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Nsa Der Spiegel 14 0616

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Das Verhältnis Deutschlands zu den USA in Zeiten der NSA-Affäre gleicht dem Ritt auf einer Schiffschaukel: Aus luftigen Höhen geht es atemberaubend in die

Tiefe. Im Sommer vergangenen Jahres, als die ersten Snowden-Enthüllungen bekannt wurden, erklärte die Regierung Merkeldie Affäre schon für beendet, bevor sie ihre Wucht entfaltete.Im Herbst aber, als bekannt wurde, das private Handy derBundeskanzlerin sei überwacht worden, erreichte das Ver-hältnis einen Tiefpunkt. Nun war von Konsequenzen die Rede,von einem anderen Umgang unter Verbündeten.

Dann reiste die Kanzlerin nach Washington, und wiederkehrte Friede ein. Seither würden Transatlantiker wie Sicher-heitsbehörden am liebsten zum normalen Geschäft übergehen,bei dem die Aufgaben verteiltsind: Die NSA ist der omnipo-tente Weltgeheimdienst, dieDeutschen sind der verständ-nisvolle, hilfreiche Bündnis-partner. Diese Arbeitsteilungaus der Ära vor Edward Snow -den war damals schon nichtrichtig. Heute aber ist sie fahr-lässig.

Der SPIEGEL veröffentlichtmit dieser Ausgabe eine Rei-he zentraler Dokumente, ausdenen hervorgeht, wie dieNSA in Deutschland operiertund wie eng sie mit dem Bun-desnachrichtendienst zusam-menarbeitet. Das Mate rial ausSnowdens Bestand zeigt, dassDeutschland für die NSA derwichtigste Standort auf demeuropäischen Festland ist.

In der amerikanischen Bot-schaft stehen die Antennen,mit denen das Regierungs -viertel abgehört werden kann. Im hessischen Griesheim liegtdie Europazentrale der NSA. Dort sieben die Amerikaneraus dem täglichen Strom an europäischen und afrikanischenDaten, an Mails und Telefongesprächen verwertbare Infor-mationen heraus, denn die Interessen der USA sind vielfältigund reichen weit – von den Islamisten im Jemen bis hin zurBundeskanzlerin in Berlin.

Die NSA ist nicht nur ein Geheimdienst, sondern ein macht-politisches Instrument zur Sicherung der „informationellenVorherrschaft für Amerika“, so hat es einst der NSA-ChefKenneth Minihan formuliert. Sie zielt nicht nur auf Terroristenoder Regierungschefs. Ins Netz geraten auch die Bürger inDeutschland, deren E-Mails oder SMS durch die Rechner desGeheimdienstes laufen.

* Graffito in der Nähe des britischen Abhördienstes GCHQ in Cheltenham.

Die Bundesregierung hat die Selbstherrlichkeit der Welt-macht lange hingenommen. Sie hat manches geahnt, vielesverdrängt und einiges über die Allgegenwart der NSA gewusst,weil der Bundesnachrichtendienst bei den Operationen mit-mischt. Dass der BND mit der NSA intensiv kooperiert, nichtnur bei der Terrorbekämpfung, sondern auch bei der unter-schiedslosen Massenüberwachung globaler Kommunikations-ströme, belegen die neuen Snowden-Dokumente. Die Deut-schen sind Partner und Gegner zugleich.

Die Bundeskanzlerin hat einen Amtseid auf das Grund -gesetz geschworen. Spionage gegen Deutschland ist nach dem Strafgesetz verboten. Die Grundrechte der Bürger sindalso keine flexible Größe, abhängig davon, wie es um das Ver-

hältnis Deutschlands zu denUSA gerade bestellt sein mag.Entweder haben die ameri -kanische und die deutsche Regierung miteinander ab -gestimmt, was die NSA inGriesheim, Wiesbaden, Berlin,Frankfurt und Stuttgart tundarf – dann müssen die Kanz-lerin und ihr Innenministerdie Öffentlichkeit darüber in-formieren, denn beide trügendamit Mitverantwortung fürdie Handlungen der Amerika -ner, die offenbar in Deutsch-land gewonnene Daten fürdas Töten mutmaßlicher Ter-roristen nutzen.

Oder aber die NSA gehtauf deutschem Boden ohneWissen und Billigung der Bundesregierung vor. Dannkommen ihre Operationender Spionage gleich, und da-gegen muss die Regierung,wie in anderen Fällen auch,vorgehen.

Die Veröffentlichung der geheimen Dokumente in die semSPIEGEL liegt auch im Interesse der Bundesregierung. Sie hatsich in Washington um das Deutschlanddossier der NSA be-müht. Vergeblich. Auch deshalb haben Sicherheitsbehördenund Parlamentarier den SPIEGEL um Einsicht in die Snowden-Dokumente gebeten. Journalisten sind aber zuerst und zuletztder Aufklärung verpflichtet, und die Öffentlichkeit erwartetzu Recht, dass sie davon in Kenntnis gesetzt wird, was dieNSA treibt und treiben darf.

Der Partnerschaft zwischen den Vereinigten Staaten vonAmerika und Deutschland kann es nur guttun, wenn sie vonPathos befreit wird. Manche Interessen der Verbündeten de-cken sich, andere nicht. Im Zweifelsfall aber sollte die deut-sche Regierung auf der Seite der Überwachten stehen, nichtauf jener der Überwacher.

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Partner und Gegner zugleichWarum der SPIEGEL weitere geheime Dokumente über die NSA-Affäre enthüllt

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Spionage-Karikatur*: Mithören, mitlesen

Leitartikel

Das deutsche Nachrichten-Magazin

Sitz des NSA-Verbindungsbüros zum BND in Bad Aibling

„Patch Barracks“ in Stuttgart

„Dagger Complex“ in Griesheim

NSA-Dependancen in der Bundesrepublik

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Snowdens Deutschland-AkteÜberwachung Die Auswertung geheimer Dokumente aus dem Bestand Edward Snowdenszeigt: Nirgendwo in Europa ist die NSA so aktiv wie hierzulande. Von Deutschland aus abgefangene Daten halfen den Amerikanern offenbar, Terrorverdächtige zu töten.

Titel

Es war kurz vor Weihnachten 2005,als die Arbeit der amerikanischenSpione in Wiesbaden empfindlich

gestört wurde. Beim Verlegen einer Glas-faserleitung stießen Bauarbeiter in derNähe des Rheins auf verdächtige Metall-gegenstände im Erdreich, womöglichBlindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg.Im Stadtteil Mainz-Kastel hatte Hitlers Ar-mee dereinst marode Panzer wieder flott-gemacht.

Die Hausherren aus den USA, die ander Ludwig-Wolker-Straße offiziell eine„Storage Station“ unterhielten, entwickel-ten Pläne für den Notfall. Einige Wochenspäter war es so weit: Am 24. Januar 2006mussten die Datenspezialisten der Natio-nal Security Agency (NSA) ihre Büros räu-men. Einen ganzen Tag lang waren sie vonwichtigen Datenströmen in Europa abge-schnitten, einen schmerzhaft langen Zeit-raum. Am Abend folgte die Entwarnung:Der vermeintliche Blindgänger war nurein Haufen Schrott.

Die Bürger in Mainz-Kastel bekamenvon alldem nichts mit. Zwar kennt amrechten Rheinufer jedes Kind das gut 20Hektar große Gelände der US-Armee.Eine beigefarbene Mauer mit Stacheldrahtschirmt die Amerikaner jedoch von derAußenwelt ab, ein Schild warnt: „Vorsicht,Schusswaffengebrauch!“

Die Gäste in Uniform gehören seit Jahr-zehnten zum Stadtbild, die örtlichen Ge-schäftsleute haben sich auf die zahlungs-kräftige Kundschaft aus Übersee einge-richtet. Gebrauchtwagenhändler weisenihre Preise in US-Dollar aus, im Brauhaussind viele Amerikaner Stammgäste. „Esist ein friedliches Miteinander“, sagt Chris-ta Gabriel, die Ortsvorsteherin von Mainz-Kastel.

Dass in Gebäude 4009 der „Storage Sta-tion“ eine der wichtigsten NSA-Datensam-melstationen in Europa versteckt ist, wuss-ten Gabriel und die meisten Wiesbadenerbislang freilich nicht: das European Tech-nical Center (ETC), so die offizielle Be-zeichnung. Die Station wurde in den ver-gangenen Jahren stetig ausgebaut, wie Do-kumente aus dem Archiv des Whistle -blowers Edward Snowden zeigen. Das Modernisierungsprogramm der Datenspio-ne lief unter dem eigentümlichen Titel„GOD LIKELESION“ („gottgleiche Wun-de“) und war aus Sicht der Amerikanerdringend nötig: Anfang 2010 zum Beispielwar in der NSA-Dependance binnen we-niger Monate 150-mal die Stromversor-gung gestört – für einen Dienst, der dieglobale Über wachung aller Datenströmeanstrebt, ein schweres Handicap.

Am 19. September 2011 feierten dieAmerikaner die Wiedereröffnung desrunderneuerten ETC. Seither ist das Ge-bäude der „primäre Kommunikations-Knotenpunkt“ der NSA auf dem alten

Kontinent. Hier, heißt es in einemSnowden-Dokument, werden in großemStil Daten abgefangen und weitergeleitet,an „NSAler, Kriegführende und ausländi-sche Partner in Europa, Afrika und demNahen Osten“. Ein verlässlicher Daten-transport sei für „die vorhersehbare Zu-kunft“ gesichert.

