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10 Die d'Alquen Seiten (Dalquen, Dalken, van Alken,usw.) Die ältere westfälische Linie Mord auf Schloss Bury (Belgien) Im XVIII. Bericht, 1998, auf den Seiten 837 bis 874 lernten wir die Cousine der Josephine d’Alquen kennen: die Gräfin Ida Visart de Bury et Bocarme geborene Marquise du Chasteler (siehe auch hier ). In ihren letzten Mitteilungen machte Josephine eine verschleierte Bemerkung über die Ereignisse auf dem Schloss Bury, das die Gräfin einige Jahre vorher ihrem Sohn Hippolyte übertragen hatte. Anscheinend konnte sich Josephine nur schwer mit der Tatsache abfinden, dass ihr Neffe zweiten Grades, den sie für sehr begabt hielt und mit dem sie einige Male korrespondiert hatte, einen Giftmord an seinem Schwager Gustave Fougnies unter Mithilfe seiner Frau begangen haben sollte, um in den Besitz seines Vermögens zu gelangen. Josephine und ihre Geschwister waren mehrmals Gäste auf Bury. Franz Adam Maria d’Alquen, der Klaviervirtuose und Komponist, widmete seiner Cousine mehrere Klavierstücke. Damals, 1850, stürzte sich die europäische Sensationspresse auf das ganz ungewöhnliche Ereignis eines zunächst nicht nachweisbaren Giftmordes. Erstmals in der Geschichte der Kriminologie gelang es zu beweisen, dass es sich bei dem verwendeten Gift um Nikotin handelte. Hierüber fand ich einen ausführlichen Bericht bei Jürgen Thorwald, Die gnadenlose Jagd. Roman der Kriminalistik, S. 231 bis 243.

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Die d'Alquen Seiten(Dalquen, Dalken, van Alken,usw.)

Die ältere westfälische Linie

Mord auf Schloss Bury (Belgien)

 

Im XVIII. Bericht, 1998, auf den Seiten 837 bis 874 lernten wir die Cousine der Josephine d’Alquen kennen: die Gräfin Ida Visart de Bury et Bocarme geborene Marquise du Chasteler (siehe auch hier). In ihren letzten Mitteilungen machte Josephine eine verschleierte Bemerkung über die Ereignisse auf dem Schloss Bury, das die Gräfin einige Jahre vorher ihrem Sohn Hippolyte übertragen hatte. Anscheinend konnte sich Josephine nur schwer mit der Tatsache abfinden, dass ihr Neffe zweiten Grades, den sie für sehr begabt hielt und mit dem sie einige Male korrespondiert hatte, einen Giftmord an seinem Schwager Gustave Fougnies unter Mithilfe seiner Frau begangen haben sollte, um in den Besitz seines Vermögens zu gelangen.

Josephine und ihre Geschwister waren mehrmals Gäste auf Bury. Franz Adam Maria d’Alquen, der Klaviervirtuose und Komponist, widmete seiner Cousine mehrere Klavierstücke. Damals, 1850, stürzte sich die europäische Sensationspresse auf das ganz ungewöhnliche Ereignis eines zunächst nicht nachweisbaren Giftmordes. Erstmals in der Geschichte der Kriminologie gelang es zu beweisen, dass es sich bei dem verwendeten Gift um Nikotin handelte. Hierüber fand ich einen ausführlichen Bericht bei Jürgen Thorwald, Die gnadenlose Jagd. Roman der Kriminalistik, S. 231 bis 243.

Nun folgt hier die ausführliche und spannende Darstellung aus Thorwalds sehr lesenswertem Roman:

Es war am späten Nachmittag des 21. November 1850, als sich der Pfarrer der zwischen den belgischen Städten Mons und Tournai gelegenen Gemeinde Bury einer sonderbaren  Gruppe von Besuchern, drei Mädchen und einem jungen Mann, gegenübersah. Der Pfarrer erkannte sie sofort, als sie schüchtern und unruhig aus dem Dunkel in den Lichtschein seiner Lampe traten: Gilles, ein Kutscher, Emmerance Bricourt, eine Zofe, Justine

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Thibaut und Virginie Chevalier, zwei Kindermädchen. Sie alle gehörten zum Personal des nahe gelegenen Schlosses Bitremont. Von Gewissensnöten gepeinigt, baten sie den Pfarrer um Rat. Am Tage zuvor, dem 20. November, nachmittags, hatten sich auf dem alten, von Mauern und Burggräben geschützten Schloß Dinge zugetragen, die sie alle mit Furcht erfüllten.

Was Emmerance Bricourt, die Wortführerin, zu berichten wußte, war allerdings ungewöhnlich genug — ungewöhnlich selbst für Schloß Bitremont, das der Bevölkerung des Hennegaus seit langem als der Schauplatz eines wüsten Lebens bekannt war. Zahlreiche Bewohner der Umgebung glaubten, daß es wahr sei, was man sich erzählte — daß der kaum dreißigjährige Schloßherr, Graf Hippolyte Visart de Bocarmé, in seiner Jugend von einer Löwin gesäugt worden sei und mit Löwenmilch die ganze Wildheit seiner tierischen Amme in sich aufgesogen habe.

