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1 Naturwissenschaft und Gott. Teil 2: Unser Erkenntnis-, Wissens- und Vorstellungsvermögen. *) Univ.-Prof. Dr. Josef Tomiska *) Vortrag gehalten beim Dritten Konrad-Deubler-Symposium „Von der göttlichen Schöpfung zur Gentechnologie“ (Bad Goisern, Juni 1999). Erstaunlicherweise können wir im doch so ausgezeichneten Philosophielexikon von Rowohlt zwar nicht nachlesen, was allgemein unter „Wissenschaft“ zu verstehen sei, finden aber die Definition der „Naturwissenschaft“: „Bezeichnung für die empirischen Wissenschaften, die die Natur und deren Bewegungsgesetze erforschen. Zu den Naturwissenschaften zählen u.a. Astronomie, Physik, Chemie, Biologie, ... . Die sogenannten exakten Naturwissenschaf- ten bedienen sich mathematischer Methoden und eines mathematischen Begriffsapparats in der Entwicklung und Formulierung von Theorien und Gesetzmäßigkeiten.“ Jetzt müssen wir nur noch klären, was wir unter „Natur“, „Wissenschaft“, „Bewegungsgesetze“, „erforschen“, etc. zu verstehen haben. Das Konversationslexikon von Brockhaus gibt uns Auskunft, daß Wissenschaft der Inbegriff ist des durch Forschung, Lehre und überlieferter Literatur gebil- deten, geordneten und begründeten, für gesichert erachteten Wissens einer Zeit; auch die für seinen Erwerb typische methodisch-systematische Forschungs- und Erkenntnisarbeit sowie ihr organisatorisch-institutioneller Rahmen“. Unter „Forschung“ haben wir dabei „die Gesamtheit der methodisch-systematischen, schöpferisch-geistigen Bemühungen im Rah- men der Wissenschaft zu verstehen, die zur Gewinnung neuer, allgemein nachprüfbarer Erkenntnisse unternommen werden“. Wenngleich auch diese Formulierungen ein wenig nach Zirkeldefinitionen klingen, so ist doch die Forderung nach allgemeiner Nachprüfbarkeit deutlich akzentuiert. Damit wird das, was wir unter „Wissenschaft“ verstehen, grundsätzlich von der Spekulation unterschieden, wenngleich auch jede „Wissenschaft“ zu jeder Zeit Ord- nungsprinzipien braucht, die aus gewohnten Denkmuster und/oder Wunschvorstellungen stammen und daher Glaubensangelegenheiten darstellen. Naturwissenschaft. In der Physik beschäftigen wir uns mit dem Aufbau und Werden unserer Welt. Aber anders als in Philosophie und Religion, versuchen wir in der Naturwissenschaft, Erklärungen zu finden für die Ereignisse und Erlebnisse ohne auf Geister, Dämonen oder Götter zurückgreifen zu müssen. Dabei bleibt die Frage absichtlich und vorsätzlich ausgeklammert, ob es solche „höheren“ Mächte, gibt oder geben könnte. Die Wissenschaft der Physik interessiert sich also einzig dafür, inwieweit wir Menschen Zusam- menhänge herstellen können zwischen den verschiedenen Eindrücken, die wir in unserer

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Naturwissenschaft und Gott. Teil 2: Unser Erkenntnis-, Wissens- und Vorstellungsvermögen.*)

Univ.-Prof. Dr. Josef Tomiska

*) Vortrag gehalten beim Dritten Konrad-Deubler-Symposium „Von der göttlichen Schöpfung

zur Gentechnologie“ (Bad Goisern, Juni 1999).

Erstaunlicherweise können wir im doch so ausgezeichneten Philosophielexikon von Rowohlt

zwar nicht nachlesen, was allgemein unter „Wissenschaft“ zu verstehen sei, finden aber die

Definition der „Naturwissenschaft“: „Bezeichnung für die empirischen Wissenschaften, die

die Natur und deren Bewegungsgesetze erforschen. Zu den Naturwissenschaften zählen

u.a. Astronomie, Physik, Chemie, Biologie, ... . Die sogenannten exakten Naturwissenschaf-

ten bedienen sich mathematischer Methoden und eines mathematischen Begriffsapparats in

der Entwicklung und Formulierung von Theorien und Gesetzmäßigkeiten.“ Jetzt müssen wir

nur noch klären, was wir unter „Natur“, „Wissenschaft“, „Bewegungsgesetze“, „erforschen“,

etc. zu verstehen haben. Das Konversationslexikon von Brockhaus gibt uns Auskunft, daß

„Wissenschaft der Inbegriff ist des durch Forschung, Lehre und überlieferter Literatur gebil-

deten, geordneten und begründeten, für gesichert erachteten Wissens einer Zeit; auch die

für seinen Erwerb typische methodisch-systematische Forschungs- und Erkenntnisarbeit

sowie ihr organisatorisch-institutioneller Rahmen“. Unter „Forschung“ haben wir dabei „die

Gesamtheit der methodisch-systematischen, schöpferisch-geistigen Bemühungen im Rah-

men der Wissenschaft zu verstehen, die zur Gewinnung neuer, allgemein nachprüfbarer

Erkenntnisse unternommen werden“. Wenngleich auch diese Formulierungen ein wenig

nach Zirkeldefinitionen klingen, so ist doch die Forderung nach allgemeiner Nachprüfbarkeit

deutlich akzentuiert. Damit wird das, was wir unter „Wissenschaft“ verstehen, grundsätzlich

von der Spekulation unterschieden, wenngleich auch jede „Wissenschaft“ zu jeder Zeit Ord-

nungsprinzipien braucht, die aus gewohnten Denkmuster und/oder Wunschvorstellungen

stammen und daher Glaubensangelegenheiten darstellen.

Naturwissenschaft. In der Physik beschäftigen wir uns mit dem Aufbau und Werden

unserer Welt. Aber anders als in Philosophie und Religion, versuchen wir in der

Naturwissenschaft, Erklärungen zu finden für die Ereignisse und Erlebnisse ohne auf

Geister, Dämonen oder Götter zurückgreifen zu müssen. Dabei bleibt die Frage absichtlich

und vorsätzlich ausgeklammert, ob es solche „höheren“ Mächte, gibt oder geben könnte. Die

Wissenschaft der Physik interessiert sich also einzig dafür, inwieweit wir Menschen Zusam-

menhänge herstellen können zwischen den verschiedenen Eindrücken, die wir in unserer

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Welt erleben - und zwar ausschließlich aufgrund von weltlichen Gesetzmäßigkeiten. Von

Philosophie und Religion wurde die Physik dadurch abgekoppelt, daß wir Begriffe wie

Geister, Gott und Seele absichtlich und ausnahmslos aus ihrem Wortschatz ausgeschlossen

haben. Das bedeutet keineswegs, daß die Menschen, die sich berufsmäßig mit

Naturwissenschaft beschäftigen, weder philosophische Vorlieben haben noch religiös sein

dürfen. Im Gegenteil! Die Geschichte unserer Naturwissenschaft zeigt, daß sich die

überwältigende Mehrheit auch der erfolgreichsten Physiker immer sehr stark mit philo-

sophischen Fragen beschäftigt haben und eine Reihe von ihnen auch religiös waren und

sind.