Zumal den Spionen schon bald einenoch leistungsfähigere Einrichtung zur Ver-fügung stehen wird: Nur fünf Kilometerentfernt, in der Clay-Kaserne in Wiesba-den-Erbenheim, wird derzeit das „Conso-lidated Intelligence Center“ gebaut, in daswohl die Abhörspezialisten aus Mainz-Kas-tel einziehen werden. 124 Millionen Dollarlassen sich die Amerikaner ihre neue Zen-trale in Südhessen kosten. Sobald sie fertigist, wird sie den Datenhunger der Regie-rung der Vereinigten Staaten noch besserstillen können.

Ein Jahr nachdem Edward Snowden of-fengelegt hat, wie umfassend die NSAweltweit spioniert, ist über die Aktivitätendes Geheimdienstes in Deutschland nochimmer relativ wenig bekannt. Es ist sicher,dass die Amerikaner ein Mobiltelefon derBundeskanzlerin überwacht haben; es istevident, dass es Lauschposten in der US-Botschaft in Berlin und im Generalkonsu-lat in Frankfurt am Main gibt.

Die Bundesregierung hat mehrmals Lis-ten mit Fragen an die US-Regierung über-mittelt. In Berlin hat ein parlamentarischerUntersuchungsausschuss seine Arbeit auf-genommen. Und in Karlsruhe hat der Ge-neralbundesanwalt ein Ermittlungsverfah-ren gegen unbekannte NSA-Mitarbeitereingeleitet – allerdings nur wegen derÜberwachung des Kanzlerin-Handys.Doch Regierung, Parlamentarier und Bun-desanwälte eint eines: Antworten aus denUSA dürfen sie nicht erwarten.

Wie viel die Bundesregierung inzwi-schen über die Spionage der Amerikanerin Deutschland wisse, fragte der Linke Jan Korte jüngst. Die Antwort: nichts. Das Versprechen der NSA, ein „Deutschland -paket“ mit allen relevanten Dokumentenzu schicken, die Snowden weitergab, umdamit zwischen den beiden RegierungenTransparenz zu schaffen, haben die Ame-rikaner stillschweigend einkassiert.

Deshalb hat sich der SPIEGEL darum be-müht, die Snowden-Unterlagen noch ein-mal auf alle Deutschland betreffenden As-pekte durchzugehen.

Das so entstandene Deutschlanddossierenthält Originaldokumente, die SPIEGELONLINE diese Woche zum Download be-reithält. Über manche Papiere hat der SPIE-GEL bereits im vergangenen Jahr berichtet,andere sind bislang unbekannt. An ver-schiedenen Stellen sind Dokumente um ei-nige sensible Informationen bereinigt, wieetwa um die Namen gewöhnlicher NSA-oder BND-Mitarbeiter. Gleichzeitig stüt-

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Clay-Kaserne in Wiesbaden

SCS-Dachaufbau auf der US-Botschaft in Berlin

US-Generalkonsulat in Frankfurt am Main

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zen sich die Artikel zum Thema NSA indieser Ausgabe des SPIEGEL auch auf etli-che Dokumente und Informationen aus an-deren Quellen.

Öffentlichkeit und Gesellschaft habenein Recht zu erfahren, was die NSA inDeutschland tut. Jeder Interessierte sollsich ein Bild davon machen können, wieumfänglich der amerikanische Nachrich-tendienst in Deutschland aktiv ist und wiedie Zusammenarbeit mit den deutschenBehörden – etwa beim Anzapfen von Glas-faserkabeln – aussieht (siehe Seite 26).

Das Deutschlanddossier liefert Materialfür die Diskussion über die Notwendigkeitund die Grenzen geheimdienstlicher Ar-beit sowie über den Schutz der Privatsphä-re im Zeitalter digitaler Kommunikation.Und es ergänzt die Debatte über die trans-atlantischen Beziehungen, die seit derNSA-Affäre gestört sind wie lange nichtmehr.

Die Dokumente zeichnen das Bild eineromnipotenten amerikanischen Behörde,die in den vergangenen 13 Jahren ein im-mer engeres Verhältnis zu den Deutschenentwickelt und zugleich ihre Präsenz mas-siv ausgebaut hat. Wie in keinem anderenLand in Europa gibt es in der Bundesrepu-blik eine geheime Überwachungsstrukturder NSA, die nicht nur mit dem Wunschnach Sicherheit, sondern auch mit demStreben nach totaler Kontrolle zu tun hat.Mindestens ein Dutzend aktive Sammel-

stellen wies die NSA im Jahr 2007 Jahr inDeutschland aus.

Die Unterlagen legen nahe, dass dieNSA an deutschen Standorten Daten nachauffälligen Lebensgewohnheiten durch-sucht, nach „patterns of life“, wie es in ei-nem Snowden-Dokument heißt. Und siedeuten darauf hin, dass die in Deutschlandgewonnenen Erkenntnisse auch für die„Festnahme oder Tötung“ von angeblichenTerroristen genutzt werden, so steht es ineinem der Geheimberichte.

Spionage ist auf deutschem Boden unteranderem nach Paragraf 99 des Strafgesetz-buchs verboten. Aber von alldem, was dieNSA hier tut, wissen die hiesigen Behör-den nicht viel, sie wollten wohl auch allzulange nichts wissen. Erst als Snowden auf-tauchte, begann die Bundesregierung nach-zuforschen. Am 11. Juni, am 26. Augustund am 24. Oktober vergangenen Jahresübermittelte sie etliche Fragen an die US-Regierung. Bei einem Besuch Anfang No-vember im NSA-Hauptquartier in FortMeade im US-Bundesstaat Maryland tru-gen die deutschen Geheimdienstchefs Ger-hard Schindler (Bundesnachrichtendienst)und Hans-Georg Maaßen (Verfassungs-schutz) die wichtigsten Fragen vor, sicher-heitshalber übergaben sie den Amerika-nern eine Liste. Antworten: keine. So sindes Snowdens Dokumente, die am bestenbeschreiben, wie die NSA nach den An-schlägen vom 11. September 2001 die Bun-

desrepublik zu ihrem wichtigsten Stütz-punkt in Europa machte.

Die Europazentrale der NSA

Am 10. März 2004 besiegelten zwei US-Generäle die Gründung eines Operations-zentrums, das heute als wichtigste Abhör-station der NSA in Europa fungiert: Ri-chard Quirk III. für die NSA und JohnKimmons vom Nachrichtendienst der US-Armee setzten ihre Unterschrift unter dasKonzept für das „Europäische Sicherheits-zentrum“ (ESC), das auf dem Gelände derUS-Armee in Griesheim bei Darmstadt an-gesiedelt wurde.

Anfang 2003 hatte die NSA ein erstesTeam nach Süddeutschland entsandt. Dashalbe Dutzend Analysten, stationiert beider NSA-Europaführung in Stuttgart-Vai-hingen, sollte sich vor allem um Nordafrikakümmern. Zu den Zielen gehörte es lautden internen Unterlagen, afrikanische Re-gierungen bei der Grenzsicherung zu un-terstützen – und dafür zu sorgen, dass sie Terrororganisationen und deren Helfernkeinen Rückzugsraum boten.

Die Arbeit trug bald Früchte: Die Bewe-gungsmuster von Verdächtigen in Mali, Mau-retanien und Algerien ließen sich mittelsÜberwachung von Satellitentelefonen im-mer besser verfolgen. Die Informationenwurden an das Europakommando der US-Streitkräfte geleitet, in Teilen auch an diejeweiligen Regierungen in Afrika. Die nach-

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US-Präsident Obama, Überwachungsziel Merkel: „Heimvorteil auf dem Territorium des Gegners“

Titel

richtendienstlichen Erkenntnisse „waren fürdie Festnahme oder Tötung von mehr als40 Terroristen verantwortlich“, heißt es ineinem Bericht der NSA vom Januar 2005.Sie hätten zum Erfolg des weltweiten„Kriegs gegen den Terror“ und der US-Poli-tik in der Region beigetragen.

Dient Deutschland also als Brückenkopffür Amerikas tödliche Operationen gegenmutmaßliche Terroristen? Nutzen die CIAund das amerikanische Militär Daten, diedie NSA in Deutschland gesammelt hat,für die Einsätze ihrer Kampfdrohnen? EineAnfrage des SPIEGEL ließ die NSA dazuunbeantwortet.

Die Operationen der NSA-Analysten inStuttgart waren derart erfolgreich, dass derGeheimdienst seine Präsenz bald ausbaute.Auf rund tausend Quadratmeter Büroflä-che schufen die Amerikaner 2004 in Gries-heim 59 Arbeitsplätze zur Kommunikati-onsüberwachung, mit denen „Krisen- undKampfeinsätze“ der US-Streitkräfte unter-stützt werden sollten. Heute, zehn Jahrespäter, ist aus dem anfangs überwiegendmilitärisch geprägten Zentrum die größteund wichtigste Außenstelle der NSA inEuropa geworden. Ihr Auftrag geht weitüber die Unterstützung des US-Mi-litärs hinaus.

2011 arbeiteten bei Darmstadt240 Geheimdienst-Analysten, ein„Mix aus Militärangehörigen, zivi-len Mitarbeitern der Armee, NSA-Zivilisten und Vertragsmitarbei-tern“, wie es in internen Unterlagenheißt. Sie sind sowohl für das Ab-fangen von internationaler Kommu-nikation als auch für deren Auswer-tung verantwortlich, für die ge -samte Kette von Arbeitsschritten,berichtet ein NSA-Mann stolz:„Sammeln, verarbeiten, analysierenund weiterleiten.“

Seit der Umbenennung in Euro-päisches Zentrum für Kryptologie(ECC) im Mai 2011 ist in den Kom-plex auch das „Threat OperationsCenter“ der NSA integriert, das Be-drohungen frühzeitig identifizierensoll. Insgesamt 26 Aufklärungsmis-sionen werden aus dem Grieshei-mer Komplex gesteuert, der in -zwischen die „größte Beschaffungs-und Analyse-Einrichtung in Eu ropa“sei. Den internen Unterlagen zufol-ge ist das ECC der operative, nach-richtendienstliche Arm der NSA-Eu-ropaführung in Stuttgart-Vaihingen.

