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  • Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne

  • castrum peregriniNeue Folge, Band 7

    Herausgegeben vonWolfgang Braungart, Ute Oelmann

    und Ernst Osterkamp

  • Norbert von Hellingrathund die Ästhetik

    der europäischen Moderne

    Herausgegeben vonJürgen Brokoff, Joachim Jacob

    und Marcel Lepper

  • Inhalt

    Jürgen Brokoff, Joachim Jacob und Marcel LepperNorbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne. Zur Einführung . . . . . . . . . . . 9

    Hellingrath – Hölderlin – George. Bernhard Böschenstein im Gespräch mit Ulrich Raulff und Jürgen Brokoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

    I. Ästhetik, Kunsttheorie und Poetologie

    Aage A. Hansen-Löve Ein zu Hellingrath hinzugedachtes Russland der Dichter . . . . 33

    Jürgen BrokoffNorbert von Hellingraths Ästhetik der harten Wortfügung und die Kunsttheorie der europäischen Avantgarde . . . . . . . 51

    Rainer NägeleNorbert von Hellingrath und Walter Benjamin.Zu einer kritischen Konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

    II. Dichterische Konstellationen

    Joachim JacobNorbert von Hellingrath im Horizont zeitgenössischer Sprachästhetik: Hugo von Hofmannsthal, Theodor Lipps und Wilhelm Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

    Gunilla EschenbachWie dichtet der ›Urgeist‹? Hellingraths Konzept der harten Fügung . . . . . . . . . . . . . 107

    Kurt WölfelNorbert von Hellingrath und Hölderlins dichterische Verkündung. Ein Vortrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

  • 6 inhalt

    Eugen DöntPindars Siebente Olympische Ode, Hölderlins Feiertagshymne und Celans Tübingen: Hellingraths Begriff vom ›Dichterischen‹ 135

    Ute OelmannHellingrath und der George-Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

    Birgit WägenbaurNorbert von Hellingrath und Karl Wolfskehl. Eine biographische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

    Jörg SchusterNorbert von Hellingraths Hölderlin, Rainer Maria Rilke und der Erste Weltkrieg. Zur Geschichte einer Koinzidenz . . . 191

    III. Philosophie und Wissenschaft

    Gerhard KurzWortkunst. Zum ästhetischen und poetologischen Horizont von Hellingraths Hölderlin-Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . 209

    Jutta Müller-Tamm»Die Zweipoligkeit aller Kunst«. Stildualismen um 1900 . . . . . 231

    Francesco Rossi›Vom Wort ergriffen‹. Weltanschauliche Verflechtungen der frühen Hölderlin-Philologie. Norbert von Hellingrath im Dialog mit Ludwig Klages und Henri Bergson . . . . . . . . 245

    Yvonne WübbenWissenstransfer zwischen Philologie und Pathographie: Norbert von Hellingrath liest Wilhelm Lange-Eichbaums Hölderlin-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

  • 7inhalt

    IV. Dokumentation und Edition

    Klaus E. BohnenkampNorbert von Hellingrath und Hugo von Hofmannsthal. Eine Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

    Maik BozzaNorbert von Hellingraths Über Verlaineübertragungen von Stefan George. Einleitung und Edition . . . . . . . . . . . . 361

    Anhang

    Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395

    Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . 403

  • Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne

    Zur Einführung

    Als Norbert von Hellingrath im Sommer 1911 seine soeben als Buch erschienene Dissertation Pindarübertragungen von Höl-derlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe an den in Heidelberg lehrenden Germanisten Friedrich Gundolf schickt, liest dieser die Arbeit unverzüglich und antwortet dem jungen Hölderlin-For-scher postwendend. Er, Gundolf, habe die sofortige Lektüre nicht bereut, denn die Arbeit sei ein »reines und gutes Paradigma«: Hellingrath habe es vermocht, im »grammatisch Konkreten, in den satzgefügen, im greifbarst philologisch sachlichen […] das Werk- und Wesenkonstituierende eines Menschen, einer Dicht-kunst, einer geistigen Gesamtepoche zu packen.«1 Aufgehoben sei damit die »unselige Trennung zwischen ästhetischer und phi-lologischer, zwischen sinnlicher und geistiger Betrachtung«, und dass Hellingrath dies am Beispiel von Hölderlins Werk vor-geführt habe, freut Gundolf besonders.

    In der Tat leitet Hellingrath, der 1888 in München als Sohn eines Offiziers und der Angehörigen eines alten Fürsten-geschlechts geboren wird und seit 1906 in der bayerischen Haupt-stadt Philologie und Philosophie studiert, mit seinen Arbeiten zu Hölderlin die umfassende Wiederentdeckung eines Autors ein, der im 19. Jahrhundert mit dem Stigma der Geisteskrankheit be-haftet war und heutzutage aus dem Kernbestand der deutschspra-chigen Literatur nicht mehr wegzudenken ist.2 Zu diesen Arbei-ten zählen neben der von erheblichen akademischen Widerstän-den begleiteten Dissertation die Veröffentlichung von Hölderlins Pindarübersetzung im Umfeld des George-Kreises und die seit

    1 »Briefe aus Norbert von Hellingraths Nachlaß. Mitgeteilt von Ludwig von Pigenot«, in: Hölderlin-Jahrbuch 13 (1963/64), S. 104-146, hier S. 116.

    2 Die beste Einführung in Hellingraths Leben und Werk bietet: Heinrich Kaulen, »Der unbestechliche Philologe. Zum Gedächtnis Norbert von Hellingraths (1888-1916)«, in: Hölderlin-Jahrbuch 27 (1990/91), S. 182-209, dazu auch ders., »Norbert von Hellingrath«, in: Internationales Germanistenlexikon, hg. und eingeleitet v. Christoph König, bearb. v. Birgit Wägenbaur zusammen mit Andrea Frindt u. a., Bd. 2, Berlin 2003, S. 712 f.

  • 10 zur einführung

    1913 veröffentlichten ersten Bände einer historisch-kritischen Hölder-lin-Ausgabe, die das Gesamtwerk des Dichters der Öffentlichkeit zu-gänglich machen und bis zum Erscheinen der von Friedrich Beißner besorgten Stuttgarter Ausgabe auch in editorischer Hinsicht Maßstäbe setzen.

    Die Konsequenzen, die aus der Leistung Hellingraths gezogen wer-den müssen, sind nach Gundolfs Ansicht weitreichend. Sie gehen über die Beschäftigung mit Hölderlin hinaus. Im gleichen Brief an Hel-lingrath schreibt er:

    Die Philologen sollen sich nicht mehr mit der bloßen Zusammen-stellung und Deskription von isolierten Grammatikalien und Rea-lien begnügen dürfen; die Ästhetiker nimmer mit der Abtastung von Formen, die Philosophen nimmer mit einer Ausdeutung des Ideengehalts einer Dichtung.3

    Folgen Philologen, Ästhetiker und Philosophen nicht mehr länger den eingefahrenen Bahnen ihrer jeweiligen Disziplin, sind »gegenseitige Competenzkonflikte[…]«,4 von denen Gundolf in seinem Brief eben-falls spricht, vorprogrammiert. Werk und Wirkung Hellingraths bie-ten hierfür lehrreiches Anschauungsmaterial. Mit seiner unkonven-tionellen Dissertation, die Hölderlins Übersetzungen und die späten Gedichte rehabilitiert, provoziert Hellingrath die etablierte Wissen-schaft, die, wie Hellingraths Lehrer Friedrich von der Leyen berichtet, kein Interesse daran zeigt, sich mit den »Dichtungen eines Verrückten«5 abzugeben. Auch in editionsphilologischer Hinsicht schlägt Hel-lingrath heftiger Widerstand entgegen. Der Germanist Franz Zinker-nagel, der zeitgleich mit und in Konkurrenz zu Hellingraths histo-risch-kritischer Ausgabe Hölderlins Werke im Insel Verlag ediert, wirft Hellingrath nicht nur in pathologisierender Absicht eine bizarre Empfänglichkeit für den »Reiz aller geisteskranken Dichtung«6 vor, sondern kritisiert auch, dass dieser der schwärmerische Anhänger einer ästhetischen »Doktrin«7 sei, die mit dem Werk und der Person Stefan Georges verbunden ist.8 In die gleiche Richtung zielt einige Jahre

    3 Briefe aus Hellingraths Nachlaß (Anm. 1), S. 116.4 Ebd.5 Friedrich von der Leyen, »Norbert von Hellingrath und Hölderlins Wieder-

    kehr«, in: Hölderlin-Jahrbuch 11 (1958/60), S. 1-16, hier S. 4.6 Franz Zinkernagel, »Rez. [Hölderlin, Sämtliche Werke, Band 5]« in: Euphorion

    21 (1914), S. 356-363, hier S. 359.7 Ebd., S. 358.8 Vgl. dazu Jürgen Brokoff, »D er ›Hunneneinbruch in die civilisirte literarhisto-

    rie‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. April 2010, S. N4.