Die Einschränkung bedeutet nur, daß wir in der Physik für Erklärungen, warum Erscheinun-

gen in der Natur so und nicht anders beobachtet werden, sämtliche Begründungen der Art:

„Das ist Gottes Wille“ oder „Das ist die Macht der Geister“ ausschließen. Die grundlegenden

Fragen nach Herkunft der physikalischen Gesetzmäßigkeiten und nach dem „Warum“ der

Existenz der Natur als Ganzes werden damit ebenfalls aus dem Arbeitsgebiet der Naturwis-

senschaft ausgeschlossen. Diese Fragen gehören nach dem Arbeitsverständnis der Physik

zu den Gebieten der Philosophie und Religion. Jeder, der diese Grundfragen mit Hilfe des

„Zufalls“ oder durch die „Materie“ erklären möchte, steht damit genauso im Einklang mit der

Naturwissenschaft wie jene, die den Urgrund unserer Welt im Willen eines Gottes sehen.

Konsequenterweise wäre bei letzteren auch jedes Fallen eines Steines und jeder

Sonnenstrahl von diesem Gott gewollt. Aber nicht im Sinne eines aktiven Eingreifens für den

konkreten Fall sondern aufgrund der Funktionsprinzipien der Natur. Und von diesen

möglichst viele herauszufinden ist eben Gegenstand der Physik - sonst nichts.

Die Physik hat in unserem Kulturleben die Aufgabe übernommen, alle messend erfaßbaren

und formal beschreibbaren Erscheinungen und Vorgänge in der Natur wissenschaftlich zu

erforschen. Insbesondere erforscht sie die Erscheinungs- und Zustandsformen der Materie

und alle dafür verantwortlichen Wechselwirkungen und Kräfte. Die Physik erarbeitet dabei

jederzeit nachvollziehbare Abbilder unserer Welt, die unabhängig sind vom individuellen Be-

trachter. Der Wert dieser Abbilder - „Modelle“ oder „Theorien“ genannt - steigt mit dem

Umfang der mit ihrer Hilfe voraussagbaren Naturvorgänge.

Die für unsere Naturbeschreibung relevanten Begriffe, die „Wörter“ der Physik, nennen wir

„physikalische Größen“. Wir haben sie größtenteils der Alltagserfahrung entnommen und

passen sie unseren jeweiligen Bedürfnissen an. Dabei kann es durchaus vorkommen, daß

schließlich nur noch das Wortbild übrig bleibt, der damit assoziierte Begriff aber völlig anders

geworden ist. Und auch, daß sich die Bedeutung eines Wortes im Laufe der Physikge-

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schichte völlig verändert. Die Begriffe „Energie“, „Masse“, „Raum“, „Kraft“ und „Teilchen“,

mögen für beides als Beispiele dienen. Die „Wörter“ der Physik, die „physikalischen Größen“

(Oder „Variablen“) genannt werden, müssen mit Hilfe von Meßgeräten bestimmt werden

können - entweder unmittelbar oder indirekt über eindeutige Zusammenhänge zu anderen,

direkt bestimmbaren Größen. Damit grenzen wir die Physik gegen reine Spekulationen ab.

Wir unterscheiden seit langem zwischen der Experimentellen und der Theoretischen Physik.

Aufgabe der Experimentalphysik ist es, durch möglichst exakte Beobachtung des Naturge-

schehens Kenntnis über die qualitativen und quantitativen Zusammenhänge der verwen-

deten „physikalischen Wörter“ (der „Meßgrößen“) zu gewinnen. Unser Werkzeug dafür sind

die „physikalische Experimente“: Das sind planmäßig unter kontrollierbaren und übersicht-

lichen Bedingungen ausgeführte, wiederholbare Beobachtungen an vereinfachten Naturvor-

gängen mitsamt den dabei angestellten Messungen. Die erhaltenen Ergebnisse bilden das

„experimentelle Material“.

In der Theoretischen Physik bemühen wir uns dann, aus diesem experimentellen Material

sinnvolle Beziehungen zwischen den untersuchten Größen herauszufinden. Die mit Hilfe von

Modellvorstellungen, der Logik und Mathematik erhaltenen Zusammenhänge nennen wir

„physikalische Gesetzmäßigkeiten“. In der modernen Physik wird viel weniger Wert auf se-

mantische Unterschiede gelegt als früher, wir unterscheiden etwa nicht mehr zwischen Ge-

setzen und Theorien. Die heute anerkannten physikalischen Gesetzmäßigkeiten behielten

seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts meist den ihnen anfänglich gegebenen

Namen bei. So heißen die seit vielen Jahren zum bestgesicherten Wissen der Physik

zählenden Kenntnisse über die mikroskopische Welt noch immer Quanten-„Theorie“ und

jene über die Welt der hohen Geschwindigkeiten und dem Spiel der Schwerkraft Relativitäts-

„Theorien“.

Das Aufgabengebiet der Physik hat eine abwechslungsreiche Geschichte hinter sich. Sogar

heute noch sind die deutschen Begriffe „Physik“, „Naturwissenschaft“ und „Philosophie“ nicht

notwendig deckungsgleich mit ihren angelsächsischen Äquivalenten „physics“, science“ und

„philosophy“. Das Wort „science“ kommt aus dem Lateinischen scientia und wurde jahrhun-

dertelang als das gesamte Wissen („knowledge“) betrachtet. Im Deutschen sprechen wir

daher im Zusammenhang mit der Physik lieber von „Naturwissenschaft“, also von unserem

Wissen um das, was wir Natur nennen. Nicht so im Englischen: Hier wurde der Begriff

„science“ allmählich immer stärker auf dasjenige Wissen um das Universum eingeengt, das

wir aus Beobachtungen und experimentellen Untersuchungen erhalten können. Aber noch

im 19. Jahrhundert war „science“ wesentlich weiter gefaßt, so daß die meisten

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angelsächsischen Physiker lieber der Begriff „natural philosophy“ oder einfach „philosophy“

benützten. Physiker des siebzehnten Jahrhunderts, der Zeit von Newton und Boyle,

verstanden unter „philosophy“ das, was heute als „science“ bezeichnet wird. Ein Blick in die

frühen Bände der wissenschaftlichen Zeitschrift „Philosophical Transaction“ etwa zeigt, daß

dazu Physik, Chemie, Geologie, Biologie und Astronomie zählten. Einige alte

angelsächsische Universitäten haben heute noch Lehrstühle für „natural (oder: experimental)

philosphy“, worunter nichts anderes als Physik („physics“) verstanden wird.

Wirklichkeit. Wir wissen heute, daß die Überzeugung, in einer mechanisch-deterministisch

aufgebauten Welt zu leben ein Irrtum war. Was ist aber nun die wirkliche Natur? Was ist in

unserer Welt der Physik, in der Natur, wirklich und was noch nur Glaube, Schein oder Trug?

Was ist denn eigentlich die „Wirklichkeit“? Wenngleich wir auch hier überzeugt sind, intuitiv

ganz genau zu wissen, was wir unter „Wirklichkeit“ meinen, können wir dieses unser Wissen

wieder nicht aussagekräftig genug ausdrücken. Jede Konkretisierung unseres Gedankenin-

haltes „Wirklichkeit“ führt sofort auf verbale und logische Grenzen, aber auch zu gewissen

Widersprüchlichkeiten, wie wir das schon von anderen grundlegenden Begriffen, wie etwa

bei Vernunft und Materie kennengelernt haben. Und doch gilt sooft das vermeintliche

Kennen dieser „Wirklichkeit“ als eines der stärksten Argumente für die Überlegenheit der

jeweils eigenen Überzeugung im Widerstreit mit anderen Ideologien, Philosophien,

Religionen und Wissenschaftspositionen.

