13
Nr. 76 Januar/Februar 2011 Zeitschrift für internationale Politik W elt T rends www.welttrends.de Herausforderung Eurasien Die Shanghai-Gruppe Russische Interessen Chinas Anti-Terror-Strategien Shanghai Spirit Herausforderung für die USA Analyse Union für das Mittelmeer Historie Legitimierte Vertreibung? WeltBlick Brasilien nach Lula Unabhängiges Timor-Leste Obamas Waterloo? Bücher & Tagungen Das Amt und die Vergangenheit

Nr. 76 Januar/Februar 2011 ISSN: 0944-8101, (2011) 76 Welt ...welttrends.de/res/uploads/2012/04/wt76_marcel_de_haas1.pdf · Russland war sehr aktiv beim Abschluss von Energieverträgen

  • Upload
    others

  • View
    4

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Nr. 76 Januar/Februar 2011 ISSN: 0944-8101, (2011) 76 Welt ...welttrends.de/res/uploads/2012/04/wt76_marcel_de_haas1.pdf · Russland war sehr aktiv beim Abschluss von Energieverträgen

Wel

tTre

nd

s 76

Her

ausf

ord

eru

ng

Eu

rasi

en

1

/ 201

1 •

19. J

ahr

w w w.welttrends.de

9,50 Euro • 12 CHF

ISSN: 0944-8101, (2011) 76

Nr. 76 Januar/Februar 2011

Zeitschr i f t für internat ionale Pol i t ikWe l t Tr e n d s

www.welttrends.de

We l t Tr e n d s

Herausforderung

Eurasien

Im Osten was Neues: Seit nunmehr zehn Jahren

gibt es die Shanghai-Gruppe. Für die Geschichts-

schreibung ein kleiner, ein winziger Zeitraum.

Welchen Platz die Organisation einst in Ge-

schichtsbüchern einnehmen wird, ist ungewiss.

Die strategische Bedeutung, die Entscheidungs-

prozesse sowie die Ziele der Shanghai-Gruppe

sind bislang nicht konturscharf einzuschätzen

gewesen.

Im Thema untersuchen Kenner der Gruppe die

Interessen der Akteure, vor allem jene Chinas

und Russlands. Sie werfen einen Blick auf die

geostrategische Relevanz Zentralasiens und

machen auf das kritische Verhältnis zwischen

der Allianz und den USA aufmerksam.

Die Shanghai-Gruppe

Russische Interessen

Chinas Anti-Terror-Strategien

Shanghai Spirit

Herausforderung für die USA

Analyse

Union für das Mittelmeer

Historie

Legitimierte Vertreibung?

WeltBlick

Brasilien nach Lula

Unabhängiges Timor-Leste

Obamas Waterloo?

Bücher & Tagungen

Das Amt und die Vergangenheit

Page 2: Nr. 76 Januar/Februar 2011 ISSN: 0944-8101, (2011) 76 Welt ...welttrends.de/res/uploads/2012/04/wt76_marcel_de_haas1.pdf · Russland war sehr aktiv beim Abschluss von Energieverträgen

2 WeltTrends 76

Inhalt 1 Editorial

4 WeltBlick

5 Kongresswahlen in den USA Claus Montag

10 Russland und seine Muslime Marco Meng

15 Unabhängiges Timor-Leste Bettina Kanke

20 Brasilien nach Lula Sven Schuster

28 Zwischenruf von Attila Kiraly

Thema: Die Shanghai-Gruppe 30 Gastherausgeber: Enrico Fels

33 „Shanghai Spirit“ und Großmächtepolitik Enrico Fels

43 Russland und die SCO Marcel de Haas

53 Chinas Anti-Terror-Strategien Marc Lanteigne

62 Zwischen Shanghai und Moskau Erica Marat

69 Rätsel Shanghai-Gruppe Stephen Blank

76 Zeittafel und Statistik Martin Gobbin und Andrej Pustovitovskij

Porträt: Fritz Kolbe – Von Widerstand und Ausgrenzung 78 Siegfried Schwarz

Page 3: Nr. 76 Januar/Februar 2011 ISSN: 0944-8101, (2011) 76 Welt ...welttrends.de/res/uploads/2012/04/wt76_marcel_de_haas1.pdf · Russland war sehr aktiv beim Abschluss von Energieverträgen

