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1 Wechselloses Dasein Notizen zu Erik Saties christlichem Ballett USPUD (mit einer Nachbemerkung zu meiner Orchestration des Stücks) Betrachten wir einen Ausschnitt aus USPUD, dem „christliche Ballett“ in drei Akten von Erik Satie auf ein Libretto von J.P. Contamine de Latour aus dem Jahre 1892. Das rätselhafte und fast völlig unbekannte Ballett USPUD ist ein Stück, bei dem viele Dinge sich nicht ereignen, die sonst in Musik vorkommen, und viele Dinge erscheinen, die es sonst in Musik nicht gibt.

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WechsellosesDaseinNotizen zuErik Saties christlichemBallettUSPUD (mit einerNachbemerkungzumeinerOrchestrationdesStücks)BetrachtenwireinenAusschnittausUSPUD,dem„christlicheBallett“indreiAktenvonErikSatieaufeinLibrettovonJ.P.ContaminedeLatourausdemJahre1892.

Das rätselhafte und fast völlig unbekannte Ballett USPUD ist ein Stück, bei dem vieleDingesichnichtereignen,diesonst inMusikvorkommen,undvieleDingeerscheinen,dieessonstinMusiknichtgibt.

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UndVielesvondem,waserscheint istnichtsoandersalssonst,aberanderscheinbarfalschenStelle,inseltsamneuemZusammenhangodererzeugtfürunszunächstschlichtkeinenZusammenhang.Dasbedeutetnicht,dasseskeinengebenkönnte.AberalleswasesinUSPUDgibt,erscheintzunächstwirklichimSinnevon„Erscheinen“–schlichtundklarundeinfachsoundeinesnachdemanderen.Es ist alswürde Satie inUSPUD gleiche und verschiedeneObjekte auf einemTisch ineinerReiheaufstellen.Musikalisch ergibt sich keine Logik, die die Reihenfolge erklärenwürde, sie erwächstnicht aus den (hier ohnehin meist nur schwach ausgebildeten) „formbildendenTendenzen desMaterials“. Das Stück ist durchgehend seriell in einem ganz einfachenSinn, dennSatiereihtdieObjekteschlichtzueinergroßenSerieauf.Als „Tisch“dienthiereinzigeinTempofaden(très lent“ füralleObjekte),derdasStückunddieObjektedurchzieht.DieDinge,Objekte,dieunsSatiepräsentiert,sindmusikalischaußerordentlichbanal.Essindmeist „objets trouvées“oderseltsamgebastelteObjekteundfastniehatmandenEindruck,dassesvollständigeDinge,Objektesind.DasIrritierendeist,dasssiegrößeroderkleinerseinkönntenundmannichtentscheidenkann,obundwelchederbeidenMöglichkeiten gerade „die Richtige“ wäre. Allen diesen Halbobjekten ist gemeinsam,dasssieungemeineinfachsindoderzumindestso„tun“alswärensieungemeineinfach,bishinzurBanalitätunddarüberhinaus,dennvielesistschlichtzubanal.Daserzeugt-scheinbar paradox - ihre magische Wirkung. Diese Dinge, Objekte werden (uns) vonSatie (auf)gezählt, was ebenfalls an Magie denken lässt, denn die Magie zähltbekanntlichgernundZählenistwomöglichimmernocheinmagischerVorgang.Dinge–objetstrouvéesFastalleDinge,dieSatieverwendet,sindvorgefundeneObjekte.Kaumein„Material“ausUSPUD ist originell in dem Sinne, dass man es zu seiner Zeit nicht woanders findenkönnte. Die wenigen, aber sehr entscheidende Ausnahmen sind dabei unbedingt zubeachtenundentfalteneineenormeWirkung.Dieser„Materialbefund“verbindetUSPUDmitSatiesWerkimAllgemeinen.WelcheDinge„findet“undversammeltSatie?Esgibtein-undmehrstimmigeChoralgesänge,dieseltsammechanistischerfundensind,ziemlichblassUnterhaltungsmusikschnipsel,Backgrundmusikelemente - zumBeispielBegleitungen ohne Melodie (die musique d’ameublement ist nicht weit), leichtfüßigeMarschausschnitte,kleineTrompetensignale,diewieMorsezeichenklingen,pathetischeGesten,dieSatieziemlichverloreninderGegendherumstehenlässt,undeinigesmehr.Undwashatererfunden?WennSatieanmanchenStellenzweiTonartengleichzeitiglaufenlässt,dannverbindetsichVorgefundenesmitdemErfinden.MancheDingedieSatiefindet,sindkaputtunderbelässt und zeigt sie als Kaputtes. Seine Signale kann man nur als demoliert undverbogenbezeichnen.Wie fürdieSurrealistenwarvielleicht fürSatiedasFindeneinquasiheiligerAkt,eineArtEpiphanie.ManstarrtlangeaufeinObjektundhältesfüretwasHöheres,wieAndréBretonundMarcelDuchampunsspäterlehrten.SatiesammeltseineObjekte,stelltsiedannineinerReiheaufundzähltsieauf(wasmanspätergewöhnlichmitZwölftonreihenmacht).AlleindieAbfolgederObjekte inSaties

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Reihung,dasAbzählenbildetdieForm.DieObjekteselbstsagen(fast)garnichtsEigenesdazu.LibrettoDerBlickindiePartiturzeigteineunglaublicheNumerologie.AuchimLibrettowerdendieTiereundHeiligen,dienachundnachauftreten,einzelnaufgezählt.DieseObsession,Persönlichkeiten oder Elemente hintereinander aufzureihen, sowohl im Libretto alsauchinderMusik,verbindetdiebeidenEbenen.RobertOrtledgehatnachgewiesen,dassdie Namen der Personen in Uspud alle aus Primzahlenpermutationen entwickeltwurden, so erhalten sie ganz seltsame Namen, wie Imebitsolep oder Indebude usw.,alles Namen, die es sonst nicht gibt. Ich wage die These, dass Satie die Folge seinermusikalischen Objekte ebenfalls kalkuliert hat undUspud das erste serielle Stück derMusikgeschichte, lange vor Messiaen, Boulez und den bekannten Serialisten, ist. Dennumerischen Beweis bliebe ich dabei schuldig, aber im Folgenden werde ich vieleIndizienversammeln,dasssichderBeweis fastvonselbsterbringtundeskaummehrandersseinkann.Andersgesagt-selbstwenneskeineOrganisationderObjektegäbe,dannverhältsichdasganzStücksoalswäresieda.Satiewäremit dieserHaltung, blicktman einmal über dieGrenzenderMusik hinaus,auchnichtvölligallein.ClaudeLevi-Strausshatdaraufhingewiesen,dassAugusteComteinsbesondereinseinemletztenText,der„Synthèsesubjective“,zueinemVorläuferder„zählenden“ Avantgarden des 20. Jahrhunderts wurde. Comte, der eine Religion derMenschlichkeitimGeistedesHumanismusausgerufenhatundwieeinPapstdieeigenePositivistenkirchegeführthat,folgt(alsMathematiker)inseinemletztenBuchstrengennumerischenVorgaben,diedieTextgestaltregeln.SatieundComteteilendieObsessionder Zahl und den Hang zu religiösen Überhöhung im Rahmen einer sektenartigenGemeinschaft.Undesistnichtunwahrscheinlich,dassSatievonComtesIdeenbewusstoderunbewusstbeeinflusstwurde. ZählenSatiezähltanallenEckenundEndenunddadurchhatdasStücknurEckenundEnden.Wennman das Stück selbst spielt, dann spürtman physisch, dass es uns zumZählenzwingt.Eswirdklar,dassmna,umesrichtigzuspielennichtvomZählenabsehenkannodermuss(wieesdieromantischeTraditiongernevermittelt),sondernassesnurspiel-undaufführbarist,wennmanobsessivzählt.USPUD ist ein Schnipselwerk kurzer Teile, die teilweise selbst wieder Schnipsel vonSchnipseln sind. Das einzig „Ganze“ ist vielleicht die Gesamtkonstruktion, die aberebenfallsdenEindruckerweckt,dasssiekeinGanzes ist, sondernnureineRealisationaufderBasiseinerStruktur(einesstrukturellenVerfahrens),beidemnichtwichtigist,dass man ein „Ganzes“ bekommt und ewig weiter gehen könnte. Womöglich ist derstrukturelleAspektschondas,waswirunsgernals„Ganzes“wünschenwürden.DieseStrukturentwickeltgewisseEigenschaften,gelegentlichbildensichzumBeispiellose Objektpaare oder –Gruppierungen, die jedoch nie über kleine, lokalezusammenhängehinausgehen.InderStrukturinsgesamtgehtesnichtumeinGanzesimSinnevonVollständigkeit,obwohlesSatienatürlich inseinemseltsamenExtremismus(in anderem Sinne) sehr wohl ums Ganze im theologischen Sinne geht. Begriffe wieFragment oder Torso greifen hier überhaupt nicht, denn dann wären alle Elemente