Bocarmé war der Sohn eines niederländischen Statthalters in Java und dessen belgischer Frau. Auf hoher See, an Bord der Fregatte ‚Eurimus Marinusi’, während einer Sturmfahrt nach Ostasien, hatte ihn seine Mutter zur Welt gebracht. Ein späterer Aufenthalt in den Vereinigten Staaten, wo sein Vater sich als Tabakhändler und Jäger Versuchte, ließ ihn mehr oder weniger verwildern. Nach der Rückkehr in die Alte Welt kostete es viel Mühe, ihm das Lesen und Schreiben beizubringen. Schließlich aber hatte er sich für Naturwissenschaften und Landwirtschaft interessiert und die Verwaltung des Schlosses Bitremont übernommen.

Um seine Vermögenslage zu verbessern, heiratete Bocarmé im Jahre 1843 eine Bürgerliche, Lydie Fougnies, von der er annahm, daß sie über große Geldmittel verfügte. Lydies Vater war Apotheker in Peruwelz, ein selbstsüchtiger Außenseiter, der seine beiden Kinder, Lydie und einen kränklichen Sohn namens Gustav, zum ‚Streben nach Höherem’, insbesondere nach Adelstiteln erzogen hatte. Erst nach der Hochzeit des Grafen Bocarmé mit Lydie hatte sich herausgestellt, daß Fougnies' Vermögen weit überschätzt worden war. Die nunmehrige Gräfin erhielt lediglich eine Jahresrente von 2000 Francs, die bei weitem nicht für die extravaganten Ansprüche des Grafenpaares ausreichte.

Innerhalb weniger Jahre war Bitremont zur Stätte einer Mißwirtschaft ohnegleichen geworden: wilde Feste, Prassereien, Jagdvergnügungen und eine Schar von Bediensteten — und dem gegenüber eine wachsende Last von Schulden. Prügelszenen zwischen Graf und Gräfin wechselten mit Ausbrüchen gegenseitiger Leidenschaft. Nach dem Tode des alten Fougnies erhöhte sich die Rente der Gräfin zwar auf 5000 Francs jährlich, aber auch dies war längst nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Die Verschleuderung des Landbesitzes bot die einzige Möglichkeit, die dringendsten Schulden zu decken. Im Jahre 1849 war diese Möglichkeit erschöpft. Die Situation wurde so verzweifelt, daß Bocarmé sich die Ersparnisse von Dienstboten auslieh. Die letzte Hoffnung des Grafenpaares richtete sich auf den Tod von Lydies Bruder Gustav, der in den Besitz des Haupterbes gelangt war. Wenn er ledig starb, wurde die Gräfin zur Erbin seines Vermögens.

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Gustav war seit der Amputation eines Unterschenkels schwer leidend. Nur auf Krücken bewegte er sich vorwärts. Die Spekulationen auf sein baldiges Ende waren also nicht unbegründet. Seit dem Frühjahr 1850 aber hatte sich plötzlich das Gerücht verbreitet, Gustav wolle heiraten. Tatsächlich stellte sich heraus, daß er das Schloß einer verarmten adligen Familie, Grandmetz, gekauft und sich mit seiner Besitzerin, Demoiselle de Dudzech, verlobt hatte. Seit Anfang November 1850 war es so gut wie gewiß, daß die Vermählung der beiden dicht bevorstand — und damit auch der Zusammenbruch aller Hoffnungen der Bocarmés auf Gustav Fougnies' Besitz.

An jenem Abend des 21. November jedoch, an dem der Pfarrer von Bury in seiner engen Stube anhörte, was Emmerance Bricourt an ungereimten, schauerlichen Dingen zu berichten hatte, weilte Gustav Fougnies seit mehr als vierundzwanzig Stunden nicht mehr unter den Lebenden. Er war nicht mehr imstande gewesen, sich zu vermählen. Er war tot.

Seit dem Nachmittag des 20. November lag sein Leichnam in Emmerances Kammer, nackt, mit Wundmalen an den Wangen und einem schwärzlich verbrannten Mund.

Emmerances Geschichte aber lautete folgendermaßen: Am Vormittag des 20. November hatte ein Bote den Bocarmés angekündigt, Gustav werde gegen Mittag auf dem Schloß erscheinen, um den Verwandten seine bevorstehende Hochzeit mitzuteilen. Daraufhin waren merkwürdige Dinge geschehen. Während sonst die Kinder des Grafenpaares mit ihren Bonnen an den Mahlzeiten in dem großen Speisesaal teilnahmen, wurden sie an diesem Tage in die Küche verbannt. Die Gräfin selbst trug nach Gustavs Ankunft die Speisen auf. Kurz nach dem frühen Einbruch der Dunkelheit vernahm Emmerance aus dem Speisesaal ein Geräusch, das so klang, als stürze jemand zu Boden. Gleich darauf schrie Gustav Fougnies mit halberstickter Stimme. »Ach, ach, Pardon, Hippolyte .. .« Emmerance eilte in den Saal, prallte dabei gegen die Gräfin, die hastig die Tür hinter sich schloß. Die Gräfin lief in die Küche und kehrte mit Gefäßen voll heißen Wassers in den Saal zurück. Unmittelbar darauf rief sie Emmerance und den Kutscher Gilles zu Hilfe. Sie erklärte: »Gustav ist plötzlich krank geworden. Kommt, helft uns. Ich glaube, er ist tot. Der Schlag hat ihn getroffen.«

Die Dienstboten fanden Gustav leblos auf dem Boden des Speisesaals liegend. Graf Bocarmé dagegen befand sich im Zustand heftigster Erregung. Er wusch seine Hände, die blutig waren. Er befahl Gilles, Weinessig aus einem besonderen Faß im Keller herbeizuschaffen und den Toten zu entkleiden. Er goß den Essig gläserweise in den Mund Gustav Fougnies' und ordnete an, daß der Körper des Toten ebenfalls mit Essig Übergossen werde. Die Gräfin trug die Kleider ihres Bruders in die Waschküche und warf sie in siedendes Seifenwasser. Während der ganzen Zeit wurde Gilles immer wieder aufgefordert, noch mehr Weinessig über den Toten auszuleeren. Später trug Gilles den Leichnam in Emmerances Kammer und legte ihn auf ihr Bett.