3Inhaltsverzeichnis

Analyse: Deutschland und die Mittelmeerunion Edmund Ratka 81

Forum: Afghanistan „Zwischen Gewalt und Chaos“ Interview mit Marc Lindemann 91

Historie: Legitimierte Vertreibung? Athanassios Pitsoulis 97

Nachruf: Manfred Müller 102

Bücher und Tagungen 104

Buchvorstellung: 105 Das Amt und die Vergangenheit

Weltordnung und Welthunger 113 Literaturbericht von Ralf Jeremias

Wiedergelesen: José Ortega y Gasset Der Aufstand der Massen 118

Rezensionen 120 Annotationen 131 Impressum 133 Neuerscheinungen 134 Konferenzen 136

Briefe an die Redaktion 140

Europa tanzt nach Deutschlands Pfeife Kommentar von Charles Grant 142

Wort und Strich 144

Page 4: Nr. 76 Januar/Februar 2011 ISSN: 0944-8101, (2011) 76 Welt ...welttrends.de/res/uploads/2012/04/wt76_marcel_de_haas1.pdf · Russland war sehr aktiv beim Abschluss von Energieverträgen

WeltTrends • Zeitschrift für internationale Politik • 76 • Januar/Februar 2011 • 19. Jahrgang • S. 43-51

Moskaus nützliches Instrument?Russland und die Shanghai-Gruppe

Marcel de Haas

Eurasien, China, Russland, Sicherheitspolitik

Russland sieht in der Shanghai-Gruppe ein wichtiges außen- und sicherheitspolitisches Instrument. Damit sollen sowohl das inter-nationale Profil verbessert als auch militärische Interessen (Waffen-exporte) umgesetzt werden. Obwohl sich das Verhältnis zu China deutlich verbesserte, ist es russisches Interesse, mittels der SCO Chinas Einfluss in Zentralasien zu begrenzen. Angesichts der strategischen Differenzen zwischen Moskau und Peking stellt sich das Problem des möglichen Bruchs der Shanghai-Gruppe.

In der Präsidentschaft Wladimir Putins stieg die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) zur international

anerkannten Gruppierung auf und wurde für Russlands Außen-politik interessant. Allerdings verging einige Zeit, bis sich dies in sicherheitspolitischen Konzepten des Kreml niederschlug. In keinem der sicherheitspolitischen Dokumente Putins aus dem Jahr 2000, also weder im Nationalen Sicherheitskonzept noch in der Militärdoktrin, war die SCO (damals noch die „Shanghai-Fünf“) ernsthaft präsent. Nur im außenpolitischen Konzept wurde sie als eine der kooperierenden Organisati-onen in Asien erwähnt. Jedoch veränderte sich schrittweise unter Putin sowie seinem Nachfolger Dimitri Medwedjew der Schwerpunkt der außenpolitischen Orientierung von West nach Ost. Östliche internationale Gremien, wie die SCO, erhielten deutlich mehr Aufmerksamkeit. Dies schlug sich auch in Medwedjews Außen- und Sicherheitsdokumenten nieder. In seinem außenpolitischen Konzept von 2008 stellte Medwedjew heraus, dass die SCO konsequente Anstrengungen unterneh-men werde, um den Export von Terrorismus und Drogen aus Afghanistan zu verhindern und eine gerechte und dauerhafte politische Lösung für die Probleme dieses Landes zu finden. In diesem außenpolitischen Konzept befürwortete die russische Spitze auch eine weitere Stärkung der SCO und trieb die Ini-tiative voran, ein Netzwerk partnerschaftlicher Beziehungen unter all den Interessengruppen im asiatisch-pazifischen Raum

Dr. Marcel de Haas, geb. 1961, Senior Research Associate on Russian security policy, Netherlands Institute of International Relations [email protected]

Page 5: Nr. 76 Januar/Februar 2011 ISSN: 0944-8101, (2011) 76 Welt ...welttrends.de/res/uploads/2012/04/wt76_marcel_de_haas1.pdf · Russland war sehr aktiv beim Abschluss von Energieverträgen

