicher „Alkoholfütte-rung” zu halten und durchzusetzen vermag.Natürlich tauchte sofort die Frage auf, ob Alcobacillus pro-phylaktisch oder therapeutisch gegen „alles was Schwips,Rausch oder Kater” heißt, einzusetzen sei. Dazu müsste Al-cobacillus  allerdings so präpariert werden, dass es trotzlangfristiger Lagerung nicht seine pharmakologische Wir-

kung verliere. Nach vielen Versuchen ge-lang es den Forschern, das Sporulations-gen des sporenbildenden Bacillus subtilis zu isolieren und gentechnisch in Alcoba-cillus  zu übertragen. Damit wurde fol-

gende Prozedur möglich: Nach Vermehrung in großtechni-schem Maßstab wird Alcobacillus  durch Hitzeschock zurSporenbildung gebracht und kann dann, zur Anti-Alkohol-pille (Anti-A-Pille) gepresst, unter üblichen Bedingungengelagert werden. „Nach wie vor ein acidophiler Keim, wirdAlcobacillus nach Applikation im sauren Magenmilieu raschzu vegetativem Wachstum induziert und beseitigt nun, wiegewünscht, im Verlauf der weiteren Darmpassage den auf-genommenen Alkohol.”Kontrollierte Erprobungen der Pille an Freiwilligen ergaben,dass die bekannten negativen Alkoholwirkungen nach Ein-nahme der Anti-A-Pille ausblieben. Nennenswerte Neben-effekte wurden nicht beobachtet – ein leichtes, vorüberge-hendes Ansteigen des mittleren Leistungspegels nahmen dieProbanden (es handelte sich ausschließlich um Angehörige

des öffentlichen Dienstes) als gesundheitlich unbedenklich inKauf. Außerdem zeigte sich, dass man die Alcobacillus -Spo-ren auch flüssig aufbewahren und prinzipiell den meisten al-koholischen Getränken in Tropfenform zusetzen konnte. „Ge-schieht dies”, so beendete der Autor Peter Hans Hofschneiderseinen informativen Artikel, „in wohldotiertem Verhältnis zurgegebenen Alkoholmenge, kommt es auch bei exzessivemTrinken nur zu einer beschwingten Lustigkeit, ein Rausch mitseinen negativen Folgeerscheinungen bleibt hingegen aus”.Schon im Jahr zuvor war Peter Hans Hofschneider, Wissen-schaftliches Mitglied des renommierten Max-Planck-Ins-tituts für Biochemie in Martinsried, den Lesern des MPG-

     R     ü    c     k     b     l    e    n     d    e

SPIEGELS (3/74) als Berichterstattereiner wissenschaftlichen Sensationaufgefallen. „Schlank durch Viren –Letzte Neuheit: Fettsuchttherapiemit Lipophagen” lautete damalsdie Überschrift seines Beitrags. DerArtikel begann - dramaturgisch ge-schickt – mit einer eher beiläufiggeschilderten Beobachtung: „Alsim Frühsommer 1973 auf einemWorkshop der EMBO (EuropeanMolecular Biology Organization)aus dem Max-Planck-Institut fürBiochemie berichtet wurde, man hätte Fettsäuren in Bakte-riophagen, also bakterienfressenden Viren, festgestellt,

horchten nur einige wenige Fachleute erstaunt auf.” Dochdann kam der Knüller: Nach weiteren Untersuchungen be-stünden inzwischen keine Zweifel mehr, dass die fundamen-tale Bedeutung dieser Beobachtung bisher falsch einge-schätzt worden sei. Denn: Es zeichne sich nun „eine lang ge-suchte, auf breiter Basis anwendbare Therapiemöglichkeitder Fettsucht ab”.Wie die Kinderlähmung durch Schluckimpfung mit harmlo-sen abgeschwächten Polioviren, so könne nun auch die Fett-sucht bekämpft werden. Es sei gelungen, so fährt der Beitragfort, ein Virus, das sich in menschlichen Fettzellen vermehrt,in Gewebekulturen in großer Menge zu produzieren. Damitdürfte einer quasi-industriellen Virus-Produktion in Gramm-Mengen nichts mehr im Wege stehen.Das Virus befolge im Verlauf der Infektion eine Doppelstra-tegie, die seinen therapeutischen Wert ausmache: Die Fett-zelle wird abgetötet und gleichzeitig wird das Fett durch einim Viruspartikel befindliches Enzym mobilisiert. Dieses En-zym wirkt genau umgekehrt wie die Fettsäuresynthetase,das heißt, es baut Fettsäuren ab und wird deshalb auch „re-versed Synthetase” genannt. In klinischen Versuchen sei das

 Virus durch Schluckimpfung verabreicht und dabei eineHeilquote erzielt worden, die man im Anbetracht der vielenMisserfolge auf diesem Gebiet „fastnicht niederzuschreiben wage”.Zwei Punkte hebt der Autor beson-ders hervor: Erstens bezahle sich

die Therapie praktisch von selbst;da die vom Virus erzeugten Fett-stoffwechselprodukte in den Ener-giestoffwechsel des Patienteneingehen, kann die Nahrungsmit-telzufuhr vermindert werden, waswiederum den Geldbeutel entlas-tet. Und zweitens regele sich dertherapeutische Effekt selbstständigim gewünschten Sinn; am Anfangder Behandlung ist der Effekt stark,doch je mehr Fettzellen verschwin-

 A m 1. A pril schlug A lcobacillus zu

RÜCKblend

   F   O   T   O  :   M   P   G    /   F   I   L   S   E   R

den, desto geringer wird die Vermehrung des Virus, und derTherapie-Effekt klingt sanft ab,bis sich ein Gleichgewicht ein-stellt. Lediglich durch eineStörung des Therapie-Effekts –etwa durch den Verzehr einesTortenstücks – wird die Vermeh-rung des Virus vorübergehendwieder kurz angefacht.Einen Nachteil allerdings hattediese Therapieform: Das Virus un-terscheidet nicht zwischen be-

liebten und unbeliebten Fettpölsterchen – deshalb wurdedie Behandlung zunächst nur bei Männern angewandt. Al-

lerdings konnte der Autor vermelden, dass Aussicht auf bal-dige Abhilfe bestehe: Für spezielle Modellierzwecke könnedas Virus lokal in einer speziellen Salbengrundlage verab-reicht werden. Auch für das Problem, wie man die Ausbrei-tung der Infektion stoppen könne, wenn das Virus vor Ortseine Schuldigkeit getan hat, zeichnete sich eine Lösung ab:Es konnte eine temperatursensitive Mutante isoliert werden,die bei mehr als 37,5 Grad Celsius rasch abgetötet wird. Beider Verwendung dieser Mutante in der Praxis sollte einheißes Bad zur Beendigung der Therapie ausreichen. Undselbst für Wasserscheue schien es eine Lösung zu geben, dabereits der Wildtyp des Virus sehr empfindlich gegen Alko-hol sei – schon 0,5 bis 1,0 Promille reichten zu seiner Abtö-tung aus. Entsprechend hoffnungsvoll stimmte denn auchder Schluss des Artikels: „Erst eine Schluckimpfung oder ei-ne gezielte Salbeneinreibung mit Lipophagen, dann zum Ab-schluss ein Prost mit einem doppelten Whisky – dieseSchlankheitskur verlangt keine Opfer.”Dieser Beitrag schien dem Autor so wichtig zu sein, dasser ihn in das Verzeichnis seiner Veröffentlichungen des Jah-res 1974 aufnahm. Allerdings nicht den Abdruck im MPG-SPIEGEL, sondern die vorausgegangene Veröffentlichung inder Zeitschrift ÄRZTLICHE PRAXIS; hier war der Artikel unter

dem Datum 1. April 1974 zuersterschienen. Auch die oben er-wähnte „Anti-Alkohol-Pille” hattezunächst am 1. April 1975 die Le-

ser der ÄRZTLICHEN PRAXIS ergötztund dann – mit zweimonatiger

 Verzögerung – ihren Weg in denMPG-SPIEGEL gefunden. Das Er-scheinungsdatum der beiden Ar-tikel waren natürlich nicht zu-fällig gewählt – ebenso wenigwie die Namen der beiden „Gast-wissenschaftler” am Martinsrie-der Max-Planck-Institut: P. Court(= P. Hof) und H. Taylor (= H.Schneider)... MICHAEL  GLOBIG

KAUM ZU GLAUBEN

Die Anti-Alkohol-Pille

Zur Entdeckung und biotechnologischen Auswer-

tung von Alcobacillus acidophilus adulti

Es ist ein lang bekanntes Phänomen, daß bestimmte, Al-kohol konsumierende Personengruppen sich durch eineungewöhnlich hohe Alkoholtoleranz auszeichnen. Einevoll befriedigene klinische oder biochemische Erklärungdieser Tatsache konnte aber trotz zahlreicher Untersu-chungen nicht gefunden werden. Diese kommt jetzt über-raschend von mikro-biologischer Seite und versprichtendlich eine baldige einfache und ...

Biochemie: Schlank durch Viren

Letzte Neuheit: Fettsuchttherapie mit Lipophagen

MPI für Biochemie, 1. April 1974. Als im Frühsommer1973 auf einem Workshop der EMBO (European Mole-cular Biology Organization) aus dem Max-Planck-

Institut für Biochemie berichtet wurde, man hätteFettsäuren in Bakteriophagen, also bakterienfressen-de Viren, festgestellt, horchten nur einige wenige

Fachleute erstaunt auf.

Inzwischen gab die Beobachtung Anlaß zu weiteren Un-tersuchungen und heute bestehen keine Zweifel mehr,daß ihre fundamentale Bedeutung bisher falsch einge-schätzt wurde. Eine lang gesuchte, auf breiter Basis an-wendbare Therapiemöglichkeit der Fettsucht zeichnetsich ab. Wie die Kinderlähmung durch...

Nicht nur einFaible für ernsteWissenschaft:Peter HansHofschneider.

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Zehn Jahre – so lange dauert es, bis beim modernen Menschen, dem Homo

sapiens, das Gehirn seine volle Leistung erreicht. Das war nicht immer so: Bei

Homo erectus, der vor etwa zwei Millionen Jahren lebte, waren die Gehirne der 

Kleinkinder schon ein Jahr nach der Geburt fast so groß wie bei Erwachsenen.

Das haben Forscher um JEAN-JACQUES HUBLIN, Direktor am MAX-PLANCK-

INSTITUT FÜR EVOLUTIONÄRE ANTHROPOLOGIE in Leipzig, herausgefunden.

 Was unser Urahnim Kopf hatte

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SZINATION Forschung

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Evolutionäre  ANTHROPOLOG

Der Mensch weist gegenüber al-len anderen Primaten eine Be-

sonderheit auf: Sein Nachwuchsdurchlebt eine ausgeprägte Kindheitund Jugend. Dieses Phänomen ist inder Menschheitsgeschichte noch

 jung. Zu diesem Ergebnis kommt dasTeam um Jean-Jacques Hublin undHélène Coqueugniot von der Univer-sité Bordeaux 1 in einem Artikel inder britischen Fachzeitschrift N ATURE

(16. September 2004). Die Wissen-schaftler haben den einzigen be-kannten, etwa 1,8 Millionen Jahrealten Kinderschädel unseres direkten

 Vorfahren Homo erectus unter dieLupe genommen. Dieser Schädel des

so genannten Mojokerto-Kindeswurde im Jahr 1936 von einem Aus-grabungsteam um den deutschen

 Anthropologen Gustav HeinrichRalph von Koenigswald in der Mojo-kerto-Region auf Java in Indonesienentdeckt; das vollständig erhalteneDach dieses Schädels eignet sich be-sonders gut für wissenschaftlicheUntersuchungen.

 Wie sich der körperliche Reifezyk-lus in der Evolution der Menschheit

gewandelt hat, belegen Analysen vonZahnmaterial: Das für den modernenHomo sapiens typische Wachstums-muster mit einer langen Jugendphasehat sich erst relativ spät in der menschlichen Entwicklungsgeschich-te herausgebildet. Aus dem Wachs-tumsmuster der Zähne von Homoerectus lässt sich schließen, dass der Reifeprozess damals schneller ablief als beim heutigen Menschen. Offen

blieb jedoch die Frage, wie es sichmit dem Gehirnwachstum des Homoerectus verhielt. Reifte dessen Gehirnnach der Geburt noch ebenso langwie bei Homo sapiens?

Bisher war umstritten, wann in der etwa sechs Millionen Jahre währen-den Evolution des Menschen daslange Gehirnwachstum nach der Ge-burt – die „sekundäre Altrizialität“ –auftrat. Denn fossile Menschenschä-del, vor allem von Kindern, sind sehr selten. Neue Erkenntnisse dazubrachte jetzt der Mojokerto-Schädel:Mithilfe der Computertomografie (CT)konnten Hublin und sein Team die-sen Fund in allen Einzelheiten unter-suchen. Virtuelle Paläoanthropologienennt sich dieses „berührungslose“

 Verfahren, bei dem im Unterschied zufrüheren Methoden keinerlei Schädenan den fossilen Objekten zu befürch-ten sind. „Die Computertomografieerleichterte uns die Arbeit ganz er-heblich, da der Mojokerto-Schädel

 vollständig mit Sedimenten gefülltist“, erklärt Jean-Jacques Hublin.„Wir konnten dank der CT-Daten Se-dimente klar von Knochenresten un-terscheiden und daher das Gehirnvo-lumen exakt bestimmen.“ Als „virtuelles Säubern“ bezeich-

net Hublin diese Methode, Gesteine von Knochenmaterial zu trennen.Dazu scannte der Computertomograf den Mojokerto-Schädel in einzelnenEbenen. „An Schädelteilen und Ge-stein streuen die Röntgenstrahlen der 

SZINATION Forschung

Nur noch selten nimmt Jean-Jacques Hublin die Objekte seiner Forschung in die Hand(Bild gegenüber). Meist erledigt der Computertomograf berührungslos die Analyse derfossilen Menschenknochen – oben eine Abbildung des gescannten Mojokerto-Schädels.

   F   O   T   O   S  :   T   H   O   R   S   T   E   N   N   A   E   S   E   R    /   M   P   I   F    Ü   R   E   V   O   L   U   T   I   O   N    Ä   R   E   A   N   T   H   R   O   P   O   L   O   G   I   E  ;

   N   A   T   U   R   E   4   3   1 ,   2   9   9  -   3   0   2    (   1   6 .   S   E   P   T   E   M   B   E   R   2   0   0   4    )    /   S   E   N   C   K   E   N   B   E   R   G   M   U   S   E   U   M

Die Computertomografie (CT) ergänzt die konventionelle Fototechnik:Links der Mojokerto-Kinderschädel von oben, rechts räumliche CT-Ansichten, auf denenKnochenmaterial glatt erscheint und Sedimente sich als körnige Struktur verraten.

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Evolutionäre  ANTHROPOLOG

Computertomografie unterschied-lich“, erklärt Jean-Jacques Hublin.„Auf diese Weise lässt sich das Ge-stein gleichsam entfernen.“ Nachdemdie Forscher auf diese Weise die Ein-zelbilder virtuell „gesäubert“ hatten,erhielten sie anschließend durchÜberlagerung ein vollständiges drei-dimensionales Bild des knöchernenSchädels.

Die weiteren Analysen zeigten,dass das Kind bei seinem Tod wahr-scheinlich nicht älter als ein Jahr war – entgegen bisherigen Schät-zungen, wonach das Mojokerto-Kindim Alter zwischen vier und sechsJahren starb. Die neue Datierung desTodeszeitpunkts erfolgte anhand der 

 Verknöcherung verschiedener Schä-

delteile: der Pars tympanica, einer Knochenplatte im vorderen Teil desGehörgangs, der Stirnfontanelle inder Bregma-Region sowie der Fossasubarcuata, einer Öffnung im Be-reich des Felsenbeins, die sich imLauf der Kindheit schließt. Diese Da-ten verglichen die Wissenschaftler anschließend mit 159 Schädeln mo-derner Menschen zwischen 0 und 8Jahren und mit 201 Schädeln junger Schimpansen und Bonobos.

