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136 Rezensionen/Book Reviews ipg 2/2002 REZENSIONEN /BOOK REVIEWS NIKLAS LUHMANN: Organisation und Entscheidung Opladen 2000 Westdeutscher Verlag, 478 S. ransnationale Organisationen gewinnen zunehmend an Bedeutung. Immer mehr Aufgaben, die früher durch Nationalstaaten oder Verträge zwischen Na- tionalstaaten geregelt wurden, werden jetzt von komplex gebauten Organisatio- nen übernommen. Die Beforschung dieser transnationalen und internationalen Organisationen ist bisher weitgehend ein Monopol der Politikwissenschaft. In den politikwissenschaftlichen Forschungen sowohl im deutschsprachigen, aber auch englisch- und französischsprachigen Raum gibt es eine Tendenz, die Funk- tionsweise internationaler Organisationen vorrangig aus den politischen Rah- menbedingungen heraus zu bestimmen. Die Eigenkomplexität der Organisatio- nen wird dabei häufig nur als Randthema behandelt. Die in den neunziger Jahren verfasste und posthum veröffentlichte organisa- tionstheoretische Arbeit des Soziologen Niklas Luhmann könnte ein Rahmen- konzept liefern, mit dem dieses Versäumnis der Forschung über transnationale Organisationen überwunden werden könnte. Die Grundidee Luhmanns ist, dass man an Kategorien wie Zwecken, Hierarchien und Mitgliedschaft erkennen kann, dass Gesellschaften und ihre Teilsysteme eine grundsätzlich andere Funktions- weise zeigen als Organisationen. Zu Zwecken: Im Gegensatz zu den Gesellschaften des Altertums und des Mit- telalters verzichten moderne Gesellschaften darauf, sich über einen übergeordne- ten Zweck (z.B. Beglückung der Bevölkerung) zu definieren. Gesellschaften, die dies heutzutage versuchen, werden als totalitär, ideologisch und rückständig dis- kriminiert. Ganz anders gebaut sind Organisationen. In ihnen spielen Zwecke eine zentrale Rolle. Die Weltbank, die Nato, die Institutionen der Europäischen Union und internationale Nichtregierungsorganisationen haben sich konkrete Zwecke und Ziele gegeben und messen sich an deren Erreichung. Zu Hierarchien: Die Zeiten, in denen Gesellschaften strikt hierarchisch orga- nisiert waren, sind vorbei. Es gibt keinen König, Kaiser oder Papst mehr, der über Befehls-Anweisungsketten in die verschiedenen Lebensbereiche der Bevölkerung T

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REZENSIONEN /BOOK REVIEWS

NIKLAS LUHMANN:Organisation und EntscheidungOpladen 2000 Westdeutscher Verlag, 478 S.

ransnationale Organisationen gewinnen zunehmend an Bedeutung. Immermehr Aufgaben, die früher durch Nationalstaaten oder Verträge zwischen Na-

tionalstaaten geregelt wurden, werden jetzt von komplex gebauten Organisatio-nen übernommen. Die Beforschung dieser transnationalen und internationalenOrganisationen ist bisher weitgehend ein Monopol der Politikwissenschaft. Inden politikwissenschaftlichen Forschungen sowohl im deutschsprachigen, aberauch englisch- und französischsprachigen Raum gibt es eine Tendenz, die Funk-tionsweise internationaler Organisationen vorrangig aus den politischen Rah-menbedingungen heraus zu bestimmen. Die Eigenkomplexität der Organisatio-nen wird dabei häufig nur als Randthema behandelt.

Die in den neunziger Jahren verfasste und posthum veröffentlichte organisa-tionstheoretische Arbeit des Soziologen Niklas Luhmann könnte ein Rahmen-konzept liefern, mit dem dieses Versäumnis der Forschung über transnationaleOrganisationen überwunden werden könnte. Die Grundidee Luhmanns ist, dassman an Kategorien wie Zwecken, Hierarchien und Mitgliedschaft erkennen kann,dass Gesellschaften und ihre Teilsysteme eine grundsätzlich andere Funktions-weise zeigen als Organisationen.

Zu Zwecken: Im Gegensatz zu den Gesellschaften des Altertums und des Mit-telalters verzichten moderne Gesellschaften darauf, sich über einen übergeordne-ten Zweck (z.B. Beglückung der Bevölkerung) zu definieren. Gesellschaften, diedies heutzutage versuchen, werden als totalitär, ideologisch und rückständig dis-kriminiert. Ganz anders gebaut sind Organisationen. In ihnen spielen Zweckeeine zentrale Rolle. Die Weltbank, die Nato, die Institutionen der EuropäischenUnion und internationale Nichtregierungsorganisationen haben sich konkreteZwecke und Ziele gegeben und messen sich an deren Erreichung.

Zu Hierarchien: Die Zeiten, in denen Gesellschaften strikt hierarchisch orga-nisiert waren, sind vorbei. Es gibt keinen König, Kaiser oder Papst mehr, der überBefehls-Anweisungsketten in die verschiedenen Lebensbereiche der Bevölkerung

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hineinregieren kann. Niemand würde heutzutage Gerhard Schröder oderRomani Prodi als Chef akzeptieren. Einzige Ausnahme: Mitarbeiter des Kanzler-amtes oder der Europäischen Union. Denn im Gegensatz zu modernen Gesell-schaften sind Hierarchien ein zentrales Merkmal von Organisationen. Aller Ent-hierarchisierungs- und Dezentralisierungsrhetorik zum Trotz können wir unskomplexere Organisationen ohne Hierarchie nicht vorstellen. Durch diese Hier-archie können Verbände, Verwaltungen und Unternehmen überhaupt erst als be-rechenbare, kollektive Akteure auftreten, weil über Anweisungen Zusagen derSpitze in der Organisation durchgesetzt werden können.

Zu Mitgliedschaften: Eine totale Exklusion aus modernen Gesellschaften findetnur noch in Ausnahmefällen statt. Auf die Aberkennung der Staatsbürgerschaftverzichten die meisten modernen Staaten. Und die Todesstrafe als radikalste Formder Exklusion wird nur noch von wenigen zivilisierten Staaten angewandt. Dage-gen ist das Management von Inklusion und Exklusion ein zentrales Merkmal vonOrganisationen. Über die Mitgliedschaft wird trennscharf festgelegt, wer zu einerOrganisation gehört und wer nicht. Die Androhung und Durchführung der Ex-klusion – siehe das Beispiel Österreichs in der Europäischen Union – ist dabei einzentrales Strukturierungsmerkmal von Organisationen.

Die Feststellung dieser Unterschiede zwischen Gesellschaft und Organisationführt Niklas Luhmann zu der folgenschweren Einsicht, dass Organisationen nichtalleine aus Gesellschaftsstrukturen heraus verstanden werden können. Wie kannjetzt eine Forschungsperspektive aussehen, die die Eigengesetzlichkeiten vonOrganisationen ernst nimmt? Luhmann liefert für eine solche Forschungsper-spektive teilweise sehr konkrete Vorschläge. Er knüpft dabei an seine frühenorganisationssoziologischen Beiträge aus den sechziger und siebziger Jahren an,ergänzt diese jedoch um die Einsichten in die Geschlossenheit sozialer Systeme(Autopoiesis). Eine wesentliche Bedeutung erhält dadurch die Kategorie der Ent-scheidung, mit der Luhmann den Unterschied von Organisationen zu anderen so-zialen Systemen begründet. Das Wissenschaftssystem (als Beispiel für ein gesell-schaftliches Teilsystem) oder der Freundeskreis (als Beispiel für ein Interaktions-system) können ohne Entscheidungen funktionieren, die Weltbank oderGreenpeace werden erst durch Entscheidungen zu dem, was sie sind.

Besonders hilfreich sind die Überlegungen Luhmanns zu der Frage, wie dieEntscheidungen trotz ihrer Unterschiedlichkeiten so miteinander verknüpft wer-den, das sie einen organisierten Zusammenhang ergeben. Es geht dabei um nichtsanderes als die Frage, wie man in einer modernen Organisationstheorie Organi-sationsstrukturen denken kann, ohne in ein statisches, stabilitätsfixiertes Ver-ständnis von Organisationen abzugleiten. Luhmann reaktiviert für diese Frage dieUnterscheidung von Entscheidungen und Entscheidungsprämissen, die er bereits1964 in seiner Habilitationsschrift über Funktionen und Folgen formaler Organi-sationen in die Diskussion eingeführt hatte.

Entscheidungsprämissen strukturieren die Art, wie Entscheidungen gefälltwerden. Sie sind – in der manchmal vielleicht etwas esoterisch klingenden Sprache

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der Entscheidungstheorie Entscheidungen, die für mehr als eine andere Entschei-dung gelten. Dabei legen die Entscheidungsprämissen die zukünftigen Entschei-dungen nicht endgültig fest. Sie bestimmen aber, wohin die Organisation in Zu-kunft ihre Aufmerksamkeit richten wird. Sie limitieren, was für Entscheidungenin einer Organisation überhaupt zugelassen sind.

Grob unterscheidet Niklas Luhmann drei Typen von Entscheidungsprämis-sen: Programme, Kommunikationswege und Personen. Programme in Form vonRegelwerken, Arbeitsplänen oder technisierten Abläufen legen fest, was in Orga-nisationen als richtig und was als falsch verstanden wird. Sie bestimmen beispiels-weise, ob die Entscheidungen eines eu-Verwaltungsbeamten über die Vergabevon Subventionen im Sinne der Organisation sind oder nicht. FormalisierteKommunikationswege in Form von Hierarchien, Abteilungen, Mitzeichnungs-berechtigungen oder Projektgruppen verhindern, dass jedes Mitglied jederzeitmit jedem anderen Mitglied reden kann (oder darf oder muss). Alternativ zu Pro-grammen und Kommunikationswegen können Entscheidungen auch über Perso-nen strukturiert werden. Wenn man eine Person kennt, kann man sich leicht eineVorstellung davon machen, wie sie entscheiden wird. Wenn man eine Juristin ein-stellt, geht man in der Organisation davon aus, dass sie andere Entscheidungentrifft als eine Sozialwissenschaftlerin oder eine Ingenieurin.

Für ein Forschungsprogramm über internationale Organisationen ist es jetztwichtig, dass die Entscheidungsprämissen kontingent gedacht werden. Man kannauf Entscheidungsprogramme in Form von umfassenden Regelwerken verzich-ten, wenn man sich auf die Personen verlassen kann oder wenn die Hierarchie sostark ausgeprägt ist, dass bei Unsicherheiten immer ein Ansprechpartner da ist.Wenn eine Organisation weniger Wert auf qualifiziertes Personal legt, werdenvoraussichtlich die Anforderungen an die Qualität der Entscheidungsprogrammeund an die Organisation der Kommunikationswege stärker werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die große Stärke dieses Buches ist, Or-ganisationen in einer Art und Weise zu konzeptualisieren, in der diese in ihrer Ab-hängigkeit von ihrer Umwelt begriffen werden können, ohne dabei aber die Frageauszublenden, was für Freiheiten auch angesichts dieser Abhängigkeiten nochbleiben. Eine Vorlage für Forschungen über konkrete transnationale Organisatio-nen ist geliefert. Es bleibt abzuwarten, inwiefern sie in den Sozialwissenschaftenaufgegriffen werden wird.

Stefan KühlUniversität München

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PAUL G. HARRIS (ed.): Climate Change and American Foreign Policy New York 2000St. Martin’s Press, 306 S.

KONRAD VON MOLTKE: An International Investment Regime? Issues of Sustainability Winnipeg 2000 International Institute for Sustainable Development, 76 S.

UNCTAD: Trade Agreements, Petroleum and Energy PoliciesNew York/Geneva 2000United Nations, 162 S.

us der Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung (unced) im Jahre 1992 inRio ist ein System von Rechtstexten gesprossen. Die beiden Haupttexte, die

Rio-Deklaration sowie die Agenda 21, formulieren den Sustainability-Gedanken,sowohl programmatisch als auch operational. Darüber hinaus sind auf der Konfe-renz bzw. aus ihren Anstößen heraus mehrere globale Umwelt-Schutz-Vereinba-rungen entstanden (Konventionen zum Schutz des Klimas, der Biodiversität undgegen Wüstenbildung; zudem Ansätze zum Forstschutz und zum Schutz des Bo-dens). Dabei handelt es sich um Schutzabkommen, also gleichsam um »Defensiv-Abkommen«. Die Rio-Deklaration stellt aber klar, dass Schutz der bedrohten Um-weltgüter letztlich und also effektiv nur dadurch zu erlangen ist, dass der Schutz-gedanke in die entsprechenden Politikfelder, die gleichsam für den »Angriff« ver-antwortlich sind, integriert wird. Man darf sich mit dem faktischen Zustand der»reinrassigen« globalen Umweltregime nicht zufrieden geben, dem zudem nochunkoordinierten Nebeneinander von multilateralen Abkommen zum Schutz ein-zelner Umweltgüter bzw. -medien. Denn man weiß, dass deren Ansatz es geradefehlen lässt an der Integration mit den einschlägigen Sachpolitiken, deren Wandeldoch ihr Ziel sein muss. Der Erfolg, der Schutz der Lebensgrundlagen, wird nureintreten, wenn die Integration von Politikfeldern gelingt, die bislang gemäß denCharakteristika »Defensive« und »Angriff« (= Wirtschaftswachstum, Aufbrechenverkrusteter Strukturen zur Realisierung von Effizienzpotenzialen) in Front zu-einander stehen. Hier sind drei aktuelle Bücher ausgewählt und so zusammenge-stellt, dass diese Perspektive anschaulich wird – in einem Fall (von Moltke) ist diesdas eigentliche Motiv und der methodische Ansatz des Autors.

Paul G. Harris ist erstaunlicherweise die einzige Person, die zum außenpoli-tischen Aspekt der us-amerikanischen Klimapolitik schreibt – bemerkenswerter

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Weise ist er kein Amerikaner, sondern Brite. Es scheint, als ob in den usa, andersals in Europa, unter Insidern ein Schweigegebot für dieses weltpolitisch so bri-sante Thema gilt. Auch andersherum, aus den wissenschaftlichen Denkstuben derAußenpolitik in europäischen Landen, ist ebenso wenig langfristig Vorbereiteteszur Klimaaußenpolitik der usa zu vernehmen. Es scheint, als ob nirgendwo vor-ausgesehen wurde, dass der Clash zwischen den usa und der eu um den globalenFührungsanspruch gerade beim Klimakonflikt stattfinden könnte; dass er ein zen-trales außenpolitisches Thema werden könnte, was er in den ersten Monaten desJahres 2001 dann wurde. Wem der Klimaschutz am Herzen liegt, der kann sichglücklich schätzen, dass der Bushsche Ansatz, diesen Konflikt zu betreiben, in ei-nem solchen Masse unprofessionell war, wie er nur einem Anfänger unterlaufenkann und dass er folglich in einem Desaster der us-amerikanischen Positionendete. In Harris’ jüngstem Buch, einem Sammelband, finden sich zwar auch us-amerikanische Beiträger, doch es überwiegen europäische usa-Spezialisten. Aminteressantesten sind Harris’ Beiträge selbst. Von seinem Recht als Herausgeberhat er in diesem Band wenig Gebrauch gemacht – er hat sich auf die Minimalrollezurückgezogen, zu konstatieren, dass die Autoren eben je verschiedene Historiender us-amerikanischen Klimapolitik seit den frühen achtziger Jahren in ihren Bei-trägen geschrieben haben.

Zu Recht wählt Harris für seine beiden eigenen Beiträge Themenstellungen,die eine Antwort auf die außenpolitisch, insbesondere im Verhältnis zur DrittenWelt, wichtige Frage erlauben, inwiefern die usa sich durch zentrale moralischeund auch rechtlich vereinbarte Verpflichtungen tatsächlich gebunden sehen. Imersten Beitrag (Kapitel 2) geht es um die Gerechtigkeit, die gerechte Lastentei-lung, unter dem Titel »Is the United States Sharing the Burden?« Dazu lautet dasErgebnis bezeichnenderweise lediglich: Die usa haben im eigenen Lande gegenden Klimawandel immerhin nicht nichts getan.

Im zweiten Fall ist die Antwort weniger offensichtlich. In Kapitel 11 machtHarris die Norm der »common but differentiated responsibilities« (cbdr) zumThema. Er interpretiert dazu ausführlich die Byrd-Hagel-Senatsresolution vom25. Juli 1997 sowie den nachfolgenden Beschluss der Clinton-Administration zuihrer Verhandlungsposition für Kyoto. Harris versucht sich gegen ein weitgehendherrschendes angebliches »Missverständnis« zu stemmen, welches insbesondereunter Staaten des Südens verbreitet sei. Die Byrd-Hagel Resolution wird im Aus-land zumeist schlicht als ein »treaty killer« verstanden. Der Wortlaut der Resolu-tion besagt immerhin, dass die Industriestaaten in Kyoto nur dann neue Ver-pflichtungen »to limit or reduce greenhouse gas (ghg) emissions« übernehmensollten, wenn auch »for Developing Country Parties« neue spezifische und zeit-lich programmierte Verpflichtungen »to limit or reduce ghg emissions« vorgese-hen sind, und zwar – man beachte – »within the same compliance period«. Bei die-sem für beide Länderblöcke weitgehend identischen Wortlaut wird der Leser nurschwer eine Differenzierung entdecken. Auch Harris zeigt das letztlich nicht. Er

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legt lediglich ausführlich dar – allerdings allein auf Basis des Protokolls der Dis-kussion, die die Beschlussfassung im Senat begleitete – dass hier »kein Gegensatz«bestehe zu dem Grundsatz der cbdr und dem, dass die Industriestaaten »shalltake the lead«, also voranzugehen sich verpflichtet haben. Doch über den Wort-laut dieses Dementis, welches schon die Senatoren beschworen haben, kommtauch Harris nicht hinaus. Die diplomatische Formel, derer sich die Senatorensämtlich bedienten, lautete, dass man »nicht identische Verpflichtungen« für dieEntwicklungsländer anstrebe. Nur, was das heißen solle, bleibt unerfindlich, ins-besondere im Rückblick, wenn man weiß, welche Spannbreite bei der Begren-zungsverpflichtung schon den Industrieländern in Kyoto zugestanden wurde,wenn es darum ging, »to limit or reduce their ghg emissions« – mit plus acht Pro-zent für Australien und plus 27 Prozent für Portugal.

Die intensive Wiedergabe der Senatsdiskussion lässt lediglich an zwei anderenStellen Sachverhalte entdecken, von denen man meinen kann, dass sie allgemeinmissdeutet werden. (1) Der unbestimmte Artikel beim Subjekt für neue Ver-pflichtungen, »for Developing Country Parties«, weist darauf hin, dass der Se-natsvorbehalt nicht auf die Entwicklungsländer als Block, sondern nur auf ausge-wählte unter ihnen, insbesondere auf die neue Großmacht im Osten, auf China,gemünzt ist – da also läuft sozusagen der us-Hase. Und (2), der Wortlaut der»meaningful participation of Developing Country Parties«, mit dem die Byrd-Hagel Resolution in aller Regel zitiert wird, ist eine bereits schmiegsamer ge-machte Form, in der sie in dem Verhandlungsmandat der us-Delegation fürKyoto auftaucht.