44 WeltTrends 76

einzurichten. In der Nationalen Sicherheitsstrategie von 2009 wird gefordert, das politische Potenzial der SCO auszubauen und das gegenseitige Vertrauen und die Partnerschaft in der zentralasiatischen Region zu fördern. Und schließlich legte die Militärdoktrin von 2010 fest, dass es bei der politisch-militärischen Zusammenarbeit mit den SCO-Staaten darum gehe, die gemeinsamen Anstrengungen zu koordinieren, um den neuen militärischen Gefahren und militärischen Bedro-hungen im gemeinsamen Raum entgegenzutreten.1 Auf dem Gipfeltreffen der Shanghai-Gruppe vom 10. bis 11. Juni 2010 in Taschkent, Usbekistan, formulierte Präsident Medwedjew Russlands Prioritäten für die Shanghai-Gruppe. In seiner Rede betonte er den gemeinsamen Kampf gegen die „drei Kräfte des Bösen“, den Terrorismus, den Extremismus und den Separatis-mus. Dies solle das Hauptanliegen der SCO sein. Eine weitere wichtige Aufgabe sei der Kampf gegen den Drogenhandel, der eine ernste Bedrohung für die Sicherheit der SCO-Staaten darstelle, weil der Drogenhandel mit dem internationalen Ter-rorismus verbunden sei. Medwedjew nannte auch Afghanistan als ein Sicherheitsproblem der Shanghai-Gruppe. Die SCO solle dazu beitragen, aus Afghanistan ein unabhängiges, fried-liches, neutrales und prosperierendes Land zu machen. Zum Abschluss – und damit bestätigte Moskau sein verstärktes Inte-resse an dem Raum generell – unterstrich Russlands Präsident, dass die Asien-Pazifik Region zu einem der wichtigsten poli-tischen und ökonomischen Zentren der Welt geworden sei.

Für Russland ist die Shanghai-Gruppe ein Mittel, um verschiedene politische Ziele zusammenzubringen. Zum einen nutzt Moskau die Organisation als ein Instrument seiner Sicherheitspolitik. Die SCO dient als eine Plattform für Allianzen. Nicht nur der Mitgliedstaat China, sondern auch Indien und Iran – beide mit Beobachterstatus der SCO – bewahren eine spezielle Beziehung mit Russland. Alle drei Staaten sind wichtige Akteure für Russlands Waffenex-porte. Zusätzlich haben China und Indien eine enge Bezie-hung mit Russland im Feld der gemeinsamen, bilateralen Militärübungen. Und gemeinsam mit dem Iran kontrolliert Russland das Gros der globalen Gasreserven. Zudem fördert die SCO Russlands internationale Position als Militärmacht. Mit China und den SCO-Beobachtern Indien und Pakistan

1 http://www.mid.ru/ns-osndoc.nsf/osnddeng (abgerufen am 22.11.2010).

Page 6: Nr. 76 Januar/Februar 2011 ISSN: 0944-8101, (2011) 76 Welt ...welttrends.de/res/uploads/2012/04/wt76_marcel_de_haas1.pdf · Russland war sehr aktiv beim Abschluss von Energieverträgen

45Thema

ist Russland eines der vier Länder mit Nuklearwaffen in der Organisation. Darüber hinaus gehört Russlands Militär, gemeinsam mit jenem Chinas, zu den größten militärischen Streitkräften der Welt.2 In der SCO demonstriert Moskau regelmäßig sein militärisches Gewicht, indem es die führende Rolle bei militärischen Exerzierübungen dieser Organisation einnimmt. Zusätzlich zu Moskaus primärem Ziel, die SCO als ein Instrument zur Unterstützung seiner Sicherheits- und Verteidigungspolitik einzusetzen, nimmt der Kreml die SCO auch als ein Werkzeug an, China zu prüfen und zu kontrol-lieren; insbesondere hinsichtlich des wachsenden Einflus-ses Pekings im früheren sowjetischen Raum Zentral asiens. Der Beitrag erklärt diese beiden Ziele russischer Politik und schließt mit einer Einschätzung und einem Ausblick auf Moskaus voraussichtliche Haltung gegenüber der Organisa-tion in der Zukunft.

Instrument der russischen Sicherheitspolitik

Moskau weist beständig und ausdrücklich zurück, dass es die SCO als Sicherheitsorganisation betrachtet. So bestritt der stell-vertretende russische Verteidigungsminister Sergei Razov die Behauptungen, dass die militärische Zusammenarbeit unter den SCO-Mitgliedern Priorität hätte. Für ihn seien ökono-mische Kooperation und generelle Sicherheitsfragen die russi-schen Hauptinteressen. Ähnlich bestritt Präsident Putin, dass sich die Shanghai-Gruppe zu einer Sicherheitsorganisation wie die NATO entwickeln würde. Trotz der zahlreichen Dementi über die militärische Natur der Gruppe und der Unterschiede zwischen den Mitgliedern bei Militär- und Sicherheitskoope-rationen gibt es jedoch Entwicklungen, die genau in diese Richtung weisen: die schrittweise Entwicklung der SCO hin zu einer ausgewachsenen Sicherheitsorganisation.

