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Noch Ein Wunsch

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  • SV

  • Adolf MuschgNoch ein Wunsch

    Erzhlung

    Suhrkamp

  • 13. bis 15. Tausend 1980Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1979

    Alle Rechte vorbehaltenDruck: Georg Wagner, Nrdlingen

    Printed in Germany

    scan by prduc 2002

  • Ich verdanke mein Leben denPflanzen, nicht wirklich, aber siehaben es mir ermglicht, imStrom des Lebensweiterzuschwimmen und nichtunterzugehen, beschwert vonBitterkeit.

    Jean-Jacques Rousseau

  • IGanz offenes Feld war es nicht mehr, wo ichstand. Hundert Meter weiter vorn begannenHuser, war eine Ortstafel zu erraten. Hintermir leuchtete eine Tankstelle wie ein Schiff ausdem Dunst, und bedient war sie auch. Ichkonnte also telefonieren, Hilfe holen. An eineBagatelle glaubte ich nicht; nicht auf dieserFahrt. Notfalls konnte ich Anne von hier ausmelden, da ich liegengeblieben war. Liegenge-blieben die Wendung prgte sich ein, als ich,gekrmmt vom langen Sitzen, um eine Andeu-tung von Schlendern bemht, die hundertSchritte zur Garage zurcktat. Von Glckkonnte man immer reden.Im Licht einiger nackter Birnen beugte sich einMann im berkleid hinter die Khlerhaubeeines Mercedes. Metall klopfte gegen Metall;ein straffer Fnfziger im Mantel stand danebenund hatte mich, als ich meinen Bericht anbrach-te, nur flchtig angesehen. Was ist los, fragte ichmich, da ich hier einen Bericht abliefere, statteinen Defekt zu melden? Dabei stand ich einigeAugenblicke ohne Hast herum, bevor ich den

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  • Mund ffnete, und zwang meine Stimme zuGleichmut. Dennoch schlo ich aus dem Be-fremden, jedenfalls der Unaufmerksamkeit die-ser beiden Leute, da ich schon zu weit gegan-gen war. Vielleicht hatte es damit zu tun, daich meine Lederjacke mit den Hnden in derTasche zusammenzog, als frre ich. Es kam mirselbst so vor, als ob ich meine Panne nur dar-stellte und diese beiden Leute durch einen hh-nischen, aber unbeherrschbaren Zungenschlagaufforderte, sie nicht ernst zu nehmen. Viel-leicht drckte ich mich nur zu gewhlt aus.Aber was war denn gewhlt an der beilufigenFrage, was mit meinem Anlasser los sein knne,und an der przisen Schilderung seines Ge-ruschs, eines Weinens, es lie sich nicht einfa-cher sagen. Es gab den beiden ein technischesBild meiner Lage, wenn es schon Kenner wa-ren, denn so benahmen sie sich. Einmal kam derKopf des Tankwarts hinter der Khlerhaubehervor, aber nur zum Wechseln eines Werk-zeugs. Der Wagen hatte eine Basler Nummer,war also ebensowenig von hier wie ich. Den-noch wirkten die beiden Mnner eingespielt,obwohl der Autobesitzer ja gar nichts tat, aberauch damit konnte er sich sehen lassen. Und dieArbeit des ndern war ein fr mich immerunerreichbarer Freundschaftsdienst.

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  • Weiter unten stand mein Wagen allein undblinkte. Die Alarmlichter verzehrten den Restvon Kraft in der Batterie. Wenn es doch dieBatterie sein sollte. Ich sah die Autos auf derlangen Geraden heran und an meinem Pannen-fahrzeug vorbeizischen, ich konnte den Wind-druck fhlen, als se ich noch darin. Zugleichtrieb mich die Sorge, man msse meinem Wa-gen sofort, ohne jeden Verzug, zu Hilfe eilen,sonst geschehe ein noch greres Unglck.Strenggenommen war noch gar kein Unglckgeschehen, und ich verstand die Mnner gut, diesich nicht aus der Ruhe bringen lieen. Meinerda ist schlimmer dran, sagte der Mann imMantel.Ich nickte. Das konnte ich mir vorstellen. DieSorgen anderer Leute sind immer wichtiger.Aber ich wurde um sechs Uhr erwartet. Daswar vielleicht bertrieben, darum sagte ich fest:Bld, da ich eine dringende Verabredunghabe. Als htten mich die Mnner zu einemBier eingeladen. In einem ndern Augenblickhtte ich mir das wohl gewnscht, aber, wie ichmich kannte, abgelehnt, und erst etwas spterbereut. Wenn auch nicht im Ernst. Man will nurkein ungeselliger Mensch sein, und die Anlssezu spontanen Begegnungen hufen sich in mei-nen Jahren nicht mehr, man meidet sie sogar.

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  • Erinnerst du dich, wie man damals noch berdie Stephansbrcke hin und her gegangen ist,sagte meine Frau gestern vor dem Einschlafen,ohne die Male zu zhlen und ohne auf die Uhrzu schauen. Wahr, wenn auch nicht so, da mandeswegen htte zu weinen brauchen. Damalswar man Student gewesen, man hatte sich dieFreiheit genommen, Gesprche auszuschpfen,dafr hatte es am Selbstvertrauen gefehlt, undzurckwnschen konnte man diese Zeit derVerschwendung nicht. Erst die Termine hatteneinem beigebracht, was Leben sein knnte, umden Preis allerdings, da man es nun erst zuvermissen begann.Der Mann im Mantel, er war, nach seinemWagen und dem festen Gesichtsausdruck zuschlieen, einer, dem Dienste gewohnheitsm-ig geleistet werden, bemerkte: Ich sollte auchlngst zu Hause sein.Ich nickte; es empfahl sich zu nicken, denWunsch, nach Hause zu kommen, als ebensoberechtigt anzusehen, wie die Hoffnung, mei-nem ganzen Leben eine andere Wendung zugeben. Die Wnsche gehrten ja wirklich zu-sammen, auch wenn sie nur getrennt vorkamen.Eben noch war die Fahrt so ruhig, ja fast kunst-voll gemchlich gewesen, ich hatte, beideHnde am Steuer, meine Unruhe niedergehal-

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  • ten. Jetzt sah ich mit einer Sympathie, die demHeimweh nahe war, mein abgestelltes Fahrzeugseine Position im Nebel melden, und es lagwohl an diesem Nebel, wenn die Signale pltz-lich angestrengter, verzgert wirkten.Schicksal, dachte ich, ich dachte es laut. Warumsollte man seine Gefhle nicht aussprechen,wenn man ein Wort von frher dafr findet. Esbeflgelt zwar die Helfer nicht gerade, spiegeltaber eine gewisse Freiheit der Seele vor, die sichdann auch wirklich einstellen kann. Schon alsSchler hatte man Verluste Schicksal genanntund war dann in den Augen der ndern gleichbesser dran gewesen. Ihre Schadenfreude hattekein Ziel mehr gehabt.Der Anlasser? fragte der Herr. Summt? Daskenn ich. Ich nickte.Wo steht Ihr Wagen? fragte der Herr.Ich zeigte die hundert Meter weiter. Ich blickteauf die Uhr, immer noch dreiviertel sechs. Ichkonnte ruhig sein.Wir brauchen Sie blo anzuschieben, sagte derstraffe Herr. Sie mssen dann zusehen, da Sieden Motor nicht mehr abstellen und an einemOrt parken, wo der Wagen anrollen kann.Das ist aber viel verlangt, das Anschieben,meine ich. Vielen Dank.Bringen wir das hinter uns, sagte der Kunde im

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  • Mantel zu dem Garagisten. Das also war dierechte Art, sich auszudrcken, auch wenn derGaragist sich durchaus nicht beeilte. Ich frag-te mich, wie man sich die Eigenschaften desMannes im Mantel erwirbt, und ob sie An-ne nicht, gegen ihren Geschmack, imponierenwrden.Ich mu nach Macolin, sagte ich, als wir zudritt, schweigend, die hundert Meter zu mei-nem Wagen hinbergingen. Etwas Unterhal-tung war am Platz, wenn Leute sich hilfreichzeigten. Ich gab mein Ziel, oder einen Ort inder Nhe denn Orvin sagt den meisten Leutennichts auf franzsisch an. Macolin ist zwei-sprachig, und man kennt es besser als Magglin-gen, das jedem Kind gelufige Zentrum frLeibesbungen. Hier trainieren auch Spitzen-sportler und Nationalmannschaften, und wennich in Magglingen eine dringende Verabredunghatte, lag der Gedanke nahe, ich htte damit, alsFunktionr mindestens, etwas zu tun. Ich htteein Ehemaliger sein knnen, ein Champion,dessen Bild aus den Zeitungen verschwundenist, dessen Name aber auch einen jungen Gara-gisten oder einen Manager aus Basel noch anirgendwelche Siege erinnert. Jetzt hielt ich Vor-trge, war ein taktischer oder psychologischerExperte geworden. Aber dafr htte mein Wa-

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  • gen anders aussehen mssen. Ein Renault 16,Jahrgang 68, ist kein Wagen fr Experten. Siewaren jetzt nahe genug, um die eingedrckteStostange zu bemerken und den alten Vogel-dreck auf dem Dach. Ein Experte fhrt wohlauch nicht mit einem Dachtrger herum. Ichhatte ihn seit dem letzten Winter, als ich mit derFamilie skifahren gewesen war, nicht mehrabmontiert. Es war Oktober, also wrde er baldwieder gebraucht werden, und auerdem hatteich den passenden Schlssel verlegt. Waschenkann man einen Wagen auch so, die riesigenBrsten der Waschstrae, die meine Kinder solieben, weil sie dabei durch ein blaues Gewitterfahren und doch im Trockenen sitzen drfen,lassen sich durch einen Dachaufsatz nicht auf-halten, nur an den Vogeldreck kommen sienatrlich nicht dran. Der knnte noch vomvorletzten Sommer sein. Damals hatte ich untereinem Haselbusch auf Anne gewartet, und dieVgel hatten Zeit.Ich setzte mich ans Steuer, drehte die Zndung,demonstrierte das hilflose Keifen des Anlassers.Ich war sicher gewesen, der Motor wrde an-springen und meinen Bittgang lcherlich ma-chen. Aber die Panne besttigte sich, und daswar jetzt beinahe gut. Im selben Augenblickfhlte ich mich schon geschoben, lste eilig die

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  • Handbremse, trat auf die Kupplung und legteden zweiten Gang ein. Der Motor sprang an,kaum hatte ich die Kupplung losgelassen, ichfuhr aus Schreck und Erleichterung eine ganzeStrecke weiter, bevor es mir einfiel, da ichmeinen Helfern danken, ein Trinkgeld anbietenknnte. Ich rollte vor dem Ortsschild wieder anden Rand, im Leergang, zog den Choke, derMotor heulte, mochte er heulen, wenn er nurnicht starb. Als ich ausstieg, sah ich weit hintenkaum noch das Tankstellenschild leuchten, diebeiden Mnner waren im Nebel verschwunden.Ich riskierte nicht, den Wagen wieder allein zulassen und ihnen nachzulaufen. Man mu etwasschuldig bleiben knnen, und vermutlich sahich die Leute nie wieder. Um meine Fluchtnicht so formlos zu machen, blieb ich nebendem lauten Wagen stehen, ein paar Atemzgelang. Vermutlich hatte ich Fieber, aber jetztdurfte nichts mehr dazwischenkommen. berdem Jura war die Wolkendecke gerissen undder Himmel, in dem ein paar Sterne zitterten,klar, nur in der Ebene lagerte Nebel und lie dieferne, aber heftige Erinnerung an etwas Hei-matliches aufkommen, an die Herbstluft meinerKindheit, und ein Gedicht, das ich auswendiggelernt hatte; diese Erinnerung gab mir einGefhl von Gegenwart zurck. Es kam jetzt

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  • alles darauf an, hier, an dieser verlassenen Stelledurchzuatmen und jetzt schon ber die Versp-tung zu lachen, ohne sie als Versumnis anzuse-hen und zur Entschuldigung zu bentzen. Ichwollte nicht einmal daran denken, da ich er-wartet wurde, oder gar vermit.Ich drckte den Choke ein, riskierte, da michder Motor im Stich lie, aber er brummte wei-ter, er war noch warm genug. Ich widerstanddem Reflex, eine Zigarette anzuznden, als ichwieder auf die Strae hinausrollte. Auch dieZigarette war nur ein Mittel, die Gegenwart,der ich mich von einer Sekunde zur nchstenaussetzen wollte, wegzupusten. Dafr kurbelteich das Fenster herunter und lie Zugluft in denWagen, gegen die faul gewordene Wrme derlangen Fahrt. Ich hatte mir vorgenommen, inEvilard, von wo ich, wie abgemacht, Anne an-rufen wollte, einen Cognac zu trinken. Es warbesser, nach Cognac zu riechen, als nach Tabak,auerdem hatte ich schon in Zrich damit ge-rechnet, in Evilard einen Cognac ntig zuhaben.Ich durchfuhr Grenchen, Lengnau, Pieterlen,schneller, als die Tafeln erlaubten, verkrampftemich, wenn sich ein gefhlloses Stck Lokal-verkehr vor mich setzte. Es war der Zwang zurRuhe, zum tiefen Atmen, der mich unruhig

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  • machte. Es konnte schon wieder zu spt sein,wenn ich auch nicht genau wute, und mirjeden Gedanken daran verbot, wofr.