Ziele in Afrika, Ziele in Europa

Vieles, was in Griesheim geschieht,ist klassische Aufklärung und Ge-fahrenabwehr. Eine Präsentationvon 2012 legt jedoch nahe, dassvom ECC aus auch europäische Da-tenströme überwacht werden. In ei-

ner internen Darstellung ist neben „Zielenin Afrika“ von „Zielen in Europa“ dieRede. Der Grund: Die meisten Terroristenmachten „einen Stopp in Europa“. Für dieAufklärung stütze sich das ECC auf eigenenachrichtendienstliche Ermittlungen sowieDatenüberwachung des britischen Nach-richtendienstes GCHQ.

Gemeint ist damit wahrscheinlich das„Tempora“-Programm, mit dem im briti-schen Ort Bude der gesamte Internetver-kehr aus mehreren großen Glasfaserkabelnabgesaugt wird. Das GCHQ speichert inKooperation mit der NSA die Daten, diedurch die großen europäischen Netzver-bindungen geleitet werden, für mindestensdrei Tage. Zumindest auf einen Teil derGCHQ-Daten hat laut eigenen Angabendas ECC Zugriff.

Für die Analyse der Kommunikations-ströme nutzen die NSA-Leute in Gries-heim modernstes Equipment, unter ande-rem das Programm „XKeyscore“, das einetiefenscharfe Analyse des Internetverkehrserlaubt. Die Software hat daher Begehr-lichkeiten beim Bundesnachrichtendienstund dem Bundesamt für Verfassungsschutzgeweckt.

Ein NSA-interner Bericht legt nahe, dassin Griesheim mittels „XKeyscore“ inzwi-schen nicht nur Angaben über das Wo,Wann und Wer-mit-Wem ausgewertet wer-den – die sogenannten Metadaten –, son-dern auch Kommunikationsinhalte. Der„rohe Dateninhalt“ werde zwischen „dreiTagen und einigen Wochen“ gespeichert,heißt es in der Übersicht des ECC. Die Me-tadaten würden mehr als 90 Tage aufge-hoben. Laut dem Dokument ermöglichtXKeyscore auch „komplexe Analysen vonLebensgewohnheiten“.

In einer Stellungnahme räumt die NSAein, dass XKexyscore ein Teil des nach-richtendienstlichen Systems sei, mit demausländische Informationen gesammeltwürden; dies geschehe allerdings im Ein-klang mit dem Gesetz und ermögliche derNSA, amerikanische und alliierte Truppen„zu schützen“. Es gebe einen „ausführli-chen und engen Austausch“ mit der deut-schen Regierung. In der Stellungnahmean den SPIEGEL verweist die NSA auf Ba-rack Obamas Richtlinie vom Januar, inder er die Bürgerrechte aller Menschenanerkannt hatte, unabhängig von ihrer Na-tionalität. Privatsphäre und Bürgerrechte

sollten „integrale Bestandteile derPlanung von Telekommunikations-überwachung sein“.

Dahinter steht auch ein unter-schiedliches Verständnis von Über-wachung: Im Ausland definiert dieNSA es noch nicht als Überwachung,wenn etwa E-Mails durchsucht undzeitweilig gespeichert werden. Erstwenn diese Daten dauerhaft in denBestand des Geheimdienstes über-führt werden, gilt dies als tiefer Ein-griff in die Privatsphäre. Insofern istes aus US-Sicht kein Widerspruch,wenn Obama versichert, die Bevöl-kerung werde nicht ausgespäht –und die NSA dennoch den Mail-Ver-kehr überwacht. Detaillierte Fragenzu ihren Außenstellen in Deutsch-land ließ die NSA unbeantwortet.

Die rege Aktivität im Innern desHorchpostens bei Griesheim stehtin auffälligem Kontrast zur äußerenErscheinung des Areals. Nur einpaar Gebäude sind oberirdisch zuerkennen, gesichert durch zwei Zäu-ne, dazu eine Sperre aus Stahlträ-gern und Stahlseilen.

Der Aktivist Daniel Bangert wür-de zu gern einen Blick dahinter wer-fen, aber so oft er im vergangenenJahr auch am Zaun rüttelte – nie-mand ließ ihn ein. Stattdessen kamimmer wieder die Polizei.

Ursprünglich sollte es nur einesubversive Satireaktion sein, alsBangert vergangenen Sommer erst-mals zu einem „Spaziergang“ nachGriesheim lud, um „gemeinsam den

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Präsentation der NSA-Station in Griesheim zu Überwachungs-

maßnahmen in Europa. Begründet wird die systematische

Ausforschung mit der möglichen Durchreise mutmaßlicher

Terroristen. Unten: Systematische Profilbildung durch Zusam-

menführung aller verfügbaren Daten von Personen.

Titel

bedrohten Lebensraum der NSA-Spionezu erforschen“. Mit jeder neuen Enthül-lung aus dem Snow den-Bestand jedoch be-gann der 29-Jährige, die Sache ernster zunehmen. Inzwischen provoziert der gelern-te Heizungsbauer, der sich gern mal ein T-Shirt mit der Aufschrift „Team Edward“überstreift, mit einer Schar Mitstreiter regelmäßig die Bediensteten im Dagger-Komplex. Über die Monate haben sie ei -ne Art Gegenspionage entwickelt und no-tieren sich die Autokennzeichen mut -maßlicher Spione aus Mainz-Kastel undStuttgart.

Der Anti-Überwachungs-Aktivist hat so-gar versucht, einige der Amerikaner in einGespräch zu verwickeln. Beim GriesheimerZwiebelmarkt, einem beliebten Volksfest,hat er einen zu einem Bier überredet, dochder beantwortete seine Fragen nur mit Ge-genfragen. Ein anderer, sagt Bangert, habeihm zugeraunt: „What is your problem?We are watching you!“

Gut möglich, dass Bangert längst dieAufmerksamkeit eines weiteren NSA-Ab-legers auf sich gezogen hat, der nicht fernvon Griesheim residiert, im FrankfurterGeneralkon sulat: der „Special CollectionService“ (SCS). Es ist jene Lauschein -heit, für die sich seit zwei Wochen offizielldie Bundesanwaltschaft interessiert, we-gen der Überwachung des Handys vonAngela Merkel. Die Spur führt vom Berli-ner Kanzleramt über die US-Botschaft amPariser Platz bis nach Laurel: im Bun -desstaat Maryland, nördlich von Washing-ton, D. C.

Dort hat der SCS seinen Sitz. Er ist einGemeinschaftsunternehmen von NSA undCIA, seine Mitarbeiter sind über den gan-zen Globus verstreut. Sie sind Auge undOhr der Vereinigten Staaten von Amerika

und sorgen für einen „Heimvorteil auf demTerritorium des Gegners“, wie es in eineminternen Dokument heißt.

Der SCS sei wie „ein Haushalt mit zweiEltern“, sagt Ron Moultrie, früher Vizechefder Behörde: „Wir müssen immer an beideElternteile denken.“ Alle zwei Jahre wech-selt die Führung zwischen NSA und CIA.SCS sei „ein echter Hybrid“, so Moultrie.In vier Abteilungen ist das Zwitterwesengegliedert, darunter das „Büro für Auftrags-unterstützung“ und das „Büro für Feldope-rationen“, das wiederum aus einer Abtei-lung für Spezialoperationen und einemZentrum für die Entwicklung von Funkauf-klärung besteht. In Laurel hat die NSA lautinternen Unterlagen eine Übungs-Außen-stelle nachgebaut, die zu Trainingszweckendient, gleichzeitig aber auch Relaisstationist für in Übersee aufgefangene Kommuni-kation.

Die Mitarbeiter sind in Botschaften undKonsulaten in Krisenregionen stationiert,aber auch in Staaten wie Österreich, dieals neutral gelten. In den Vertretungen ge-nießen die Spione besonderen völkerrecht-lichen Schutz, weil sie als Diplomaten ak-kreditiert sind. Dort tun sie, was sie nichtdürfen, aber woran sie nur selten jemandhindert: nahezu nach Belieben spionieren.Über viele Jahre traten die SCS-Leute ge-tarnt als Mitarbeiter einer ominösen „De-fense Communications Support Group“auf, manchmal auch als „Defense Informa-tion Systems Agency“.

Informationen über SCS-Standorte sindlaut einer Anweisung von 2011 mindestens75 Jahre lang geheim zu halten. Die Be-gründung: Würden die Aktivitäten be-kannt, würden sie die „Wirksamkeit aktu-eller nachrichtendienstlicher Methoden“beeinträchtigen und den Beziehungen der

USA mit fremden Regierungen „schwerenSchaden“ zufügen.

1979 gab es etwas mehr als 40 SCS-De-pendancen. In der Hochphase des KaltenKrieges lag die Zahl auf einem Rekord -niveau von 88, nach dem Fall der Mauerschmolz sie deutlich ab. Doch nach denAnschlägen vom 11. September 2001 wur-den wieder zusätzliche Filialen eröffnet,sodass es heute weltweit um die 80 SCS-Lauschstationen gibt: von „A“ wie Athenbis „Z“ wie Zagreb. In der Bundesrepublikunterhält der SCS den Unterlagen zufolgezwei Niederlassungen: im US-Generalkon-sulat in Frankfurt und in der US-Botschaftin Berlin, nur wenige Hundert Meter ent-fernt vom Kanzleramt.

Aus dem Datenbankeintrag zum Handyvon Angela Merkel, über den der SPIEGELim Oktober 2013 erstmals berichtete, gehthervor, dass der SCS mit der Überwachungbetraut war. Die für die Abwehr und Ver-folgung von Spionage zuständigen Be -hörden – der Verfassungsschutz und dieBundesanwaltschaft – interessieren sichvor allem für die Technik, die die SCS-Leute einsetzen.