„Wirklichkeit“ ist nach dem Philosophielexikon die „Bezeichnung für das Wirklichsein und der

Inbegriff alles Wirklichen“. Die Bedeutung von „Wirklichsein“ wird dabei allerdings nicht näher

erläutert, ebensowenig wie in Meyers Konversationslexikon. Seine Wurzeln hat das deutsche

Wort „Wirklichkeit“ in der Übersetzung des lateinischen „actualitas“, der „Wirksamkeit“, durch

Meister Eckehart. Es beinhaltet die Fähigkeit der tätigen, wirkenden Existenz, dem also, das

auf anderes einwirken kann. In dieser Bedeutung ist „Wirklichkeit“ von der „Möglichkeit“

analog der griechischen Differenzierung zwischen „dynamis“ und „energeia“. „Realität“ deckt

nur den auch in der angelsächsischen und französischen Philosophie verwendeten Aspekt

der „Wirklichkeit“ ab, nämlich das Bestehen einer Tatsache, ihr Vorliegen, ihr „Realsein“ im

Gegensatz zur bloßen Möglichkeit, daß also „etwas da ist“ und nicht nur „da sein könnte“.

Und dazu auch als Sammelbegriff für alles Existierende benützt, eben der Inbegriff alles

Realen, alles Vorkommenden - wieder im Gegensatz zum nur Möglichen.

„Wirklichkeit“ wird aber auch als Gegensatz zum Scheinbaren, zur Vorgaukelung verstan-

den. In diesem Zusammenhang wird gerne von der „wahren“ Wirklichkeit oder der „wirkli-

chen“ Wirklichkeit gesprochen. Für Hegel bestand Wirklichkeit dann nur noch aus dem Teil

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der tatsächlich vorhandenen Welt, der mit seinem Wesen, seiner „Idee“ übereinstimmt. Das

Wesen war für Hegel gleichbedeutend mit „Vernunft“, und so formulierte er in seiner Einlei-

tung zur Rechtsphilosophie: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist

vernünftig“. Dieser Standpunkt erfordert allerdings ein unanfechtbares Kriterium darüber,

was wir als objektive „Vernunft“ anzusehen haben, welches wir aber - erinnern wir uns der

Ausführungen in Teil 1 - in unserer Kulturgeschichte bislang noch nicht gefunden haben.

Grenzen und Wissen der Naturwissenschaft. Einerlei ob wir akzeptieren, nicht wissen zu

können, was wirklich „wirklich“ ist oder ob wir daran glauben, daß „wirklich, was vernünftig

ist“, die Folgerung bleibt dieselbe: Wir können niemals sicher sein, die wirkliche, wahre Natur

zu kennen! In beiden Fällen können wir niemals wissen, ob die derzeitige Anschauung die

wahre Wirklichkeit der Natur wiedergibt. Im ersteren Fall ist es evident, bei letztere Überzeu-

gung mußte sich in der Vergangenheit die „Wirklichkeit“ mit jeder Veränderung der Ansicht,

was „vernünftig“ sei, mitverändert haben – und wir können niemals sicher sein, daß nicht in

Zukunft eine andere Denkposition als die unsrige als Vernünftig gelten wird müssen. Unsere

wissenschaftlichen Ansichten, Erklärungen und Theorien darüber, wie wir uns unsere Um-

welt vorzustellen haben, waren ja und sind im Laufe der Geschichte in allen Bereichen unse-

rer Neugier oft sogar dramatischen Veränderungen unterworfen. Geprägt sind die Ordnungs-

prinzipien unserer Wissenschaft ja wesentlich von unseren Ansichten über unsere Wahrneh-

mungsfähigkeit: Wenn wir etwa fest daran glauben, daß wir mit unseren Augen und Ohren

alles Wichtige sehen und hören können, muß unsere Naturbeschreibung anders aussehen

als wenn wir wissen, daß es auch von unseren Sinnen nicht bemerkbare Strahlen und Ge-

räusche gibt, mit deren Hilfe wir neue, unseren Sinnesorganen entzogene Facetten der Um-

welt entdecken können: Die Welt des Ultraschalls, die Radioastronomie, die nur in Mikrosko-

pen bemerkbaren Kleinorganismen und Feinstrukturen der Materialien, die durch Fernrohre

und Tiefseeforschung erschlossenen Welten sowie der molekulare Aufbau unserer Stoffe.

Radio und Fernsehen, Röntgenbilder, viele moderne Werkstoffe wie metallische Gläser oder

Kunststoffe wären in der alten, naiven Weltsicht ebenso unmöglich wie die allermeisten tech-

nischen Apparaturen insbesondere den in der heutigen Medizin eingesetzten, wie Laser und

Computeroperationstechnik.

Wir erleben als „Bewußtsein“ eine dichte Fülle von Empfindungen, die teils aus unserem

Innern kommen und teils von außen auf uns einwirken. Letztere nennen wir Wahrneh-

mungen und dafür sind unsere Sinnesorgane verantwortlich: Mit unseren Ohren hören wir

Geräusche, mit unseren Augen bemerken wir Licht und mit unserem Tastsinn verspüren wir

Härte und Druck. Wir riechen und schmecken verschiedenste Dinge, wir verspüren Wärme

und Kälte und beobachten Veränderungen. Diese Wahrnehmungen sind für uns das Selbst-

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verständlichste von der Welt - und dennoch ist vieles an unserer Wahrnehmungstechnik

noch völlig ungeklärt. Je tiefer wir in die Probleme menschlicher Wahrnehmung eindringen,

desto Erstaunlicheres offenbart sich in dieser so scheinbar „problemlosen Selbstverständ-

lichkeit“.

Bei genauerer Analyse können wir von keinem einzigen unserer Sinnesorgane eine objektiv

haltbare Aussage über Form und Qualität unserer bewußtseinsunabhängigen Umwelt erfah-

ren! Augen und Ohren, der Tastsinn, Geruch und Geschmack, sämtliche unserer Einrichtun-

gen für Sinneswahrnehmungen sind subjektiv auf die biologischen Erfordernisse von uns

Menschen abgestimmt. Sie dienen vor allem dazu, uns in unserer Umwelt möglichst scha-

densfrei bewegen zu können. Sie sind so wie unser Raum- und Zeitempfinden primär

Schutz- und Hilfsmechanismen für unser biologisches Überleben. Daneben allerdings

weisen unsere Sinnesorgane auch emotionale Funktionen auf: Streicheln etwa gilt uns als

Ausdruck von sozialem Kontakt und die Welt der Geräusche wird zum Sprachkontakt

benützt. Insbesondere im Zusammenwirken mit unseren Gefühlen bauten wir mit Hilfe der

Sinnesorgane auch das auf, was wir künstlerischen Umgang nennen. Weltbilder nennen wir

die Ergebnisse unserer vornehmlich verstandesmäßigen Ordnungen in der Welt unserer Sin-

neswahrnehmungen.

Die Beschränkung unserer körperlichen Wahrnehmungsfähigkeit durch die Sinnesorgane auf

jene Aspekte der Umwelt, die für unsere unmittelbaren biologischen Lebensnotwendigkeiten

wichtig sind, ist für die Erstellung unserer Weltbilder gleichzeitig extrem hinderlich wie

hilfreich: Einerseits wird unsere Vorstellungskraft durch sie in unkalkulierbarer Weise limitiert,

andererseits ist gerade dieser Selektionsmechanismus für die Entwicklung unserer Weltsich-

ten essentiell. Dadurch daß wir immer nur mit Teilaspekten unserer Umwelt konfrontiert wer-

den, konnten wir unsere Eindrücke geistig verarbeiten, unser Denken, unsere Phantasie und

Gefühlswelt langsam an immer komplexer werdende Weltsichten gewöhnen. Zu Beginn

genügten uns die einfachsten Vorstellungen für eine geistig sichere Lebenswelt, in der wir

zwar auch Angst, Sorge und Unsicherheiten verspürten, aber doch überschaubare Rahmen

vorfanden. Verantwortlich waren für die uns damals unerklärlichen Vorkommnisse die dafür

zuständigen Dämonen, Götter und Geister. Die vermutlich zaghaft eingesetzt habenden Sä-

kularisierungen der Erklärungen von Naturereignissen beschäftigten sich offenkundig mit

dem unmittelbar Erlebten. Selbst die antike Philosophie betrachtete die Umwelt aus heutiger

Sicht sehr naiv und hinterfragte nur Weniges. So nimmt es nicht wunder, daß es niemals

gelungen ist, mit Hilfe der vier Elemente des Empedokles die Eigenschaften auch nur eines

einzigen Glases oder Schwertes zu verbessern, geschweige denn, etwa Nylonstrümpfe her-

zustellen.