  • II

    Eine Geschichte darf ich nicht nennen, was ichmit Anne hatte.Vor Jahren hatte ich sie mit ihrem Freund,einem Maler, in Paris kennengelernt. Sie saschweigend, fr jede seiner Bewegungen auf-merksam, neben ihm. Die beiden wirkten aufmich unzertrennlich, wie ein langjhriges, wennauch noch sehr junges Ehepaar. Unsere Bot-schaft hatte einen Empfang fr einen bekanntgewordenen Schweizer Filmer gegeben; ich warhineingeraten, bald wieder entronnen und unterder Tr mit den beiden zusammengetroffen. Dader Maler, als wir die Gesellschaft hinter unshatten, auch nicht weiter zu wissen schien, ludich die beiden zum Nachtessen am Boulevarddes Invalides ein.Ich war damals blind von zu Hause weg und,erst am Bahnhof entschlossen, nach Paris gefah-ren, um allein zu sein. Da ich meine Fhigkeitdazu berschtzte, hatte sich sehr bald an mei-ner Nervositt gezeigt; wenn ich nicht, ohneetwas zu sehen oder irgendwo einzutreten, inder regnerischen Stadt herumlief, lag ich in

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  • meinem kleinen stilvollen Hotel auf dem Bettund las eine Zeitung nach der ndern, als wredaraus etwas Neues zu erfahren. So war ichnicht unglcklich, Landsleuten zu begegnen,die zwar ebenfalls franzsisch sprachen, aberRcksichten zu erkennen gaben, wo nicht aufmeinen Zustand, so doch auf meine Ungelufig-keit; jedenfalls hatte ich Annes Schweigengleich fr rcksichtsvoll gehalten. Zwar warich nach meinem Studium ein paar Monate inParis gewesen und hatte ein paar Zeitungenzu Hause mit Theaterberichten bedient; ichhabe franzsisch gelernt, im Notfall sogar eingewhltes Franzsisch. Aber auch diese Erinne-rung war mir ber die Jahre nicht treu geblie-ben, sie hatte geradezu etwas Tuschendes undwar auf meiner Flucht nicht einzuholen, jeden-falls erwrmte sie mich nicht. In Gesellschaftrede ich mich darauf hinaus, das Franzsischekomme mir immer wie die Nachahmung einerSprache vor, an die ihre Sprecher selbst nichtglaubten und in der sie sich nur hervortaten, umsich und ndern ihren Kunstsinn zu beweisen.Die Wahrheit ist wohl eher, da mir Dinge, dieich gut beherrsche, wie eine Tuschung vor-kommen, wie eine Art Betrogensein um daseigentlich Wnschbare. Dieses Gefhl hatte et-was mit meiner Flucht zu tun, nachdem ich mir

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  • fnfzehn Jahre lang den Ruf eines guten, wennauch eigenwilligen Juristen erworben hatte.Da diese Flucht mich ausgerechnet nach Parisfhrte, war ein Miverstndnis, dessen Ironieerst in der vertraut gewesenen Stadt ber michhereinbrach, und auf das ich, um mir nichtgleich etwas anzutun, mit einer Art unwillkrli-chem Sprachtrotz, einem Defizit an Franz-sisch, reagierte. Da Annes Schweigen ver-wandte Grnde hatte, durfte ich nicht anneh-men, denn sie gehrte ja zu einem Menschen.Aber es berhrte mich wie eine Wohltat, undhinzu kam, da sie mir gefiel.Anne sa mit ihrem damals noch langen Haarund einem grobmaschigen Pullover neben ih-rem Freund, einem langen blassen Menschen,der durch einen starken Bart die Zartheit, diegespannte Haut des Gesichts eher hervortretenlie als verbarg. Er hatte ausfahrende Bewe-gungen, von denen in Abstnden Asche fiel.Beim Reden verga er, an der Zigarette zuziehen, und zndete sich doch immer eine neuean. Er war der erste viel redende Maler, dem ichbegegnet bin, und wurde vielleicht deswegenkeiner, jedenfalls nahmen ihn die Kritiker nichtwahr. Er sei immer noch ein Versprechen undhoffe es noch viele Jahre zu bleiben, sagte erselbst mit einem schnden Lcheln um den

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  • Mund, den er immer etwas schief zog, seineMutter habe sich schon whrend der Schwan-gerschaft viel zu viel von ihm versprochen.Anne wirkte neben ihrem Redner, der, ohneGewinn fr sich selbst, heftige Vorbehalte ge-gen den jungen Schweizer Film anmeldete, einwenig schlerhaft, aber zugleich gefat alswre da fortwhrend etwas mit Grazie zu ver-schmerzen. Schweizer im Ausland erkennt manan ihrem beleidigten Gesichtsausdruck, berden sie tapfer hinweglcheln; so war es nicht beiAnne. Sie war gefat, und daher etwas ange-strengt, nur in bezug auf diesen Mann; viel-leicht auf seinen Selbstmord gefat. Das Ehe-liche kam genau besehen daher, da sie ihn alsKranken behandelte. Darin witterte ich pltz-lich eine Verheiung. Ich suchte schon Trostbei ihr, bevor ich ihren Namen wute, forschteihr nicht groes, aber grozgig gebautes, fastweitlufiges Gesicht nach Zufluchten aus.Wenn da so viel Kraft in der Trauer war, konntesie mich doch auch gleich mitbedienen. Ichbrauchte kleine Schwestern, junge Witwen. Ichhatte es ntig, irgendeine Frau, die nicht frmich war, kleine Schwester zu nennen. Davonbrauchte sie nichts zu wissen, wenn ihr nurmeine scheue Art auffiel, die von der indiskre-ten ihres Mannes abstach und sie daran mahnte,

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  • auch nach meiner Seite ein wenig scheu undgefat zu sein. Zugleich regte mich auf, wie sieda sa. Es gibt Frauen, bei denen regt mich dasbloe Sitzen auf. Es gibt ihnen so viel Krper-lichkeit, da mir schwindelt. Ich stelle mir vor,wie weich sie auf harten Sthlen sitzen. KleineSchwester, schne Ausreden. Aber ich habe sientig. Ohne die Schutzbehauptung von Ver-wandtschaft schpft meine Sehnsucht keinenMut.Es war eine kurze Szene, und es folgte, bis aufein paar Tagtrume, nichts daraus. Und da sievon meiner Adresse Gebrauch machen wrde schlielich hatte sie der Maler erhalten , warunwahrscheinlich. Aber zwei Jahre spter be-suchte sie uns auf der Durchreise nach Erlan-gen, wo sie ein Semester absitzen und einenSchein nach Lausanne zurckbringen wollte. Sodrckte sie es selber aus. Sie schien ihren Stu-dien wenig zu trauen, sprach achselzuckendvon einigen guten Grnden, es fortzusetzen. Siewirkte unsicher, aber nicht ratlos. Diesmal wa-ren es ihre Augen, die haften blieben, und dieWangen. Meine Frau nannte sie sympathisch,ein Wort, das auch Anne mit Vorliebe brauchte:sympa. Sie verwendete eine saloppe Sprache,die mich berraschte, vielleicht nur, weil ich sieberhaupt sprechen hrte. Jetzt kam also auch

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  • ihre Stimme dazu. Da sie die Wrter ihrerGeneration brauchte, gab mir Gelegenheit, aufihren Mund zu sehen, und das tat schon einbichen weh. Sonst war meine Stellung amKaffeetisch nicht unbequem. Anne redete nochwenig deutsch, meine Frau kaum franzsisch.So sa ich als bersetzer dazwischen und ver-breitete Leichtigkeit, das sprach fr mich, ohneda ich viel zu sagen brauchte. Zu Hausekonnte ich wieder franzsisch. Vom Freund,dem Maler, war noch die Rede. Er hatte Parisverlassen und wohnte jetzt in Neuchtel. Er seizur Kunstkritik bergegangen. Jemand, der sel-ber male, statt malen zu lassen, sei geistig nichternst zu nehmen. Unzertrennlich waren diebeiden, wie es schien, auch nicht mehr. DieUnzertrennlichkeit sei sein Problem gewesen.Neue Lebensformen, ber die Anne sich nichtnher uerte, erlaubten ihr, von den Schwie-rigkeiten des Freundes zu reden, ohne ihn blo-zustellen. Annes Haare waren jetzt krzer, sorg-los geschnitten, und sie trug ein Reisekleid ausgrobem Tweed. Jedenfalls nannte ich es bei mirein Reisekleid. Als sie mir die Hand gab, warauch die Erinnerung an den ruhigen Hnde-druck von Paris wieder da, der sich nicht nachTrennung anfhlte. In den nchsten paar Tagenspielten meine Frau und ich, da sie in Anne

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  • verliebt sei. Ich soll gesagt haben, Anne wirkeauf mich wie etwas Gefundenes, das zugleichverloren sei, verlorener als in Paris. Aber nichtso, da man ihr helfen mte, sagte meine Frau.Unsere Ehe wurde fr einige Wochen wiederein Liebesverhltnis.Spter kamen manchmal Briefe aus Erlangenoder Lausanne, auch noch aus Neuchtel, inAnnes zugleich malerischer und flchtigerHandschrift. Das Entziffern bereitete mirMhe, auch weil sie sehr mndlich geschriebenwaren und sie viele Krzel verwendete. Sieschrieb nach wie vor franzsisch, auch wenn sievon Demos berichtete, an denen sie teilnahm,ohne in die Sprechchre einzustimmen. Dertheoretische Aufruhr war nicht ihre Sache. Siebeschftigte sich mit den Leuten, bei denen siewohnte, einer alten Wirtin, die mit ihrer Katzebhmisch redete, und einer Lehrtochter, dieSchmerzmittel wie Bonbons lutschte, immerstrkere, bis sie gleichgltig genug war, eineberdosis zu nehmen. Anne hatte sie gefundenund ins Krankenhaus gebracht, aber danach zogsie um, in eine Wohngemeinschaft. Sie habegelernt, schrieb sie, da ein Mensch, der sichselbst nicht mge, durch keine Freundschaft derWelt zu retten sei. Die Wohngemeinschaftschien dann auch nicht das Wahre. Anne emp-

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  • fand in den Diskussionen, die sich um ein ande-res Leben drehten, zuviel berforderung, in derPraxis: zu wenig Freundlichkeit. Die Leute ht-ten immer recht, wenn sie diskutierten, aber sieseien grausam gegen ihre eigenen Gefhle da-bei, und so blieben die Gefhle, schrieb Anne,ganz unentwickelt und kennten nur die grb-sten uerungen.Auf der Rckreise besuchte sie uns nicht. Sptererfuhr ich von einem gemeinsamen Bekannten,sie habe ihr Studium abgebrochen, und sich vonihrem Freund, der Zeichenlehrer in einem Gen-fer Gymnasium geworden sei, getrennt.Ich sah sie wieder, Monate spter, in Lausanne,wo ich einen Spezialisten aufsuchte. Der Haus-arzt hatte mir unter uns Pfarrerstchterndazu geraten. Seit Wochen ertrug ich keineBelastung mehr, besonders, wenn sie mit Leu-ten, mit Gesellschaft, Lippenbewegung undSelbstdarstellung verbunden war. Das heit, ichertrug sie sehr wohl, nur zu gut, und unter-schlug mein Elend; je besser ich damit zustandekam, desto sichtbarer wurde meine Krankheit.Ich brachte in diesen Wochen den Eindruckunheimlicher Tchtigkeit und Geistesgegen-wart hervor; damit war die Sorge derer, diemich zu kennen glaubten, am besten niederzu-schlagen. Zu dieser Sorge, die mich beleidigte,

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  • hatten sie kein Recht, ich empfand sie als Indis-kretion, als unschuldige Unverschmtheit: alswren es gerade diese Leute, die Nchsten, dievon mir das Unmgliche forderten. Auf dieBemerkung meiner Frau, sie brauche michnoch, reagierte ich mit uerster, mich selbsterschreckender Schrfe.Dem Arzt wute ich, bis auf ein krperlichesUnbehagen, wenig Solides vorzutragen; er ver-sumte deswegen nichts und sparte keinen sei-ner Apparate, und der Ausdruck Grundlei-den ist mir als ebenso viel wie nichtssagend inErinnerung geblieben. Wir danken es der wis-senschaftlichen Medizin, wenn sie dort nichtsucht, wo die Dinge liegen, sondern nur dort,wo ihr Licht hinreicht; damit garantiert sie unszwar keine schlssigen, aber immerhin, undeingestandenermaen, begrenzte Ergebnisse,die uns, wenn nicht weiser, so auch nicht trauri-ger machen, und auerdem das Reden berunser Elend erleichtern, auch wenn es einmalzum Sterben sein sollte. Der Sinn von Wrtern,wie positiv und negativ, mit denen derArzt bald einen Befund, bald keinen Befundanzeigt, verwirrte sich nicht unwillkommen inmeinem Kopf. Am Ende ist auch gesund nur einWort fr den guten Willen, mit dem gesuchtworden ist. Da mein Grundleiden eine Un-

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  • bekannte blieb, schien nicht bel zu seinemCharakter zu passen; es pate auch meinemBedrfnis, mich dabei nicht aufzuhalten. DiesesBedrfnis selbst untersuchte ich nicht. EinesMorgens aber lahmte es mich. Ich konnte nichtmehr aufstehen. Ich konnte nur noch rufen.Schreien, ja. Als die Sekretrin hereinstrzte,war ich schon wieder auf den Fen. Was fehltIhnen, fragte sie. Nichts fr Sie, sagte ich. Aber Sie sehen aus wie der Tod. Nein, sagteich. Brauchen Sie etwas? fragte sie. Ja, sag-te ich. Als sie mich weiter ansah, als sei dasnoch nicht alles, besann ich mich und sagte:Beinahe htte ich eine Verabredung vergessen.Rufen Sie mir ein Taxi. Das Diktat machen wirmorgen.Der Neurologe fand nichts an mir. Daraus zoger nicht den Schlu, es fehle mir nichts. Wirredeten unter Brdern ber meine Strung, wieber etwas Drittes, das nicht zwischen uns ste-henbleiben darf. Da er mir mit Latein undChemie zu Leibe ging und mich, nach denRegeln seiner Kunst, als Fremdkrper behan-delte, erschien mir nicht unberechtigt, wenn ichan den Menschen dachte, der ich hatte werdenwollen. Meine Wnsche mochten kindlich ge-wesen sein; was an ihre Stelle getreten war, tatnicht einmal mehr richtig weh. Ich achtete nicht