Erstens wurden die militärischen und politischen Aktivitä-ten miteinander verknüpft. 2007 wurde der jährliche politische Gipfel mit Manövern verbunden. Das Manöver „Friedensmis-sion 2007“ ging von einem Szenario aus, in dem die militäri-sche Hilfestellung eine zentrale Rolle spielte. Überdies regte Moskau eine intensivere Beziehung zwischen der SCO und der

2 http://www.nationmaster.com/red/graph/mil_arm_for_per-military-armed-forces-personnel&b_printable=1 (abgerufen am 22.11.2010).

Page 7: Nr. 76 Januar/Februar 2011 ISSN: 0944-8101, (2011) 76 Welt ...welttrends.de/res/uploads/2012/04/wt76_marcel_de_haas1.pdf · Russland war sehr aktiv beim Abschluss von Energieverträgen

46 WeltTrends 76

Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (CSTO) an.3 Außerdem vereinbarte man innerhalb der Shanghai-Gruppe ein Abkommen über gemeinsame Übungen. Schließlich wurde innerhalb der SCO ein Mechanismus für Maßnahmen entwi-ckelt, mit dem auf regionale Gefahren reagiert werden kann und Konflikte vorbeugend verhindert werden können.

Auf dem SCO-Gipfel in Jekaterinburg (15. bis 16. Juni 2009) war Medwedjew erstmalig Gastgeber. Das Treffen der Shanghai-Gruppe wurde dabei mit jenem der aufstrebenden BRIC – Brasilien, Russland, Indien und China – verknüpft, die beabsichtigten, ihre wachsende ökonomische Macht auf das Gebiet der Politik und jenes der Sicherheit anzuwenden.

Die darauffolgenden Treffen der Shanghai-Gruppe und der BRIC-Staaten zeigten Moskaus Interesse an diesen beiden Organi-sationen, seinen außenpolitischen Spielraum zu vergrößern.

Militärübungen und Waffenverkäufe sind wichtige Größen in der russischen Position gegenüber der Shanghai-Gruppe. In den Jahren 2005 und 2007 führte die SCO große Militär-übungen, „Friedensmission“ genannt, durch. Diese dienten nicht nur dem Schwerpunkt Terrorismusabwehr, sondern waren auch Demonstration der Macht. Damit wurde (beispielsweise „dem Westen“) gezeigt, wer in diesen Regionen, vor allem Zentralasien, die Kontrolle hat. Diese Übungen wurden von Russland und China, den führenden Akteuren der Organisa-tion, dominiert. In mehrerer Hinsicht benutzte Russland die „Friedensmission 2007“ als Chance, um seine nationale Sicher-heitspolitik zu profilieren. Zum Beispiel behauptete General Yuri Baluyevsky, Chef der russischen Generalstabsarmee, auf einem Gespräch in Ürümqi, China, dass die ökonomischen Entwicklungen der Mitgliedstaaten auch stärkere regionale Sicherheit mit sich bringen. Und Präsident Putin verkündete bei der „Friedensmission 2007“ vor zirka 500 Journalisten und Militärbeobachtern, dass Russland wieder Langstrecken-flüge von strategischen Bombern aufnehmen würde. Sicherlich gehörte die Vorstellung von neuen Waffen auch zu den Zielen der Manöver von 2005 und 2007, nicht zuletzt, um die anderen Mitglieder der SCO zu beeindrucken. Zum Beispiel stammen

3 Die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (CSTO) ist eine 2002 gegründete Sicherheitsallianz, die aus dem Vertrag über kollektive Sicherheit (CST) von 1992 hervorgegangen ist. Die Mitgliedstaaten, von denen alle auch Teil der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) sind, sind Armenien, Kasachstan, Kirgisistan, Russland, Tadschikistan, Weißrussland, Usbekistan. Zwei ehemalige VKS-Mitgliedstaaten, Aser-baidschan und Georgien, sind in der OVKS nicht mehr vertreten. Sitz des Sekretariats ist Moskau.