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Die halbe Nacht hatte die Gräfin damit verbracht, den Fußboden des Speisesaales dort, wo Gustav gestorben war, mit Seife zu scheuern, seine Krücken zu waschen, später aber zu verbrennen. Am frühen Morgen war der Graf mit einem Messer erschienen, um die Oberfläche der Dielen abzukratzen. Diese Betriebsamkeit dauerte bis in die Mittagsstunden. Erst am Nachmittag war das Grafenpaar, völlig erschöpft, zu Bett gegangen, und gegen Abend hatte die Dienerschaft Mut gefaßt und sich auf den Weg nach Bury gemacht. Hier war sie nun, und ihre Frage an den Pfarrer lautete: »Um Christi willen, was sollen wir tun?«

Zu seiner großen Erleichterung wurde der Pfarrer der Antwort auf diese Frage enthoben. Emmerance hatte ihren Bericht gerade beendet, als der Gemeindeschreiber mit der Nachricht erschien, der Untersuchungsrichter von Tournai habe soeben seinen Besuch für den kommenden Tag angekündigt. Bis nach Tournai seien Gerüchte gedrungen, daß Gustav Fougnies eines unnatürlichen Todes gestorben sei. Der Untersuchungsrichter glaube zwar diesen Gerüchten nicht, aber er werde seiner Pflicht genügen und eine kurze Untersuchung einleiten.

Am späten Nachmittag des 22. November traf der Untersuchungsrichter, Heughebaert, mit drei  Gendarmen  und  den Wundärzten Maiouze, Zoude und Cosse sowie dem Schreiber in Bury ein. Heughebaerts Zweifel an den Gerüchten war so groß, daß er die Gendarmen In Bury zurückließ und sich lediglich mit dem Schreiber und den Ärzten auf das Schloß begab. Dort allerdings verwandelten sich seine Zweifel sehr schnell in äußerstes Mißtrauen. Bocarmé ließ sich verleugnen. Es dauerte lange, bis er zum Vorschein kam. Der Kamin des Speisesaals war mit Asche gefüllt, in der noch die Reste verbrannter Bücher und Papiere zu erkennen waren. Auf dem Boden des Speisesaals lagen abgeschabte Holzspäne. Widerwillig führte man Heughebaert zu dem Toten. Die Gräfin weigerte sich, die Vorhänge zu öffnen, die das Zimmer verdunkelten. Der Untersuchungsrichter selbst ließ Licht herein, und sein Blick fiel unvermittelt auf die Verletzungen in Gustav Fougnies' Gesicht. Bocarmé machte den vergeblichen Versuch, blutige Stellen und Wunden an seinen Händen zu verbergen. »Mein Blut«, so berichtete der Untersuchungsrichter später, »fing an, sich zu erhitzen.« Er befahl den Ärzten, den Leichnam des Toten auf der Stelle zu untersuchen und festzustellen, ob er eines natürlichen Todes gestorben war.

Die Ärzte ließen Gustav Fougnies in eine Kutschen-Remise im Schloßhof tragen. Zwei Stunden später meldeten sie das Ergebnis ihrer Untersuchung. Sie hatten das Gehirn völlig gesund gefunden. Von einem Schlaganfall konnte keine Rede sein. Mund, Zunge, Hals und Magen des Toten dagegen zeigten so starke Verätzungen, daß die Ärzte zu dem Schluß gelangt waren, Gustav Fougnies sei an den Folgen des Einflößens einer ätzenden Flüssigkeit gestorben. Sie hielten es für möglich, daß Schwefelsäure verwendet worden war. »Der Tod«, so erklärten sie, »ist bewirkt durch die Dauer und Gewalt der schrecklichen Schmerzen, welche die Ätzungen des Mundes und des Schlundes erzeugt hatten.«

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Heughebaert ordnete an, daß sämtliche Organe des Toten, die für eine chemische Erforschung der verwendeten Säure von Bedeutung sein könnten, entnommen wurden. Er selbst war Zeuge, wie die Ärzte Zunge und Schlund, Magen und Eingeweide nebst Inhalt, ferner Leber und Lunge in Gefäße legten, mit reinem Alkohol bedeckten und die Gefäße versiegelten. Der Gerichtsschreiber und ein Gendarm wurden beauftragt, die Gefäße unverzüglich nach Tournai zu überführen. Zwei andere Gendarmen nahmen den Grafen und die Gräfin Bocarme in Haft.

Sofort nach seiner Rückkehr nach Tournai mietete Hueghebaert einen Wagen mit schnellen Pferden, lud die Untersuchungsobjekte ein und eilte damit nach Brüssel, in die École Militaire, die seit dem Jahre 1840 einen Professor für Chemie beschäftigte, dessen Name dem Untersuchungsrichter durch das zufällige Studium einer chemischen Zeitschrift bekanntgeworden war. Dieser Name lautete: Jean Servais Stas.