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  • mehr genug auf mich, oder achtete mich schonnicht mehr genug, um mir eine schne Trauerzu gnnen. Die Verantwortung fr mein Befin-den abzutreten, hatte unter diesen Umstndennichts Erschreckendes, auch wenn ich dazunach Lausanne reisen mute. Dazu riet mir derArzt gesprchsweise, aber doch ernstlich. Erwute dort einen Kollegen, der fr meinKrankheitsbild zustndiger war. Ich tte ihmeinen Gefallen damit.Gefllig bin ich immer gewesen. Mein Reisetagim Mrz war von einer Herrlichkeit, derenHohn mich blendete. Nach der Untersuchungsa ich stumm geworden in einer schon leisegrnen Anlage am See. Der Nebel gab, wenn ersich bewegte, den Blick auf die Savoyer Alpenund einen ungedmpften, wie vorzeitlichenHimmel frei. Da der innere Kontakt, die Ge-borgenheit in meiner Familie abgenommenhatte, war mit dem Heranwachsen der Kinder,der eigenen Arbeit meiner Frau natrlich. Eswurde von uns allen in meist beilufigen, jasportlichen Wendungen akzeptiert. Da mir et-was fehlen sollte, war eigentlich gegen die Ab-rede. Ich hoffte auf den welschen Arzt und denbegrenzten Befund, den ich mir von ihm ver-sprach. Da warfen die Tests keine Resultate ab,und der Mann wollte mich nochmals nchtern

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  • sehen. Hatte ich Angst vor der Nacht, auf dieich hier in der Anlage wartete?rgerte mich meine lcherliche Bereitschaft,das Spiel mit der Krankheit bis zum Ernst zutreiben? Morgen um die Mittagszeit wrde ichauf alle Flle im Speisewagen sitzen um dreiUhr hatte ich ein Hearing vor einer parlamenta-rischen Kommission , das war ein Termin, undgewissermaen trstlich. Zugleich enttuschtees mich. Sollte denn wieder nichts gewesensein?Es war Zufall, da ich am Abend, statt ins Kinozu gehen, vor dem Kleintheater in der Nhemeines Hotels stehenblieb; Zufall, da ich eineKarte lste. Das Stck eines Deutschschwei-zers, das ich als Hrspiel kannte, wurde auffranzsisch gegeben. Es handelte vom Konfliktder 68er-Jugend und beleuchtete die Demon-stranten von einst aus der Sicht eines alten,unfreiwillig in die Demonstration verwickeltenMannes. Er war zu Schaden gekommen; derAutor versuchte, diesem Zufall einen gesell-schaftlichen Sinn abzugewinnen. Eigentlichwnschte ich heute keine Belehrung mehr. Ichwollte Krper sehen, wirkliche menschlicheKrper, und im Dunkeln sitzen. Ein Stripteasehtte es auch getan, aber der Gedanke, dasentsprechende Lokal suchen zu mssen, wi-

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  • derstand mir, erdrckte mich durch seineKomik.Das Theater war ziemlich leer und noch halbhell. Ich hatte gerade Platz genommen undwartete auf gar nichts mehr. Auf einmal starrteich nicht mehr blo, sondern sah: den Hinter-kopf Annes unmittelbar vor mir. Ihre weiche,tiefe Stimme war unverkennbar. Sie unterhieltsich mit ihren Nachbarn links und rechts. Nachder ersten Verblffung fhlte ich etwas; Scham.Als hrte ich, das Ohr gegen eine Wand ge-drckt, zum ersten Mal junge Leute reden. DieHoffnung, es mge dunkel werden, bevor Annemich bemerkte. Dabei konnte ich, ohne michvorzubeugen, ihr Haar riechen; ein Geruch hatkeinen Namen, darum vergit man ihn nicht.Whrend des Stckes, das mir gleichgltig war,vertiefte ich mich in jede Einzelheit vor mir.Die einzelnen Haare, deren Spitzen im Bhnen-licht glhten. Das Faserngewimmel am Pullo-verrand. Die vom kaum sichtbaren Maschen-muster belegte Schulter, die ruhig bleibenkonnte, wenn der Hals sich bewegte. Wie siediesen Hals hielt. Etwas gebeugt. Bei strkererDrehung: mit einer Lichtspur in der Nacken-furche. Der Wirbel auf dem Scheitel knaben-haft. So kurz hatte sie die Haare noch niegeschnitten. Manchmal flsterte sie nach links

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  • mit dem jungen Mann. Aber fter nach rechts,wo ein politisch aussehendes Mdchen sa, eineknstliche Rothaarige. Dann zeigte sich AnnesProfil bis zum Augenwinkel. Ich lehnte michunauffllig zurck, nahm so lange die Brille ab,damit das Bhnenlicht sich nicht darin spiegle.Aber wie dmpft man seinen Blick. Sie konntemich nicht gesehen haben. Dennoch hatte ichMhe, ein kurzes Lachen, das ihre Schulternerschtterte, nicht auf mich zu beziehen. Wasnahm ich mir da heraus, und was legte ichhinein. Kein Wort. Ich war ein Dieb, aber ichhtete mich zu stehlen. Ich verriet mich nurnicht, das war das Diebische. Ich mute michlngst verraten haben, wenn es mit rechten Din-gen zuging. Aber das ging es nicht. Ich liebtevielleicht. Das war ja verrckt. Hier sa ichzum Greifen nah. und frstelte vor Alleinsein.Nie bin ich so allein gewesen wie in der Nhedieses Kopfes, den ich htte streicheln knnen.Kein Gedanke daran, aber was fr ein Ge-danke.Mit der Pause hatte ich, obwohl ich bereits analles gedacht hatte,, nicht gerechnet. Das Lichtging an, ich sa erstarrt. Anne aber reckte dieArme weit von sich weg, ghnte und erhob sich.Noch stand sie vor mir, ohne mich zu sehen.Aber ich mute es jetzt tun. Sie ansehen. Ihr

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  • Blick kam herber, staunte, leuchtete, alles ineinem. Keine Spur von Befangenheit. Du hier?Was machst du denn hier?Ich ffnete nicht einmal den Mund. Ich ver-suchte nicht zu lcheln. Ich lie sie einfachsehen, was ich selbst nicht sehen konnte. DemReflex, ebenfalls aufzustehen, gehorchte ichnicht. Ich sa in der Mitte der Reihe, meine paarNachbarn konnten auch links oder rechts abtre-ten, wenn sie wollten. Ich blieb sitzen und sahAnne nach.Denn sie ging weg. Sie war nicht erschrocken,aber sie ging mit den Leuten in ihrer Reihehinaus. Dann wartete sie, bis sie in meine Reihehineinkonnte, und dann kam sie zu mir. Sie gabmir die Hand, aber nicht, um sie wieder wegzu-ziehen. Sie setzte sich neben mich und bliebneben mir sitzen. Wir waren die Einzigen imTheater. Ich atmete nur. Sie nahm mir die Brilleab und behielt sie in der Hand, aber mit derndern Hand hatte sie nicht losgelassen. Als siemich doch loslie, war es kein Abschied, odereiner, den ich sofort zu ertragen bereit war. Ichrhrte mich nicht.Willst du das Stck weitersehen? fragte sie.Nein.Dann gehen wir doch.Und deine Freunde?

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  • Das ist O.K.Fr die Nacht fand ich spter, im Speisewagen,Worte: du hast mir das Leben gerettet. Siepaten nicht, aber da es keine passenden gab,sagte ich mir die vor, die zu meiner Ruhestimmten. Ich hatte nicht mehr gedacht, da esmir mit der Ruhe nochmal gelingen wrde. Ichwar nicht zum Spezialisten gegangen. Waskmmerten mich Resultate, jetzt lebte ich ja.Das war, auer Funktionieren oder Sterben, diedritte Mglichkeit, auf die ich gestern am Seenicht gekommen war. Mein Krper hatte siegefat, er fate sie immer noch. Er blieb warm,so viel warme Unaufflligkeit nannte ich Ruhe.Diesen Krper hatte Anne gewollt. Sie hatte annichts anderes gedacht, am wenigsten daran,mich zu retten. Sie hatte sich darauf verlassen,da ich bereit war, sie festzuhalten, und aufeinmal war darauf Verla gewesen. Und dannhatte sie mich verlassen. Nein. Sie war nur nichtgeblieben. In der Mitte des frhen Morgenshatte ich gesprt, da sie ging, und es hattewieder nicht weh getan. Ich war allein und bliebbei mir. Ich hielt es aus. Meine Bewegungenwaren einen Morgen lang bedchtig. Ich konntejedem Menschen ins Gesicht sehen, nur miteinem Arzt hatte ich jetzt nichts zu tun. Ichblieb berhrt, und die Sitzung in Bern nderte

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  • nichts daran, nicht viel. Und als die Trauer dannkam, war es die Trauer und keine Verzweiflung,denn ich wute, was ich entbehrte, das Nch-terne der Entfernung, die mich von Annetrennte, war lebendig wie sie.

  • III

    Der Motor fuhr mhelos. Dennoch zitterte ichum ihn, wenn ich auf die Bremse trat, schaltetevorsorglich in den kleineren Gang, und wennich anhalten mute, zog ich den Choke. Daswurde eine laute Fahrt. Sie pate nicht zu mei-nem Wagen und stellte meine Ungeduld blo.Obwohl Biel eigentlich schon begonnen hatte,war kein Mensch in Sicht, den mein Geheulhtte aufregen knnen. Fluchten von Kande-labern sumten die Strae, erweiterten sie zurBahn; das Natriumlicht fiel auf tote Gebude,Fabriken aus Fertigteilen, Werkhfe, Parkplt-ze, deren Leere durch einzelne Wagen verdeut-licht wurde. Ich hatte zwei Pflichten: den Mo-tor nicht sterben zu lassen und die Abzweigungnicht zu verpassen.Da kam sie in Sicht: im Nebel rechter Handschritt der Viadukt der neuen Autobahn aufSttzen die Bergflanke hoch, ich beschleunigte,hielt darauf zu, als sei es eine Rampe zumAbflug, und htte im nchsten Moment dieAusfahrt berfahren. Die riesige Tafel DELE-MONT war schon ber mich weggeschossen,

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  • als ich den Wagen auf die linke Spur und berdie Kreuzung in die Querstrae ri, hart voreinem Gegenfahrer, der mit Standlichtern, undviel schneller als vermutet, aufgetaucht war.Der Wagen hatte einen Schlag gekriegt, hoffent-lich von unten, die Ampel konnte ich wohlnicht gestreift haben, den ndern auch nicht.Aber der blieb hinter mir, zndete heftig inmeinem Rckspiegel: schon recht. Ein weierBMW, Polizei? Kennzeichen konnte ich keineausmachen; jetzt bog die Strae scharf nachrechts, diesmal hatte ich aufgepat. Der Weieberholte nicht, obwohl hier Autobahn be-gann; ein Rechthaber. Ohne den Nebel htteman jetzt auf Biel hinabgesehen. Ich starrte inden Rckspiegel: die Umrisse zweier Mnnerwaren alle paar Sekunden scharf wie Schie-scheiben gezeichnet, dann huschten Schlag-schatten ber den Khler mit dem obsznenkleinen Grill. Ich hielt rechts, verlangsamte:weiter mit euch! Dann eben nicht. Die Gesich-ter der beiden blieben im Dunkeln, Mnner,jung vermutlich, ein schlechter Film. Ich gingwieder aufs Gas, davonjagen war sinnlos, derandere war schneller. Vorn der Tunnel, eineRhre aus glattem Beton, ich lie den Motorbeim Herunterschalten heulen, schrie: Los,geht! Hinter dem Tunnelausgang begann

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  • Enge, die Kulissen zogen sich zusammen, helleJurawnde, die Strae wurde zweispurig, bliebaber breit, verkam immer wieder zum Bauplatz.Rotweie Latten, hohe Drahtzune. Gleichmute die Abzweigung kommen, Evilard oderOrvin. Ein Wasser rauschte ungestm, odermeine Ohren; endlich der Wegweiser, aber warer blind, oder ich? Ich nahm Tempo zurck,blieb nahezu stehen, jetzt mute der Kerl javorbei. Taubenlochschlucht, entzifferte ich,Frinvillier, und auf franzsisch: Brcke ge-sperrt. Hinter mir wartete der BMW. Alsodoch. Ich jagte den Motor hoch, ohne denndern abzuschtteln, er fuhr lautlos, triebmich nach vorn in die schwarze Nacht, schlag-artig war die Bahn zum Strchen geworden,fhrte das denn noch weiter: allenfalls bis zueinem nchsten, aber selbst schon verlorenenGehft. Ich schaltete das Fernlicht an, im glei-chen Moment tat der hinter mir dasselbe: dashatte ich kommen sehen. Ich drckte den Rck-spiegel beiseite, dem Blendwerk im Auenspie-gel entging ich nur, wenn ich mich vorbeugte.Jetzt war das Tlchen wieder weit, aber fremd,lichtlos, die Strae verbreiterte sich, wurde im-mer wieder von diesen feisten Betonrhren ein-gesogen, die ltere Strae fhrte dann um dieKalkschulter herum in den Nebel. Ich dachte