  • 11zur einführung

    später Georges Antipode Rudolf Borchardt, der in einem Brief an Max Rychner Hellingrath als »schlecht beraten und gewissenlos verführt«9 bezeichnet, weil dieser unter dem Einfluss der Schule Georges aus dem »Schnitzelhaufen der Hölderlin-Nachlässe jene Karikatur einer voll-ständigen Ausgabe machte, der jedes Kriterium und jede Unterschei-dung künstlerischen Willens von irrer Federübung bis zur Aussichts-losigkeit gebricht.«10

    Diesem heftigen Widerstand korrespondiert auf der anderen Seite die empathische Zustimmung für das Wirken Hellingraths. Anzufüh-ren ist zum einen der produktive Einfluss, den der Hölderlinforscher auf literarische Autoren wie Stefan George und Rainer Maria Rilke ausübt.11 Zum anderen stößt Hellingraths Arbeit auf großes Interesse bei so unterschiedlichen Philosophen wie Walter Benjamin und Mar-tin Heidegger. Benjamin wollte Hellingrath nicht nur seinen Aufsatz über Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin zu lesen geben, ein Plan, der durch Hellingraths frühzeitigen Tod 1916 in der Schlacht vor Ver-dun zunichte gemacht wurde; auch die Kunst- und Übersetzungstheo-rie von Benjamin verdankt Hellingrath wichtige Einsichten. Heidegger schließlich würdigt auf seine Weise Hellingrath, indem er seine 1936 entstandene Rede Hölderlin und das Wesen der Dichtung dem Ge-dächtnis des Gefallenen widmet und diesen nach dem Zweiten Welt-krieg einen »Zeigenden«12 nennt, der vor Augen geführt habe, »wohin man sehen soll.«13

    Vor diesem Hintergrund haben es sich die Beiträge des vorliegenden Bandes zur Aufgabe gemacht, Hellingraths Werk und Wirkung um-

    9 Zitiert nach Bruno Pieger, »Edition und Weltentwurf. Dokumente zur histo-risch-kritischen Ausgabe Norbert von Hellingraths«, in: Werner Volke u. a., Hölderlin entdecken. Lesarten 1826-1933, Tübingen 1993, S. 57-114, hier S. 87.

    10 Ebd.11 Vgl. dazu Paul Hoffmann, »Hellingraths ›dichterische‹ Rezeption Hölderlins«,

    in: Gerhard Kurz, Valérie Lawitschka und Jürgen Wertheimer (Hg.), Hölder-lin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme, Tübingen 1995, S. 74-104, hier bes. S. 88; Klaus E. Bohnenkamp (Hg.), Rainer Maria Rilke – Norbert von Hellingrath. Briefe und Dokumente, Göttingen 2008.

    12 Martin Heidegger, »Hölderlins Erde und Himmel«, in: ders., Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt a. M. 61996, S. 152-181, hier S. 152.

    13 Ebd. Zu Hellingraths Vereinnahmung im Nationalsozialismus siehe Claudia Albert, »›Dient Kulturarbeit dem Sieg?‹ Hölderlin-Rezeption von 1933-1945«, in: Kurz, Lawitschka, Wertheimer (Anm. 11), S. 153-173, hier S. 160 f., und Claudia Albert, »Hölderlin«, in: dies. (Hg.), Deutsche Klassiker im National-sozialismus. Schiller, Kleist, Hölderlin, Stuttgart und Weimar 1994, S. 189-248, hier zu Hellingrath und Heidegger S. 198-216.

  • 12 zur einführung

    fassend zu profilieren und seinen Quellen sowie seiner vielfältigen Ausstrahlung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachzugehen. Dies schließt auch die Frage nach europäischen Parallelphänomenen ein. Das Ziel des Bandes, der auf eine im Deutschen Literaturarchiv in Marbach veranstaltete Tagung zurückgeht, ist die Einordnung von Hellingraths Werk in den literatur-, kunst- und ästhetikgeschicht-lichen Kontext des frühen 20. Jahrhunderts.

    Die Beiträge des Bandes können dabei von sehr verdienstvollen Ein-zelstudien der letzten Jahrzehnte profitieren, die auf die Bedeutung Norbert von Hellingraths hingewiesen und zahlreiches neues Material erschlossen haben.14 Indem der Band die Materialerschließung fort-setzt und bislang unveröffentlichte Dokumente ediert, versteht er sich neben der unternommenen Perspektiverweiterung auch als Fortfüh-rung der bisherigen Hellingrath-Forschung.

    Nach einem einleitenden Gespräch mit Bernhard Böschenstein über Norbert von Hellingrath in seiner Zeit eröffnet Aage Hansen-Löve die erste Abteilung Ästhetik, Kunsttheorie und Poetologie mit einem Bei-trag, der zunächst die Ausstrahlung Stefan Georges und seines Kreises in den zeitgenössischen russischen Symbolismus beleuchtet, um dann Bezüge zwischen Hellingraths Konzept der Wortkunst und vergleich-baren Konzepten im Umkreis des russischen Symbolismus herzustel-len. Jürgen Brokoff erweitert diese Perspektive um den Blick auf den russischen Futurismus und Formalismus. Er setzt Hellingraths Ästhe-tik der harten Wortfügung mit der Kunstkonzeption der Avantgarde in Beziehung, die sich auf neue Weise an der Materialität und Sinn-lichkeit der poetischen Sprache interessiert zeigt. Rainer Nägele be-

    14 Hingewiesen sei hier, neben der bereits angeführten Literatur, vor allem auf die einschlägigen Materialsammlungen und Studien von Bruno Pieger: ders., »Norbert von Hellingraths Hölderlin«, in: Bernhard Böschenstein u. a. (Hg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin und New York 2005, S. 115-135; ders., »›Uns Erstgebor-nen der jungen Zeit‹. Norbert von Hellingrath in seinen Briefen an Imma von Ehrenfels«, in: Castrum Peregrini 52 (2003), H. 256/257, S. 60-83; ders., »Nor-bert von Hellingrath und die Entdeckung des späten Hölderlin«, in: Valérie Lawitschka (Hg.), Hölderlin. Philosophie und Dichtung, Tübingen 2001, S. 131-156; ders., »Karl Wolfskehl und Norbert von Hellingrath. Die Spur einer Freundschaft«, in: Castrum Peregrini 239/240 (1999), S. 115-133; ders., »Un-bekanntes aus dem Nachlaß Norbert von Hellingraths«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), S. 3-38; des Weiteren vgl. Paul Hoffmann, »Hellingraths ›dichterische‹ Rezeption Hölderlins«, in: Kurz, La-witschka und Wertheimer (Anm. 11), S. 74-104; Jochen Schmidt, »Der Nachlaß Norbert von Hellingraths«, in: Hölderlin-Jahrbuch 13 (1963/1964), S. 147-150.

  • 13zur einführung

    leuchtet in seinem Beitrag die Konstellation Hellingrath und Walter Benjamin. Beide Autoren verbindet neben dem Interesse an Hölderlin auch das an der »inneren Form« der Dichtung. Joachim Jacob setzt Hellingraths Sprachverständnis zu Positionen zeitgenössischer Sprach-ästhetik vor allem von Wilhelm Dilthey, Hugo von Hofmannsthal und Theodor Lipps in Beziehung, an denen sich ein Übergang von der See-lenbewegung zur Sprachbewegung ablesen lässt. Gunilla Eschenbach widmet sich in ihrem Beitrag genauer dem Verhältnis der literatur-theoretischen Überlegungen Hellingraths zu den poetologischen Vor-stellungen des George-Kreises.