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FragmenteundeinromantischzuvervollständigenderTorsokämenieindenBlick.Satiezeigt kein vollständiges oder unvollständiges Ding - vollständig oder nicht, dasinteressiert ihneinfachnicht.Auchdasistseriell,denndasSeriellehörtprinzipiellnieauf zu zählen. Dieser Aspekt ist (noch) viel offener als ein Serialismus, der sich zumBeispielaufdieZahl12kapriziert.BeiderberühmtenZahl12wirdgleichallesrundundhörtaufzuzählen.12bleibtnicht irgendeineZahl, sondernwirdsofortzur1undwirgeraten sofort in das Spiel von höheren Zusammenhängen. Saties Serialismus ist indieserHinsichtvielradikaleralsderunsbekannteSerialismus,der60JahrespäterunterdiesemNamenerscheint.SeinwahrerunderschreckenderSerialismusistendlos,weilernichtaufhörenkannzuzählen.12oderwasauchimmeristfürihnkeineGrenze,weilerdasWortGrenzenichtkennt.Notwendigbleibtdannalles,wassichzeigt,nureinAusschnittunderzähltdavon,dassesimmerweitergehtundweitergehenmuss,weitergehtundnieankommt.Es scheint als komponierte Satie den Hörer damit in die Position von EinsteinsbewegtemBeobachter,denn,daesnieeinGanzesgibt,werdenwirselbstinBewegungversetzt(oderunsdieserbewusst).NurwennwirunsnichtbewegenwürdenwäreesunsmöglichunsderIllusionhinzugebeneinGanzeszuerkennen,etwaszuüberblicken.Wennwirunsselbstbewegen,dannwerdenwirnieeinGanzessehen,weildieeigeneBewegungunsständigzuetwashinundvonetwaswegführt,wassichobendreinselbstbewegt.UndSatiezeigt,sostatischunsseineObjekteaucherscheinenmögen,dassderStillstandeineIllusionist.Der bewegte Beobachter – das kann auf sanfte Weise schon in der Musik alleingeschehen, denn manche Objekte werden auch von ihren Takten, ihrer metrischenOrdnung ignoriert respektive bewegen sich entgegen oder – noch besser – durch ihrMetrumhindurch,bildenNebenmetrenimHauptmetrum:

Und Sie können in verschiedenen Metren erscheinen, ohne dass dies zu einerKonsequenz für ihremusikalischeSubstanz führenwürde, im folgendenBeispielpasstdievorherige3-Viertel-GruppeinihrMetrum:

MancheFigurenholpernschwerinihremeigenenMetrum,wiediesesBeispiel,beidemschlicht nicht entschieden werden kann, wie die Noten zu gruppieren und in einVerhältniszumMetrumzubringenwären:

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Es gibt inUSPUD ausschließlichhomophoneMusik, die Figuren stehenoft (abernichtverlässlich) quer zu denMetren und es gibt prinzipiell keinerlei Überlagerungen vonGeschwindigkeiten in rhythmischen Ebenen. So werden diese wenigen Momente vonFigur contra Metrum auch nie zu einem Spannungsträger, da das Pulsieren auch indiesenKombinationenimmerbestimmendbleibt.TempoSerialismus bedeutet, dasswir zählen. Das erste, was inMusik gezähltwird, sind dieSchläge undderTakt und inUSPUDwird immer gezählt.WennmandieMusik spielt,dannzwingtsieunsunablässigzuzählen,dasspürtmanauchdeshalbkörperlich,weilmansichaufkeineZählautomatismenverlassenkann.USPUD ist,ganzandersalszumBeispiel Strawinskys „Sacre du Printemps“, voll unberechenbarer Taktwechsel. AuskeinemTaktbzw.Objektgehthervor,wiederdasnächsteseinkönnte.BeiStrawinskyerklärtdieDynamikderTaktedie jeweilsnächstenunddenhöherenZusammenhang.DavonistbeiSatienichtszuspüren.USPUD, dieses erste serielle Stück der Musikgeschichte, basiert spürbar nicht nurkomplett auf mathematischen Verfahren, sondern betont auch vor allem unentwegt,dassdasTempodasgleicheistbzw.seinsolle,dennSatieerneuert,ohneNotwendigkeitvon Abschnitt zu Abschnitt oder manchmal auch zwischen Abschnitten und ankonventionellmusikalischnichtnachvollziehbarenStellendieAngabe„trèslent“.Wann,anwelcherStelleimStückdasimmergleicheTempowiederzumImmergleichenerklärtwird,auchdasistmitherkömmlichenmusikalischenMittelnnichtnachvollziehbar.SignifikantfürdasZählenistauch,dassderersteTakteinvielzugroßer22/4Taktist,also gerade nichtsMetrisches sich verbindlich einstellt - eine Sammlung/Anzahl vonPulsen. Entsprechend fehlt im ersten Takt auch die Metrum-Angabe. Zwar simuliertdieser ersteTakt eineNähe zu einerArt gregorianischemGesang, indemsichdie aufabermals nicht eindeutigeWeise gruppieren lassen, aber die vermeintlicheNähe zumChoralistgeradekeinHinweisaufeinefreieBehandlungdesinnerenTemposderMusik,auch deshalb weil dieser Teil, wie viele andere auch irgendwo im Stück (diesesirgendwoistwichtig)wiederkommt.Eswäre,vorallemwennmanbedenkt,dassSatieauchStückwiedieVexationsgeschriebenhat,einenostalgischeVerirrungdabeinuranGregorianikzudenken,selbstwenndieseSatieselbstunterlaufenwäre.SatielebtebekanntlichinParis,derdamaligenWelthauptstadtderZeitmessung,indererstmalseineverbindlicheZeitkoordinationderStadtviertelversuchtwurde.Esistaucheineder ersten Städte, inderderBarpianist Satienachts zumindest inder Stadtmittedurch erleuchtete Straßen nachhause gehen und die Zeit gewissermaßen bei Lichtbetrachtenkonnte.UndesistvielleichtauchfürseinenMusiknichtunerheblich,dassertäglichsehrweitnachhausegehenmusste.Alles was seriell organisiert ist, wird gezählt und was gezählt wird, will verbindlichgezähltwerden. Das fügt sich bestens in die damals bestehende Idee und Realisationeiner für Alle verbindlichen Zeit. Dies, behaupte ich, ist die erste Quelle des