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  • daran, den Wagen pltzlich dort hinauszusteu-ern, aber woher wute ich, da der Weg nichtgesperrt war, oder abri.Mein Wagen hmmerte auf einmal sehr hart aufder Unterlage in einem hastigen Rhythmus.War es mglich, da ich bei jenem Wendema-nver einen Reifen verletzt hatte? Pltzlich sahich eine groe Tanne mitten in der Strae sotraumscharf, als bedrohe sie mich nicht, son-dern liee sich bewohnen. Ich konnte mir dieGabel der ste dafr aussuchen, die sichschwerfllig regten. In einem Augenblick warsie erloschen und ich hart daran vorbei, aber siestand noch in meinem Kopf eingebrannt, hell,ein Negativ. Wie wenig es bedurfte, zweierLmmel in einem schnellen Wagen, da ich insHoffnungslose unterwegs war, statt zu dir.Linker Hand zog jetzt ein Betonwerk vorbeiund wollte nicht enden, eine dster-helle Ka-thedrale aus Walzen, Zylindern, Vorwerken,Schuppen, stehenden Bahnwagen. Eine Ortsta-fel: REUCHENETTE, ein Name wie Dunst imNovember. Dann Huser, ein Ort. Auf einmalstand links ein kleiner Bahnhof mit einer blauenAnschrift, einem Vorplatz, der auf nichts mehrwartete als auf Schnee. Ohne Blick in den Spie-gel bog ich von der Strae weg auf das geister-helle Gebude zu. Die Vorstellung, dieses Haus

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  • stehe am Ende einer Verabredung, war so phan-tastisch, da sie mich einen Augenblick ber-wltigt hatte, und diesen Augenblick hattenmeine Hnde genutzt, das Steuer zu drehen.Die Genugtuung, nicht gezgert zu haben, be-lebte mich, machte mich schon sicher, bevor ichnach hinten horchte. Da war nichts mehr. UNDWENN DA ETWAS GEWESEN WRE, ICH WRE AUSGE-STIEGEN UND DARAUF ZUGEGANGEN. Ich zog eineSchleife, stellte den Wagen so, da er auf derschwach geneigten Rampe anrollen konnte, unddrehte die Zndung ab. Gut, jetzt wartete ichalso. Ich steckte mir eine Zigarette an.Vor dem Bahnhof stand eine Telefonzelle.Nein, jetzt lie ich mich nicht mehr hetzen. Ichwar an allem vorbeigefahren, der hchste Punktmeiner Reise war damit erreicht, von jetzt ankonnte es nur noch abwrts gehen. Ich brauchteauch dieser Liebe nicht mehr nachzujagen.Wenn sich noch etwas ergab, wollte ich es alsNachklang betrachten, jedenfalls nicht als Pr-fung. Als Geschenk. Das Wort eines alten Man-nes: als Geschenk. Von jetzt an wrde ich miralles nur noch schenken lassen. Gleich wrdeich aussteigen, hinbergehen, zahlen, whlen,Anne mit ruhiger Stimme melden, ich httemich verfahren, man brauche nicht auf mich zuwarten, es wrde etwas spter. Gegessen htte

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  • ich schon. Geschenkt. Ich hatte das Wiederse-hen mit Anne sowieso nicht mit einem Essenbeginnen wollen. Mein Gesicht beim Essen warkein guter Anfang. Ich rusperte mich. Ich ge-traute mich noch nicht nachzuprfen, ob meineStimme Ton hatte. Der Platz war natrlichnicht einsam, und der Bahnhof kein verwun-schenes Schlchen aus der franzsischen Pro-vinz. Er war ein wohlgetnchtes Gebude mei-nes Landes, hellbraun, Kunstputz. Nett undbewohnt war auch das Gasthaus gegenber, imLaubsgestil, dahinter weitere solide Gebudewie berall. Von Kulissen keine Rede mehr,auch nicht von weiter Flur. ber dem Geleise-krper, der, nach dem Glanz der Schienen zuschlieen, stark befahren wurde, begann einWaldstck wie irgendeines. Die weichen Rn-der des Gesichtskreises tuschten eine Augen-schwche vor. Aber auf den zweiten Blick waralles da: ein Selbstbedienungsautomat, eineWanderkarte, ein Mobilmachungsplakat. ImBahnhof selbst brannte Licht: es war zehn nachsechs, die Uhrzeit hatte sich von meiner Jagdnicht irre machen lassen. Wie gemalt stand sieauf ihrem hellen Zifferblatt.Erst nach einer Weile sah ich, an einer Haus-front jenseits der Strae eine Schrift, LIMO-NADES, in Jugendstillettern, kaum noch, oder

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  • schon wieder, lesbar unter der grauen Tnche,ein Stichwort der Heimatlosigkeit, die ich aufden ersten Blick empfunden hatte, bevor derzweite sie in ein vertrauliches Ortsbild verwan-delte. Ich nickte der Schrift zu und drckte dieZigarette aus.Ein Renault, lter als meiner, bog auf den Bahn-hofplatz ein und stellte sich mit laufendem Mo-tor neben mich. Der Fahrer, ein junger Invalidein Lederjacke, hinkte mit einem Brief in derHand zum Briefkasten; er lie die Klappe nurzgernd fallen. Dann kam ein VW-Bus vollArbeiter, die meisten stiegen aus, gingen zu denGeleisen hinber, ich hrte sie in der Fremd-sprache lachen. Ja! sagte ich pltzlich berlaut,mein Hals wrgte noch, aber die Stimme warda. Ich stieg aus, reckte mich. Ich ging zurBahnhoftr, auf der PRIV stand, dann umdas Gebude herum, betrachtete das Personal,zwei Mnner, die am Stellwerk saen und sichunhrbar unterhielten. Ich nickte, als wre dasnun auch in Ordnung, atmete tief, wobei ich zufrieren begann, zog noch die Schlssel im Wa-gen ab und ging in das kleine Gasthaus hinber.Ein Tisch voll Leute, Arbeiter, sie drehten sichnach mir um; war es ntig, da sie starrten? Ichbestellte den Cognac; meine ersten Worte auffranzsisch. Als er kam, fragte ich, ob es hier

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  • ein Telefon gbe. Und ob die ServiertochterKleingeld habe. Ich sah ihr nach. Mir war, alshabe ich eine Ewigkeit lang keinen Menschengesehen, eine Frau. Aber ich bekam den Cognacwie irgendein erwachsener Gast. Als ich Annezum ersten Mal anzurufen versuchte, war dieLeitung besetzt, beim zweiten und dritten Malauch. Erst von da an wurde ich unruhig.Um sieben Uhr telefonierte man immer noch.Ich hatte den zweiten Cognac bestellt, fragtemich, ob ich nicht htte losfahren sollen. DieGste sahen mir beim Hinausgehen und Her-einkommen zu.Dann lutete es.Anne Wyss, sagte es im Hrer.Du, antwortete ich.Martin, sagte sie.Ja-Wo bist du?Ich habe mich verfahren. Aber jetzt werde ich'sfinden. Ich bin in zehn Minuten da, wenn derWagen anspringt.Du klingst weit weg. Bist du gerannt?Ich hatte eine Panne. Hoffentlich habt ihr ge-gessen.Ja, sagte sie. Meine Mutter mute noch weg.Kennst du den Weg?Ich glaube ja. Ich habe es notiert.

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  • Wenn ich dich hre, komm ich dir entgegen.Dann bis gleich.Bezahlt hatte ich lngst. Vor dem Hinausgehensah ich mich in dem Restaurant um, als htte ichetwas vergessen. Die Zeitung, die ich nicht gele-sen hatte, brachte ich zurck und verabschiede-te mich laut, war nicht sicher, eine Antwortgehrt zu haben. Ich setzte mich in den Wagenund blieb eine Weile sitzen. Dann drehte ichden Schlssel. Erst gar nichts. Dann das Heu-len, das windige. Ich lste die Handbremse undfuhr an, die Fahrt war gering, zu schwach. Alsich die Kupplung schnellen lie, warf ich michmit dem ganzen Gewicht nach vorn. Der Wa-gen klemmte bis fast zum Stillstand. Auf denletzten Metern vor der Strae schluchzte er auf.Dann setzte er auf die Strae zum Glck warsie leer und fuhr.

  • IV

    Einmal in der Nacht, in der ich nicht an Le-bensrettung dachte, hatte Anne bemerkt, siesuche Arbeit. Ich versprach, darber nachzu-denken, hatte sie aber falsch verstanden. Siehatte die Stelle schon. Wo? In Zrich. Ichsuchte im Zimmerdunkel ihre Augen, sie hatteuns in Zrich besucht, sie mute also wissen,da sie in meine Nhe zog. Es war allerdingsmglich, da das nicht ihr erster Gedanke war.Ich fand keine Spur Einverstndnis in ihremGesicht, es war nur abwesend und nachdenk-lich. Sie msse arbeiten, es sei nicht anders,einmal msse sie sich wohl verndern. Ob derJob der richtige sei, werde man wissen, wennman angefangen habe. Als Sekretrin, ja, ineiner Verwertungsgesellschaft. Was das sei,werde sich zeigen, es habe jedenfalls mit be-stimmten Rechten zu tun, die diese Gesellschaftfr ihre Kunden verwalte, Autoren, Musiker,solche Leute. Zwei Sprachen flieend wrdenverlangt, wie es damit stehe, knne ich ja hren,sagte sie und lachte. Grammatik sei eine andereSache, Interpunktion beherrsche sie in keiner

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  • Sprache, Maschine schreibe sie mit zwei Fin-gern und Steno gar nicht. Ich begann zu be-schwichtigen, aber mein Reflex wurde nichtbentigt. Sie werde sehen, aufhren knne manimmer.Wenn sie dieser Arbeit mit so wenig berzeu-gung, und vermutlich doch mit einiger Unruheentgegensah, verstand ich schon, da sie frgemeinsame Aussichten im Augenblick nichtsbrig hatte. Zugleich verbarg ich nicht ganz,da mich ihre Art, ber den Job zu reden,verdro. Als erwarte ich, da aus dem Einge-stndnis ihres Ungengens etwas Moralisches,in Anstzen Bufertiges folge. So war ich esgewohnt, da htte ich eine Rolle fr mich ge-wut. Statt dessen zog sie mich wieder an sich,und ich verga Unbehagen und Moral, wolltenicht wissen, da etwas stumm blieb im Kerndieser Musik. Es wrde schon reden, wennAnne erst in meiner Nhe war. Ich sah einenFrhling vor mir, da wrde niemand mehr fra-gen, ob er mit einem kleinen Klteeinbruch,einer Glaubensschwche begonnen hatte. An-fnge zu berholen traute ich mir zu. JederVorbehalt wrde eines Tages ein Glck zu nen-nen sein, auch wenn das Wort nicht fiel. Wort-los machte ich Anne und mir, als ich sie noch inden Armen hielt, eine Zukunft zurecht, ein

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  • Leben nur gelegentlicher, behutsamer, durchAufmerksamkeit vertiefter Gegenwart. Da ichihr zwei Jahrzehnte voraushatte, wrde sie be-merken, ohne da ich es sie fhlen lie, alsErlaubnis zur Freiheit. Ich durfte nicht fragen,ob ich ihr wenigstens eine Wohnung suchensollte, und nicht enttuscht sein, als sie schoneine hatte. Die Copains mit ihren Verbindun-gen waren mir zuvorgekommen, wie sollten sienicht. Ich war ja erst seit dieser Nacht da. Undich wollte darauf gerstet sein, Ansprche zuunterlassen, vom ersten Augenblick an.Sie war schon einige Tage in Zrich, als sieanrief; Hilfen wurden nicht mehr oder ber-haupt nicht bentigt. Sie hatte ein Frauenfestbesucht und war zweimal im Kino gewesen,einmal mit einer Brokollegin, dann mit einemjungen Mann, der sie am Bellevue angesprochenhatte. Ausknfte ber diesen Mann gab sie,ohne da ich welche verlangte; sie fand ihnsympa. Das war die Hauptsache. An Gesell-schaft fehlte es ihr also nicht, auch wenn sie dievon Lausanne vermite. Sehr? Ja, sehr. Der Job? Na ja. So schnell knne man nichtssagen. Der eine Chef sei zu ertragen, der anderesehe so aus, als ob sie einander bald auf dieNerven gingen. Ein Fossil. Es war lcherlich, das Fossil auch auf mich zu

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  • beziehen. Ich kannte das Elternhaus nicht, ausdem Anne stammte, aber da es da unbesorgtzugegangen war, hrte ich ihrer Stimme an; dashtte mir keinen Stich geben drfen. Angst vorder Zukunft war nicht gelernt worden. Ichdrckte den Hrer zwischen Backe und Hals;das tat weh, und ich war hlich. Wenigstenssah sie mich nicht. Konnte die Erinnerung angemeinsame Heftigkeit so dnn geworden sein?Sie war gar nicht mehr da. Vielmehr, sie waraufgegangen, geruschlos, in der ruhigen, ver-whnten Wrme von Annes Wesen. Nachfra-gen und betteln wre tdlich gewesen. So lieich mich als guten Bekannten, als alten Freundbehandeln. Warum denn nicht? Nur weil meineTrume jnger waren als Anne? Vorbeischau-en? Wre willkommen. Morgen hatte sieschon etwas. Aber bermorgen. Zusammenessen? Warum nicht. Anne abholen, imGeschft? Lieber nicht, da sie mit dem Radnach Hause fuhr. Bei diesem Verkehr? Einargloses Lachen: Was sollte ihr der ZrcherVerkehr anhaben. Ich blieb sogar mit dieserkleinen Angst fr mich. Also bei dir? Wenndu willst. Um sieben Uhr? Einverstanden.Wenn du willst. Da schwang mir kein hohes Jaentgegen. Die Verantwortung fr die Einladunglag bei mir. Wenn ich's bedachte, htte das