Dabei stellte sich heraus, dass beimMojokerto-Kind die Pars tympanicabereits vollständig verknöchert war.Hingegen waren die Bregma-Regionund die Fossa subarcuata noch nicht

 vollständig entwickelt. Die Untersu-chung der Bregma-Region zeigteweiterhin, dass sich beim Mojokerto-Kind bereits Spongiosa gebildet hat-te, eine poröse Substanz zwischenden beiden Knochenplatten desSchädels. Die Scheitelbeine jedochwaren noch „unfertig“; zwischen ih-

nen befand sich zudem eine 3,5 Mil-limeter große Lücke, die sich als un-

 vollständig verschlossene Stirnfonta-

nelle, aber auch als Folge einer post-mortalen Beschädigung deuten ließ.Ein weiteres Kriterium zur Altersbe-stimmung lieferte der Verschlussgradder Fossa subarcuata. Der Vergleichmit entsprechenden Befunden bei

 jungen modernen Menschen und jungen Schimpansen erbrachte, dassdas Mojokerto-Kind zum Zeitpunktseines Todes etwa ein Jahr alt gewe-sen sein muss.

DER VERGLEICH

BRINGT ES AN DEN TAG

Zudem brachte die Computerto-mografie eine weitere Überraschung:Das Kleinkind verfügte schon über ein Gehirnvolumen von 72 Prozenteines ausgewachsenen afrikanischenHomo erectus und von 84 Prozenteines ausgewachsenen asiatischenHomo erectus. In einem zweitenSchritt verglichen die Forscher denMojokerto-Schädel – der ein Gehirn-

 volumen von 663 Kubikzentimetern

umschloss – mit Schädeln heutiger Primaten. Ergebnis: Das Gehirn-wachstum des Homo-erectus-Kindes

nach der Geburt war ähnlich frühabgeschlossen wie etwa bei Schim-pansen. „Die Daten weisen darauf hin, dass die Zeit, in der das Gehirndes Homo-erectus-Kindes nach der Geburt reifen konnte, sehr kurz war“,sagt Jean-Jacques Hublin.

Deutliche Unterschiede offenbartehingegen ein Vergleich mit modernenMenschen, die relativ unreif zur Weltkommen: Sie verfügen bei ihrer Ge-burt erst über etwa 25 Prozent ihresspäteren Gehirnvolumens von etwa1350 Kubikzentimetern. Im erstenLebensjahr wächst ihr Gehirn mitderselben Geschwindigkeit wie vor der Geburt und erreicht nach einemJahr etwa 50 Prozent seines endgülti-gen Volumens. Voll ausgewachsen istdas Gehirn des modernen Menschenerst nach dem zehnten Lebensjahr: Esreift damit langsamer und länger alsbei allen anderen Primaten.

„Diese Reifedauer oder sekundäre Altrizialiät verschafft dem Homo sa-

 piens erhebliche Vorteile gegenüber seinen frühen Verwandten“, erklärtHublin mit Verweis auf die Entwick-lung kognitiver Fähigkeiten vonKindern während der ersten zehn Le-bensjahre. „In dieser Zeit ist daskindliche Gehirn unzähligen Reizenaus der Umwelt ausgesetzt“, so der 

 Wissenschaftler. „Das bedingt inten-sive Wechselwirkungen zwischensomatischen und senso-motorischenHirnregionen.“

Ein weiterer entscheidender Vorteileines kleinen, noch unreifen Gehirnsbei der Geburt ergibt sich für dieMutter in der Zeit der Aufzucht desNachwuchses. Homo sapiens benö-tigt große Energiemengen, um seineGehirnfunktionen aufrecht erhaltenzu können. Ein erwachsener Mensch

 verbraucht etwa 20 Prozent seiner Energie zum Denken sowie dafür,sein Gehirn stets auf konstanter „Be-triebstemperatur“ zu halten. „Bei ei-nem Embryo im Mutterleib sind diessogar noch 50 Prozent“, sagt Hublin.„Für Mütter ist es also viel einfacher,ihren Kindern diese große Energie-menge erst nach der Geburt in Form

 von Nahrung zuzuführen, als siedurch den eigenen Körper während

der Schwangerschaft zusätzlich für das Gehirn des Kindes bereitstellenzu müssen.“

Und schließlich gibt es für dieFrauen noch einen physiologischen

 Vorteil. Da die Köpfe ihrer Kinder beider Geburt noch lange nicht ihr end-gültiges Volumen angenommen ha-ben, können auch Mütter mit enge-rem Becken Nachwuchs zur Welt zubringen. Hublin: „Ein schmaleresBecken erhöhte die Beweglichkeitder Frau ganz erheblich. Das war wichtig in jener Zeit, in der die Men-schen noch viel umhergezogensind.“ Auch für die Entwicklung der Sprache dürfte die sekundäre Altrizi-aliät eine bedeutende Rolle gespielthaben. Der Leipziger Wissenschaftler ist überzeugt, dass Homo erectusschon kommunikative Fähigkeitenbesaß; doch das insgesamt geringereHirnvolumen und das Fehlen der se-kundären Altrizialiät dürften diekognitiven Fähigkeiten des frühen

Menschen sehr eingeschränkt und

DER MENSCH –EIN GLOBALES PUZZLE

Die Rekonstruktion der menschlichenStammesgeschichte gleicht einem welt-weiten Puzzlespiel. Oft sind die fossilenÜberreste von Skeletten unvollständigoder einzigartig, wie im Fall des indone-sischen Mojokerto-Kinderschädels.Mit jedem neuen Fund und verbessertenwissenschaftlichen Untersuchungsmethden gewinnen die Paläoanthropologen eklareres Bild von der Entwicklung desMenschen.

Kein Zweifel besteht an der engen Ver-wandtschaft von Mensch und rezentenPrimaten wie Schimpansen, Gorillas undOrang-Utans. Darauf deuten vor allemErgebnisse von DNA-Analysen: Danachunterscheidet sich das Erbgut vonMensch und Schimpanse lediglich um1,6 Prozent (Gorilla: 2,3 Prozent, Orang

Utan: 3,6 Prozent). Als der früheste Vorfahre des Men-schen gilt heute der rund sechs Millionen Jahre alte „Milennium Mann“ (Orrorin tugenensis) aus dem keniani-schen Rift Valley. Die innere Beschaffenheit seines Ober-schenkelhalsknochens weist ihn als Zweibeiner aus; dasKnochenfossil war im Jahr 2000 im ostafrikanischenGrabenbruch gefunden worden, der seit langem als dieWiege der Menschheit gilt.

 Vor der Entdeckung des „Millennium Mannes“ galtenrund vier Millionen Jahre alte Knochenfunde aus Keniasowie viereinhalb Millionen Jahre alte Skelette aus Äthipien als die frühesten Spuren unserer Vorfahren. Die ersten Fossilien, die man als Homo (Mensch) bezeichnet,sind fast 2,4 Millionen Jahre alt; sie stammen aus Ost-und Südafrika und gehören zu Homo habilis. Vor etwa1,9 Millionen Jahren entwickelte sich dann ein fort-schrittlicher Menschentyp: Homo erectus hatte eingrößeres Gehirn und ein Skelett, das dem heutigen Men-schen sehr ähnelte. Homo erectus zog bereits weite Krese, kam er doch von Afrika aus bis in den Kaukasus sowienach Ost- und Südostasien und schließlich vor einer biseiner halben Million Jahre auch nach Europa.

Die Forscher glauben, dass sich vor etwa 500 000 Jahrenzwei unterschiedliche Linien der Gattung Homo ent-wickelten: eine zum Neandertaler (Homo neanderthalen

 sis) und eine zum modernen Menschen (Homo sapiens).DNA-Analysen von Skeletten belegen, dass der Neander-taler einer heute ausgestorbenen Linie der menschlichenGattung angehörte. Er wurde nach dem Neandertal beiMettmann (zwischen Düsseldorf und Wuppertal) benannwo sich im Jahr 1856 erstmals ein Schädel dieses Urmenschen fand. Der klassische Neandertaler lebte im Mittel-paläolithikum – in der Zeit von etwa 130 000 bis 30 00vor Christus; Neandertaler waren untersetzter und kräf-tiger als die heutigen Menschen.

Der moderne Mensch entwickelte sich wahrscheinlichaus einer afrikanischen Linie des Homo erectus. Diefrühesten gefundenen Überreste sind zwischen 100 000und 120 000 Jahre alt. Noch vor 40 000 Jahren lebteHomo sapiens in weit auseinander gelegenen Gebietenin Asien und Europa. Aus dieser Differenzierung gingenschließlich die heute verbreiteten Völker hervor.

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SZINATION Forschung

ER FUND DES ANDOYO

Schädel des Mojokerto-Kindes wurde im Jahr 1936 von Andoyo ge-den, einem Mitarbeiter des Niederländischen Geologischen Dienstes.tav Heinrich Ralph von Koenigswald war damals ebenfalls beim Geo-schen Dienst angestellt. Er hatte den Auftrag, fossile Säugetiere zu

ntifizieren, zu beschreiben und auf dieser Grundlage eine stratigrafi-e Einteilung des Pleistozäns zu erarbeiten. Er bekam den Schädel aberin Bandung (West-Java). Die Identifikation und Beschreibung fiel inAufgabenfeld. Koenigswald hielt sich zwischen 1930 und 1946 in Java auf, wurde allerdings zweimalrniert: von den Holländern nach der deutschen Invasion der Niederlande für mehrere Monate und

Anschluss an die japanische Besatzung Javas. Koenigswald starb am 10. Juli 1982 im 80. Lebensjahr.

Schneller am Ziel: Während das Gehirndes modernen Menschen selbst acht Jahrenach der Geburt noch nicht vollständigausgewachsen ist, war das Gehirn des Mojo-kerto-Kindes (Homo erectus) schon nacheineinhalb Jahren nahezu fertig entwickelt.

Unterschiedliche Entwicklungsstadien der Fossa subarcuata - einer Öffnung im Bereichdes Felsenbeins – beim modernen Menschen zwei (links) und 18 Monate nach der Geburt(rechts). In der Mitte dieselbe Region beim 18 Monate alten Mojokerto-Kind.

eine komplexe Sprache und Verstän-digung unmöglich gemacht haben.„Damit dürfen wir annehmen, dasssich die komplexe Sprache parallelzur sekundären Altrizialität erst re-lativ spät in der Evolution der Menschheit entwickelt hat“, meintJean-Jacques Hublin.

Mit ihrer Studie haben die Max-Planck-Forscher den Zeitraum, indem sich die typisch menschliche Ei-genschaft der sekundären Altrizia-lität ausgebildet hat, weiter eingren-zen können. „Die unmittelbaren Vor-fahren von Homo sapiens und Homoneanderthalensis  verfügen schonüber relativ große Gehirne“, sagtHublin. „Deshalb dürfte sich die langdauernde Hirnreifung in dem Zeit-fenster zwischen einer Million und500000 Jahren vor heute ausgebildet

haben.“ THORSTEN NAESER

Ein vereinfachter Stammbaum des Menschen.Der Neandertaler starb vor 30000 Jahren aus,der Homo sapiens eroberte die Kontinente.

   F   O   T   O  :   A   R   C   H   I   V   G   H   R .   V .   K   O   E   N   I   G   S   W   A   L   D ,   F   O   R   S   C   H   U   N   G   S   I   N   S   T   I   T   U   T   S   E   N   C   K   E   N   B   E   R   G  ;   G   R   A   F   I   K  :   N   A   T   U   R   E   4   3   1 ,   2   9   9  -   3   0   2    (   1   6 .   S   E   P   T   E   M   B   E   R   2   0   0   4    )

   F   O   T   O   S  :   N   A   T   U   R   E   4   3   1 ,   2   9   9  -   3   0   2    (   1   6 .   S   E   P   T   E   M   B   E   R   2   0   0   4    )

   G   R   A   F   I   K  :   M   P   I   F    Ü   R   E   V   O   L   U   T   I   O   N    Ä   R   E   A   N   T   H   R   O   P   O   L   O   G   I   E

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RSCHUNG & Gesellschaft 

4 / 2 0 0 4 M A X P L A N C K F O R S C H U N G   61

Nach 23 Jahren Bürgerkrieg und dem Ende des Taliban-Regimes steht Afghanistan

vor einem Umbruch. Für die Zukunft des Landes wird es vor allem auf die Entwicklung 

des Rechtsstaats ankommen – ein Prozess, der noch vor der eigentlichen Demokratisie-

rung steht. Diese These vertritt NADJMA YASSARI vom Hamburger MAX-PLANCK-

INSTITUT FÜR AUSLÄNDISCHES UND INTERNATIONALES PRIVATRECHT im Gespräch

mit MAXPLANCKFORSCHUNG. Als gebürtige Perserin genießt Yassari in Afghanistan viele

Vorteile, die ihr den Zugang zu Menschen und staatlichen Einrichtungen erleichtern.

PRIVATRECH

„Die Afghanen haben wenig Vertrauen in den Staat“

MPF: Wo liegen die Hauptschwierig-keiten beim Aufbau eines afghani-schen Rechtsstaats? 

 Y ASSARI:  Außerhalb Kabuls sind dieehemaligen Warlords und lokalenGouverneure noch sehr einflussreich.Die Zentralregierung müsste als Ers-tes in den Provinzen ihre Macht ent-falten, um in die Lage versetzt zuwerden, den Rechtsstaat aufzubauen.Das ist aber schwierig, weil der Kon-flikt in Afghanistan nicht durch ei-nen innerafghanischen Konsens der Kriegsparteien und Gruppierungenbeendet wurde, sondern von einer externen Macht: der Kriegskoalitionder Amerikaner. Das Taliban-Regimeist beseitigt, aber die Reste existierennach wie vor in einzelnen Regionen.

 Viele Afghanen sind noch immerbewaffnet. All das erschwert den

 Aufbau von Polizeikräften, eines Verwaltungsapparates und von Ge-richten in der Provinz. Allein dieBerufung von Richtern dürfte langedauern, man muss überprüfen, wiedie Leute ausgebildet sind; manmuss entscheiden, wer sie beruft undwie unabhängig sie sind.

MPF: Präsident Karsai steht alsovor einem Berg von Problemen.Ist er nun durch die Wahl gestärkt? 

 Y ASSARI: Das Allerwichtigste ist, dassdie Wahl überhaupt stattgefundenhat. Dass die Menschen wissen: Wir haben die Möglichkeit, über unser Schicksal selbst zu bestimmen, esgibt einen Staat, der für uns arbeitet.Und unsere Stimmen zählen. Polizis-ten sind nicht länger Menschen, diedie Landbevölkerung ausplündernund Städte in Brand setzen, sondernes ist ihre Aufgabe, die Bevölkerung

zu schützen. Die Afghanen habenimmer noch sehr geringes Vertrauenin den Staat und die Zentralregie-rung. Das politische Bewusstseinmuss sich nun erst herausbilden.

MPF: Als eine der wenigenWissenschaftlerinnen hatten Siedie Chance, das Land selbst kennenzu lernen. Woher haben Sie dieInformationen über das afghanische Rechtssystem bekommen? 