Stas war siebenunddreißig Jahre alt, als Heughebaert den Auftrag überbrachte, dessen Erfüllung ihm unvergänglichen Ruhm eintragen sollte. Flame von Geburt, ein Sohn der Stadt Löwen, hatte Stas ursprünglich in seiner Heimatstadt Medizin und Chemie studiert. Die Kenntnisse des dortigen Professors der Chemie, van Mons, hatten ihm bald jedoch nicht mehr genügt. Auf dem Dachboden seines Elternhauses war ein winziges Laboratorium entstanden, dessen Geräte er selbst herstellte. Unter ihnen befand sich eine primitive Waage aus Metall, Glas und Siegellack, mit der sich Milligramme wiegen ließen. Wie einen Talisman hat Stas diese Waage bis ans Ende seines langen Lebens gehütet. In jenem Dachstuben- Laboratorium war er zum Entdecker des Phlorhizins geworden. Diese Leistung hatte den großen schwedischen Chemiker Berzelius zu dem Ausspruch veranlaßt; »Man wird auf diesen Chemiker achten müssen, der mit einer solchen Arbeit debütiert.« 1835 war Stas, wie viele seiner Zeitgenossen, nach Paris gegangen, zu Männern wie Gay-Lussac, Arago, Dumas und Orfila. Er hatte Dumas' persönliches Interesse erweckt, und Dumas verdankte er es, wenn er, der fast Mittellose, beinahe vier Jahre lang in den .Laboratorien arbeiten konnte, in denen sich ihm die Wunderwelt der Chemie erschloß. Hier wagte er es auch, Berzelius zu korrigieren, der das Atomgewicht des Kohlenstoffs zunächst falsch bewertet hatte.An dem Tag, an dem Heughebaert in Brüssel eintraf, arbeitete Stas noch in der Rue de Champs. Und hier war es, wo ihm in der Zeit von Anfang Dezember 1850 bis Ende Februar 1851 die zweite epochemachende Entdeckung der Toxikologie gelang: die grundlegende Methode zum Nachweis der pflanzlichen Gifte, der Alkaloide, selbst in ;den Körpern von Toten.Niemand hegte den leisesten Verdacht, Gustav Fougnies könne mit Hilfe eines Pflanzenalkaloids getötet worden sein, als Stas die Untersuchungsmaterialien aus Bitremont übernahm. Heughebaert gab die Ansicht der Ärzte weiter, wenn er von einer Tötung durch Schwefelssäure sprach.

Da die Ätzgifte zu dieser Zeit bereits genügend erforscht waren, konnte

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Stas ohne Mühe feststellen, daß von einer Vergiftung durch Schwefelsäure keine Rede sein konnte. Wie die meisten seiner zeitgenössischen Kollegen hatte er in Ermangelung anderer Nachweismöglichkeiten tausendfach den Geruch und Geschmack von Chemikalien und Dämpfen gekostet. Wenn er dem Spürsinn seiner Nase folgte, konnte bestenfalls eine Säure verwendet worden sein: die Essigsäure. Als Stas die Vermutung aussprach, berichtete Heughebaert von den Waschungen und Begießungen des Toten mit Weinessig. Dabei kam Stas zum ersten Male der Verdacht, daß die großen Essigmengen nur dazu hatten dienen sollen, die Anzeichen oder Wirkungen eines anderen Giftes zu verdecken. Immerhin richtete er seine Arbeit zunächst darauf ein, im Mund und in den Verdauungsorganen des Toten Essigsäure nachzuweisen. Der Verdacht, den er hegte, ließ ihn jedoch mit einer Behutsamkeit vorgehen, von der sich die Nachwelt schwerlich ein Bild zu machen vermochte. Er hatte nur zu oft erfahren, wie leicht Gifte durch Hitze und Luft zersetzt wurden, bevor man ihrer habhaft geworden war. Um nichts von den vorhandenen Substanzen zu vergeuden oder unwiederbringlich zu zerstören, führte er die meisten Abdampfungen oder Destillationen in komplizierten geschlossenen Apparaten durch.

Der Inhalt von Magen, Darm und Blase, der ihm, mit Alkohol versetzt, übergeben worden war, bestand aus einem schwärzlichgrauen sauren Brei. Die Hälfte davon hob Stas für eventuelle spätere Experimente auf. Die andere Hälfte vermischte er mit dem Wasser, das er zum Auswaschen des Magen-Darm-Traktes benutzte, filterte die Lösung mehrfach und erhitzte und destillierte sie. Er gewann dadurch eine Flüssigkeit, die sich braunrötlich färbte. Ihr entnahm er mehrere Probeportionen. Eine dieser Portionen dampfte er bis zur Sirupdicke ein. Sie entwickelte dabei einen unverkennbar scharfen Essiggeruch. Als Stas jedoch zwei weitere Probeportionen mit Ätzkali versetzte, hielt er plötzlich in der Arbeit inne. Die Flüssigkeiten entwickelten einen schwachen Geruch, der an Mäuseharn erinnerte. Dieser Geruch aber war vielen Chemikern in den vorangegangenen Jahren immer wieder begegnet, wenn sie sich mit Coniin, dem giftigen Alkaloid des Schierlings, beschäftigten. Stas' Verdacht, daß die Essigsäure nur zur Tarnung eines Mordes mit einem weit geheimnisvolleren Gift gedient haben könnte, verdichtete sich.