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musikalischenSerialismus,auchwenndieserdasvielleichtgarnichtreflektiert,sondernspätereinfach“alsNatur“angenommenhat.Wirhabensehrschnellvergessen,dasnchvor gut 130 Jahren gar nicht genau feststand wie viel Uhr es ist und ie lange eineSekunde ist. An Saties Beispiel zeigt sich leicht, dass der Serialismus nicht mit derZwölftontechnikSchönbergs,diezunächstnochvonspätromantischerAgogikgetriebenwird, begann. Und Webern lehrt uns, dass dieRomantik trotz der minutiösenKonstrukitoneninderRomantikverwurzeltgedachtwurde.ErstnachdemKriegwurdedieserAspektvergessenbeziehungsweiseausgeblendetunddasgenaueZählenrücktinden Vordergrund, wie man an manchen trockenen Webern-Analysen der 50er Jahreleicht nachweisen kann. Selbstverständlich wird in der 12tontechnik auch bis 12gezählt,wiedie12Stundendes(halben)Tages,aberdasKonzepteinerstandardisiertenZeit istnotwendig,damitdarausechterSerialismusentstehenkonnte.Andersgesagt -esistoffensichtlich,dassauchohne12tontechnikserielleMusikentstandenist(esgibtsehr viel davon, wir nennen sie nur aufgrund einer Fokussierung auf Darmstadt undseineKomponistennichtso).WennesumeineverbildlicheZeitgeht,danngehtesauchumeinverbindlichesTempo.Trèslent–istdasnichtvielleichtTempo60?OderzumindestdieIdeeeinesTempo60,dasheißteinesTempos,dasfüralles,wassichereignet,einverbindlichesMaßdarstellt?Mirerscheint60oderdie IdeeeinesabsolutverbindlichenTempos (ein ideelles „60“)auch deshalb als das einzig logische Tempo fürUSPUD,weil Satie alles,was im Stückerscheint, durch das Tempo im Stück sehr gründlich zerschneidet. Mögliche eigeneTempiderGesten,Phrasen,GestaltenhabenkeineChancesichauszuleben.Die Idee eines Tempo 60 ist deshalb auch logisch, weil die Musik so disparat ist.Manchmalerinnertdas,waserklingt,anunterschiedlichsteKonventionen,manchmalistdieMusikerfinderisch,manchmal liegtnureinKlang inderzeitlichenLandschaftundwartetdaraufabgezähltzuwerden.DasTempobleibtaber,undSatieinsistiertebensoindifferent darauf, gleich.UndbesondersTempo60 – jederDirigentweißdas - ist sowunderbarfad,dasmachteszumidealenZählwert,dennesentwickeltunterdenTempiamwenigsteneineneigenenCharakter.DievierseriellenHeiligenTonhöhenSatie legt manchmal zwei Harmoniken nebeneinander, das kann man an manchenStellenalspolytonalbeschreiben,hältabernievor,sondernwirdgezeigtunddannistesauch schon wieder weg. Im Unterschied zu Ives, der zeitnah auch zwei Tonarten inStückennebeneinandergelegthat,giltdiesbeiSatienichtfüreinganzesStück,sondernnur für Momente und er zerstört das Tonale an der Polytonalität, weil die Akkordehorizontal keine tonalen Zusammenhängen folgen. Und dass die Dreiklänge ab demdritten Takt des Beispiels zusätzlich auf der Quinte stehen, ist ebenfalls eineweitereSchwächungderTonalität.

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Satie „zerstört“, d.h. neutralisiert die Tonalität wie und wo er nur kann (ohne esvermutlich zu bemerken), weil die Akkorde keine durchgängigen Verbindungeneingehen, die in Beziehung zu einer verbindlichen tonalen Basis stünden. Er benütztverschiedeneArten vonTonalitäten, umdiesedann immerwieder auf verschiedensteWeisen zu ignorieren. Rhythmus als tonales Element und die Ordnung der Harmonikignorieren sichoft, oft aberauchnicht,wasdasZerbrechendermöglichenRelationenunddasSchaffenneuerRelationenoderschlichtdenAspekt,dasshierzweiSachen,diesonstalsverbundengedachtwerden,nurnebeneinanderliegen,betont.USPUDistnichtnurdasersteserielle,sondernauchdaserstenichtmehrtonale(-wennmansowill-atonale)Stück.DasunsHörerdabeisohilflosmachendeMomentist,dasserdasgerademit(tonalen)KlängenundRhythmenbewerkstelligtundnichtmiteinerneuenHarmonikbzw.Systematik,denensichschnelleinneuerinnererZusammenhangzumindestunterstellenließe.SatieersetztnichteinSystemdurcheinanderes,sondern„zersetzt“ durch seinen Serialismus die Illusion der Systeme. Alles ist zerlegt (eineGrundidee des Serialismus) und das Zerlegen wird minutiös zelebriert. Satie ist keinSerialistaufeinertabularasa,aufdererNeuesbaut,sondernZerlegenistseinBauen.WasführtzumBeispielzusolchenAkkorden?

Wasmangeläufig fürkrasseFehlereinesTonsatzanfängershaltenwürde, istbeiSatieMethode. Selbst wenn sich tonale Zusammenhänge in den erklingenden Akkordenergeben,schreibtersieaufeineWeise,dasswirnurdenkenkönnen,dasshiereineganzandere Organisation am Werk ist, die nicht tonal ist, aber ziemlich gelegentlich zutonalenKlängenführt.

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Vermutlich sind es griechische Modi oder Modi, die von griechischen abgeleitet zuscheinen:

AllerdingsistdergriechischeModusnurvordergründigeineErklärung,dievorgibteineSicherheit zu bieten. Zwar lässt sich diese Stelle damit technisch erklären, aber diesbildet kein Fundament, dennnach der Stelle greift diese Erklärung gleich nichtmehr,weil sie schlicht durch einen andere ersetzbar ist bzw. ersetzt wird. Satie verhindertkeine Erklärungsmöglichkeiten, aber wenn sie ständig wechseln bleibt allein dasAnordnen (auch der Erklärungen) das einzige Mittel des Zusammenhangs. Im jeeinzelnen Material manifestiert sich kein übergeordneter Zusammenhang, deshalbhabenvielederHalbobjekteauchdieTendenzhalbeSchlüsseauszubilden,wieauchdasoben-unddasuntenstehendeBeispiel.