MAXPLANCKFORSCHUNG: Die Wahlenin Afghanistan haben PräsidentKarsai im Amt bestätigt. GlaubenSie, dass es nun eine Chance für mehr Rechtsstaatlichkeit im Land gibt? NADJMA Y ASSARI: Die Entwicklung des

Rechtsstaats ist ungeheuer wichtigfür die Entwicklung Afghanistans.Ich glaube sogar, dass die Rechts-staatlichkeit vor dem eigentlichenDemokratisierungsprozess steht.Nach 23 Jahren Bürgerkrieg fehlt einstaatliches Gewaltmonopol. In Kabulexistieren zwar Ministerien, es gibteine Polizei, die von Deutschen aus-gebildet wird, aber sobald man dieHauptstadt verlässt, betritt man eineneue Welt: Jede Reise in die Provinzist ein Risiko, allein schon wegen der mehr als zehn Millionen Minen, diedie Straßen unsicher machen.

 Y ASSARI:  Wir waren das erste Malim Mai 2003 in Afghanistan – eineGruppe von drei deutschen, einemtürkischen und einem iranischen

 Wissenschaftler. Wir sollten heraus-finden, wie man das Hochschulsys-tem reformieren kann. Die Debattemit den Afghanen lief aber immer wieder auf Fragen nach der Positiondes religiösen Rechts in der afghani-schen Rechtsordnung hinaus. Mein

 Vorteil ist, dass ich mit den Afgha-nen in ihrer Muttersprache kommu-nizieren kann, und es kommt mir auch zugute, dass ich als gebürtigePerserin in Afghanistan nicht alsfremd empfunden werde.

MPF: Gegenüber vielen Kollegen

haben Sie also einiges voraus?  Y ASSARI: In gewisser Hinsicht ja. AlsFrau habe ich Zugang zur Welt der Frauen, ich kann mich mit Afgha-ninnen, die unter ihrer Burka ver-steckt sind, auf der Straße unterhal-ten, ohne dass dies von der männli-chen Gesellschaft als negativ emp-funden wird. Das habe ich so auchbei meinem zweiten Aufenthalt imJanuar 2004 erlebt, als ich diewestafghanische Provinzstadt Heratbesuchte. Als ausländische Wissen-schaftlerin habe ich aber wiederumauch Zugang zu den offiziellen Stel-len bis hin zum Justizminister – gute

 Voraussetzungen also, um wichtigeKontakte zu knüpfen.

MPF: Gibt es in Afghanistan über-haupt funktionierende Gerichte? 

 Y ASSARI: Mit westlichen Standardskann man die im Aufbau befindli-chen Strukturen in Afghanistannicht vergleichen. Der Beruf des An-

walts etwa ist rudimentär vorhan-den. Das liegt zum Teil auch an der islamischen Rechtskultur, die demRichter einen hohen Stellenwert zu-billigt, aber die Institution einesRechtsbeistands eher gering schätzt.

 Auch im Nachbarland Iran wird esübrigens nicht gerne gesehen, wennman gleich einen Anwalt mit ansGericht bringt. Es kommt schon vor,dass man sich vorhalten lassen muss,dass der Anwalt nur dazu da sei, im

l, die Hauptstadt Afghanistans, liegt zu Füßen der imposanten Schneegipfel des Hindukusch.

   F   O   T   O   S  :   C   O   R   B   I   S    /   I   N   S   T   I   T   U   T   I   N   T   E   R   N   A   T   I   O   N   A   L   P   O   U   R   L   `   U   N   I   F   I   C   A   T   I   O   N   D   U   D   R   O   I   T   P   R   I   V    É ,   R   O   M

Das Titelblatt der VerfassungAfghanistans aus dem Jahr 1931.

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RSCHUNG & Gesellschaft 

Namen des Mandanten die Unwahr-heit zu sagen.

MPF: Wie gehen Sie bei derErforschung des Rechtssystemsin Afghanistan vor? 

 Y ASSARI:  Wir wollen Feldforschungbetreiben, um herauszufinden, wiesich das Familienrecht heute dar-stellt. Das staatliche Zivilgesetzbuch(ZGB) aus dem Jahr 1977 ist zwar noch in Kraft, aber weiß überhaupt

 jemand, dass es existiert? Urteilendie Richter nach dem ZGB? DieRechtsgeschichte Afghanistans im20. Jahrhunderts ist für Ausländer und auch für die Afghanen schwer zu überblicken: So war es eine der 

 vornehmlichen Aufgaben im Rah-

men des Justizaufbaus, die existie-renden Gesetze zu sammeln. Es gibtnoch immer eine Fülle von höchstunterschiedlichen Gesetzen, die un-ter dem König, unter den Kommu-nisten, den Sowjets, den Taliban undnun unter der Regierung Karsai er-lassen wurden. In der Praxis müssenwir jedoch davon ausgehen, dass auf dem Land nach dem Gewohnheits-recht geurteilt wird.

MPF: Was bedeutet das?  Y ASSARI:  Wenn man zum Beispiel inder Provinz ein familienrechtlichesProblem hat, bespricht man das inder Familie oder in einer landesüb-lichen Versammlung. Es gibt sogarin Kabul Richter, die bei Familien-angelegenheiten den Parteien sagen:„Geh nach Hause und löse das Prob-lem mit deinen Weißbärten“ – alsomit den Familienältesten, die dieProbleme untereinander aus der Weltschaffen.

MPF: Familienrecht wird also inner-halb der Familien gesprochen? 

 Y ASSARI: Die patriarchalischen Struk-turen lassen sich nicht übersehen:

 Wenn sich etwa eine Frau von ihremMann trennen möchte, wird sie oftnicht nur von der Familie ihresMannes geächtet, sondern auch vonihrer eigenen. Wenn wir über Fami-lienrecht reden, müssen wir uns diegesellschaftlichen Strukturen anse-

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Taliban hat sich die Lage der Frauendennoch verbessert: Unter den Tali-ban durften die Frauen ohne männli-chen Begleiter aus ihrer Familie nichteinmal auf die Straße gehen.

MPF: Was hat sich denn durchdie Verabschiedung der afghanischenVerfassung im Januar 2004geändert? 

 Y ASSARI: Die Verabschiedung der Ver-fassung ist in der Tat zunächst nur ein formaler Akt, der aber auch sehr wichtig ist und nun einen Prozess inGang setzen muss. Fortschritt be-nötigt Zeit, das war in der europäi-schen Geschichte nicht anders. Das

 Vertrauen in den Staat muss nochentwickelt werden, gleichzeitig ist

es wichtig, eine moderne Verfassungmit einem Menschenrechtskatalogzu haben.

MPF: Die Gleichberechtigungzwischen Mann und Frau stehtnun auf dem Papier, aber wiesieht die Wirklichkeit aus? 

 Y ASSARI: Einerseits bekennt sich die Verfassung zur internationalen Men-schenrechtskonvention, welche dieDiskriminierung von Frauen verbie-tet. Gleichzeitig beruft sich die Ver-fassung auf islamische Grundsätze,die – je nach Interpretation – denMännern durchaus mehr Rechte zu-billigt als den Frauen. Solche Wider-sprüche werden in der Zukunft für Probleme sorgen. Allerdings ist es imMoment wichtiger, Afghanistan auf einen gewissen Standard zu bringen,etwa beim Erbrecht, um die Frauenüberhaupt am Nachlass zu beteiligen.

MPF: Seit 100 Jahren gab es

immer wieder Versuche, das Landzu reformieren – doch alle Bemühungen sind gescheitert.

 Y ASSARI: Das ist richtig, aber keinGrund aufzugeben. Der Impuls muss

 jetzt von den Afghanen ausgehen.Das deutsche Engagement folgt demLight-Footprint-Prinzip der Verein-ten Nationen: Es geht darum, die

 Afghanen von Anfang an in dieProjekte einzubinden und auf ihreBedürfnisse einzugehen: Wir mieten

 vierten Sure des Koransteht wörtlich: „Undwenn ihr fürchtet, inSachen der in eurerObhut stehenden Wai-sen nicht Recht zu tun,dann heiratet, was euchan Frauen gut ansteht –zwei, drei oder vier.

 Wenn ihr aber fürchtet, so vielennicht gerecht zu werden, dann nur ei-ne.“ Dieser Vers bietet eine Menge In-terpretationsmöglichkeiten: Die einensagen, der Mann könne bis zu vier Frauen ehelichen. Die anderen ma-chen eine Additionsrechnung, weil siedem Text eine Aufzählung entneh-men: Zwei, drei und vier Frauen, dasmacht insgesamt neun Frauen, die er-

laubt sind. Und eine weitere Gruppeist der Ansicht: Das Prinzip ist Mono-gamie, nur in Ausnahmefällen ist eineMehrehe mit Witwen möglich.

MPF: Der Korantext lässt rechtlichalso sehr viel Spielraum? 

 Y ASSARI: Ja. Im Vers 129 steht außer-dem: „Und ihr werdet die Frauen, dieihr zur gleichen Zeit als Ehefrauenhabt, nicht wirklich gerecht behan-deln können, so nehmt euch nureine.“ Das lässt natürlich weitereLesarten zu: In Tunesien wurde diePolygamie abgeschafft, in Saudi-

 Arabien ist die zweite, dritte und vierte Ehe möglich, im Iran gibt essogar die Institution der Zeitehe, ei-ner befristeten Ehe.

MPF: Wie schwierig ist es für eine Frau, sich in islamischen Ländernscheiden zu lassen? 

 Y ASSARI: In den meisten islamischenLändern ist die Scheidung gesell-

schaftlich verpönt. Da es in denmeisten Ländern auch keinen nach-ehelichen Unterhalt gibt, kommt zur gesellschaftlichen Ächtung auch der 

 Wegfall der materiellen Versorgunghinzu. In einer solchen Situation istdie Institution der Polygamie sinn-

 voll, denn viele Frauen ziehen es vor,weiterhin verheiratet zu bleiben undsich mit etwaigen weiteren Ehefrauenabzufinden, als völlig allein und mit-tellos da zu stehen. Seit dem Fall der 

hen und überlegen: Wie können wir die informellen Entscheidungspro-zesse auch zu Gunsten der Frauenauslegen?

MPF: Wie sind die Juristen in Afghanistan ausgebildet?  Y ASSARI: Zum einen gibt es Scharia-Fakultäten, zum anderen Rechts-fakultäten. Die Scharia-Fakultätkommt nach unserem Verständniseher einer theologischen Fakultätgleich, weil der Lehrplan Fächer mitstarken moralisch-sittlichen Kom-ponenten enthält – etwa Vorlesun-gen über islamische Sitte und Moral,islamische Philosophie und Ethik.Die Rechtsfakultät setzt sich mit sol-chen Themen nicht auseinander. Es

gibt noch einige ältere Professoren,die schon zu Sowjetzeiten unterrich-teten, und dann die ganz jungen, diegerade ihr Universitätsstudium abge-schlossen haben. Was fehlt, ist der Mittelbau; während des Bürgerkriegssind viele Akademiker ums Lebengekommen oder ausgewandert.

MPF: Wie kann Deutschlandbeim Aufbau des Rechtsstaatshelfen? 

 Y ASSARI:  Wir sollten den Afghanennicht sagen, was das „richtige“Rechtssystem ist, sondern Ihnen be-hutsam einen Weg ebnen, damit sieihre Probleme formulieren und selbstanpacken können. Was wir – etwa imHochschulbereich – vermitteln kön-nen, ist eine Methodenlehre: Was be-deutet wissenschaftliches Arbeiten?

 Wie kann man Studenten in Semina-ren und Vorlesungen etwas vernünf-tig beibringen? Bisher besteht die ju-ristische Ausbildung im Wesentlichen

aus dem Herunterlesen von meisthandschriftlichen Manuskripten undThesen. Man müsste die Studentenzum kritischen Denken animierenund den Lehrplan modernisieren, daswären erste Schritte. Zu überlegenwäre auch, die Scharia- und dieRechtsfakultät zusammenzuführen.

MPF: Das religiöse Gesetz des Islamist für Europäer und Amerika-ner nur sehr schwer zu verste-

hen. Sie haben sich wissenschaftlichmit der Scharia auseinander gesetzt.Was zeichnet die Scharia aus? 

 Y ASSARI: Scharia bezeichnet wörtlich: Weg zur Quelle. Als Überbegriff be-zeichnet Scharia die Verhaltensweiseeines gläubigen Moslems, damit er zum Heil findet. Das klingt abstrakt,aber die Scharia ist eben kein Gesetz-buch wie das BGB, das nach Absät-zen und Paragrafen unterteilt ist.Rechtsquelle der Scharia sind der Ko-ran und die überlieferten Handlungs-weisen des Propheten – Verbote undGebote, die auf den Propheten Mo-hammad zurückgeführt werden. Ausdiesen primären Quellen haben dieislamischen Rechtsgelehrten Prinzipi-en abgeleitet, die wir heute als isla-

misches Recht bezeichnen. Die Viel-fältigkeit des Rechts kommt daher,dass unterschiedliche Interpreten ihreeigenen Rechtsschulen gegründet ha-ben: Allein im sunnitischen Islamexistieren vier Rechtsschulen, die re-gionale Schwerpunkte haben.

MPF: Wir machen es uns also zueinfach, wenn wir von einer über-wölbenden islamischen Rechts-tradition ausgehen? 

 Y ASSARI: Genau. Es gibt kein einheitli-ches islamisches Recht. Die Schariaist in die Gesetze einzelner islami-scher Staaten unterschiedlich intensiv eingeflossen. Die afghanischen, irani-schen, syrischen Zivilgesetzbücher 

PRIVATRECH

sind Kompilationen is-lamischer Vorschriftendiverser Rechtsschulenim europäischen Ge-wand, dem Kodex.

MPF: Wie hat dasTaliban-Regime die Scharia interpretiert? 

 Y ASSARI: Die Taliban hatten eine ganzeigene und eigenwillige Vorstellung,was der Islam bedeutet – und wiesich die gläubigen Muslime ihrer Meinung nach zu verhalten haben.Per Radioübertragung erließen sieein Gesetz, nach dem alle Männer ei-nen Bart zu tragen hätten, der min-destens eine Faust lang ist.

MPF: Das klingt nach totalerWillkür...

 Y ASSARI: ...was es in gewisser Weiseauch war. Die Taliban argumentier-ten zum Beispiel, dass schon der Prophet einen Bart getragen habe.Ob nun deshalb alle Männer Bärtetragen müssen, ist allerdings eineandere Frage. Im Koran steht auchgeschrieben, die Frauen (und dieMänner auch) sollen ihre guy ub be-decken. Da s arabische Wort gai b –Plural: guy ub – ist mehrdeutig: So is tes mit Brust, Busen, Höhle, Aushöh-lung und Tasche übersetzt worden.

MPF: Was bedeutet das für die Frau?  Y ASSARI: Die Taliban hatten eine ex-treme Interpretation: Sie haben denFrauen die Burka vorgeschrieben,weil sie die Augen, den Mund, dieNase und die Ohren als Körperöff-nungen betrachteten, die verhülltwerden müssten. Anderes Beispiel:Die Zerstörung der Buddha-Statuen

in Bamian wurde damit begründet,es sei verboten, heidnische Götter abzubilden. Aber es gibt auch anderePrinzipien im Islam wie das Tole-ranzgebot – nach dem Koran gibt eskeinen Zwang in der Religion.

MPF: Sehr unterschiedlich sind die Meinungen auch im Familienrecht.Wie viele Frauen darf ein Manndenn nach dem Koran nun haben? 

 Y ASSARI: Eine delikate Frage. In der 

Titel des afghanischen Postgesetzesaus dem Jahr 1937.