Die cbdr-Formel, die Verabredung, unter der Klimakonvention im Geistevon »common but differentiated responsibilities« Verpflichtungen einzugehen,spielt interessanterweise auch in einem Buch von Konrad von Moltke eine wichtigeRolle. Es handelt sich nur am Rande um ein Klima-Buch. Vielmehr plädiert vonMoltke hier dafür, einen neuen Anlauf zu einem multilateralen Investitions-schutzabkommen zu unternehmen. Hintergrund ist die schon mehr als dreißigJahre währende Geschichte der Versuche, zu multilateralen generellen Verein-barungen zu gelangen, die bislang immer gescheitert sind. Er macht am Ende,wissenschaftlich ungewöhnlich, einen konkreten Vorschlag. Der ist insofern neu-artig, als der Gedanke des Investitionsschutzes als ein zentrales Anliegen der »sus-tainability«-Politik verstanden wird, welche in Rio lediglich proklamiert wurde.Ziel des Klimaregimes z.B. ist in den Augen des Autors eine dem Ziel des Klima-schutzes entsprechende Änderung der Investitionsströme in der Welt. Sein Vor-schlag ist überraschend, weil er ausgerechnet aus der »grünen« Ecke kommt, derEcke, die gemeinhin dafür verantwortlich gemacht wird, dass das im Schoße deroecd erarbeitete Multilateral Agreement on Investment (mai) am Widerstand ei-ner allgemeinen Öffentlichkeit gescheitert ist. Das ist die ungelöste Konfliktlage,auf die von Moltke mit einer außergewöhnlich konzisen Untersuchung erneut dasAugenmerk der Öffentlichkeit zu lenken sucht.

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Ausgangspunkte für von Moltkes Überlegung sind: (1) dass das mai geschei-tert ist – es wurde im Oktober 1998 zu Grabe getragen; (2) der Auftrag aus derUruguay-Runde (Art. 9 gatt), im Review-Prozess nach 2001 zu erwägen, ob derwto-Rechtstextebestand abgerundet werden solle »with provisions on invest-ment policy and competition policy«. Dieser Auftrag ist weiterhin in Kraft undbislang nicht abgearbeitet. Von Moltke schreibt: »… investment flows haveincreased dramatically. For many developing countries, foreign direct investmenthas become the most important source of capital, overtaking both official de-velopment assistance and the funds made available by multilateral developmentbanks. In developing countries, between a third and a half of private corporateinvestment is taken by affiliates of foreign corporations.« (1) Investitionsflüsse ha-ben einen entscheidenden Einfluss auf die Möglichkeit eines Landes, Fortschrittein Richtung eines nachhaltigen Entwicklungspfades zu machen. Doch die Vertei-lung dieser Mittel auf Länder ist heute noch dramatisch »misbalanced«. Dort, wodie Mittel am dringendsten gebraucht werden, fließen sie am spärlichsten hin. DerGrund und die Folge: »Insecure and severely distorted conditions of investmentare risk factors, which are reflected in expected rates of return.« (2) Ein multilate-rales Investitionsschutzabkommen kann helfen, diesen allein politisch bedingtenGrund für die offensichtliche Fehlallokation des knappen Faktors »Investitions-mittel« einzudämmen.

Von Moltkes Grundidee entspricht der unüberbietbar knapp formuliertenWeisheit in Art. 14 Grundgesetz: »Eigentum verpflichtet«. D.h. keine Rechteohne Verpflichtungen – und vice versa. Seine Analyse der bisherigen Geschichtevon Verhandlungen, um zu multilateralen Investitionsschutzabkommen zu ge-langen, erweist in der mangelnden Berücksichtigung dieser Weisheit den Grund,dessentwegen sie scheitern mussten. Der »un Centre for Transnational Corpora-tions Draft Code« (unctc) versuchte in den siebziger Jahren, allein Verpflichtun-gen für Investoren, hier multinationale Unternehmen, verbindlich zu machen.Der mai-Ansatz versuchte es andersherum, er formulierte allein Schutzrechte fürInvestoren. Erfolgreich, so von Moltke, kann nur ein Ansatz sein, innerhalb des-sen Rechte und Pflichten ausbalanciert werden. Das aber muss in einem neuenGremium geschehen, welches dafür legitimiert ist und welches zudem Transpa-renz zu seinem obersten Gebot gemacht hat. Ein solcher Ansatz, soll er erfolg-reich sein, macht eine eigene Institution erforderlich – die bestehenden fachlichzuständigen Gremien haben sich, nicht zuletzt durch die desaströse Geschichteder bisherigen Verhandlungen, als Partei erwiesen und haben damit ihre Legiti-mität gleichsam »verbrannt«.

Ziel und Inhalt des Buches ist vor diesem Hintergrund ein konkreter Vor-schlag, der sich pragmatisch versteht. Moltke empfiehlt, zunächst darauf zu ver-zichten, erneut ein konkretes und allgemeines multilaterales Investitionsschutz-abkommen anzustreben. Dennoch müsse und solle ein solches Abkommen dasZiel sein, das es zu verfolgen gelte – gerade aus dem Gesichtspunkt der Förderung

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der »sustainability« heraus. Doch augenblicklich sei ein solches Abkommen au-ßerhalb jeglicher Reichweite. Stattdessen solle als ein erster (halber) Schritt einRahmenabkommen geschlossen werden, ein »Framework Agreement on Invest-ment« (fai). Die Form des Rahmenabkommens vorzuschlagen folgt einer Lehre,die man mit den multilateralen Umweltregimen gemacht habe. Sie seien in großerWeisheit »dynamisch« in dem Sinne angelegt, dass sie einem Wandel der Erkennt-nis zu der ihr jeweils übertragenen Problemlage gegenüber offen sind und sichinstitutionell demgemäss weiterentwickeln können. Neben dem Rahmenabkom-men, so regt von Moltke als zweiten (halben) Schritt an, solle man gleichsamExerzierfelder für ein kommendes generelles Investitionsabkommen schaffen.Dafür solle genutzt werden, was in Segmenten, in multilateralen Umweltabkom-men, dazu entweder bereits angelegt ist oder angelegt werden könnte. Konkret:Neben der Einführung von Investorenrechten in das Klimaabkommen verstehtvon Moltke darunter entsprechende Vorkehrungen in einem endlich abzuschlie-ßenden internationalen Forstabkommen sowie bei einer Kodifizierung der Aus-beutung von Bodenschätzen, die dem Kriterium der Nachhaltigkeit gerechterwird, als es heute üblich ist.

Hintergrund des Buches sind zwei Überzeugungen des Autors. Erstens, »In-vestment is central to achieving sustainability.« (S. 53) Und zweitens eine ge-schichtliche Einsicht: »An international investment regime is the natural next stepin the secular process of economic liberalization that was launched after the disasterof World War ii and has now come to be known as ›globalization‹.« (ebd.) Zweifelhat er gegenüber der Tendenz, ein Investitionsregime an die wto einfach aus demGrunde anzuhängen, weil sie über ein effizientes Streitschlichtungsverfahren ver-fügt. Um diesen seinen Zweifel zu substantiieren, geht er beispielhaft Kriterien-konflikte durch, die gegebenenfalls von einem Panel der wto zu entscheiden wä-ren. Ergebnis ist, dass die klassichen wto-Kriterien bereits als solche mit akzep-tierten Kriterien unter multilateralen Umweltregimen in unauflösliche Konfliktegerieten. Eine institutionelle Dominanz der wto-Kriterien würde zu unbegrün-deten Schieflagen führen, und zwar zulasten des sustainability-Gesichtspunktes.

Am Beispiel des Klimaregimes erläutert: Zum klassischen Kanon der Krite-rien, die in Handelsabkommen vereinbart werden, gehört das der »non-discrimi-nation« oder des »most-favoured nation (mfn) treatment«. Zum Klimaregimeandererseits gehört, wie erwähnt, die cbdr-Norm, nach der Industrieländer vor-anzugehen haben. Im Klimaregime ist also eine Differenzierung von Ländergrup-pen etabliert, und entsprechend eine Differenzierung der Investoren nach diesenLändergruppen. Im Klimaregime bereits mandatiert sind mit den dort »Instru-mente« genannten cdm und ji Elemente, die faktisch einem Spezialabkommenfür klimapolitisch motivierte Investitionen entsprechen. Offensichtlich aber ver-stoßen die Regeln dieser beiden klimapolitischen »Investitionsabkommen«, wieauch immer sie im Detail eines Tages aussehen werden, gegen den genannten han-delsrechtlichen Grundsatz. Denn »like investments« von Investoren aus Annex-i-

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Ländern und non-Annex-i-Ländern werden, mit voller Absicht, unterschiedlichbehandelt. Die politische Konsequenz: Benötigt wird hier die Institutionalisie-rung eines allfälligen Streitschlichtungssystems in einer Weise, die mit den unaus-weichlichen Kriterienkonflikten so umzugehen erlaubt, dass es in der Spruchpra-xis zu einem Ausgleich kommen kann. Moltke ist überzeugt, dass solcherart Kon-flikte nicht (wesentlich) durch eine reichere Wortwahl im Regime selbst zu lösensind, sondern nur durch eine angemessene und ausgewogene Konfliktlösungs-prozedur.

Das im weiteren Ausbau begriffene handelspolitische Regime ist eine zentraletreibende Kraft in den internationalen Beziehungen. Seine Attraktivität speist sichwie erwähnt u.a. aus dem effektiven Streitschlichtungssystem, auf das man sich imwto-Rahmen hat verständigen können und welches in etlichen Disputen zwi-schen der eu und den usa, formal häufig vertreten durch Klientenstaaten, bereitsgetestet wurde. Höchstrichterliche Erstentscheidungen liegen vor, vielfach ausge-rechnet in Fällen, in denen es anscheinend zum Konflikt zwischen (Frei-)Han-dels- und Umweltbelangen kam, die Richter aber jeweils nachweisen konnten,dass das Umweltmotiv in Wirklichkeit nur vorgeschoben war. Diese Entwicklungauf globaler Ebene hat offensichtlich Anklänge an die Entwicklung des Rechts-staates in der europäischen Neuzeit, die zur Überwindung bzw. Einhegung derGewalt auf der Ebene des Nationalstaates führte. Dies scheint mir die zentraleHoffnung nun auch auf globaler Ebene zu sein: Dass Kanonenboote nicht längerdie ultima ratio sein müssen.

Schließlich über diese Perspektive nachdenken zu können, dafür gibt einschmales, aber hochoriginelles Buch den Anlass. Es wurde von Murray Gibbs, Lei-ter der Einheit »Trade Negotiations and Commercial Diplomacy« der wto, zu-sammengestellt. Anlass, dieses Buch zu schreiben, war die in arabischen Staatenfehlende Einsicht, dass das Handelsregime nach der Uruguay-Runde auch fürErdöl(-Produkte) sowie Dienstleistungen rund um die Erdölförderung gilt. AufBitten von unctad wurde eine Serie von Seminaren für Erdölförderländer ver-anstaltet, denen das Buch – wenigstens teilweise – zugrunde lag. Das sollte diesenLändern helfen, ihre handelspolitischen Interessen unter dem neuen Regime bes-ser zu verfolgen. Methodisch geschieht das dadurch, dass regionale Handelsab-kommen ins Blickfeld genommen werden; denn die spielen traditionell eine Pfad-finderrolle für das globale Handelsregime. Einen Überblick hierüber hat OwenSaunders vom Institute of Natural Resources Law, University of Calgary, beige-steuert. Der Band wird abgeschlossen und abgerundet durch einen Beitrag CraigVan Grassteks, des Präsidenten von Washington Trade Reports. Er stellt die tradi-tionelle Handelspolitik der usa in Bezug auf Energieträger dar. Diese weist einengroßen Überlappungsbereich zur Sicherheitspolitik auf, und das wird auch in Zu-kunft nicht anders sein. Die Implikationen für die Erdölförderländer im Falle ih-res wto-Beitritts, werden hier, so kann man sagen, »ungeschminkt« dargestellt –es ist von »Kanonenbooten« wirklich die Rede.

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Die meisten ölexportierenden Staaten unter den Entwicklungsländern warenbis in die achtziger Jahre dem gatt-Abkommen nicht beigetreten. Die Uruguay-Runde brachte immerhin den Beitritt Mexikos und Venezuelas. Weitere Ölförder-länder befinden sich gegenwärtig im Prozess des Beitritts oder erwägen intensiv,dieses zu tun. Der Grund, weshalb sie bislang nicht beigetreten sind und der siezögern lässt, es zu tun, hängt mit der sogenannten »dual-pricing«-Praxis zusam-men. Darunter versteht man die Sitte, dass Ölförderstaaten die inländischen Öl-preise niedriger halten als die Export-(oder Weltmarkt-)Preise. Für Erdgas giltdasselbe. Mit dieser Praxis pflegen solche Staaten den Aufbau einer Öl weiterver-arbeitenden Industrie im eigenen Lande zu fördern. Und sofern dafür bislang nurabgefackeltes Erdölbegleitgas genutzt wird oder weiträumige und energieinten-sive Erdgastransporte vermieden werden, so liegt eine solche Politik sowohl imSinne einer sinnvollen Arbeitsteilung innerhalb der Weltwirtschaft als auch imSinne des Klimaschutzes. Doch die Durchsetzung des »dual pricing« erfordert zu-meist Praktiken wie z.B. Export-Restriktionen, die dazu tendieren, gegen ein-schlägige Normen des Welthandelsregimes zu verstoßen.

Wenn die Ölförderländer dem multilateralen Handelsregime beiträten, sowäre dies ein Quantensprung in den internationalen Beziehungen bzw. Konflik-ten um den so besonderen Rohstoff »Energie«. Doch selbst wenn es gelänge, denlatenten Konflikt um den Zugang zu fossilen Energien unter das wto-Regime zubringen, so ist damit keineswegs sichergestellt, dass er, wenn er »heiß« würde, inZukunft rechtsförmig ausgetragen würde. Und sofern es zu Zwangsmaßnahmenkommen sollte, so ist nicht sicher, dass dieser Konflikt das nächste Mal nicht mitRaketen und Granaten, sondern mittels Handelssanktionen als »last resort« be-trieben würde. Das klaffende Scheunentor im Vertragswerk ist die auf Betreibender usa eingebrachte Ausnahmeregel in Art. xxi gatt, welche jegliche Restriktio-nen unter Verweis auf »national security« erlaubt. Offen ist, so Van Grasstek, obdie usa bei der Weiterentwicklung multilateralen Handelsrechts auf der Weiter-existenz dieses Tores bestehen werden. Das Testfeld bieten die regionalen Han-delsabkommen nafta und ftaa, denen den usa »nahe« Ölförderländer angehö-ren. Beide Abkommen folgen einem sog. gatt-Plus-Ansatz. D.h. ihrem Entwick-lungsstand kann man entnehmen, was die usa an Verpflichtungen über denMinimum-Standard des globalen wto-Regimes hinaus nicht so grundsätzlich ab-lehnen, dass sie es nicht einmal in den Regionalabkommen ihres näheren Umfel-des zulassen.

Indizien zeigen, wie die usa ihre Ziele zur Thementrias Energie-Handel-Sicherheit im Vorfeld der anstehenden wto-Runde präformieren. Dort steht dieRevision des General Agreement on Trade in Services (gats) an, welches Dienst-leistungen unter das wto-Abkommen brachte und im ersten Anlauf im Umfangrecht beschränkt war. Innerhalb dessen verfolgen sie das Ziel, ihrer Industrie, dieinsbesondere im Service bei der Erschließung von Öl- und Gasquellen stark ist,den Zugang zum Geschäft in den Ölförderländern der Dritten Welt zu sichern –

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146 Rezensionen/Book Reviews ipg 2/2002

und das sichert selbstverständlich zugleich einen bestimmenden Einfluss auf stra-tegische Investitionsentscheidungen.

D.h. die Option, schließlich doch Kanonenboote oder ihr jeweiliges zeitgemä-ßes Substitut vorfahren zu lassen, um den Zugriff auf Energie auch gegen denWillen der Ressourceneigner zu »sichern«, ist leider noch lange nicht aus der Welt.Die Klimapolitik wird ihren bislang geringen Einfluss erst überwinden, wenn sienicht mehr nur Sache der Umweltminister ist; erst wenn Handels-, Wirtschafts-,Sicherheits- und vor allem Finanzpolitik sich in die Verhandlungen hineindrän-gen, weil sie begreifen, dass es ihre Sache ist, die dort verhandelt wird. Auf einemvergleichbaren Felde, dem der weltweiten Wasserpolitik, ist dieser Zustand schonein Stück weiter verwirklicht als im Bereich der Klimapolitik.

Hans-Jochen LuhmannWuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie

NORMAN BIRNBAUM:After Progress. American Social Reform and European Socialism in the Twentieth CenturyNew York/Oxford 2001Oxford University Press, 432 S.

ür manche politischen und intellektuellen Kräfte ist mit dem Übergang ins neueMillennium nicht nur das »Jahrhundert der Sozialdemokratie«, sondern über-

haupt eine Ära für sozialreformerische Strömungen vorüber. Zu denjenigen, diesich derartigen ideologischen Flucht- und Erleichterungsbewegungen widerset-zen und Lehren aus historischen Erfahrungen gezogen haben, gehört NormanBirnbaum, Professor an der Georgetown University Law School und einer derGründungsherausgeber der New Left Review. In seinen Publikationen nimmt erdie immer wieder neuen Herausforderungen für progressive Parteien und Bewe-gungen zum Anlass für Überlegungen über die Lehren der Vergangenheit undzeitgemäße Wege und Schritte in eine humanere Zukunft. In seinem jüngstenBuch breitet Birnbaum seinen betont subjektiven Überblick über das 20. Jahrhun-dert aus. Indem er das Buch drei früheren Freunden und politischen Persönlich-keiten widmet – dem italienischen Eurokommunisten Enrico Berlinguer, dem us-Sozialisten Michael Harrington und Willy Brandt, steckt der Autor das politischeund geografische Terrain seiner Betrachtungen ab. Aktueller Anlass sind dieSchwierigkeiten sozialdemokratischer und sozialreformerischer Bewegungen undParteien in Westeuropa und den usa, im Angesicht vielfältiger und komplexerneuer Herausforderungen und beschleunigten gesellschaftlichen Wandels ideolo-gisch fundierte, angemessene und attraktive Programmatik und Strategie zu ent-werfen und umzusetzen. »Dritte Wege« à la Blair & Schröder, dies wird deutlich,

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hält er für ein »electoral device« (S. 373) und nicht für hinreichend, um zu einersolidarischeren, humaneren Gesellschaft zu kommen.

Bereits im ersten Absatz des Buches formuliert Birnbaum eine Erkenntnis, diezugleich tröstet und anspornt, und nur in solchen historischen Reflexionen glaub-würdig aufkommen kann. Im Kern der zeitgenössischen Selbstvergewisserungenund Neupositionierungen sozialdemokratischer und sozialistischer Parteien inEuropa handele es sich letztlich um Grundfragen, die so alt seien wie diese poli-tischen Bewegungen selber, genau hierdurch würden Profil und Identität erzeugt(darunter insbesondere das Verhältnis zum Markt). Die jeweiligen theoretisch-konzeptionellen und praktisch-politischen Positionierungen zu Kolonialismus,den beiden Weltkriegen, der russischen Oktoberrevolution, wirtschaftlich-techni-schen und kulturellen Entwicklungen, Dekolonialisierung, Geschlechter- undökologischer Frage, prägten die progressiven Parteien und Bewegungen. Birn-baum definiert Sozialismus als »a project that intends the transformation of hu-man society by enlarging the sovereignity of its members, by extending the do-main of reason to economic and social processes otherwise thought immutable.Socialism seeks to domesticate the market and terminate unnecessary human in-equalities. It attempts to extent primary solidarities, with due attention to scale,to the entire structure of society. Socialism entails a radical and thorough practiceof democracy – and that in turn depends upon a society of democrats, citizens, andhumans able to act with generosity and intelligence, knowledge and devotion.«(S. 6) Er stellt zugleich die Parallelen zu jüdisch-christlichen Glaubensformen her-aus, erinnert an unterstützende religiöse Strömungen, und macht damit verbun-den auf einen singulären Dualismus des Sozialismus aufmerksam: »as a secular-ized church of salvation and a profane social movement« (S. 12).