    Die zweite Abteilung Dichterische Konstellationen versammelt Beiträge, die sich mit den vielfältigen Beziehungen Norbert von Hel-lingraths zur Dichtung der Tradition wie zu den zeitgenössischen Ver-tretern der literarischen Moderne beschäftigen. Kurt Wölfel erörtert in seinem Beitrag Norbert von Hellingraths Verhältnis zu Friedrich Hölderlin unter der Figur dichterischer Verkündung. Eugen Dönt the-matisiert aus der Perspektive der klassischen Philologie gemeinsame Motive und Strukturen bei Pindar, Hölderlin, Hellingrath und Celan, darunter auch die Idee des Dichtens als einer Verbindung von Kunst- und Lebenspraxis. Die komplexen, sich auch im Laufe der Zeit wan-delnden Verbindungen Hellingraths zu Stefan George, Karl Wolfskehl und weiteren Mitgliedern des George-Kreises sind Gegenstand der Beiträge von Ute Oelmann und Birgit Wägenbaur, die auf der Grund-lage einer Fülle von bislang nicht publizierten Dokumenten aus dem Nachlass Hellingraths ein Bild dieser Konstellation in neuer Differen-ziertheit zeichnen. Werfen die insbesondere bei Oelmann vorgestellten Dokumente auch ein neues Licht auf Hellingraths Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs, zeigt der Beitrag von Jörg Schuster wie dieser auch in die Beziehung von Hellingrath und Rainer Maria Rilke hineinspielt, um im Weiteren die Bedeutung der beiden Dichter füreinander in ihrem poetischen Schaffen zu eruieren.

    Die dritte Abteilung Philosophie und Wissenschaft eröffnet Ger-hard Kurz mit einem Beitrag zum Philologen und Herausgeber Nor-bert von Hellingrath, dessen zentrale Begrifflichkeiten in der Ästhetik und Poetik der klassischen Moderne um 1900 situiert werden. Jutta Müller-Tamm führt dies im Speziellen für die Konjunktur enthistori-sierender Stildualismen um 1900 vor, in die sich auch Hellingraths bekannte Opposition von ›harter‹ und ›glatter‹ Fügung einordnen lässt. Hellingraths weltanschauliche Auseinandersetzung mit der Lebens-philosophie Henri Bergsons und dem Werk Ludwig Klages’ verfolgt Francesco Rossi. Der Beitrag von Yvonne Wübben beschäftigt sich mit Hellingraths Rehabilitationsversuch des Spätwerks Hölderlins vor dem

  • 14 zur einführung

    Hintergrund der zeitgenössischen psychiatrischen Deutung bzw. Ver-urteilung des Spätwerks Hölderlins, bei der es letztlich um die Auto-nomie der poetischen Sprache geht.

    Eine Dokumentation und eine Edition beschließen den Band. Klaus E. Bohnenkamp stellt umfassend die erreichbaren Materialien vor, welche die Begegnung und gegenseitige Wirkung Norbert von Hel-lingraths und Hugo von Hofmannsthals dokumentieren. Dem folgt die erstmalige Edition des von Norbert von Hellingrath im Sommer-semester 1907 in einem Seminar seines späteren Doktorvaters Friedrich von der Leyen gehaltenen Referats Über Verlaineübertragungen von Stefan George (1907), herausgegeben und mit einer Einleitung sowie einem Kommentar versehen von Maik Bozza.

    Die Herausgeber haben vielfältig Dank zu sagen: der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, die durch eine großzügige fi-nanzielle Unterstützung sowohl die Tagung »Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne« (23.-24. September 2011) im Deutschen Literaturarchiv Marbach als auch die Drucklegung des Bandes ermöglicht hat; dem Direktor und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deutschen Literaturarchivs Marbach für die ge-währte Gastfreundschaft und Unterstützung; dem Hölderlin-Archiv der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, und dem Stefan-George-Archiv in der Württembergischen Landesbibliothek für die äußerst entgegenkommende Kooperation, insbesondere auch für die Genehmigung zum Abdruck der Dokumente im vorliegenden Band. Christine R. Braun, Alina Buchberger, Pascal Freitag, Birgit M. Körner und Sebastian Lübcke (Gießen), Sung Un Gang, Grischka Grauert und Lina Rieth (Bonn) sowie Xenia Hüttenberger und Olga Katharina Schwarz (Berlin) danken wir für die engagierte Mitarbeit am Zu-standekommen dieses Bandes, dem Verlag und den Herausgebern des Castrum Peregrini. Neue Folge, für die Aufnahme des Bandes in ihre Reihe.

    Jürgen Brokoff, Joachim Jacob und Marcel LepperBerlin, Gießen und Marbach im April 2014

  • Hellingrath – Hölderlin – George

    Bernhard Böschenstein im Gespräch mit Ulrich Raulff und Jürgen Brokoff1

    Jürgen Brokoff: Meine Damen und Herren, wir freuen uns sehr, in der nächsten Stunde ein Gespräch mit Bernhard Böschenstein führen zu können. Man darf mit Fug und Recht sagen, dass er zu den wichtigs-ten und bedeutendsten Hölderlin-Forschern des 20. Jahrhunderts ge-hört. Er sei in aller Kürze vorgestellt: 1931 in Bern geboren, studierte Bernhard Böschenstein ab 1950 Germanistik, Französische und Grie-chische Literatur in Paris, Köln und Zürich. Er hat bei Emil Staiger über Hölderlins Rheinhymne promoviert. Von 1958 bis 1964 war er Assistent bei Walther Killy, 1964 Gastdozent an der Harvard Uni-versity und Extraordinarius in Genf, und dann ab 1965 Ordentlicher Professor für Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Genf. Von 1967 bis 2004 war er Mitherausgeber des Hölderlin-Jahrbuchs, und wenn ich eben gesagt habe, dass er zu den profiliertesten Hölderlin-Forschern des 20. Jahrhunderts gehört, dann ist das gewissermaßen nur die halbe Wahrheit: Denn Böschenstein hat ebenso sehr über die Lyrik der klassischen Moderne gearbeitet und publiziert. Stellvertretend seien nur zwei Autorennamen ge-nannt, die möglicherweise auch in unserem heutigen Gespräch eine Rolle spielen werden: Rainer Maria Rilke und Paul Celan. Bernhard Böschenstein hat darauf Wert gelegt, dass wir schnell in das Ge-spräch einsteigen und wir würden das sehr gerne aufnehmen.

    Ulrich Raulff: Um über Bernhard Böschenstein zu sprechen, habe ich zwei Möglichkeiten: Ich kann biographisch beginnen, das liegt sehr nahe, weil wir natürlich in Ihnen nicht einen papiernen Gelehrten vor uns haben, sondern jemanden, der wirklich aus dieser Welt kommt, aus den Welten kommt, die hier zur Verhandlung stehen. Man muss nur sagen, dass Ihr Pate Wilhelm Stein hieß. Sie sind sozusagen als Georgianer aufgewachsen und haben dann den Weg zu Hölderlin

    1 Das hier dokumentierte Gespräch mit Bernhard Böschenstein wurde unter der Leitung von Jürgen Brokoff und Ulrich Raulff, Direktor des Deutschen Literatur archivs Marbach, während der Tagung »Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne«, im Deutschen Literaturarchiv Mar-bach, 23. und 24. September 2011, geführt. Weitere Gesprächsteilnehmer im dokumentierten Teil waren Klaus E. Bohnenkamp (Stuttgart), Joachim Jacob (Gießen), Mathias Mayer (Augsburg), Gerhard Kurz (Gießen), Ute Oelmann (Stuttgart) und Kurt Wölfel (Bonn).

  • 16 gespr äch

    gefunden. Insofern sind Sie Hellingrath sicher mehrfach und oft auf intellektueller Ebene begegnet. Aber Sie haben auch das Wort vom Hölderlin-Schock geprägt. Gehen wir also noch einmal zurück in diese Jahre, diese unglaublich dichte Zeit, in der alles plötzlich ganz schnell passiert, alles gleichzeitig da ist. Wann ereignet er sich eigent-lich und wohin laufen die Wellen dieses Hölderlin-Schocks?