WoherkommtsoeinAkkord?Hier,indiesem„angeklebten“SchlusskönnteeinedorischeSkalaalsBasisdienen,aberSatie behandelt diese Skala auf ganz neue Weise – er ist meines Wissens der ersteeuropäischeKomponist, der dieTöne einfach so übereinander stapelt und inQuartenanordnet:

DauerGibteshierRhythmus?Daskling twieeinebanaleFrage,aberwirmüssenunseinmalvegegenwärtigen wie Rhythmus hier behandelt, auf welche reichlich konventionelleWeise er vorgestellt wird. Fast hat man den Eindruck, er sei fast aufdringlich undwomöglichmit vollerAbsicht uninteressant. Es scheint auch – aberdas kann,wie beiSatie immer, eine Täuschung sein - als würde Satie den Rhythmus absichtlichvernachlässigen,manchmalTeileeinfachliegenlassen.Andersgesagt–Satieinteressiertsich, zumindestvordergründig, ganzdeutlichnicht für rhythmischeArbeit.GeradedieAbwesenheitderrhythmischenArbeitprägtdenCharakterdesStücks.AufjedenFallgibtesinUSPUDaberetwas,waswirerstausdemspäterenSerialismuskennen:Dauer.Dauerbedeutethiernichtnur, dass etwas einebestimmteAnzahl vonSchlägenlangist,sondernesdauertwirklichundsehrkörperlich-sowohlsindmanche

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Einzeltöne gefühlt schlicht zu lang, so dass sie zu einer Dauer werden, wie auch dasStück insgesamt einfach recht lange dauert. Und Saties unerwartbareWechsel sorgendafür, dass man nie weiß, ob ein Ton, der gerade beginnt, in einem uns bekannten(tonalen) Verhältnis zum Vorherigen und /oder Nachfolgenden steht, oder ob erplötzlicheinfachliegenbleibtundunswartenlässt.AnvielenStellenversagtRhythmusalstonaleEigenschatundwirddadurchzurDauer.Normalerweise,dasheißt,ausderSichtdes18.Und19.Jahrhunderts,würdenMetrumund Rhythmuswie zwei Pingpong-Spieler sich gegenseitig zuspielen. Hier stützt dasMetrumvielmehrdieDauer,durcheinerseitsüberlangeTakteunddurchdieständigenTaktwechsel,die andersalsbei StrawinskyoderBartokgeradenichtdie rhythmisch -metrischeEnergiebefeuern, sonderndasGefühlderDauer inderUnvorhersehbarkeitderWechselunterstützen.Zwargeschieht indenTaktenetwas,aberes istrhythmischmeist sowenig prägnant, dass die schlichteDauer (abgezählt) übrig bleibt. Durch dieDaueröffnetsichwiederdasTorzumZählen.DynamikSatie präsentiert hier eineVorform seriellerDynamik, denn er verwendetnurpp, p, fundff.mpundmffehlen,ebensoextremereWerte.WiebeianderenParameterngibtesinUSPUDkeinenVerlassdarauf,dasseinebestimmteMusik (Phrase,Geste)mit einerbestimmten Dynamik erscheint. Vielmehr wechselt die Dynamik unvorhersehbar(teilweiseauchplötzlichmitten invorher schonmalpräsentiertenSinneinheiten)undman hat nicht den Eindruck von Variation, sondern eher davon, dass da etwasmehroderwenigergeregeltdurchpermutiertwird,alsoeinfachKombinationenerprobtbzw.präsentiertwerden.GanzseltengibtesCrescendo-Zeichen,diesewirkenmeistkompletthilflos,weil sich nicht erschließt,wohin siewollen.Maximal tragen sie die Energie inkleinen Gesten, aber dann ist auch schon wieder alles verpufft. Sie wirken wieHohlformen alter Ideen, abgestorbene Inhalte und erstarrte Gesten. Versteht manDynamik im ursprünglichen Sinne als Bewegung(senergie), dann ist diese in USPUDmeistabwesendundwirdnurdurchdendurchgehendenPulsamLebenerhalten.ArtikulationSaties USPUD artikuliert nicht oder wenn, dann widerwillig. Manche Abschnitte,insbesonderebeirhythmischenFolgenaufeinemTon, lassennurrätseln,wiemandasartikulieren könnte. Satie tut sein Möglichstes, um das „Sprechen“ der Musik zuverhindern,USPUDistextrema-rhetorisch.NichtnurfehlenArtikulationszeichenvöllig,sondern die Kontexte führen dazu, dass man sich, wenn man sie rhetorischinterpretierenwürde, lächerlichmacht. Die Kontextemachen bei aktiver Artikulationeinfachnichtmit.Mankönntemutmaßen,dassSatiezuvielHarmoniumgespielthatundihm das Artikulieren schlicht abhanden gekommen ist. In USPUD spricht nur dasLibretto,daswirnichthören,aberdieMusiksagt–vielsagendunsanblickend-nichts.

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SatiesInstrumentationsvorschlagEine Instrumentation von Satie existiert nicht, sie besteht allein aus Vorschlägen inseinem Particell. Hier ergibt sich das gleiche Bild wie bei der Dynamik, die Angabenwirken seltsam leer und beliebig. Die Besetzungsvorschläge, die nicht sonderlichvielsagend sind („Flöten“, Quartett“, „Harfen“, immer sind es Gruppen, nichts wirdindividuell oder charakteristisch) klingen eher nach Harmoniumregistern und passenoft gar nicht zur Musik. Und ebenfalls scheint es ihm auch hier um eine reineKombinatorik zu gehen, die der Frage, ob die Angaben an den jeweiligen StellenpraktikabeloderineinerkonventionellenWeisesinnvollsind,nichtnachgeht.IneinemArtikelimInternetwirdberichtet,dasseseineInstrumentationdesStücksvonTakemitsu gebe, die diese Angaben übernommen habe. Das WerkverzeichnisTakemitsusführtdieseArbeitnichtaufundsiewarleiderauchsonstnichtaufzufinden.Es ist zubezweifeln,wennmananTakemitsussonstigeArbeitendenkt,dasses sie sogeben könnte. Zu vermuten ist eher, dass Takemitsu die absichtsvolle Banalität undBeliebigkeitnichtertragenhätteundauchnichtanderTatsachevorbeigekommenwäre,dassesschlichtunmöglichistSatiesAngabenumzusetzen.ZählenbedeutetWiederholenWer zählt, der wiederholt bei jeder Zahl den Zählvorgang. Und oft wird das gleichegezählt, also man zählt alle Objekte A, dann die Objekte B, C etc. um gegebenenfallsvergleichenzukönnen.SowiederMinimalismusausderAblehnungdesakademischeSerialismus das unbeachteteWiederholen unterstreicht und dadurch zu einem neuenSerialismus wird, so hat Satie das wiederholende Zählen oder zählendeWiederholenschonvordemspäterenSerialismusexzessivpraktiziert.DiesesNoch-EinmalgiltdannauchfürdieZwölftonreihen,die,nachdemsieeinmaldurchgelaufensind,wiederkehren.Saties Serialismus ist an Indizien überall zu greifen, aber nicht an handfesten ZahlenoderdurchgehendverbindlichenKategorien,wiediessonstimSerialismusderFall ist.VielleichtgibtesdieseverbindlichenZahlen,dieallesregeln(ichvermutees),abersiesinddanngutverborgen.Satietanztbeimzählenundkombinieren.So gibt es bei ihm eine ständig-tanzende Permutation, ein Element besteht aus ABC,dannkannes(aberdasmussauchnicht)sein,dassACB,BCA,BAC,CABundBCAsowieAB,ACoderBCoderAABC,ABBC,ABBAoderirgendwelcheandereKombinationenderElementeerscheinen.Dasist,wiespäter,TeilderseriellenSpielwiese.MancheAbschnitteausUSPUDklingendagegenrätselhaft,wieMorsezeichen.WirhörenRhythmenaufeinemRezitationston,wasunsauchandenChoralerinnert,abersiesindso „technisch“ und „eckig“, dass man direkt ans Morsen denkt. Man meint geheimenBotschaftenzuzuhören,diemannichtentschlüsselnkann.DasistingewisserWeisediegleiche Erfahrung, die lateinunkundige Hörer bei den kirchlichen Choralgesängenmach(t)en.AllesscheinteineBotschaftzuseinundmankannsienichtentziffern.Bis in die achtziger Jahre hinein (das war unter Komponisten ein noch oftanzutreffendesMittelundThema)wurdenMorsezeicheninMusikumgewandelt.Immerwaren es Geheimbotschaften, selbst wenn der Inhalt nicht besonders geheim war –wichtigwarderVersuchzugeheimsen.