Wie, wenn Gustav Fougnies durch ein Pflanzengift getötet worden war? Wie, wenn sich in dem Toten eines jener Gifte verbarg, bei denen es bis zur Stunde niemals gelungen war, sie im toten Körper, ja nicht einmal in dem mit animalischer Materie versetzten Inhalt der Eingeweide nachzuweisen? Wie, wenn der Zufall ihn hier auf die Spur eines Alkaloids geführt hatte?

Stas verbrachte von diesem Augenblick an Tag und Nacht in seinem Laboratorium und ließ seine Gläser, Tiegel, Reagenzien und Proberöhrchen niemals aus dem Auge. Er versetzte einen weiteren Teil der Flüssigkeit, der er die untersuchten Probeportionen entnommen hatte, mit größeren Mengen frischen Alkohols, filtrierte, goß ab, fügte Wasser hinzu, filtrierte erneut und ließ das Filtrat verdunsten, bis eine Lösung von klebriger Konsistenz zurückblieb. Diese versetzte er mit Kalilösung, und plötzlich entwickelte sich abermals jener sonderbar auffällige, schnell vergehende

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Geruch. Diesmal aber war er schärfer, stechender und narkotischer. Man kannte bis dahin nur zwei sogenannte Pflanzenalkaloide, die sich gelegentlich durch ihren Geruch verrieten: das Coniin und das Nikotin, den ungeheuer giftigen Bestandteil des Tabaks, von dem 50 Milligramm genügten, um einen Menschen innerhalb weniger Minuten zu töten. Der flüchtige, stechende Geruch aber, den Stas wahrgenommen hatte — erinnerte er nicht deutlich an den Geruch dieses Nikotins?

Eine Möglichkeit zeichnete sich ab, die Stas zunächst so neu, so ungewöhnlich und verwegen erschien, daß er sich dagegen wehrte. Aber sie ließ sich nicht einfach beiseite schieben: War es Nikotin? War Gustav Fougnies durch Nikotin gestorben?

Stas füllte einen Teil des gewonnenen Probeextraktes in eine Flasche und gab reinen Äther hinzu. Er schüttelte beides und ließ die entstandene Emulsion ruhen, bis der Äther sich absonderte, entnahm die Hälfte des Äthers und ließ ihn in einer kleinen Schale verdunsten. Am Ende blieb in der Schale ein dünner, bräunlicher Ring von stechendem, nicht zu verkennendem Tabakgeruch zurück. Als Stas eine winzige Menge davon mit der Zunge kostete, empfand er einen brennenden Tabakgeschmack, der sich über den ganzen Mund ausdehnte und viele Stunden anhielt. Nach weiteren ‚Ausschüttelungen’ von Teilen der Probesubstanz mit Äther, die immer zu dem gleichen Ergebnis führten, versetzte er die Masse jener Lösungen aus Magen-, Darm- und Blaseninhalt, von der er ausgegangen war, mit Ätzkali. Der alkalisch gewordenen Lösung fügte er die gleichen Mengen Äther hinzu und schüttelte beide, bis sich eine Emulsion bildete. Aber diesmal wartete er vergebens darauf, daß sich der Äther wieder abschied. Erst als Stas herausfand, daß sich in der Lösung noch Reste animalischen Materials befanden, und als er diese Reste durch Waschungen und Filtrierungen mit Wasser und Alkohol beseitigte, gelang die Abscheidung des Äthers. Da es offensichtlich der Äther war, der den Stoff mit dem brennenden Tabakgeschmack bei den vorangegangenen Versuchen an sich gezogen hatte, wiederholte Stas die Ausschüttelung mit Äther sechsmal, um mit Sicherheit das vermutete Alkaloid und damit das Gift zu gewinnen. Jedesmal gelangte er durch Verdunstung zu einem öligen Stoff mit allen Geruchs- und Geschmackseigenschaften des Nikotins.Um sicher zu sein, daß er tatsächlich Nikotin gewonnen hatte, wandte Stas auf den öligen Stoff die chemischen Reagenzien an, die seit der Entdeckung des Nikotins von verschiedenen Pharmakologen an der Reinsubstanz des Alkaloids erprobt worden waren. Wenn man zum Beispiel einen mit Salzsäure befeuchteten Glasstab in die Nähe von Nikotin brachte, bildeten sich starke weiße Dämpfe. Kam Nikotin mit Salpetersäure in Berührung, verwandelte es sich in eine dicke gelbe Masse. Stas begnügte sich nicht mit den bekannten Reagenzien. Er versetzte reines Nikotin mit den verschiedensten Chemikalien, stellte die Niederschläge, die Kristallbildung, die Farbveränderungen fest und verglich sie mit der Wirkung, welche die gleichen Chemikalien an dem öligen Stoff hervorriefen, den er aus dem Eingeweideinhalt Gustav Fougnies' gewonnen hatte. Die Wirkungen stimmten in jedem Fall völlig miteinander überein.

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Erst in diesem Augenblick (mittlerweile war der 28. November herangekommen) füllte Stas seinen öligen Extrakt in eine Phiole und versah diese mit der Aufschrift: »Nikotin aus den Organen von Gustav Fougnies.« Die Phiole übersandte er Heughebaert in Tournai. In einem Begleitschreiben empfahl er dem Untersuchungsrichter, Nachforschungen anzustellen, ob der Graf und die Gräfin Bocarme sich jemals mit Nikotin beschäftigt oder Nikotin in ihren Besitz gebracht hatten, und bat, ihn über das Ergebnis zu unterrichten.