   F   O   T   O  :   I   N   S   T   I   T   U   T   I   N   T   E   R   N   A   T   I   O   N   A   L   P   O   U   R   L   `   U   N   I   F   I   C   A   T   I   O   N   D   U   D   R   O   I   T   P   R   I   V    É ,   R

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   F   O   T   O  :   C   H   R   I   S   T   I   A   N   M   A   Y   E   R

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MPF: Es gibt viele junge Iraner, die sich heute scheiden lassen. Woranliegt das? 

 Y ASSARI:  Viele Iraner heiraten sehr früh, weil sie nur so ungezwungenzusammen sein können. Meine Er-fahrung ist, dass die Richter in sol-chen Fällen nicht sehr streng urteilenund rasch in die Scheidung einwilli-gen – solange keine Kinder im Spielsind. Sonst werden Schiedsrichter bestellt, und die Richter schicken dieScheidungswilligen erst mal wieder nach Hause, damit die sich einigen.

MPF: Ihre Erfahrungen passen nicht ganz ins stereotype Bild eines Lan-des, in dem die Männer automatischimmer Recht behalten. Müssen wir 

unsere Vorstellungen revidieren?  Y ASSARI: Vielleicht gehen wir zu stark davon aus, dass die Frauenrechteunter dem Kopftuch völlig ver-schwinden. Die Realität ist aber, dassdie iranischen Frauen heute sehr ak-tiv um ihre Rechte kämpfen. Und siekönnen auch Erfolge vorweisen.

MPF: So wie die engagierte AnwältinSchirin Ebadi, die für viele Frauenein Vorbild ist. Haben Sie die Nobel-

 preisträgerin kennen gelernt?  Y ASSARI: Ja, ich hatte das Glück, ander Zeremonie in Oslo teilnehmenzu dürfen. Ebadi ist eine sehr leiseFrau. Mehrfach ist sie ja geradedafür kritisiert worden, dass sie sichnicht radikal gegen das islamischeRegime ausgesprochen habe. Ichfinde, man darf dabei nie vergessen,dass diese mutige Frau im Iranlebt – und nicht in Europa. WasEbadi mit unbequemer Beharrlich-keit fordert, ist genau das, woran es

in vielen Staaten der Region, in Af-ghanistan, in Syrien oder im Iran,fehlt: Rechtsstaatlichkeit. Sie will alsJuristin von innen heraus das Sys-tem und seine Regeln verändern auf leisem Wege, nicht indem sie Chaosund Umsturz predigt, sondern sichselbst an die strengen Vorgaben der Rechtsstaatlichkeit hält. Es ist nochein langer Weg, aber jeder noch sokleine Schritt ist ein Schritt vor-wärts.   INTERVIEW: CHRISTIAN MAYER

WIE AFGHANISTAN ZU SEINEM R ECHT KOMMT

Noch immer seien die Schwierigkeiten immens, die Afghanistan bewältigen müsse,um ein funktionierendes Rechtssystem zu errichten und zu erhalten. Reformen seienin allen Breichen vonnöten, doch nützten diese nichts, wenn die Durchsetzung desRechts und die Sicherheit der Bürger nicht gewährleistet seien. Davon könne imAugenblick nicht gesprochen werden.

Zu dieser – noch pessimistischen – Einschätzung kam der stellvertretende HöchsteRichter Afghanistans, Ahmad Mahnawi, im Februar. Er weilte als Teilnehmer derKonferenz „Die Verankerung der Scharia in der Verfassung Afghanistans und ihreAuswirkungen auf die Rechtsordnung" in Deutschland; eingeladen hatten Nadjma

 Yassari für das Hamburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationa-les Privatrecht sowie das in Heidelberg ansässige Max-Planck-Institut für ausländi-sches öffentliches Recht und Völkerrecht. Anlass war die Verabschiedung der afgha-nischen Verfassung am 26. Januar 2004. Die Konferenz war Teil eines umfassendenAusbildungsprojekts zum Wiederaufbau des afghanischen Justizwesens, mit dem dasAuswärtige Amt und der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) die Institu-te beauftragt hat. Das Projektteam wird ferner von einer Juristin des Max-Planck-Instituts für internationales und ausländisches Strafrecht in Freiburg ergänzt.

Bereits im Jahr 2003 hat die Gruppe ihre Arbeit aufgenommen und zunächst die ak-tuelle Lage in Kabul, Herat, Kundus und Kandahar erkundet sowie Kontakt zu Part-nerorganisationen aufgenommen. Das Projektteam hat dann ein internationales

Expertengremium zusammengestellt undengagiert sich nun in drei Bereichen: in derAusarbeitung und Einführung eines neuen

 Verwaltungsrechts sowie beim Aufbau einer Verwaltungshochschule, in der Ausbildungder breiten Richterschaft in den Prinzipiendes fairen Verfahrens und in der institutio-nellen Unterstützung beim Aufbau einesfunktionierenden Verfassungsgerichts.

Konferenzen begleiten den Prozess des Wie-deraufbaus. So fand im Mai 2003 ein Work-shop zur Ausbildung der Juristen und Imamein Afghanistan statt und organisierte dasHeidelberger Max-Planck-Institut im Januar2004 Seminare zu islamischem Recht und

 Verfassungsrecht in Kabul und Herat. Nadjma Yassari als Leiterin des Referats für das Recht islamischer Länder am HamburgerMax-Planck-Institut sprach über das islamische Familienrecht und welche Lehrenman auf diesem Gebiet aus dem Iran ziehen könne.

Kurz darauf besuchten 16 afghanische Hochschulprofessoren im Februar 2004 eineWinterschule zur Lehrplanrevision am Heidelberger Max-Planck-Institut. Darauf folgte der erste Teil der Konferenz zur Verankerung der Scharia in der VerfassungAfghanistans und deren Auswirkungen auf die Privatrechtsordnung; unter der Lei-tung von Direktor Rüdiger Wolfrum befasste man sich mit Verfassungsrecht, derJustizverwaltung und dem Regierungssystem. Der zweite Teil der Konferenz in Ham-burg stand im Zeichen von Familienrecht und Handelsrecht. Mehr als 50 Rechts-und Sozialwissenschaftler, Historiker und Ethnologen aus islamischen und westlichenLändern nahmen an der Konferenz teil, unter ihnen afghanische Richterinnen undRichter, Mitglieder der Verfassungs- und der Menschenrechtskommission sowie derafghanische Justizminister.

Nadjma Yassari will sich 2005 dem Familien- und Erbrecht in Afghanistan widmen.Für das Auswärtige Amt hat sie einen Projektvorschlag erarbeitet, der vorsieht,durch Feldarbeit verwertbare Informationen über die Rechtsrealität in Afghanistanzu erhalten und darauf aufbauend den Prozess der anstehenden Gesetzgebung zubegleiten. Familien- und Erbrecht sind in Yassaris Augen sehr schwierige und sen-sible Themen, da sie den Kern der Gesellschaft betreffen. „Die gesellschaftlichenStrukturen werden in der Familie aufgebaut und an die Gesellschaft weitergegeben.Ist die Familie patriarchalisch und ungerecht, so ist es auch die Gesellschaft. Herr-schen Angst und Gewalt in der Familie, so herrschen auch Angst und Gewalt in derGesellschaft", meint die Expertin. Dass in vielen islamischen Ländern Familien- undErbrecht als Teil der Religion verstanden würden, erleichtere eine Diskussion darübernicht eben gerade. SUSANNE BEER

PRIVATRECH

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die Räume an, laden Gäste ein –lassen dann aber die Afghanenmiteinander reden. Wir bieten alsoein Forum, bei dem zum Beispiel einDozent der Universität in Kabul sichmit einem Kollegen aus einer Pro-

 vinzstadt über ihre Fakultäten, ihreLehrpläne und aktuelle rechtlicheProbleme, wie die Diskriminierungder Frauen, austauschen kann. Esgeht um den innerafghanischen Dia-log, bei dem wir helfen. Einfach nur zu fordern: Werft eure Burkas weg,die sind nicht mehr zeitgemäß, wäresicher wenig hilfreich.

MPF: Welche Bedeutung hatdiese Verhüllung heute noch? 

 Y ASSARI: Die Burka ist seit etwa

80 Jahren verbreitet. Zunächst ließenafghanische Könige ihre Frauen ver-hüllen, was dann bald von der Ge-sellschaft imitiert wurde. Viele Af-ghaninnen, die aktiv im Berufslebenstehen, tragen heute ein Kopftuch.

 Aber man sieht auch viele Studentin-nen, die auf dem Weg zur Universitätdie Burka tragen: Auf dem Campus-Gelände legen sie diese dann ab undlaufen dort nur mit dem Kopftuchherum. Warum machen sie das? Weilsie ohne Burka auf der Straße nochimmer diskriminiert werden. Burkahin oder her: Viele Frauen wollen

 jetzt ihre Chancen nutzen.

MPF: Gibt es in Afghanistan schoneine „kritische Öffentlichkeit“? 

 Y ASSARI: In Ansätzen. Eine kritischePresse als vierte Gewalt gibt es in

 Afghanistan noch nicht. Man solltedie Menschen jetzt auch nicht mitunseren Vorstellungen überfordern.

 Wir dürfen nicht vergessen, dass die

Menschen dort fast 25 Jahre Krieghinter sich haben. Dass es funda-mentale Menschenrechte gibt, wieden Anspruch auf einen fairen Pro-zess oder das Recht auf gleiche Bil-dungschancen, müssen wir erst noch

 vermitteln. Unser Ansatz beim Fami-lienrecht ist es auch nicht, die vor-herrschenden Gewohnheiten wieZwangsehen oder Kinderehen ledig-lich zu verdammen. Wir untersuchenerst, wie häufig solche Ehen vorkom-

men und welche negativen Auswir-kungen sie für die Menschen haben.Dann müssen die Afghanen selbstentscheiden, wie weit sie ihre Gesell-schaft reformieren.

MPF: Sie haben den Iran bereistund kennen das Land gut.Wie würden Sie die rechtlicheSituation dort beschreiben? 

 Y ASSARI: Der Iran kann als einzigesLand in dieser Region eine einzigarti-ge Erfahrung vorweisen: Seit 25 Jah-ren ist er eine islamische Republik –mit allen Widersprüchen, die dieseBezeichnung beinhaltet. Dem An-spruch eine aus islamischer Sichtgerechte und moralische Politik zu

 verfolgen, konnten die jeweiligen Re-

gierungen nicht immer gerecht wer-den, denn in Konfliktfällen lassensich Politiker eher von der Staats-räson leiten als von hehren mora-lisch-religiösen Prinzipien. Das giltinsbesondere für den Iran, wo einstaatliches Organ, der Feststellungs-rat, die Beschlüsse des religiösen Gre-miums des Wächterrats aus Gründendes Staatsinteresses aushebeln kann.Daraus haben die Menschen im Irangelernt. Und sie zahlen einen hohenPreis dafür, dass sie sich gesellschaft-lich entwickeln müssen.

MPF: Gilt das auch für die Frauenim Iran? 

 Y ASSARI: Ja. Die Iraner haben heuteein viel höheres politisches Bewusst-sein als während des Schah-Regimes;die Menschen diskutieren auf denStraßen über Politik. Auch die Frau-en, die zum Teil über eine hohe Bil-dung verfügen. Eigentümlicherweisehaben Verschleierungsgebot und Ge-

schlechtersegregation dazu geführt,dass konservative Väter ihre Töchter auf die Schule schickten und ihnenerlaubten, Universitäten zu besuchen.Frauen arbeiten als Ärztinnen, als In-genieurinnen, als Lehrerinnen. Beialler berechtigten Kritik an der isla-mischen Regierung muss man zweiPunkte positiv hervorheben: Die Bil-dungspolitik und das Gesundheitswe-sen funktionieren im Iran weitge-hend. Gesellschaftlich ist der Iran

heute erheblich weiter als Afghanis-tan, da liegen Welten dazwischen.

MPF: Um das Rechtswesen im Iranbesser zu verstehen waren Sie amFamiliengericht in Teheran als Be-obachterin tätig – als bisher einzige 

 Juristin aus dem Westen. Welche Er- fahrungen haben Sie dort gemacht? 

 Y ASSARI: Das war für mich eine er-staunliche Erfahrung. Die Tür zumGerichtssaal ist für die Parteien im-mer offen – ständig kommen Men-schen in den Saal, während verhan-delt wird. Viele Prozessparteien tref-fen nicht oder verspätet ein, da wür-de ein deutscher Richter sofort ein

 Versäumnisurteil fällen. Überra-schend ist, wie viele Frauen ihreMänner verklagen, weil sie keineUnterhaltungszahlungen leisten. In

 vielen Fällen werden die iranischenMänner auf diese Weise gezwungen,ihre Familien zu versorgen.

MPF: Inwieweit gibt es im IranRechtssicherheit? 

 Y ASSARI: Die Richter müssen einHochschulstudium absolviert haben.Bei den Familienrichtern könnenauch Absolventen eines theologi-schen Seminars nach Bestehen der Richterprüfung in das Richteramtübernommen werden. Das Verhalten

der Parteien gegenüber den Richternist bisweilen unterschiedlich. Obwohlbeide nach dem iranischen Zivil-gesetzbuch urteilen, appellieren dieParteien bei einem theologisch aus-gebildeten Richter viel öfter an seinGerechtigkeitsgefühl, wenn sie mitdem Urteil unzufrieden sind, und

 verlangen, dass er nach dem KoranGerechtigkeit walten lassen solle.Manchmal zeigt dieser emotionale

 Appell auch Wirkung.

RSCHUNG & Gesellschaft 

Delegierte in der Loja Dschirga, der Großen Ratsvsammlung, bei ihrem Treffen am 16. Juni 2002.

   F   O   T   O  :   D   P   A

   F   O   T   O  :   C   H   R   I   S   T   I   A   N

   M   A   Y   E   R

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Entwicklung

und Schule

Wolfgang Schneider, Monika Knopf (Hrsg.),ENTWICKLUNG, LEHREN UND LERNEN,Zum Gedenken an Franz Emanuel Weinert,309 Seiten, Hogrefe-Verlag,Göttingen 2003, 34,95 Euro.

Mit dem Namen Franz Emanuel Weinert verbindet sich eine

Fülle von Gedanken; der langjährige Vizepräsident der Max-Planck-Ge-sellschaft war ein weit über Deutsch-land hinaus bekannter Psychologe,der sich Zeit seines Wissenschaftler-lebens vor allem mit der Entwick-lung der Persönlichkeit und mitdem beschäftigt hat, was in der 

Schule geschieht, was Lehrer tun undwie Schüler unter dem Einfluss sol-cher Bedingungen lernen und Kom-

petenzen aufbauen. Als der Gründungsdirektor des 1981entstandenen Max-Planck-Instituts für psychologischeForschung in München imJahr 2001 starb, hinterließ er eine große „Fangemeinde“

 von Mitarbeitern, Kollegenund Schülern. Ein Sympo-sium zum Gedenken an ihreneinstigen Lehrer – abgehalten

im Februar 2002 – erschien ihnen alsangemessenste Form, das wissen-schaftliche Lebenswerk von Franz

 Weinert zu würdigen.Das vorliegende Buch fasst die

Symposiumsbeiträge zusammen, gehtaber weit über eine bloße Retrospek-tive auf das Wirken des gemeinsa-men Lehrmeisters hinaus, von dem„so viele Impulse für neue Ideen,Konzepte, Theorien und Methoden

ihren Ausgang genommen haben“,wie Wolfgang Prinz im Vorwort zudem Buch meint; der Direktor amMax-Planck-Institut für psychologi-sche Forschung sieht es vielmehr als„Bilanz dessen, was aus diesem Start-kapital, das Franz Weinert seinenSchülerinnen und Schülern mitgege-ben hat, inzwischen geworden istoder was sie daraus gemacht haben“.