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MorsezeichensindselbsteineFrühformdesSerialismus.SieähnelndenbinärenCodes(0-1, lang-kurz), welche zumindest im Augenblick die am weitest-verbreiteten Codessind. Das Prinzip ist das gleiche, eine Serie von binären Ziffern/Längen ergibt eineZeichenfolge, die – wie auch für diesen Text, den sie gerade lesen und ich geradeschreibe – den strukturellen Hintergrund bilden, der nichts von der Bedeutung derZeichenweiß.EinRondo?IstUSPUDeinRondo?MankannleichteinigeAspekteaufzählen,dieUSPUDmiteinemRondo, insbesondere eine Kettenrondo gemeinsam hat, insbesondere dass Teile (fastalle)wiederkehren und sichwie Refrains verhalten. Allerdings sind dann nahezu alleTeileRefrains,unddasbesondereist,dasssieeszwarsind,abermankeineChancehatherauszufinden, wann sie erscheinen. Hier ist ein Unterschied zum Rondo, denn zudessen Refrain gehört, dass er an bestimmten Stellen erscheint, das heißt, dass dasCouplet oder was auch immer zwischen seinen Erscheinungen steht, ebenfalls ingewisserWeisevorherbestimmtistund„sagt“,wannderRefrainwiederkehrt.DieFormdesRondoistschonimVorauseinRefrain.NunistdaswiederumbeiUSPUDaufseineWeise auch der Fall, denn Alles, was zwischen Teilen, die als mögliche Refrainsbetrachtetwerdenkönnten (alsowieder fast alles), istdurch seinePlatzierungund inseinerDauergenausounbestimmbarwiedermöglicheRefrain.EinelogischeFalle.WirhörenRefrains nebenRefrains und alle verhalten sich zeitlich nicht refraintypisch. EsgibtsichereinezeitlicheOrdnung,aberdieseistfundamentalunvorhersehbar.Sieistsoseriell, daswirkeineChancehabensiewahrzunehmen - einwunderschönesParadoxundeineziemlichbekannteErfahrungbeimHörenvonseriellerMusik.TonfallDie Objekte, mit denen Satie arbeitet, sind vorgefunden und haben eine eigeneGeschichte, die sie mitbringen. Unbewusst/bewusst wird das Serielle dadurchmanchmalverschleiert,dennSatiebietetnichtnureinenechtenGemischtwarenladenanPhrasen,GestenundNichtgesten,sondernbetontgelegentlicheinevermeintlicheNähezurGregorianik(zumBeispielamAnfangundSchluss),dieabersomechanischist,dasswir(wennwirunsnichttäuschenlassen)meilenweitvonjeglicherGregorianikentferntsind.Auch ist,was er sonst präsentiert so formelhaft (echtePhrasenohneDreschen),dassesnie irgendwohin führtundmanschonbeimHörenderPhrasennie irgendwoankommt. Immerwennwirdenken„jetzt istesdochMusik“sindwirSatieundseinerKonstruktionaufdenLeimgegangenundwirwerdensofortdesillusioniert.Satiemussseine spätromantischen oder naturalistischen oder ästhetizistischen etc. Zeitgenossen(alsovermutlichalle)völligratlosgemachthaben.USPUDistdurchgehend,wennmaneinenBegriffausderLiteraturwissenschaftbenützt,parataktisch komponiert. Eins kommt nach dem anderen. Nur bildet sich keineGeschichte und die sich ergebende Reihe gleicht auch nicht einmal der berühmtenBorges-ListederTiere,dieFoucaultamAnfangvon„DieOrdnungderDinge“zitiert.DieTierepassendorteinfachnichtzusammen,abersiesindwenigstensallenochTiere.DasordnendeElementbeiSatie -dassesMusik ist,gezähltwirdundalles imTempo„trèslent“abläuft-istdagegeninhaltlichleer.

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SatiesSerialismuserzeugtständigwechselndeBlicke insNichts. InOrte,dievoneinerkonventionellenPerspektiveauserstmalsagen–hieristnichts,hiergeht’snichtweiter.Seine Konstruktion und seine seriellen Elemente die in ihr erscheinen, gehen (noch)keine Verbindung ein, die ein (wieder geschlossenes) Ganzes ergeben würden.VielleichtisteinGanzesausSatiesSichtda,aberwirsehenesnicht.Und vielleicht hat Satie seinen kruden Zahlenzauber als eine Art theologische Aktionempfunden- höhereZahlenwaltenwieeinblinderGottindenNiederungenderWelt,diedenGottundseineZahlennichtversteht.Zumindestwerden,wiegesagt,dieNamenderimStückerscheinendenFigurensoermittelt.Insbesondere der Umgang mit (geschriebener) Sprache in USPUD hat eine ziemlichkabbalistischeSeite,nurgehterumgekehrtoderverdrehtvor–dieAutorenkennendieBedeutungvonallem,lassenaberdurchZahlendieWörterermitteln.InderKabbalistikgebenunsdagegendieWörterdieZahlen,diewiederumBedeutungenergeben,diemansonstnichtherausfindenwürde.Zwei nur scheinbar voneinander fern liegende Perspektiven kommen hier insgesamtzusammen - Größenwahnsinn und arte povera –, dazu und daraus entspringend einunbändiger Erfindergeist, der sich nicht um Konventionen der Form etc. kümmert.Vielleicht gehörte eine gewisse Unmusikalität oder sogar ein gewisser Dilettantismusdazu,dassdiesgeschehenkonnte.DasGenieSatiesscheintdasbemerktzuhabenundwarvisionärgenugausdenNachteilenneueVorteilezumachen.SerialismusrevisitedWir betrachten den Serialismus meist durch eine Art „Darmstadt-Brille“, dabeiübersehenwirleichtweitereSerialismen,dieesvorher,gleichzeitigunddanachgabundgibt. Diese Darmstädter Brille, maßgeblich geprägt durch Karl Heinz Stockhausen,definiert Serialismus als eine Methode, die eine neue umfassende, eine ganze Welterzeugensoll.AusnahmenwerdendabeialsAusnahmenbetrachtetundsindalssolcheTeildesSystems.WasistabermitseriellemDenken,dassichfüreineumfassende,runde,kosmischeSichtoderDarstellungnichterhitzt?Bei solcheinemAnsatzkann leichtübersehenwerden,dass es sich um serielles Denken handelt. Und umgekehrt überraschend haben vieleSpektralistentrotzihrervordergründigenAblehnungdesSerialismusvomDarmstädterSerialismus das Umfassende geerbt. Insofern stehen sie – allen Verlautbarungen zumTrotz–fürsieunbemerktindessendirekterTradition.DerSpektralismusistüberspitztgesagteineMethode,ummöglicheWidersprücheimSeriellengarnichtaufkommenzulassen. Und es ist leicht zu zeigen,wie viele spektraleWerke durch und durch seriellorgansiert sind, denn die in ihnen beschworene „Natur der Klänge“ ist selbst gerneseriell.Soistesimmerbesondersinteressant,wennsichLeutevonetwasabwenden,unddannzubeobachten,wassiedanndoch(ganzgegenihreProklamationen)vomAbgelehntenmitnehmen.MandenktanganzkatholischeAntikatholiken,diegernepäpstlicheralsderPapstsind.BeiGriseygipfeltediesinseinemschönenEinleitungssatzeinesDarmstädterVortrags:„IchbinkeinMessias.“Warummusstedasbetontwerden?Nahezu alle, die antiseriell sind, sind auf ihre Weise besonders seriellgeblieben/geworden,ofthabensienurandereSeitendesSerialismusandieOberflächegeholt oder haben ihre eigene Serialität schlicht nicht bemerkt, wie manche