Laut einem Grundsatzvortrag zur Ar-beit des SCS gehört zur Ausrüstung in US-Botschaften ein Antennenrotor namens„Einstein“, eine Datenbank zur Analysevon Mikrowellen („Interquake“) sowie einProgramm namens „Sciatica“, mit dem dieAgenten Signale im Gigaherzbereich er-fassen können. Ein Programm namens„Birdwatcher“, das verschlüsselte Signaleerfasst und zur Analyse bereitstellt, lässtsich aus der SCS-Zentrale in Marylandfernsteuern. Mit ihr kann die NSA ge-schützte „Virtuelle Privatnetzwerke“ iden-tifizieren, die als Ziele interessant sind.Solche VPN werden von vielen Firmenund Botschaften für die hausinterne Kom-munikation genutzt.

Nach der Enthüllung der Merkel-Ope-ration wandte sich der Präsident des Bun-desamts für Verfassungsschutz (BfU),Hans-Georg Maaßen, an US-BotschafterJohn Emerson, um mehr über die Technikund das Personal, das sie bedient, zu er-fahren. Maaßen wollte auch wissen, wel-che Vertragsfirmen die NSA in Deutsch-land beschäftigt. Als Emerson bei einemBesuch im Kanzleramt fallen ließ, er gehe davon aus, dass sich die Antwort er-ledigt habe, widersprach der BfU-Chefschriftlich: Seine Anfrage sei nach wie voraktuell.

Maaßen erhielt eine aus seiner Sicht „zu-friedenstellende“ Antwort von Emersonbezüglich des Personals. Das liegt vermut-lich daran, dass die US-Regierung vieleGeheimdienstler hierzulande offiziell ak-kreditiert hat. Insgesamt mehr als 200 Mit-arbeiter sind nach SPIEGEL-Recherchen inDeutschland angemeldet. Hinzu kommenAngestellte privater Firmen, die im Auf-

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Verfassungsschützer Maaßen: Datenbank zur Analyse von Mikrowellen

Amerikas BrückenkopfNSA-Einrichtungen in Deutschland

FRANKFURT AM MAINIm US-Konsulat hatder Special Collection Service eine weitereNiederlassung.

BERLINDer Special Collection Service, eine Geheim-truppe aus NSA und CIA, hat eine Station in der US-Botschaft.

BAD AIBLINGDie NSA hat in der Mangfall-Kaserne ein Verbindungs-büro, das eng mit dem BNDkooperiert.

WIESBADENn der Storage Station im tadtteil Mainz-Kastelefindet sich das Euro-ean Technical Center.

In der Clay-Kaserne im Stadtteil Erbenheim wird das neue Consolidated In-telligence Center gebaut.

GRIESHEIM BEI DARMSTADTIm Dagger Complex ist dasEuropean Cryptologic Centerder NSA angesiedelt.

TUTTGART-VAIHINGENer Hauptsitz der NSA in eutschland ist in den atch Barracks beheimatet.

trag der NSA schnüffeln, aber nicht akkre-ditiert sind.

Liest man die Fragenliste, die die Bun-desregierung an die US-Botschaft richtete,dann brauchen die Deutschen dennochdringend Nachhilfe: „Gibt es Special Col-lection Services in Deutschland?“, heißtes da. „Dienen sie der Überwachung inDeutschland?“ Und: „Richtet sich dieseAufklärung gegen die Interessen Deutsch-lands?“

Maaßen wird spätestens vor dem parla-mentarischen Untersuchungsausschuss be-antworten müssen, was er über die US-Spione mittlerweile weiß – und wie er seinem gesetzlichen Auftrag, Spionage zuverhindern, nachzukommen gedenkt. DerVerfassungsschutz behauptet, es sei unklar,ob die Bundeskanzlerin aus der Botschaftin Berlin oder der Zentrale in Marylandüberwacht wurde, und deshalb sei fraglich,ob dies überhaupt ein Fall für die deutscheSpionageabwehr sei. Seltsam: Der deut-sche Inlandsgeheimdienst ist selbstver-ständlich für jeden Spionageangriff gegendie Bundesrepublik zuständig, unabhängigvom Dienstsitz der Angreifer. Cyber-Atta-cken aus China betrachtet der Verfassungs-schutz auch dann als Spionage, wenn dieUrheber in Shanghai sitzen.

Den Auftrag, die Kanzlerin zu überwa-chen, hatte der Bereich S2C32 erteilt, daszuständige NSA-Referat für Europa. Mer-

kel war 2009 in einer Liste von 122 Staats-und Regierungschefs erfasst, welche derUS-Geheimdienst ausspähte. In einem Ver-zeichnis namens „Nymrod“ führt die NSAdazu alle Treffer zu einer bestimmten Per-son auf, mit ihren unterschiedlichenSchreibweisen.

Die NSA hat Nymrod im Januar 2008eingeführt, die Einträge verweisen auf„nachrichtendienstliche Berichte aus Da-tenbanken von NSA, CIA und dem Ver-teidigungsministerium“. Im Fall Merkelhandelt es sich 2009 um mehr als 300 Be-richte, in denen die Kanzlerin vorkommt.Der Inhalt dieser Meldungen ist der Da-tenbank nicht zu entnehmen. Aber laut ei-ner Nymrod-Beschreibung aus dem Juni2008 geht es in dem Verzeichnis um „Si-gint-Targets“, also um nachrichtendienst-liche Aufklärungsziele.

Sammelstellen in Deutschland

Ist es denkbar, dass die Bundesregierungvon all diesen Aktivitäten der NSA aufdeutschem Boden nichts gewusst hat?Dass ihr „durch die NSA genutzte Über-wachungsstationen in Deutschland nichtbekannt“ sind, wie sie im August 2013 aufeine Anfrage der damals auf den Opposi-tionsbänken sitzenden SPD behauptete?

Kaum vorstellbar. Denn die NSA istnicht nur seit Jahrzehnten in Deutschlandtätig; sie ist es in enger Abstimmung mit

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dem Bundesnachrichtendienst, dessenFachaufsicht im Bundeskanzleramt liegt.So heißt es etwa in einem streng geheimenNSA-Papier vom Januar 2013: „Die NSAetablierte 1962 eine Beziehung mit ihremSigint-Partner BND, die umfassenden ana-lytischen, operativen und technischen Aus-tausch einschließt.“

Als die Kooperation mit dem westdeut-schen Juniorpartner anlief, war die NSAgerade mal zehn Jahre alt, neben der Eu-ropazentrale in Stuttgart-Vaihingen gab esAußenstellen in Augsburg-Gablingen undWestberlin.

Die Geheimdienste der Amerikaner hat-ten, wie die drei anderen Siegermächtedes Zweiten Weltkriegs, sofort mit demAuskundschaften der Deutschen in ihrenBesatzungszonen begonnen. Das belegtein interner Leitfaden zur Einstufung vonBerichten, in dem es um den Zeitraum von1945 bis 1967 geht.

Die Briten und Franzosen reduzierten1955 die Überwachung und konzentriertensich auf das Abhören Richtung Osten.Nicht so die Amerikaner: Sie bestandendarauf, weiterhin Fernmeldeleitungen innerhalb der Bundesrepublik und vonhier aus Richtung Westeuropa anzuzapfen.Mitte der Fünfzigerjahre dürften US-Spio-ne bereits mehr als fünf Millionen deut-sche Telefongespräche pro Jahr überwachthaben.

Der östlichste Horchposten der NSA imEuropa des Kalten Krieges war die „FieldStation Berlin“ auf dem Westberliner Teu-felsberg. Die Lauscher auf dem 115 Meterhohen Trümmerberg leisteten offenbarhervorragende Arbeit. Viermal gewannensie die begehrte Travis Trophy, die alljähr-liche NSA-Auszeichnung für den weltweitbesten Horchposten.

Ein „andauerndes Beherrschungsver-hältnis“ nennt der Historiker Josef Fosche-poth die deutsch-amerikanische Freund-schaft. Er spricht von einem „über 60 Jahreentstandenen Gewohnheitsrecht“ derAmerikaner auf unkontrollierte Überwa-chung in Deutschland. Wie umfassend die-se war und offenbar immer noch ist, gehtaus sogenannten Sigad-Listen desSnowden-Bestands hervor. Sigad steht für„Signal Intelligence Activity Designator“,bezeichnet also eine Einrichtung, die Te-lekommunikation abfängt. Jede US-Über-wachungsanlage trägt einen aus Buch -staben und Ziffern zusammengesetztenCodenamen.

Aus Unterlagen geht hervor, dass dieAmerikaner in den Jahrzehnten vor dem

Mauerfall in Westdeutschland immer wie-der neue Sigads einrichteten und alteschlossen – insgesamt rund 150. Seither hatsich die Technik mehrfach revolutioniert.Die modernen Glasfaserkabel haben dieSatelliten weitgehend verdrängt; Datensind digital. Dadurch ist das Abfangen gro-ßer Datenmengen einfacher geworden.

In den Snowden-Dokumenten befindetsich eine Liste aus dem Jahr 2007. Siereicht bis ins Jahr 1917 zurück und enthältviele ehemalige und noch aktive US-Mili-tärstandorte sowie weitere US-Einrichtun-gen als Datensammelstellen. ZahlreicheKennungen sind demnach mittlerweise au-

ßer Betrieb, für mindestens ein Dutzendindes ist kein Deaktivierungsdatum ver-zeichnet. Dem Dokument zufolge ist dasSchließdatum entweder nicht bekannt,oder die betroffenen Sigads sind noch ak-tiv. Diese Kennungen sind unter anderemStandorten in Frankfurt, Berlin, Bad Aib-ling und Stuttgart zugeordnet – alles Ortemit aktiver NSA-Präsenz.