Das Buch ist in die Abschnitte„Entwicklung“ und „Lehren und Ler-

nen“ unterteilt und wirft in 13 Auf-sätzen Schlaglichter auf ebenso viele

 verschiedene Aspekte der Kernthe-men Entwicklungspsychologie undpädagogische Psychologie. Wie for-men sich kognitive Merkmale – etwaGedächtnis, Sprache und Denkendes Landes –, aber auch Bindung,Moral-, Verpflichtungs- und Verant-wortungsvorstellungen als die Per-sönlichkeit markierende Elemente?Der Kulturvergleich von Schulleis-tungen wird ebenso thematisiert wiedie Rolle von schulischer Motivation,

 Vorwissen, Begabung und Intelligenzbei der Ausprägung schulischer Fer-tigkeiten.

Den Aufsätzen voraus geht eineEinführung, in der die Herausgeber 

 versuchen, einen Überblick über dasForschungsprogramm von Franz

 Weinert zu geben; der Leser erfährtaußerdem, wann und wo die einzel-nen Autorinnen und Autoren mit

 Weinert in Kontakt gekommen und von ihm beeinflusst worden sind.Den Abschluss des Bandes bilden ei-ne Würdigung des Lebenswerks vonFranz Weinert durch den Erzie-hungswissenschaftler und KollegenHans-Joachim Kornadt und eineausführliche Liste Weinert’scher Ver-öffentlichungen.

Das Buch ist kein populärwissen-schaftliches Werk, sondern richtetsich in erster Linie an Leser mit denentsprechenden Fachkenntnissen,zum Beispiel an Psychologiestuden-ten, die sich einen Überblick ver-schaffen wollen. Man muss jedochkein Bewunderer Franz Weinertssein, um als fachfremder Laie nichtauch höchst Interessantes in demBuch zu entdecken. Wer selbst Kin-

der hat, die zur Schule gehen, oder aufgeschlossen ist zu erfahren, in-wieweit es eine die gesamte Lebens-spanne umfassende Kontinuität oder Diskontinuität der Entwicklung gibt,der findet in der anspruchsvollenLektüre etliche lohnenswerte Stellen.Gerade in Bezug auf Schule wirdman dann leider feststellen müssen,wie selten entwicklungspsychologi-sche Erkenntnisse dort umgesetztwerden. SUSANNE BEER

 Tour zu den

 Vorfahren

Anita Pomper, Rainer Redies undAndre Wais (Herausgeber), ARCHÄOLOGIEERLEBEN - Ausflüge zu Eiszeitjägern,Römerlagern und Slawenburgen,176 Seiten, 263 farbige Abbildungen,Theiss Verlag, Stuttgart 2004, 24,90 Euro.

Deutschland bietet einen rei-chen Schatz an archäologi-

schen Stätten. Von den Lagern der Eiszeitjäger über Römerbefestigun-gen bis hin zu den mittelalterlichenPfalzburgen sind aus nahezu jeder Epoche Zeugen der archäologischenGeschichte des Landes erhalten ge-blieben – einer insgesamt mehr als

14000 Jahre währenden Besiede-lungshistorie. Viele der Orte, an de-nen unsere Vorfahren gesiedelt oder 

 vorübergehend ihr Lager aufgeschla-gen haben, sindheute umfunktio-niert worden zu at-traktiven Schau-plätzen der Archäo-logie mit informa-tiven Museen. AnitaPomper, Rainer Re-dies und Andre

 Wais haben in ihrem Buch  Archäo-logie erleben 38 der spannendstenarchäologischen Ausflugsziele inDeutschland zusammengestellt. Da-bei haben sie sich vor allem auf die

 vielen Freilichtmuseen konzentriert,wie etwa auf das in Unteruhldingenam Bodensee. Seit mehr als 80 Jah-ren wird dort das Leben stein- undbronzezeitlicher Uferbewohner an-hand von knapp 90 Pfahlbau-Rekon-

struktionen den Besuchern näher ge-bracht. Die auf Pfählen im Wasser stehenden Bauten waren von 3917bis 3905 vor Christus besiedelt.

Im Jahr 1996 haben Mitarbeiter des Museums den damaligen Haus-bau experimentell nachvollzogen.Sie errichteten im Feuchtboden ausHolz, Gras und Lehm mit den Werk-zeugen der vorzeitlichen Uferbe-wohner ein Pfahlhaus, das mitRohrglanzgras gedeckt war wie vor 

U erschienen

4 / 2 0 0 4 M A X P L A N C K F O R S C H U N G   67

NEU erschien

knapp 6000 Jahren. Daraus gewan-nen die Experten spannende Er-kenntnisse, unter welchen Bedin-gungen damals der Hausbau abge-laufen sein musste. Die Pfahlbautenin Unteruhldingen zählen mittler-weile zu der am besten erforschtenUfersiedlung am Bodensee.

Neben den – vor allem für Famili-en – attraktiven Freilichtmuseen stel-len die Autoren aber auch wichtigeandere Stätten der Archäologie vor.So wird das Neanderthalmuseum inMettmann genauso ausführlich ge-würdigt wie das Wikinger-MuseumHaithabu in Schleswig. Haithabu war zur Wikingerzeit einer der bedeu-tendsten Siedlungsplätze Nordeuro-pas. Das Leben an diesem von Dänen,

Sachsen, Friesen und Slawen be-wohnten Ort trug bereits Merkmaleeiner mittelalterlichen Stadt. AuchStadtrundgänge durch Köln undMainz sowie durch Trier, der ältestenStadt Deutschlands, finden sich indem Kompendium. Wer sich einenkurzen, kompakten archäologischenÜberblick über diese an Geschichteüberaus reichen Städte verschaffenwill, ist bei den entsprechenden Kapi-teln gut aufgehoben.

Deutlich wird bei jeder der Be-schreibungen und der meist gutenIllustrationen zu den archäologi-schen Orten, dass das Wissen über das Leben unserer Vorfahren oftschon sehr detailreich ist. Man weiß,wie sich die Menschen angezogen,was sie gegessen oder wie sie sichgegen ihre Feinde zur Wehr gesetzthaben. Manchmal gehen die Kennt-nisse so weit, dass sich sogar Einzel-schicksale der frühen Bewohner Mit-teleuropas nachvollziehen lassen.

THORSTEN NAESER

Die Wurzeln

der Schrift

Hans J. Nissen, Peter Damerow, RobertK. Englund, INFORMATIONSVERARBEITUNG

 VOR 5000 JAHREN, 222 Seiten, Verlag Franzbecker, Hildesheim undBerlin 2004, 29,80 Euro.

Die drei Autoren beschreibennichts weniger als die Entste-

hung der Schrift aus dem Geist der Buchhaltung. Anhand von zahlrei-chen archaischen Texten, die in der Stadt Uruk südlich von Bagdad inden vergangenen rund 100 Jahrengefunden wurden, zeigen sie, wie ausdem bürokratischen Bedarf nach In-formationsspeicherung („Wer hat wie

 viel Getreide geliefert?“) die ersteSchrift der Weltgeschichte entstand.Später entwickelte sich daraus dieKeilschrift. Im Jahr 1988 konnte dasLand Berlin eine größere Sammlungdieser in Tontafeln eingeritzten Texteauf einer Auktion ersteigern.

Die Altorientalisten der FU Berlin,Hans Nissen und Robert Englund(heute Los Angeles), haben in eineminterdisziplinären Projekt zusammenmit dem Mathematiker und Mathe-matikhistoriker Peter Damerow (heu-te am Max-Planck-Institut für Wis-senschaftsgeschichte) die Tafeln be-arbeitet und 1990 im Berliner Muse-um für Vor- und Frühgeschichte ge-zeigt. Inzwischen ist die SammlungTeil der ständigen Ausstellung des

 Vorderasiatischen Museums in Berlin. Wegen des anhaltenden Interesses er-scheint die Begleitpublikation jetztaktualisiert in einer dritten Auflage.

Hans Nissen begann 1964 mit ei-ner Sammlung aller Tontafeln und

Fragmente aus Uruk, deren Zahl in

der Zwischenzeit auf fast 5000 ange-wachsen ist. Die Analyse der neuenTafeln wurde mithilfe der Max-Planck-Gesellschaft durch computer-gestützte Verfahren geleistet. Nur auf diese Weise ließen sich beispielswei-se die Zahlsysteme der archaischenTexte genauer untersuchen: Nach ei-ner Analyse der 6500 Stellen, an de-nen die 60 Zahlzeichen vorkamen,zeigte sich, dass sie nicht (wie wir das heute erwarten würden) einemZahlsystem angehören, sondern infünf verschiedenen organisiert sind.Je nachdem ob es um Feldflächen,diskrete Objekte wie Menschen oder Tiere oder Getreiderationen ging,wurden andere Zahlsysteme verwen-det. Mehrere davon funktionieren

nach dem Sexagesimalsystem, indemabwechselnd mit 6 und 10 multipli-ziert wird: Nach der 1 kommt die 10,dann 60, 600 und dann 3600.

Die Anwendung der Computer-technologie auf die Analy-se archaischer Keilschrift-tafeln in dem Berliner Pro-

 jekt wurde zum Ausgangs-punkt für die CuneiformDigital Library Initiative(CDLI) – ein internationalesProjekt, das die Bearbei-tung von Keilschrifttafeln mittels desInternets unterstützt. Zurzeit sind In-formationen über etwa 95000 Keil-schrifttafeln zugänglich gemacht(cdli.mpiwg-berlin. mpg.de und cd-li.ucla.edu). Der vorliegende Bandbietet eine interessante Einführungin die Thematik. Allerdings: Ein ein-gängiges Sachbuch ist er nicht; manmuss schon eine gehörige PortionInteresse an der Entstehung der Schrift mitbringen, um sich „durch-

zuarbeiten“. GOTTFRIED PLEHN

Bührke, Thomas, STERNSTUNDEN DER PHYSIK, Von Galilei bis Einstein, 4 Audio-CDs, Verlag C.H.Beck,München 2004, 29,95 Euro.

Edelmann, Gerard M., DAS LICHT DES GEISTES,Wie Bewusstsein entsteht, 190 Seiten, Walter Verlag,Düsseldorf 2004, 24, 90 Euro.

Dittmar-Ilgen, Hannelore, WIE DAS SALZ INS MEER-

WASSER KOMMT UND WARUM ES KEINE EISBLUMENMEHR GIBT, Noch mehr Physik für Neugierige, 215 Seitenmit 39 Abbildungen und 20 Tabellen, S.Hirzel Verlag,Stuttgart 2005, 19,80 Euro.

Weizsäcker, C.F. von (Hrsg. Holger Lyre), DER BEGRIFF-LICHE AUFBAU DER THEORETISCHEN PHYSIK, 287 Seiten,S.Hirzel Verlag, Stuttgart 2004, 22 Euro.

 Weitere Empfehlungen

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NANOTECHN

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Er registriert spannende Entwicklun-gen und lässt sich gern darauf ein.So geschehen, als er Doktorand ander Purdue University in Indiana(USA) war und sich dort mit der Her-stellung und spektroskopischen Cha-rakterisierung selbst organisierender Monoschichten beschäftigte. Dochdann kam Jean-Marie Lehn an dasInstitut, um einen Vortrag über su-pramolekulare Chemie zu halten.Schon vorher, als er dessen Über-sichtsartikel in der Zeitschrift A NGE-

 WANDTE CHEMIE gelesen hatte, war Dirk G. Kurth begeistert von der Weltder schwachen Wechselwirkungen,die der Chemienobelpreisträger von1987 ihm eröffnete.

Die Konzepte und Ideen, was sichalles mit Wasserstoffbrückenbindun-gen und ähnlichen zwischenmoleku-laren Kräften anfangen ließ, warenfesselnd. Als Kurth dann Lehns Vor-trag hörte, stand für ihn fest, dass er seine Postdoc-Zeit bei ihm verbrin-gen wollte. Also sprach er ihn anund landete im Juni 1994 schließlichin Straßburg. Knapp zwei Jahre ver-brachte er an der Université LouisPasteur – eine Zeit, die er als sehr fruchtbar und prägend beschreibt.„Hier herrschte eine einzigartige At-mosphäre. Alles war sehr internatio-nal ausgerichtet. Wir waren etwa 20Leute und innerhalb kurzer Zeit zu-sammengeschweißt.” Dirk G. Kurtherinnert sich gern an die anregendenGespräche mit seinen Kollegen. Auch

Jean-Marie Lehn kam regelmäßig indie Labore, war immer auf dem Lau-fenden und konnte zu jedem Ge-spräch – ob fachlich oder gesell-schaftlich – etwas beitragen. Wenn es um den intellektuellen

Gewinn geht, so Kurth, sei diese Zeitin Frankreich die bislang beste seiner Karriere gewesen. Auch wenn Albu-querque in New Mexico, wo er 1989/90 die ersten anderthalb Jahreseines USA-Aufenthalts verbrachte,

Für 40 Tage im Jahr taucht er in eine andere Kultur ein: DIRK G. KURTH vom

Potsdamer MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR KOLLOID- UND GRENZFLÄCHENFOR -

HUNG verbringt einen Teil seiner Arbeitszeit als jüngster und erster ausländischer 

Direktor am NATIONAL INSTITUTE FOR MATERIAL SCIENCE im japanischen

ukuba. Dort soll er die Abteilung für „supramolekulare Funktionsmaterialien” auf-

bauen – eine Herausforderung, die nicht nur wissenschaftliches Geschick verlangt.

scher aufmerksam geworden. Wa-rum, ist nicht schwer zu erraten. Zumeinen zeugen mehr als 70 Publikatio-nen von seiner wissenschaftlichenKreativität, zum anderen zeigen sei-ne bisherigen Auslandsaufenthaltein den USA und Frankreich, dass er überall in der Welt zu Hause ist undsich gerne auf Neues einlässt. Nachdem Besuch der japanischen Delega-tion in Potsdam war diese nichtnur von der fachlichen Qualifikationüberzeugt, sondern auch davon, dass

Kurth in ihrem Land gut zurecht-kommen wird. Seine freundliche

 Ausstrahlung, seine ruhige Art unddie Bereitschaft, anderen Traditionengegenüber offen zu sein, sind dafür die beste Garantie.

TRAUMHAFTES

ANGEBOT AUS  F ERNOST

„Dem Angebot aus Japan konnteich nicht widerstehen – einfach fan-tastisch“, sagt Kurth. Mit einem Etat

 von etwa zwei Millionen Euro wirder dort in den nächsten drei Jahrendie Abteilung für supramolekulareFunktionsmaterialien aufbauen. Dirk G. Kurth verbringt rund 40 Tage imJahr in Japan, um gemeinsam mitden NIMS-Forschern neue Ideenzu entwickeln und umzusetzen. Dieübrige Zeit arbeitet er am Heimatins-titut in Deutschland. Während der 

 Abwesenheit des Direktors führt inJapan ein Stellvertreter die Tagesge-schäfte und kommt auch regelmäßig

für Diskussionen, Planungen undwissenschaftliche Arbeiten nachPotsdam ans Max-Planck-Institut.

 Wahrscheinlich wird er selbst ir-gendwann in die Position eines Di-rektors hineinwachsen.

Bereits als Student stand für Kurthfest, dass er seine Diplomarbeit in

 Amerika schreiben wollte. Bei ge-nauerem Hinsehen fällt aber auf, dasser bei aller Planung auch immer of-fen für neue Herausforderungen ist.