Weiterlesen:R. Banken,

Partnerschaft mit Kalkül. China und Russland

WeltTrends 53

Page 8: Nr. 76 Januar/Februar 2011 ISSN: 0944-8101, (2011) 76 Welt ...welttrends.de/res/uploads/2012/04/wt76_marcel_de_haas1.pdf · Russland war sehr aktiv beim Abschluss von Energieverträgen

47Thema

40 Prozent der indischen Waffenimporte aus Russland und der Iran ist ein wachsender Markt für russische Waffen. Obwohl der Waffenhandel vornehmlich eine von Russland geführte bilate-rale Angelegenheit war, diente die Shanghai-Gruppe als ein komfortabler Marktplatz, um solche Verträge abzuschließen.

Shanghai-Gruppe als Energiemarktplatz

Die Frage der Energie ist ein weiterer wichtiger Aspekt der russi-schen Sicherheitspolitik und steht in enger Verbindung zur Shanghai-Gruppe. Die Tatsache, dass in der SCO sowohl bedeu-tende Energieexporteure – Russland, Kasachstan, Usbekistan und Iran – als auch signifikante Energieimporteure – China und Indien – versammelt sind, macht Energie zu einem zentralen Thema dieser Organisation. Energieabkommen werden eher auf bilateraler und weniger auf einer gemeinschaftlichen Basis gemacht. Dennoch dient die SCO als Plattform, um Energie-verträge abzuschließen, auch auf der bilateralen Ebene. Auf dem Shanghai-Gipfel im Juni 2006 wurde zum ersten Mal das Thema Energie auf die politische Agenda gesetzt. Putin kündigte auf diesem Gipfel die Absicht an, einen „Energie-Club“ innerhalb der Gruppe zu gründen. Am 3. Juli 2007 wurde daraufhin der „SCO-Energie-Club“ eingerichtet. Dieser verbindet Energie-produzenten, Konsumenten und Transitländer mit dem Ziel der zunehmenden Energiesicherheit. Russland war sehr aktiv beim Abschluss von Energieverträgen mit den Partnern in der SCO. Auf dem Gipfel 2006 gab der Iran – erfolglos – an, dass er die Gaspreise gemeinsam mit Russland, als die zwei weltgrößten Gasproduzenten, bestimmen wollte. Gleichzeitig zeigte Putin die Bereitschaft des russischen Gazprom-Konzerns, eine Gaspipe-line zu bauen, die die drei SCO-Beobachter Iran, Pakistan und Indien miteinander verbindet. Darüber hinaus unternahm Russland Schritte, um die Stromerzeugung in Zentralasien zu forcieren. Es unterschrieb z. B. Verträge mit Tadschikistan und Kirgisistan über den Bau von Wasserkraftwerken. Ein weiterer wichtiger Punkt ist ein Energieversorgungsnetz, mit dem die überschüssige Elektrizität, die durch tadschikische und kirgi-sische Kraftwerke erzeugt wird, nach Zentral- und Südasien transportiert wird. Insgesamt kann man festhalten: Durch die Energiezusammenarbeit innerhalb der Shanghai-Gruppe wird Moskaus internationale Position gestärkt.

Page 9: Nr. 76 Januar/Februar 2011 ISSN: 0944-8101, (2011) 76 Welt ...welttrends.de/res/uploads/2012/04/wt76_marcel_de_haas1.pdf · Russland war sehr aktiv beim Abschluss von Energieverträgen

48 WeltTrends 76

Russland und China in Spannung

Im letzten Jahrzehnt verbesserten sich die bilateralen Bezie-hungen zwischen China und Russland ganz erheblich. Zum Beispiel wurden in Verträgen von 2005 die lang anhaltenden Grenzstreitigkeiten zwischen beiden Staaten beigelegt. Russland hat China neben Waffen auch Öl und Gas geliefert. Noch wichtiger ist, dass beide Länder sich in einer strategi-schen Partnerschaft zusammengefunden haben, die darauf abzielt, dem westlichen, konkret der US-amerikanischen „Hegemonie in den internationalen Beziehungen“ entge-genzutreten, wie dies in einer gemeinsamen Erklärung der chinesischen und russischen Präsidenten im Juli 2005 klarge-macht wurde. Medwedjew hat den Beziehungen mit China, wie sie durch Putin begründet wurden, eine hohe Priorität eingeräumt. Eine gemeinsame Erklärung des damals neuen russischen Präsidenten Dimitri Medwedjew und seines chine-sischen Amtskollegen Hu Jintao im Mai 2008 beinhaltete viele gemeinsame Positionen über internationale Politik, wie z. B. die die Ablehnung der US-amerikanischen Raketen-abwehrsysteme. Neben diesen gemeinsamen politischen Äußerungen war die russisch-chinesische Zusammenarbeit vor allem durch gemeinsame Manöver, Waffenlieferungen und Energielieferungen geprägt.