    Bernhard Böschenstein: Wenn wir die Anthologie von 19022 in die Hand nehmen, dann ist da noch kein Hölderlin-Schock. Da haben wir eine sehr ausbalancierte Auswahl von damals sehr bekannten Gedichten, vor allem aus der Frühzeit und ganz wenig Spätes, eigent lich nur Andenken. Die Anthologie enthält keine einzige der großen Hymnen. Aber das ändert sich dann eben sehr. Ich würde sagen, als Hölderlins Pindar-Übersetzungen zum Vorschein kamen, muss George von dieser ganz ungewohnten Syntax sofort ergriffen worden sein, denn das muss ihn an die Zeit zwanzig Jahre zuvor erinnert haben. George ist in der Fibel ein epigonaler Autor, aber mit den Hymnen fängt wirklich etwas ganz anderes an. Das kann man nur durch den Aufenthalt im Kreis von Mallarmé 1889/90 er-klären. Es ist etwas Einzigartiges, dass ein großer Dichter um sich herum die künftigen großen Dichter seines Landes versammelt. Ute Oelmanns Kommentar zu Tage und Taten in der Gesamtausgabe verdanken wir den Hinweis, dass George in seiner Lobrede auf Mallarmé nicht nur die von ihm übersetzten Hérodiade (Herodias), Apparition (Erscheinung) und Brise marine (Seebrise) behandelt hat und Teile des Gedichts L’après-midi d’un faune, sondern – und das hatten wir alle übersehen – einige ganz kleine Bröckchen von ganz schwierigen, syntaktisch unerhört komplizierten Sonetten. George hat davon nur wenige Muster, fünf sind es etwa. Diese Ge-dichte hat er zweifellos nicht verstanden, genauso wenig wie irgend-jemand sonst damals, denn sie hatten die schwierigste Syntax. Es gibt wohl keine schwierigeren Gedichte in der Weltliteratur als diese. Und erst jetzt sind wir halb auf dem Weg, aber auch nur halb, sie überhaupt verstehen zu können.

    Und dieser syntaktische Schock, der in diesen Zitaten enthalten ist, der wiederholt sich nun analog zwanzig Jahre später vor Hölder-lins Pindar. Um zu sagen, was das Eindruckvollste an diesen Über-setzungen sei, gebraucht Hellingrath den Ausdruck »die gestörte Wortfolge«. Genau dieser Ausdruck scheint mir ganz wichtig, weil

    2 Vgl. Stefan George und Karl Wolfskehl (Hg.), Deutsche Dichtung, Dritter Band: Das Jahrhundert Goethes, Berlin 1902.

  • 17hellingr ath – hölderlin – george

    damit ein Begriff der Dichtung möglich wurde, der damals an sonsten ganz undenkbar war, und auch selbst im George-Kreis muss er sehr blitzartig und neuartig gewirkt haben. Nun möchte ich allerdings zu diesen Pindar-Übersetzungen Folgendes sagen: Wir haben drei Mo-delle von Hölderlin-Übersetzungen aus dem Griechischen, die maß-gebend sind. Wir haben die Pindar-Übersetzungen, die man jetzt ungefähr auf das Jahr 1800 setzt. Man weiß es nie ganz genau. Wir haben zweitens die von ihm gedruckten Sophokles-Übersetzungen, die 1804 erschienen, an denen er aber vorher gearbeitet hat. Und wir haben ja auch die Pindar-Fragmente, die er übersetzt und kommen-tiert hat. Interessant ist nun dieses: Die Pindar-Fragmente sind ab-solut nicht so übersetzt wie die Pindar-Hymnen von 1800, sondern in einer Sprache, die Hölderlin auch sonst in seiner eigenen Dichtung handhabt. Das heißt, es ist eine kühne und eigene Me trisierung, Rhythmisierung, aber nicht die der wörtlichen Übernahme, wie er sie um 1800 gemacht hat. Nun scheint mir Folgendes bedeutsam: Uvo Hölscher war von uns Hölderlin-Forschern außer Albrecht Sei-fert derjenige, der sich in mehreren Vorträgen und Kolloquien am intensivsten mit der Frage ›Hölderlin und Pindar‹ befasst hat. Er war eigentlich zur Überzeugung gekommen, dass das ein Experiment von Hölderlin sei, nicht ein Text, der gedruckt werden sollte, sondern eine extreme Übung, die Hölderlin sich abverlangt und die ihn dann natürlich in seinem eigenen Dichten sehr stark beeinflusst hat. Die Produktion nach dieser Pindar-Übersetzung ist nicht mehr dieselbe wie vorher. Nur: Wir müssen sagen, es gibt in Hölderlins eigener Dichtung diese Art von Wortfolge nicht. Wir finden keine Verse wie in der zweiten Olympie, wo es heißt, »Er duldend die vieles mit Muth / Das Heilige hatten«. Das gibt es nie bei Hölderlin. Also müs-sen wir wirklich unterscheiden zwischen dem, was er in diesem Fall als Experiment geleistet hat, und dem, was er dann in seiner eigenen, verantworteten Dichtung geleistet hat. Im Fall der Sophokles-Über-setzungen ist es anders. Die große Kühnheit der sophokleischen Chöre ist eine von ihm gewollte und verantwortete. Da steht er ganz dahinter. Ich finde, diese Differenz müssen wir im Auge behalten.

    Raulff: Wieweit sieht Hellingrath diese Differenz denn auch schon?

    Böschenstein: Für Hellingrath war zunächst einmal der Kontakt mit dieser Übersetzung ein so produktiver Schock, dass er auf das Thema, das ich jetzt angeschnitten habe, nicht eigentlich eingeht. Es war für mich sehr aufschlussreich, dass er Friedrich von der Leyen vorschlug, über Sophokles zu promovieren. Und von der Leyen war

  • 18 gespr äch

    ja damit völlig einverstanden. Nur fand er ja inzwischen den Pindar, und dann haben wir in den Prolegomena eine ausführliche Ge-schichte der deutschen Pindar-Übersetzungen vor Hölderlin. Aus dieser Geschichte geht hervor, dass es da zwar bedeutende Men-schen wie Humboldt gegeben hat, aber auch manche, die eigentlich keine wirklich poetische Ader hatten, die also den Pindar in einer eher äußerlichen Rhetorik wiedergaben. Wir haben in diesen Prole-gomena überall Beispiele davon, von einer gewissen Trockenheit, von einer gewissen Ledernheit. Demgegenüber steht natürlich der Schwung, den wir bei Hölderlin finden und der bei einigen Stro-phen besonders großartig ist. Ich nenne den Schluss der achten Py-thie, wo es heißt: »Tagwesen. Was aber ist einer? was aber ist einer nicht?«, diese ganze Strophe ist hinreißend und so auch die vier-zehnte Olympie, die nur zwei Strophen enthält. In diesen Beispielen versteht Hölderlin schon, in dieses Verfahren etwas von seiner dich-terischen Bewegung hineinzubringen, während bei den Pythischen Oden manche etwas unter dem Stoff, der Stofflichkeit leiden. Die Mythen, die da eingestreut sind, beanspruchen viele Strophen, und da ist Hölderlin weniger bei sich selbst, würde ich sagen.

    Brokoff: Ich würde gerne noch einmal auf das zurückkommen, was Sie zu George und seiner Stellung zu Mallarmé ausgeführt haben, dass George bei Mallarmé erste Erfahrungen mit einer Syntax von un-vergleichbarer Kühnheit gemacht hat. Dass dies zwanzig Jahre spä-ter bei der Wiederentdeckung bzw. Neuentdeckung der Hölderlin-schen Pindar-Übersetzungen eine Rolle spielt, auch und gerade bei George, ist interessant und bringt mich auf eine Frage. Wie ist denn das Phänomen Hölderlin, sei es das dichterische Spätwerk, seien es die Übersetzungen, in der Konstellation zu Hellingrath und George einzuschätzen? Es gibt ja bekanntlich die Äußerung, dass Hel-lingrath Georges Frühwerk, also die Mallarmé-Phase, wenn ich das so formulieren darf, ganz und gar nicht geschätzt hat. Hellingraths George-Erlebnis fängt erst mit dem Siebenten Ring an. Wie passt das mit dem, was Sie gerade eben zu Mallarmé und dem Kontext der Literatur der Jahrhundertwende gesagt haben, zusammen?