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  • Gesprch auch ohne Verabredung ausgehenknnen. Wovon hing es ab, ob sie wollte? Sokonnte man nicht einmal fragen. Gehrte einWunder dazu, so war ich nicht der Mann dafr.Wenn du willst. Ich will ja, hilf nur erstmeinem Unwillen ein bichen ab. Keine Rede.Aber mit Gleichgltigkeit wollte ich das nochlang nicht verwechseln. Vielleicht hatte derChef mitgehrt, der sympathische, oder dasFossil.Ich achtete in den nchsten achtundvierzigStunden ich zhlte sie mit etwas zu oft aufmeinen Krper. Bis zur Schlaflosigkeit. Es ko-stete mich alle Mhe, die ich mir selbst verbarg,ihn zur Unaufflligkeit anzuhalten. Ich nahmein Bad, aber nicht erst im letzten Augenblick.Krpergeruch durfte sein. Bei ndern Dftenrechnete ich mit ihrem Mitrauen. Vorausge-setzt, da ich ihre Aufmerksamkeit nicht ber-schtzte. Im Bro war ich beschwingt, imGesprch mit Klienten spontan. Einem befreun-deten Prokuristen, der seine Ehe mit mir be-sprechen wollte, machte ich die Scheidung soschmackhaft, da er mich betroffen ansah. Ober das depressive Spiel mit seiner Frau bis zurvlligen Verdunkelung aller Gefhle treibenwolle, fragte ich ihn. Es gbe Augenblicke imLeben, wo es gar nicht darum gehe, neue Tatsa-

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  • chen zu schaffen, sondern sich zu bereits ge-schaffenen zu bekennen. Mit meiner Frauschlief ich die Nacht zuvor wie in unserer erstenZeit; sie fragte nicht, was mit mir los sei. Anjenem Nachmittag hatten die Kinder frei. Ichmeldete mich im Bro ab und fuhr mit ihnen,wie seit Monaten versprochen, zu der langenRutschbahn im Voralpengebiet. Ich war ent-spannt und verschwenderisch, lauschte aberheimlich auf bse Zeichen in meiner Konstitu-tion. Der Abend mu nicht sein, dachte ich; erdarf sein. Ich konnte ja vermuten, da ihmAnne nicht mit der gleichen Erwartung entge-gensah; da sie ihn vergessen hatte, wollte ichaber auch nicht denken. Insgeheim hoffte ichvielleicht, ihr meine Erschpfung in Erinnerungzu rufen, ans Ende meiner Dinge zu mahnen,wo sie mich in Lausanne gefunden und ange-nommen hatte. Nur von ferne daran mahnenwollte ich, mich darauf sttzen nicht. Zeigen,da ich mich verndert hatte, bis zum Wohlbe-finden, oder nahezu. Vielleicht machte sie dasein wenig stolz.Ich zog mich nicht besonders an, aber auchnicht salopp. Mochte sie mich nehmen, wie ichwar. Vielleicht wrde sie noch wissen, wie ichwar. Auch keine Blumen. Aber ich nahm denStein vom Schreibtisch, zwei ineinander ver-

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  • schrnkte Pyrit-Kuben. Sie sehen wie Metallaus und sind auch so schwer. So stelle ich mirMeteor-Gestein vor. Beim Nachdenken wiegeich sie manchmal in der Hand und fahre ihrenscharfen, wie von einem konkreten Knstlergeschnittenen Kanten nach. Der Stein zog inder Tasche meiner Lederjacke. Bei Gelegenheitkonnte ich ihn herausnehmen und vor sie hinle-gen, und diese Gelegenheit selbst mute ohneSchwere sein. Ich konnte ihn gerade gefundenhaben, nicht auf Elba natrlich, wo er herkam,sondern in einem Schaufenster. Er erinnertemich an etwas von dir, spontan, nur so.Sie kam lange nicht, als ich klingelte. Dannaber, da das Treppenhaus zitterte. Ein Altbau.Sie hatte einen Bademantel an, das kurze Haarwar na. Geduscht, ja. Wie hell es war. IhrGesicht. Ich kam doch nicht zu frh? Ich warzehn Minuten nach sieben gekommen; genauzehn Minuten. Die Freundschaftsksse auf bei-de Wangen, bevor man sich richtig ansieht, aberdas tut man darnach. Mit leisem Bedauern, daes jetzt nicht zu einem Hndedruck, dem ge-trumten festen Hndedruck gereicht hat, aberman hat ja Zeit. Wie gut du aussiehst. Aberbist du schmaler geworden? Penses-tu!Sie war in diesem Mantel sanfter als in meinerErinnerung. Die Durchsichtigkeit ihres festen

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  • Gesichts mit den groen, erlebten Linien, diebeim Lcheln klar wurden. Das also war ihrZimmer. Anne entschuldigte sich. Fast allesgehre noch der Vorgngerin. Die sei fr dreiMonate nach Mailand verreist, Anne werdebald etwas anderes suchen mssen. Die Vorgn-gerin schien ein Brei-Fan zu sein, der Sngermit dem abgezehrten Gesicht hing an jederfreien Stelle der Wand, auerdem Buster Kea-ton, Bourvil, Grock. Bcher ber Kino in allenSprachen. Ein Schaukelstuhl, ein Kchentischmit zwei Gartensthlen, ein franzsisches Bettam Boden, eigentlich nur eine Matratze.Soll ich uns hier etwas machen? fragte sie, wh-rend sie den Bademantel auszog. Ich sah ihrenKrper zum ersten Mal am Tage. Du, sagte ich,nein. Ich mchte heute mit dir ausgehen. Wh-rend sie sich anzog, blickte ich in das dichteGrn vor dem Haus. Hier werde nichts mehrgemacht, ein Glcksfall, sonst knnten wir hiergar nicht wohnen, es wre nicht zu bezahlen.Sie wrde mir noch sagen, wer wir waren. Ichkonnte spter danach fragen. Neben AnnesZimmer ging eine Tr. Man war hier also unterMenschen. Annes Altersgenossen bestimmt.Es strte die nicht, wenn man einmal laut wer-den sollte.Das Gartenrestaurant, das ich Anne hatte zei-

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  • gen wollen, war geschlossen; ich war seit zwan-zig Jahren nicht da gewesen und hatte auf eineReservation verzichtet. Das durfte kein Fehlersein. Wir gingen spazieren, auf einer groenWiese und durch den Wald, ohne Zrtlichkei-ten. Sie erzhlte von ihrer Familie, ihren Br-dern. Spter fuhren wir in die Stadt zurck, woes nach zehn Uhr noch etwas Warmes gab; esgefiel Anne in Zrich, die Arbeit freilich dabeiwrde sie nicht alt. Eine Zwischenlsung.Hauptsache, sie verdiente eigenes Geld. Aufeiner Radtour durch Sdfrankreich hatte sieeinen Jungen kennengelernt, mit dem sie schonzwei Jahre zusammengewohnt hatte. Die ber-raschung war aber erst auf dieser Radfahrt ge-kommen, fr beide. Wie viel man einander be-deutete. Sie hatten einen alten Mann wiederge-sehen, mit dem Anne seit Jahren in Verbindungwar. Er war Schfer gewesen, und Maurer inNeuchtel, jetzt lebte er an der Kste undschnitzte Holz, Strandgut. Er bearbeitete es nurwenig, gab ihm die Form, die er herausfhlte.Michelangelo? An den dachte er dabei nicht. Erwar ein Weiser, der erste freie Mensch, den An-ne kennengelernt hatte. Mit Luc im Zelt, beimAbkochen, im Gebirge, wo es nach Thymianroch, ein Besuch in Longo Mai, und immerwieder der alte Mann, das gemeinsame Schwei-

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  • gen in seiner Nhe. Das Meer. Zu dumm, sagteAnne, da sie jetzt in Zrich sein mute, wo inLausanne etwas begonnen hatte. Aber am Wo-chenende fuhr sie wieder hin.Ich trank meinen Kaffee koffeinfrei; es hattekeinen Sinn, in dieser Nacht wach zu bleiben.Das Pyritkltzchen lie ich in der Tasche. Seinrechthaberisches Kunstgewerbe gehrte nichthierher, und mit Annes Strandgut war es nichtzu vergleichen. Beim Abschied in meinen Ar-men, deren Druck sie freundlich erwiderte,hatte Anne gesagt, da wir nicht auf der glei-chen Wellenlnge seien, aber es stre sie nicht,wenn es mich nicht stre.Ich habe Anne nicht oft angerufen, als sie in derNhe wohnte. An einem Wochenende, das we-gen der Besuche in Lausanne mehrfach verscho-ben werden mute, gingen wir im Jura wan-dern, und sie erzhlte wieder von ihren Eltern,die im Jura, er war ihr also nichts Neues, einFerienhaus hatten, aber anderswo; die Gegendum den Belchen kannte sie nicht. Beim Dunkel-werden saen wir lange auf der Kalkspitze desBergs, auf die eine leiterartige Treppe fhrte.Anne war nicht schwindelfrei, sie mute sich andie Tiefe gewhnen. Unter uns zogen die Lich-ter auf der Autobahn von Basel heran undverschwanden im Berg. Ins Elsa, wo ich es mir

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  • schner gedacht hatte, hatte Anne nicht mitfah-ren wollen. Lange Autofahrten, wozu denn. Siebewegte sich lieber selbst. Fast htten wir denRckweg zum Parkplatz nicht mehr gefunden.Das Gelnde war im Dunkeln nicht so eindeu-tig wie die Wanderkarte. Wenn der Weg durchoffene Weide fhrte, hatte Anne vor KhenAngst, das berraschte mich. Aber nicht deswe-gen war es, da wir uns meist bei der Handhielten. Wir fuhren in ein nahes Jurastdtchenzum Essen, es war wieder spt geworden, esmute also ein teures Lokal sein. Es gab auchZimmer hier. Anne sagte: wozu; wir knntenauch bei ihr bernachten. Das wollte ich nicht;die Zimmer des Hotels mit ihrem Nepp undPlsch schienen aber auch nicht das Richtige.So fuhren wir nochmals, schweigend, insschwarze Land hinaus. Anne verbarg ihre M-digkeit nicht. In einem Motel auf freier Streckewar, nach vergeblichen Versuchen in einer an-dern freundlichen Kleinstadt, die von einemSchtzenfest belegt war, noch ein Zimmer zuhaben. Es war nicht ntig, Licht zu machen, dieLeuchtschrift an der Fassade bestrich das Zim-mer mit einem grnlichen Schein. Als ich dieVorhnge zuzog, waren nur noch die vorbeira-senden Autos zu hren. Anne war nicht wider-willig, nur gedmpft. Aber ich hielt den Krper

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  • einer Erinnerung in den Armen und hatte keinRecht, etwas zu vermissen. Das Frhstck ineinem leeren Saal, voll Hirschgeweihe undJagdstiche; Annes Lcheln, immer noch mde,kam wieder von selbst. Jetzt wute ich schon,da sie nicht mehr lange in Zrich bleibenwollte. Sie freute sich auf eine Stelle auf demLand, als Gehilfin junger Bauern, die selbst dieStadt verlassen hatten und nicht zu weit wegvon Lausanne lebten. Zuvor wollte sie abernoch gern meine Familie wiedersehen.Sie kam an einem Sonntag. Vor dem Tee spa-zierten wir in ein nahes Mustergut. Wenn ichmich, mit den Kindern voraus, nach den beidenFrauen umsah, waren sie einander hnlich. ZumAbschied gab ich ihr den Pyrit ohne Erklrung.Schlielich hatte ich ihn auch in Zeiten gehtetund angefat, wo ich an mir selbst nichts mehrgefunden hatte. Es war kein Zufall, da ichAnne nach ihrer neuen Adresse, dem Bauern-hof, zu fragen verga.