In den folgenden Kapiteln entfaltet Birnbaum seine Sichtweise auf die Ent-wicklungen der sozialdemokratischen und sozialistischen Aktivitäten in Europaund die sozialreformerischen Versuche in den usa im Verlauf des letzten Jahrhun-derts. Die Voraussetzungen auf beiden Kontinenten waren teilweise sehr unter-schiedlich, insbesondere hinsichtlich der politischen Systeme und Kulturen, be-ginnend mit Zarismus und Kaisertum diesseits, und (beschränkter) Demokratiejenseits des Nordatlantik. In den verschiedenen Ländern entwickelten sich unter-schiedliche progressive Parteien und Bewegungen. Birnbaum beschreibt undkommentiert die Oktoberrevolution, ihre vielfältigen Folgen; die 30er Jahre mitÜberwindung der Weltwirtschaftskrise, New Deal, Faschismus; Neuanfängenach dem Zweiten Weltkrieg mit den verschiedenen Varianten von Sozialstaats-modellen, dem Nachkriegsboom (dem »Goldenen Zeitalter«), den mediterranen(Spanien, Italien) und den angelsächsischen Sozialismustypen (Großbritannienund usa).

»The societies of the European Union and the United States have profoundtraditions of solidarity institutionalized in the redistributive mechanisms and so-cial insurance systems of their welfare states.« (S. 366) Doch die Dominanz des

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Kapitals, insbesondere die Mobilität auf den Finanzmärkten, sei immer noch daszentrale Problem. »The rhetoric of economic constraint remains dominant, butwe also hear, if faintly, the language of social possibility. The reactivation of theEuropean socialist movement, and of a broad coalition for social reform in theUnited States remains extremely difficult, but it is not impossible.« (S. 373) Zwarsei der politische und soziale Aktivismus verschwunden, Parteien und Gewerk-schaften würden von professionellen Personen gemanagt, doch in neuen sozialenBewegungen und Aktivitäten jenseits etablierter Politikinstitutionen bestehe eingroßes Potenzial mündiger und aktiver Bürger. Es bestünden reale Möglichkeitenzur Regulierung der Finanzmärkte, einer Neuorganisation der Arbeit und der Ge-schlechterverhältnisse, eines neuen Verhältnisses zur Natur. Ansätze dazu gebe esbeiderseits des Nordatlantik, doch sei zu deren Verbreitung eine neue gesellschaft-liche Analyse erforderlich. Zu viele Intellektuelle aber seien fatalerweise mit The-men beschäftigt, die weit entfernt seien von den Lebenswirklichkeiten der Mit-menschen und »Identitätspolitik« oder »Dekonstruktivismus« in den Vorder-grund stellten (S. 377). Zudem hätten die politischen Eliten ihre Wählerschaftenzu einseitig auf eine »democracy of consumption« orientiert. Gerade angesichtsaufkommender Fremdenfeindlichkeiten, Rassismen, Provinzialisierungen be-stehe die Gefahr von Regression. Daher müssten sich die progressiven Kräfte aufdrei Themen konzentrieren: »the political control of the market, the redefinitionof work, and civic education. There are elements in the political and social tradi-tions of the Western societies that could serve as beginning points for new pro-grams of reform.« (S. 378) Allerdings werden diese von Birnbaum nur knapp undkursorisch benannt. Bezug nehmend auf den us-Sozialisten Eugene Debs schließtBirnbaum in typisch pragmatischer Haltung sein Buch: »Not a promised land, buta terrain of dialogue and experiment is what remains to be cultivated to replacethe immensely fragile and profoundly spurious order of our societies.« (S. 382)

Die von Birnbaum niedergeschriebenen Selbstvergewisserungen auf derGrundlage breiter historischer Reflexionen, die sich häufig auf persönliche Erfah-rungen und Erlebnisse berufen, hätten etwas systematischer ausfallen können.Dennoch enthält der Band zahlreiche Überlegungen und Anregungen, die es wertsind, berücksichtigt zu werden – in Westeuropa, insbesondere aber in den usa.Dort ist der Adressatenkreis zwar kleiner, aber es formieren sich seit Seattle (Anti-wto-Demonstrationen), spätestens aber seit dem ominösen Präsidentenwahlaus-gang vom November 2000, neue gesellschaftliche Gegenbewegungen. Humani-sierung und sozial-ökologischer Umbau unserer Gesellschaften bleiben jedenfallsnicht langweilig. Es gilt, sie – auf der Basis der vielen bisherigen Erfahrungen –erfolgreicher zu gestalten.

Edgar GöllInstitut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung

Berlin

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ROBERT LADRECH:Social Democracy and the Challenge of European Union Boulder/London 2000Lynne Rienner Publishers, 165 S.

echtzeitig zum Parteikongress der Europäischen Sozialdemokraten (spe) ver-öffentlichte die spd am 30. April 2001 ihren Entwurf für einen Leitantrag zur

Europapolitik. Sie positionierte sich damit in einer Debatte zur Zukunft Europas,an der auch andere prominente Sozialisten und Sozialdemokraten teilgenommenhaben (Blair, Delors, Jospin, Clement). Alle Beteiligten sind sich in den inhalt-lichen Zielen relativ einig, also darin, was Europa mit der Integration erreichenwill (Wohlstand, soziale Gerechtigkeit, Sicherheit etc.). Die Unterschiede beste-hen mehr bei den Verfahren, den institutionellen Fragen und der Reform wichti-ger Politiken. Dieser Zustand umschreibt die nicht ganz einfache Situation, in dersich Europas Sozialdemokraten gegenüber der eu befinden. Wer die tieferenUrsachen und Auswirkungen dieses Dilemmas verstehen will, kann sich Rat beiRobert Ladrech holen.

Der Rat ist umso leichter anzunehmen, als der Autor ein angenehm knappesBüchlein vorgelegt hat, das klar gegliedert ist. Dabei ist es meist hoch konzen-triert. Ladrech hat sich tief in die relevante Literatur sowohl zum Thema europäi-sche Sozialdemokratie als auch europäische Integration eingearbeitet und dabei –was einem Briten besonders hoch anzurechnen ist – offensichtlich auch franzö-sische Texte (im Original!) und deutsche Autoren wie Scharpf, Streeck, Wessels,Maurer sowie natürlich Politiker berücksichtigt. Selbst Portugiesen, Griechen,Österreicher, Niederländer und Italiener kommen zu Wort.

Ausgangspunkt von Ladrechs Überlegungen ist Europas »sozialdemokra-tischer Augenblick«, als nach den deutschen Wahlen 1998 die wichtigsten undmeisten Mitgliedstaaten sozialdemokratisch (mit-)regiert wurden. Für Ladrechist dieser Augenblick Anlass zum Rückblick und er kommt zu dem Schluss, dassEuropas Sozialdemokraten in den 90er Jahren große Fortschritte in ihrer organi-satorischen Vernetzung und politischen Koordination gemacht haben. Allerdingssind die Unterschiede und nationalen Vorbehalte noch erheblich. Ladrechs be-gründete Vermutung ist, dass sie auch nicht so bald überwunden werden, auchwenn Ignazio Silones Dictum »Nichts nationalisieren die Sozialisten so schnellwie den Sozialismus« vielleicht nicht mehr in vollem Umfang gilt.

Die Hindernisse auf dem Weg zu einer gemeinsamen Programmatik und Po-litik der europäischen Sozialdemokratie zur europäischen Einigung sind auch be-achtlich. Ladrech analysiert zunächst die Herausforderungen, vor die der Integra-tionsprozess alle Parteien stellt: das legendäre »Demokratiedefizit« der eu mit sei-ner Dominanz der Regierungen, der Schwäche des Parlaments und der ebensoschwachen Rolle nationaler Parlamente (Ausnahme: Dänemark). Für die Sozial-demokratie ist die Herausforderung doppelt, da ihre Agenda der »Zähmung des

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150 Rezensionen/Book Reviews ipg 2/2002

Marktes« durch das Binnenmarktprojekt von 1985–92 und die Währungsunionbesonderen Belastungen ausgesetzt ist.

In der Phase der konservativ-liberalen Dominanz in den 80er Jahren haben sichdie europäischen Sozialdemokraten dieser Herausforderung gestellt und ver-sucht, gemeinsame Gegenkonzepte für eine »Sozialdemokratisierung der eu« zuentwickeln. Als hilfreich hat sich dabei jener Kurswechsel erwiesen, der als »Drit-ter Weg«, »Neue Mitte« oder »Modernisierung der Sozialdemokratie« in die De-batte einging. Er schaffte den Parteien und ihren Führungen mehr Flexibilität.Parallel hat auch die eu die Bedeutung der Parteien stärker anerkannt und Ihnenim Maastrichter Vertrag eine Rolle zugewiesen, die der im deutschen Grundge-setz vorgesehenen Rolle nahe kommt. In der Tat kann Ladrech eine positive Bi-lanz für die spe ziehen. Ihre koordinatorischen und programmatischen Anstren-gungen waren insofern von Erfolg gekrönt, als seit Mitte der 90er Jahre sozial-und beschäftigungspolitische Belange in der eu (im Amsterdamer Vertrag, beidiversen Gipfeln) eine zunehmende Prominenz gewannen.

Das Buch bietet einen guten Einstieg in die Probleme der Mehrebenendemo-kratie, der politischen Steuerung von Integrationsprozessen und moderner Partei-ensoziologie. Dem Rezensenten fiel nur ein Fehler auf: Auf Seite 26 wurde 1996als Jahr der Referenden in den efta-Beitrittsländern angegeben, ein Lapsus, dender Autor selbst auf Seite 74 »korrigiert«. Ein kleines Desideratum ist die Vernach-lässigung der regionalen Ebene, die jedenfalls in Deutschland nicht unerheblichist. Auch die Erweiterungsproblematik, in der die Positionen der nationalen Sozi-aldemokratien potenziell auseinandergehen und sich die Frage der Integration derMitgliedsparteien der Sozialistischen Internationale in die erweiterte spe stellt,glänzt durch Abwesenheit. Trotzdem ist dies ein empfehlenswerter und umfassen-der Einstieg in das Thema »Sozialdemokratie und Europäische Integration«.

Michael DauderstädtFriedrich-Ebert-Stiftung

Bonn

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LUCJAN T. ORLOWSKI (ed.):Transition and Growth in Post-Communist Countries The Ten Year ExperienceCheltenham/Northampton 2001 Edward Elgar, 316 S.

JAN DELHEY:Osteuropa zwischen Marx und Markt. Soziale Ungleichheit und soziales Bewusstsein nach dem KommunismusHamburg 2001Reinhold Krämer Verlag, 335 S.

ittel- und Osteuropa wird häufig nur unter politischem Vorzeichen gesehen,sei es unter der Perspektive der Osterweiterung, den Krisen auf dem Balkan

oder der schwierigen Demokratisierung in vielen Ländern der ehemaligen Sow-jetunion. Selbst dann, wenn man in Deutschland oder »im Westen« über die wirt-schaftliche Seite nachdenkt, dominieren die Aspekte, die uns berühren, wie Mi-gration, Chancen für Investitionen, der Außenhandel und die damit verbundenenProbleme der Konkurrenz. (West-)Europa fürchtet sich vor der Instabilität in die-ser Nachbarregion und ihrem möglichen Herüberschwappen in die eigene Wohl-standsinsel.

Dabei ist es für die Stabilität dieser Region langfristig wohl am wichtigsten,dass dort ein kräftiges Wirtschaftswachstum in Gang kommt, das den Menschenzu Wohlstand verhilft, und dass eine kluge Sozialpolitik auch jene Bevölkerungs-gruppen mitnimmt, die nicht zu den Gewinnern einer – selbst keineswegs ge-sicherten – Modernisierung zählen. Es sind genau diese Kernfragen der Entwick-lung in Mittel- und Osteuropa, denen sich der von dem polnischen Wirtschafts-wissenschaftler Lucjan Orlowski herausgegebene Sammelband widmet. Orlowskiist es dabei gelungen, eine hochkarätige Gruppe von Autoren zu versammeln, diesich unterschiedlichen Aspekten dieser Problematik widmen. Die Beiträge sind indrei große Kapitel geordnet, die sich zuerst mit den langfristigen, strukturellenVoraussetzungen von Wachstum in diesen Ländern, zweitens mit den makroöko-nomischen Bedingungen und drittens mit den sozialen Sicherungssystemen be-fassen.

Die beiden Hauptbeiträge im ersten Kapitel folgen einem bekannten Musterakademischer Papiere: eine Hypothese wird quantifiziert und einer Regressions-analyse auf der Basis umfangreicher Daten aus verschiedenen Ländern und/oderZeiträumen unterworfen. Der Erkenntniszuwachs jenseits einer Fülle statistischerInformationen hält sich aber in Grenzen. Der umfangreiche Eingangsbeitrag vonStanley Fisher und Ratna Sahay vom Internationalen Währungsfonds führt die un-terschiedliche Wachstumsleistung der Übergangsökonomien vor allem auf die

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152 Rezensionen/Book Reviews ipg 2/2002

unterschiedlichen Reformfortschritte zurück, wobei die entschlossensten Refor-mer auch diejenigen Gesellschaften waren, die dem Westen am nächsten lagen,kürzer unter kommunistischer Kontrolle und vor dieser schon relativ hoch ent-wickelt waren. Der zweite Beitrag von Warner konzentriert sich auf die Chancendieser Länder, sich dem Einkommensniveau der eu anzunähern und kommt weit-gehend zum gleichen Ergebnis. Für den Rezensenten spannender waren dieKommentare des ehemaligen ungarischen Finanzministers Bokros, der mit einigenBeispielen sowohl die Datenmunition der ökonometrischen Kanonen als auch diemit ihnen erschossenen Spatzenergebnisse relativierte, indem er u.a. auf die wenigbeachteten Konjunkturzyklen während der Planwirtschaft, also vor dem Sys-temumbruch, hinwies. Der Umbruch von 1989 traf die einzelnen Länder in un-terschiedlichen Konjunkturphasen.

Im zweiten Kapitel befassen sich mehrere Autoren mit unterschiedlichenAspekten der Öffnung der Übergangsökonomien für Kapitalströme, wie diemögliche Ansteckung durch Währungskrisen in Asien und Russland und diemögliche einseitige Übernahme des Euro. Vor allem der diesbezügliche Beitragvon Bratkowski und Rostowski verdient eine größere öffentliche Beachtung. Sie ge-hen von der oft vernachlässigten Frage aus, wie sich finanzielle Stabilität und dieim Aufholprozess notwendige reale Aufwertung miteinander ohne Finanzkrisenverbinden lassen. Eine einseitige Übernahme des Euro hätte hier den Vorteil derSicherung vor spekulativen Attacken auf eine eigene Währung, ohne dass sich dasLand in die wirtschaftspolitische Zwangsjacke der aus Brüssel und Frankfurt ver-ordneten Wirtschaftspolitik einbinden müsste.

Im letzten Kapitel beschäftigen sich sechs Autoren mit den Optionen der so-zialen Sicherung in Mittel- und Osteuropa. Zwei umfangreichere Beiträge vonBarr (allgemein zum Wohlfahrtsstaat mit Ausnahme des Gesundheitswesens)und Rutkowksi (zum Rentensystem) werden von je zwei Experten kommentiert.Insgesamt erhält der Leser einen vorzüglichen Überblick über die Struktur der so-zialen Sicherungssysteme, ihre Reformen seit 1989 und die anstehenden Pro-bleme. Während die Hauptartikel vor allem durch klare Strukturierung und Da-tenvielfalt bestechen, geben die Kommentare oft erstaunliche Einsichten aufwichtige Aspekte, so z.B. Golinowskas Hinweis auf die Erwartungen insbeson-dere der polnischen Bevölkerung an den Systemwechsel, nämlich einen sozialisti-schen Wohlfahrtsstaat mit kapitalistischer Wirtschaft, oder Schmähls Hinweisdarauf, dass unterschiedliche Rentensysteme keineswegs unterschiedliche Spar-quoten bedeuten müssen, selbst wenn die Vermögensbestände in den Renten-fonds gewaltig differieren (Vergleich Niederlande-Deutschland).

Den Schluss des Buches bildet das Protokoll einer Podiumsdiskussion mit pro-minenten politischen und wissenschaftlichen Exponenten des Transformations-prozesses (u.a. Vaclav Klaus, Leszek Balcerowicz, Jeffrey Sachs). Die Beiträge ge-ben einen kurzen Einblick in die politische Dimension der Transformation, blei-ben aber naturgemäß eher anekdotisch und eklektisch. Damit ist auch gleich ein

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erstes Defizit dieses Sammelbandes benannt: er konzentriert sich überwiegendauf die volkswirtschaftliche Problematik. Selbst dort bleiben wichtige Aspekteweitgehend ausgeblendet, wie etwa der Außenhandel, die Modernisierung derWirtschaftsstruktur, der Arbeitsmarkt, das Bankensystem, die alle nur kursorischbehandelt werden. Der politische Prozess der Demokratisierung und die Verket-tung von Politik (im Sinne von Macht, Repräsentation, Recht, nicht von Wirt-schaftspolitik) und Wirtschaft wird ebenfalls nur am Rande behandelt. Doch inseinen zentralen Fragestellungen (Wachstum, Währungs- und Sozialpolitik) setztdieser Sammelband zweifellos Maßstäbe, auch in der bei Tagungsbänden keines-wegs selbstverständlichen editorischen Homogenität.

Was Orlowski und seine anderen Autoren an ökonomischem Tiefgang haben,wird man bei Delhey zwar vermissen, man wird dafür aber durch eine Vielfaltmehr soziologisch-politischer Daten und Analysen entschädigt. Diese konzen-trieren sich auf die – bei Orlowski eher am Rand behandelte – Frage der Armutund Ungleichheit in Mittel- und Osteuropa. Im Zuge der Osterweiterung derEuropäischen Union richtet sich vor allem in den östlichen eu-Mitgliedstaatenwie Deutschland oder Österreich der sorgenvolle Blick auf die soziale Situationin den Kandidatenländern. Befürchtet man doch, dass Armut und Unzufrieden-heit die Menschen dort zur Flucht nach dem scheinbar viel besseren Westen ver-anlassen könnten – eine Möglichkeit, die zwar auch schon heute besteht und ge-nutzt wird, die aber nach einem Beitritt im Rahmen der Freizügigkeit legal wäre.Selbst wenn keine Migration da wäre, blieben die westlichen Wohlfahrtsstaatennicht unberührt vom Elend des Ostens. Denn es zwänge die Menschen dort,schlecht bezahlte Jobs, die mit Arbeitsplätzen hier konkurrieren, zu akzeptierenoder gar nach illegalen Einnahmequellen zu suchen. Es gibt also genügend haut-nahe Gründe – von akademischen und altruistischen Motiven ganz abgesehen –sich mit der sozialen Lage in Mittel- und Osteuropa zu beschäftigen. Das Bild,das sich bietet, ist beunruhigend, aber nicht ganz entmutigend. Es lohnt sichaber, näher hinzusehen, wobei wir erst einmal dem vorliegenden Buch folgenwollen.

Delhey beginnt mit einer Darstellung des Transformationsprozesses, die voneiner knappen Beschreibung der sozialistischen Verhältnisse über die unterschied-lichen Transformationspfade zur heutigen (bzw. der zum Zeitpunkt des Abschlus-ses seines Manuskriptes statistisch erfassten) Situation reicht. Die Unterschiedezwischen den mittel- und osteuropäischen Ländern sind dabei bemerkenswertund reichen – was oft unterschätzt wird – in die sozialistische Zeit zurück. Delheybeschränkt sich dabei auf Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Bul-garien und Ostdeutschland, das offensichtlich einen Sonderfall darstellt, der aberinteressante Vergleiche und Kontrastierungen erlaubt. Leider ist vor allem dieDarstellung des Transformationsprozesses sehr oberflächlich und kaum mit denanschließend behandelten Ergebnissen in Form von Armutsentwicklung etc. ver-bunden.