    Böschenstein: Hellingrath hat, wie wir wissen, bei von der Leyen eine Seminararbeit über Georges Verlaine-Übersetzung geschrieben.3 Dort sagte er: George ist ein Techniker. Und später sagte er, er habe ihn von Der Teppich des Lebens an intensiver gelesen, aber eigent-

    3 Siehe die Edition von Maik Bozza im vorliegenden Band.

  • 19hellingr ath – hölderlin – george

    lich seien es die Zyklen Zeitgedichte und Gezeiten im Siebenten Ring gewesen, die ihn schließlich am meisten gepackt hätten. Das ist vielleicht merkwürdig, weil George ja in den Zeitgedichten ein rhetorischer Meister und manchmal auch, würde ich sagen, ein Lehrmeister ist. Weit weniger ist er es in anderen Teilen des Sieben-ten Rings, zum Beispiel in den Liedern. Die aber erwähnt Hel-lingrath interessanterweise nicht. Das Wichtigste bei dieser Begeg-nung bzw. Konstellation Hellingrath – Hölderlin – George ist für mich, wenn es um George geht, dass George seiner Lobrede die großen Hymnen voranstellt, nämlich Der Mutter Erde und Am Quell der Donau und dann vor allem Germanien, aber auch einige Bruchteile aus der späteren Zeit der Fragmente, und damit sagt, dass es diesen Hölderlin gibt, von dem er nichts wusste im Jahre 1902. Er kommt nie vor in seiner Anthologie und plötzlich ist er der Maß-gebende. Das scheint mir deswegen so wichtig, weil für uns alle dann Hellingraths vielzitiertes Wort von »Herz, Kern und Gipfel des Hölderlinischen Werkes« zu Beginn des vierten Bandes der Höl-derlinausgabe die Umwertung Hölderlins mit sich bringt.

    Über das Verhältnis zu George selbst aber bin ich erstaunt, denn für uns heute sind Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal, die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängen-den Gärten und vor allem Das Jahr der Seele, aber auch Der Teppich des Lebens die dichterisch möglicherweise überzeugendste Partie des gesamten Werkes Georges. Im Siebenten Ring gibt es manche Teile, die auch dazu gehören, aber nicht alle. Es gibt Teile, die wir heute nicht mehr akzeptieren. Im Gedichtband Stern des Bundes sind wir geneigt, eine Einheit, eine Geschlossenheit anzuerkennen, aber sie fehlt zum Beispiel im Neuen Reich. Wir sind dort eher ent-täuscht über die zufällige Art, wie die Sammlung aus einer so lan-gen Zeitspanne schließlich noch zu einem Band zusammenkommt. Mit anderen Worten: Die Akzentuierung der poetischen und der weniger poetischen Teile des Werkes würde sich dann nicht decken mit derjenigen, die Hellingrath formuliert hat.

    Ute Oelmann: Das Entscheidende für Hellingrath war, was uns viel-leicht noch unbegreiflicher ist, die Maximin-Dichtung, wegen der religiösen Dimension und wegen des Mythos. George wurde für ihn mit der Maximin-Dichtung endlich zum religiösen, zum mythi-schen Dichter. Das ist das alles Entscheidende.

    Kurt Wölfel: In dem Buch von Edgar Salin gibt es gleich zu Anfang die Stelle, wo er in Heidelberg zum ersten Mal George sieht. George

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    kommt zur Seitentür herein. Es ist eine so entsetzliche Beschrei-bung, dass es mir absolut unbegreiflich ist, wie so jemand dann ein Georgianer werden konnte. Und ehrlich gesagt, diesem Menschen bin ich im Leben nie wieder begegnet. Er beschreibt George auf eine Art und Weise, dass er nur als Schulmeister in Erscheinung tritt. Und dann kommt Hellingrath dazu, der sich wie üblich verspätet habe, schreibt Salin. Hellingrath kommt hinzu und Stefan George mäkelt. Er mäkelt an allem herum, an dem, was er sagt und wie er es sagt, und dann über das Kompromisslerische der Vorrede zum fünften Band der Hölderlin-Ausgabe. Also, ich glaube, Hellingrath mochte ihn persönlich bestimmt nicht.

    Oelmann: Das war ja nicht die erste Begegnung der beiden. Er hatte George bereits vorher getroffen. Dies ist Hellingrath gezeichnet aus Salins Sicht.

    Böschenstein: Für mich ist das Buch von Salin unerträglich, weil er als Dichter nur Homer, Vergil, Dante, Shakespeare, Goethe und George gelten lässt. Sonst gibt es gar keine Dichter. Alle anderen sind nichts. Und vor allem im 20. Jahrhundert gibt es nur George. Das ist absolut grotesk. Salin ist für mich eine Karikatur. Aber: Dort steht, und das ist nicht unwichtig, dass George recht pedantisch umgeht mit Hellingrath, indem er ihn einen Kauz nennt. Und dann sagt er zu ihm: »Sie sollten nicht die Orthographie von Hölderlin einfach so übernehmen.« Und dann eben das sogenannte Kompromisslerische. Dieses Schulmeisterliche, das hatte George oft. Es gibt das böse Wort, von George selbst ausgesprochen, »das Liebste, was ich tue, ist drillen«. Und ich weiß etwas zu sagen, weil ich die Freunde Georges kannte, und wenn ich damals selber etwas kritisierte, etwa bei Boehringer, dann war man selbst der Schulmeister, weil man die Schulmeister schulmeisterte. Aber das ist ein anderes Kapitel.

    Es sind sehr viele Dinge zu sagen. Ich finde die Begegnung zwi-schen Hellingrath und Rilke so wichtig, weil George Letzteren auf eine für mich unerträgliche Weise geringgeschätzt hat, denn Rilke ist für mich ein sehr großer Dichter, so wie für Musil. Für Musil ist er ein ganz großer Dichter, was ich absolut verstehe. Wenn es nun so ist, dass aus der Lektüre, die ihm durch Hellingrath vermittelt wurde, Rilke dann ein Gedicht wie An Hölderlin im September 1914 schreibt, ist mir das aus folgendem Grund eminent wichtig: Hellingrath sagt im Kommentar seiner Ausgabe, Brod und Wein sei das wichtigste Gedicht Hölderlins. Aus diesem Gedicht könne man das Welt- und Kosmosdenken Hölderlins begreifen. Und genau die-

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    ses Gedicht spiegelt sich nun in Rilkes Gedicht an Hölderlin. Dabei ist es fast kongenial, es ist einfach viel knapper, viel kürzer, es ist nur eine Art Essenz. Aber das Wesentliche hat er verstanden: das Prozessuale. In Hölderlins Gedicht Brod und Wein ist das absolut hinreißend, wie hier die Bewegung der Geschichte von der Nacht her diese neun Strophen durchzieht. Das ist in der gesamten Welt-literatur einzigartig. Und dass Rilke das verstanden hat und selber nachgestaltet, das ist wieder ein Zeichen seiner großen Empfäng-lichkeit. Ich finde es sehr schön, dass Hellingrath die Selbständigkeit besaß, nicht wie die sektiererischen Freunde des Dichters nur die Dichter zu mögen, die George mochte, sondern dass er die Freiheit hatte, zu sagen, das ist ein großer Dichter und was George dazu sagt, spielt keine Rolle. George hat gar nie gewusst, dass Hellingrath Kontakt mit Rilke hatte. Das wurde ihm verschwiegen. Jetzt gibt es noch einen Dichter, den die um George versammelten Menschen, die Georgianer, immer aussparen und der für mich der überhaupt wichtigste Gefolgsmann Hölderlins ist, nämlich Georg Trakl. Und Trakl sagt in einer Lesart, er sei Ikarus, und nennt Hölderlin mehr-mals Dädalus. Er ist also der Sohn Hölderlins. Das scheint in mehre-ren Trakl-Gedichten auf in einer absolut überzeugenden Weise. Ich vertrete deshalb gegen alle Georgianer die Meinung, dass der wich-tigste Hölderlin-Nachfolger Trakl ist. Den gibt es im George-Kreis zwar überhaupt nicht, aber Rilke hat ihn wahrgenommen. Rilke hat in ein paar wichtigen Sätzen die Größe von Trakl festgehalten.