Ich hoffe, ich kann einiges von der Freundlichkeit und Gelassenheit

nach Deutschland mitnehmen.”Dirk G. Kurth, Chemiker am Max-Planck-Institut für Kolloid- undGrenzflächenforschung in Potsdam,spricht von der Mentalität, die ihmin Japan täglich begegnet und dieihn sehr beeindruckt. Gerade ist er zurückgekehrt von seinem dritten

 Aufenthalt im Land des Lächelns.Selten falle ein lautes Wort, sagt er,

 von Aggressivität keine Spur. Diese

und andere Erfahrungen kann Kurthsammeln, weil er derzeit nicht nur inPotsdam zu Hause ist; er forschtauch am japanischen NIMS (NationalInstitute for Material Science) in der 

 Wissenschaftsstadt Tsukuba, nord-östlich von Tokio. Mit 40 Jahren ister der jüngste und vor allem der ers-te ausländische Direktor, der dorthinberufen wurde.

Dirk G. Kurth erzählt dies nichtohne Stolz, denn er weiß, was dasNIMS den Japanern bedeutet. „Manwill die Nummer eins in der Weltwerden. Vor drei Jahren hat daher eine große Umstrukturierung stattge-funden, mehrere Institute wurdenzusammengelegt. Mit dem daraushervorgegangenen NIMS will Japandie Spitzenstellung in den Material-wissenschaften erreichen”, be-schreibt Kurth die Situation. Und:„Wenn die Japaner einmal etwas auf die politische Agenda setzen, dannziehen sie dies konsequent durch.”

Die Japaner schauen weit in die Zu-kunft, identifizieren neue Schlüssel-technologien und Forschungs-schwerpunkte und schaffen die nöti-ge Infrastruktur für diese Aufgaben,erläutert Kurth die Strategie. Dazugehört auch, dass man sich interna-tional öffnen will. Man holt die bes-ten Wissenschaftler nach Japan undmit ihnen das Know-how.

Bei ihrer Suche sind die Japaner auf den deutschen Max-Planck-For-

Dirk G. KurthDirk G. KurthPERSON

   F   O   T   O   S  :   N   O   R   B   E   R   T   M   I   C   H   A   L   K   E    /   M   P   I   F    Ü   R   K   O   L   L   O   I   D  -   U   N   D   G   R   E   N   Z   F   L    Ä   C   H   E   N

   F   O   R   S   C   H   U   N   G

Die in der Gruppe von Dirk G. Kurth synthetisiertensupramolekularen Module ordnen sich als Nanostäbchenspontan auf einer Graphitoberfläche an.

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NANOTECHNPERSON

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bezüglich Lebensqualität und land-schaftlicher Reize ganz vorne liegt.„In Straßburg jedoch habe ich ganzneue Denkweisen kennen gelerntund übernommen. Ich habe entdeckt,wie man Moleküle designt, welcheKräfte und Wechselwirkungen mannutzen kann und dass es dabei im-mer darum geht, die Synthesen die-ser Moleküle möglichst einfach zugestalten.” All das nutzt Kurth, der sein Chemiestudium in Köln begann,um heute supramolekulare, sichselbst erzeugende Strukturen zu pro-duzieren. Als Leiter einer eigenen Arbeits-

gruppe am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschungist er längst zum Ideengeber gewor-den. Dass er dabei nicht mehr selbstim Labor steht, vermisst er heutenicht mehr. „Damals, als ich in Ame-rika viel mit Spektroskopie und an-deren optischen Methoden – also mitPhysik – zu tun hatte, habe ich die

chemische Laborarbeit vermisst.Doch in Straßburg konnte ichmich in der Synthesechemie nochmal richtig austoben.” Die Krea-tivität im Labor sei ein starkesErlebnis gewesen, sagt er. AlsGruppenleiter macht es ihm jetzt

 viel Spaß, mit seinen Studenten,Doktoranden und Postdocs zu dis-kutieren, neue Ideen zu entwickeln,diese zu koordinieren und umzuset-zen. Die Erfahrungen, die er selbst

im Labor gemacht hat, kommen ihmdabei zugute. Das gilt auch für die

 Vorlesungen, die er als Privatdozentan der Universität Potsdam hält.

FORSCHER SPIELEN

MOLEKULARES L EGO

 Wenn Kurth beschreiben soll, waser und seine Mitarbeiter, Kollegenund Kooperationspartner tun, dannbenutzt er den Begriff „molekularesLego”, denn: „Es ist, als würden wir kleine Bausteine zu größeren Struk-turen zusammenfügen. Doch dasBeste daran ist, dass die Moleküledies von allein tun. Wir designen dieMoleküle und gestalten die Wechsel-wirkungen so, dass sich die einzel-nen Bausteine von selbst zu komple-xen Architekturen organisieren.” Die

Chemiker müssen lediglich die ge-eigneten Moleküle auswählen unddie richtigen Bedingungen schaffen,wie zum Beispiel die Konzentratio-nen der einzelnen Bausteine wählen.

Der Wissenschaftler findet die für ihn optimalen Bedingungen seit 1996am Max-Planck-Institut für Kolloid-und Grenzflächenforschung in der 

 Abteilung von Helmuth Möhwald.Die Ideen des molekularen Legos, dieDirk G. Kurth aus Straßburg mit-brachte und in seinem Habilitations-konzept formulierte, haben den Phy-siker Möhwald davon überzeugt,einen Chemiker als Habilitant zubetreuen. Mit Chemie ein bisschenzaubern und mit physikalischen Me-thoden untersuchen, was dabei he-rauskommt – so in etwa könnte man

die nun schon acht Jahre währendeinterdisziplinäre Zusammenarbeit be-schreiben.

Im Zentrum der Funktionsmate-rialien, die Kurth herstellt, befindensich immer Metall-Ionen, die mit

 verschiedenen organischen Ligan-den Komplexverbindungen bilden.Erfolgreich ist sein Team zum Bei-spiel mit den so genannten Bister-peridinen. Diese Liganden wurden

 von dem britischen Chemiker EdwinConstable 1991/1992 zum erstenMal beschrieben. Dirk G. Kurth fandGefallen an diesen Liganden und be-gann erstmalig, damit makromole-kulare Funktionseinheiten aufzu-bauen. „Der Ligand ist neutral, dasMetall-Ion geladen, und daraus stel-len wir wasserlösliche Polyelektro-lyte her”, sagt Kurth. Diese Polyelek-trolyte können anschließend anGrenzflächen abgeschieden werden.Daraus assemblieren sich Monola-gen, Langmuir-Blodgett-Filme, Na-

nostrukturen, flüssigkristalline Pha-sen oder andere Architekturen, die

auch für nanotechnologische Anwendungen interessant sein

könnten. Die Max-Planck-Forscher  verfügen heute, zusammen mitihren Kooperationspartnern, über ein ganzes Repertoire an Metho-

tung sind, sondern dass sich auch Anwendungen ergeben könnten.”

Diese breite inhaltliche Fächerungist es, die Dirk G. Kurth begeistert.Und er kommt schnell ins Schwär-men, wenn er von der Arbeit er-zählt. Etwa, als kürzlich sein spani-scher Postdoc Jesús Pitarch Lópezetwas völlig Neues, Unerwartetesentdeckte, eine Art „molekulare Se-lektion”: Ein System aus zwei ver-schiedenen Liganden und einemMetall-Ion bildet in Lösung drei

 verschiedene Komplexverbindun-gen. Aus der Lösung kristallisiertaber nur eine Verbindung. „Aus der Mischung sortiert sich eine Speziesheraus”, erläutert Kurth, „so, alshätten wir die Moleküle instruiert,nur ein Produkt zu bilden, und noch

dazu ist es die interessanteste vonden drei Verbindungen.” In weiterenExperimenten ließen sich diese Mes-sungen zunächst aber nicht wieder-holen – auch das ist Alltag in der Forschung.

VOM HARTEN

ALLTAG IM  L ABOR

 Als Dirk G. Kurth im Jahr 1984 mitdem Chemiestudium in Köln begann,arbeitete er während der Semesterfe-rien als Werkstudent bei Bayer Le-

 verkusen und fand dabei Gefallen ander Technischen Chemie und der 

den, die den Aufbau solcher Struk-turen ermöglichen.

Da die einzelnen Bausteine nur durch schwache Wechselwirkungenzusammengehalten werden, zeigendie resultierenden Funktionsmateria-lien viel versprechende Eigenschaf-ten. So können sie auf äußere Reizeihre Struktur oder Funktion ändernund sich an die Umgebung anpassen.Damit eröffnen sich ganz neue Tech-nologien – Materialien, die zum Bei-spiel selbstheilend sein können. DasSpektrum an Möglichkeiten sei un-begrenzt, für jeden ist etwas dabei,sagt Kurth. Die Verwendung schwa-cher, zwischenmolekularer Wechsel-wirkung zum Aufbau von Funkti-onsmaterialien habe sich daher inden vergangenen Jahren zum Leit-

motiv in den Nanowissenschaftenund der Chemischen Materialfor-schung entwickelt.

Dirk G. Kurth ist damit gelungen,was er sich nach Promotion undPostdoc-Zeit vorgestellt hat: Die su-pramolekulare Chemie und die Mög-lichkeiten, die diese bietet, mit demzu verbinden, was er in Amerika beider Herstellung und Charakterisie-rung dünner Filme gelernt hat. „Diezahlreichen Strukturen, die mittelsschwacher Wechselwirkungen ent-stehen, bieten auch viele faszinieren-de physikalische Eigenschaften”, sosein Fazit. Zum Beispiel elektrochro-me, fotochrome oder magnetische Ei-genschaften – und ebenso findet mankatalytische und sensorische Funk-tionen. „Man kann zumindest sehen,dass die Strukturen nicht nur für dieGrundlagenforschung von Bedeu-

Idee, Laborsynthesen auf riesige An-lagen zu übertragen. Um Technische

Chemie studieren zu können, wech-selte er dann an die RWTH Aachen.Doch dort hat ihn die Faszinationder Grundlagenforschung in Banngezogen – und bis heute nicht losge-lassen. Seit mehr als einem Jahr ister nun schon habilitiert.

Dass in Japan ein Direktor fast wieein König behandelt wird, sei zwar gewöhnungsbedürftig, doch schmun-zelnd gibt er zu, dass er so viel Auf-merksamkeit auch ein wenig genießt.„Auch wenn ich jemand bin, der fla-che Hierarchien bevorzugt – so, wieman sie am Max-Planck-Institut fin-det”, sagt er. In Japan dagegen legteine differenzierte Hierarchie dasgeschäftliche Miteinander fest. Nie-mand setzt sich, bevor nicht der Di-rektor sitzt. Wenn er eine Veranstal-tung verlässt, gehen alle. Natürlich,sagt Kurth, freuen sich die japani-schen Kollegen, wenn man versucht,ihre Umgangsformen zu überneh-men. Aber dann zeige sich eben auch

diese Gelassenheit, wenn man nichtalle Feinheiten der japanischen Eti-kette kennt – schließlich ist Harmo-nie das oberste Ziel. Allerdings: „DieJapaner sind mit ihrer fein abgestuf-ten gesellschaftlichen Organisationüberaus erfolgreich”, so Kurth. EinGrund mehr also, sich dem Land undder Lebensweise zuzuwenden, umdas japanische Erfolgskonzept ver-stehen zu lernen und mit nach Hausezu bringen. INA HELMS

arbeiter und begeisterter Wissenschaftler: Dirk G. Kurth vom GolmerPlanck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung zusammen mit der

rtechnikerin Anne Heilig bei der Arbeit am Rasterkraft mikroskop.

Einfach und dennoch komplex: Das Zusammenspielanorganischer und organischer Moleküle, die sich spontazu hoch strukturierten Mesophasen mit interessantenmagnetischen Eigenschaften anordnen.

Die Funktionseinheit, ein Polyoxome-tallat-Cluster (links), bildet sich durchdie spontane Zusammenlagerung vonmolekularen Untereinheiten. Integriert ineinen dünnen Film zwischen zwei durch-sichtigen Elektroden entsteht ein Fenster,das durch Anlegen einer elektrischenSpannung die Farbe von Transparentnach Tiefblau wechseln kann (rechts).

Mittels Computerberech-nungen modellieren

die Wissenschaftler Molekülstrukturenwie diesen Polyoxometallat-Cluster.

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   F   O   T   O   S  :   N   O   R   B   E   R   T   M   I   C   H   A   L   K   E    /   M   P   I   F    Ü   R   K   O   L   L   O   I   D  -   U   N   D   G   R   E   N   Z   F   L    Ä   C   H   E   N   F   O   R   S   C   H   U   N   G

   G   R   A   F   I   K   E   N  :   M   P   I   F    Ü   R   K   O   L   L   O   I   D  -   U   N   D   G   R   E   N   Z   F   L    Ä   C   H   E   N   F   O   R   S   C   H   U   N   G

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ne – effektiv eingesetzt, kön-nen die Unterschiede zur Kon-fliktlösung beitragen.

Die wichtigsten Mechanis-men traditioneller Konflikt-lösung sind die sulh/musalaha -Traditionen, saadat  und  jirga ,die teilweise auf religiösenGrundsätzen fußen. Sulh/mu-salaha  und  jirga  basieren vorallem auf Gesellschaftsverhält-nissen, in denen die Ältestender jeweiligen Gemeinschaft imKonflikt vermitteln. Die ur-sprünglich beduinischen sulh-Traditionen sind stark ritua-lisiert und in arabischen Gesell-schaften weithin akzeptiert. Die

 jirga  in Afghanistan, Tadschi-kistan oder Pakistan hat eben-falls traditionelle Fundamente,während die Konfliktlösung

MAX PLANCK aktu

4 / 2 0 0 4 M A X P L A N C K F O R S C H U N G   73

Unterschiedliche Wahrneh-mungen und Lösungsmög-lichkeiten von Konflikten imMittleren Osten waren dasThema einer interdisziplinä-ren Sommerschule, zu der dasFreiburger Max-Planck-Insti-tut für ausländisches undinternationales Strafrechteingeladen hatte. Mehr als40 Experten aus 14 Länderndiskutierten im fränkischenKloster Banz. Unterstütztwurde die Veranstaltung vomDeutschen AkademischenAustauschdienst (DAAD) unddem Bundesministerium fürwirtschaftliche Zusammenar-beit und Entwicklung.

Zentrale Fragestellung war vorallem die Vielfalt traditionellerund moderner Konfliktlösun-gen, die im Nahen und Mittle-ren Osten zu großen Teilen pa-

rallel angewandt werden. DasProgramm des Kongressesschloss an ein gemeinsam mitder Bahçesehir-Universität inIstanbul veranstaltetes Exper-tenseminar vom Dezember2003 an. Die dort erarbeitetenZusammenhänge zeigten deut-lich den enormen Bedarf anwissenschaftlichem Dialog inder Region. Einen Lösungsan-satz bietet gerade die Kluftzwischen Tradition und Moder-

durch die saadat auf religiösenGrundsätzen beruht; saadat findet in den heiligen Stättender schiitischen Glaubensge-meinschaft Anwendung. Diesaadat – Nachkommen des Pro-pheten Mohammad – sind auf Grund ihrer religiösen Autoritätwichtige Vermittler in der Kon-fliktbeilegung.

In den besprochenen Regio-nen existieren verschiedene in-formelle Mechanismen häufigneben dem formellen Rechts-system. Sie dienen dem Zweckder Befriedung innerhalb derbetroffenen Gemeinschaftenund Gesellschaften, die das for-melle System nicht ohne weite-res erreicht. Die in Kloster Banzversammelten Fachleute erör-terten auch moderne westliche

KONFLIKTLÖSUNG IM MITTLEREN OSTEN

Zwischen Tradition und Moderne

   F   O   T   O   S  :   M   P   I   F    Ü   R   A   U   S   L    Ä   N   D   I   S   C   H   E   S   U   N   D   I   N   T   E   R   N   A   T   I   O   N   A   L   E   S   S   T   R   A   F   R   E   C   H   T    /   H   A   S   S   A   N   R   E   Z   A   E   I

Experten aus 1Ländern des Mleren und NahOstens sowie aDeutschland trfen sich zu eininterdisziplinäSommerschuleKloster Banz. Egeladen hatte Freiburger MaPlanck-Institufür ausländischund internatioles Strafrecht.