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154 Rezensionen/Book Reviews ipg 2/2002

Delhey stellt sehr knapp zwei Variablen des Transformationsprozesses dar: dieStrategien und die politischen Dominanzverhältnisse. Bei den Strategien unter-scheidet er wie oft üblich zwischen Gradualismus und Schocktherapie. Diese Un-terscheidung ist wenig aussagekräftig, oft überzogen und es wird auch nicht klar,ob etwa Schocktherapien – wie oft gern unterstellt – sozial belastender sind alsgradualistische Strategien. Bei den politischen Variablen konzentriert sich Delheyauf die Rolle sozialdemokratischer und sozialistischer (d.h. vor allem post- undreformkommunistischer) Parteien. Auch hier bleibt er aber die Analyse der Bezie-hung zu den ökonomischen und sozialen Resultaten schuldig (Der Rezensent ver-mutet, dass dieser Zusammenhang insofern schwach ist, als auch »linke« Parteienmeist den Reformkurs konsequent fortsetzten). Was insbesondere in diesem Kon-text fehlt, ist eine detaillierte Darstellung der Reform der Sozialpolitik in Mittel-und Osteuropa, von der man ja eine Beeinflussung der sozialen Lage einschließ-lich der Einkommensverteilung erwarten sollte (In der Tat hat etwa die groß-zügige Rentenpolitik in Polen während der berüchtigten Schocktherapie vonBalcerovic dafür gesorgt, dass die Einkommensposition der Rentner sich relativgehalten, ja gar verbessert hat). Die Darstellung der sozialpolitischen Reformenerfolgt im Buch sehr knapp und spät als Rückwirkung der Einstellungen der Be-völkerung auf eineinhalb Seiten (S. 227–228).

Recht solide und detailliert ist dagegen die Darstellung der wirtschaftlichenund sozialen Entwicklung von 1989–1997 (in letzterem Jahr endet die Erhebung).Ihr folgen mehrere Kapitel mit insgesamt über 100 Seiten, die sich der subjektivenSeite der Problematik widmen, also den Wahrnehmungen, Einschätzungen undWünschen der Bevölkerung in Mittel- und Osteuropa bezüglich ihrer sozialenLage. Delhey untersucht zahlreiche Dimensionen des sozialen Bewusstseins undunterwirft sie aufwendigen statistischen Analysen, die leider manchmal schwernachzuvollziehen sind. Es gelingt ihm aber durchaus, den Leser dann durch Zu-sammenfassungen wieder »mitzunehmen«. Den Abschluss des Buches bildenVergleiche zwischen postkommunistischen und traditionell kapitalistischen Län-dern, also zwischen Ost und West sowie ein Ausblick auf mögliche künftige Ent-wicklungen. Hier vermisst der Rezensent allerdings die Behandlung einer eigent-lich naheliegenden Frage: Wie sieht es mit dem eu-Beitritt aus? Alle behandeltenLänder sind Kandidaten, wenn auch mit unterschiedlichen Beitrittsaussichten. Eswäre sowohl interessant zu sehen, inwieweit sich die Beitrittsvorbereitungen aufdie Politik und das Bewusstsein in den Ländern ausgewirkt haben, als auch, wiesich der Beitritt von Ländern mit bestimmten sozial- und gesellschaftspolitischenEinstellungen auf die künftige Entwicklung europäischer Politik auswirken wird.Delhey wäre eigentlich optimal platziert (gewesen), diese Fragen zu analysieren.Aber wer immer darüber nachdenken will, sollte schon mal mit seinem Buch an-fangen, um die Ausgangslage zu verstehen.

Michael DauderstädtFriedrich-Ebert-Stiftung

Bonn

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JOHANN WELSCH:Globalisierung, neue Technologien und regionale Qualifizierungspolitik Welche Regionen sind die »Gewinner« der Informationsgesellschaft? Marburg 2000Metropolis, 134 S.

ie Frage im Untertitel klingt interessant: Welche Regionen werden die Gewin-ner der Informationsgesellschaft sein? Doch Regionen werden vom Autor

nicht benannt. Seine Antwort ist allgemeiner: Es werden die Regionen sein, diesich den Herausforderungen der globalen Informationsgesellschaft am bestenund schnellsten anpassen können. Und wie sie das durch eine regionale Qualifi-zierungspolitik machen können, versucht der Autor, Professor an der Fachhoch-schule Wiesbaden, in dem vorliegenden Buch zu vermitteln. Handlungsspiel-räume für die regionalen Akteure seien vorhanden, wenn auch begrenzt: EineReihe von Faktoren, z.B. die Politik auf nationaler Ebene und Unternehmensstra-tegien, sind nicht oder kaum beeinflussbar. Doch regionale Qualifizierungspolitikist machbar.

Zu diesem Ergebnis kommt Welsch erst nach Darstellung der allgemeinenEntwicklungen. Der Weg ins 21. Jahrhundert werde durch vier Megatrends ge-prägt: � die Globalisierung der Märkte und die Internationalisierung der Produktion,� die schnelle Verbreitung der neuen Informations- und Kommunikationstech-nologien,� die Tertiarisierung der Wirtschaftsstrukturen und � die Wissensintensivierung der Beschäftigung.

Diese Ausführungen geben in komprimierter Form das wieder, was man auchin anderen Veröffentlichungen zur Globalisierung und zur Informationsgesell-schaft lesen kann. Was aber haben diese Megatrends mit den Regionen zu tun?Welsch argumentiert, dass es im Zuge dieses Prozesses zu einer verschärftenStandortkonkurrenz zwischen den Regionen komme. Dabei verlieren die tradi-tionellen Standortfaktoren wie natürliche Ressourcen oder Kapital an Bedeutung.Humankapital dagegen wird im Sinne der Verfügbarkeit qualifizierter Arbeits-kräfte nach Welsch zum entscheidenden Faktor. Die Regionen, denen die Quali-fizierungsprozesse am ehesten und am besten gelingen, können ihre Position imregionalen Standortwettbewerb ausbauen und ein hohes Beschäftigungs- undEinkommensniveau erreichen.

Die Kombination von regionalen, immobilen mit den mobilen Faktoren seidie Basis für die Steigerung der regionalen Wertschöpfung. Deshalb komme es fürdie Regionen darauf an, die Qualität ihrer komplementären, immobilen Faktor-bestände zu steigern. Eine besondere Bedeutung haben dabei regionale Netz-werke, gebildet von den lokalen Institutionen und der lokalen Kultur, der Wirt-schaftsstruktur und der Organisationsstruktur der ansässigen Unternehmen. Be-

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legt wird dies am Fall von Silicon Valley, wo Welsch besonders günstigeBedingungen für die Herausbildung eines innovations- und wettbewerbsfähigenNetzwerkes sieht. Doch der Autor warnt vor zu viel modischem Enthusiasmus:Regionale Netzwerke können auch für den Niedergang von Regionen verant-wortlich sein.

Die eingangs genannten Megatrends »Tertiarisierung« und »Wissensintensi-vierung« zeigen sich auch auf regionaler Ebene. Der Autor belegt dies am Bespieleiner von ihm durchgeführten Studie für den Kreis Groß-Gerau bei Frankfurt.Dort zeigt sich etwa der Prozess der Tertiarisierung anhand des Wegfalls von16 Prozent aller industriellen Arbeitsplätze in den Jahren 1991 bis 1996, bei einerArbeitsplatzzunahme im Dienstleistungsbereich in fast gleicher Höhe. Wissensin-tensiverung: Während sich die Zahl der Erwerbstätigen mit Hauptschulabschlussum 22 Prozent verringerte, stieg die Zahl derjenigen mit Hochschulabschluss umetwa 46 Prozent. Dem Landkreis Groß-Gerau ist es also in diesem Zeitraum ge-lungen, eine deutliche Höherqualifizierung seiner Erwerbstätigen zu realisieren.

Für die Darstellung der bundesweiten Zukunftstrends auf dem Arbeitsmarktgreift der Autor auf eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsfor-schung und der Consultingfirma Prognos von 1998 zurück. Diese betrachtet ei-nerseits den Qualifikationsbedarf auf der Ebene der Tätigkeiten, zum andern aufder Ebene der formalen Bildungsabschlüsse. Nach diesen Prognosen ist zu erwar-ten, dass ungelernte Kräfte in Zukunft kaum noch gebraucht werden, während dieNachfrage nach Hochschulabsolventen bis zum Jahr 2010 um rund 40 Prozentsteigen wird. Die langfristigen Veränderungstendenzen der Tätigkeitsstruktur zei-gen folgende Trends: Dienstleistungen nehmen zu, aber nicht im gesamten Spek-trum, sondern in den sogenannten Sekundären Dienstleistungsfunktionen Orga-nisation und Management, Forschung und Entwicklung. Einfache Hilfstätigkei-ten dagegen werden in Zukunft dramatische Bedeutungsverluste verzeichnen.

Praktische Ansätze für die Gestaltung einer regionalen Qualifizierungspolitikentwickelt der Autor im achten Kapitel. Dabei gibt er zu bedenken, dass struktu-relle Schwächen nicht von heute auf morgen überwunden werden können. DieAnsiedlung neuer Unternehmen wäre zwar hilfreich, doch angesichts der geringenErfolgsaussichten könne man darauf allein nicht bauen. Deshalb sei es wichtig, die»endogenen« Potenziale der Region zu erschließen. Entsprechend seinem Themakonzentriert sich der Autor auf den Faktor »menschliches Arbeitsvermögen« unddessen Weiterentwicklung durch Qualifizierungsprozesse. Da das deutsche Bil-dungssystem weitgehend auf Bundes- und Länderebene geregelt wird, verbleibender regionalen Qualifizierungspolitik nur im Bereich der beruflichen Weiterbil-dung Gestaltungsmöglichkeiten. Als wichtige, aber schwierige Aufgabe sieht derAutor hier die Ermittlung des konkreten Qualifizierungsbedarfs – schwierig, weildie bundesweit ermittelten Trends auf die einzelne Region nicht übertragbar sind.Befragungen haben die grundsätzliche Schwierigkeit, dass man den Bildungsbe-darf nicht einfach abfragen kann, da er in kleineren Unternehmen nicht bekanntist. Noch schwieriger wird es, wenn der zukünftige Qualifikationsbedarf ermittelt

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werden soll. Denn den kennt noch niemand. Weitere wichtige Aufgaben sieht derAutor bei der Verbesserung der Transparenz auf dem Weiterbildungsmarkt, derbetrieblichen Qualifizierungsberatung, der Förderung der Zusammenarbeit zwi-schen den Weiterbildungsträgern und der Qualitätssicherung.

Durch welche Instrumente und welche Institutionen sollen diese Aufgabenumgesetzt werden? Der Autor schlägt fünf konkrete Ansatzpunkte vor:� Einrichtung einer Weiterbildungsstelle mit den Aufgaben, die regionale Wei-terbildungslandschaft zu beobachten, mehr Transparenz herzustellen, die Be-triebe in Zusammenarbeit mit den Kammern zu unterstützen;� Integration von Qualifizierungs-, Wirtschafts- und Technologieförderpolitik,um Synergieeffekte zu ermöglichen;� regelmäßige Berichterstattung über Weiterbildungsmaßnahmen in der Re-gion;� Aufbau regionaler Qualifizierungsnetzwerke durch die verschiedenen Bil-dungsträger;� regelmäßige Durchführung von Qualifizierungskonferenzen, an denen alleBildungsträger der Region sowie Repräsentanten der Wirtschaft und der Gewerk-schaften teilnehmen.

Das Buch scheint mir besonders für Praktiker in regionalen und kommunalenInstitutionen gut geeignet zu sein. Es ist übersichtlich gegliedert und gut lesbar.Es vermittelt notwendiges Hintergrundwissen über die aktuellen Trends auf glo-baler und nationaler Ebene und analysiert ihre Auswirkungen für die Regionen.Die Handlungsspielräume für regionale Akteure werden realistisch ausgelotet –ohne übertriebenen Optimismus. Für diesen Rahmen entwickelt der Autor sehrpraxisnahe Anregungen. Unmittelbar umsetzbare Rezepte werden nicht angebo-ten, was wegen der sehr unterschiedlichen Bedingungen in den einzelnen Regio-nen auch nicht möglich ist. Doch für Bemühungen auf regionaler Ebene stellenseine Ansatzpunkte einer regionalen Weiterbildungspolitik eine wertvolle Diskus-sions- und Konzeptionsgrundlage dar. Bleibt nur zu hoffen, dass sie dort auch auf-gegriffen werden.

Helmut ZellRemagen

RAINER NOLTENIUS / VOLKER ZAIB (Hg.):Gibt es ein Leben ohne Arbeit? Arbeitslosigkeit in Kunst und Medien – Mangel und HoffnungEssen 2000Klartext, 160 S.

nter dem Titel »Gibt es ein Leben ohne Arbeit?« organisierte das Fritz-Hüser-Institut im November 1998 in Dortmund aus Anlass seines 75jährigen Beste-�

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158 Rezensionen/Book Reviews ipg 2/2002

hens eine Veranstaltungsreihe mit internationaler Beteiligung, die die dramati-schen Entwicklungen der Arbeitswelt thematisierte. Zugleich wurde eine Ausstel-lung über Arbeitslosigkeit in Kunst und Medien gezeigt. Der vorliegende Bandenthält die Referate und Diskussionsbeiträge, kann aber zugleich als Ausstellungs-katalog verwendet werden.

Ausgangspunkt der Beiträge ist eine Bestandsaufnahme der Entwicklungs-tendenzen der Arbeitsgesellschaft. Neue Technologien senken den notwendigenAufwand an menschlicher Arbeitskraft und sorgen für steigende Produktivität.Während in der Erwerbsarbeit immer weniger Menschen immer mehr arbeiten,expandieren deregulierte Beschäftigung und Arbeitslosigkeit. Von Politik undÖkonomie erzeugte illusionäre Hoffnungen (»Arbeitsplatzwunder«) laufen Ge-fahr, enttäuschte Menschen zu willigen Objekten demagogischer Kräfte zu ma-chen. Auch Wirtschaftswachstum wird strukturelle Arbeitslosigkeit nicht besei-tigen können: Florierende Unternehmen stecken ihre Gewinne vor allem in dieRationalisierung. Vor diesem Hintergrund ist für alle gesellschaftlichen Kräfte einNachdenken über die Zukunft der Arbeit dringend angesagt.

Arbeit und Selbstwert – Positionen

Der Literaturwissenschaftler Walter Fähnders skizziert in seinem Artikel »VomRecht auf Faulheit zu den glücklichen Arbeitslosen. Traditionen der Arbeitskritikund der Arbeitsverweigerung« kritische Positionen zum Arbeitsethos. Vor allemdie deutsche und österreichische Arbeiterbewegung neigten zu einer Idealisierungentfremdeter Lohnarbeit (so wird in der schönen Hymne der österreichischen So-zialdemokratie in allen Strophen der Refrain »Die Arbeit hoch!« gesungen). An-ders der französische Sozialist Paul Lafargue, der mit seiner 1880 erschienenenKampfschrift »Das Recht auf Faulheit« nicht nur die überlange Regelarbeitszeitseiner Ära geißelte, sondern auch die »Vergötzung« der Arbeit bei jenen kritisierte,die Opfer von Arbeitszwang und Ausbeutung waren: »Eine seltsame Sucht be-herrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisationherrscht. Diese Sucht ist die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung derIndividuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht.« (S. 18)

Die »Mußezeit als Zeit für höhere Tätigkeit« (S. 18) ist zur Entfaltung der Per-sönlichkeit und für kreatives Schaffen unerlässlich. Modelle einer gerechteren Ver-teilung der Arbeit geben dieser Vorstellung neue Aktualität. Dennoch konstatiertFähnders, dass vieles vom utopischen und arbeitskritischen Potenzial des 19. Jahr-hunderts bis heute verschüttet geblieben ist. Neben Lafargues Standardwerkweist er auch auf Friedrich Schlegels »Idylle über den Müßiggang« (1799) undHermann Hesses »Die Kunst des Müßiggangs« (1904) hin.

Der Historiker Alf Lüdtke beleuchtet im Kapitel »Disziplin, Stolz, Eigensinn:Arbeitserfahrungen in Zeiten der Industriegesellschaft« anhand dreier Begriffedie gesellschaftliche Entwicklung industrieller Arbeitsgesinnung:

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� Disziplin: Neben der alles beherrschenden Zeitdisziplin steht die Notwendig-keit der Kooperation, darüber hinausgehend die Solidarität als zentrale Triebkraftproletarischer Organisierung (in sozialistischen und religiösen Milieus), aberauch die Ausgrenzung (von unqualifizierten Arbeitern, Arbeitslosen, Frauen).Auch Ausgegrenzte entwickelten eigene Formen von Solidarität.� Eigen-Sinn: Dazu zählen Neckereien und Tagträume ebenso wie Distanzie-rung voneinander.� Stolz: Vor dem Stolz steht die Freisetzung aus beengten Verhältnissen undZwang, seien sie feudal-herrschaftlicher oder familiärer Art. Vor allem Frauen ver-schaffte industrielle Lohnarbeit erstmals die Chance, sich ansatzweise patriarcha-lischer Macht zu entziehen. Ein zentrales Moment des Stolzes ist das aus denFähigkeiten gewonnene Selbstwertgefühl, dessen stärkster Ausdruck vorzeigbare,gebrauchsfähige Produkte sind. Lüdtke weist die Kontinuität dieses Produktstol-zes, die bis zur Rüstungsproduktion des Dritten Reiches reicht, nach. Die perver-tierteste Form nahm jene Haltung während des Zweiten Weltkrieges an; Lüdtkezitiert aus Briefen von Wehrmachtssoldaten, »die ganze Arbeit geleistet« (S. 26)hatten.

Der Schriftsteller Josef Reding plädiert für das »Recht auf Arbeit« für alle undweist auf die verheerenden Auswirkungen der Arbeitslosigkeit hin. Bei seinenVorschlägen zur Reduzierung von Arbeitslosigkeit appelliert er auch an die Arbei-tenden, ihren solidarischen Beitrag (Reduzierung von Überstunden, Jobsharing,Sabbatical) zur besseren Verteilung von Arbeit zu leisten.

Der Kulturhistoriker Hermann Glaser (»Die künftige Tätigkeitsgesellschaft.Gegen das heutige Auseinanderdriften von Arbeit und Arbeitslosigkeit«) verlangtdie Schaffung einer Tätigkeitsgesellschaft, einer Art zweiten Arbeitsmarkts miteiner Vielzahl sozialer und kultureller Aufgaben. Dazu gehören öffentliche undprivate Eigenarbeit, Haus- und Erziehungsarbeit, Ehrenamt, Vereinsarbeit, Netz-werkarbeit, Nachbarschaftshilfen, Selbsthilfe und öffentlich gemeinnützige bzw.politische Arbeit. (S. 38) Wenn weniger Lebenszeit in der Erwerbsarbeit verbrachtwird, sollte zukünftig Sozialarbeit und Kulturarbeit honoriert werden, um einenAusgleich zu schaffen; bereits jetzt werden in Deutschland fünfzig Prozent der Ar-beitszeit für Arbeiten außerhalb der Erwerbsarbeit aufgewendet.

Immer wieder klingt bei verschiedenen Autoren der Mythos von der Vertrei-bung aus dem Paradies und damit der Beginn der Menschheitsgeschichte als mitQual verbundener Arbeitsgeschichte an. Nostalgische Hoffnung auf eine Rück-kehr in das Paradies wurde von vorwärts gerichteten Verheißungen einer Befrei-ung der Arbeit abgelöst. Die Spannung zwischen dem Reich der Notwendigkeitund dem Reich der Freiheit wird weiterhin ein herausforderndes Thema bleiben.

Literatur

Der Abschnitt Literatur beginnt mit einem Auszug aus Erich Kästners Roman»Fabian« und einer Szene aus F.X. Kroetz’ »Heimkehr«, in der der Dialog eines

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160 Rezensionen/Book Reviews ipg 2/2002

Paares Einblick in die zerstörerische Wirkung der Arbeitslosigkeit auf zwischen-menschliche Beziehungen gibt.

