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© 2006 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.phiuz.de 2/2006 (37) | Phys. Unserer Zeit | 55 | EDITORIAL D ie Explosion einer Nuklearwaffe durch Terroristen wä- re monumental. Eine Harvard-Studie folgert, dass die Explosion einer 10-kt-Bombe in Manhattan eine halbe Mil- lion Menschen töten könnte. Aber ist die Gefahr eines Nu- kleareinsatzes durch Einzeltäter real? D as nukleare Erbe des Kalten Krieges birgt sie in sich. Weltweit wurden enorme Mengen an waffenfähigem Material für Hunderttausende von Sprengköpfen produziert. Die Anzahl an Lagerstätten, Reaktoren, Deponien und For- schungsstätten in den Nuklearwaffenstaaten ist groß. Sie sind eine potenzielle Quelle für den Diebstahl von waffen- fähigem Material. Sorge muss vor allem der Abzweigung, der Weitergabe oder dem Verkauf von hoch angereichertem Uran (HEU) oder Plutonium gelten. Denkbar ist auch, dass Terroristen waffenfähiges Spaltmaterial für den Bau einer primitiven Bombe selbst herstellen. Dazu müssten sie aller- dings große technische Schwierigkeiten überwinden, wie Gert Harigel in diesem Heft disku- tiert. Daher gilt diese Option als eher unwahrscheinlich, aber mög- lich. N uklearterroristen stehen im Prinzip vier Wege offen:1) kön- nen sie intakte Nuklearwaffen oder wesentliche Komponenten stehlen oder sich über Weitergabe verschaffen,2) können sie selbst improvisierte nukleare Sprengkörper oder 3) radiologische Waffen bauen, und 4) können sie Nuklearanlagen angrei- fen. Die ersten beiden Wege können zu einer verheerenden Atomexplosion führen, die anderen beiden Varianten be- deuten dagegen eine lokale radioaktive Verseuchung ohne Kettenreaktion. Sie haben keine militärische Bedeutung, pas- sen jedoch gut zu den Zielen von Terroristen,Aufmerksam- keit und Panik zu erzeugen. F ür einen improvisierten Sprengsatz müssen sich die Tä- ter waffenfähiges Material beschaffen, das Wissen zum Bau einer Atombombe ist frei verfügbar.Man kann nur hof- fen, dass die Staaten ihre Nuklearlager dauerhaft und zu- verlässig bewachen. Absolut sicher ist das aber nicht. Die Hauptsorge muss heute dem russischen Nuklearkomplex gelten.Die amerikanische National Academy of Science stell- te 2002 fest, dass das Risiko der Abzweigung von Nuklear- material in Russland „hoch“ ist, „da große Inventare von speziellem Nuklearmaterial an zu vielen Orten gelagert wer- den, bei denen eine Kontrolle offensichtlich nicht vorhan- den ist.“ Zu den Lagerorten, den Sicherheitssystemen und der Moral der Wachmannschaften gibt es Berichte,die eine prekäre Situation nachzeichnen. Es müssen verstärkt An- strengungen unternommen werden,die überschüssigen Ar- senale zu sichern, abzubauen und irreversibel zu vernich- ten. Leider ist dies bisher in zu geringem Maße geschehen. D ie dritte Gefahr besteht im Einsatz „schmutziger“ Waf- fen. Heute gibt es viele radioaktive Quellen für medi- zinische,industrielle und wissenschaftliche Anwendungen. Planübungen ergaben, dass westliche Staaten über unzu- reichende Notfallpläne oder Krisenmanagement verfügen. Meldesysteme, technische Schutzmaßnahmen und Geräte zur Nachsorge sind im Aufbau. Nicht zu unterschätzen ist ein gezielter Angriff auf zivile Nuklearanlagen. Vor allem Kernkraftwerke müssen gegen solche Angriffe ge- schützt werden, was zusätzliche Investitionen erfordert. D ie EU, UNO, NATO und IAEO initiierten kürzlich Pro- gramme zur Erhöhung nuklearer Sicherheit. Die G-8- Staaten starteten 2002 die Initiative „Global Partnership against the Spread of Weapons and Materials of Mass Destruction“. Die USA, Europa und Japan haben sich verpflichtet, zehn Jahre lang insgesamt 20 Milliarden US-Dollar für Abrüstungshilfe im Be- reich der Ex-UdSSR zu investieren. Schwerpunkte sind unter anderem Maßnahmen zur nuklearen und ra- diologischen Sicherheit,die Demon- tage von nuklearen U-Booten und die Stabilisierung der Arbeitsbedingungen von Nuklearper- sonal.Die Umsetzung steckt allerdings immer noch in ihren Anfängen.Viele Tonnen waffenfähigen Materials sind nur unzureichend gesichert und nicht irreversibel abgerüstet. E ine mehrschichtige Abwehr mit frühzeitiger Aufklärung geplanter Abzweigungen und Anschläge ist ebenso not- wendig wie ein effizientes Katastrophenmanagement. Ge- nauso wichtig ist die Installation von Radioaktivitätsmel- dern in Häfen, Grenzstationen und auf Flugplätzen. Der nachhaltigste Weg ist jedoch die irreversible Vernichtung oder Endlagerung von waffenfähigem Material. Schon der Diebstahl und der Bau einer einfachen Nuklearwaffe mit 30 bis 50 kg HEU kann verheerende Folgen haben.Die nuk- leare Abrüstung steckt in der Krise, und die heutigen be- hördlichen Anstrengungen reichen nicht aus,um das zu ver- hindern, was unvermeidlich sein könnte: die Explosion eines nuklearen Sprengsatzes in einer Stadt. Nuklearterrorismus: medienwirksamer Hype oder baldige Realität? Dr. Götz Neuneck ist Leiter des Arbeitsschwer- punkts „Rüstungskon- trolle und Abrüstung“ am Institut für Friedens- forschung und Sicher- heitspolitik in Hamburg, Sprecher des Arbeitskrei- ses „Physik und Abrüs- tung“ der DPG und Mit- glied des Council der „Pugwash Conferences on Science and World Affairs“. DIE HAUPTSORGE MUSS HEUTE DEM RUSSISCHEN NUKLEARKOMPLEX GELTEN