Dennoch gibt es auch eine andere Tendenz in diesem Verhält-nis. Der Kreml beobachtet mit Sorge Chinas wachsenden Einfluss in dem Raum, besonders im eigenen „Hinterhof“, das heißt in den ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentral asien. In diesem Kontext stellt die Shanghai-Gruppe eine gute Möglich-keit für Moskau dar, um Chinas Politik gegenüber den zentralasi-atischen Staaten und Russlands anderen Verbündeten, wie z. B. gegenüber Indien und Iran, zu kontrollieren.

Eine der Kontroversen zwischen Russland und China ist, dass sie unterschiedlicher Meinung bezüglich der Beziehung zwischen der CSTO und der Shanghai-Gruppe sind. Die CSTO besitzt einen militärischen Beistandsmechanismus als auch eine schnelle Eingreiftruppe. Demnach würde eine engere Beziehung zwischen CSTO und Shanghai-Gruppe der Welt den Eindruck vermitteln, dass die Gruppe bestrebt ist, zu einer „NATO des Ostens“ zu werden. China sieht solch eine Entwicklung eher als kontraproduktiv sowohl hinsichtlich seiner ökonomischen

Page 10: Nr. 76 Januar/Februar 2011 ISSN: 0944-8101, (2011) 76 Welt ...welttrends.de/res/uploads/2012/04/wt76_marcel_de_haas1.pdf · Russland war sehr aktiv beim Abschluss von Energieverträgen

49Thema

als auch seiner politischen Interessen an. Nichtsdestoweni-ger stimmte im Oktober 2007 China der Unterzeichnung eines Memorandums zu, in dem offiziell die Zusammenarbeit zwischen CSTO und SCO festgelegt wurde. Vermutlich hat Peking Moskaus politisches Begehren zugunsten eigener politi-scher Anliegen als eine Gegenleistung eingelöst.

Energie ist eine weitere Quelle von Kontrover-sen. China schaut bei der Suche nach Energie-lieferanten auch nach Usbekistan und Kasach-stan. Am Vorabend des Shanghai-Gipfels von 2006 schloss China mit Usbekistan ein Energie-abkommen über Öl- und Gaserforschungen ab. Im Dezember 2005 wurde mit Kasachstan die Atasu-Alashankou-Ölpipe l ine zwischen den be iden Ländern eröffnet. Über diese sino-kasachische Pipe l ine sollen künftig zirka 15 Prozent der chinesischen Erdölimporte fließen. Darüber hinaus gaben beide Länder den Bau einer Gaspipeline bekannt, mit der turkmenisches Gas nach China via Kasach-stan transportiert werden soll. Weiterhin investiert China in der iranischen Gas- und Ölindustrie und Teheran liefert Öl nach Peking. So verfolgt China offenbar einen Kurs, der es in der Energiefrage von Russland unabhängiger macht.

Auch die Waffenproblematik verursacht Kontroversen zwischen Moskau und Peking. Indem China eigene Waffen herstellt, oft von russischen Modellen kopiert, versucht es, die Abhängigkeit von Moskau auf dem Gebiet der Waffen-lieferungen zu verringern. Russland ist sich sehr wohl bewusst, dass China hoch entwickelte Militärtechnologie erhalten möchte. Jedoch könnte sich diese im Falle erneuter

Gipfel der Shanghai-Gruppe in Duschanbe/Tadschikistan, 2008

Page 11: Nr. 76 Januar/Februar 2011 ISSN: 0944-8101, (2011) 76 Welt ...welttrends.de/res/uploads/2012/04/wt76_marcel_de_haas1.pdf · Russland war sehr aktiv beim Abschluss von Energieverträgen

50 WeltTrends 76

Spannungen auch gegen Russland selbst richten. Aus diesem Grund ist Russland nicht gewillt, China mit seinen technisch neuesten Produkten zu beliefern.