Im Gedicht »Sie gehen ins Geschäft« geht Kurt Tucholsky hart mit Arbeit alsalleiniger Sinnstiftung des Lebens zu Gericht. Es ist eine passende Überleitung zuReinhard P. Grubers provokantem »Manifest der Faulheit«, in dem festgestelltwird: »Sie konnten nur erkennen, weil sie nicht arbeiteten« (S. 57). Als Beispielewerden Buddha, Jesus, Sokrates und Kant genannt.

Die amerikanische Journalistin und Schriftstellerin Karen Rosenberg (»Alternin Tillie Olsens Amerika«) setzt sich mit Tillie Olsens Novelle »Erzähl mir ein Rät-sel« auseinander. Es ist ein Werk über den Ruhestand, der für viele Menschen densozialen Tod bedeutet. Alte Menschen, die ihre frühere Identität und ihr sozialesBezugsfeld verloren haben, ähneln oft Arbeitslosen. Nicht so die Hauptfigur Eva:Nachdem sie sich ein Leben lang nach den Bedürfnissen und Zeitplänen anderergerichtet hatte, sucht sie nun die Stille, während ihr Partner die Gesellschaft undein Altersheim vorziehen würde.

Die Literaturwissenschaftlerin Anke Mayer präsentiert in »Bühne frei fürAranüs und Couchpotatos! Kleine Fallstudien zu Arbeitslosigkeit als Thema undExistenzform im Theater« mehrere Theaterstücke. Die Darsteller sind sowohlprofessionelle Schauspieler als auch Betroffene: »So wird bei ihnen das Theater-spiel auf einer ganz persönlichen Ebene Ausdruck und eigentlich auch Mittel ihresWiderstandes gegen Ausgrenzung und Nichtwahrnehmung von Arbeitslosen.«(S. 65)

Bildende Kunst

Zu den beeindruckendsten Teilen des Buches zählt der Bildessay mit Reproduk-tionen aus der Bildenden Kunst, gegliedert in die Abschnitte »Arbeit und Selbst-wert«, »Arbeitslosigkeit – Mangel und Hoffnung«, »Freizeit und Muße«. Es wer-den Radierungen, Lithografien, Holz- und Linolschnitte und Federzeichnungenvom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts gezeigt. Einerder am häufigsten vertretenen Künstler ist Fritz Tombrock von der »Künstler-gruppe der Vagabunden«, der vom Kunsthistoriker Ralph Lindner (»Hans Tom-brock – Identität als Behausung. Zum Künstlerhabitus eines Malers der Arbeits-und Wohnungslosen«) vorgestellt wird. Der britische Historiker Simon Dellschreibt »Über die Darstellung der Arbeitslosigkeit in der Kunst der WeimarerRepublik«.

Film und Fernsehen

Die Auseinandersetzung mit Arbeitslosigkeit in Filmen, Comics und Fernsehse-rien geschieht in drei Beiträgen von Karen Rosenberg (»Engagierte Kunst in derÖffentlichkeit: Filme zum Thema Arbeitslosigkeit«), Julie Levinson (»Chaplin und

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ipg 2/2002 Rezensionen/Book Reviews 161

die Romantisierung von Arbeitslosigkeit im amerikanischen Film«) und SherryLinkon (»Die Abstiegsangst in der amerikanischen Popularkultur der neunzigerJahre«).

Initiativen zu einer anderen Arbeitskultur

Die Veranstaltungsreihe präsentierte auch einen »Markt der Möglichkeiten«, überden Volker Zaib berichtet. Insgesamt acht Initiativen, die einen Beitrag zur Ent-wicklung einer neuen Kultur der Arbeit leisten, stellten dort die Ergebnisse ihrerArbeit vor. Dazu zählen u.a.: Depot (ehemalige Straßenbahnhauptwerkstatt, nunZentrum für Kulturschaffende), Werkkreis Literatur der Arbeitswelt (das ThemaArbeitslosigkeit hat eine lange Tradition), Wohnungslosenzeitschrift bodo, Gib-und-Nimm-Zentrale (Tauschzentrale für Dienstleistungen), Zwischen Arbeit undRuhestand – zwar (Vorbereitung auf Ruhestand).

Großes Aufsehen erregte das 1998 veröffentlichte »Manifest der glücklichenArbeitslosen«.

Die glücklichen Arbeitslosen sind nach ihrer Selbstbeschreibung »ein loserHaufen in Berlin, der sich für Muße engagiert und gegen die Diktatur der Öko-nomie passiven Widerstand leistet.« (S. 66) Der glückliche Arbeitslose, der demaufreibenden Wettrennen der Arbeitswelt entflohen ist, setzt sich die Rückerobe-rung der Zeit zum Ziel. Das Recht auf Arbeit, so fordern sie, sollte durch ein»Recht auf Nichtarbeit« ergänzt werden, das Phasen des freiwilligen Rückzugsaus der Erwerbsarbeit akzeptiert und durch eine finanzielle Grundsicherung er-möglicht wird. (S. 66)

Fritz-Hüser-Institut

Die beiden letzten Beiträge beschäftigen sich mit Fritz Hüser und dem von ihmgegründeten Institut. Josef Reding steuert persönliche Erinnerungen an »FritzHüser – Mäzen, Mentor, Maßstab« bei. Hüser war Arbeiter, Sammler, Bibliothe-kar, Literaturförderer (»Gruppe 61«) und übergab 1973 seine Privatsammlung derStadt Dortmund, die daraus ein Institut machte. Dessen Leiter Rainer Nolteniusbeschreibt »Das Fritz-Hüser-Institut und seine künftigen Aufgaben« als einzigeEinrichtung in Europa, das die Literatur- und Kulturgeschichte der Arbeiter undAngestellten sammelt, erforscht und darstellt.

Heimo GruberRenner-Institut

Wien

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162 Rezensionen/Book Reviews ipg 2/2002

GEORGE JOFFÉ (ed.):Perspectives on Development: The Euro-Mediterranean Partnership London/Portland 1999Frank Cass, 282 S.

ÁLVARO VASCONCELOS / GEORGE JOFFÉ (eds.):The Barcelona Process Building an Euro-Mediterranean Regional CommunityLondon/Portland 2000Frank Cass, 237 S.

ie eigenen Interessen im Mittelmeerraum, die politische Krise in Algerien, dieWiederbelebung des Friedensprozesses im Nahen Osten und wohl auch die er-

starkte Rolle des vereinten Deutschlands in Zentral- und Osteuropa brachten dieKommission und besonders die Mittelmeeranrainer unter den eu-Staaten dazu,die Zusammenarbeit mit den Mittelmeerdrittländern verstärken zu wollen.

Im November 1995 versammelten sich in Barcelona die Außenminister der15 eu-Mitgliedstaaten und von zwölf Ländern des südlichen und östlichen Mittel-meerraums (Ägypten, Algerien, Israel, Jordanien, Libanon, Malta, Marokko,Syrien, Tunesien, Türkei, Zypern und die Palästinensische Autonomiebehörde;Libyen verfügt seit kurzem über Beobachterstatus) zur ersten euro-mediterranenKonferenz. Die Siebenundzwanzig besiegelten eine neue, umfassende Euro-Me-diterrane Partnerschaft. Mit der »Barcelona-Erklärung« (und dem entsprechen-den Arbeitsprogramm) verabschiedeten sie »eine außergewöhnlich ehrgeizige po-litische Blaupause« (S. 3), wie Eberhard Rhein von der eu-Kommission in demEinführungsbeitrag zu dem von George Joffé herausgegebenen Band über die»Euro-Mediterrane Partnerschaft« urteilt.

Angestrebt werden � Partnerschaft in Fragen der Politik und der Sicherheit, die rund um das Mit-telmeer eine Zone des Friedens und der Stabilität bauen soll, gestützt auf funda-mentale Grundsätze einschließlich der Achtung der Menschenrechte und der De-mokratie;� Partnerschaft auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet, die sich einernachhaltigen und ausgewogenen sozio-ökonomischen Entwicklung der Mittel-meerregion verpflichtet weiß und durch die schrittweise Errichtung einer Frei-handelszone bis zum Jahr 2010 (im Einklang mit den wto-Bestimmungen) einenRaum gemeinsamen Wohlstands anstrebt. Die eu unterstützt diesen Prozessdurch erhebliche finanzielle Hilfen für den wirtschaftlichen Übergang und die Be-wältigung der damit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Herausforderun-gen (meda-Programm).

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ipg 2/2002 Rezensionen/Book Reviews 163

� Partnerschaft im sozialen, kulturellen und menschlichen Bereich, die der Ent-wicklung menschlicher Ressourcen, dem Verständnis zwischen den Kulturen unddem Austausch unter den Zivilgesellschaften dient.

Der Barcelona-Prozess baut auf den verschiedenen Komponenten der seit densechziger Jahren entwickelten Mittelmeerpolitik auf, stellt jedoch insofern einenNeuanfang dar, als erstmals ein Rahmen für strategische Beziehungen geschaffenwurde, die über die traditionellen Bereiche des Handels und der Hilfe hinausge-hen. Rheins Schlussfolgerungen im Wirtschaftsbereich ist zuzustimmen: Die Er-richtung einer Freihandelszone allein ist noch keine Garantie für wirtschaftlichesWachstum und Wohlstand in den Mittelmeerdrittländern – ihre Regierungen undUnternehmen müssen die adäquaten Reformen und Modernisierungen durch-führen; der Nord-Süd-Freihandel zwischen der eu und den Partnern muss durcheinen Süd-Süd-Freihandel ergänzt werden; die ehrgeizigen Ziele sind nur dannzu erreichen, wenn sowohl die Mittelmeer- als auch die eu-Regierungen dieseskühne politische Projekt weiterhin politisch und finanziell voll unterstützen.

Die folgenden Beiträge wollen sich laut Titel des Sammelbandes mit den Ent-wicklungsperspektiven der Euro-Mediterranen Partnerschaft befassen. Allerdingswird diese Versprechen nur unzureichend eingelöst. Was sollen etwa jene Bei-träge, die sich über Lateinamerikas Weg von der Rückständigkeit zur Entwick-lung (Joseph L. Love), die Lehren aus dem südostasiatischen Wirtschaftswunderund seinem Fall (Jonathan Ring) oder über Globalisierung, Kultur und Manage-mentsysteme (Riadh Zghal) und Nutzen und Missbrauch von »Kultur« (KevinDwyer) auslassen und mehr als ein Viertel des gesamten Bandes ausmachen, wennin ihnen keine oder nur ganz knappe direkte Bezüge zum Thema hergestellt wer-den?

Die anderen 13 Artikel sind mehr oder weniger deutlich auf das eigentlicheThema fokussiert und sollen die Vorschläge der Euro-Mediterranen-Partner-schafts-Initiative (empi) analysieren und ihre Erfolgsaussichten abschätzen. Her-ausgeber Joffé, stellvertretender Direktor des »Royal Institute of InternationalAffairs« (später an der London School of Economics and Political Science tätig),verzichtet jedoch leider darauf, diese Beiträge inhaltlich bestimmten Unterthe-men zuzuordnen.

Diana Hunt geht auf Entstehung, Ideologie und Inhalt des Washington-Kon-sensus ein und kommt beim Vergleich mit den Wirtschaftsmaßnahmen der Bar-celona-Erklärung zu dem Ergebnis, dass sich diese an den neoliberalen, moneta-ristischen Washington-Prinzipien ausrichten. Allerdings fielen Inkonsistenzenauf: die Mittelmeer-Realpolitik der eu habe wohl dazu geführt, die eu-Agrarpo-litik weitgehend vom Freihandelskonzept auszunehmen und die Freihandelsab-kommen bilateral auszurichten. Außerdem setzt sie sich mit der Kritik am Wa-shington-Konsensus auseinander und plädiert für detaillierte Studien, die denZeitrahmen für den notwendigen Politikwandel und die Auswirkungen der Re-formpolitik in den einzelnen Ländern untersuchen.

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164 Rezensionen/Book Reviews ipg 2/2002

Mehrere Beiträge sind eher wirtschaftlichen Fragestellungen gewidmet. NadiaSalah vertritt die Ansicht, sowohl Marokkos Eliten als auch die Unter- und Mit-telschichten betrachteten den Barcelona-Prozess als einzigen möglichen Weg,»wie die Europäer zu leben«, und Marokkos Unternehmen würden auf den Pfadeiner »Euro-Globalisierung« geschickt. Die damit verbundenen Modernisierun-gen seien sehr komplex und würden sich als sehr schwierig erweisen. John Markswägt Chancen und Gefahren der empi, »ein Kind des Globalisierungszeitalters«,für die Mittelmeerländer ab. Falls die empi-Abkommen keine Investitions- undWachstumsschübe in den südlichen Mittelmeerländern erreichen, wie sie bei denasiatischen Tigern zu beobachten waren, werde es zu einer asymmetrischen Nord-Süd-Beziehung kommen. Für Grahame Thompson sind Globalisierung und Regio-nalisierung keine Gegensätze, sofern der Regionalismus offen bleibe. Alfred Toviasgeht der Frage nach, welche Vor- und Nachteile es für die südlichen Mittelmeer-anrainer bringt, dem eu-»Hub« beizutreten. Bernhard Hoekmann lotet die Mög-lichkeiten aus, ob und wie die Freihandelsabkommen einen regionalen Weg zurglobalen Liberalisierung darstellen.

Laut Azzam Mahjoub werden die empfohlenen Deregulierungsmaßnahmenzu beträchtlichen sozialen Kosten führen. Damit verbunden sei auch eine wach-sende politische Unglaubwürdigkeit; die Wahrscheinlichkeit sei hoch, dass diepolitische Repression in einigen Ländern zunehme. Man hätte erwartet, dass dieseThese näher untersucht worden wäre. Für John Roberts bietet Jordanien ein gutesBeispiel dafür, wie Umweltprobleme (Wasser) in einem feindlichen politischenund in einem islamischen Umfeld angegangen werden können. Claire Spencer un-terstreicht das Innovative der Barcelona-Erklärung im Sicherheitsbereich: zumersten Mal hätten nicht-militärische (»weiche«) Aspekte dieselbe Bedeutung er-halten wie die traditionell-militärischen. Zugleich wird deutlich, dass die eu inden »harten« Sicherheitsfragen – noch – nicht über militärische Kapazitäten ver-füge und auch keine Sicherheitsgarantien für die Mittelmeerpartner übernehme.Ion O. Lesser sieht das Mittelmeer als »Europas nahes Ausland« an, das mit seinenProblemen die Sicherheit Europas bedrohe (Migration, Waffenproliferation, En-ergie, Zypernkonflikt, israelisch-arabischer Konflikt). Das Potenzial für zivilisato-rische und sozioökonomische Friktionen in den südlichen Mittelmeeranrainernsei treibende Kraft hinter den verschiedenen regionalen Initiativen.

Oliver Sparrow erinnert in seinen Szenarien für die Mittelmeerregion daran,dass Entwicklung in einem Land auf drei Pfeilern beruht: auf der Erzeugung vonWohlstand (und der Fähigkeit, Ressourcen anzuziehen), auf institutioneller Sta-bilität und Wirksamkeit (und der Fähigkeit, Vertrauen zu gewinnen) und auf derFähigkeit der Individuen, ihr Potenzial zu maximieren (und zu erfahren, dass ihreAnstrengungen belohnt werden). Dazu gehört – müsste hinzugefügt werden –auch ein internationales Umfeld, das diese drei Pfeiler abstützt. Dies intendiert of-fensichtlich die eu mit der empi und mit ihrem Willen, die Süd-Süd-Kooperationzu unterstützen.

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ipg 2/2002 Rezensionen/Book Reviews 165

Im abschließenden Beitrag versucht Joffé nochmals zu begründen, warum fürihn die wirtschaftlichen Aspekte der empi im Vordergrund stehen. Seiner Mei-nung nach ist die empi einmal das »zur Zeit einzige effektive Allheilmittel für dieMittelmeerregion« (dies ist wohl überzeichnet), zum anderen wird sie mit ihremneoliberalen Rahmen nicht die Verheißungen wirtschaftlicher Entwicklung inden Partnerländern erfüllen, wenn sie so bleibt, wie sie ist (hier hätte man deut-lichere Veränderungs- bzw. Anpassungsvorschläge erwartet).

Insgesamt stellt dieser Band, der durch Artikel-Abstracts und einen Index ab-geschlossen wird, eine Art Zwischenbilanz der Barcelona-Initiative unter Berück-sichtigung der Erfahrungen in anderen Weltregionen dar; allerdings überzeugender Aufbau und die inhaltlichen Gewichtungen nicht. Die politische Seite derPartnerschaft wird fast vollständig ausgespart.

Der zweite hier zu besprechende Sammelband zum »Barcelona-Prozess« zeigtdiese Schwächen nicht. Er ist übersichtlich in drei Teile gegliedert: Wirtschaft-licher Wandel, Politischer Prozess und Sicherheit. Soziale, kulturelle und mensch-liche Fragen kommen allerdings zu kurz.

Herausgeber sind Álvaro Vasconcelos, Direktor des Instituts für Internatio-nale und Strategische Studien in Lissabon und Direktor des Sekretariats des Net-zes außenpolitischer Institute (EuroMeSCo), und George Joffé. Für beide ist –wie sie in ihrem Einführungsbeitrag verdeutlichen – die Euro-Mediterrane Part-nerschaft (emp) die erste wirkliche Initiative, die europäische wirtschaftliche In-tegration auf den Süden auszudehnen, wobei der auffallendste Aspekt der Part-nerschaft die in institutioneller Hinsicht bestehende Asymmetrie zwischen denbeiden Regionen ist. Die eu ist im Gegensatz zu ihren Partnern ein klar definierterAkteur.

In dem Beitrag über die Euro-Mediterrane Freihandelszone (fhz) vertretenHafedh Zaafrane und Azzem Mahjoub die Auffassung, die wirtschaftlichen Kon-sequenzen und die möglichen sozialen Kosten der fhz wie auch ihre politischenImplikationen müssten klarer bedacht werden. Schließlich hätten die Partner dereu einen unbeschränkten Wettbewerb mit den Produzenten der eu zu bestehen.Joffé empfiehlt der eu in seinem Artikel über Auslandsinvestitionen und Rechts-staat eine Reihe von an ihre Partner adressierten Maßnahmen: von der Unterstüt-zung für eine Verbesserung der Eigentumsrechte von Ausländern über eine stär-kere Ermutigung von »good governance« bis hin zur Ermunterung in Fragen desUmweltschutzes.

Drei Autoren widmen sich Fragen des politischen Prozesses. May Chartouni-Dubarry befasst sich mit der politischen Transition, ihrer Zweideutigkeit, Unvor-hersehbarkeit und Umkehrbarkeit im Nahen Osten. Gerade in der Frage der De-mokratie würden wegen ihrer starken normativen und ideologischen InhalteNord-Süd-Auffassungen aufeinander treffen; und man müsse fragen, ob sich de-mokratische Entwicklungen in einem bestimmten arabischen Staat in seinem be-stimmten historischen Kontext wirklich am westlichen Modell einer liberalen und

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repräsentativen Demokratie messen lassen. Offensichtlich unbekannt ist die »Uni-versal Declaration on Democracy«, von der Internationalen ParlamentarischenUnion im Herbst 1997 in Kairo verabschiedet und allen Mitgliedsländern – im-merhin gehören ihr Abgeordnete aus über 140 Staaten an – zur Berücksichtigungempfohlen. Mustafa Hamarneh untersucht die Demokratisierung im Maschrikund analysiert dabei die dialektische Spannung zwischen der internen Dynamikund externen Variablen. Unverständlich ist, dass dabei nicht näher auf das meda-Demokratieprogramm eingegangen wird. Auch in dem Beitrag von GemaMartin-Muñoz über politische Reformen und sozialen Wandel im Maghreb wirdauf die Analyse dementsprechender eu-Förderprogramme verzichtet.