D E S I G N &

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Die Leitungspositionen fürdas Partnerinstitut wurden ininternationalen Fachzeitschrif-ten ausgeschrieben. Im Rahmeneines Symposiums im Dezemberin Shanghai wurden aus denBewerbern die Institutsleitervon einer bilateralen Experten-kommission, die den Grün-dungs- und Aufbauprozess desInstituts begleitet, ausgewählt.Max-Planck-Gesellschaft undChinesische Akademie der Wis-senschaften sehen in der Ein-richtung des Instituts sowohleine Stärkung ihrer eigenen For-schungsleistungen als auch eineIntensivierung ihrer bilateralenBeziehungen. Diese Initiativebietet deutschen und chinesi-schen Universitäten zusätzliche

Anknüpfungsmöglichkeiten fürdie Kooperation und den Aus-tausch von Wissenschaftlern.Nach dem für die beidenForschungsorganisationen zu-kunftsweisenden Auftakt lern-ten die chinesischen Gäste dienicht wissenschaftlichen SeitenDeutschlands kennen. So zähl-ten zum Besuchsprogramm der46 Mitglieder starken Delegati-on nicht nur alle drei DresdenerMax-Planck-Institute, sondernzum Beispiel auch das „GrüneGewölbe“ sowie ein Abstechernach München. ●

MAX PLANCK aktu

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tion. Die voraussichtlich ausdrei Abteilungen und mehrerenNachwuchsgruppen bestehen-de Einrichtung wird rechtlichund administrativ in die Shang-hai Institutes for BiologicalSciences integriert, gleichzeitig

 jedoch wesentliche strukturelle

Merkmale eines Max-Planck-Instituts aufweisen – gerade imHinblick auf die Sicherung wis-senschaftlicher Qualität. DieInstitutsleiter sollen zu Auswär-tigen Wissenschaftlichen Mit-gliedern der Max-Planck-Ge-sellschaft berufen werden; da-mit ist eine enge wissenschaft-liche Anbindung an deren ko-operierende Institute ebensogewährleistet wie an die Chine-sische Akademie der Wissen-schaften. Eine große Rolle sollauch die Nachwuchsausbildungspielen.

Die seit 30 Jahren bestehen-de Zusammenarbeit zwischender Chinesischen Akademieder Wissenschaften (CAS)und der Max-Planck-Gesell-schaft (MPG) wurde jetzt miteinem Abkommen über dieEinrichtung eines „MPG/CAS-Partner Institute for Compu-tational Biology" gekrönt.Unterzeichnet haben den Vertrag die Präsidenten derbeiden Forschungsorganisa-tionen, Lu Yongxiang undPeter Gruss, Anfang Novem-

ber im Rahmen einer Fest-veranstaltung in Berlin.

Errichtet wird das Partnerins-titut auf dem Campus derShanghai Institutes for Biologi-cal Sciences (SIBS), einem mul-ti- und interdisziplinären For-schungszentrum, das insbeson-dere im experimentellen Bereichder Lebenswissenschaften For-schungsleistungen bündelt undhohe Ansprüche an Qualitätund Originalität stellt. Auch sinddort mehrere Max-Planck-Part-nergruppen tätig. Weiterhin istin Shanghai auch das ShanghaiInstitute for Advanced Studiesangesiedelt; dessen Leitungliegt bei Uli Schwarz, emeritier-ter Direktor des Tübinger Max-Planck-Instituts für Entwick-lungsbiologie. In einem solchenUmfeld stellt ein theoretischausgerichtetes Institut einerseitseine wesentliche Bereicherungdar, andererseits profitiert dieses

selbst von der hervorragendenexperimentellen Umgebung. Inder fünfjährigen Aufbauphaseübernimmt die Chinesische Aka-demie der Wissenschaften zweiDrittel der erforderlichen Kos-ten, den Rest – insgesamt 2,5Millionen Euro – stellt das Bun-desministerium für Bildung undForschung aus der Projektförde-rung zur Verfügung.

Das neue Institut (siehe auchMAXPLANCKFORSCHUNG 2/2004,

AX PLANCK aktuell 

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Disziplinen der Lebenswissen-schaften, der Physik und der In-formatik wird es ermöglichen,komplexe biologische Systemebesser zu verstehen und system-biologische Ansätze mit Expe-rimenten zusammenzuführen.Durch die enge Nachbarschaft

zu den experimentellen biowis-senschaftlichen Instituten inShanghai einerseits und die en-ge Kooperation mit einer Reihevon Max-Planck-Instituten an-dererseits können die Forscherihre Modelle unmittelbar testenund bewerten. Die Max-Planck-Gesellschaft und die ChinesischeAkademie der Wissenschaftenbetreten mit dem Institut wis-senschaftliches Neuland.

Die Gründung des gemeinsa-men Instituts ist für beide Part-ner außerdem ein qualitativneuer Schritt in ihrer Koopera-

S. 4) soll besonders die experi-mentellen Aktivitäten der bei-den Partnerorganisationen imBereich der Molekularbiologiebereichern. Dazu wird es sichmit theoretischen Aspekten derBiowissenschaften („Computa-tional Biology") befassen. DieEntwicklung theoretischer Me-thoden und die Modellierungvon Systemen in der molekula-ren Biologie tragen wesentlichzum Verständnis experimentel-ler Befunde und zur Vorhersagevon Testergebnissen bei. Von

aktuellem Interesse ist dabeidie Nachbildung komplexer Vorgänge in molekularen Netz-werken und Zellsystemen mit-tels computergestützter Re-chenmethoden. Die Simulationkomplexer zellulärer Abläufeführt so zu einem tieferen Ver-ständnis von Prozessen inmenschlichen Organen undletztlich auch zur Entwicklungneuer Medikamente.

Die Informatik hat in Formder Bioinformatik in den Alltagder Molekularbiologie Einzuggehalten. Ohne Bioinformatikgäbe es keine Genomsequenzie-rung, und die modernen diag-nostischen Methoden, die auf DNA-Chip-Technologie basie-ren, wären undenkbar. Zudemerfassen die Wissenschaftlerheute auch große Mengen vonMesswerten über Zustände vonZellen und über die Beziehun-gen der einzelnen Biomoleküleuntereinander. Dies führte zu

einem Erstarken der Traditionder theoretischen und mathe-matischen Biologie; sie ver-sucht, biologische Prozesse mitformalen Methoden zu model-lieren. Anhand der vorhandenenund weiter zu bestimmendenDaten sollen die Modelle kali-briert, getestet und Schritt fürSchritt verfeinert werden.

Das Partnerinstitut soll inter-disziplinär arbeiten, denn nurdie Verbindung verschiedener

INSTITUT FÜR THEORETISCHE BIOLOGIE GEGRÜNDET

Fruchtbare

Partnerschaft mit China

Konzepte wie den Täter-Opfer-Ausgleich und das FamilyGroup Conferencing.

In der Abschlussdiskussioner Veranstaltung wurden Pro-

ektthemen ausgearbeitet, dieünftig im Rahmen eines ex-andierenden Netzwerks umge-etzt werden sollen. In dem

weiterführenden Dialog, der lo-ale, regionale und internatio-ale Ansätze zur Konfliktregu-erung zusammenführen soll,

wird das Freiburger Max-lanck-Institut eine zentraleolle spielen. Geplant ist, einemfassende, innovative For-chungsperspektive zu formu-eren; außerdem sollen die

Engagierte Diskus-sionen und regerMeinungsaus-tausch beherrsch-ten die Konferenz –hier MuhamadEbrahim Shams(links) von der

Qom Universityin Iran und HassanRezaei vom Max-Planck-Institutfür ausländischesund internatio-nales Strafrechtin Freiburg.

Wissenschaftler mittels einesmultidisziplinären Ansatzes dieraditionellen und formellenösungen von Konflikten untererücksichtigung des Straf-echts untersuchen.

Ziel der fortgeführten inter-ationalen und interdiszipli-ären Forschung ist es, sich ge-

meinsam mit Institutionen ausWissenschaft und Politik denHerausforderungen des 21.ahrhunderts zu stellen, denn:

Die Facetten und komplexenusammenhänge von Krisen-rävention in Übergangsgesell-chaften, Krieg und Terroris-

mus, sowie innergesellschaft-che Konflikte verlangen einerundlegende und praxisorien-tierte Forschung. ●

WeitereInformationen zur

ummer School 2004 unterttp:// www.iuscrim.mpg.de/ nfo/aktuell/confBamberg04.html

www

Das Abkommenüber ein Part-nerinstitut in

Shanghai besie-geln Lu Yongxi-

ang, Präsidentder Chinesischen

Akademie derWissenschaften,und sein deut-

scher AmtskollegePeter Gruss.

Zum Gruppen-bild posiertendie Mitgliederder chinesischeDelegation inBerlin gemeinsmit ihren deutschen Gastgeb

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Welchen Beitrag kann derRechtsrahmen für die Leis-tungskraft privater und be-trieblicher Versorgungssyste-me leisten? Dieser Fragestellte sich im September der65. Deutsche Juristentag, diemit mehr als 7000 Mitglie-dern größte Vereinigungdeutscher Juristen aus allenBerufssparten. Unter Leitungvon Wolfgang Schön (Max-Planck-Institut für GeistigesEigentum, Wettbewerbs- undSteuerrecht), Klaus J. Hopt

(Max-Planck-Institut fürausländisches und internatio-nales Privatrecht) und Berndvon Maydell (Max-Planck-In-stitut für ausländisches undinternationales Sozialrecht)diskutierten Ökonomen undJuristen, Wissenschaftler undUnternehmenspraktiker zweiTage in Bonn über Empfeh-lungen an den parlamentari-schen Gesetzgeber.

Die staatlichen Sozialsystemesind im Niedergang begriffen.Dieser Befund gilt als unum-stritten. Ebenso deutlich ist,dass der Bürger in Zukunft stär-ker als bisher Instrumente indi-vidueller Vorsorge nutzen muss.Die Bandbreite reicht von derInvestition in das Eigenheimüber Versicherungsverträge und

breiten Blickwinkel der Kapital-marktwissenschaft aufgenom-men werden muss, währendder Steuerrechtler Dieter Birk(Universität Münster) die fürdie Praxis zentrale Problematiksteuerlicher Förderungshebelvor dem Hintergrund neuer Re-formgesetzgebung ausdifferen-zierte.

Prägend für die Verhandlun-gen des Juristentages sind dieBeschlüsse, die in den „Abtei-lungen” als Vorlage an die Ge-setzgebung gefasst werden. Für

die „Altersvorsorge” kennzeich-nen drei Elemente das Ergebnisder Beratungen. Erstens: Wah-rung individueller Freiheit beider Kapitalanlage, aber Erweite-rung der Wahlmöglichkeiten(„opt-in-Systeme”). Zweitens:Liberalisierung für den Arbeit-geber – unter anderem Einfüh-rung der reinen Beitragszusageohne langfristige Haftung ge-genüber dem Arbeitnehmer.Und drittens: Eindämmung vonInformations- und Beratungs-pflichten der Arbeitgeber undkommerziellen Anbieter, wobeihier die Debatte besondersscharf war. Es ist zu erwarten,dass der Gesetzgeber bei denanstehenden Reformen die Be-schlüsse des Juristentages 2004mit besonderer Aufmerksamkeitzur Kenntnis nehmen wird. ●

MAX PLANCK aktu

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Wertpapierdepots bis zu unter-schiedlichen Formen betriebli-cher Altersvorsorge.

Doch hier beginnt ein weite-res Problem: Der allgemeineRückgang der wirtschaftlichenLeistungskraft unseres Landes,verbunden mit nachteiligen de-mografischen Entwicklungen,erschüttert auch diese „zweiteund dritte Säule” der Altersver-sorgung. Große Versicherer kür-zen ihre Überschussbeteiligun-gen oder stehen gar vor der In-solvenz, Unternehmen streichen

Pensionszusagen, Wertpapiereunterliegen heftigen Markt-schwankungen und „mündelsi-chere” Anlagen leiden unterdem niedrigen Zinsniveau.

Renommierte Gutachter ausWissenschaft (Heinz-DietrichSteinmeyer, Universität Müns-ter) und Praxis (Reinhold Höfer,Mülheim) hatten in breit an-gelegten Studien das Feld be-reitet, auf dem der ÖkonomAxel Börsch-Supan (UniversitätMannheim) es unternahm, rea-litätsgerechte Aussagen überdie künftigen Deckungslückenzu treffen. Der Wirtschafts-rechtler Johannes Köndgen(Universität Bonn) machtedeutlich, dass die klassische Al-tersvorsorge aus dem engen so-zial- und arbeitsrechtlichen Mi-lieu hinausgeführt und in den

Mit einem neuen Koopera-tions- und Finanzierungsver-trag werden die Max-Planck-Gesellschaft und der BereichHumanmedizin der Univer-sität Göttingen die Zukunftdes neurowissenschaftlichenNachwuchses im EuropeanNeuroscience InstituteGöttingen (ENI-G) sichern.Dahinter steht unter ande-rem die Absicht, mittelfristigForschungsaktivitäten zwi-schen Universitäten undMax-Planck-Gesellschaft im

beiderseitigen wissenschaft-lichen Interesse stärker zuvernetzen. Im ENI-G sindzurzeit zwei von der Max-Planck-Gesellschaft organi-satorisch getragene Nach-wuchsforschungsgruppentätig, zwei weitere sind demBereich Humanmedizin derUniversität Göttingen zuge-ordnet.

AX PLANCK aktuell 

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65. DEUTSCHER JURISTENTAG

Max-Planck-Forscher

im Großeinsatz

eine stabile, zu gleichen Teilenvon beiden Vertragspartnerngetragene „Basisfinanzierung”sichergestellt werden, die mitdarüber hinaus eingeworbenenDrittmitteln (insbesondere auchEU-Mittel) zu mehr Flexibilitätund bedürfnisorientierten Ar-beitsbedingungen der einzelnenGruppen führt.

Die wissenschaftlichen Arbei-ten der Gruppen im ENI-G wur-den im Jahr 2003 äußersterfolgreich evaluiert. Sie zeig-ten, dass die Zusammenführung

der Forschungskompetenz ausdem Bereich der beteiligtenMax-Planck-Institute für bio-physikalische Chemie und fürexperimentelle Medizin mit demklinischen Gesamtkonzept desBereichs Humanmedizin zur for-schungsorientierten Ausbildungvon jüngeren Wissenschaftlerin-nen und Wissenschaftlern vielversprechend ist.

Das ENI-G wurde im Jahr2000 auf gemeinsame Initiativedes Bereichs Humanmedizin undder Max-Planck-Gesellschaftvon Erwin Neher, Diethelm W.Richter und Walter Stühmer ge-gründet. Der Bereich Humanme-dizin stellt die Räumlichkeitenzur Verfügung und finanziert ei-ne Nachwuchsgruppe, die Max-Planck-Gesellschaft beteiligtsich an der Infrastruktur, denzentralen Kosten und finanziertdarüber hinaus zwei Nach-wuchsgruppen. Die Schering AGunterstützt eine weitere Nach-

wuchsgruppe.Das Konzept des Instituts ist

grundsätzlich neu und setzt auf die Förderung junger Forschersowie auf internationale Koope-ration. Bei der Auswahl derNachwuchsgruppenleiter wurdeauf eine ausgewogene europäi-sche und internationale Aus-richtung geachtet. Außerdemgreift das Konzept der GöttingerWissenschaftler die Forderungder EU nach einer Konzentrie-

rung der Neurowissenschaftenin Europäischen Exzellenzzen-tren auf und versteht die Grün-dung des European Neuroscien-ce Institute in Göttingen als„Keimzelle” eines europäischenNetzwerks – das im Januar 2004mit Instituten aus Alicante,Sevilla, Paris, Bordeaux, Straß-burg, London und Prag gegrün-det wurde.