Da die Amerikaner in der Regel selbstabhörten, wen auch immer sie interessantfanden, hatte der BND ihnen lange Zeitwenig zu bieten. Die Kooperation gestal-tete sich einseitig, den Deutschen blieb dieRolle des Bittstellers. Erst um die Jahrhun-

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SPIEGEL: Herr Eichner, Sie waren bei derHauptverwaltung Aufklärung (HVA)der Staatssicherheit der DDR mit derGegenspionage beschäftigt. Wie gutwar die NSA – professionell betrach-tet – in den Achtzigerjahren?Eichner: Für alle westlichen Dienste, dieauf dem Gebiet der Fernmeldeaufklä-rung tätig waren, war die NSA das Leit-organ und der Spitzengeheimdienst. Sowohl von der materiellen wie auchvon der personellen Ausstattung.SPIEGEL: Wie ausgeprägt war die Daten-sammelwut der NSA seinerzeit?Eichner: Sie wollte auch schon damals alles wissen, aber sie hatte noch nichtalle technischen Voraussetzungen, umalles zu erfassen und zu verarbeiten.SPIEGEL: In Ihrem gerade erschienenenBuch über die NSA beschreiben Sie,wie die Stasi an NSA-Interna kam*.Eichner: Ja. Eine unserer Quellen warseit 1972 in der technischen Abteilungdes BND und berichtete uns erstmalsvon der Combined Group Germany in

* Klaus Eichner: „Imperium ohne Rätsel. Was bereits die DDR-Aufklärung über die NSA wusste“.Edition Ost, Berlin; 128 Seiten; 9,99 Euro.

München, in der der Informationsaus-tausch zwischen dem BND und denAmerikanern lief.SPIEGEL: Wie gestaltete sich die amerika-nisch-westdeutsche Zusammenarbeit?Eichner: Etwas einseitig. Wir wussten,dass die Amerikaner Anfragen über dieDDR ganz kühl abblockten. Die BND-Leitung wurde mehrfach bei den Ver-bindungsoffizieren der US-Geheim-dienste vorstellig, weil sie Zugriff aufdie Informationen haben wollte, welchedie NSA auf dem Westberliner Teufels-berg sammelte. Sie wollte die Original-aufnahmen, bekam aber von den Ame-rikanern nur aufbereitete, selektierteInformationen.SPIEGEL: Wie reagierte der BND auf dieAblehnung?Eichner: Der Bundesnachrichtendienstwandte sich an die Franzosen und baute mit ihnen auf dem Flughafen Ber-lin-Tegel eine gemeinsame Station auf,die parallel zu den Amerikanern die -selben Kommunikationslinien der DDRerfasste.SPIEGEL: Haben Sie mitbekommen, dassdie NSA Menschen oder Institutionenin Westdeutschland ins Visier nahm?

Eichner: Die Ohren der NSA warengrundsätzlich nicht nur in Richtung Ostaufgestellt. Die NSA arbeitete in West-berlin und der Bundesrepublik in alleRichtungen. Es wurden Dossiers überdie Spitzenpolitiker und -wirtschaftsma-nager der BRD geführt. SPIEGEL: Was war für die Amerikanerwichtiger, der BND und die westdeut-schen Dienste als Partner oder als Ob-jekte der Ausspähung?Eichner: Die Amerikaner hatten den Blickeiner Großmacht auf einen Juniorpartner– der meist gehorsam ist, aber ab und zuvon der Erziehungslinie abweicht. EinHerz und eine Seele waren sie nie. DieWestdeutschen hatten immer einen star-ken Drang, an den von den USA gesam-melten Informationen teilzuhaben. Bisheute sind die Amerikaner auf dem Terri-torium der Bundesrepublik derart massivpräsent, dass sie keine Hilfe zur Aufklä-rung in Richtung Osten brauchen. Sie ma-chen es lieber selbst, als sich von denDeutschen abhängig zu machen.SPIEGEL: Wie viele Quellen hatte dieHVA der Stasi für NSA-Material?Eichner: Zwei. Wir konnten 1984 JamesHall werben, der zunächst auf dem

„Geheimdienste wollen alles wissen“Interview Der ehemalige DDR-Offizier Klaus Eichner, 75, über die Arbeit der NSA im Kalten Krieg und ihre Beziehung zum BND

Ergreifen oder töten Die NSA verwendet Erkenntnisse aus der Überwachung von Telekommuni-

kation bei der Durchsetzung von US-Interessen in Afrika sowie für Angriffe auf mutmaßliche Ter-

roristen. Der Einsatz von nur fünf bis sechs Analysten habe „signifikante Ergebnisse“ erbracht.

Titel

dertwende hat sich das Verhältnis verän-dert – auch weil der BND mit viel Auf-wand seine Technik verbessert hat, wieein NSA-Vermerk anerkennt. Wer Kochist und wer Kellner, blieb jedoch klar.

Was die deutsche Regierung heute an-geblich nicht weiß, war der Hauptverwal-tung Aufklärung (HVA) des ostdeutschenMinisteriums für Staatssicherheit schonlange klar. In einer Ausarbeitung eines Sta-si-Offiziers heißt es über die NSA: „Diesergeheime Nachrichtendienst der USA spei-chert alle Funksignale, Gespräche etc. rundum den Erdball von Freund und Feind.“

Anfang 1990, die Berliner Mauer wargerade gefallen, lieferten HVA-Offiziereunter anderem rund 40 Ordner mit Kopienvon NSA-Material im Zentralarchiv der Stasi ab und verstauten sie in einem Stahl-schrank. Zwei optimal platzierte amerika-nische Spione hatten die Dokumente be-schafft, die HVA-Offiziere wollten den bri-santen Stoff für die Historiker und andereInteressierte erhalten.

Nachdem US-Diplomaten vom General-bundesanwalt über die Existenz des Mate-rials informiert worden waren, begann Wa-

shington Druck auf die Bundesregierungauszuüben, und forderte die Überstellungder NSA-Akten. Im Juli 1992 schließlichübergaben Mitarbeiter der von JoachimGauck geleiteten Behörde „zwei verschlos-sene Behälter mit US-Unterlagen“ an denBundesgrenzschutz, der diese wiederumdem Innenministerium aushändigte. DieAmerikaner verwendeten sie schließlichim Prozess gegen einen Ex-NSA-Mann,der für die DDR spioniert hatte.

Doch der erste Beutezug reichte derNSA noch nicht. 2008, als in Berlin dieerste Große Koalition unter Angela Mer-kel regierte, nahmen mehrere NSA-Mit-arbeiter bei der Gauck-Behörde Einsichtin alle verbliebenen Unterlagen der fürFunkaufklärung zuständigen MfS-Haupt-abteilung III – sofern es um US-Einrich-tungen ging.

Das Bundesinnenministerium sperrteden größten Teil der Akten – sie sind fürJournalisten und Wissenschaftler nichtmehr einsehbar. Als Edward Snowden mitder Veröffentlichung von NSA-Materialienbegann, waren nur noch zwei Ordner zurNSA zugänglich: harmloses Zeug. Das his-

torische Material wird den Bundesanwäl-ten, die sich nun wieder mit der NSA be-schäftigen, wenig helfen.

Einer, der zur Aufklärung wohl deutlichmehr beitragen könnte, wird an diesemMontag in München erwartet: GeneralKeith Alexander, der vor Kurzem aus demDienst geschiedene langjährige NSA-Chef.Die Deutsche Telekom hat ihn als promi-nenten Gast für ihre Konferenz „24 Hours2014“ in München verpflichtet. Er sollabends den Dinner-Speech halten. Ob siedie Gelegenheit nutzen, um Alexander alsZeugen zu befragen, wollten die Karlsru-her Bundesanwälte auf Anfrage nicht mit-teilen: „Strafrechtliche Ermittlungsverfah-ren werden nicht öffentlich geführt.“

Es ist zu befürchten, dass für die Chef -ermittler der Republik auch das Diktumvon Foschepoth gilt. „Die Zufriedenheitder Amerikaner“, meint der Wissenschaft-ler, „ist für die Bundesregierung ein höhe-res Gut als unsere Verfassung.“

Sven Becker, Hubert Gude, Judith Horchert,

Andy Müller-Maguhn, Laura Poitras,

Ole Reißmann, Marcel Rosenbach, Jörg Schindler,

Fidelius Schmid, Michael Sontheimer, Holger Stark

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Westberliner Teufelsberg und dann inFrankfurt arbeitete. Er wurde von demin Westberlin lebenden Türken HüseyinYildirim instruiert, der auch als unserKurier fungierte. Und wir hatten dieQuelle Jeffrey Carney, Deckname „Kid“,der in einem U.-S.-Air-Force-Objekt inBerlin-Marienfelde arbeitete.SPIEGEL: Was beschafften die Quellen?Eichner: Über diese Leute gelangten Pa-piere zu uns, von denen wir nur ge-träumt hatten. Dass ein Unteroffizierwie Hall alle zentralen Dokumente derNSA beschaffen konnte, war unglaub-lich: alle Direktiven, die NSRL, die Na-tional Sigint Requirements List, auf der

alle US-Ministerien und Geheimdiensteihre Überwachungswünsche zusammen-getragen hatten; 4200 Blatt.SPIEGEL: War die NSA damals intern soschlecht gesichert wie heute? Eichner: Die Sicherheitsvorkehrungenbesonders im 533rd MI-Battalion inFrankfurt waren sehr lasch. SPIEGEL: Haben bundesdeutsche Politi-ker die US-Dienste jemals als Fall fürdie eigene Spionageabwehr gesehen?Eichner: Nein, genau das ist das Pro-blem. Das Bundesamt für Verfassungs-schutz hatte und hat bei der Spionage-abwehr keine Referate, die in RichtungWesten arbeiten. Die zuständigen Politi-