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Physikalische Begriffswelt und Metaphysik. Auch wenn wir mit den heutigen Theorien so-

wohl mit der antiken Naturbeschreibung als auch mit der mechanischen Vorstellungswelt der

Klassischen Physik radikal gebrochen haben, wissen dennoch nicht, wie treffend wir derzeit

das Bild unserer Natur zeichnen. Wir können nicht einmal berechtigte vorstellbare Modellver-

mutungen anstellen, denn es übersteigt das menschliche Erkenntnis- und Vorstellungsver-

mögen! Außerdem gibt es gar keine rein rationale Beschreibungsmöglichkeit unserer Welt,

denn weder Wissenschaft noch Philosophie und am allerwenigsten Religionen kommen

ohne Emotionen, ohne bloß geglaubten Grundpfeilern aus: Jede uns bekannte

Weltanschauung, jedes Weltbild, jede wissenschaftliche Lehre und/oder Theorie hat eine

Reihe von Begriffen in sich eingearbeitet, deren Gültigkeit bloß akzeptiert werden kann, die

also nicht denknotwendig sind. Erinnern wir uns doch: Wissenschaft betreiben heißt, durch

Forschung, Lehre und überlieferte Literatur Wissen für unsere Zeit zu bilden, ordnen und

begründen, damit es derzeit nach bestem Wissen und Gewissen für sicher erachtet werden

kann. Ordnungsprinzipien sind aber aus unserer menschlichen Vorstellungswelt heraus

entstanden, sie sind und bleiben daher Glaubensangelegenheiten.

Auch alle physikalischen Begriffe sind reine Erfindungen des menschlichen Geistes, die dazu

dienen, die verwirrende Vielfalt unserer Umwelteindrücke durch verhältnismäßig einfache

Regeln überschaubarer zu gestalten. Zwar sind diese Erfindungen oft durch den Wunsch,

verschiedene Naturereignisse als etwas Zusammenhängendes zu begreifen, induziert wor-

den, und die Experimente machen dies dann noch besonders augenfällig. Aber nichtsdesto-

weniger bleiben sie Erfindungen, auch dann, wenn wir sie täglich hören und gebrauchen, wie

die Masse, den Raum und die Zeit. Dann meinen wir zwar - und werden durch die Schulen

darin bestärkt, daß sie als unumstößliche, absolut objektive Tatsachen feststünden, die

einzig nur so wie wir es gewohnt sind zu denken und zu behandeln sind. Dennoch handelt es

sich auch dabei immer um Erfindungen des menschlichen Geistes, die jederzeit durch

bessere Einsichten ersetzt werden können.

Die Naturwissenschaft trennt sich aber absichtlich und in voller Schärfe von dem, was wir

„Metaphysik“ nennen. Notwendigerweise, denn das Wort „Metaphysik“ stammt vom Griechi-

schen „meta ta physika“ und bezeichnet damit alles, was „hinter dem Physischen“ steht: Also

gerade von dem, was die Naturwissenschaft als außerhalb ihrer Erfahrungsmöglichkeiten er-

kannt hat, und was daher per definitionem gar nicht ihr Gegenstand sein kann. Die Metaphy-

sik beschäftigt sich mit komplizierten Dingen wie der „Seinsstruktur“ der Wirklichkeit. Sie fragt

also nach den grundlegenden Bedingungen für alles Seiende, also für alles, was da ist.

Insbesondere versucht sie auch, die „Natur des Seienden“ zu erforschen. Nicht verwunder-

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lich, daß sich die metaphysischen Überlegungen so wie jene der modernen Physik auf der

höchstmöglichen Abstraktionsebene menschlichen Denkens bewegen und dementspre-

chend schwer verständlich sind.

Die Physik hat sich allerdings schon früh von der Metaphysik durch einen genialen Schach-

zug abgegrenzt: Sie verzichtete auf Definitionen dafür, was unter dem „Wesen“ von Länge,

Zeit und Masse zu verstehen sei und begnügte sich, für diese Begriffe bloße Arbeitsvor-

schriften zu geben, sie also nur durch sogenannte „Realdefinitionen“ zu charakterisieren. Die

Physik sagt nichts über dieser Begriffe aus, sondern legt nur fest, mit welchen Meßmethoden

wir das Auftreten von Masse, Länge und Zeit feststellen müssen und welche Einheiten zu

benützen sind. Damit hat sie sich zwar immanentes Forschungsgebiet geschaffen, aber alle

physikalischen Aussagen über diese Größen gelten auch nur innerhalb der praktizierten

Meßgenauigkeit.

Der Wunsch nach konkreter Vorstellbarkeit muß bei metaphysischen Überlegungen ähnlich

stark vom Denkvorgang ausgeschlossen werden in der mathematischen Formulierung der

modernen Physik. In beiden begegnen wir denselben Grundschwierigkeiten: Je umfassender

und allgemeiner die Überlegungen über unsere Umwelt sind, desto weniger dürfen sie kon-

krete Vorstellungen benützen, denn kein einziges unserer allgemein gültigen

Gestaltungsprinzipien mit Hilfe derer wir den Ablauf verschiedenartigster Naturgeschehnisse

begreiflich machen wollen, kann für uns Menschen sichtbar oder sonstwie bemerkbar sein.

Wir können sie nur als form- und vorstellungslose Phänomene denken, als

Steuerungsinstrumente gleichsam, die all den beobachteten Erscheinungen gemeinsam

sind. Welche vorstellbaren Eigenschaften könnte etwa die Energie haben, die hauptverant-

wortlich alle uns bekannten Bewegungsabläufe mitprägt: Die Wucht eines fahrenden Autos

genauso wie den Ablauf von chemischen Reaktionen; sie tritt als Wärme auf, ihr Fluß kann

an elektrischen Strom, an einen Teilchenfluß gebunden werden oder an die Veränderung

von Volumen oder Oberflächen. Sie kann aber auch durch Steinwurf übertragen werden oder

mit unserem Licht. Wäre sie blau, dann könnten wir kein rot sehen. Wäre sie würfelförmig,

dann könnte sie nicht unsichtbar abgestrahlt werden wie beim Infrarot oder bei den

Radiowellen. Wäre sie hart, dann könnten wir nirgendwo gehen, denn überall auf der Erde ist

sie vorhanden. Würde sie nach Rosen riechen, gäbe es keinen Lavendel- oder

Knoblauchgeruch.

Gleiches gilt für Impuls, Drehimpuls (oder: Wirkung), für Masse, elektrische Ladung, Raum,

Zeit und Materie. Die umfassenden Begriffe für die Gestaltungsverantwortlichkeit in unserer

Umwelt können nur höchst unanschauliche, also extrem abstrakte Denkmechanismen sein -

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und keine konkreten Vorstellungen beinhalten. Darin sind sich eigentlich alle Former unserer

Geistesgeschichte einig - von den antiken Philosophen bis zu den modernen Physiktheoreti-

kern. Seltsamer weise floß diese Grundtatsache nie in unser Schulwissen ein. Es hätte so

manchem von uns das Lernen wesentlich vereinfacht, wen wir gewußt hätten, daß wir uns

dabei nichts vorstellen zu können brauchen, sondern nur die Zusammenhänge geistig formal

zu verstehen haben.