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Neoromantiker um 1980, deren Kompositionen schwer den (seriellen) Architekturender Gründerzeit ähneln oder Minimalisten wie Steve Reich, die, von Zwölftonreihengequält, sich auf die einfacheren Formen des Wiederholens von Patterns, was nichtminderseriellist,kaprizierthaben.SatieistvonsolcheinerAnti-Haltungdenkbarweitentfernt.ErdurchbrichteinfachdieGesetzeseinerZeit,wobeinieganzklarwird,oberdieseüberhauptgespürthat.GespürthaterallemaldieneueZeit,diesich indenUhren,derMechanik,derAutomation,derHerrschaftderZahlundderAbstraktiongezeigthat. SatiehathinterdenOrnamentenderWeltausstellungendieStahlgerüste(alsoderenmathematisch-zählendeStrukturen)wahrgenommen.An„seriell“ lässt sich sehr schönzeigen,wie einBegriff eineKarrieremachtund seineBedeutungverwandelt.Undentsprechend lässtsichgutzeigenwiedieserBegriffganzunterschiedlichaufgefasstwerdenkann-jenachdem,welchenAspektmanbetont.Undes kann gezeigt werden, dass eine neue Bedeutung (meist diejenige die „siegt“) derursprünglichen oder anderen Bedeutungenwidersprechen kann. „Seriell“ meint nichtautomatisch ein vereinheitlichendes, rundendes Prinzip - eine Reihe vonunterschiedlichen Dingen, ist nicht notwendig eine Einheit bloß weil man sie zählt.WenndasZählenwichtigerwirdalsdieDinge,esalsoegalwird,wasgezähltwird,dannstelltsichimmernochdieFrage,obetwasrund,endlos,repetitivoderwasauchimmerist. Cage hat diese Offenheit, wie Satie, angenommen, er zähltmeistmit Bedacht nurObjekteundlässtdieseauchmeistaufangenehmeWeiseinRuhe.BeiSatiebedeutet„seriell“das,wasesursprünglichbedeutet,ohnedasserdenBegriffdes Seriellen je kannte – eine Serie, eine Reihe von Dingen, bei der eines nach demanderenerscheintundgleicheoderähnlicheExemplarewiedererscheinen.Esbedeutetzunächstnicht,ineinemkosmischeSinneeinEinheitstiftendesElementzufinden,demdann alles unterworfen wäre (vergleichbar Stockhausens Superformel), sondern eineeinfache Ansammlung von Dingen, deren Anzahl offen ist - musikalisch also eherMengenlehre als Theologie. Saties Theologie, die sich als eine Serie von ewig weiterzählbaren Figuren zeigt und eine prinzipielle Unendlichkeit als Grundgedanke enthältundrealisiert,isteineganzandereFormderTheologiealsdieStockhausens.ReligionDas Konzept vonUSPUD berührt die zwei Seiten der Christlichen Zeitkonzeption, diesichinderFigurJesualsMenschundGottausdrückt.AufdereinenSeitesehenwirJesusals geschichtlichen Mensch, der geboren wird, sein ganz besonderes Leben lebt unddann amKreuz stirbt; auf der anderen Jesus als Gottes Sohn, als Teil des dreieinigenewigenGottes, derüberdieweltlicheZeiterhaben ist.ErichAuerbachhatdiesezweiSeiten bzw. Zeiten anhand Dantes „Göttlicher Komödie“ im Kapitel „Farinata undCavalcane“inseinemBuch„Mimesis“sehrschönherausgearbeitetundzeigt,wiebeideZeiten, diemenschlicheunddie göttliche ineinander greifen, undwiediehistorischenMenschenFigurensind,dieimewigenPlanGottesihreErfüllungerleben.USPUDscheintseinenBlickdabeivorallemaufdiegöttlich-unendlicheZeitzurichten,dievongöttlich-platonischenZahlengelenktwirdundimmerschondaist(AuerbachzitierthierHegelsWort vom „wechsellosen Dasein“). Die Abwesenheit einer wirklichen Handlung inUSPUD erklärt sich gerade hieraus - Satie will uns die Erfüllung erfahrbar machen,

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welchezwardieweltlicheZeitbraucht,damitwiretwaswahrnehmenkönnen,dieseunsaber so entweltlicht, enthistorisiert erscheinen lässt, dass wir die Verbindung zurmenschlichenZeitnurnochentrücktwahrnehmen.Alleskannimmerauftreten-dasistenthistorisiertesFigurierenundgleichzeitigdasErfülleneinerewigenFolge.Hierzeigtsich auch ein riesiger Unterschied zu Dante, denn in der „Comedia“ wird trotz derEinbindungindengöttlichenPlanjedesEinzelschicksalnocheinmalintensivnacherlebt.USPUDdagegenisteinbeliebigerAuserwählter,selbsteinseriellesProdukt,wennmansosagendarf,dergarkeinpersönlichesSchicksalindasGescheheneinbringt.USPUDistblassundhieristvielleichtaucheineUrsachedafür,dassdasStückeinBallettundkeinTheaterist,denndasstummeBalletterlaubtdieseBlässevielbesserdarzustellenalseinStück indemeinProtagonist,wennernichtssagenwürdeodernichtszusagenhätte,aufstummeWeisesehrberedtwäre.CageIchweißnicht,obCageUSPUDkannte,aberesgibteinenAspekt imStück,dermeinesErachtensdirektaufCages’Musikverweist,das„Warten(lassen)“.Immer wieder und immer mehr im Verlauf von USPUD werden wir gezwungen zuwarten,wirsitzenundhöreneinemlangenTonzu,vondemwirirgendwannnichtmehrspüren können (undwir bemerken, dasswir das noch nie in diesem Stück konnten),wannerzuEndeseinwird.DaserzeugtimmereineleichteÜberraschung,denndieTönesindimmerzulangoderzukurz.Die„richtige“Zeitgibtesnicht,vielmehrliegtallesaufeinerKette regelmäßigerZeitpunkte, dieunsnicht verraten,wannesweitergehtbzw.wechselt.HierführteindirekterWegzuCages’Klavierstück„waiting“,welchesdas,waspassiertbzw.nichtpassiert,schonimTitelbenennt.AuchCages’StücklässtsichnichtdurchdenDarmstädterSerialismuserklären,aberisteindeutigseriell. InkaumeinemStückwirdmehrgezähltalshier.LiestmandieerstenTaktevon„waiting“,dannscheintesalswürdemanwiebeiBilderndieRückseitevonUSPUDbetrachten–dieLeinwandunddenRahmenvonhinten.DasErstaunlichedabeiist,dassdieMusik,dieinUSPUD(noch)erklingt,fastsodurchsichtig-blass-abwesendist,wiediePausen,dieamAnfangvon„waiting“stummgezähltwerden.ChristlichesBallettEinechtesoderscheinbaresParadox-USPUDisteinBallett.Wiesollte/könntemandazutanzen?Und obendrein ist es ein religiöses und christliches Ballett, eine Form, die esmeinesWissensbisdahinfastnichtgab(wiedereineGrenzüberschreitung).„Christlich“isthiernurdiehalbeWahrheit,dennderHeideUSPUDhatjazuerstandereGötter,diezwarunterliegen,aberdennochersteinmalsehrpräsentsind.SatieundseinLibrettist lassen ja ausdrücklich keinen europäischen Atheisten plötzlich in die Kniegehen, sondern einen Inder mit einer reichen Götterwelt. Diese Welt würde sichebenfallslohnengenauerbetrachtetzuwerden,denndaseinescheintohnedasanderegar nicht existieren zu können. Ein bisschen erinnert es an die Versuchung de Hl.Antonius, aber Antonius war schon Christ und ganz umgekehrt wohl in der GefahrseinenGlaubenzuverlieren.