  • VAuf dem Rckweg war der Wegweiser nachOrvin nicht zu bersehen. Am Zementwerkvorbei, flssig vorbei an den Zeichen der Land-schaft, die sich meiner Verstrung eingeprgthatten, aus der Gegenrichtung aber ein harmlo-ses, fast vertrauliches Aussehen annahmen. Ichmute fast bis zum Viadukt zurckfahren, umdie Strae verlassen zu knnen. Das Gefhl, mitdem Gefalle zu rollen, statt gegen den dunklenBerg, erleichterte mich, schmeckte nach Heim-kehr und erlassenem Aufwand. Ich hatte AnnesStimme gehrt, ohne mich zu verraten, das warso gut, als htte ich das Grbste schon ber-standen.Auf krummer Fahrt von der Hauptstrae weg.Beginn der Steigung nach Evilard. Was warlos, da ich hinter einem Lastzug herkroch,ohne ans berholen zu denken? Der Nebelhemmte den Schuh auf dem Gas; das Undurch-sichtige zwischen den Buchenstmmen, die dieStrae, den Waldweg, wie Palisaden begleiteten,rhrte sich nicht, dichtete auch die linke, dieTalseite ab, wo der Blick htte frei sein mssen

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  • auf Stadt, See, offenes Land. Ich starrte auf dasGelblicht, mit dem der drhnende Transportvor mir seine Schwerflligkeit anzeigte. Erschleppte einen Kran, und ich trdelte im zwei-ten Gang hinterher. Erst als Wagen um Wagenvon hinten vorbeipfiff, gab ich die Deckung aufund drckte aufs Gas, nur halb entschlossen, alszgerte ich, den kritischen Punkt zwischen Un-geduld und Hoffnungslosigkeit zu berfahren,oder als warte ich auf den Gegenfahrer, der derganzen Geschichte ein Ende machte. Whrendich neben dem Lastzug herfuhr, kam mir einVers in den Sinn: Da Liebesangst beflammendmich durchwerkt, ich sprte aber nichts vondieser Angst, und das war gut, es war mir niebekommen, wenn ich mich zu stark ausgesetzthatte. Und doch war es mir um die verloreneSehnsucht leid.Die Gebude von Evilard traten aus dem Grau-licht hervor, Vorgrten mit schwerkpfigenAstern, behbiger Beton mit einem Hauch vonChalet, Hotel de la Gare, die Seilbahnstation,Post, Bank. Die Leuchtschriften erinnerten anWohlstand, auf den Parkpltzen schimmerte esvon beschlagenem Lack, keine Seele rhrte sichauf der Strae, es htte Mitternacht sein kn-nen. Durchfahrt durch totes Erholungsgebiet,am Ende ein Wegweiser, Orvin, ein Stck

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  • Wald. Und pltzlich freier Blick auf ein schma-les Tal mit weichen Rcken dahinter, beschei-denes Lichtergewimmel in der Tiefe, in dernoch Unscharfen lagerten, am Himmel wiederSterne; hier also war es, konnte es sein. AnnesMutter kam mir in den Sinn. Zwei Frauen ineinem dunklen oder schwach erleuchtetenHaus. Der Gedanke war nicht mehr ganz be-fremdlich, als lterer Besucher ohne Erklrunghier einzukehren.Anne hatte mir den Weg beschrieben, ich fandihn auch, aber fr die wirklichen Sachen gibt eskeine Beschreibung, und die Wrter geltennicht. Eine Kirche ist angezeigt in einem Ortdieser Gre, aber einen burghnlichen Turmmit verstrkten Ecken und runden Torbogenhat man in keinem Traum gesehen, und eigent-lich besteht das Monumentale und Fremde, daseinen bei der Anfahrt berfllt, einzig darin,da es ihn gibt. Und da der Friedhof, den esauch geben mu, ein fest ummauerter flacherKrper ist, der, wie die Wand eines berladenenSchiffes, in schwarze Stille hinausfhrt: das istnicht zu erwarten gewesen. Die paar einzelnenBsche, Thuja, Eibe, sehen so aus, als htte sienoch nie ein Mensch gesehen; sie zeichnen sichmit pltzlicher, unglaubwrdiger Schrfe gegenden fahlen Himmel ab. Gegenber das Heim

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  • mit frommer Anschrift. Nach einer Kurve tieferunten der Gasthof Grosse de Ble, Grosse kannaber nicht Kreuz heien: im letzten Augenblickgab sich der Bischofsstab im Schild zu erken-nen. Dann das Richtungsschild, dessen rechterAst rot verklebt, gesperrt war; von dorther htteich kommen mssen. Links zeigte der Wegwei-ser nach Lamboing und La Neuveville. Ich bogab. In keinem der Huser rechts und links, diemit groen Einfahrten, weinbuerlich zusam-menhingen aber konnte hier oben noch Weingebaut werden? wurde ich erwartet, und dasgab ihnen eine schmerzhafte Deutlichkeit. DieAuerortstafel, und wieder leeres Land. Ichfuhr langsam. Rechts an der Berghhe ein ein-zelnes Gebude, kaum hell. Ich hatte noch nichtdurchgeatmet, pltzlich stand Anne an derStrae. Wer sonst. Ich mute ein paar Meterzurckfahren. Da mndete der Weg von derSeite ein, und da war sie.Einen Augenblick blieb ich noch sitzen, dannklopfte sie mit dem Finger auf das Windschutz-glas. Herein, dachte ich. Wie menschlich sieaussah da drauen, und wie bla. Ich drehte denMotor ab. Als ich ausgestiegen war, hielt ich siein den Armen, aber ich fhlte noch nichts. Wirmssen gesprochen haben. Sie trug eine dickeweie Strickjacke mit einem Muster, das ich

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  • nicht mochte, die Jacke einer lteren Frau.Nein, lange hatte sie nicht gewartet. Immerhinhatte einer angehalten, um sie mitzunehmen.Ob sie Hilfe brauche. Sie lachte. Ihr Gesicht,von meinem weggekehrt, lebte mit jedem Zug.Du kannst noch ein Stck hineinfahren, sagtesie. Ich setzte mich ans Steuer, berhrte denSchlssel, drehte ihn nicht.Nein, sagte ich. Der Motor springt nicht an.Aber er lief doch grade noch?Der Anlasser ist kaputt. Ich hab's dir am Tele-fon erklrt.Dann bleibst du eben stehen, wo du bist.Ich dachte nach, lcherlich gemacht durch die-ses Fahrzeug, das meine Aufmerksamkeit er-zwang. Und doch war ich heimlich dankbar.Das Auto hatte das Gewicht einer Sache, wirbrauchten nicht gleich von uns zu reden.Ich mu mich so hinstellen, da ich morgenanrollen kann.Kann ich dir helfen?Schau mir zu, sagte ich, oder geh hinein. DieKlte ist schlecht fr dich.Ich legte den Leergang ein, stieg aus, lie dieTr offen und sperrte den Rcken dagegen, alssie zufallen wollte. Dann schob ich das Auto amFensterrahmen rckwrts. Erst rhrte es sichkaum, dann bekam es Fahrt, ich rannte neben-

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  • her, ri das Steuer herum, der Wagen schwangin den Weg hinein, ich schob wie verrckt, abernein, ich kam nicht hoch genug. Entschuldige,sagte ich, sprang in den Sitz, zog die Tr zu,rollte zurck auf die asphaltierte Strae, derGang jetzt, ruck, stock, richtig, die Zndungmute ja auch noch sein. Der Motor kam, ichfuhr, damit er nicht starb, ab wie der Teufel,fuhr an den Dorfrand zurck. Auskuppeln,Rckwrtsgang, so heulte ich, den Kopf berdie Schulter verdreht, die Strae wieder hinauf,hoffentlich kam jetzt keiner entgegen. Dieweie Figur im Fenster wurde rasch grer,sprang beiseite, als ich abbog, nach Gefhl: derKies knirschte, rtete sich im Schein der Brems-lichter: geschafft. Handbremse, Motor ab.Von hier komm ich wieder los.Aber du stehst mitten im Weg, sagte sie.Geh noch etwas an den Rand, damit meineMutter vorbeikommt. Sie ist nochmal weggefah-ren.Ich lste die Bremse wieder, lie den Wagennach rechts rollen, auf die Bschung der Weide,nicht zu weit. Von hier mute das Gefalle auchreichen. Aber ich htte einen Radschuh ge-braucht.Was suchst du, fragte sie.Einen Stein.

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  • Der Kies war zu klein. Es gab Felsbrocken, aberdie saen zu tief und fest. Da ich hier zugraben anfing, htte noch gefehlt. Sollte derWagen sich lsen, wrde er quer auf die Land-strae rollen. Nicht dran denken. Ich wollteendlich angekommen sein, das wollte ich doch.Wofr hatte ich sonst die letzten Tage gelebt,die letzten Monate, Jahre.Es wird schon gehen, sagte ich, und prfte, obder Rckwrtsgang fest sa. Dann schlo ichdie Tr.Schliet du nicht ab?Hast du keine Sachen mit?Sachen? Oh ja.Ich nahm die Reisetasche vom Rcksitz. Auchmit der war ich jetzt noch beschwert. Und dengroen Blumenstrau, beides in einer Hand.Beim Hinaufgehen hielt sie mich leicht um dieHfte. Zum ersten Mal hrte ich: Kuhgelut.Alles voller Glocken. Die Tiere standen wieFindlinge im Gelnde.Anne lachte. Mama ist zu einer Freundingefahren, sagte sie. Sie wei nicht recht, wiesie deinen Besuch verstehen soll. Auf alle Fllewollte sie nicht gleich stren. Sie wird aber baldzurck sein.Ja, das war ihre Stimme. Wie ich gereist sei, wieich mich fhle, was ich arbeite, fragte sie nicht.

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  • Das war wie jedesmal, und ich wollte ein frallemal nicht enttuscht sein. Das war ihr Arm.Erst jetzt fate ich, endlich, ihre Hand, denweichen, festen Griff. Ihre kalten Finger. Daranwar ich schuld.Wie geht es dir? fragte ich.Ich bin arbeitslos, sagte sie. Eigentlich mteich stempeln gehen.Deine Gesundheit.Die ging. Die kam schon wieder. Oft mde. DieStrapaze der Antibiotika. Viel Zeit nachzuden-ken. Das Haus hier mit den Ferienerinnerungender Kinderzeit. Frs erste ganz gut.Das Haus war nahe herangekommen. EinKltzchen hinter einem hohen, schon drrenLebhag, in den ein Tor hineingeschnitten war.Eine zwergenhafte Holztr gab es auch, dane-ben tickte die Batterie des Kuhdrahtes. Zaun-knig stand darauf. Im Vorgrtchen warenBlumen zu ahnen, immer noch gepflegt, dasLicht auf der Veranda brannte fr einen Gastund doch wie fr sich allein. Die dunkle Holz-farbe, l, schien das Licht abzustoen.Wir gingen hinein, waren drin. Warm, vielNubaum, Kupfergeschirr, alte Stiche, eine ge-blmte Sitzgruppe, brgerlich-rustikal, dieWohnlichkeit einer ndern Generation mit An-deutungen von Provisorium, aber die gingen

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  • nicht tief. Hier wurde nur zeitweise gewohnt,aber solid. Es wrde alles vorhanden sein. DieVase war schon da, in die Anne die Sonnenblu-men stellen konnte.Da du an Sonnenblumen gedacht hast, sagtesie in der Kche.So war es nicht. Ich hatte nicht gewut, daSonnenblumen ihre Lieblingsblumen waren. Eshatte im Geschft nur keine ndern gegeben, diein Frage kamen. Rosen wollte ich nicht mitbrin-gen, Orchideen erst recht nicht. Als ich dieSonnenblumen kaufte, fiel mir ein, da wireigene Sonnenblumen gehabt htten, die meineFrau gepflanzt hatte, aber es waren nur wenigehoch gewachsen, und alle nicht so ppig wiediese gekauften. Aber in unserem Garten durftekeine fehlen.Es sind meine liebsten, sagte sie.Auf den Schiefertisch konnte man sie nichtstellen, da stand schon ein Bukett Kosmeen,und auf dem Sims drngten sich die Nippsa-chen. Es blieb nur ein Platz am Boden, vor demKamin.Willst du einen Cognac? fragte sie.Sie nicht, danke. Alkohol war verboten. Sietrank eine Milch mit Vitaminen.Du hast abgenommen, sagte ich.Penses-tu, ich bin schon wieder am Zunehmen.

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  • Wir saen vor dem Feuer. Das Kuhgelut wardurch die Fenster gut zu hren. Ich bcktemich und schob das Kamingitter weg, um dieHlzer besser zu legen. Beim Vorbeugen packtemich ein unbestimmter Schmerz im Rcken.Ich richtete mich auf und sah sie an. Die Krank-heit hatte ihr Gesicht gezeichnet, aber so zartgemacht, da ich die Augen niederschlug. DieSchutzbedrftigkeit jeder ihrer leichten Bewe-gungen im Sessel. Die Beine in den Jeans lockeraneinandergelegt. Als ich wieder aufsah, lchel-te sie, sie lchelte dicht am Rand des Glases, dassie vor die Lippen hielt und an dem sich einMilchrand abzeichnete.Du bist so ruhig, sagte ich.Ja, sagte sie. Ich habe dir ja geschrieben,warum.Und jetzt hast du ein schnes Wochenendegehabt.Ja, sagte sie. Ich spinne nicht mehr. Es ist alleswieder O. K. Zuerst war ich enttuscht, da ermich im Spital nicht besucht hat. Einmal, amAnfang, aber dann nicht wieder. Es brachte ihndurcheinander, verstehst du. Er arbeitet denganzen Tag. Dieses Spital war ein Ort frKranke, nicht fr ihn. Er lie mich allein, unddas war das Richtige fr beide.Sie redete mit einem Lcheln von mir weg,

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  • dessen Strahlen leise war, sogar mhevoll, abervon Grund auf kam.Was arbeitet er denn? fragte ich.Grtner, sagte sie.Ich dachte, er sei Student.Nicht mehr. Er ist nie ein Student gewesen, sowenig wie ich.Das Alleinsein im Spital, sagte ich.Ich hatte einundvierzig Fieber, sagte sie. Ichwar eigentlich weg, eine Reise, ein Flug. Undeine Ruhe. Es war das Gleiche, wenn du michverstehst. Ich lag auf Flgeln, und ich wute, sietragen mich. Ich war ganz oben, und doch sahich alles ganz nah, alles gleich nah. Ich konnteauf einmal sehen. Ich sah eine Blume auf demNachttisch, die war mitgekommen, eine kleineviolette Aster, die htte lngst verblht seinmssen, aber sie verblhte nicht. Sie hielt aus,sie blieb bei mir, und sie stand fr alles andere.Auch fr Luc. Ich lag mit fnf Leuten im Saal,zwei Italienerinnen, einer Trkin und zwei al-ten Frauen, von denen eine starb. Sie starbneben mir, im Zimmer. Ich wute es, ich hrteihr zu, man brauchte niemand zu rufen. Sie hatetwas Groes erlebt, wahrscheinlich das Grtein ihrem Leben. Als es eintrat, berhrte ich sie.Danach war alles im Zimmer mein Freund, dieLeute, die Betten, die Apparate, alles war leben-