Heughebaert empfing Stas' Sendung am 30. November. Sofort eilte er mit mehreren Gendarmen nach Bitremont, ließ alle Räume durchsuchen und begann mit einer neuerlichen Vernehmung der Dienstboten. Dabei berichtete der etwas beschränkte Gärtner Deblicqui, er habe dem Grafen Bocarme während des Sommers und Herbstes 1850 bei der Herstellung von Eau de Cologne geholfen. Zu diesem Zweck habe Bocarme große Mengen Tabakblätter gekauft und in einem Laboratorium, das mit vielen Apparaten im Waschhaus des Schlosses eingerichtet wurde, verarbeitet.

Tabak für die Herstellung von Eau de Cologne? erkundigte sich Heughebaert. Ja, Tabak, versicherte Deblicqui, viele Tabakblätter. Es stellte sich heraus, daß der Graf vor allem in der Zeit vom 28. Oktober bis 10. November Tag für Tag und manchmal auch während der Nacht im Waschhaus gearbeitet hatte, um aus Tabaksoße Eau de Cologne zu extrahieren. Am 10. November hatte er das Eau de Cologne in einen Schrank des Speisesaals eingeschlossen. Am Tag darauf waren alle Destillierapparate und Glaskolben, die während der Arbeit benutzt worden waren, aus dem Waschhaus verschwunden. Der Graf selbst mußte den Abtransport vorgenommen haben, denn weder der Gärtner noch ein anderes Mitglied der Dienerschaft war damit beauftragt worden.

Die Durchsuchung des ganzen Schlosses durch die Gendarmen und Heughebaert selbst förderte zunächst nicht die Spur irgendwelcher Laboratoriumsgeräte zutage. Dafür allerdings erhielt der Untersuchungsrichter durch den Kutscher Gilles einen anderen wichtigen Hinweis. Im Februar 1850 war Bocarme nach Gent gereist, um dort einen Professor der Chemie aufzusuchen. Mehr wußte Gilles nicht. Heughebaert fuhr sofort nach Gent. Er befragte alle Chemiker, die es in Gent gab, und stieß schließlich auf einen Professor Loppers, der an der Genter Industrieschule lehrte. Loppers erinnerte sich: Seit dem Februar des laufenden Jahres hatte er mehrfach Besuche eines Herrn aus Bury erhalten, auf den die Beschreibung Bocarmés zutraf. Allerdings hatte er sich unter dem Namen Berant vorgestellt und unter gleichem Namen mehrere Briefe an Loppers gerichtet. Alle Briefe beschäftigten sich ausschließlich mit dem Problem der Extraktion von Nikotin aus Tabakblättern.

Als Bocarmé-Berant im Februar seinen ersten Besuch in Gent machte, erklärte er Loppers, er komme aus Amerika. Seine dort lebenden Verwandten litten sehr unter den Angriffen der Indianer, die ihre Pfeile mit pflanzlichen Substanzen vergifteten. Er, Berant, wolle alle bekannten

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Pflanzengifte kennenlernen, um seinen Verwandten vielleicht von Nutzen zu sein. Ob es, so wollte er wissen, zutreffe, daß die pflanzlichen Gifte keine nachweisbaren Spuren in einem Vergifteten hinterließen? Als Loppers die Frage bejahte, hatte sich Berant verabschiedet, war aber noch im gleichen Monat nach Gent zurückgekehrt.

Diesmal erklärte er Loppers, die Indianer stellten einen Extrakt aus Tabakblättern her, der innerhalb weniger Minuten zum Tode führte. In Europa werde dieser Extrakt Nikotin genannt. Er wolle den Versuch unternehmen, selbst einen solchen Extrakt zu erzeugen, um seine Wirkung zu studieren. Loppers zeigte ihm die Methode der Nikotingewinnung und empfahl den Kupferschmied Vandenberghe und den Apotheker Vanbenkeler in Brüssel als Lieferanten für die nötigen Gefäße und Apparate. Vandenberghe und Vanbenkeler bestätigten dem Untersuchungsrichter, daß sie bis zum November einhundertzwanzig verschiedene chemische Apparate und Gefäße nach Bury gesandt hatten. Im Mai war Bocarmé zum drittenmal nach Gent gereist, um Loppers die erste Nikotinprobe zu zeigen, die er gewonnen hatte. Es handelte sich um unsaubere Extrakte. Bis zum Oktober aber hatte Bocarmé so große Fortschritte gemacht, daß er in Gent die erste Portion reinen Nikotins vorwies und berichtete, es sei ihm gelungen, Katzen und Enten damit zu vergiften.

Während Heughebaert innerhalb weniger Tage von Bury nach Tournai, Gent, Brüssel, Gent, Bury und schließlich, am 2. Dezember, wieder nach Brüssel reiste, um Stas über die Ergebnisse seiner Ermittlungen zu informieren, war Stas keinen Augenblick lang untätig gewesen. Er hatte sich Klarheit über das Prinzip der Methode verschafft, mit deren Hilfe es ihm zum ersten Male gelungen war, ein Pflanzenalkaloid in dem Eingeweideinhalt eines Ermordeten aufzuspüren. Ferner hatte er sich darangemacht, nun auch in den Organen Fougnies' selbst, und zwar in Leber, Lunge, Zunge und Kehlkopf, nach Nikotin zu fahnden. Stas' Methode ließ sich jetzt, da sie einmal gefunden war, leicht erklären.