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Die Ballettform dürfte vom Christlichen amweitesten entfernt sein. Das Ballett neigtwohleherzudenGöttern,die inderGeschichtevonUSPUD insExilgeschicktwerden.Wobeiauchdasnichtklarist,dennmacheDämonenscheinendarinselbstchristlichzusein.EinBallett istangesichtsdes„Stoffs“vonUSPUDeindenkbar fernesGenre.DasBallettstehtfürLeichtigkeitundKörperlichkeit,sichernichtfürphilosophischeoderreligiöseTiefe, es sieht normalerweise größere Gruppen von Tänzern vor (nicht eineHauptperson)unddiePersonendieechtodervirtuellinUSPUDerscheinen,würdemankaumzu tanzendenPersonenzählen.Nunkannman,wieviele, darineineSatireoderIronie sehen, aber ich denke das greift nicht oder blicktwieder aufUSPUD durch die„Parade-Brille“.WelchenTanzkannSatievorAugengehabthaben?WiehättemansichzuseinerMusikbewegen können/sollen? Merce Cunningham und John Cage habe womöglichbewusst/unbewusstvorgeführt,wiedasgehenkönnte.AusSatiesZeit ist (zumindestmir)nichtsVergleichbaresbekannt,das irgendwiedazupassenkönnte.UndseitdenJesuitentheaterndesBarock(z.B.inMexiko)gabesmeinesWissenskeinereligiösenBallettemehr.HatteSatieeventuellreligiöseQuellen,dieihnzumBallett,zumTanzbrachten?HattendieRosenkreuzersolcheIdeen?3AkteEsistverwunderlich,dassSatiesBallettdreiAktehat,denndieMusikindendreiAktenunterscheidet sich unwesentlich und im Prinzip ohnehin nicht. Das Libretto gibt dreiAkte vor und Satie reagiert musikalisch nicht auf die möglichenUnterscheidungskriterien. Das widerspricht allen Haltungen, die man einemherkömmlichenBallettkomponistenratenwürde.Die Zahl „3“ ist für einen religiös kontaminierten Komponisten allerdings sicherlichheilig und es scheint, alswollte Satie die drei Teile derGöttlichenKomödie „inferno“,„purgatorio“ und „paradiso“ in allendreiAkten gleichzeitig präsentieren.Das LibrettoließesymbolischundverdrehtaufdiesedreiTeilehintereinanderschließen,aberSatieignoriertdiesenRestvonhistorischerZeitundmachtdreimaldasgleiche.UndnochmalsReligionDieZeitgenossenlachtenüberUSPUD,siedachtendasStückseiironisch.Nichtswenigerist der Fall. Saties Zahlenoperationen sind, wie bei vielen späteren Serialisten, ingewissem Sinne (Zahlen ignorieren nicht nur, sondern verschleiern auch Inhalte)ebenfallsMystifikationen-eineEsoterik,dievielleichtselbstnichtganzweiß,wovonsieesoterischist,einGeheimbundimGeheimbund.WieoftinNeuerMusik.EinereligiöseAurawirdallemalerzeugt–wirhörenAnklängeanModiundChoräle,wirsehenZahlenmystik,gewissermaßeneinePrivatkabbalistik,dasSujetkönnteaufseineWeise nicht christlich-religiöserer sein, das Stück insgesamt pflegt eine Artkontemplative Haltung, die Unendlichkeit, diemit ihrer Endlosigkeit spielt, blickt umjede Ecke und das augenblickhafte Pathos in manchen Gesten unterstreicht allesvorherige.Die beiden Zeiten Jesu könnten Satie bewusst/unbewusst inspiriert haben,möglicherweiseaberaucheineandereGeschichtemiteiner„imaginärenGeographie“.

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In seinem bunten Vortrag „Imaginäre Astronomien“ erwähnt Umberto Eco dasimaginäreReichdesmärchenhaftenPriestersoderPresbyters Johannes,das irgendwojenseitsdesOstensalseinchristlichesReichblühensollte.EineFälschungbringtdieseVorstellung im 12. Jahrhundert in das europäische Denken, das, nicht sehr um dieUnterscheidung Fiktion-Realität bemüht, dieses Reich für selbstverständlich existenthieltundsogarüberdiplomatischeBeziehungenundgemeinsameProjektediskutierte.In Erik Saties USPUD scheint ein spätes Echo dieser Vorstellung nachzuklingen, hierwirdeinInderzumchristlichenGlaubenbekehrt,derIndusfließtauchdurchdasReichJohannes’ und SatiesWelt der Heiligen ähnelt in ihrer Fantastik auf fataleWeise derAufzählung der (tierischen) Bewohner des Presbyter-Reiches (hier wäre auch zuerwähnen,dass James Joyceebenfalls zuähnlich fantastischenAufmärschenklerikalerHonoratiorenneigte-dieModerneentstehtauchinderLiteraturzueinemgewissenTeildurch seltsame und schwer religiöseMystifikationen). Erik Saties Reich inUSPUD istebenso durch und durch christlich und weit weg von der realen Welt des Paris desausgehenden 19. Jahrhunderts wie das erträumte des Johannes es imMittelalter vonMitteleuropawar.Im Fall des Reichs des Johannes führte es dazu, dass es christlichen Eroberer seineExistenzals„AlibifürdieExpansionderchristlichenWeltnachAsienundAfrikagedient(hat), als freundlicheUnterstützungdesweißenMannes“ (U.Eco).BeiErikSatiekanndies nur mehr als ein spirituelles Echo erscheinen, denn die Welt ist zu seiner Zeitweitgehend entdeckt, nur vereinzelt werden die Karten noch mit neuen kleinenInselchen angereichert. Die Suche und das Finden des christlichen Reichesmuss alsonach Innen gehen – oder auf die Bühne in der Form eines bis dahin unvorstellbarenchristlichenBalletts.UndwieSatiezielsichergespürthat,istdieseschristlicheReichsoanders,dassessichmitseinenzeitgemäßenFormenundBegriffennichtfassenließ.So„musste“ er eine neue (serielle) Organisationsweise für die musikalischen Elementefinden,diedieseEntrücktheitzufassenversuchtundgarantiert.WeroderwasgeistertinUSPUD?USPUD scheint ein Sammelbecken für Ideen zu sein, die eine ganz seltsam moderneMelangeeingehen.Undvielesdavonistnochnichtreal,sondernerscheintehermedial,fast geisterhaft. Das Stück war auch als Schattenspiel gedacht, eine Form, die in derdamaligenZeitsehrbeliebtwar.AlsdasLichtPariserhellte,wurdenLichtundSchattennochmalsneuzumThema.UnddiePersonUSPUDbleibtselbstseltsamungreifbar,mankannsichUSPUDalsSymbol,abernichtalsMenschvorstellen.DieSzeneriewirktwieauseinemfrühenStummfilm,unddieMusikistnichtweitdavonentfernt.EinVergleichmitHauersMusik-Filmwürdesichlohnen,auchdiesesStückistseriell angelegt. Und die „Thementafeln“, die Stimmungen für Filmmusikkomponisteneinfangen,sindebenfallsganznah.KittlersMedientheoriewürde bestensmitUSPUD zusammenpassen, insbesondere dieAbchnitte, indenenKittlerdieParallelität zwischenneuenMedienunddemAuftretendes(medialen)Okkultismusaufzeigt.TechnikerzeugtAura,bevorsiesiezerstört.In USPUD erscheinen keine Personen, sondern alle Wesen, die auftreten - USPUDmiteingeschlossen, sind perfekte Medien. Alles dreht sich um ein Erscheinen undVermitteln.USPUDalsEinzelpersonistunerheblich,eszähltanihmnurdieunmittelbare