Vier Artikel haben Sicherheitsfragen zum Inhalt. Mohammed El-Sayed Selimbeleuchtet aus arabischer Perspektive Herausforderungen, Problematik undGrenzen (besonders durch die dominante Rolle der usa in der Region) einer»neuen Agenda für Massenvernichtungswaffen in der emp«. Ergänzt wird dasThema aus israelischer Sicht durch Mark A. Heller, für den die Institutionalisie-rung und Fortführung bescheidener Maßnahmen den Weg für strukturelle Über-einkünfte ebnen kann. Aus europäischer Sicht nähert sich Pascal Boniface der Rüs-tungskontrolle im Mittelmeerraum. Szenarien wie vom Kampf der Kulturen, derBedrohung durch den Süden oder der Abschreckung des Schwachen durch denStarken hält er für vage und gefährlich, weil sie die nationalen Perzeptionen vonSicherheit und Bedrohung wie auch die strategischen Realitäten nicht ausrei-chend berücksichtigten. Als eine der nützlichsten vertrauensbildenden Maßnah-men bezeichnet er den Aufbau eines gemeinsamen Beobachtungs- und Strategie-zentrums für die Mittelmeerländer. Für Fred Tanner hat die Euro-MediterraneSicherheitspartnerschaft seit 1995 einige Aufschwünge und Niedergänge durch-lebt. Seine Studie analysiert im Lichte der Ministertreffen von Malta (1997) undStuttgart (1999), wieweit die Barcelona-Partner in der Lage waren, bei der Be-grenzung konventioneller Waffen und bei vertrauensbildenden MaßnahmenFortschritte zu erzielen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass man noch nicht weitgekommen sei – ja, dass die Eskalation der Gewalt zwischen einigen emp-Partnernund das von einigen arabischen Staaten hergestellte Junktim zwischen dem Ab-schluss eines gemeinsamen Abkommens und Erfolgen im israelisch-arabischenFriedensprozess selbst die bescheidensten Sicherheitsfortschritte im Barcelona-Prozess blockierten (auch auf der vierten Ministerkonferenz in Marseilles im No-vember 2000 musste die Verabschiedung der »Charta für Frieden und Stabilität«wieder verschoben werden).

Im abschließenden Beitrag ziehen Roberto Aliboni und Abdel Monem Said AlyBilanz und lassen sich auf »Herausforderungen und Aussichten« ein. Die Bilanzfällt für sie weniger positiv aus, als man 1995 erwarten konnte: die Sicherheitspart-nerschaft sei durch die transatlantischen Differenzen wie auch die nato-Ausdeh-nung nach Osteuropa beeinträchtigt worden, der Weg zur Freihandelszone seinoch lang – auch weil die Süd-Süd-Kooperation nicht richtig voran komme, es bei

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der Zusammenarbeit im Menschenrechts- und Demokratiebereich keine substan-ziellen Fortschritte in der emp gäbe, vor allem weil südliche Partner politischeReformen als besonders destabilisierend ansähen. Neue Faktoren würden einenbeträchtlichen Einfluss auf die zukünftigen Entwicklungen ausüben, so die Ereig-nisse um Serbien und der nato-Einsatz auf dem Balkan, die Reform der eu-Au-ßen- und Sicherheitspolitik wie auch die jüngsten eu-Initiativen im Nahen Osten.Die eu weise zudem »Defekte« auf. Sie formuliere nicht immer kohärente außen-politische Positionen, weil ihre Mitglieder z.T. differierende Interessen verfolg-ten; zugunsten der usa habe sie oft auf eine europäische Verantwortung verzich-tet, und bei den europäischen Initiativen stünden eher geo-ökonomische denngeopolitische Belange im Vordergrund. Würden diese Mängel abgestellt, ge-winne man Kraft für eine Wiederbelebung der emp. Die emp ist eine wichtigeChance für alle Barcelona-Partner, die aber nur dann zu Erfolgen führe, »wenn dieeu durch ihre Mitgliedstaaten in die Lage versetzt werde, ihre Nahostpolitik zuverstärken und sich zu einem verantwortungsvollen Akteur in der internationalenund regionalen Arena zu entwickeln«.

Der Band weist ein nützliches Sach- und Personenregister auf, verzichtet aberauf eine eigenständige Bibliographie. Einige der hier versammelten Beiträge,sicherlich für ein Fachpublikum bestimmt, zeichnen sich durch praxisnahe Über-legungen aus. Jedoch hätte man sich des öfteren gewünscht, dass die auf vielenFeldern praktizierte Zusammenarbeit im Rahmen der emp und die bereits abge-schlossenen Abkommen zwischen der eu und einzelnen Mittelmeerländern nähereinbezogen worden wären. Jedenfalls wird deutlich, dass man von einer »Euro-Mediterranen Gemeinschaft« noch weit entfernt ist. Gute und auch selbstkri-tische Überblicke vermittelt die Europäische Kommission in ihren Publikationen»The Barcelona Process. Five Years on 1995–2000« (Luxembourg 2000) und »In-formation Notes on the Euro-Mediterranean Partnership« (Brüssel, Januar 2001).

Uwe HoltzUniversität Bonn

AHMED AGHROUT:From Preferential Status to Partnership. The Euro-Maghreb RelationshipAldershot 2000Ashgate, 207 S.

rscheinungen wie radikal-islamischer Fundamentalismus, Menschenrechtsver-letzungen, unkontrollierte Proliferation von Massenvernichtungswaffen, neo-

patrimonal und autoritär verfasste Herrschaftssysteme, ineffiziente, hoch ver-schuldete und nur geringfügig in die Weltwirtschaft integrierte Volkswirtschaftensowie ein kontinuierlich steigender Migrationsdruck sind sowohl Krisenphäno-

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mene als auch Zustandsbeschreibungen, die in den letzten Jahren von Seiten derEuropäischen Union (eu) bemüht wurden, um die Notwendigkeit vertiefter Be-ziehungen zu den drei Maghreb-Staaten Algerien, Marokko und Tunesien heraus-zustellen. Dass die euro-maghrebinischen Beziehungen aber weder ein Produktder neunziger Jahre sind, noch sich auf die Behandlung der sozioökonomischenund politischen Strukturkrisen in Nordafrika reduzieren lassen, versucht AhmedAghrout von der Universität Salford in seiner explizit analytisch-deskriptiv ange-legten und in sechs Kapitel gegliederten Studie aufzuzeigen.

Ohne auf einen theoretischen Analyserahmen zurückzugreifen – die einleiten-den interdependenztheoretischen Ausführungen bleiben als potenzielle Erklä-rungsangebote ungenutzt – und auch ohne die Arbeit strukturierende Leitfragenzu formulieren, ist es das Anliegen des Autors, die von der eu seit 1958 vollzogenePolitik gegenüber den drei nordafrikanischen Staaten im Hinblick auf ihrenZielerreichungsbeitrag zu beleuchten. Dazu untergliedert er das euro-maghrebi-nische Beziehungsgeflecht in drei chronologisch aufeinanderfolgende Phasen undstellt dabei die in jedem Zeitabschnitt neu abgeschlossenen und in Kraft getrete-nen Assoziierungsabkommen in den Vordergrund seiner Betrachtungen.

Die erste Phase der Beziehungen, eingeleitet 1958 durch die in den RömischenVerträgen noch enthaltene Absichtserklärung der Gemeinschaft, mit den unab-hängig gewordenen Ländern der Franc-Zone ein Assoziierungsverhältnis zu be-gründen, findet ihren Höhepunkt im März 1969, dem Zeitpunkt der Unterzeich-nung der ersten Assoziierungsabkommen durch Marokko und Tunesien. Wäh-rend Algerien, wie vom Autor sachgerecht nachgezeichnet, als französischesÜberseedepartment zunächst ohnehin im Anwendungsbereich des ewg-Vertra-ges lag, sich aber auch nach Erlangung seiner Selbstständigkeit gegen denAbschluss eines Assoziierungsabkommens mit der Gemeinschaft entschied, blie-ben die ersten Handelsverträge Marokkos und Tunesiens nach Auffassung vonAghrout für die beiden Adressaten ohne tatsächlichen Nutzen. Diesem Urteil istmit Blick auf die in den Assoziierungspakten verankerten Ziele unbedingt zuzu-stimmen. Um zur wirtschaftlichen und sozialen Stabilisierung beizutragen,wurde beiden Ländern ursprünglich eine ca. 80-prozentige Zollsenkung für derenlandwirtschaftliche Exportgüter sowie nahezu freier Zugang für deren Industrie-güterausfuhren auf den gemeinschaftlichen Markt eingeräumt. Angesichts derzum damaligen Zeitpunkt fehlenden industriellen Basis sowohl in Marokko alsauch in Tunesien blieb letzterer jedoch bedeutungslos und die Zollreduktionen imAgrarbereich ein Muster ohne Wert, da sie durch die gleichzeitige Einführungvon nichttarifären Handelshemmnissen wie Ausfuhrkalendern und Mengenkon-tingenten von Seiten der eu quasi durch die »Hintertür« zu einem Großteil wie-der aufgehoben wurden. Zwar ist es beiden Assoziierungspartnern im Rahmender auf fünf Jahre und lediglich auf handelspolitische Bereiche beschränkten Ab-kommen gelungen, Exportsteigerungen zu erzielen, diese reichten jedoch zu kei-nem Zeitpunkt der ersten Phase aus, um den Handelsbilanzüberschuss der eu zu

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senken. Ferner hat auch die Einführung des Allgemeinen Präferenzsystems zu Be-ginn der siebziger Jahre den von der eu eingeräumten Präferenzstatus Marokkosund Tunesiens im Vergleich zu anderen nicht-assoziierten Drittstaaten erheblicherodieren lassen.

Mit diesem Befund kündigt sich bereits an, was sich auch in der von AhmedAghrout gewählten zweiten und dritten Phase der euro-maghrebinischen Bezie-hungen, d.h. im Zeitraum zwischen 1972 und 1992 sowie zwischen 1992 bis 1998,fortführt und manifestiert. Zwar hat die eu im Rahmen ihrer 1972 entworfenenGlobalen Mittelmeerpolitik mit dem Abschluss sogenannter Kooperationsab-kommen nun zu allen Maghreb-Staaten, also auch zu Algerien, institutionali-sierte Beziehungen aufgenommen, die ehemals ausschließlich auf Handelsfragenausgerichteten Abkommen um die Dimensionen »Finanzielle Zusammenarbeit«und »Soziale Zusammenarbeit« erweitert und die Zollzugeständnisse weiter aus-gedehnt. Gleichzeitig hat sie aber die Kooperationsbedingungen eindeutig derkonjunkturellen Lage auf dem Gemeinschaftsmarkt angepasst. Konkret bedeutetdies, dass neben vergleichsweise niedrigen Finanzhilfen – allein im Zeitraum1972–1992 überstieg die gesamte von den einzelnen eu-Mitgliedstaaten geleistetebilaterale Finanzhilfe an die drei Maghreb-Staaten die von der eib und der eu ge-leistete Unterstützung um das Sechsfache – und dem Versuch, der Diskriminie-rung und Ungleichbehandlung der in der Gemeinschaft ansässigen nordafrikani-schen Arbeitnehmer entgegenzuwirken, die »terms of trade« zuungunsten Alge-riens, Marokkos und Tunesiens vereinbart wurden. Komparative Kosten- unddamit Wettbewerbsvorteile insbesondere nordafrikanischer Agrarproduzentenwurden, wie der Autor bemerkt, vor dem Hintergrund der Süderweiterung derGemeinschaft und der damit erreichten Vollendung des Selbstversorgungsgradesdurch die der Gemeinsamen Agrarpolitik inhärente Marktabschottungspraxismitsamt ihrem Abschöpfungs- und Referenzpreissystem sowie durch aufge-zwungene Selbstbeschränkungsabkommen systematisch zunichte gemacht. AusSicht der Maghreb-Staaten hat dies zwar zu einem Rückgang des Anteils derPrimärgüter und einem Anstieg der industriellen Produkte an den Gesamtaus-fuhren in die eu geführt, dennoch aber primär arbeitsplatzvernichtende Effektezur Folge gehabt. Zusätzlich verweist der Autor auf die einseitige Ausrichtungder zwischen 1976 und 1996 gültigen vier Finanzprotokolle, die primär auf die Fi-nanzierung von Infrastrukturmaßnahmen abzielten, nicht aber zur Ankurbelungder Produktionskapazitäten oder Modernisierung von Produktionsstätten inNordafrika eingesetzt wurden und somit auch nicht ihre potenzielle Wirkungentfalten konnten.

Nach einem kurzen Zwischenkapitel, in dem Aghrout kenntnisreich die exis-tierenden Instabilitätsfaktoren in allen drei Ländern komparativ skizziert, be-schreibt er schließlich die Maghreb-Politik der eu, wie sie seit Ende 1995 imRahmen der euro-mediterranen Partnerschaft vollzogen wird. Dabei verweist erzunächst auf den ambitiösen Charakter der seither gültigen drei Kooperationsbe-

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reiche »Politische und Sicherheitspartnerschaft«, »Wirtschaftliche und finanziellePartnerschaft« sowie die »Soziale, kulturelle und humane Partnerschaft«, vermei-det aber abgesehen von einer sehr knapp gehaltenen Schilderung aller drei Koope-rationsfelder leider eine kritische Auseinandersetzung mit ihnen bzw. den seit 1995zu verzeichnenden Problemfeldern, Interessendivergenzen, Implementierungs-schwierigkeiten oder Positiventwicklungen. Sein Hauptaugenmerk gilt vielmehrerneut der handelspolitischen Zusammenarbeit, die bekanntlich im Jahre 2010 ineine gesamt-euro-mediterrane Freihandelszone münden soll.

Aghrout konzentriert sich in einem ersten Schritt auf die Darstellung der han-delspolitischen Vereinbarungen wie sie in den bereits in Kraft getretenen »Eu-ropa-Mittelmeer-Abkommen« zum Ausdruck kommen und stellt fortan in einemzweiten Schritt die zu erwartenden Vorteile der handelspolitischen Liberalisie-rung zwischen den Maghreb-Staaten und der eu den absehbaren Kosten entge-gen. Erneut kommt er auch hier zu einem negativen Fazit: Bei der Schaffung einereuro-mediterranen Freihandelszone überwögen für die drei Maghreb-Staaten dieNachteile. Bedingt durch die bereits eingeleiteten und durch die Assoziierungs-abkommen letztlich unabwendbaren Wirtschaftsreformen entfallen zumindestfür Marokko und Tunesien wichtige Zoll- und Steuereinnahmen, die bislang zurFinanzierung der Haushalte eingesetzt wurden, einheimische Industriegüter wer-den aufgrund des Wegfalls der Handelsbarrieren durch qualitativ höherwertigeeuropäische Importe verdrängt und maghrebinische Unternehmen – insbeson-dere kleine und mittelständische Betriebe – in den Konkurs getrieben. Inwiefernsich diese vermuteten Wohlfahrtsverluste durch evtl. ausländische Kapital-, Tech-nologie und andere Ressourcenzuflüsse ausgleichen werden, sei, so Aghrout, an-gesichts der noch begrenzten Erfahrungswerte mit den seit 1998 gültigen Assozi-ierungspakten gegenwärtig jedoch nur schwer abschätzbar. Neben diesem dochfraglichen Befund fällt ferner auf, dass der Autor es versäumt, den Beziehungender eu zu Algerien im Zeitraum 1992–1998 dieselbe Aufmerksamkeit zu widmen,die er bei den beiden anderen nordafrikanischen Nachbarn für nötig hält. KeineSilbe verliert er über den Stand der Assoziierungsverhandlungen zwischen Brüsselund Algier, keine Erwähnung findet die Haltung der eu zur innenpolitischenalgerischen Lage und auch die bilaterale Handelsentwicklung seit Mitte der neun-ziger Jahre sucht man vergeblich.

Festzuhalten bleibt, dass die an einigen Stellen stark an bereits publizierte Ar-beiten angelehnte Studie von Ahmed Aghrout im Sinne der theoretisch vorge-henden Politikwissenschaft methodisch anspruchslos und wenig innovativ ist.Wenngleich eine stärkere Berücksichtigung der insbesondere in der Mittelmeer-politik auffindbaren Interessenkonflikte innerhalb der eu sowie im Verhältnis dereu-Staaten zu den Mittelmeeranrainern wünschenswert gewesen wäre und auchbestehende Strukturschwächen, die nicht nur das euro-maghrebinische Verhältnisbelasten, sondern generell die eu-Außenbeziehungen behindern, stärker heraus-gearbeitet hätten werden können, ist das Buch als zeitgeschichtliche Einführung

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in das Verhältnis der eu zu seinen nordafrikanischen Nachbarn jedoch durchausempfehlens- und lesenswert. Weitere Verbreitung sei der Studie allein schon des-halb gewünscht, da sie auf anschauliche und lesbare Weise erneut offenbart, wasdie eu tatsächlich praktiziert, wenn sie mit Drittländern eine »gleichberechtigtePartnerschaft« eingeht.

Tobias SchumacherUniversität Mainz

DIETER BORIS:Zur Politischen Ökonomie LateinamerikasDer Kontinent in der Weltwirtschaft des 20. JahrhundertsHamburg 2000VSA-Verlag, 164 S.

er Marburger Soziologe und Lateinamerika-Experte Dieter Boris hat einekleine Studie vorgelegt, die versucht, die wirtschaftliche, gesellschaftliche und

politische Entwicklung des lateinamerikanischen Subkontinents im zwanzigstenJahrhundert in ihren Grundzügen und Wendepunkten darzustellen. Das Grund-motiv seines Buches, wie die Rolle Lateinamerikas in der Weltwirtschaft des letz-ten Jahrhunderts, lässt sich auf die (historische) Abfolge »Aufstieg – Niedergang– Renaissance des Liberalismus« verdichten. Der Aufbau des Buches folgt dieserIdee. Neben einem kurzen und detailreichen Überblick über die gesellschaftlicheEntwicklung Lateinamerikas im letzten Jahrhundert bietet das Buch darüber hin-aus noch eine konzeptionelle Debatte über die Zukunft der marktorientierten Re-formen in Lateinamerika und eine Auseinandersetzung mit alternativen Entwick-lungskonzepten, insbesondere der Strategie der un-Wirtschaftskommission fürLateinamerika und die Karibik (cepal), dem »nuevo cepalismo«.

Das erste Kapitel widmet sich der Rolle des Liberalismus für die Entwicklungder lateinamerikanischen Gesellschaften und stellt zugleich eine Exposition desThemas des Buches dar. Die Ausbreitung des traditionellen Liberalismus ging miteiner Entfaltung des Weltmarktes und der Integration vieler Länder Lateinameri-kas in denselben einher. Der Aufstieg des Liberalismus endete im Zuge der Welt-wirtschaftskrise jedoch in einer Tragödie und setzte der Vorherrschaft liberalisti-scher Vorstellungen von der Wohlstand steigernden Wirkung eines freien Außen-handels ein (vorläufiges) Ende. Die Folgen der weltwirtschaftlichen Depressionmündeten in einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel, der in der entwicklungs-ökonomischen Literatur unter dem Begriff der »importsubstituierenden Indust-rialisierungsstrategie« (isi) bekannt geworden ist. Bis zur Schuldenkrise in den80er Jahren des letzten Jahrhunderts wird diese Strategie von den meisten Län-dern Lateinamerikas betrieben. Dieser krisenhafte Einschnitt stellt einen weiteren

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Wendepunkt dar, der einen neuerlichen wirtschaftspolitischen Paradigmenwech-sel einleitet und in die Etablierung des »neoliberalen Projekts« mündet. Dieserneue Liberalismus unterscheidet sich jedoch von seinem traditionellen Vorläuferin mehrfacher Hinsicht: zum einen bewirkt die Renaissance des Liberalismus inLateinamerika starke Dezentralisierungsprozesse, die konträr zu den zentralstaat-lichen Effekten des alten Liberalismus stehen. Während im beginnenden 20. Jahr-hundert sich die bürgerlichen Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und Säkularisie-rung auszubreiten begannen, mündete das Zeitalter des Neoliberalismus in einer»zunehmenden Unterminierung der Rechtsverhältnisse« (16). Nach der Tragödiesieht der Autor die Wiederkehr des Liberalismus im Übergang zum 21. Jahrhun-dert in einer »Farce« des »ungezügelten und destruktiven Neoliberalismus«(ebd.) enden.