ker und die Verfassungsschützer wuss-ten, dass die US-Dienste auch gegen dieBundesrepublik arbeiten. Aber sie wer-teten es nicht als feindlichen Akt.SPIEGEL: Haben die Enthüllungen vonSnowden Sie überrascht?Eichner: Das Herangehen der NSA hatmich nicht überrascht. Geheimdienstewollen alles wissen. Sehr wohl über-rascht aber hat mich der enorme Um-fang der NSA-Überwachung.SPIEGEL: Wie beurteilen Sie die Enthül-lungen von Snowden?Eichner: Wir konnten kaum mit unserenInformationen Politik machen, um un-sere Quellen nicht zu gefährden. Beiden Whistleblowern ist das Wunder -bare, dass sie brisante Informationen andie Öffentlichkeit bringen und die ver-antwortlichen Politiker dazu zwingen,Stellung zu beziehen. Die Reaktionender Politiker zeigen, dass ihnen Leutewie Chelsea Manning, Julian Assangeoder Edward Snowden mit ihren Ent-hüllungen sehr wehtun.SPIEGEL: Was würden Sie EdwardSnowden raten?Eichner: Dass er seinen russischen Part-nern offenbart, wie man an die Syste-me rankommt, wie man sie bewertenkann, auch perspektivisch.SPIEGEL: Dann hätte er die Todesstrafewohl sicher.Eichner: Natürlich. Das hat er ohnehin.

Interview: Andy Müller-Maguhn,

Michael Sontheimer

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Ehemalige NSA-Station auf dem Berliner Teufelsberg: „Ohren in alle Richtungen“

Drei Monate bevor Edward Snowdenmit seinen Enthüllungen die Welterschütterte, versammelten sich die

Mitarbeiter der NSA-Abteilung „SpecialSource Operations“ im US-BundesstaatMaryland zu ihrem wöchentlichen Treffen.Die intern als besonders effizient geltendeGruppe betreut unter anderem die heiklenPartnerschaften des Geheimdienstes mitgroßen Telekommunikationskonzernen.Das ist jener Bereich, den Snowden als die„Kronjuwelen“ der NSA bezeichnet.

Diesmal aber war etwas schiefgelaufenbei den Edelsteinhütern. Einer der Ana-lysten dieser Einheit berichtete an diesem14. März 2013 über einen Zwischenfall.„Nicht eingeweihte“ Mitarbeiter eines Telekommunikationsunternehmens hättendas Programm „Wharpdrive“ entdeckt, fürdas ein Glasfaserkabel angezapft wordenwar. „Eingeweihte Kräfte des Partners“,

so erklärte er weiter, „haben die Spurenentfernt und eine glaubwürdige Legendegeschaffen.“ Man habe angeboten, so heißtes in einem internen NSA-Papier, einTeam zusammenzustellen und das Equip-ment unauffällig wieder zu installieren.

Die hochsensible Operation führte dieNSA ganz offensichtlich nicht allein aus.Allem Anschein nach hatte sie dabei Hilfeaus Deutschland, genauer gesagt vom Bundesnachrichtendienst (BND). DerDeckname „Wharpdrive“ taucht in einemDokument des Whistleblowers EdwardSnowden über den anstehenden Besucheiner BND-Delegation in der NSA-Zentra-le in Fort Meade auf. In den Instruktionenfür den Besuch der Freunde aus Pullachheißt es: „Dankt dem BND für seine Hilfebei dem trilateralen Programm.“ Und wei-ter wird ausgeführt, der deutsche Diensthabe bei der Überwachungsoperation die

Führungsrolle inne, die NSA leiste techni-sche Unterstützung.

Wo der BND gemeinsam mit der NSAund einem weiteren Partner das Glasfaser-kabel angezapft hat und um welche Über-wachungsziele es geht, ist den Unterlagennicht zu entnehmen. Fragen zu „Wharp-drive“ wollten die Dienste nicht beantwor-ten. Klar scheint aber: Der BND koope-rierte aufs Engste in einem der sensibelstenBetätigungsfelder mit der NSA.

Es ist ein intransparentes, schwierigesGebiet, die Zusammenarbeit mit den US-Diensten, zu der sich die deutschen Behör-den in Folge des 11. September 2001 ent-schlossen haben. Intransparent, weil Par-lament und Öffentlichkeit kaum überprü-fen können, was genau an die VereinigtenStaaten geliefert wird. Und schwierig, weilseit Kurzem höchstoffiziell die Frage ge-stellt wird, ob sie überhaupt rechtens ist.

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Eifer und GierAffären Die Kooperation der deutschen Geheimdienste mit der NSA hat bislang unbekannte Dimensionen erreicht. Der Bundesnachrichtendienst hat sich dabei offenbar in Grenzbereiche gewagt.

stuftes Papier nahe, das die Bundesregie-rung auf Anfrage der Opposition erstellte,führt der BND keine Statistik darüber, wieviele Verbindungsinformationen über Te-lefonate, Mails und Kurznachrichten, so-genannte Metadaten, er an die amerikani-schen Dienste weitergibt. „Alle Metada-ten“, die von der NSA-Dependance imbayerischen Bad Aibling erfasst werden,so heißt es in der offiziellen Antwort, wür-den „verfügbar gemacht“. Darüber hinausseien sowohl 2012 als auch 2013 jeden Monat mehr als drei Millionen sogenannteInhaltsdaten übermittelt worden – also abgehörte Gespräche oder Nachrichten.

Diese Zahlen und Fakten, die bislangnur ausgewählte Parlamentarier erfuhren,bieten einen Einblick in die deutsch-ame-rikanische Schlapphut-Freundschaft. Einviel umfangreicheres Panorama der Ko-operation zeigen Recherchen des SPIEGELund Dokumente aus dem Bestand desWhistleblowers Edward Snowden auf, diedie Redaktion einsehen konnte.

Demnach ist der Austausch von Daten,Spähwerkzeugen und Know-how viel in-tensiver, als es selbst Experten bislang bekannt war. Angesichts dieser engen Part-nerschaft wirken Erklärungen des BND,wonach er angeblich keine näheren Kennt-nisse von Programmen und Methoden derNSA habe, zumindest erstaunlich.

Es gibt einen Ort in Deutschland, an demsich der transatlantische Pakt besonders gutbeschreiben lässt: Er liegt in den Vor alpen,im malerischen Mangfalltal. In dem 18000-Einwohner-Städtchen Bad Aibling unter-hielt die NSA jahrzehntelang ihren größtenLauschposten auf Bundesgebiet. Bis zu 1800Mitarbeiter waren hier statio-niert, sie feierten bei Chicken-Joe, einer kleinen Kneipe an derAusfahrt des US-Camps, sie be-suchten Johnny’s Bowling,kreuzten in ihren amerika -nischen Geländewagen mit US-Kennzeichen durchs Zentrum.

Wie beliebt der Ort unter denAmerikanern ist, geht aus einer„Kleinen Bad Aibling Nostalgie“hervor, die NSA-Mitarbeiter inihrem Intranet veröffentlichten.Dort erinnern sie sich wehmütigan „Freibier“ und bayerischenLeberkäse, der erstaunlicherwei-se ja weder aus Leber noch ausKäse gemacht werde. Auch dieEinheimischen mochten dieAgenten, die für sie verlässlicheMieter waren. „Bei mir wohntenzwei Männer, die sich auf arabi-sche Dialekte spezialisiert hat-ten“, erinnert sich der Schmuck-händler Max Regensburger,„nette Leute.“ Vom Bäcker überden Metzger bis zum Tischlerprofitierten alle von den Bedürf-

nissen der Amerikaner. Als diese 2004 ihreBasis räumten, schwenkten die Bad Aib-linger US-Fähnchen.

Aber die NSA ging nicht so ganz. Zwarübernahm der BND ein Großteil der Ein-richtungen, darunter auch die neun weißenAntennenkugeln (Radome), die wie über-große Golfbälle in der Landschaft liegen.Doch eine kleine Spezialeinheit der NSAzog ein paar hundert Meter entfernt in dieMangfall-Kaserne ein, in der bereits BND-Agenten saßen. Die Amerikaner ließen eigens ein fensterloses Gebäude errichten,mit einer Außenfassade aus schwarz la-ckiertem Metall.

„Blechdose“ nennen die BND-Leute denKomplex der Amerikaner, die hier ihre„Special US Liaison Activity Germany“,kurz Suslag, stationiert haben. Auch wenndie bloße Existenz dieser Einheit als ge-heim eingestuft ist. Unter Kollegen kenntman sich, schätzt sich, arbeitet zusammen.

Wie die Kooperation zwischen Deutsch-land und den Vereinigten Staaten in BadAibling offiziell angelegt ist, dokumentiertein Vertragswerk, das bereits zwei Jahrevor dem offiziellen Abzug der NSA unterder Federführung des damaligen Kanzler-amtschefs Frank-Walter Steinmeier (SPD)formuliert wurde. Das am 28. April 2002unterzeichnete „Memorandum of Agree-ment“ ist sechs Seiten lang, „streng ge-heim“ gestempelt und stammt nicht ausSnowdens Fundus.

Darin gibt es zunächst vor allem allge-meine Erklärungen zur „guten Zusammen-arbeit“, ans Eingemachte geht es in einem74-seitigen Anhang. Dort verständigen sichbeide Seiten auf gemeinsame Spionage -

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Führende deutsche Verfassungsrechtlerhaben da Bedenken. Vor dem NSA-Unter-suchungsausschuss des Bundestags trugensie vor, der BND handle womöglich ver-fassungswidrig, wenn er mit Daten arbeite,die er von der NSA bezogen habe. Zudemhätten Grundrechte wie das Fernmeldege-heimnis auch im Ausland und für Auslän-der zu gelten – somit wäre auch die vonNSA und BND gemeinsam betriebene Aus-landsaufklärung nicht grundgesetzkon-form, urteilten drei Schwergewichte desRechts, Hans-Jürgen Papier, WolfgangHoffmann-Riem und Matthias Bäcker.