Mentoren sichern die Einbin-dung der Nachwuchsgruppenin die Göttinger Forschungs-landschaft. Darüber hinaus

fungieren 41 assoziierte ENI-G-Mitglieder aus den neurobiolo-gisch arbeitenden Labors vonUniversität, den Max-Planck-Instituten und dem DeutschenPrimatenzentrum als potenziel-le Diskussions- und Kooperati-onspartner.

Im Jahr 2002 wurde in Göt-tingen mit dem Bau eines neuenGebäudes begonnen, das vo-raussichtlich ab September 2005auf insgesamt 6400 Quadratme-tern sechs unabhängige neuro-biologische Arbeitsgruppen be-herbergen wird. Außerdem sindim Forschungsgebäude Unter-richtsräume für den internatio-nalen Studiengang „Neuroscien-ces” vorgesehen. Das Institutwidmet sich der experimentellenForschung über Funktionen undKrankheiten des Nervensystems.Die vier Gruppen arbeiten ander Aufklärung der molekularenund zellulären Grundlagen vonHirnfunktionen und problemori-

entiert auch an der Ursachen-analyse von Störungen. Die Wis-senschaftler untersuchen damitdie Basis zur gezielten Behand-lung neurologischer und psy-chiatrischer Erkrankungen, wiezum Beispiel Alzheimer oderParkinson. Während sich zweiNachwuchsgruppen mehr derGrundlagenforschung widmen,beschäftigen sich die anderenbeiden direkt mit krankheitsbe-zogenen Themen. ●    F

   O   T   O  :   T   A   B   E   A   S   C   H   U   L   Z   E  -   K   A   S   C   H   E

Eine wichtige Rolle spieltenMax-Planck-Rechtswissen-schaftler auf dem 65. Deut-

schen Juristentag in Bonn.Die Institutsdirektoren Berndvon Maydell, Wolfgang Schönund Klaus J. Hopt (von links)leiteten die Abteilung „Alters-vorsorge”, während BarbaraBludau, Generalsekretärin derMax-Planck-Gesellschaft, inder Abteilung „ÖffentlichesRecht” erfolgreich für dieBeibehaltung der Gemein-schaftsaufgabe Forschungs-förderung in Artikel 91bGrundgesetz stritt.

EUROPEAN NEUROSCIENCE INSTITUTE IN GÖTTINGEN

Keimzelle eines

internationalen Netzwerks

den neuenag zumpean Neuro-ce Institutengen (ENI-G)n sich (von: Erwinr, Vorstands-ied desG, Peter

Mit dem neuen Vertrag sollenvom Jahr 2005 an die beiden

Max-Planck-Gruppen aus derorganisatorischen Zuordnungund Verwaltung durch das Max-Planck-Institut für biophysikali-sche Chemie vollständig heraus-gelöst und personell, admini-strativ und finanziell mit denexistierenden Gruppen des Be-reichs Humanmedizin vereinigtund in das ENI-G überführt wer-den. Das ENI-G ist eine eigen-ständige medizinische Organisa-tionseinheit. Auf diese Weise soll

, PräsidentMax-Planck-

lschaft,

gang Brücker Univer-Göttingen,S. Wouters,wuchsgrup-iter am

G, und Klauser, Univer-Göttingen.

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3 / 2 0 0 4 M A X P L A N C K F O R S C H U N G   79

STANDo

Erlangen

Göttingen

Jena

Leipzig

Heidelberg

Freiburg

Tübingen

Marburg

Dortmund

Köln

Halle

Münster

Hamburg

Bremen

Hannover

Düsseldorf 

Magdeburg

Dresden

Saarbrücken

Stuttgart

Mainz

München

Berlin

Rostock

Frankfurt

GreifswaldPlön

Golm

Katlenburg-Lindau

Mülheim

Bonn

Bad MünstereifelSchlitz

Bad Nauheim

Garching

MartinsriedSeewiesen

AndechsRadolfzell

BAYERN

HESSEN

MECKLENBURG- VORPOMMERN

NIEDERSACHSEN

NORDRHEIN-WESTFALEN

RHEINLAND-PFALZ

SAARLAND

BRANDENBURG

SACHSEN

SCHLESWIG-HOLSTEIN

THÜRINGEN

BADEN-WÜRTTEMBERG

SACHSEN-ANHALT

NIEDERLANDE

● NimwegenITALIEN

● Rom● FlorenzSPANIEN

● AlmeriaFRANKREICH

● GrenobleBRASILIEN

● Manaus

Forschungseinrichtungen der 

Max-Planck-Gesellschaft 

● Institut/ 

Forschungsstelle● Teilinstitut/ Außenstelle❍ SonstigeForschungs-einrichtungen

MAXPLANCKFORSCHUNG wird herausgegeben vom Referatfür Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.

 Vereinsrechtlicher Sitz: Berlin.ISSN 1616-4172

Redaktionsanschrift:Hofgartenstraße 8, 80539 MünchenTel.: 089 2108-1232 • Fax: 089 2108-1405E-Mail: [email protected] Heft als PDF: www.magazin-dt.mpg.de

 Verantwortlich für den Inhalt:Dr. Bernd Wirsing (-1276)

MAXPLANCKFORSCHUNG will Mitarbeiter und Freunde der Max-Planck-Gesell-schaft aktuell informieren. Das Heft erscheint in deutscher und englischerSprache (MAXPLANCKRESEARCH) jeweils mit vier Ausgaben pro Jahr.Die Auflage der MAXPLANCKFORSCHUNG beträgt zurzeit 36000 Exemplare(MAXPLANCKRESEARCH: 8000 Exemplare).Der Bezug des Wissenschaftsmagazins ist kostenlos.MAXPLANCKFORSCHUNG wird auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.Nachdruck der Texte unter Quellenangabe gestattet. Bildrechte können nachRücksprache mit der Redaktion erteilt werden.Alle in MAXPLANCKFORSCHUNG vertretenen Auffassungen und Meinungenkönnen nicht als offizielle Stellungnahme der Max-Planck-Gesellschaft undihrer Organe interpretiert werden.

Die Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften unterhält78 Forschungsinstitute, in denen rund 12 200 Mitarbeiter tätig sind, davonetwa 4200 Wissenschaftler. Hinzu kamen im Jahr 2003 rund 9600 StipendiatenGastwissenschaftler und Doktoranden. Der Jahresetat 2004 umfasst insge-samt 1325 M illionen Euro. Die Forschungsaktivität erstreckt sich überwiegendauf Grundlagenforschung in den Natur- und Geisteswissenschaften.Die Max-Planck-Gesellschaft sieht ihre Aufgabe vor allem darin, Schrittmacherder Forschung zu sein.Die Max-Planck-Gesellschaftist eine gemeinnützige Organisation desprivaten Rechts in der Form eines eingetragenen Vereins. Ihr zentralesEntscheidungsgremium ist der Senat, in dem eine gleichwertige Partnerschaftvon Staat, Wissenschaft und sachverständiger Öffentlichkeit besteht.

Leitender Redakteur: Helmut Hornung (-1404)

Biologie, Medizin: Dr. Christina Beck (-1306)

Chemie, Physik, Technik: Helmut Hornung (-1404)

Geisteswissenschaften: Susanne Beer (-1342)

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AX PLANCK aktuell 

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     I    n     f    o    t     h    e     kMIT DEM BUNDESKANZLER in Indien: Max-

Planck-Präsident Peter Gruss war Gast einerDelegation um Gerhard Schröder, die zum Auf-takt einer Asienreise Anfang Oktober zunächstIndien besuchte. Mit im Gepäck: ein „Memo-randum of Understanding“ über die künftigewissenschaftliche Zusammenarbeit beider Län-der. Peter Gruss und V. S. Ramamurthy, Staats-sekretär des indischen Department of Scienceund Technology, unterzeichneten es am 6. Ok-tober in Neu-Delhi im Beisein von KanzlerSchröder, Bundesforschungsministerin EdelgardBulmahn und dem indischen Minister für Wis-senschaft und Technologie, Kapil Sibal. BeimBesuch in Indien wurde außerdem der „ScienceCircle“ eröffnet – alle ein bis zwei Monatetreffen sich Forscher in Neu Delhi, um sichüber aktuelle Wissenschaftsfelder zu informie-ren und die deutsch-indischen Wissenschafts-beziehungen zu vertiefen. Die Gespräche kön-nen im virtuellen Pendant gleichen Namens

(www.science-circle.org) fortgesetzt werden.Das ermöglicht Studierenden und Wissen-schaftlern beider Länder, ihre Kontakte zu pfle-gen. Die Max-Planck-Gesellschaft plant imRahmen ihrer Internationalisierungsstrategieeinen weiteren Ausbau der ohnehin guten Be-ziehungen zu Indien. So sollen vier Partner-gruppen an indischen Forschungseinrichtungen

entstehen. Als deren Lei-ter sind indische Wis-senschaftler vorgesehen,die einst als Gäste andeutschen Max-Planck-Instituten arbeitetenund nun in enger Wech-selwirkung mit ihrenehemaligen Gastgebernihre Forschungstätigkeitfortsetzen. Darüber hi-

naus wird der Aufenthalt von sechs indischenPostdocs an Max-Planck-Instituten gefördert –die Zahl dieser „Max Planck India Fellows“ sollbis 2007 auf jährlich 60 erhöht werden.

BUENOS DÍAS – diesen Gruß wird man imMax-Planck-Institut für Geschichte künftig öf-ter hören, denn seit Anfang Oktober unterhält

man dort enge Beziehungen zur größten der17 Regionen in Spanien, der Region Kastilienund León. Die Unterschrift unter eine Koopera-tionsvereinbarung zwischen dem Rat der auto-nomen Region, der Junta de Castilla y Leónund dem Max-Planck-Institut soll zu einerständigen Repräsentanz spanischer Historikerführen, wie sie bereits mit der ebenfalls im Ins-titut ansässigen Mission Historique Française,der Polnischen Historischen Mission und demBritish Centre for Historical Research in Ger-many verwirklicht sind und die das Institut

zu einer in Deutschland einmaligen Stätteinternationaler Zusammenarbeit machen. Zurfeierlichen Vertragsunterzeichnung reisten derMinister für Erziehung und Wissenschaft derRegion, Javier Álvarez Guisasola, der im Minis-terium für Universitäten und Forschung zu-ständige Generaldirektor, Juan José Mateos,sowie der Präsident der Universität von León,Angel Penas Merino, an. Sie wurden von denkürzlich emeritierten Direktoren Hartmut Leh-mann und Otto Gerhard Oexle empfangen, diedie Beziehungen nach Spanien geknüpft hat-ten. Seine Arbeit in der Representación Histó-rica Española en Alemania bereits aufgenom-men hat der Historiker Salvador Rus Rufino(León); er hat für das Wintersemester eine

 Vortragsreihe zur spanischen Geschichte zu-sammengestellt, zu der deutsche Kollegen ausder ganzen Bundesrepublik eingeladen sind.Die Reihe soll der besseren Verknüpfung derSpanien-Historiker in Deutschland dienen.

AUS EINS MACH VIER: Das RechenzentrumGarching der Max-Planck-Gesellschaft, dasForschungszentrum Jülich, das Institut duDéveloppement et des Ressources en Informa-tique Scientifique des französischen CentreNational de la Recherche Scientifique (CNRS)und das italienische Consorzio Interuniversita-rio per la gestione del Centro di Calcolo Elle-tronico dell’Italia Nordorientale haben ihre je-weiligen Höchstleistungsrechner miteinandervernetzt und so die erste Stufe eines virtuellenSupercomputers geschaffen. Das auf dieseWeise entstandene System besteht aus mehrals 4000 Prozessoren und riesigen Speicherka-pazitäten und hat eine Gesamtrechenleistungvon mehr als 22 Teraflops. Insgesamt habensich acht europäische Rechenzentren ausFinnland, Großbritannien, den Niederlanden,Deutschland, Spanien und Italien zusammen-geschlossen, um in dem DEISA (DistributedEuropean Infrastructure for SupercomputingApplications) betitelten Projekt langfristig wei-tere nationale Rechenplattformen zu verbin-den. Ziel ist es, neue Forschungsergebnisse ineinem breiten Themenspektrum von Wissen-schaft und Technologie durch den Betrieb einer

verteilten Höchstleistungs-Rechenumgebungzu ermöglichen. Damit die gemeinsame Infra-struktur mehr als die Summe der Rechenlei-stung ist, wird an einer Strategie für einen ko-ordinierten Betrieb gearbeitet, der die Persis-tenz und Portabilität wissenschaftlicher An-wendungen gewährleistet. DEISA kann mit sei-nem Verbund, aber auch mit innovativer Sys-tem- und Netz-Software helfen, bestehendeKapazitäten besser zu nutzen. DEISA wird fürfünf Jahre durch das 6. Forschungsrahmenpro-gramm der EU-Kommission gefördert. ●

Unter „Aufsicht“n Bundeskanzlererhard Schröderd dem indischenster für Wissen-aft und Techno-gie, Kapil Sibal,rzeichnen Peters, Präsident der

-Planck-Gesell-schaft, und der

aatssekretär desdischen Depart-t of Science andTechnology, V.S.amamurthy, ein

Memorandum of erstanding“ zurnftigen Zusam-

menarbeit.

   F   O   T   O  :   K   A   P   O   O   R   P   H   O   T   O   G   R   A   P   H   E   R   S ,   N   E   W  -   D   E   L   H   I

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BLICK punkt 

Wie kosmische Kanonenkugeln schießen manche Neutronensterne mit Geschwindigkeiten von mehrals 1000 Kilometern pro Sekunde durchs All. Die Objekte entstehen, wenn ein Stern mit mehr als der zehnfachen Sonnen-masse sein Leben aushaucht. Während bei einer solchen Supernova das meiste Gas in den Raum geschleudert wird, bricht deretwa 1000 Kilometer große Kern im Sternzentrum unter seiner eigenen Schwerkraft in sich zusammen und bildet den 20Kilometer großen Neutronenstern. Diese Explosionen bergen auch den Schlüssel zu den erwähnten „astronomisch“ hohenGeschwindigkeiten – ein Phänomen, über das die Wissenschaftler schon seit langem rätseln. Am Computer haben Forscherdes Max-Planck-Instituts für Astrophysik in Garching den Tod einer gewichtigen Sonne simuliert und herausgefunden, dassbei der Explosion kleine, zufällige Störungen im Stern durch Strömungsinstabilitäten rasch anwachsen und sich zu extrem

großen Abweichungen von der Kugelgestalt aufschaukeln (Fotos). Daher breiten sich Explosionswelle und ausgeschleuderteMaterie in verschiedenen Richtungen unterschiedlich schnell aus. Ergebnis: Der Neutronenstern erhält einen starkenRückstoß und wird so innerhalb von Sekunden auf das beobachtete Tempo beschleunigt. Warum aber explodiert der Sternüberhaupt? Die Simulationen stützen die Theorie, dass Neutrinos eine wichtige Rolle spielen. Die schwach wechselwirkendenTeilchen verlassen den Neutronenstern im Inneren der Riesensonne in großer Zahl und geben Energie an das stellare Gas ab –ein Prozess, der Plasma aufheizt und jenen Druck erzeugt, der die Explosion antreibt.   FOTOS: MPI FÜR ASTROPHYSIK