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  • dig wie die Blume, und die Besucher, die ka-men, waren meine Verwandten. Ich brauchtenichts, nicht einmal Nahrung. Ach so, sagte ich,wenn mir die Schwester wieder etwas einlffelnwollte. Es war nicht ntig, da jemand zu mirkam. Es kam alles zu mir. Bis auf Luc wute jaauch niemand, da ich da war. Er mute nichtkommen. Es gab kein Mssen mehr. Wenn ertat, was fr ihn richtig war, so war er bei mir.Aber dann bist du doch enttuscht gewesen.Als ich kein Fieber mehr hatte, fr kurze Zeit.Als du mir geschrieben hast. Sie lchelte.Wir brauchen Holz, sagte ich. Das Feuer hltnicht mehr lang.Komm, sagte sie und fhrte mich an der Handzur Tr hinaus, dann um das Haus herum insUntergescho.Ihr habt ja Zentralheizung, sagte ich.Ja, aber bei Wind und Klte wird's doch nichtwarm. Meine Eltern heizen eigentlich nie. Siebleiben lieber weg.Das steht also das halbe Jahr leer, sagte ich.Ich hatte die Arme voll Scheiter. Oben pflegteich das Feuer, baute die Hlzer auf, das macheich gern, selbst wenn mir elend ist. Ich habe dasGefhl, das Feuer sei ein Element, das mirgehorcht, in Grenzen.Ein Freund von mir ist Brandstifter geworden,

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  • sagte ich. Er war ein guter Fotograf. Land-schaften. In einem Sptherbst wanderte er alleinim Bndner Oberland. Er zndete ein Maien-s an, es kam so ber ihn. Dann stieg er wiederab nach Ilanz. In der Nacht konnte er nichtschlafen vor Entsetzen. Am Morgen frh ginger wieder auf den Berg. Es waren nur zweiStlle abgebrannt. Er prfte den Wind, go denInhalt einer Spritlampe ber einen HaufenStroh und machte nochmals Feuer. Diesmalschaute er zu, bis alles niedergebrannt war.Dann fuhr er nach Hause und versteckte sich inder Nhe seiner Wohnung. Als er sah, da seineFrau mit dem Kinderwagen das Haus verlassenhatte, schlich er hinein und holte seine Pistole.Er war Offizier, bei den Grenadieren. Dannfuhr er nach Zrich und nahm sich ein Hotel-zimmer. Er stellte den Wecker auf vier Uhr,damit er sich nicht verschlafe, dann erscho ersich. Er hatte einen Brief geschrieben, in dem erdie Brandstiftung gestand. Wenn er zu so etwasimstande sei, knnte er sich eines Tages auch anseinem Kind vergreifen. Das wolle er nicht, erliebe den Jungen, und er bitte seine Frau umVerzeihung.Das Feuer brannte jetzt gut und gab Hitze ab.Annes Gesicht war bla.Ich habe im letzten Sommer abgetrieben, sag-

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  • te sie. Ich habe gesehen, wie sie mit denFrauen umgehen, wenn sie sie betubt haben.Wie mit einem Stck rohem Fleisch. Ich habemich nicht betuben lassen. Der Arzt erschrak,als er mich anfate. Ich sagte: Entschuldigung,ich mchte wach bleiben. Ach so, sagte er,Entschuldigung. Dann war er sehr vorsichtigund sprach die ganze Zeit mit mir, sagte, was ergerade machte. Es tat immer noch weh, aber ichhabe es ausgehalten.Ich war verstimmt und kmpfte umsonst dage-gen an. Das Kind wurde nicht gefragt, sagte ich. Es hat es nicht ausgehalten.Nein, sagte Anne. Aber wir haben uns solange gefragt, bis wir ganz sicher waren.Schritte drauen, die uere Tr ging, ein Man-tel wurde ausgezogen. Eine Frau kam herein,eine noch jugendliche Brnette mit einem fe-sten, um das Kinn eher harten Gesicht. Ichhatte mich erhoben. Das war Annes Mutter. Siebegrte mich in schnellem, temperamentvol-lem Franzsisch, und, wenn ich mich nichttuschte, wachsam. Nein, sie trinke nichtsmehr. Wie ich den Weg gefunden habe? Anne,du httest dem Monsieur sagen sollen, da dieZufahrt von Solothurn her schwierig ist. Erhtte in die Stadt hineinfahren mssen. Wennman selbst Auto fhrt, wei man das.

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  • Der Monsieur war ich, und ich blieb es fr dienchste halbe Stunde. Das Gesprch unter ganzFremden war leicht. Und die ganze Zeit sah ichAnne neben ihrer Mutter sitzen, ein Kind, weitweg, mde, freundlich und ein bichen gelang-weilt.

  • VI

    Ich hatte Anne nicht vergessen. Aber ich httesie nie mehr gesucht, wre nicht, fast ein Jahrnach ihrem Wegzug von Zrich, dieser Briefgekommen. Ein Brief aus heiterem, wie mirschien, tief dunklem Himmel. Ein Lebenszei-chen, dessen Kraft ich mir nur damit erklrenkonnte, da es eine Erwartung in mir auf-schreckte, die gut verschttet, aber nie erstor-ben gewesen war. Ich hatte geglaubt, mir nichtsmehr zu wnschen; nun fiel ein Stern vomHimmel, und Feuer schlug aus der Asche, derenGeschmack ich nun erst im Munde fhlte. Wiehatte ich so lange, wie hatte ich einen Tag ohneGefhl leben knnen. Der Brief stellte berNacht ein Wunder an Ungewiheit in mir her.Ich stand wieder nackt vor der Hoffnung undschmte mich aller Knste, mit denen ich siezur Ruhe gelegt hatte. Dies mute ich wohlgetan haben; ich hatte gearbeitet, weiterge-macht, und mich in aller Stille aufgegeben.Nun sollte ich also wieder lieben. Ich hielt denBrief in Hnden und war unsicher, ob darinstand, was ich darin gelesen hatte. Was ich

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  • mhsam wieder und wieder las. Die fahrigenBleistiftzeilen schienen fr so viel Aufmerksam-keit nicht gemacht, aber ich gnnte sie mir. Ichwollte mich selbst nicht mehr halten. Ich woll-te mich loslassen in diese zwei kariertenBlttchen; ich wollte mir nichts erklren, son-dern mich gerufen fhlen und das Lcheln,oder wozu mein Mund sich verzog, nichtscheuen.Mein Lieber, sagte der Brief auf franzsisch, ichschreibe dir in einer seltsamen Lage, aber dubist der erste, dem ich schreibe. Ich sitze aufmeinem Bett im Spital, die Taschenlampe in derHand und halb unter der Decke, um meineNachbarin nicht zu stren, denn es ist drei Uhrmorgens. Wenn der Nachtpfleger wiederkommt, werde ich ihm den Brief mitgeben, ihnstrt es auch nicht, wenn ich schreibe; ichschreibe viel, aber immer nur an mich, fr mich.Ich mchte dir sagen, wieviel besser ich dichjetzt verstehen kann, wie froh ich bin auch umdie Zeit in Zrich. Es ist in meinem Lebenseither ein groes Durcheinander gewesen, unddas Ende war, da ich als Notfall in das Spitaleingeliefert wurde. Eine akute Nephritis, duweit, was das ist, ich hatte Fieber wie verrckt,bin richtig weggetreten gewesen, aber ich habemehr erlebt und von mir erfahren, als sonst in

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  • vielen Jahren, es war also sehr gut. Ich habe denPunkt gefunden, wo ich im Gleichgewicht ru-hen kann, ganz gleich, wie ich mich bewege,und wohin der Weg fhrt. Ich werde nichtmehr verlieren, was ich in dieser Krankheitgefunden habe, und es gehrt dazu, da icheinmal wirklich allein war. Das Komische war,da war ich's eben nicht mehr, allein. Es istgleichgltig, ob man das eine religise Erfah-rung nennt, aber ich wei jetzt besser, was dieLeute meinen, die eine gemacht haben. DieSicherheit, die FREUDE. Dabei habe ich ber-haupt nichts Sicheres, es ist mir alles zwischenden Hnden zerronnen, aber diese Hnde sinddeswegen nicht leer. Ich kann sie fhlen, siegehren zu mir. Als ich ein Kind war, fhlte ichmich gar nicht; ich habe damals Selbstmordversucht, aber nicht, weil ich sterben wollte,sondern weil ich schon glaubte, tot zu sein.Wenn es dann sehr weht tat, mute doch einGefhl kommen, dachte ich, und war's nur freinen Augenblick. Nun ist dieser Augenblickimmer um mich herum. Ich bin in ihm drin,und solange ich dieses Leben spre, habe ichkeine Angst mehr vor dem Tod. Ich werdemorgen hier rausknnen und mich noch eineWeile im Ferienhaus meiner Eltern erholen:Adresse, Telefon. Wenn es dich freut, komm,

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  • oder komm nicht, ganz wie du mchtest.Anne.Wenn es dich freut: als ich beim dritten odervierten Lesen wieder anfing, Wnsche zu ha-ben, wnschte ich mir, sie htte die Freude,mich wiederzusehen, nicht mir allein berlas-sen. Es war fast der einzige Platz, den sie mir indiesem Brief zuteilte, und da ich heftig einge-laden worden wre, ihn einzunehmen, konnteman ja nicht sagen. Aber was gab es hier zurechnen: der Brief war an mich. Sie gab mir alserstem weiter, was ihr geschehen war, und ichlas neben ihrer FREUDE auch etwas wieSchwche und Reue darin. Wenn ich mir nichtsdavon zu eigen machte, durfte ich mich wohldaran halten.Ich schrieb an die Adresse im Jura, um anzu-kndigen, da ich anrufen werde; dann rief ichan. Da ich kurz war, brauchte sie nicht derAtemlosigkeit zuzuschreiben. Es gab natrlicheGrnde dafr. Ich lie durchblicken, wie be-schftigt ich sei.In Wirklichkeit hatte ich bis zu dem Wochen-ende im Oktober, das wir fr meinen Besuchvereinbart hatten, nichts Ernsthaftes mehr zutun. Das heit, ich betrachtete die Gutachten,die ich entwarf, nicht mehr als ernsthafte, son-dern als eine unruhige, dabei beschwingte Art

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  • von Zeitvertreib. Er diente mir zur Begrn-dung, warum ich wenig zu Hause war. Ichbrauchte mehr Ruhe, gab ich an, als meineKinder mir lieen, das verstand sich, meineFrau verstand es, nicht zum ersten Mal. MeineFrau pflegt meinen Reisen nicht nachzufragen.Ich war auch nicht zum ersten Mal in derWalliser Ferienwohnung eines Freundes, vonder ich mich versichert hatte, da sie frei war.Ein Telefon gab es dort nicht.Zu Lgen zwangen wir einander nie, dennochwar mir mein Verschweigen nicht recht. Esschien mir ungeheuerlich, meine Erwartungauch nur einen Augenblick zu verheimlichen.Ich hatte Angst, meiner Frau Bescheid zu sa-gen; Angst um meine Sicherheit, ebenso vielAngst vor ihrem Verstndnis, mit dem ich htterechnen drfen. Eben dies beschmte mich. Zu-mal meine Erklrungen, auch die redlichsten,immer noch falsch gewesen wren. Ich stand ineinem Geheimnis, aus dem ebensowenig eineszu machen war, wie ich es htte verraten kn-nen. Vielmehr, alles wre Verrat gewesen, unddas Stillschweigen noch die menschlichste Formdavon. Auerdem warnte mich ein Aberglaube,diese Reise zur Tatsache zu erheben, mit dermeine Frau so oder so htte rechnen mssen.Auch fr mich selbst war es viel weniger als eine

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  • Tatsache, und viel mehr. Offene Stellen derWelt lassen sich nicht beschreiben; das Kind-liche der Hoffnung ist sprachlos oder lcher-lich. Ich wute, wie ungeschtzt meine Erwar-tung war, wie allein ich sie zu verantwortenhatte, das machte mir Angst, und es wre nochschner gewesen, mir diese Angst von meinerFrau erlauben zu lassen. Das war kein Fall frTrost, und keiner fr ehelichen Mut.Es war Freitagnachmittag, als ich losfuhr, bishinter Spiez im mittellndischen Nebel; in derHhe klrte sich der Tag noch vor Sonnenun-tergang zu einem sehr leichten Blau, das denschon weien Gipfeln alles Finstere nahm. Her-dengelut, Farbansichten durch Ahornlaub, einTal voller Bume wie Herbststrue, im Radioein Gesprch mit Jean Amery ber Freitod.Kaffee und Hot-Dogs beim Kiosk vor demAutoverlad, der Tunnel dauerte, ich stoppte dieZeit, genau neun Minuten; dazu schrie ich,schrie, was die Lunge hergab. Abfahrt nachSteg; das groe Tal hatte braunes und gelbesLicht und lange Schatten auf dem mrbe ge-wordenen Grn, eine Ahnung von Provence.Ich hatte hier nichts zu suchen als eine verlore-ne Nacht bis morgen, wo ich den gleichen Wegzurck nehmen wrde. Die Fahrt ins Walliswar ein Manver, mit dem ich mir Raum schaf-

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  • fen wollte fr das Wiedersehen. Es war nur halbgelogen, da ich allein sein wollte, und wennes Selbstbetrug war, so wachte doch ein wah-res Gefhl darin: da ich allein war und be-reit sein mute, es auch mit dieser Liebe zu blei-ben.Anne hatte mir gesagt, da sie, wie an jedemWochenende, den Besuch von Vater und Mut-ter, vielleicht auch den einen oder ndern Bru-der erwarte. Ob es dann sinnvoll sei, da ichkomme? Warum nicht? Das Haus sei einbichen voll, aber ich knne in ihrem Zimmerbernachten: seit sie Luc kenne, mache sowasihren Eltern nichts mehr aus. Das war derSatz, der meine Atemnot verstrkt hatte. Ermeinte wohl genau das, was er sagte, aber wasmeinte er genau? Das sollte mich nicht km-mern, jetzt nicht. Der Duft des Mglichenmachte den Umweg ins Wallis zum Spiel. Ichwollte es nicht verkrzen.Beim Bahnhof Visp rief ich meine Frau an.Gerade, sagte sie, habe Anne angerufen. Waswollte sie? Das habe sie nicht gesagt. Du sollstzurckrufen. Dringend? Es klang nicht so. Und wie geht es euch? Ich habe ... ichbin . . . heute . . . morgen . . . das Wetter . . .Alles nicht wahr, und nichts gelogen, auch nichtder Ku durch den Draht. Ich whlte Annes

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  • Nummer. Eine franzsische Mnnerstimme:Anne mute geholt werden.Luc habe sich, erklrte Anne, auf morgen ange-sagt, unerwartet. Nein, das konnte sie dannnicht gut. Nein sagen, nicht gut, nein. Aberwarum ich nicht auf alle Flle? Ein bichen vollnatrlich. Und wenn man reden wollte, natr-lich. Dann vielleicht lieber. Lieber nicht, ja. AmSonntag abend wrde er zurckfahren. Duknntest am Montag Nein, sagte ich, dann nicht, Montag nicht.Ich wre wirklich lieber mit dir gewesen, sagtesie.Ja, sagte ich. O. K.Luc hat mich lang nicht gesehen, sagte sie.Ich sagte ja: O. K.Wann knntest du denn?Mittwoch, sagte ich.Dann ist nur meine Mutter da, und wir habenPlatz genug. Entschuldige, da ich erstjetzt. . .Ich langweile mich nicht, mach dir keine Sorge.Das war nicht Luc vorhin?Wer?Der das Telefon abnahm und dich holte.Oh nein, das war ein Freund, sagte sie.Aufgehngt. Kein Wort zuviel, und jedes zuarm, und das Schweigen in der Zelle berlaut.