    Brokoff: Die Tatsache, dass im George-Kreis andere gleichrangige Dichter nicht anerkannt werden, ist ein ganz wichtiger Punkt beim späten Max Kommerell, nach seiner Ablösung aus dem George-Kreis. In den Notizen zu George und Nietzsche schreibt Kommerell, dass ihm sehr schnell klar geworden ist, dass diese Dichtung nicht ersten Ranges ist, und er geht sogar soweit, dass er sagt: »Dichtung Nebensache.« Ohne Verb: »Dichtung Nebensache«. Und Kommerell sagt 1930 weiter, dass George die große Gebärde, die »Lebens-gebärde« brauche.

    Sie haben Hellingraths Seminarvortrag über Georges Verlaine-Übersetzung genannt, da steht wörtlich, wenn ich zitieren darf: »George braucht die große Gebärde, die Maske und den Kothurn. Die große Gebärde widerstrebt allem Kleinen, allem Scherz, aller Selbstironie; die Maske ist kalt und unbewegt; auf Kothurnen kann man nicht tanzen.« Hier äußert sich unbestritten ein George-kriti-scher Hellingrath, vor seiner Beschäftigung mit dem Siebenten Ring, vor der Beschäftigung mit der Maximin-Dichtung. Hier zeigt

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    sich zugleich eine gewisse Eigenständigkeit. Ich sehe eine Parallele zwischen Kommerell nach seiner Zeit bei George und einer Selb-ständigkeit bei Hellingrath. Ist nicht Hellingrath jemand gewesen, der konsequent einen gewissen Abstand, eine gewisse Distanz zu den Georgianern beibehalten hat, was dann eben auch dazu führt, dass er Rilke den ihm gebührenden Rang zuerkannt hat?

    Böschenstein: Das würde ich durchaus bestätigen. Bei Verlaine muss ich allerdings sagen, dass es eine Weile her ist, dass ich Hellingraths Arbeit dazu gelesen habe. Die Verlaine-Übersetzungen von George sind wirklich sehr geglückt, das muss man offen zugeben. Sie ge-hören zum Besten, was er gemacht hat. Die Selbständigkeit Hel-lingraths hätte sich zweifellos, wenn er länger gelebt hätte, noch sehr deutlich gezeigt. Er war natürlich jetzt so in der Hölderlin-Arbeit drin und nachher kam der Krieg, dass wir eigentlich die Entwicklung in diese Richtung nicht mehr so richtig kennen können. Aber ich stelle mir vor, dass es später einen anderen Hellingrath hätte geben können, der Ablösung von George vergleichbar, die wir bei Komme-rell fanden, der dann ja auch sehr schnell über Hofmannsthal schrieb, und zwar in einer Zeit, wo Hofmannsthal im George-Kreis nicht mehr die Geltung des großen Dichters hatte. Das ist ja auch etwas Trauriges, dass, sobald ein Bruch zwischen George und Hofmanns-thal besteht, plötzlich Hofmannsthal so abgewertet wird, dessen Bedeutung wir nun ja doch immer wieder bestätigt finden.

    Übrigens muss man auch zur Ehre der beiden Dichter Rilke und Hofmannsthal sagen, dass sie George immer respektiert haben. Ne-ben sehr positiven Äußerungen beiderseits bis zuletzt gibt es natür-lich Kritik, aber die ist sehr maßvoll. Zum Beispiel fragt Hofmanns-thal: »Wer ist eigentlich der Größere, George oder ich?« und dann sagt er, »ich weiß es nicht, aber George lässt zu viel aus«. Und diese Bemerkung finde ich wirklich interessant, denn George war so aus-schließend, immer mehr und immer mehr. George hat von den zeitgenössischen großen Dichtern niemand mehr wahrgenommen. Nicht einmal mehr Paul Valéry, der ihm ja hätte in mancher Hin-sicht zusagen müssen. Ich habe auch gehört, dass er kein positives Verhältnis zu Walt Whitman hatte. Ich finde es unbegreiflich, aber es ist offenbar so gewesen. Man weiß von keinem großen Dichter der gleichen Zeit und erst recht noch später, den George anerkannt hätte. Das finde ich schon sehr bedauerlich. Aber dass seine Jünger, die nachher in unsere Zeit hineingelebt haben, diese sektiererische Ausschließung in gleichem Maße mitgemacht haben, Boehringer, Morwitz usw., finde ich noch beklagenswerter.

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    Oelmann: Man muss vielleicht noch hinzufügen, dass auch die Rede vom ›Kothurn‹ im Kontext von Hellingraths Auseinandersetzung mit Georges Übertragungen zu sehen ist. Hellingrath kommt zwar zu dem Schluss, dass die Verlaine-Übertragungen Georges die besten sind, aber selbst in ihnen findet er zu viel vom ›Dichter‹.

    Klaus E. Bohnenkamp: Es gibt auch eine Begegnung von Rilke und Hellingrath im Englischen Garten, da sind sie spazieren gegangen. Rilke hatte Hellingrath gebeten, eigene Gedichte mitzubringen, und dann haben sie auf der Bank gesessen und Rilke hat Hel-lingraths Gedichte gelesen. Darüber schreibt Hellingrath dann an seine Tante Elsa Bruckmann: »Du siehst wie fern ich dem Kreise bin.« Damit meint er den George-Kreis.

    Raulff: Der Griechenkult der Deutschen im 20. Jahrhundert hat tat-sächlich auch politisch unselige Folgen gehabt. Wenn man sieht, wie zum Beispiel Heidegger Hölderlin rezipiert, nimmt er doch im We-sentlichen sehr viel aus der Hand Georges und aus der Hand Hel-lingraths, wenn nicht alles. Das Ganze, was Heidegger nimmt, ist in erster Linie doch der vaterländische Sänger, der vaterländische Se-her und Künder. Das gipfelt in der Festschrift von 1943 zum Anden-ken des 100. Todestages Hölderlins. Ich will jetzt nicht von Schuld reden, das ist sicher die falsche Kategorie hier, aber muss man das nicht auch zurückführen auf Hellingrath? Hat Hellingrath dieser Rezeption Hölderlins nicht auch den Boden bereitet?

    Böschenstein: Es sind mehrere Jahrzehnte vergangen zwischen Hel-lingraths Tod und dieser Rede von Heidegger in der Nazizeit. Ich würde meine Anklage jetzt nur auf Heidegger richten. Denn ich finde es unentschuldbar, dass Heidegger die braunen Frauen in der Mitte von Andenken wegwischt und ersetzt durch eine Ode, den deutschen Frauen dankend, an dieser Stelle, wo er von den braunen Frauen hätte reden sollen. Das heißt, dass Heidegger ein rasender Rassist war. Andenken ist ein Gedicht, das die Fahrt über den Ozean nach Amerika beschreibt. Da werden die Indianer erwähnt und Heidegger sagt, es seien die Urgermanen. Er kehrt also alles um. Er sagt, die Kolonie bedeute die Rückkehr zur Mutter. Genau das Gegenteil dessen, was Hölderlin sagt. Für Hölderlin ist die Kolonie der Gang weg von der Mutter und bei Heidegger gibt es immer nur die Rückkehr zur Mutter. In Heimkunft gibt es diesen wunderbaren bacchantischen Aufschwung zu Beginn, bei Heidegger ist es nur die Rückkehr zu den Seinen. Kein Wort davon, dass am Anfang der

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    Adler des Zeus eine neue Wende bringt und dass der bacchantische Zug den Morgen einleitet. Es wird verschwiegen. Wir haben in der Wanderung den herrlichen Vers »Ich aber will dem Kaukasos zu!«. Heidegger verschweigt diesen Vers. Es muss immer nur Deutsch-land sein, immer nur die Rückkehr zu den Seinen, immer nur das Vaterländische und beim Gedicht Andenken ist das absolut grotesk. Hölderlin sagt, er möchte ein Seeheld sein, wie Vasco da Gama. Er hat diesen Kolumbus-Hymnus geschrieben, er möchte ausfahren, weit weg. Das absolute Gegenteil dessen, was Heidegger erzählt. Dass dann noch in Frankreich dieser Heidegger-Kult entstanden ist, ist für mich das Allergroteskeste. Wie kann ein Offizier der Ré-sistance wie René Char sich dem beugen und demütige Briefe an Heidegger schreiben? Wie ist das alles möglich? Einfach unver-ständlich.