Es ist nicht immer leicht, metaphysische von physikalischen Überlegungen zu trennen: Wäh-

rend es bei den Fragen nach dem Wesen des Seins und denen nach der Existenz eines

„Gottes“ verhältnismäßig einfach fällt, die Trennungslinien einzuhalten, sind diese beispiels-

weise bei der Auseinandersetzung mit den grundlegenden Begriffen „Substanz“ und „Kausa-

lität“ im Laufe der Kulturgeschichte mehrfach verschoben worden. Dies wird uns in der Auf-

fassung der mittelalterlichen Scholastiker über Metaphysik besonders deutlich: Sie verstan-

den darunter jene grenzüberschreitende Wissenschaft, die den Gelehrten mit Hilfe der

Philosophie den Übergang aus der materiellen Welt in eine Wirklichkeit jenseits der mensch-

lichen Wahrnehmungsfähigkeit ermöglichen könne.

Gott. Das Wort stammt vom althochdeutschen „got“, das „anrufen“ bedeutet. Englisch heißt

es „god“, französisch „dieu“, lateinisch „deus“ und griechisch „theos“. Damit ist die Eindeutig-

keit auch schon zu Ende, denn dem schon mehrmals herangezogenen Rowohlt’schen Philo-

sophielexikon zufolge kommen diesem Begriff mehrere Bedeutungen zu: (1) Das höchste

„Seiende“, das an sich Seiende, das ewig, unendlich und unbegrenzt ist. Die Bedeutung des

„Seienden“ ist, mit der Definition gegeben, daß das „Sein“ als das Gemeinsame dessen be-

zeichnet wird, was „ist“. Also Dinge, Eigenschaften, Werte, Sachverhalte, Relationen ideale

Größen wie Zahlen und geometrische Objekte usw. Eigentlich wenig hilfreich, denn gramma-

tikalisch ist es doch nur der hauptwörtlich gebrauchte Infinitiv des Hilfszeitwortes „sein“. Und

es hat in unserer Kulturgeschichte ebenso viele Verwendungsarten wie dieses, werden aber

in unserer Kulturgeschichte als doch zusammengehörig interpretiert. Es herrscht in der

Philosophie auch Unklarheit, wie viele Formen des „Seins“ eigentlich erdacht worden sind.

Wie sollen wir dann aber klar formulieren können, was unter „Gott“ zu verstehen sei?

(2) Metaphysisch bedeute „Gott“ den letzten Grund, das letzte Erklärungsprinzip und die

erste Ursache; also dasjenige, das was selbst ist, dasjenige, das keine Bedingung, keine Ur-

sache braucht um zu sein, das „absolut“ Seiende, das Bedingung für alles andere ist.

Dasjenige Seiende also, das was mit Notwendigkeit existiert, in welchem also Wesen und

Existenz ineinander zusammenfallen, das damit für alles andere Prinzip ist. (3) In Spinozas

Interpretation ist es diejenige Substanz, die für sich besteht, aus sich heraus verstanden

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werden kann und von dem alles andere Manifestation ist. (4) Jene übermenschliche Macht,

die in einer Gemeinschaft Gegenstand der Verehrung ist. Und schließlich (5), in der jüdisch-

christlichen Lehre der Schöpfer und Erhalter der Welt, zu dem wir Menschen in einem

persönlichen Verhältnis stehen, und der sich in der Geschichte offenbart.

Wiederum beschränkt uns das Dilemma, daß wir in Philosophie und Wissenschaft Wörter

benützen müssen, die nur mit Hilfe von anderen unzureichend exakt umrissenen Wörtern

definiert sind oder sie „intuitiv“ zu wissen haben. Mit Hilfe von ungenau definierten Wörtern

können uns selbstverständlich nur ungenau ausdrücken – das kaschieren wir oft durch

extrem komplizierte Ausdrucksweisen, und bei der Intuition wissen wir nie, ob wir das

richtige intuitiv wissen und ob unser Gesprächspartner dasselbe unter dem von ihm intuitiv

verstandenen Begriff meint? Das sind keine semantischen Spitzfindigkeiten, sondern prakti-

sche Probleme, die den gesamten Werdegang unserer Weltbilder massiv beeinflußten.

Immer wieder fällt auf uns zurück, daß wir vielfach den Anschein erwecken, uns mit

komplizierten Wortgebilden als präziser ausdrücken zu können als die Sprache es bei

näherer Reflexion zuläßt. Die metaphysische Definition von Gott etwa bringt nur zum

Ausdruck, daß wir etwas brauchen, an dem unser Denken beginnen kann, einen Ausdruck,

der beinhaltet, was wir nicht mehr denken können. Ein Zufriedenstellungsvokabel also, einen

verbalen „Deus ex machina“, der unsere fundamentalen Vorstellungs- und Denkprobleme

kaschieren soll, damit wir nicht sagen müssen: „Wir wissen es nicht und können es in dieser

unseren Welt auch gar nicht erfahren, weil wir in unserer Kommunikation und

Erkenntnisfähigkeit beschränkt sind. Was sagt denn die Heisenberg’sche Unschärferelation

denn anderes aus, als daß wir Menschen keinen Weg finden, beliebig viele Beobachtungen

in unserer Welt beliebig genau durchzuführen: Wenn wir gleichzeitig Ort und Impuls oder Zeit

und Energie eines submikroskopisch kleinen Teilchen messen wollen, dann werden wir in

unsere Schranken verwiesen. Es geht eben prinzipiell nicht, daß Lebewesen, die in ihrer

Umweltkommunikation auf Energie- und Impulsaustausch angewiesen sind, alles beliebig

genau erfahren können. Denn sie stören durch ihr Hinschauen alle Naturvorgänge, die

höchstens mit den Energiebeträgen ablaufen, die wir beim bloßen Hinschauen ihnen

schicken oder wegnehmen müssen.

Notwendig: transzendente Begriffsbasis. Bei Weglassen emotionaler Positionen sollte der

metaphysische Gottesbegriff nur marginalen Diskussionsstoff geben, denn alle Ideologien

und Philosophien brauchen Wörter, welche die Transzendenz, also die Unvorstellbarkeiten

aufnehmen müssen, die sich in keinem Erklärungsmodell für die Weltentstehung vermeiden

lassen. Jede Weltanschauung braucht Namen für drei transzendente Begriffe, die wir hier ar-

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beitstechnisch als „Hergebendes Etwas“, als „Aufnehmendes Etwas!“ und als „Auslösendes

Etwas“ bezeichnen wollen.

Das „Hergebende Etwas“ steht für dasjenige Etwas, aus dem das All in den Ideen der

jeweiligen Weltanschauung entstanden ist. Nehmen wir beispielsweise an, daß Materie aus

dem "Nichts" entstanden ist, dann war eben das Nichts da und hat sich mindestens in

Materie verwandelt. Was ist dann aber das Nichts? Ist es "Nicht-Sein", so existiert es nur als

Gegenüber zum Sein und ist damit nur gemeinsam mit diesem denkbar. Wir müssen daher

einen der beiden Begriffe definieren und das Gesetz angeben, wonach der andere aus dem

definierten entsteht – verstehen wir nämlich unter dem einen bloß die Verneinung, das Nicht-

vorhandensein des anderen, so müssen wir dennoch den Grund zur Wandlung angeben,

ansonsten ist es nicht zulässig zu sagen, daß Materie aus dem so verstandenen Nichts

entstanden sei.