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  • O. K., sagte ich noch ein paar Mal, der Ton warheiser, vom Schreien im Tunnel.Jetzt war es nur noch die Wahrheit, da ichRuhe brauchte, jedenfalls hatte ich sie. Und derAktenkoffer war kein falsches Requisit mehr.Auf dem Weg von Leuk nach Feschel gibt eseine Stelle: im fahl gewordenen hohen Grasstehen schwarze Fhren- und Wacholdergrup-pen wie in einem sdlichen Garten. Auch dasLicht kann unwirklich sein. Man mu ins Talhinuntersehen, diese berwohnte Schneise, inder allmhlich die Lichter angehen, um sichdaran zu erinnern, da Menschen nicht weitsind. Gerade an dieser Stelle ist es aber mglich,daran zu zweifeln, ob man je irgendwo zuHause gewesen ist oder sein wird; man brauchtdeswegen niemandem gram zu sein.Die schwarzen Gruppen standen reglos, wieentgeistert, im Wind, nur das Gras lie sichzausen. Der Ort hatte schon kein Sonnenlichtmehr. Nur auf den Gipfeln drben zog sich dasLeuchten noch etwas hin. Ich hatte, bis auf dieAkten, nichts zum Lesen bei mir. Um so besser,dann fuhr ich jetzt ohne jede Erwartung indie Wohnung des Freundes. Die zwei Vgel,die oben kreisten, waren zu gro fr Bussar-de, aber deswegen muten es noch keine Adlersein.

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  • Ich sammelte keine Eindrcke mehr.Frh schlafen.Das war ein Gedanke, fr den ich, wenn ich ihnwarm hielt, eine Weile leben konnte.Das Appartementhaus an der Bergkante, wo esbei der Ankunft nur noch Wind, blaue undeisgraue Tne gab, war unbewohnt. Mein Lichtwrde das einzige sein in dem ausgesetztenBlock. Ich drehte die Speicherheizung an undsprte Hunger. Der Eisschrank war leer, bis aufeine Schokolade, die hob ich fr spter auf. Esgab Bcher hier, daran hatte ich nicht gedacht.Psychologisches, einen Roman von Marquez,Kinderbcher. Ich fand ein Buch ber Aku-pressur, zog mich aus und probierte, frierend,verschiedene Punkte aus. Durch einen be-stimmten Druck an der Ferse konnte man sichwrmen; vielleicht begann aber auch blo dieHeizung zu wirken. An meinem Knie, unterdem Ringfinger, wenn ich die Hand locker aufdie Kniescheibe legte, fand ich den Punkt desVollkommenen Friedens. Diesmal war dieWrme, schien mir, keine Illusion. Ich lie dasBad einlaufen und suchte mir einen der immernoch kaum eingerichteten Rume zum Schlafenaus. Ich blieb in dem, der nach hinten lag, demFelsen zu, den man durchs Fenster mit derHand berhren konnte. Es mute, nach den

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  • Zeichnungen an der Wand zu schlieen, dasZimmer der kleinen Tochter sein.Es war wohl der Hhenwechsel, der michwachhielt. Es strte mich nicht, und die Nachtging vorbei.Am Morgen fuhr ich los, ohne Ziel, wollte nurden Berg nicht verlassen, geizte mit der Hhe,die ich langsam entlangfuhr, eine Blindenfahrt.Einzelne Gebude, Stlle wirkten im Nebel ver-grert und definitiv. Ein- zweimal stieg ich ausund berhrte das alte Holz, wie vor Jahren;damals hatte einem dann nichts geschehen kn-nen. Ich frhstckte im Restaurant der nahenSeilbahnstation. Die Wirtin und ihre Familiewaren bald die einzigen stndigen Bewohnerdes Orts. Die Schulferien waren vorbei. Neu-bauruinen noch ohne Chalet-Verkleidung undBaugespanne fr groe Komplexe standen aufder schmalen Terrasse herum. Der Wind warbeiend, aber er brachte gegen zehn Uhr einenhellen Himmel. Die Wirtin machte mir ein paarBrote zurecht, dann stieg ich den Berg hinauf,ohne Weg, bis zur Schneegrenze. Einmalglaubte ich, mir den Fu verstaucht zu habenund dachte daran, da man auch gewhnlicheAlpweiden, wenn sie verlassen sind, nicht alleinbegehen sollte. Wenn man Glck hatte, warenhier an abgelegenen Wnden Kristalle zu fin-

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  • den. Eigentlich glnzten alle Steine, aber daswar der Frost. Auch die letzten Blumen standenwie von Glas berfangen. Vor dem Einnachtenwar ich im Restaurant zurck. Die Wirtin sagte,das wrde ein toter Sonntag. Erst um Weih-nachten kmen die Fremden zurck. Sie bedau-erte die Entwicklung des Orts, die ihn zugleichverden lie, sie fand aber, da sie nicht klagendrfe. Ihr Mann war im Tal, er half im Malerge-schft seines Bruders aus. Sie jagte die Kinderweg, als sie zwischen den Tischen zu spielenbegannen, dabei war ich der einzige Gast. Dannfand sie es traurig, da die Kinder niemandenzum Spielen htten. Sie frchte, sie verlren denAnschlu und wrden eigen. Im Tal glten sieals wilde Tierlein, und die Kinder der Ferienbe-wohner, von denen man etwas lernen knnte,blieben lieber unter sich und teilten ihre Spielsa-chen nicht gern mit Einheimischen. Sie bliebenauch zu kurz da. Geistig seien die fremdenKinder weit voraus. Fr Morgen, berichtete dieWirtin, habe das Radio Schnee angesagt. Siehatte mich gefragt, ob ich gern ein Stck Fleische. Sie selber a nicht, aber sie setzte sich anmeinen Tisch, als sie es mir brachte. Sie nhmeimmer nur zwischendurch etwas, wenn sie al-lein sei, und die Kinder auch. Als ich das Fleischgegessen und gelobt hatte, lachte sie, sie sei

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  • froh, da gerade noch etwas im Haus gewesensei. Es zeigte sich, da das Fleisch fr sie undihren Mann bestimmt gewesen war. Ich hatteden Sonntagsbraten der Wirtsleute gegessen. Sielachte wieder. Sie hatte ein bekmmertes Ge-sicht und einen schwerflligen Krper, aberwenn sie redete, wurde ihr Gesicht schn. Ichdachte an sie, als ich im Kinderzimmer onanier-te. Danach tat es weh. Beschwerden nach GV?hatte der Arzt mich vor ein paar Tagen gefragt.Nie, hatte ich gesagt.

  • VII

    Konversation. Im Augenblick galt sie dem Cha-let, einem Muster-Chalet, das vor Jahrzehntenan einer Bau-Ausstellung zu besichtigen gewe-sen war. Danach hatte der Mann der Dame,Annes Vater, es gekauft, hierher transportierenlassen, wo er als junger Mensch ein StckLand erworben hatte, und wieder aufgebaut.Ausgerechnet hier, das habe damals keiner ver-standen. Einde sei hier damals gewesen, nichtsals Einde. Ich: in der Tat. Ferienhusererwarte man in Evilard oder Macolin, mit demgroartigen Blick ber See und Mittelland bishinber in die Alpen. Sie: ihren Mann habe esschon als Jungen hierhergezogen, und als ersich nach dem Studium fr die diplomatischeLaufbahn entschlo, habe er mit seinem erstenverdienten Geld dieses Stck Land gekauft. Da-mals habe man Boden ja noch bezahlen knnen. Ich: ja, so ein Pied--terre sei nicht hochgenug zu schtzen, wenn man sein Lebenhauptschlich im Ausland zubringen msse,und dann, als Diplomat, noch mit so viel Orts-wechseln. Sie: zum Glck habe es sich dann ja

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  • so ergeben, da ihr Mann vorwiegend an derZentrale beschftigt gewesen sei, und von Bernhierher sei es nicht weit gewesen, man habeauch die Wochenenden ausntzen knnen. ImWinter sei das Haus freilich nicht zu bewohnen. Ich: ob daran gedacht worden sei, sich nachder Pensionierung hier niederzulassen? Sie:bis zur Pensionierung dauere es nun ja nocheinige Jahre. Nein, man gedenke die Stadtwoh-nung beizubehalten, man habe seine bestenFreunde selbstverstndlich in der Stadt. DasHaus habe vor allem den Kindern gedient, frdie sei es ein Paradies gewesen, und jetzt begin-ne es auch schon den Enkeln zu dienen, ihrltester Sohn habe ja bereits selber Kinder, siesei eine zweifache Gromutter. Ich: das seheihr aber kein Mensch an, und was die Lage desHauses betreffe, habe ihr Mann damals einegute Nase gehabt, von Einde knne ja keineRede mehr sein, so viel htte ich auch bei Nachtgesehen. Der Hgel hinter dem Dorf steheschon gedrngt voller Einfamilienhuser, derenEigentmer offenbar gerade die Stille zu scht-zen wten. Da das Haus hier immer noch einwenig a part stehe, gebe ihm allerdings einenbesonderen Reiz. Sie: es stehe im Natur-schutzgebiet, schon 1950 htte man keine Bau-bewilligung dafr bekommen. Ich: ich freue

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  • mich, das Naturschutzgebiet morgen bei Tagezu sehen, und ich bedanke mich schon fr dieGastfreundschaft. Sie: ja, Sie mssen morgeneinen Spaziergang machen, es gibt hier wunder-bare Wanderwege, wenn Sie nicht zu frh auf-brechen mssen, das Wetter sollte sich halten,und hier oben haben wir oft Sonne, wenn dasMittelland, aber auch Evilard oder Macolinnoch tief im Nebel stecken. Ich: anderseits istes auch schade, da Sie das Nebelmeer nichtdirekt vor der Haustr haben, aber wahrschein-lich wrde man es dann gar nicht mehr so rechtschtzen. Sie: man kann im Leben eben nichtalles haben, und was man hier hat, ist nicht zubezahlen, Ruhe fr die Nerven, gerade fr mei-nen Mann ist es sehr wichtig. Wir sind schon solange hier, die Leute betrachten uns als Einhei-mische. Ich: die Leute sind gewi stolz dar-auf, einen Diplomaten als Mitbrger zu haben.- Sie: diese uerlichen Dinge spielen hier zumGlck keine Rolle, davon haben wir in Berngerade genug. Ich: man begegnet sich hieroben noch von Mensch zu Mensch, das kannich mir denken, und das ist selten geworden.- Sie: man kann die Augen im Grnen ausruhenlassen, so etwas wird im Alter immer wichtiger.Ich auf einen Pflanzenatlas auf dem Tischchendeutend : ich knne sehen, da sie sich fr das

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  • Grne auch botanisch interessiere, die entspre-chende Fachliteratur sei mir aufgefallen. Sie:man habe sich immer mit der Natur beschftigt,und die Flora sei hier oben besonders reichhal-tig: Ich: daher auch das Naturschutzgebiet,ich sehe hier gerade die Doldenbltler aufge-schlagen. Dabei falle mir ich sei Advokateine alte Streitsache ein, bei der sie mir viel-leicht helfen knne, zumal der Streit mglicher-weise nicht nur mit einem botanischen, sondernauch einem sprachlichen Unterschied zu tunhabe. Ich sei nmlich vor kurzem bei einemwelschen Kollegen, einem namhaften Staats-rechtler, sie msse ihn kennen, auf groe Ver-wunderung gestoen, als ich den Kerbel eineunserer hufigsten Wiesenpflanzen genannthabe. Er habe gleich widersprochen, der Ker-bel, le cerfeuil, sei eine ausgesprochene Ge-wrzpflanze, ein Suppenkraut, es knne keineRede davon sein, da