In den Kapiteln zwei bis sechs entfaltet der Autor die Entwicklungsphasen La-teinamerikas im 20. Jahrhundert. Leitgedanke der inneren Kapitelgliederung istdabei die Differenzierung in wirtschaftliche Aspekte einerseits sowie politisch-ge-sellschaftliche Aspekte der lateinamerikanischen Entwicklung andererseits. Imzweiten Kapitel behandelt Boris die Periode des »Export-Import-Systems« in La-teinamerika, das ökonomisch die rohstoffbasierte Integration in den Weltmarktund politisch die Vorherrschaft der exportorientierten Oligarchiefraktionen unddie Bildung eines Zentralstaats bedeutete. Die Entwicklung in den verschiedenenlateinamerikanischen Staaten verlief natürlich nicht gleichartig, insofern sie vonunterschiedlichen historischen und politischen Bedingungen ausging. Entschei-dend für die Entwicklung aller lateinamerikanischen Gesellschaften war, wie dieEinbindung in den Weltmarkt die Binnenökonomie beeinflusste. Boris identifi-ziert drei Faktoren, die für die Ausgestaltung der Sekundäreffekte in den unter-schiedlichen Ländern verantwortlich gemacht werden können: � die Frage, wer die Eigentümer der Produktionsmittel waren – nationale Oli-garchie, kleinere oder mittlere Produzenten oder ausländisches Kapital;� die Frage, ob der Exportsektor eine Nachfrage nach Arbeitskräften hervorbrachte und auf welche Weise diese befriedigt wurde;� die Frage, inwieweit der Bedarf des Exportsektors an ProduktionsanlagenRückwirkungen auf die inländische Wirtschaft ausübte.

Trotz der rohstoffbasierten Integration der Länder Südamerikas in die Welt-wirtschaft, entspricht die Auffassung, Industrialisierung habe sich in Lateiname-rika erst im Zuge der Weltwirtschaftskrise etabliert, Boris zufolge nicht der histo-rischen Realität. Insbesondere für Argentinien, das südliche Brasilien und Uru-guay haben positive sekundäre Auswirkungen des Export-Import-Systems dieBildung eines nationalen Binnenmarktes und einer Industrialisierungschance be-günstigt.

Das dritte Kapitel behandelt die erste Phase des Systems der Importsubstitu-tion, welches der Autor in zwei Phasen, von 1930–1955 bzw. 1955–1982, aufteilt. DieExogenität der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre wird in den nationalen

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Gesellschaften in Variation der ökonomischen und politischen Voraussetzungenauf unterschiedliche Weise endogenisiert. Ökonomien, die es bereits im Laufe desExport-Import-Systems vermochten, Grundstrukturen einer Industrie bereitzu-stellen, konnten wesentlich einfacher die in der lateinamerikaorientierten Sozial-wissenschaft oft zitierte »spontane Anpassung« der Entwicklungsstrategie an dieveränderten außenwirtschaftlichen Verhältnisse vollziehen. Die Importsubstitu-tion bezog sich in dieser ersten Phase im Wesentlichen auf Konsumgüter, wobeies während und nach dem Ende des zweiten Weltkrieges zu einer positiven Kom-bination von Exportforcierung und Fortsetzung der Importsubstitution gekom-men ist. Die bereits von Anfang an bestehende Ambivalenz der importsubstituie-renden Strategie bestand darin, dass die Konsumgüter substituierende Strategiein weiten Teilen von dem weiteren Import von Investitionsgütern und Halbfabri-katen abhängig blieb; eine Abhängigkeit, die sich unter veränderten weltwirt-schaftlichen Konstellationen und spezifischen politischen Herrschaftsbedingun-gen als nachteilig erweisen sollte. Die politischen Regime Lateinamerikas zu die-ser Zeit erfasst Boris in den zwei Grundtypen der offenen Diktatur einerseits undden populistischen Herrschaftsregimen andererseits, wobei er sich jedoch haupt-sächlich dem letzteren Typus widmet. Zwischen den Grundstrukturen und derpolitischen Verarbeitung der Krise steckt kein Automatismus, wie die unter-schiedlichen Entwicklungswege der lateinamerikanischen Gesellschaften zeigen.Die mit dem Industrialisierungskonzept entstehenden sozialen (städtischen) Mit-telschichten werden in den offenen Diktaturen des »Enklave-Modells« zu demTräger sozialer Proteste in den vierziger und fünfziger Jahren, während sie in denpopulistischen Herrschaftsregimen Bestandteil einer Klassenallianz zwischen in-dustriebürgerlichen Kräften und Teilen der städtisch-industriellen Arbeiterklassewerden, die sich gegen die nationalen Oligarchien durchzusetzen versuchten. DieKlassenallianz des Populismus in Lateinamerika sollte jedoch – worauf der Mar-burger Soziologe mit Nachdruck hinweist – nicht zu schematisierend und ver-schwörerisch vorgestellt werden. Die vorhandene Vitalität der beanspruchtenKategorien zeigt die kurze Darstellung der sozialstrukturellen Bedingungen derersten Phase der Importsubstitution (41–46).

Der Übergang zur »schwierigen«, zweiten Phase der Importsubstitution ist inder Anstrengung zu sehen, die weiter bestehende Abhängigkeit der isi vom Im-port von Investitionsgütern und Vorleistungen abzubauen (Kapitel 4). Die öko-nomischen Engpässe dieses Importmodells sieht Boris in drei strukturellen Un-gleichgewichten begründet. � Die isi führt auf der außenwirtschaftlichen Ebene zu einem chronischen Han-delsbilanz- bzw. Leistungsbilanzdefizit, zu welchem zum einen der Exportpreis-verfall und zum anderen die mit der isi einhergehende Überbewertung der ein-heimischen Währung und das System »multipler Wechselkurse« beitrugen. Diehiermit einhergehenden negativen Wirkungen wurden mit der Attraktion vonausländischen Direktinvestitionen gemildert.

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� Sektorale Ungleichgewichte sieht Boris erstens im Verhältnis des Agrarsektorszum Industriesektor gegeben. Zur Stützung der isi wurden die Agrarpreisekünstlich fixiert und stellten keinen Anreiz zur Kapitalisierung des Agrarbereichesdar, was sich auch in der zunehmenden Abhängigkeit vieler lateinamerikanischerLänder von Nahrungsmittelimporten ausdrückte. Zweitens zielte der Ausbau desöffentlichen Sektors auf eine Absorption der mit dem allgemeinen Urbanisie-rungsprozess zusammenhängenden steigenden Zahl städtischer Arbeitskräfte.Entstehende staatliche Unternehmen (Stahlindustrie, Zementindustrie) produ-zierten darüber hinaus zumeist nicht kostendeckend und sorgten für billige In-puts gerade auch ausländischer Unternehmen. � Beide vorgenannten Entwicklungen führten zu einem tendenziell chronischenHaushaltsdefizit.

Die ökonomische Entwicklung in den Ländern Südamerikas bewirkte aucheine Umgestaltung der politischen und sozialen Grundstrukturen, die Boris zu-folge ein wesentlicher Ausgangspunkt der zunehmend konfliktiveren Entwick-lung Lateinamerikas war. Die Urbanisierung und Industrialisierung vieler latein-amerikanischer Gesellschaften verdankte sich der arbeitsintensiven ersten Phaseder Importsubstitution. Die Strategie des (außenfinanzierten) Aufbaus nationalerkapitalintensiverer Investitionsgüterindustrien führte jedoch – von Land zu Landzeitlich differierend – seit den späten sechziger Jahren zu einer »Abflachung desBeschäftigungswachstums« (58). Mit der materiellen Instabilität kam auch dasRegime des Populismus unter Legitimationsdruck. Boris zitiert die These des us-amerikanischen Politikwissenschaftlers O’Donnell und dessen These vom »büro-kratisch-autoritären Staat«. Die mangelnde Fähigkeit der herrschenden Klassen,mittels politischer Hegemonie die unterschiedlichen Gruppen der bürgerlichenGesellschaft integrieren zu können, wird zu seinem zentralen Erklärungsanker.Der Aufstieg von Militärdiktaturen verdankt sich dabei keineswegs einer funktio-nalistischen Erklärungskette: Erschöpfung der Importsubstitution – Krise des Po-pulismus – Intervention des Militärs; er ist wesentlich komplexer und historischwie gesellschaftlich voraussetzungsvoller, wie der Autor nachweist (61–67).

Die Schuldenkrise der achtziger Jahre stellt eine Epoche radikalen Wandels dar,der der Autor ein eigenes Kapitel widmet (Kapitel 5). Der Autor bricht in diesemKapitel mit der Darstellungslogik von wirtschaftlichen und politisch-gesellschaft-lichen Aspekten. Das Chaos des Übergangs der achtziger Jahre lässt sich wohl inkeine einheitliche Darstellungsform stabiler wirtschaftlicher und politischer Ent-wicklungen pressen. Die Tatbestände der Schuldenkrise sind bekannt; über ihreInterpretationen und Ursachen jedoch besteht keineswegs Einigkeit. Boris ver-weist auf einige zentrale Faktoren, die sich auf »unterschiedliche(n) Komplexitäts-stufen« (70) zeigten. Neben der Krise des Weltwährungssystems mit einer Situa-tion struktureller Überliquidität stachen in einer längerfristigen Analyseperspek-tive vor allem die Rohstoffpreisentwicklung in den siebziger Jahren hervor, dievielen Ökonomien Lateinamerikas verschärfte Handelsbilanzdefizite gebracht ha-

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ben. Kurzfristige Faktoren sind die unmittelbaren Zinsbewegungen vor der Krisesowie die hiermit einhergehende Zinspolitik der usa sowie der Entschluss vielerlateinamerikanischer Ökonomien in den siebziger Jahren, ausländische Kredite zuvariablen Zinssätzen aufzunehmen. Mit seiner Krisenanalyse weist der Autor dan-kenswerter Weise auf die manchmal nachteiligen exogenen Bedingungen gesell-schaftlicher Entwicklungen hin und vermeidet eine aposteriorische Verteufelungdes isi-Modells, ohne jedoch dessen Widersprüche zu verschweigen. Allerdingswäre es schön gewesen, wenn Boris diese Differenz stärker herausgestrichen hätte.Die Verwechselung von (logischer) Widerspruchsanalyse und (historischer) Er-klärung ist in der Entwicklungsökonomie ein weit verbreitetes Ärgernis.

Die »Etablierung des neoliberalen Projekts« (Kapitel 6) behandelt die wirt-schaftlichen wie politischen und sozialstrukturellen Umgestaltungsprozesse seitMitte der achtziger Jahre, die noch nicht abgeschlossen sind. Dem von den Me-tropolen eingeforderten Primat der Zahlungsfähigkeit gleicht der Primat der In-flationsbekämpfung in den lateinamerikanischen Ländern. Während die defizitä-ren Staatsfinanzen durch eine Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und eineZurücknahme sozialer Sicherungen und Rechte der Arbeitnehmer zu sanierenversucht wurden, zielten währungspolitische Maßnahmen und außenwirtschaft-liche Liberalisierungen auf eine Verstärkung der Exporttätigkeit der lateinameri-kanischen Ökonomien. Die Verwunderung über die Vertiefung der neoliberalenReformen trotz vielfältiger ökonomischer Rückschläge führt Boris offensichtlichdazu, sich im Verlauf des Kapitels mit den Reformvorstellungen der »Inter-Ame-rican Development Bank« (idb) auseinander zu setzen, die die angesprocheneVerwunderung zum Ausgangspunkt ihrer Analyse macht. Die idb vertritt dabeidie Position, dass die marktorientierten Reformen noch nicht weit genug fortge-schritten seien und fortgesetzt werden sollten. So fragwürdig Boris diese Argu-mentation findet, so weit verbreitet ist eine solche Auffassung aber in der entwick-lungsökonomischen Diskussion. Boris weist zu Recht auf das Fehlen eines »kriti-schen Begriffs von kapitalistischer Produktionsweise« in diesem Diskurs hin. Erkritisiert das »substanzlose Harmoniegerede«, mit dem von negativen sozialenFolgen des kapitalistischen Akkumulationsprozesses abgesehen werde und derenÜberwindung gewissermaßen nur ein reiner Willensakt sei (90f.). Die konzeptio-nelle Diskussion bricht etwas mit der gewählten Darstellungsform, sie ist dennochnotwendig. Vielleicht wäre Boris besser beraten gewesen, der theoretisch-konzep-tionellen Diskussion einen eigenständigeren Raum zuteil werden zu lassen.

Boris widmet sich im zweiten Teil seines Kapitels über die neoliberale Ära inLateinamerika der Frage, wieso ein ökonomisches Wachstumsmodell, welchesgroße gesellschaftliche Polarisierungen zur Folge hat, überhaupt politisch stabilbleiben kann; es ist die Frage »nach Hintergründen und Quellen neoliberalerHegemonie« (95). Neben allgemeinen internationalen Faktoren ist insbesonderedie erfolgreiche Bekämpfung der Hyperinflation in Lateinamerika zu nennen, diemaßgeblich zur Legitimität der neoliberalen Politik beigetragen hat. Die offen-

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sichtliche Stabilität der politischen Regime ist jedoch Boris zufolge ohne die Be-achtung der veränderten Sozialstrukturen und neopopulistischen Politikformennicht zu begreifen. Arbeitslosigkeit unter der industriellen Arbeiterklasse und dieAusbreitung des informellen Sektors als eines relativ marktnahen Subsystems derökonomischen Strukturen lateinamerikanischer Länder unterminieren nicht nurdie Erfolge des alten Modells, sondern machen »Marktwirtschaft von unten«(Hernando de Soto) erfahrbar. Neopopulistische Politik, die sich auf sozialpoli-tische Inszenierungen und Projekte bezieht, nimmt die sozialen Polarisierungenzum Anlass, die »gezielten Gaben« (99) auf die wirklich Bedürftigen zu konzen-trieren. Die neopopulistischen Politikformen bündeln dabei den »Diskurs gegendas vorherige Establishment« (105), der mit einem dezidierten »Anti-Institutio-nalismus« (104) einhergeht. Der Neo-Populismus stützt sich dabei auf eine neuesoziale Basis, einem Amalgam aus exportorientiertem Kapital, Finanzsektor undTeilen des sogenannten informellen Sektors. Die hiermit oft einhergehende for-male Demokratisierung scheint Boris zufolge jedoch nicht auf eine Ausweitungdemokratischer Partizipation abzuzielen, die sozialen Ausgleich und eine gene-relle Wohlfahrtssteigerung umfassen müsste.

Im siebten Kapitel widmet sich Boris der konzeptionelle Diskussion über diealternativen Vorstellungen der cepal, die gerade auch in Deutschland maßgeb-lichen Einfluss auf die entwicklungsstrategische Debatte hat. Neben der Darstel-lung der Diskussion um diesen »nuevo cepalismo«, die bereits Mitte der achtzigerJahre begann, geht Boris auch auf den Diskurs über die Herausforderungen desexternen Kapitalzuflusses im Zusammenhang der internationalen Finanzkrisenund den Komplex zunehmender Armut im cepal-Review, der Zeitschrift dercepal, ein. Jenseits der Detailkritik überrascht doch die positive Einschätzung derneuen cepal-Konzeption durch den Autor. Wurde oben noch vor einer allzu po-sitiven Kapitalismustheorie gewarnt, sieht Boris an dieser Stelle die Forderungender cepal, die internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht durch eine große sozialeUngleichheit zu gefährden, als alternatives Konzept. Wenn »systemische Wettbe-werbsfähigkeit« auf »sozialem Ausgleich« (125) basiert und nur so funktionierenkann, stellt sich jedoch die Frage, wie sich diese Aussage zu jenem »kritischen Be-griff von kapitalistischer Produktionsweise« verhält, den Boris einfordert. Ohneeine abschließende Beantwortung hierfür gefunden zu haben, kann seinerSchlussfolgerung zugestimmt werden, dass eine »abschließende und angemes-sene Beurteilung der cepal-Positionen« (127) nicht einfach sei.

Im vorletzten Kapitel zeigt der Lateinamerika-Kenner die Realität von wirt-schaftlichen regionalen Integrationsprojekten. Die cepal-Konzeption eines »of-fenen Regionalismus«, die die regionale Wirtschaftsintegration zum Sprungbrettin den Weltmarkt machen möchte, sei dabei weit von der Realität im südameri-kanischen Integrationsprojekt (Mercosur) entfernt, welches zunächst nur eineschwache Freihandelszone bilde und für exogene Schocks des Weltmarktes (Fi-nanzkrisen) anfällig sei. Auch die nordamerikanische Freihandelszone (nafta)

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wird in ihrer momentanen Konstruktion kritisch gesehen. Zunächst – so Boris –sind die Maquiladora-Industrien, die einen großen Teil des nafta-Handels in dieusa ausmachen, weitgehend von der inländischen Wirtschaft abgekoppelt. DieExporte aus diesen Industriebereichen Mexikos haben somit nur geringe Rück-kopplungseffekte auf die mexikanische Wirtschaft; darüber hinaus bedeutetnafta auch die Öffnung Mexikos für us-amerikanische Exportgüter. Wegen viel-fältiger nicht-tarifärer Handelshemmnisse gerade in den Bereichen, in denenmexikanische Unternehmen über Wettbewerbsvorteile verfügen, kann ein Wirt-schaftsboom in Mexiko zu einer problematischen »Passivierung der Handels-bilanz« führen. Boris bleibt skeptisch gegenüber den erhofften positiven Wirkun-gen auf die mexikanische Wirtschaft.

Im Schlusskapitel wagt es der Autor, die Entwicklung Lateinamerikas im21. Jahrhundert in drei Szenarien zu bündeln:� Die »katastrophische Variante« sieht die lateinamerikanischen Gesellschaften imökonomischen und politischen Chaos versinken, wie sie in Haiti und Kolumbiendrohten. Der weiteren Marginalisierung Lateinamerikas in der Weltwirtschaftsteht politisch die Verschärfung sozialer Polarisierungen und die Gefahr autoritä-rer Regressionen gegenüber. � Ein zweites Szenario sieht Boris in der »Fortsetzung des Status Quo«. Eine wei-tere Öffnung für Auslandskapital und die Verbesserung des Humankapitals gehtmit einer verstärkten Exportorientierung einher, die mit marginalen sozialpoli-tischen Programmen flankiert wird. Politisch werden neopopulistische Experi-mente womöglich zu einem Umbau der politischen Systeme führen und staatlicheAktivitäten weitgehend auf die Bereitstellung marktkonformer Regulierungenabgestellt sein. � Die – von Boris befürwortete – »Reformvariante« setzt schließlich auf eine»Verschiebung der Machtrelationen und der politischen Kultur«, die weder dieneoliberalen Reformen fortsetzt noch sich auf Reformen des cepal-Types redu-ziert. Die Vorstellungen münden in eine – notgedrungen – vage bleibende Per-spektive. Die Eckpunkte umfassen viele Elemente – Vertiefung der Demokratie,Selbstorganisierung und Selbstbestimmung zivilgesellschaftlicher Akteure –, diein ähnlichen Reformvorstellungen vorkommen. Wirtschaftspolitisch favorisiertBoris eine stärkere Binnenmarktorientierung und eine kompromisshafte Balancezwischen allgemeinen-gesellschaftlichen und partikular-kapitalistischen Interes-sen.

Es mag nochmals die Stimmigkeit der vom Autor durchgeführten Analyse derpolitischen Hegemonie des Neoliberalismus in Lateinamerika unterstreichen,wenn einem ein solches Alternativszenario zur Zeit doch recht unwahrscheinlichvorkommt.