Separatismus ist auch zu einem kontroversen Punkt gewor-den. Der SCO-Gipfel, der 2008 in Duschanbe, Tadschikistan, stattfand, wurde vom russisch-georgischen Konflikt überschat-tet. Die russische Anerkennung der Unabhängigkeit von Abchasien und Süd-Ossetien erhielt auf diesem Gipfel keine Unterstützung. Es ist die offizielle Politik der Organisation, den Separatismus zu bekämpfen. Viele der Mitglieder und Beobach-ter haben mit separatistischen Bewegungen zu tun, so auch China mit den Problemen Tibet und Xinjiang. China äußerte seine Besorgnis über diese Entwicklungen in diesen aus georgi-scher Sicht separatistischen Regionen und kritisierte auf diese Weise indirekt Moskau.

Demografische Entwicklungen in Russlands Fernem Osten sind ebenso besorgniserregend für Moskau. In dieser Region wird Russland mit einer dynamisch steigenden Immigration aus China konfrontiert. Die Zahl der chinesischen Immig-ranten ist zwar nicht genau, sie variiert zwischen Hundert-tausenden bis zu einigen Millionen, jedoch ist sie deutlich steigend. Russland sieht die Gefahr, dass Peking damit sowohl seine Probleme der Überbevölkerung lösen als auch damit in diesem Raum Fuß fassen will, d. h. in einer Region, die reich an Rohstoffen und Energiequellen ist.

Moskau und die SCO: Was ist zu erwarten?

Trotz des offiziellen Optimismus mangelt es der Shanghai-Gruppe an konstruktiven, gemeinsamen Zielsetzungen. Während China sich auf Märkte und Energie orientiert, konzentriert sich Russland auf Sicherheit und internationales Prestige; darauf, als militärische Supermacht wahrgenommen zu werden. Und für die zentralasiatischen Regime stellt die Shanghai-Gruppe eine Art „Lebensversicherung“ dar. Dies ist ein Gemisch aus denkbar gegensätzlichen Interessen. Folgt man den russischen und chinesischen Äußerungen, könnten in den folgenden Jahren die Beziehungen zwischen den beiden Staaten gestärkt werden. Dies würde auch die Zusammenarbeit innerhalb der SCO fördern. Nichtsdestoweniger könnte sich Russlands „strategische Partner-schaft“ mit China aufgrund wachsender Interessenskonflikte

Page 12: Nr. 76 Januar/Februar 2011 ISSN: 0944-8101, (2011) 76 Welt ...welttrends.de/res/uploads/2012/04/wt76_marcel_de_haas1.pdf · Russland war sehr aktiv beim Abschluss von Energieverträgen

51Thema

auch als kurzfristig entpuppen. Wenn China seine derzeitigen Bestrebungen nach militärtechnologischer Unabhängigkeit erreicht hat und sich genügend alternative Wege geschaffen hat, um Energie zu bekommen, wird es Russland vielleicht „abstoßen“ wollen. Russland scheint sich darüber im Klaren zu sein, dass sich Chinas wachsende ökonomische und militärische Bedeutung zu einer Gefahr entwickeln könnte. Ein Indiz dieser Erkenntnis waren Moskaus Militärmanöver „Vostok 2010“ im Juni/Juli 2010 im Fernen Osten, die die größten militärischen Manöver seit dem Ende des Kalten Krieges waren. Obwohl man im Szenario des Manövers China sorgfältig nicht erwähnte, war es offensichtlich, dass dies ein Signal für Peking war.

Neben den Kontroversen zwischen China und Russland gibt es in der Shanghai-Gruppe auch unter den anderen Partnern viele unterschiedliche Interessen. Diese verhindern, dass die Gruppierung zu einer dominierenden politischen, ökonomi-schen und/oder militärischen Allianz wird. Es ist sogar denkbar, dass die SCO im Ergebnis interner Differenzen oder durch den Mangel an einer gemeinsamen Zielrichtung oder Bedrohung auseinanderbrechen wird.