    Aber zu dem Griechenkult muss noch etwas gesagt werden. Heid egger hatte mich gebeten, das Gedicht Griechenland mit ihm zwei Tage lang zu studieren. Nun meinte er, dieses Gedicht bezöge sich auf Griechenland. Es bezieht sich gar nicht auf Griechenland. In dem Gedicht Griechenland ist nie von Griechenland die Rede. Aber an einer Stelle ist von »großen Gesetzen« die Rede. Ich sagte zu Hei-degger, das erinnere an den zweiten Böhlendorff-Brief, die Beschrei-bung der griechischen Kunstwerke, die Hölderlin im Louvre ge-sehen hat.

    Heidegger hat alles, was wir damals besprachen, in diesen Text hineingeschrieben. Er bezieht dann die ganze Geschichte mit den »großen Gesetzen« auf den gesamten Böhlendorff-Brief, den er ins-gesamt zitiert. In diesem zweiten Böhlendorff-Brief spricht Hölder-lin von den Gesetzen der griechischen Kunst angesichts klassischer und nachklassischer Skulpturen. In derselben Zeit hat Hölderlin aber die Ode Tränen gedichtet. In dieser Ode ist Griechenland ein Ruinenfeld. Dieses Ruinenfeld will Heidegger nicht sehen. Er hat dann aber doch in der Folge unseres Gespräches aus dem Gedicht Tränen zitiert und so mehrfach einen Vortrag gehalten, auch in Stuttgart. Dort sagten die Leute zu Heidegger, da stimme ja etwas nicht. Dieses Gedicht Tränen passe ja gar nicht zu dem sonstigen Vortrag. Heidegger machte dann zusätzliche Anmerkungen, um zu erklären, dass das Absicht sei, aber es wird absolut nicht klar, wieso das zusammengehören soll. Denn das gehört eben nicht zusammen. Heidegger wollte nicht wahrhaben, dass Hölderlin in der letzten Überarbeitung von Brod und Wein und in diesen späten Fragmen-ten eine Kritik an Griechenland geübt hat. Dass er Paulus zitiert, dass plötzlich der Tempel und die Skulpturen der Griechen ab-

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    gelehnt werden, das ist ein neues Element, das hat er nicht mehr ausgeführt, sondern in zwei Strophen von Brod und Wein nur skiz-ziert. Heidegger wollte davon gar nichts wissen.

    Joachim Jacob: Hellingrath spricht in der Vorrede zum vierten Band seiner Hölderlin-Ausgabe davon, »dass heute allein von allen die deutsche Sprache den Alten sich vergleichen darf«. Einerseits scheint mir der Philologe Hellingrath viel zu klug und differenziert, um einen solchen deutschen Kulturvorrang tatsächlich zu behaupten, andererseits ist diese Rede von der Sonderstellung der deutschen Sprache doch in die enorm aufgeladene Welt der Vorkriegsbegeiste-rung hineinformuliert?

    Böschenstein: George sagt im Stern des Bundes »Des edlen edelstes gedeiht nur hier.« Hier in Deutschland. George war der Überzeu-gung, Heidegger auch, dass das Deutsche etwas absolut Auserwähl-tes sei. Heidegger schrieb mir Karten, »Sie sollten nicht in Genf sein«, zum Beispiel. Weil das einfach nicht deutscher Boden ist. Dieses Deutschtum hat natürlich in der Zeit des Ersten Weltkrieges große Gruppen von Intellektuellen erfasst. Und ich muss sagen, so-sehr ich Hellingrath auch verehre, die beiden Vorträge mag ich nicht besonders, weil die wirklich aus diesem Klima kommen, aus dem Umfeld des Salons Bruckmann. Gerade hat uns Herr Bohnenkamp den Kommentar zur Biographie der Elsa Bruckmann geliefert und wir wissen jetzt, dass sie eine sehr enge Freundschaft zu Hitler bis zu dessen Tod hatte. Wir wissen, dass Hitler ihr unmittelbar vor seinem Tod noch zum 80. Geburtstag gratuliert hat. In Genf habe ich eine Dame gekannt, die in den Zwanziger Jahren bei Frau Bruck-mann eingeladen war. Sie berichtete mir, wie, während sie zum Tee dort war, aus dem Hintertürchen Hitler entschlüpfte. Das ist natür-lich für diesen Salon Bruckmann schlimm. Wenn ich dann bei Herrn von der Leyen lese, was für eine herrliche geistige Welt sich dort einfand, ohne ein einziges Wort über die Hitler-Bindung, halte ich das für verlogen.

    Bohnenkamp: Hier muss ich einen kleinen Einschnitt machen. Die Verbindung zwischen Elsa Bruckmann und Hitler findet erst 1923 statt. Sie hat Hitler im Juni oder August in Landsberg besucht. An-schließend ist sie nach Bad Aussee gefahren und hat Hofmannsthal darüber berichtet. Der erste Besuch Hitlers im Hause Bruckmann fand dann am 23.12.1923 statt. Und der Salon vor 1923, also von 1899-1920, war natürlich ein ganz anderer als der nach 1923. Auch

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    die Atmosphäre scheint mir anders gewesen zu sein. Wir wissen aus Erinnerungen, dass dort kaum politische Sachen zur Sprache ka-men. Es wurde über Dichtung, über Kunst geredet. Rassistische, nationalistische und antisemitische Theorien spielten dagegen, im Inneren dieses Salons, eine relativ geringe Rolle.

    Böschenstein: Deshalb möchte ich Hellingrath davon auch völlig freisprechen. Aber das hindert nicht daran, dass diese Tante, die Hellingraths Hölderlin-Vorträge 1915 organisiert hat, einfach mit ihrem deutschnationalen Impetus doch etwas mit der Atmosphäre zu tun hat.

    Bohnenkamp: Dieser deutschnationale Impetus lag in der ganzen Fa-milie. Elsa Bruckmanns Vater war absolut deutschnational. Er war österreichischer Leutnant in der österreichischen Armee, und als dann 1866 der Österreichisch-Preußische Krieg ausbrach, hat er sich sofort in den Ruhestand gemeldet, weil er nicht auf seine Landsleute schießen wollte. 1870/71 hat er sich wieder in den Dienst begeben, um gegen das böse Frankreich zu kämpfen. Die Kinder sind in die-sem deutschnationalen Bewusstsein aufgezogen worden, sie konn-ten noch nicht lesen, konnten aber die Wacht am Rhein auswendig und zogen mit schwarz-weiß-roten Fahnen durch die Schule. Da gab es dann auch eine Gegenbewegung, die mit weiß-blauen Fahnen von der Wittelsbacher Seite her zu Felde zog, und es kam zu Kämpfen. Der Vater hat in Bruckmanns Leben eine ungeheuer tiefe Rolle ge-spielt. Ihre Mutter kam vom Österreichisch-Böhmischen, reagierte viel sanfter darauf und sie hat sich, soviel wir wissen, nie darüber ausgelassen. Sie hat das ganze Leben in diesem Haus in die Hand genommen. Der Vater war ein Lebenskünstler, er hat nie gearbeitet, er hat sich nur gefreut am Leben und an der Natur und hat seine Kinder erzogen, aber eben ganz stark in diesem deutschnationalisti-schen Geist. Das ist die tiefe Prägung. Elsa Bruckmann schreibt noch 1927 oder 1928 an den Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha, der später SS-Obersturmbannführer wurde, dass es ihre einzige Triebfeder sei, Deutschland im Sinne des Deutschnationalen zu dienen und die Schmach von Versailles auszumerzen. Das ist ein ganz großes Trauma für sie selber gewesen, neben dem Tod Hel-lingraths sicher das größte. Sie schreibt an den Herzog, »denken Sie nicht, trotz meines fremdländischen Geburtsnamens, dass ich nicht eine deutsche Frau bin. Ich bin eine deutsche Frau, mein Vater war ein deutscher Mann«. Das ist der geistige Umkreis, in dem sie auf-gewachsen ist und von dem sie sich nie befreit hat.