Die deutschen Geheimdienste hingegenbetrachten ihre Zusammenarbeit mit derNSA als unerlässlich. Sei es zur Terrorab-wehr, beim Kampf gegen die Verbreitungvon Massenvernichtungswaffen oder imEinsatz gegen die organisierte Kriminalität.Offiziell, so legt es ein als geheim einge-

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Transatlantischer Geist Logo gemeinsamer Einheit (o.),

NSA-Dokument zur „Sammlung digitaler Netzwerkkommuni-

kation“ (1), dem zufolge „geheim“ zu halten sei, dass NSA

und BND zusammen Überwachung in der Mangfall-Kaserne

betreiben (2) sowie Details darüber (3)

BND-Gebäude in Pullach

bei München

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themen und -ziele, wie die Bekämpfungvon Terrorismus, organisierter Krimina -lität und der Verbreitung von Massenver-nichtungswaffen.

Das schnöde Abhören ist kein Thema,zunächst einmal. Vielmehr verpflichtensich die Vertragspartner, Grundrechte wiedas Brief-, Post- und Fernmeldegeheimniszu achten, mithin keine Deutschen undkeine Amerikaner auszuforschen. Das gel-te für „reale“ und „juristische Personen“,also Firmen oder Verbände.

Und selbst in diesem Memorandumkommt es aufs Kleingedruckte an, auf dieZusätze, die Ausnahmen. Und siehe da: ImFalle „terroristischer Aktivitäten“ ist dasTabu kein Tabu mehr. Wenn sich bei ab -gefangenen Signalen brisanten Inhalts imNachhinein herausstellt, dass sie von einemDeutschen stammen, können sie trotzdemverwendet werden – wenn der Partner informiert wird und seine Zustimmung er-teilt. Das Gleiche gilt, wenn sich die „End-punkte“ der belauschten Kommunikationim jeweils anderen Land befänden.

Laut Grundgesetz ist dem BND einLauschangriff auf Bundesbürger verboten.Öffnet das Kleingedruckte im Memoran-dum also eine Hintertür? Liefert die NSAInformationen über Radikale, die der deut-sche Auslandsdienst gar nicht haben darf?

Der BND will auf Anfrage von Ausnah-meregelungen nichts wissen und erklärt:„Es wurde zu keinem Zeitpunkt von dengesetzlichen Regelungen abgewichen.“

Ob die Deutschen überhaupt wissen,was die Geheimdienstkollegen von derNSA in Bad Aibling genau anstellen,scheint fraglich. Denn laut Vertrag könnensie eigene Aufklärungsoperationen durch-führen – und müssen lediglich bereit sein,Einblick in die Auftragserteilung und dieAuftragserfassung zu gewähren.

Die NSA-Leute zeigten sich internenDokumenten zufolge jedenfalls begeistertvon Bad Aibling. Dort entstanden nämlichgleich „zwei aufregende Joint Ventures“ –Arbeitsgruppen zur gemeinsamen techni-schen Aufklärung (die Joint Sigint Activity,JSA) und sogar zur Auswertung abgefan-gener Signale (Joint Analysis Center, JAC).

Snowdens Dokumente vermitteln aucheine Idee, was die transatlantischen Ver-bündeten konkret trieben. So arbeitetenbeispielsweise bereits 2005 fünf zivile NSA-Mitarbeiter als „integrierter“ Be-standteil einer BND-Operation namensOrion „Seite an Seite“ mit BND-Analystengegen Ziele jenseits der Nato-Ostgrenze.

Den Unterlagen zufolge liegen die vonBND und NSA gemeinsam überwachtenZiele vorwiegend in Afrika und Afgha -nistan. Verdächtig ist allerdings, dass in einem Dokument von 2009 eine Liste vonFirmen und Organisationen mit den Domain- Endungen .com, .net und .org erscheint, die explizit von der Überwa-chung ausgenommen werden sollen, weiles sich dabei um deutsche Adressen hand-le. basf.com und bundeswehr.org stehenauf der Liste, aber auch Domains wie or-gelbau.com und feuerwehr-ingolstadt.org.

Augenscheinlich handelt es sich umAdressen, die ins Raster geraten waren undsich erst danach als deutsch entpuppten.Das würde bedeuten: Die Filtersysteme, dieder BND nach eigener Darstellung im Ein-satz hat, verhindern nicht zuverlässig, dassdeutsche Ziele mit .com- oder .org-Adres-sen in die Überwachung geraten – und dassdiese Beute offenbar nachträglich aus demFangnetz herausgenommen werden muss.

Der BND reagiert auf Nachfragen nachder engen Zusammenarbeit in Bad Aiblingmit dem Hinweis, die „Joint Sigint Activi-ty“ und das „gemeinsame Analysezen-trum“ bestünden „seit 2012 bzw. seit 2011nicht mehr“. Zudem vermerkt der BNDin seiner Stellungnahme, es habe auch vordem Ende der Einrichtung keine gemein-same Überwachung stattgefunden: „Auchzuvor erfolgte die Fernmeldeaufklärungausschließlich durch den BND.“

Aus den NSA-Dokumenten geht aller-dings etwas anderes hervor, zum Beispielin einem Bericht zum einjährigen Bestehender „Blechdose“ auf dem Kasernengelän-de: Dort heißt es mit Bezug auf die JSA,die Kooperation sei als „gemeinsam be-setzte und gemeinsamen Aufträgen folgende“ Überwachungseinheit „einzig -artig“. Eine Geheimhaltungsvorschrift der

Amerikaner von 2005 betont sogar, dass„NSA und BND gemeinsam, als JSA, inder Mangfall-Kaserne technische Überwa-chung betreiben“, müsse unbedingt ge-heim bleiben.

Bad Aibling spielt auch eine zentraleRolle bei der Frage, ob die NSA monatlichetwa 500 Millionen Daten in Deutschlandsammelt. Darauf deutete eine Karte desSpähprogramms „Boundless Informant“hin, die der SPIEGEL im Sommer 2013 ver-öffentlichte. In dieser Übersicht sind alsHauptquellen für Metadaten zwei Sammel-stellen („Sigads“) mit den Codes US-987LA und US-987LB angegeben.

Demnach sind allein aus diesen beidenQuellen zum Jahreswechsel 2012/13 in gutvier Wochen rund 500 Millionen Metada-ten aus Deutschland in die Datenbankender NSA eingelaufen. In einem Dokument,in dem das Programm erklärt wird, heißtes, die Daten würden „against“, also gegendas jeweilige Land gesammelt. Im Raumstand der Vorwurf, die Amerikaner wür-den ganze Nationen überwachen.

Die NSA hat sich zu den beiden Sammel-stellen nie explizit geäußert, aber laut BNDgibt es eine Erklärung, die den Vorwurf derSpionage gegen Deutschland entkräftet:Man gehe davon aus, „dass die Sigad US987-LA und -LB Bad Aibling und der Fern-meldeaufklärung in Afghanistan zuzuord-nen sind“ – demnach stammten die 500 Mil-lionen Datensätze vom BND, gesammeltin anderen Ländern. Allerdings schränkteder deutsche Geheimdienst ein, man könnenicht genau sagen, ob damit alle von derNSA aufgelisteten Daten erfasst seien.

Sollten die Angaben zutreffen, dannwäre die Formulierung von „Boundless Informant“ – und auch die Interpretationdes SPIEGEL – falsch gewesen. Und untermStrich wäre die BND-Einlassung ein Belegfür den enormen Datenaustausch der Deut-schen mit der NSA.

Beim Programm „Wharpdrive“ betäti-gen sich die Spezialisten von BND-ChefGerhard Schindler sogar als Türöffner.Laut einem Snowden-Dokument dient dieZusammenarbeit der Deutschen mit derNSA-Abteilung Special Source Operations

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Mangfall-Kaserne in Bad Aibling: „Zwei aufregende Joint Ventures“ zwischen BND und NSA

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dazu, „unkonventionelle Spezialzugänge“zu Glasfaserkabeln zu erhalten.

Entsprechend voll des Respekts sind dieAmerikaner, wenn sie von Überwachungs-projekten „unter riskanten Bedingungen“schwärmen oder von „einzigartigen“ Zu-gängen, die ihnen der Pullacher Dienst „inBereichen besonders interessanter Zieleverschafft“ habe.

Dass Mitarbeiter von BND und NSAnicht nur eng zusammenwirken, sondernsich bisweilen auch technisch auf Augen-höhe begegnen, belegt ein Papier aus demJahr 2006. Seinerzeit besuchten US-Ge-heimdienstler die BND-Dependance imniedersächsischen Schöningen. Sie liegtnur ein paar Kilometer entfernt von denFachwerkhäusern am Marktplatz, früherhorchte der BND von hier aus in die nahegelegene DDR hinein.

Es waren die Wochen rund ums Fußball-Sommermärchen, die Weltmeisterschaft inDeutschland, als US-Analysten sich vonBND-Kollegen elektronische Werkzeugevorführen ließen. Das Equipment, ver-merkten die Gäste in einem Protokoll, seiteilweise leistungsfähiger als das eigene.

Schon damals arbeitete der BND inSchöningen demnach an Algorithmen, mitdenen sich soziale Netzwerke für Geheim-dienstzwecke ausbeuten lassen – etwa umMuster oder Anomalien zu entdecken. DieAmerikaner signalisierten gleich in der Be-treffzeile des Protokolls ihre Achtung vorden Deutschen: „Besucher beeindrucktvon Software-Demos.“ Auch die Überwa-chungsergebnisse aus Afghanistan, „dieder BND täglich mit uns teilt“, hoben siehervor.