Soll Nichts das "reine" Nichts sein, das außer dieser Eigenschaft keine andere hat, dann ist

es per Definitionen ein transzendenter Begriff, und wir werden uns wohl schwer tun, es in

Materie zu verwandeln. Verstehen wir unter Nichts das "Noch-nicht-Sein", so führen wir da-

durch einen Zeitbegriff ein und damit die Frage, was eine absolute Zeit ist - denn nur um eine

solche kann es sich dabei handeln - und warum diese existiert. Daß die oben benutzte Zeit

eine absolute sein muß - das heißt, eine von sich aus bestehende - ist wohl trivial, denn nur

eine solche kann das "Noch-Nicht-Sein" vom Sein trennen. Bisher konnte aber noch keiner

eine absolute Zeit definieren, die den Anforderungen der modernen Physik entspricht - es

gelang ja bisher den Philosophen nicht einmal, zu sagen, was Zeit in unserem bereits wohl-

vorhandenem Weltall ist. Die Philosophen benutzen die physikalische Realdefinition für Zeit -

diese gibt aber nur an, was die Einheit der Zeit ist, und wie die Zeit gemessen wird.

Die beiden anderen transzendenten Basisbegriffe werden benötigt, um aus dem zwar tran-

szendenten, aber als wohlvorhanden vorausgesetzten, hergebenden "Etwas" das Weltall in

seiner Raum-Zeit aufbauen, mit den darin herrschenden Gesetzen. Der eine ist jenes

"Etwas", das den Urknall oder wie auch immer die Existenz unserer Welt in den jeweiligen

Anschauungen initiiert gedacht wird Eine zu große Massendichte des Urkerns ist keine

ausreichende Erklärung für den Urknall, denn dann muß man ein pulsierendes All annehmen

und damit eine absolute Zeit, die dann anstelle des "auslösenden Etwas" der zweite

transzendente Begriff ist. Wenn wir durch das Pulsieren die Zeit definieren wollen, dann

müssen wir bereits die Gesetze der Physik voraussetzen - von denen eines ja die zu große

Massendichte bestimmt - und damit ist eben die "Physik" das "auslösende Etwas" - daß

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diese Gesetze eben "da" sind ist wohl keine sehr glückliche Aussage. Als drittes müssen wir

in jeder Welterklärung auch noch ein sogenanntes "aufnehmendes Etwas" angeben -

nämlich das, was das Weltall umgibt, in das es sich also ausdehnen kann. Die Annahme

eines unendlich ausgedehntem Alls führt nicht weiter, dann ist eben "unendlich" dieser dritte

Begriff. Die Festsetzung, daß "Raum" bereits vorliegt, bedeutet auch nichts anderes, als daß

das "aufnehmende Etwas" mit eben diesem Wort "Raum" bezeichnet wird.

Wir sehen also, daß man wir tatsächlich drei transzendente Begriffe zur Ableitung des von

uns wahrgenommenen Kosmos brauchen, ein "hergebendes", ein "auslösendes" und ein

"aufnehmende" Etwas - wobei aber alle drei zusammen notwendig sind. Hier sind die

Verbindungen mit bestimmten Wörtern nichts anderes als der Wunsch, spezielle Laut- und

Buchstabenbilder dazu zu verwenden. Ein intellektuelles Streitgespräch darüber ist müßig

und wenig sinnvoll, ob etwa „Haradada“, „Dedadu“, „Zexo“ oder irgend andere Lautgebilde

dazu besser zu verwenden seien. Die Benützung von „G-o-t-t“ hat hier gegenüber dem

Gebilde „M-a-t-e-r-i-e“ den Vorteil, nur vier Buchstaben statt sieben zu erfordern.

Allerdings können die drei notwendigen Axiome zwar als voneinander isoliert existent

betrachtet werden, sie mußten aber zusammen gewirkt haben, um unsere Welt zu

realisieren. Infolgedessen gibt es aus dieser Sicht drei verschiedene Klassen von

Weltanschauung: (i) die drei Grundannahmen werden unabhängig voneinander definiert und

einzig aus der Tatsache, daß sie eben existieren ihr Zusammenwirken als erwiesen

angesehen. (ii) beliebige zwei dieser Axiome können zu einem übergeordneten Begriff

zusammengezogen sein, der die Eigenschaften der beiden dazu benutzten Grundannahmen

in sich vereinigt. Und (iii) kann ein Begriff definiert werden, der alle drei Grundannahmen in

sich vereinigt.

Welche der drei Klassen wir bevorzugen und wie die drei Grundannahmen gewählt werden,

bleibt unserem Gefühl überlassen, weil wir für Grundfragen im transzendenten Bereich keine

denknotwendigen Auswahlkriterien haben, die uns zeigen könnten, was zu akzeptieren ist.

Warum soll aber, wenn verschiedene Anzeichen dafür sprechen, daß es etwas gibt, was un-

serem Verstande nicht erfaßbar ist, warum soll es gleich mehrere voneinander getrennt ge-

dachte sein und nicht ein einziges mit all dem notwendigen Eigenschaften? Ist es denn nicht

viel aufwendiger anzunehmen, daß es gleiche dreimal gibt, was transzendent ist, als nur

eines, das eben verschiedene Eigenschaften genügt? Noch dazu, wo doch alle einzelnen

transzendenten Begriffe notwendig sind, um darauf sinnvolle Wissenschaft aufzubauen. Alle

drei sind doch integrierende Bestandteile für die Existenz des Alls. Sicher kann man das

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zwar nur für unser Denken behaupten, aber wir haben kein anderes und müssen deshalb

damit arbeiten.

Persönlicher Gott. Anders verhält es sich mit der Behauptung eines mit Persönlichkeitsattri-

buten ausgestatteten Gottes, denn hierbei kommt wesentlich mehr ins Spiel als bloße Ab-

deckung unserer Denkunmöglichkeiten. Bei solch einem Gottesbegriff wird sein Anderssein,

seine Unabhängigkeit von der Weltordnung und seine Macht über die Weltordnung betont.

Er wird dabei nicht nur transzendent beschrieben, sondern auch als in der Welt gegenwärtig

und meist auch in das Weltgeschehen eingreifend betrachtet. Solch ein Gott kann nur

geglaubt, aber nicht aus der Naturbeobachtung deduziert werden.

Quelle solcher persönlichen Gottesbegriffe sind Mythen und/oder das, was wir „Offenbarung“

nennen. Früher erzählt und später dann schriftlich festgehalten enthalten also diese Reli-

gionsbücher die Botschaft, daß es nach der betreffenden Religion einen Gott bestimmter Ei-

genschaften gibt und wie er zum Werden der Welt in Verbindung steht. Allerdings dürfen sol-

che religiöse Beschreibungen von Naturvorgängen niemals wörtlich genommen werden,

denn ihre Intentionen sind religiöse, literarische oder moralisch/ethische Zwecke und nicht

die minutiöse Wiedergabe der Entwicklungsmechanismen unseres Weltalls. Wäre etwa die

Genesiserzählung der Bibel nicht wörtlich sondern sinngemäß genommen worden, dann

wäre beispielswiese der Konflikt zwischen der Katholischen Kirche und Galilei nicht

notwendig gewesen.