Alle pflanzlichen Gifte, die sich wie basische Stoffe betrugen, waren sowohl in Wasser wie in Alkohol löslich. Demgegenüber waren so gut wie alle Substanzen des menschlichen Körpers, vom Eiweiß und den Fetten angefangen bis zu der Zellulose des Magen- und Darminhalts, entweder in Wasser oder Alkohol oder aber in beiden unlöslich. Versetzte man Körperorgane oder deren Inhalt (die Organe, nachdem man sie zerkleinert und in einen Brei umgewandelt hatte) mit großen Mengen Alkohol, dem eine Säure zugesetzt war, so erhielt dieser angesäuerte Alkohol Gelegenheit, die Masse des Untersuchungsmaterials zu durchdringen und die basischen pflanzlichen Gifte, die Alkaloide, zu lösen und an sich zu binden.

Dies war die Ausgangslage, in der sich Stas' Untersuchungsmaterial zufälligerweise infolge seiner Aufbewahrung in Alkohol und infolge der Überschwemmung des Toten mit Essigsäure befunden hatte. Gab man den alkoholgesättigten Brei auf einen Filter und ließ den Alkohol ablaufen, so nahm er außer Zucker, Schleim und anderen Körperstoffen, die in Alkohol

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löslich waren, die giftigen Alkaloide mit und ließ alle Körperstoffe, die in Alkohol nicht löslich waren, zurück. Vermischte man den Rückstand auf dem Filter mehrfach mit frischem Alkohol und wiederholte die Filterung so oft, bis der Alkohol nichts aus dem Rückstand mehr aufnahm, sondern klar ablief, konnte man sicher sein, den größten Teil der giftigen Alkaloide, die sich in dem Organbrei befanden, in Alkohol überführt zu haben. Dampfte man nun das alkoholische Filtrat ein, bis es sirupähnlich wurde, bearbeitete diesen Sirup mit Wasser und filterte mehrfach die dadurch entstandene Lösung, so blieben auf dem Filter auch die Körperbestandteile, zum Beispiel Fett und andere Stoffe, zurück, die in Wasser nicht löslich waren, während die Alkaloide infolge ihrer Wasserlöslichkeit von dem Wasser ‚mitgenommen’ wurden. Um noch reinere, von ‚animalischen’ Substanzen freiere Lösungen der gesuchten Gifte zu erhalten, konnte und mußte man (dies wurde Stas bald klar) den gewonnenen wäßrigen Extrakt abermals eindampfen und neuerlich mit Alkohol und Wasser behandeln, bis sich schließlich ein Produkt ergab, das sich in Alkohol ebenso wie in Wasser klar löste. Diese Lösung war immer noch sauer, und durch die Säure wurden die basischen Pflanzenalkaloide in der Lösung festgehalten. Wenn man jedoch eine alkalisierende Substanz, etwa Natronlauge oder Ätzkali, hinzufügte, verloren die Alkaloide ihre Bindung an die Lösung. Sie wurden sozusagen frei.

In dem Augenblick, in dem Stas seine Probelösungen mit Ätzkali versetzt hatte, war er zum erstenmal auf den Geruch eines flüchtigen Alkaloids und später auf den eindeutig scharfen Geruch des Nikotins gestoßen. Um die frei gewordenen« Pflanzengifte aus der alkalischen Lösung, in der sie sich befanden, herauszulocken, bedurfte es schließlich eines Lösungsmittels, das sich beim Schütteln mit Wasser vorübergehend zu einer Emulsion verband, sich im Stehen aber wieder vom Wasser absonderte. Stas' Geschick hatte ihn dabei zum Äther greifen lassen, der sich, von Amerika ausgehend, gerade als Narkosemittel die Operationssäle der Welt eroberte. Äther war leichter als Wasser, vermischte sich mit ihm durch Schütteln und sonderte sich nachher wieder ab. Bei diesem Vorgang aber zog er die frei gewordenen Pflanzenalkaloide an sich. Destillierte man nun den Äther mit großer Vorsicht oder ließ ihn auf einer Schale verdunsten, so blieb schließlich — sofern ein giftiges Alkaloid vorhanden gewesen war — ein Extrakt zurück, der das gesuchte Alkaloid enthielt.

Diese alkaloidhaltige Substanz ließ sich noch weiter reinigen, und es kam dann darauf an, durch chemische Reagenzien oder andere, noch zu erforschende Mittel die Art des Pflanzengifts zu bestimmen.

Um die Wende vom November zum Dezember des Jahres 1850, als Stas diese seine Methode durchdachte, konnte er noch nicht wissen, daß sie die Toxikologie in die Lage versetzen würde, alle wichtigen Pflanzenalkaloide (und später noch andere Gifte) zu isolieren und nachzuweisen, angefangen vom Atropin der Tollkirsche bis zum Delphinin der Stefanskörner, wie man die giftigen Samen des Scharfen Rittersporns nannte. Er konnte nicht ahnen, daß durch eine geringfügige Ergänzung seines Verfahrens (durch Zusatz von Chlorammonium in der letzten Phase und durch die Verwendung von Chloroform und Amylalkohol anstelle von Äther) auch das

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wichtigste Opiumalkaloid, das Morphium, aus den Schlupfwinkeln des menschlichen Körpers herausgeholt werden würde.