Überhaupt Afghanistan. Zu keinem The-ma findet sich in Snowdens Unterlagenmehr Lob für den BND. Die NSA ist vondem, was deutsche Agenten am Hindu-kusch leisten – und mit ihr teilen –, gera-dezu begeistert. Mehrfach lobt die Agencydie Deutschen für ihre „Führungsrolle“und dass sie zusätzliche Überwachungs -ziele ins Visier genommen haben: nämlichneben den militärischen auch zivile.

Wie aus einer Präsentation über die Zu-sammenarbeit von 14 Nachrichtendiensten

in Afghanistan hervorgeht, können diePartner in „Nahezu-Echtzeit“ Aufklärungs-ergebnisse austauschen, darunter die In-halte entschlüsselter Mobilfunkgespräche,Warnhinweise, aber auch „Target Packa-ges“, also Zielinformationen.

Als der SPIEGEL im vorigen Sommerüber diese Weitergabe von Zielinformatio-nen berichtete, dementierte der BND diesnicht. Er bestritt aber, dass die Daten alsGrundlage für amerikanische Drohnen -angriffe taugten.

So einfach liegen die Dinge aber nicht. Zwar kann man über eine in einer bestimmten Funkzelle eingeloggteHandy nummer noch keinen genauenDrohnenangriff steuern. Doch die Droh-nen verfügen längst über sogenannte Imsi-Catcher. Sie agieren wie ein Funk-mast, den die Handys automatisch an -peilen, sobald die Drohne am Himmel auftaucht. Somit könnten Metadaten ausdem Überwachungsaufkommen des BNDsehr wohl dazu beitragen, die tödlicheDrohne an ihr Ziel zu führen. Jüngst be-stätigte sogar der ehemalige NSA- undCIA-Chef Michael Hayden: „Wir bringenMenschen auf der Grundlage von Meta -daten um.“

Zudem geht aus neuen Dokumentenhervor, welche Bedeutung die von Bun-desbeamten geleistete technische Aufklä-rung in Afghanistan für das US-Militär ha-ben kann. Die Deutschen liefern wie ihre13 Partner am Hindukusch Informationenan eine Einheit auf dem US-StützpunktBagram. Dort sitzt auch die „CryptologicServices Group“ der NSA. Die wiederumversorgte mit ihren Angaben auch umstrit-tene Spezialkräfte wie die geheime „TaskForce 373“, deren Auftrag es war, hoch-rangige Taliban und Qaida-Akteure gefan-gen zu nehmen oder zu töten (SPIEGEL30/2010).

Aus dieser Verwertungskette ergebensich heikle Fragen an die Bundesregierungund deren Auslandsgeheimdienst. Fragennach einer indirekten Beteiligung an Kil-lerkommandos, bei denen – als Kollateral-schaden – auch Zivilisten oder Polizistenums Leben kommen können.

Antworten dazu gibt es auch auf Nach-frage keine. Nur pauschale Einlassungenwie jüngst jene von BundesinnenministerThomas de Maizière bei einer Veranstal-tung in Berlin: Die Vereinigten Staaten sei-en Deutschlands wichtigste Verbündete,und „diese gute Zusammenarbeit werdenwir, wenn es nach uns geht, uneinge-schränkt fortsetzen und intensivieren“.

In Snowdens Material finden sich zahl-reiche Belege dafür, dass deutsche Behör-den dies auch versuchen. Im April 2013besuchte eine Delegation des Bundesnach-richtendienstes unter der Leitung des Be-amten Dietmar B. die NSA. Der BND wol-le „dringend seine Fähigkeiten bezüglichZielen in China, Iran, Pakistan, Syrien, Je-men und Nordkorea präsentieren mit demZiel, die Partnerschaft auszubauen“, no-tierten die NSA-Leute. Man begrüße „denEifer des BND, die Kooperation mit derNSA zu stärken und auszubauen“.

In anderen Dokumenten heißt es, derBND habe „Transkriptionen“ zu afrikani-schen Sprachen angeboten, „zu denen ereinzigartige Ressourcen hat“. Und aner-kennend wird erwähnt, dass der BND sei-ne Ergebnisse aus der Überwachung derAußenministerien zweier Staaten teile;Gleiches gelte für die Internettelefonie auseinem Krisenstaat im Nahen Osten.

Mag das deutsch-amerikanische Verhält-nis auf hoher Regierungsebene so ange-spannt wie selten zuvor sein: Zwischendem eifrigen BND und der gierigen NSAscheint alles im Lot.

Nur in einem Punkt reagieren die Part-ner aus Übersee verhalten. Es geht um denWunsch der Deutschen, Material aus derNSA-Überwachung in „öffentlichen Ge-richtsverfahren“ zu verwenden. Man seibesorgt, heißt es in einem Papier aus demApril 2013, dass die Offenlegung von Über-wachungsfähigkeiten vor einem deutschenGericht Konsequenzen haben könnte –und „das gewünschte und geplante Levelder Kooperation“ nicht zu bewahren wäre.

Manchmal stört er die Amerikaner doch,der deutsche Rechtsstaat.

Hubert Gude, Andy Müller-Maguhn, Laura Poitras,

Marcel Rosenbach, Jörg Schindler, Fidelius Schmid

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US-Drohne in Afghanistan, BND-Chef Schindler in Bad Aibling: „Einzigartige Ressourcen“

fan Niggemeier oder Mediendienste wieMeedia schauen uns ständig auf die Finger.Es ist gut, dass es diese Kontrolle der Kon-trolleure gibt. Auch die Macht der Medienwird beschränkt.

Was die Kontrolleure wohl nicht findenwerden, sind Absprachen zwischen großenMedien, gemeinsame Kampagnen. Jour -nalisten suchen nicht das Gemeinsame,sondern den Unterschied. Sie wollen sich abheben von den Kollegen, exklusiveNachrichten zutage fördern, originelle Meinungen äußern. Manchmal allerdingsist die Lage so, dass man kaum verschie-dener Ansicht sein kann.

Aber er sei doch unschuldig, sagt nunWulff. Er habe einen Freispruch ersterKlasse in der Tasche. Das stimmt, und da-mit ist etwas Wichtiges geklärt. Er hat sichstrafrechtlich nichts zuschulden kommenlassen, er war nicht korrupt, hat nicht Ver-günstigungen angenommen und die mitpolitischen Gefälligkeiten vergolten. Er istein unbescholtener Bürger. Aber damitwar er noch nicht der richtige Präsident.

Es heißt, jemand bekleide ein Amt.Aber es ist auch umgekehrt. Ein Amt be-kleidet seinen Inhaber. Es legt ihm einenMantel der Erwartungen um, gestaltet ausden Vorstellungen, die sich aus der Ge-

schichte des Amtes, den Auftritten derAmtsträger und den Gesetzen ergeben.Diesen Mantel muss man tragen können,er muss passen.

Wulff verfolgt in seinem Buch die Stra-tegie, dass er nahezu alle seine Fehlerselbst benennt und verurteilt. So will erdas gleichsam abtrennen, damit er mit demRest gut dastehen kann.

Er schreibt, dass es ein Fehler gewesensei, bei Carsten Maschmeyer auf MallorcaUrlaub zu machen. Dass es ein Fehler ge-wesen sei, sich mit Bild einzulassen. Dasses ein Fehler gewesen sei, Diekmann aufdie Mobilbox zu sprechen. Dass es ein Feh-ler gewesen sei, dem niedersächsischenLandtag zu sagen, er habe keine geschäft -lichen Beziehungen zu seinem Freund EgonGeerkens, dabei aber nicht zu erwähnen,dass dessen Frau Edith den Wulffs einenKredit über 500000 Euro für ihr Haus gege-ben hatte. Dass er sich als Bundespräsidenthier und dort ungeschickt geäußert habe.Dass er später bei seinem Krisen manage -ment „schwere Fehler“ gemacht habe.

Was er, mit Absicht, nicht verstehenwill, ist der Unterschied zwischen einemjuristischen Urteil und einer politischenBewertung. In der Geschichte der Bundes-republik gab es viele Rücktritte von Poli-

tikern. Die wenigsten hatten damit zu tun,dass Staatsanwälte ermittelten oder an-klagten. Manche, wie Wolfgang Schäubleoder Lothar Späth, mussten ihr Amt nachnur einem jener Fehltritte aufgeben, diesich Wulff in Reihe geleistet hat.

Es bleibt dabei. Christian Wulff fehltedas Gespür für sein politisches Dasein, spä-ter das Gespür für das Amt des Bundes-präsidenten. Der Mantel hat nicht gepasst.

Darf sich deshalb ein Journalist oder einMedium anmaßen, einen Rücktritt zu for-dern? Ja. Ein Politiker bekommt sein Amtmeist über den öffentlichen Diskurs, under kann es im öffentlichen Diskurs verlie-ren. Nach einer Rücktrittsforderung folgtin der Regel die Erwiderung, von anderenMedien, von Politikern. In dieser Debatteentsteht der Eindruck, ob jemand im Amtbleiben sollte oder nicht. Diesmal blieb sieweitgehend aus, aber nicht wegen einerbösartigen Medienkampagne.

Heute zeigt sich Steinbrück zerknirscht,dass er Wulff damals nicht zur Seite ge-sprungen ist. Das ist fast niemand. Nochvor der Entscheidung der Staatsanwältewaren fast alle Journalisten und Politikerder Meinung, dass Wulff zu viele Fehlergemacht hatte für dieses Amt. Das hat erjetzt in gewisser Weise bestätigt.