Sicher ist: In den nächsten Jahren wird Moskau seine starke Orientierung auf diese Organisation beibehalten, weil es seine außen- und sicherheitspolitischen Interessen befördert, indem es eine Plattform für Waffen- und Energieabkommen bietet und seinen Einfluss im ehemaligen Sowjetgebiet Zentralasiens erhöht. Und nicht zuletzt wird der Kreml weiterhin die Shang-hai-Gruppe dazu benutzen, Peking im Umgang mit der GUS und anderen SCO-Partnern Russlands zu beobachten. Deshalb wird die Shanghai-Gruppe für Russland eine wichtige Dimen-sion seiner Außen- und Sicherheitspolitik bleiben.

Aus dem Englischen übersetzt von Franziska Krämer.

Literaturverzeichnis

Haas, Marcel de: Russia’s Foreign Security Policy in the 21st Century: Putin, Medvedev and Beyond. Rout-ledge, London / New York 2010.

Khramchikhin, Aleksandr: Neadekvatnyy “Vostok”’. Nezavisimoye Voyennoye Obozreniye, 23. Juli 2010.

Medvedjev, Dmitry: Speech at Meeting of Shanghai Cooperation Organisation Council of Heads of State, Tashkent 11.6.2010. http://eng.kremlin.ru/transcripts/419 (abgerufen am 22.11.2010).

Page 13: Nr. 76 Januar/Februar 2011 ISSN: 0944-8101, (2011) 76 Welt ...welttrends.de/res/uploads/2012/04/wt76_marcel_de_haas1.pdf · Russland war sehr aktiv beim Abschluss von Energieverträgen

Bisher erschienene Themenhefte

74 | Vergessene Konflikte73 | Klimapolitik nach Kopenhagen72 | Südafrika und die Fußball-WM71 | Selektive Grenzen70 | Brodelnder Iran69 | Europäische Brüche68 | NATO in der Sinnkrise67 | Außenpolitik in Schwarz-Rot66 | Energiesicherheit Deutschlands65 | Naher Osten – Ferner Frieden64 | Konfliktherd Kaukasus63 | Geopolitik Ost62 | Zerrissene Türkei61 | Soziale Bewegungen in Lateinamerika60 | Russische Moderne59 | EU-Außenpolitik nach Lissabon58 | Regionalmacht Iran57 | Ressource Wasser56 | Militärmacht Deutschland?55 | G8 Alternativ54 | Identität Europa53 | Rotes China Global52 | Deutsche Ostpolitik51 | Geheime Dienste50 | Kerniges Europa49 | Militär in Lateinamerika48 | Internet Macht Politik47 | Europäische Arbeitspolitik46 | Globale Finanzmärkte45 | Von Dynastien und Demokratien44 | Modernisierung und Islam43 | Großmächtiges Deutschland42 | Europäische Außenpolitik41 | Transatlantische Perspektiven II40 | Transatlantische Perspektiven I39 | Wohlfahrt und Demokratie38 | Politisierung von Ethnizität

37 | Vergelten, vergeben oder vergessen?36 | Gender und IB35 | Krieg im 21. Jahrhundert34 | EU-Osterweiterung im Endspurt?33 | Entwicklungspolitik32 | Balkan – Pulverfaß oder Faß ohne Boden?31 | Recht in der Transformation30 | Fundamentalismus29 | Die autoritäre Herausforderung28 | Deutsche Eliten und Außenpolitik27 | 10 Jahre Transformation in Polen26 | (Ab-)Rüstung 200025 | Dezentralisierung und Entwicklung24 | Wohlfahrtsstaaten im Vergleich23 | Kooperation im Ostseeraum22 | Die Ostgrenze der EU21 | Neue deutsche Außenpolitik?20 | Demokratie in China?19 | Deutsche und Tschechen18 | Technokratie17 | Die Stadt als Raum und Akteur16 | Naher Osten – Region im Wandel?15 | Identitäten in Europa14 | Afrika – Jenseits des Staates13 | Deutschland und Polen12 | Globaler Kulturkampf?11 | Europa der Regionen10 | NATO-Osterweiterung 9 | Gewalt und Politik 8 | Reform der UNO 7 | Integration im Pazifik 6 | Zerfall von Imperien 5 | Migration 4 | Geopolitik 3 | Realer Post-Sozialismus 2 | Chaos Europa 1 | Neue Weltordnung

Bestellen Sie …… mit einer Mail an [email protected]… auf www.amazon.de – Suchwort „Welttrends“

ww

w.w

eltt

rend

s.de