Als Heughebaert am 2. Dezember (mit neuen wichtigen Nachrichten) Stas' Laboratorium in Ixelles betrat, war es Stas soeben gelungen, auch in ‚massiven’ menschlichen Organen, nämlich in der Leber und in der Zunge Gustav Fougnies', das Gift Nikotin nachzuweisen. Es war eine so große Menge Nikotin vorhanden, daß sie ausgereicht hätte, ‚mehrere Menschen zu töten’.

Alles, was der Untersuchungsrichter über die Nikotinzubereitung durch den Grafen Bocarmé berichtete, war für Stas eine Bestätigung des eigenen Erfolges. Was nun noch folgte, war lediglich ergänzende Arbeit, mochte sie noch so bedeutungsvoll und zugleich wegbereitend für ein zukünftiges Zusammenwirken der Wissenschaft mit den rein kriminalistischen Ermittlungen sein.

. Heughebaert überbrachte Stas mehrere Kleidungsstücke des Ermordeten und sieben Eichendielen, die er an der Stelle aus dem Boden des Speisesaals von Bitremont hatte heraussägen lassen, an der Gustav Fougnies tot zu Boden gefallen war. Die Untersuchung der Kleidungsstücke endete negativ, weil sie zu sorgfältig gewaschen worden waren. An den Bodenbrettern aber befanden sich unzweifelhaft Spuren von Nikotin. Am 7. Dezember überprüfte Stas die Hosen, die der Gärtner Deblicqui getragen hatte, während er dem Grafen Bocarmé bei der Herstellung des angeblichen >Eau de Cologne< behilflich war. Sie waren mit Nikotin befleckt. Am 8. Dezember stießen Heughebaert und seine Gendarmen im Schloßgarten auf die vergrabenen Überreste der Katzen und Enten, an denen Bocarmé die Giftwirkung seines Nikotins  ausprobiert hatte. Die Untersuchung der Überreste bewies das Vorhandensein eines flüchtigen Alkaloids mit allen Anzeichen des Nikotins. Am 27. Februar 1851 unternahm Stas eine letzte Serie von Experimenten. Er tötete einen Hund, indem er Nikotin in sein Maul brachte. Ein anderer Hund starb auf die gleiche Weise. Aber sofort nach seinem Tode wurde Essigsäure in sein Maul gegossen. Das erste Experiment zeigte, daß das Nikotin keine typischen Verätzungen hervorrief. Das zweite Experiment dagegen führte zu den gleichen schwärzlichen Verätzungen, wie man sie an Gustav Fougnies gefunden hatte. Gustav war, vermutlich durch den Grafen, auf den Boden geworfen und festgehalten worden, während die Gräfin das Gift in den Mund ihres Bruders goß. Dieser hatte sich heftiger gewehrt als erwartet. Es hatte Verletzungen gegeben, und Nikotin war herumgespritzt. Dieser Umstand hatte die Bocarmés veranlaßt, die Kleidung des Toten zu entfernen und zu waschen, vor allen Dingen aber die Essigsäure anzuwenden, um äußerlich sichtbare Spuren des Giftes zu verdecken.

Und dann, wenige Tage nach Stas' letztem Experiment, fanden Heughebaerts Gendarmen in einer Deckentäfelung von Schloß Bitremont die so lange verborgen gebliebenen Apparate, deren sich Graf Bocarmé bei der Herstellung des Nikotins bedient hatte.

Als drei Monate später, am 27. Mai, vor dem Assisen-Gericht zu Mons der

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Prozeß gegen Graf und Gräfin Bocarmé begann, stand der Ankläger, de Marbaise, auf so festem Grund, daß die Sache der Angeklagten von vornherein verloren war. Da beide angesichts der vorliegenden Beweise nicht leugnen konnten, Gustav Fougnies mit Hilfe von Nikotin ermordet zu haben, boten sie das Bild zweier gehetzter Kreaturen, die sich gegenseitig beschuldigten. Die Gräfin gab zu, bei der Vorbereitung und Ausführung des Mordes an ihrem Bruder behilflich gewesen zu sein. Aber sie häufte alle Schuld auf ihren Mann, dessen brutalem Zwang sie erlegen sei. Der Graf gestand seine Beschäftigung mit dem Gift ein. Er versuchte jedoch sich zu retten, indem er behauptete, das Nikotin in einer Weinflasche gesammelt zu haben, um diese Flasche mit auf eine Reise nach Nordamerika zu nehmen. Seine Frau habe die Flasche durch ein unglückliches Versehen verwechselt, als sie Gustav Fougnies nach dem Essen am 20. November Wein anbieten wollte.

Doch alle Verteidigungsversuche waren fruchtlos. Die Geschworenen benötigten nur eine Stunde, um ihren Schuldspruch über den Grafen zu fällen. Wenn die Gräfin — zur Empörung der Bevölkerung — frei ausging, so nur deshalb, weil die Geschworenen sich scheuten, eine ‚Dame’ dem Fallbeil zu überantworten.Am Abend des 19. Juli 1851, bei Fackelschein, starb Hippolyte Visart de Bocarmé auf dem Schafott in Mons.Der Fall Bocarmé hatte sein Ende gefunden.

Jean Servais Stas aber hatte sich mit dem Nachweis des Nikotins Unsterblichkeit im Reich der Chemie und der Toxikologie erworben.