Die Genesis soll doch Juden, Christen und allen an dieser Lehre Interessierten die Botschaft

vermitteln, daß unsere Welt von Gott gewollt geschaffen worden ist, aber nicht als statischer

Raum, sondern als eine Welt der Evolution. Eine genaue, wörtlich stimmige Beschreibung

des Werdeganges unserer Welt hat doch in einem Religionsbuch keinen Platz: Hier wird das

Verhältnis zwischen dem Gott der betreffenden Religion, den Menschen und unserer wahr-

genommenen Umwelt bestimmt, nicht aber, woher die Sonne ihre Energie bezieht, um uns

zu wärmen und das Getreide wachsen zu lassen. Wie überfordert wären denn die einfachen

Hirten und Bauern damals gewesen, wäre ihnen erklärt worden, daß unsere Sonne ihre

Energie aus der Verschmelzung von gigantischen Mengen von Wasserstoff-Atomkernen zu

Helium gewinnt? Wie kompliziert und aufwendig müßte denn die Bibel geschrieben sein, um

eine für unser heutiges Wissen halbwegs relevante Darstellung vom physikalischen Werden

unseres Kosmos bieten zu können? Wer sagt uns außerdem, ob die Erkenntnisse der heuti-

gen Naturforschung nicht noch immer unsäglich naive Bilder von den Naturvorgängen zeich-

nen, so daß also interessierte Menschen sich mit noch viel komplexeren Theorien auseinan-

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derzusetzen hätten, bei der Vermittlung der einfachen Botschaft der Bibel, daß das Weltall

von dem in ihr vorgestellten Gott gewollt in einem Evolutionsprozeß erschaffen worden ist.

Es brauchte schon ein sehr naives Naturempfinden, um die Forderung erheben zu können,

ein Religionsbuch auch physikalisch wörtlich nehmen zu müssen.

Aber Galilei war umgekehrt auch nicht der ideale, reine Wissenschaftler, dem nichts als die

Suche nach der Wahrheit wichtig war. Er war in vielem eitel, eingebildet und auch sehr ge-

schäftstüchtig, um nicht skrupellos in der Verwertung von Ideen sagen zu müssen. So

machte er sich ziemlich sicher das in Holland erfundene Fernrohr zu eigen, wir demnach

auch besser vom Holländischen als vom „Galileischen“ Fernrohr sprechen. Es stimmt, er war

ein großer Naturforscher: Unter anderem leitete er die Pendelgesetze ab, und in reinen

Gedankenexperimenten auch die Gesetze des freien Falls. Die berühmten Fallversuche am

schiefen Turm von Pisa haben ja nie stattgefunden, denn die Turmhöhe war für die damalige

Präzision der Meßuhren viel zu niedrig, um durch praktische Experimente die Fallgesetze zu

erhalten. Seine Planetenbeobachtungen machten ihn zum Streiter für das heliozentrische

Weltsystem von Kopernikus, was zu den bekannten Auseinandersetzungen mit der römi-

schen Kirche führte.

Er verweigerte aber dem jungen Kepler wissenschaftlichen Verkehr und ignorierte dessen

drei Planetengesetze. Während seines gesamten berüchtigt/berühmten Prozeß, der mit sei-

ner Abschwörung und Verurteilung im Jahr 1633 endete, verwendete er niemals die Kepler-

schen Gesetze, die schon Jahre vorher veröffentlicht worden waren und ihm auch von

Kepler brieflich mitgeteilt worden waren. Er argumentierte im Prozeß mit Bibelzitaten und

nicht mit physikalischen Gesetzen. Galilei hatte früher besonders unter den Jesuiten große

Anhänger. Erst als er mit der Bibel zu argumentieren begann, anstatt mit der damals neuen

Naturwissenschaft, erst dann mußten diese sich höheren Befehlen beugen und sich von ihm

abwenden. Galilei wurde zwar zu unbefristeter Haft verurteilt, er verbrachte diese allerdings

fast gänzlich in Form eines Hausarrestes in seinem Landhaus, wo er dann 1634 sein wichtig-

stes Werk verfaßte. Ab 1637 war er erblindet.

Conclusio. Im Wissenschaftsleben bereiten sich dramatische Veränderungen vor: Ausgelöst

von den beiden Relativitätstheorien Einstein’s und der Quantenmechanik konnte die mecha-

nistische Vorstellung eines absolut für sich existierenden, unendlich großen Raumes sowie

jene einer absoluten, objektiv geltenden, unendlich dauernden Zeit nicht mehr gehalten wer-

den. Analoges gilt für unsere mechanistisch geprägten Masse- und Stoffvorstellungen und

für die Interpretationen der Kraftwirkungen. Der Übergang von der Raum-Zeit Prägungsdomi-

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nanz unserer Natursicht zur stärkeren Betonung der Energie- Impulsbetrachtung ist mit dem

Verzicht auf die Allgegenwart des Begriffes „Unendlich“ verknüpft. Die volle Tragweite der

Auswirkungen auf Natursicht und Weltanschauungen kann noch nicht einmal erahnt werden,

sie wird aber mindestens so groß sein wie jene der kopernikanischen Wende.

Interessanterweise hatten schon die Neukantianer vehement gefordert, daß die Methoden

der Naturwissenschaft einer kritischen, erkenntnistheoretischen Prüfung zu unterziehen

seien. Ob dies Gegenstand der Philosophie zu sein hat oder Teil einer anderen Wissen-

schaft, bleibt dabei von nebenrangiger Bedeutung. Gerade der doch zu unkritische Umgang

mit prinzipieller Beobachtungsmöglichkeiten, der allzu freie Gebrauch der Gleichzeitigkeit,

die wenig reflektierte Postulierung von Masse, Raum und Zeit als voneinander unabhängig

bestimmbare Naturgrößen, und vieles andere mehr führten zu den gravierenden Mißinterpre-

tationen von Beobachtungsergebnissen im Rahmen der klassischen Naturwissenschaft. Die

dann unsere Weltbilder so drastisch beeinflußt haben wie kaum etwas vor ihnen. Umgekehrt

jedoch können auch viele der in der klassischen Physik möglich gewesenen „Schwarz-Weiß-

Aussagen“, ihre rigide Ab- und Ausgrenzungsmöglichkeiten anderer Ansichten und

Interpretationen als „unwissenschaftlich“ in der gewohnten Form nicht mehr gehalten

werden.

Darüber hinaus kondensierte aus den geistigen Irrungen der vergangenen Jahrhunderte als

zentrale Essenz eine spannenden Tatsache: Wir Menschen können uns nicht alleine genü-

gen. Gerade die Fähigkeiten, die uns vor allen anderen irdischen Lebewesen auszeichnen,

nämlich das Übergreifen über das unmittelbar sinnlich Gegebene hinaus, das Erkennen

weiterer Zusammenhänge, diese beruhen darauf, daß wir in eine Gemeinschaft von

sprechenden und denkenden Wesen eingebunden sind. Alleine genügen können wir uns als

mechanische, elektro-chemische Biomaschine in einer mechanistisch aufgebauten Welt der

kleinen und großen Kugeln. Seit über achtzig Jahren wissen wir, daß unsere Natur da nicht

mitspielt. Da können Intellektuelle, Ideologen und wer auch immer genannt sein will, behaup-

ten was sie wollen, aber: Moderne Computer, Kernreaktoren und Elektronenmikroskopie sind

nach dem mechanischen Weltbild unmöglich. Wir müssen also akzeptieren, daß es in der

modernen Natursicht wissenschaftlich einwandfrei legitim und notwendig ist, gewisse

unbegreifbare und unvorstellbare Dinge in unsere reale Welt einzuführen und zu benützen.

Elektromagnetisches Feld, Moleküle, Protonen und deren Bauteile, die Energie, ja selbst die

Materie. Niemand kann Energie sehen - nur Kraftwirkungen während ihrer Umsetzung von

einer Form in eine andere: Beim Verbrennen von Holz etwa wird chemische Energie in Wär-

me umgewandelt. Berücksichtigen wir diese Fakten und dazu, daß selbst die komplizier-

testen wissenschaftlichen Theorien nur Relativwissen vermitteln können, dann fällt die naive

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Unterscheidung in sich zusammen, die vielfach gemacht wird: hier die exakte Wissenschaft,

dort alles andere. Auch die Wissenschaft verwendet das Gefühl: Der Wunsch nach Eleganz,

nach Einfachheit als oberste Maxime. Das Auswählen der Grundannahmen einer Theorie,

und die “Techne“, die „Brauchbarkeit“ also, als Kriterium statt „wahrer Wahrheit“.