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    Böschenstein: Und Georges Lobrede auf Hölderlin endete mit dem Satz: »Hölderlin ist der eckstein der nächsten deutschen zukunft […].«

    Gerhard Kurz: Ich würde gerne noch einmal auf die Frage nach der möglichen ideologischen Bedeutung Griechenlands zurückkom-men. Ich finde, dass Hellingrath hier vergleichsweise noch zurück-haltend ist. Um 1800 hat man die ›Grille‹, wie Wilhelm von Hum-boldt es selbst nannte, einer Wesensverwandtschaft der Griechen und Deutschen verfolgt. In der philologischen Welt hielt sich diese Grille bis ins späte 19. Jahrhundert. Sie wird von Hellingrath nicht aufgenommen, er ist da viel differenzierter. Er sagt, dass Hölderlins Sprache der Übersetzung der Diktion von Pindar kongenial ist. Er sagt aber nicht, dass die deutsche Sprache denselben Rang hat oder der griechischen gleich ist.

    Ein anderer Punkt ist, dass es schon bei unseren Klassikern diese Bevorzugung Griechenlands als Modell gegenüber Rom gibt. Das Modell Rom – das hieß zum Beispiel, wie verwaltet wie kritisiert, wie kontrolliert, wie verändert man Macht – spielt in der deutschen Tradition seit der Klassik, Schiller ausgenommen, nie dieselbe Rolle wie Griechenland. Während sich die Französische Revolution weni-ger an Griechenland orientiert, sondern an Rom, orientieren sich die Deutschen an Hellas. Mich hat immer gewundert, warum Hölder-lin, der eigentlich dafür einen Blick hatte, diesen blinden Fleck wei-terzutransportieren gewillt war. Er hält sich durch bis ins 20. Jahr-hundert. Es gibt einen Aufsatz eines Schweizer Publizisten, Walter Rüegg, (»Cicero, Deutschland und der europäische Mensch«), der 1944 (!) sagt, das Unglück der Deutschen sei, nicht an das Rom Ciceros, sondern an Griechenland geglaubt zu haben. Das ist nicht das Problem Hellingraths. Das ist die Problematik einer ganzen Wirkungsgeschichte. Wenn man Hellingrath vergleicht mit ande-ren Äußerungen aus dieser Tradition, dann ist er sehr differenziert, sehr subtil und sehr zurückhaltend. Vielleicht mit Ausnahme dieser beiden Vorträge im Salon.

    Brokoff: Die Frage Griechenland und Rom ist zur damaligen Zeit recht kompliziert. Es gibt in Deutschland, in deutschnationalen Kreisen schon eine Berufung auf die römische Tradition, in einem durchaus problematischen Sinn. Wenn sie an Carl Schmitt denken und an seine Schrift Römischer Katholizismus und politische Form von 1923, so exponiert die Schrift gewissermaßen den Form-Begriff und die Berufung auf Rom im juristischen Sinne. Wie überhaupt Schmitt, aber dies sei nur als Randnotiz vermerkt, sein eigenes Ver-

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    hältnis zu Hölderlin gehabt hat, indem er im Glossarium nach dem Zweiten Weltkrieg den Satz geprägt hat, dass die »Jugend ohne Goe-the (Max Kommerell)« die »Jugend mit Hölderlin« gewesen sei.

    Mathias Mayer: Es hat jetzt ein wenig den Anschein erweckt, als ob Hölderlins Griechenland-Bild quasi klassizistisch zwischen Athen und Rom vermessen würde. Könnte man nicht sagen, dass das Spezi-fische bei Hölderlin eher ist, dass er das Griechische überbietet oder kontrastiert zu einem orientalischen Hintergrund, dass dadurch auch eine kritische Wahrnehmung von Griechenland zum Vorschein kommt? Ist die denn bei Hellingrath irgendwo abgebildet?

    Böschenstein: Dass Sie darauf hinweisen, ist deswegen wichtig, weil wir in Am Quell der Donau ja nun sogar die Araber haben, die arabische Vermittlung der Antike. Wie Hölderlin im Brief an den Verleger Wilmans schreibt, er wolle das Orientalische, das sie (die griechische Kunst) verleugnet und unterdrückt hatte, mehr heraus-heben. Der Orient ist für Hölderlin, glaube ich, wirklich wichtig gewesen. Aber mir ist es bei Hellingrath nicht begegnet.

    Raulff: Rom ist natürlich immer sekundär, Rom ist abgeleitet. Rom ist aber auch die Gesetzeswelt. Von daher ist es kein Wunder, dass Carl Schmitt den starken Rom-Bezug hat.

    Böschenstein: George selber hatte natürlich auch diesen Rom-Bezug. Wir haben das Gedicht Ursprünge. George soll gesagt haben: es ist das ein-zige meiner Gedichte, das programmatisch entstand. Wirklich als Ab-sicht, nicht eigentlich eine Inspiration, sondern etwas, das er sich als Programm vornahm. In ihm ist die Eroberung dieser germanischen Lande durch Rom eins der wichtigsten Zentren. Es ist eigentlich eine Herleitung der eigenen poetologischen Position aus der altrömischen Tradition. Deswegen auch das Gedicht über Trier, über die Porta Nigra.

    Raulff: Man muss immer sehen, dass Griechenland den deutschen Raum sozusagen noch einmal schließen, ihn aber auch öffnen kann. Für Kantorowicz zum Beispiel ereignet sich 1933 eine Öffnung und er öffnet den griechischen Raum auch wieder für den orientalischen, so wie es Warburg getan hat gegen die Winckelmannsche Schließung.

    Man kann natürlich nicht ganz sagen, dass Deutschland die Grie-chen wie die dicke Nase immer im Gesicht trägt. Rom ist, glaube ich, wenn man sich einmal auf die Spurensuche macht – denken sie an die Nazarener, Schnorr von Carolsfeld, ›Der Deutsche war nie deut-

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    scher als in Rom‹ –, auch ein Konstitutivum der deutschen Geistes-geschichte. Weil Rom nicht Ursprung ist, nicht Mythos, sondern immer sekundär, immer abgeleitet, immer schon konstruktiv und konstruiert bzw. konstituiert ist, ist es natürlich auch eine Gegen-welt zu dieser anderen, die zu den Ursprüngen strebt.

    Böschenstein: George soll gesagt haben, er wolle eigentlich nicht nach Griechenland, denn er glaube nicht, dass dort das griechische Wesen noch lebendig sei. Aber er war immer wieder in Italien und sehr gerne und gerade auch in Rom. Auch das ist wiederum wichtig.

    Der Winckelmann-Kult war im George-Kreis sehr deutlich, nicht nur bei Vallentin, sondern überhaupt. George ist der Dichter der deutschen Archäologen einer bestimmten Generation. Die meisten waren Georgianer. Alle haben Winckelmanns Geburtstag als einen Kulttag gefeiert. Wir haben es erlebt mit Karl Schefold in Basel. Aber auch mit Ludwig Curtius in Rom, mit Ernst Buschor in Mün-chen. Ich habe mindestens zwölf georgianische deutsche Archäo-logen gekannt.

    In diesem Zusammenhang hat mich immer interessiert, wie das Verhältnis Georges zur Schweiz war. Er war immer in Basel, er war ein bisschen in Graubünden, ein bisschen im Berner Oberland und später dann im Tessin. Er war nie in Zürich, die Stadt gab es nicht in seiner Welt, er war kaum in Bern und er war kaum je in der franzö-sischen Schweiz. Er sagt sogar, Genf sei, es gibt so einen Ausdruck, eine ›verbuhlte‹ Stadt (wegen der Geschichte mit einer Prostituier-ten, die Goethe in seiner Zweiten Schweizer Reise erzählt und Schiller gegenüber als Erfindung hinstellt). Aber es ist merkwürdig, in Basel hat es einen George-Kult gegeben. Es gibt dort sehr viele George-Skulpturen, mehr als irgendwo.

    Literatur:

    Bernhard Böschenstein, Friedrich Hölderlin: Gedichte – gelesen und erläutert von Bernhard Böschenstein, Amsterdam 2007, Tübingen 22010. Audio-CD.

    Bernhard Böschenstein, Von Morgen nach Abend. Filiationen der Dichtung von Hölderlin zu Celan, München 2006.

    Bernhard Böschenstein, »Frucht des Gewitters«. Zu Hölderlins Dio-nysos als Gott der Revolution, Frankfurt a. M. 1989.

    Bernhard Böschenstein, Leuchttürme. Von Hölderlin zu Celan, Wir-kung und Vergleich, Frankfurt a. M. 21982.