Kai MosebachHannover

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CARMELO MESA-LAGO / ALBERTO ARENAS DE MESA / IVAN BRENES / VERÓNICA MONTECINOS / MARK SAMARA:Market, Socialist, and Mixed EconomiesComparative Policy and Performance: Chile, Cuba, and Costa RicaBaltimore 2000The Johns Hopkins University Press, 707 S.

nternationale Ländervergleiche spielen schon seit langem eine wichtige Rolle indem Bemühen, den Prozess der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung zu

verstehen und charakteristische »Entwicklungsmuster« oder »Entwicklungs-pfade« bestimmen (und damit auch: beeinflussen) zu können. Hierbei haben sichinsbesondere international vergleichende quantitative Analysen länderbezogenersozio-ökonomischer Daten mit einem vielfältig ausdifferenzierten Instrumen-tarium als Verfahren der empirisch orientierten Entwicklungsländerforschungetabliert. Auch in dem hier besprochenen Buch von Carmelo Mesa-Lago undKoautoren wird umfangreiches Datenmaterial statistisch ausgewertet, um eineAntwort auf die Frage zu finden, in welchem der drei untersuchten lateinameri-kanischen Länder – Chile, Kuba, Costa Rica – die Wirtschafts- und Sozialpolitikwährend der zurückliegenden Dekaden zu besseren »Entwicklungsergebnissen«geführt haben.

Warum werden Chile, Kuba und Costa Rica verglichen? Bei jedem internatio-nalen Ländervergleich stellt sich die grundsätzliche methodologische Frage, obSimilarkomparativistik oder Konträrkomparativistik den angemesseneren Ansatzdarstellt, ob also möglichst ähnliche Länder/Fälle verglichen werden sollen odermöglichst verschiedene. Diese beiden Ansätze sind von Mesa-Lago und Koauto-ren insofern kombiniert worden, als sie bei ihrer Auswahl drei lateinamerikani-sche Staaten gleicher Sprache, vergleichbaren Entwicklungsstandes (gemessen anden Pro-Kopf-Einkommen), ähnlicher Größenordnung und ähnlicher kolonialerVergangenheit berücksichtigt haben, deren Wirtschaftssysteme aber an unter-schiedlichen Ordnungsmodellen orientiert sind. Einerseits der Fall Chile, wo miteinem weitreichenden Strukturanpassungsprogramm während des autoritärenMilitärregimes die Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik an dem neoliberalen(mit den Worten Mesa-Lagos [S.12]: neokonservativen) Modell vollzogen wurdeund Reform-Maßnahmen, wie etwa in der Alterssicherung, weltweit als beispiel-haft gepriesen werden; andererseits der Fall Kuba, wo nach dem Sieg der Revo-lution 1959 die sozioökonomischen Strukturen des Landes im Sinne einer zentral-verwaltungswirtschaftlichen Ordnung so grundlegend verändert wurden, dassdas kubanische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell nicht nur in anderen mittel-und südamerikanischen Ländern Bewunderung fand – zumindest zeitweise. Ne-ben Chile und Kuba als »ideologischen Giganten« (Mesa-Lago) mag Costa Ricazwar als weniger interessant erscheinen, da das Land mit seiner »gelenkten Markt-wirtschaft« (mixed economy), d.h. mit dem Nebeneinander von marktmäßigen

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und verwaltungswirtschaftlichen Koordinationsverfahren sowie Privateigentumund öffentlichem Eigentum, eher dem heutigen ordnungspolitischen Regelfallvon Wirtschaftssystemen rund um den Globus entspricht. Die Autoren begrün-den die Aufnahme Costa Ricas in ihren lateinamerikanischen Ländervergleich da-mit, dass es dem Land während der Untersuchungsperiode (1960–93) gelungensei, einen der höchsten sozialen Standards innerhalb der Gruppe der Entwick-lungsländer zu erreichen, und zwar ohne einen radikalen wirtschaftspolitischenParadigmenwechsel und auch nicht auf Kosten der pluralistischen Demokratieund der bürgerlichen Freiheitsrechte (S. 12).

Wenn Mesa-Lago und Koautoren in ihrer Untersuchung zu dem abschließen-den Befund gelangen, dass das kubanische Modell das am wenigsten erfolgreiche(least viable) der drei verglichenen Fälle gewesen sei (S. 623), dann kann diese Be-urteilung angesichts der zugrunde liegenden Performance-Kriterien kaum über-raschen. Die Ergebnisse der Wirtschafts- und Sozialpolitiken in den drei Ländernwerden mit den konventionellen makroökonomischen Größen gemessen: Wirt-schaftswachstum, Inflation, Diversifikation der Produktionsstrukturen, Handels-bilanz und außenwirtschaftlicher Abhängigkeitsgrad, Arbeitslosenquote; hinzukommen soziale Indikatoren wie (Un-)Gleichheit der personellen Einkommens-verteilung, Alphabetisierungsquote, Lebenserwartung bei der Geburt, Säuglings-sterblichkeitsrate etc. Bei Verwendung dieses Indikatoren-Sets, wie es auch beiden Länderanalysen der internationalen Finanzinstitutionen und Rating-Exper-ten üblicherweise zum Einsatz kommt, kann es nicht überraschen, wenn Mesa-Lago und Koautoren dem chilenischen Wirtschaftsmodell mittelfristig eine rechthohe Tragfähigkeit bescheinigen (S. 613), auch wenn einige sozialpolitische Kor-rekturen erforderlich seien. Im Falle Costa Ricas seien die notwendigen Struk-turanpassungsmaßnahmen um den Preis gesamtwirtschaftlicher Wachstumsein-bußen zwar erst mit einiger Verspätung eingeleitet worden, aber insgesamt könnemit einigen Reformen ein Modell konsolidiert werden, mit dem das Land wäh-rend mehr als vier Dekaden wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt erreicht habe(S. 617).

Um zu diesen summarischen Beurteilungen der Entwicklung in Chile, Kubaund Costa Rica zu gelangen, hätte es nicht der rund siebenhundertseitigen Un-tersuchung von Mesa-Lago und Koautoren bedurft. Aus zahlreichen Publikatio-nen von Weltbank, Internationalem Währungsfonds, Inter-Amerikanischer Ent-wicklungsbank und anderen Institutionen (die sich alle eines ähnlichen Bündelsmakroökonomischer Performance-Kriterien bedienen) ist hinreichend bekannt,dass eine strikt marktwirtschaftlich orientierte Politik à la Chile zu besseren ge-samtwirtschaftlichen Ergebnissen führt als eine zentralverwaltungswirtschaftlichinspirierte Wirtschaftspolitik wie in Kuba, und dass es in »mixed economies« wieCosta Rica zu erheblichen Friktionen und Reibungsverlusten bei der Umsetzungwirtschaftspolitischer Reformen kommen kann. So rangiert beispielsweise Chileauch in dem »Global Competitiveness Report 2001« des World Economic Forum

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in Bezug auf gesamtwirtschaftliche Wachstumschancen und internationale Wett-bewerbsfähigkeit erwartungsgemäß deutlich vor Costa Rica und allen anderen indem Ranking berücksichtigten lateinamerikanischen Volkswirtschaften (zu denenKuba nicht gehört).

Am Beispiel dreier lateinamerikanischer Länder haben Mesa-Lago und Ko-autoren mit ihrer vergleichenden Untersuchung eine Fülle empirischer Belege fürdie Überlegenheit marktwirtschaftlich orientierter Wirtschaftspolitik zusammen-getragen, aber die Ergebnisse ihrer Analyse sind weder sonderlich neu, noch über-raschend. Und der mit den untersuchten Ländern vertraute Leser wird nicht jedenBefund der Autoren uneingeschränkt akzeptieren können oder zumindest einedifferenziertere Berücksichtigung der (innen- und außen-)politischen Rahmenbe-dingungen fordern, unter denen die wirtschaftlichen und sozialen (Miss-)Erfolgein dem jeweiligen Land zustande gekommen sind. So wird beispielsweise derLeser die Ausführungen über die chilenische Privatisierungspolitik des Pinochet-Regimes (S. 81f.) kritischer zur Kenntnis nehmen, der auch das Werk von CarlosHuneeus, »El régimen de Pinochet« (Santiago de Chile 2000, Editorial Sudame-ricana, 670 S.) studiert hat, in dem die politischen Hintergründe und institutio-nellen Arrangements der Privatisierungen in Chile ausführlich dargelegt sind.

Trotz solcher Einwände ist die Lektüre des Buches von Mesa-Lago und Ko-autoren empfehlenswert, und zwar einerseits wegen der methodischen Stringenzdes Ländervergleichs (die man bei vielen anderen komparativen Länderstudienvermisst), und andererseits wegen der Fülle an länderspezifischen Detailinforma-tionen und Datenreihen. Das Literaturverzeichnis nennt über 600 Titel, davonknapp 190 zu Chile, über 140 zu Costa Rica und mehr als 220 Titel zu Kuba. Dieumfangreichen Literaturangaben zu Kuba dürften gerade auch für Leser inDeutschland eine willkommene Fundgrube sein, da hierzulande – aus unter-schiedlichen Motiven – ein besonderes Interesse an dem kubanischen Fall oderdem Fall Kuba wieder erwacht ist. Dankbar werden die an Kuba interessiertenLeser zudem konstatieren, dass Mesa-Lago und Koautoren mit zahlreichen Tabel-len in ihrer Untersuchung Lücken geschlossen haben, die in den wirtschaftsstatis-tischen Datenbanken der internationalen Organisationen bestehen.

Den methodischen Grundregeln internationaler Ländervergleiche sind Mesa-Lago und Koautoren weitestgehend gerecht geworden. Da sich die Autoren striktan die von ihnen vorgegebenen Performance-Kriterien halten, sind auch Länder-querschnittsvergleiche zu einzelnen Zeitabschnitten und/oder Politikbereichenmöglich. Besonders lobenswert ist das Bemühen der Autoren um eine möglichstweitgehende Standardisierung des umfangreichen Datenmaterials. DetailliertereInformationen wären allerdings wünschenswert zu den statistischen Prozeduren,mit denen aggregierte Indexzahlen berechnet werden (z.B. in Tabelle V.30) sowiezu den Besonderheiten der Statistiken aus der kubanischen volkswirtschaftlichenGesamtrechnung, die während der Untersuchungsperiode auf dem »MaterialProduct System« (mps) basierte, und daher nicht ohne weiteres mit den Ergeb-

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nissen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung von Chile und Costa Rica ver-gleichbar sind, die nach dem »System of National Accounts« (sna) erstellt wur-den. Vergleiche von mps-Daten mit sna-Daten sind nur nach teilweise aufwendi-gen Umrechnungen möglich.

Hartmut SangmeisterUniversität Heidelberg

MÓNICA RUBIOLO GONZÁLEZ:Argentinien: Gesellschaft, Staat und Steuerpolitik. Vergleichende Ana-lyse der Steuerreformen unter den Regierungen Alfonsín und Menem.Saarbrücken 2000Verlag für Entwicklungspolitik, 321 S.

arum müssen wir Steuern bezahlen? Die Antwort ist einfach: die Erhebungvon Steuern ist für den Staat eine der Möglichkeiten, sich Einnahmen zu ver-

schaffen, um die staatlichen Leistungen zu finanzieren, die von der Mehrzahl derStaatsbürger gewünscht werden. Wesentlich weniger einfach ist es allerdings, eineffizientes Steuersystem zu etablieren, das von den Bürgern als gerecht oderzumindest als fair akzeptiert wird. Die öffentlichen Finanzen haben eine zentraleBedeutung für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben im Entwicklungsprozess. Ent-wicklungsländer, deren staatliche Einnahmesituation in der Regel prekär ist,sehen sich mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert, wenn sie ihre Steuersys-teme im Rahmen von Strukturanpassungsprogrammen reformieren wollen (odersollen). Die Idealvorstellung eines Steuersystems für diese Länder geht davon aus,dass es einerseits möglich ist, einen hinreichend großen Anteil der Staatseinnah-men durch Steuererhebung zu erzielen, um eine exzessive Staatsverschuldung zuvermeiden, und dass andererseits die steuerliche Belastung wirtschaftliche Aktivi-täten weder bremst noch zur Verlagerung von Einkünften in das Ausland anreizt.Eine Steuerreform an dieser Idealvorstellung auszurichten, stellt (nicht nur) fürEntwicklungsländer eine erhebliche Herausforderung dar. Denn in der Praxis be-deutet Steuerpolitik mehr die Kunst des Machbaren als die Erreichung eines Op-timalzustandes; dafür sind mehrere, auch entwicklungsländerspezifische Gründemaßgeblich. So lassen sich beispielsweise die beiden Hauptsteuerarten modernerSteuersysteme – Einkommens- und Verbrauchssteuern – in den informellen Sek-toren von Entwicklungsländerökonomien nur sehr begrenzt erheben. Zudem er-fordert ein modernes Steuersystem eine effiziente Steuerverwaltung mit qualifi-ziertem (und entsprechend gut bezahltem) Personal – Voraussetzungen, die indem öffentlichen Dienst vieler Entwicklungsländer häufig nicht gegeben sind.

Mónica Rubiolo hat sich in ihrer Arbeit mit den Steuerreformen auseinander-gesetzt, die in Argentinien von den Regierungen der Präsidenten Alfonsín (1985–

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86) und Menem (1991–93) durchgeführt wurden. Von entwicklungspolitischemInteresse ist der Vergleich dieser beiden Steuerreformen insofern, als die Reform-maßnahmen der Regierung Alfonsín noch durch die Ära des binnenmarktorien-tierten, staatsinterventionistischen Entwicklungsmodells geprägt waren, währenddie Steuerreform der Regierung Menem schon deutlich von dem neoliberal inspi-rierten Modell exportorientierter Weltmarktintegration beeinflusst wurde. Wäh-rend die Steuerreform von Alfonsín zu keiner nachhaltigen Verbreiterung derSteuerbasis und auch zu keiner Stabilisierung des Steueraufkommens führte,zeigte die Reform der Regierung Menem (zumindest zeitweise) beeindruckendefiskalische Ergebnisse, die auch international Beachtung fanden. Der Autoringeht es bei ihrer vergleichenden Untersuchung der beiden argentinischen Steuer-reformen jedoch weniger um wirtschaftstheoretische Aspekte optimaler Besteue-rung, sondern hauptsächlich um die Fragen, inwieweit die Steuerreformen durchdas seinerzeit je dominierende Entwicklungsparadigma geprägt wurden und wiesich in den reformierten Steuersystemen die (gegebenenfalls veränderten) Macht-verhältnisse in der argentinischen Gesellschaft widerspiegelten. Die Autorin hatsich insofern eine anspruchsvolle Aufgabe gestellt, als sie die vergleichende Ana-lyse der beiden untersuchten Steuerreformen auf wirtschaftwissenschaftlichenund politikwissenschaftlichen Argumentationsmustern aufbaut.

In einer kurzen Einleitung (Kapitel i) wird zunächst die Hauptfragestellungder Untersuchung formuliert (S. 7): Kommt in der chronischen Unfähigkeit desargentinischen Staates, sich die nötigen Finanzmittel für seine Aufgaben von derGesellschaft zu verschaffen, ein problematisches Verhältnis zwischen Staat und Ge-sellschaft zum Ausdruck und kann eine gelungene Steuerreform als Indikator füreinen Wandel in diesem Verhältnis gelten? Das ist eine durchaus innovative Frage-stellung, die zudem weit über den untersuchten argentinischen Fall hinausweist.

Den theoretischen Rahmen für die Analyse der Steuerpolitik liefert M. Ru-biolo in Kapitel ii, wobei es ihr hauptsächlich um den Zusammenhang zwischenGesellschaft, Staat und Finanzierung, insbesondere um den zwischen Entwick-lungsstrategie, Staatsreform und Staatsfinanzen geht. Ein solcher Zusammen-hang, der sich u.a. in der Steuerlastquote und dem Anteil der Staatsausgaben ander gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung manifestiert, wird implizit in denStrukturanpassungsprogrammen à la iwf und Weltbank unterstellt, ohne dabeiallerdings die tatsächlichen gesellschaftlichen Zielvorstellungen und Machtver-hältnisse in den Reformländern hinreichend zu berücksichtigen.

Die normativen und kontextuellen Dimensionen lateinamerikanischer Steuer-politik werden in Kapitel iii thematisiert, um deutlich zu machen, dass die beidenuntersuchten Steuerreformen in Argentinien im Kontext des entwicklungsstrate-gischen Paradigmenwechsels zu sehen sind, der seit den achtziger Jahren des20. Jahrhunderts in (fast) ganz Lateinamerika stattgefunden hat. Anschließendwerden in Kapitel iv und v, die inhaltlich und vom Umfang her den Hauptteil derUntersuchung bilden, die Steuerreformen der Regierungen Alfonsín und Menem

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mit Hilfe eines identischen Analyserasters vergleichend untersucht. Für die Be-wertung der jeweils am Ende der beiden Kapitel dargestellten materiellen Ergeb-nisse dieser beiden Steuerreformen (sektorale, fiskalische und administrativeErgebnisse, Umverteilungsergebnisse sowie Auswirkungen auf die Steuerehrlich-keit) erweist sich die jeweils vorangestellte Diskussion der prozessualen Dimen-sion der Steuerreformen und der beteiligten Akteursinteressen als förderlich.

Das Fazit, das die Verfasserin in dem abschließenden Kapitel vi zieht, lautet:der Vergleich der normativen, kontextuellen, prozessualen und materiellen Di-mensionen der Steuerreformen der Regierungen Alfonsín und Menem macheUnterschiede deutlich, die auf einen Prozess der Neuformulierung der Beziehun-gen zwischen Staat und Gesellschaft in Argentinien hinweisen, und an Hand die-ser Unterschiede sei es möglich, das Scheitern der ersten Steuerreform und denErfolg der zweiten zu erklären (S. 284). Zu diesem Befund ist die Autorin imFebruar 1999 gekommen, als die finanzielle Bedrängnis noch nicht absehbar war,in welche die Regierung des späteren argentinischen Präsidenten de la Rúa geriet;möglicherweise würde aus heutiger Sicht die Beurteilung der Erfolgsbilanz derSteuerreform von Menem zurückhaltender ausfallen, da sie sich mittelfristig fis-kalisch als nicht nachhaltig erwiesen hat.

M. Rubiolo hat das Schlusskapitel ihrer Arbeit unter das Cicero-Zitat gestellt,dass der Staat zum Nutzen derer geführt werden müsse, die ihm anvertraut sind,nicht zum Nutzen derer, denen er anvertraut ist. Ihre Untersuchung macht deut-lich, dass dies offensichtlich nicht der Leitspruch des Regierungshandelns in Ar-gentinien war und Ciceros Imperativ für die Ausgestaltung der beiden untersuch-ten Steuerreformen wohl kaum entscheidende Bedeutung hatte. Noch deutlicherhätte vermutlich der Einfluss von Akteursinteressen auf Details der argentinischenSteuerpolitik herausgearbeitet werden können, wenn sich die Verfasserin des Ana-lyseinstrumentariums der Neuen Institutionenökonomik bedient hätte, wie z.B.des Principal-Agent-Ansatzes und des Rent-seeking-Ansatzes. Und sicherlichwäre es für den Leser auch interessant, mehr darüber zu erfahren, inwieweit Be-ratungen und inhaltliche Vorgaben der Bretton-Woods-Institutionen iwf undWeltbank in die konzeptionelle Ausgestaltung der argentinischen Steuerreformeneingeflossen sind, die von der Verfasserin durchaus im Kontext der strukturellenAnpassungsprogramme gesehen werden. Aber auch in der vorliegenden Form istdie Untersuchung auf der Schnittfläche von Politik- und Wirtschaftswissenschaf-ten für Ökonomen und Politikwissenschaftler höchst lesenswert, da sie auf einemtheoretisch und empirisch robusten Fundament ruht. Mit ihrer Untersuchung hatMónica Rubiolo einen wichtigen Beitrag für ein besseres Verständnis der Irrun-gen und Wirrungen von Wirtschaftspolitik in Lateinamerika geleistet und mit ei-ner innovativen Fragestellung konzeptionelles Neuland betreten.

Hartmut SangmeisterUniversität Heidelberg