Für Fernseh- und Radiowellen, für Lichtstrahlen und alle anderen elektromagnetische Wellen

ist die Frage, auf welchem geometrischen Wege sie in das Zimmer des Betrachters kommen

genauso sinnlos wie die nach dem genauen Ort wo sich diese Wellen in einem Zimmer

aufhalten: „Überall und nirgends“ ist dafür eine richtige Antwort. Sie bleiben von uns

Menschen unbemerkt, wir können sie nicht einfangen oder sichtbar machen. Schon Radio-

und Fernsehwellen entziehen sich also unserer räumlichen Vorstellungswelt völlig. Wie uns

die Relativitätstheorie lehrt, gilt das auch für unser Zeitverständnis, denn für elektromagneti-

sche Wellen wie die Lichtstrahlen es sind, gilt der Satz „Für sie ist eine Sekunde wie zehn-

tausend Jahre und zehntausend Jahre wie eine Sekunde“ als voll zutreffend, denn im mit

dem Licht mitfliegenden Bewegungszustand vergeht keine noch so winzig kleine Zeit, der

Lichtstrahl ist nach einer mit ihm mitfliegenden Uhr im selben Augenblick auf der Erde

angelangt in dem er etwa von einer Sonne am anderen Ende der Milchstraße weggeflogen

ist. Für unsere Uhren auf der Erde brauchte das Licht allerdings über siebzigtausend Jahre!

Raum und Zeit sind eben keine solchen a priori vorgegebenen und voneinander unabhängi-

ge Naturphänomene wie uns beigebracht worden ist. Und Masse in Energie umwandelbar

und längst nicht mehr unzerstörbar, wie früher postuliert. Damit sind aber auch die viele phi-

losophischen Positionen gefallen, die aus den Theorien der klassischen Physik abgeleitet

worden sind.

Wir Menschen müssen akzeptieren lernen, daß unserer Erkenntnisfähigkeit Grenzen gesetzt

sind. Dies ist eine der grundlegenden Erkenntnisse von Quantenmechanik und den Relativi-

tätstheorien. Wo sie genau liegen, das wissen wir noch nicht, aber sie existieren, wie schon

die Unschärferelation und die Unmöglichkeit, das Dreikörperproblem exakt zu lösen, zeigen.

Dementsprechend vorsichtig und bescheiden sollten wir alle urteilen: In der Wissenschaft

ebenso wie in den Philosophien, Ideologien und Religionen. Wir können weder die Natur-

wissenschaft dazu verwenden, die Nicht-Existenz auch eines persönlichen Gottes schlüssig

zu beweisen, noch umgekehrt aus unserem Wissen über die Natur die Notwendigkeit der

Existenz eines solchen Gottes ableiten. Die Interpretation der transzendenten Basisbegriffe

unserer Weltanschauungen bleiben in jedem Fall von rein logischer Notwendigkeit ausge-

schlossen und müssen aus unserer Wunsch- und Gefühlswelt heraus bestimmt werden.

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Für einen Gott christlicher Prägung darf es gar keinen logisch einwandfreien und zwingen-

den Gottesbeweis geben, denn ansonsten könnte das Christentum gar keine Willensfreiheit

für uns Menschen postulieren, wir wären ja nicht mehr wirklich frei in unserer Entscheidung,

Gott zu akzeptieren, sondern faktisch zum Glauben verdammt. Denn: Welcher Mensch

würde bei völliger Gewißheit über einen solchen Gott sich diesem zuwiderhandeln trauen?

Hier irren christliche Theologen ebenso dramatisch wie seinerzeit in ihrer Überzeugung, die

Bibel wäre auch als Lehrbuch für Astrophysik zuständig.

Persönlich stimme ich völlig mit der Aussage von Fritjof Capra in dessen Buch „Das Tao der

Physik“ überein, daß „Die Naturwissenschaft nicht auf die Mystik angewiesen ist und die

Mystik nicht auf die Naturwissenschaft - doch die Menschheit kann auf keine der beiden

verzichten“. Mir ist insbesondere eine Welt mit Liebe und Güte sympathischer, daher

bemühe ich mich seit langem um eine möglichst geschlossene Weltanschauung, die natur-

wissenschaftliches Arbeiten und den Glauben an den christlichen Gott als harmonisch ver-

einbar erlaubt. Deshalb wünsche ich mir persönlich auch, an einen Gott der Liebe glauben

zu können. Leider ist die Geschichte des Christentums keine „Liebesgeschichte“ geworden,

denn unbestritten wertvollen Leistungen steht eine überaus schlimme Ansammlung von

völlig unverständlichen Verbrechen an der Menschlichkeit gegenüber. Allerdings hat auch

der gelebte Atheismus etwa in Form des Dialektischen Materialismus ganz sicher keine

bessere Menschlichkeitsbilanz. Auch hier können wir keine Entscheidungshilfe aus der

Geschichte erhalten, außer vielleicht dem Hinweis, daß fanatisches, doktrinäres Denken

Ursache menschlichen Leids gewesen ist und weder Glaube an einen persönlichen Gott

noch die Überzeugung, daß es einen solchen nicht geben kann. Von der modernen

Naturwissenschaft können und dürfen wir uns keine Klärung in Hinblick auf die Existenz

eines persönlichen Gottes erwarten, denn sie ist dafür nicht zuständig.

Die Eigenständigkeit und scharfe Abgrenzung der Naturforschung gegenüber Philosophien,

Ideologien und Religionen bedeutet allerdings für die Erarbeitung einer Weltanschauung

einen in seiner Bedeutung nicht überschätzbaren Fortschritt: Wie Bild 1 illustriert, sind bei

einheitlichen Welterklärungen die Interpretationen der transzendenten Begriffswelt mit den

erfahrbaren und erforschbaren Aspekten unserer Welt untrennbar verwoben. Das verhilft

ihnen häufig zu Vorteilen in bezug auf Überschaubarkeit Eleganz und leichterer Faßlichkeit

– das gilt insbesondere für das Aristotelische Weltbild, das für mehr als 2000 Jahre unsere

Vorstellungswelt prägte. Allerdings bieten solche einheitlichen Weltanschauungen nur karge

Möglichkeiten zur Revision der Erklärung von Naturvorgängen, denn selbst

Detailänderungen haben bei diesen einheitlich formulierten Systemen meist zur Folge, daß

das gesamte Weltbild zu revidieren ist. Deshalb durfte es auch nicht mehr Sterne am Himmel

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zu sehen geben als bei Aristoteles beschrieben, und wenn man durch ein „Fernrohr“ mehr zu

sehen bekäme, müsse dieses ein „Teufelsinstrument“ sein, das verblenden und Falsches

vorgaukeln würde. Die Abgrenzung der Naturwissenschaft erlaubt hingegen – wie in Bild 2

schematisch dargestellt, daß unser Weltall mit den Methoden der experimentellen Forschung

betrachtet und beschrieben werden kann ohne daß die individuell geglaubten Inhalte unserer

transzendenten Begriffswelt tangiert werden müssen. Die Kopplungsbasis sind drei

aufeinander abgestimmte physikalische Begriffe. In der klassischen Physik waren dies

ausschließlich Masse, Länge und Zeit. Wohingegen die moderne Physik eine Vielfalt von

Begriffstripel erlaubt, von denen eine der bestechendsten Energie, Impuls und Wirkung

(Drehimpuls) darstellt, weil mit Hilfe dieser Begriffsbasis sowohl die moderne Physik als auch

Mystik, Philosophie und Religionen ausgezeichnet arbeiten können.