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Bekehrbarkeit. Die christliche Kirche, die vorgibt in personam zu erscheinen istzuallerletzteinewirklichePerson,ebenfallsdievielenHeiligenundsonstigenWesen,dieallenurrepräsentierenundaufanderesverweisen,nieaberaufsichselbst.Hätte Satie dieseNicht-Personen dramatisiert, dannwäre ihmdas christliche Ideal indenFingern zerronnen.Das Stück ähneltmehr einemmittelalterlichenMysterienspielalsallem,wasspäter(nachDante)alschristlichinErscheinungtrat,Gottlobte,aberdenMenschenmeinte.Natürlich......istUSPUD, dieses „Zählballett“, durch diese bloße oder blasseMedialität für heutigeHörereventuellschlichteinlangweiligesStück.VielleichtistesfürmanchenurAugenmusik,Musiknichtzuhören,sondernumsichaneinemKonzeptzuerfreuen.AuchdadurchwäreeseinVorerbedesSerialismusundmitdemconceptualismdesMinimalismusverwandt.Aber nein - vertrauenwir unserenOhren - es stimmt einfachnicht undUSPUD klingteinfachtraumhaftschön.UndnatürlichistesüberhauptkeinelangweiligeMusik,esrepräsentiertnureineganzandere IdeederZeit.DieseMusikwill auf ihreWeiseEwigkeitundwir sindvielleichtnichttraurig,aberzumindestmelancholisch,wenndasStückendet.Der Mythos will auch Ewigkeit (sagt Levi-Strauss in der sehr von Musik inspiriertenOuverture“von„DasRoheundGekochte“).NurhatLevi_StraussUSPUDvermutlichnichtgehörtundhätteauch,vermutlichvorlauterWagnerianismus,nichtbemerkenkönnen,dassSatiedenchristlichenMythosganzjenseitsvonWagnerundohnevielGeredeaufseineunsverzauberndeWeisepräsentiert.Nachbemerkung-DiePrinzipienmeinerOrchestration1MeineOrchestrationorientiertsichanderGrößevonSatieseigenerOrchestrationdesBalletts„Parade“,das- nebenbeibemerkt-imLibrettoebenfallsauseinerAufzählungvon„Personen“besteht.HierhatsichdasZählenderModernezugewandt.Meine Version hält sich treu an den Notentext, es sind höchstens manchmalOktavierungenhinzugekommen.SelbstverständlichwirdkeineneueDramaturgieindasStück getragen, sondern versucht, die nicht vorhandene Dramaturgie Saties zuverstärken.AnvielenStellenhandeltessich,dadieWechselinUSPUDimmerunvermitteltsind,umeine komplementäre Orchestration. Da dieMusik inMosaiksteinchen gebaut ist, wirdmeistvermiedenmitvorheraktivenInstrumentenweiterzuspielen,umkeinenfalschenZusammenhang zu suggerieren. Die Orchestration ist vertikal verzahnt, so dass klareWechselentstehen.

1DemLeserseiendazudieWDR-MitschnittederbeidenKonzertevom23.September2017 imWDR_SendesaalmitderOriginalversionvonUSPUD,aufgeführtdurchFlorenceMillet,undmeinerneuenOrchestration,aufgeführtdurchdasWDR-SinfonieorchesterKölnunterderLeitungvonBaldurBrönnimann,empfohlen.

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Die Wiederkehr von Abschnitten geschieht in Varianten, nicht in Variationen. AlleGestalten,Formen,Phrasenwerdennurleichtabgewandelt,nieformalfunktionalisiert–esgibthierkeineLeitmotive,nichtsbewegtodermotiviert.Die „religiösen“ Gesten werden nicht vermieden und ausgestelltes Pathos bleibtausgestelltesPathos.InsbesonderederAnfang„beschwört“sofortdurchRöhrenglockenund Blechbläser eine conductus-artige Atmosphäre, wobei die hier mit Bedacht zuscharf klingende kleine Trompete diese Religiosität schon etwas überspannt undseltsamerscheinenlässt.Tonloses Schlagzeug wird dezent zur Erweiterung des Raumes benützt. So könnenSchnitteauchWechselinderempfundenenGrößedeserklingendenRaumesbedeuten,zumBeispielvoneinemengenzueinemweitenRaum.Insgesamt gibt es nur drei Klangtypen: Attacke, Resonanz und gehaltener Klang (mitdem Sonderfall Anschwellen-Abschwellen in statischen Wellen). Diese ReduzierungbetontdasMomenthafteinSatiesVorlage.Für die Variantenbildung und den Aspekt desMomenthaftenwar es sehrwichtig dieEnergie im Einzelklang und die Kombinationen von Einzelklängen und ihren(verschiedenen)Energien ingewissermaßen„falschenunisoni“zubilden.DieserzeugteineinnereSpannung,zumBeispielwenndergleicheTonvonOboeundViolinegespieltwird,fürdieOboeabertechnischsehrschwerundfürdieViolinedagegensehrleichtist.Das Orchester hat fast eine Besetzung wie bei Haydns oder Mozarts späterenSymphonien, es kommen nur noch ein paar Instrumente dazu - Harfe, Akkordeon,Celesta,RöhrenglockenundVibraphon.DieseInstrumenteaddiereneinenakkordischen,hellenKlang,denesimnormalenSymphonieorchesterderKlassikoderdesspäten19.Jahrhundertssonichtgibt.EinigederSpieltechniken,vorallemindenStreichernundimSchlagzeug,gehöreneindeutigzum20.und21.Jahrhundert.InsgesamtgalteseineArtDialogodereineMischungzwischendem,wasSatiegemachthatundunsererheutigenSprachezufinden.Meine eigene Instrumentation ignoriert – wie gesagt - Saties Angaben, ich halte siewirklich für Registerangaben eines Harmoniums, die für eine Orchesterbehandlung,selbstwennman einmöglichst nichtorchestralesOrchester erfindenwollte (wasmanmeinesErachtensausstilistischenGründeninvielenTeilenmuss),nichthilfreichwären.MeineInstrumentationversuchtaufeineWeisedasWillkürlicheundBlockhafte,dasdieAngabenbestimmt,indenWechselnderOrchesterfarbenzubewahren.Ebenfalls versucht sie so wenig wie möglich zu artikulieren, und überhaupt jeden„Schmuck“zuvermeiden,dennsonstwürdedasStückselbstderOrchestrationeinfachnichtfolgen.DiesebesondereFormvon„artepovera“würdesichgegenBrillanzsperren.Inmeiner InstrumentationherrschtwiebeiSatiedahereinPrinzipderKombinatorik,beidemkonstanteElementeundvariableimmerleichtverschiedeneKombinationenbeiderWiederkehreinesAbschnittseingehen.Wiederholen und undramatisch neu Kombinieren, das ist eines der zentralenFormprinzipien in USPUD. Vielleicht gibt es in einzelnen Momenten des Stücks einegewisseDramatik, derMoment für sich alleinwäre dann dramatisch, aber einDrama(daswomöglichmitderGeschichtedesBallettsverbundenwäre)istnichtaufzufinden.

(JS,12/2017)