Nuklearterrorismus: medienwirksamer Hype oder baldige Realität?

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Page 1: Nuklearterrorismus: medienwirksamer Hype oder baldige Realität?

© 2006 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.phiuz.de 2/2006 (37) | Phys. Unserer Zeit | 55

| E D I TO R I A L

Die Explosion einer Nuklearwaffe durch Terroristen wä-re monumental. Eine Harvard-Studie folgert, dass die

Explosion einer 10-kt-Bombe in Manhattan eine halbe Mil-lion Menschen töten könnte. Aber ist die Gefahr eines Nu-kleareinsatzes durch Einzeltäter real?

Das nukleare Erbe des Kalten Krieges birgt sie in sich.Weltweit wurden enorme Mengen an waffenfähigem

Material für Hunderttausende von Sprengköpfen produziert.Die Anzahl an Lagerstätten, Reaktoren, Deponien und For-schungsstätten in den Nuklearwaffenstaaten ist groß. Siesind eine potenzielle Quelle für den Diebstahl von waffen-fähigem Material. Sorge muss vor allem der Abzweigung,der Weitergabe oder dem Verkauf von hoch angereichertemUran (HEU) oder Plutonium gelten. Denkbar ist auch, dassTerroristen waffenfähiges Spaltmaterial für den Bau einerprimitiven Bombe selbst herstellen. Dazu müssten sie aller-dings große technische Schwierigkeiten überwinden, wieGert Harigel in diesem Heft disku-tiert. Daher gilt diese Option alseher unwahrscheinlich, aber mög-lich.

Nuklearterroristen stehen imPrinzip vier Wege offen:1) kön-

nen sie intakte Nuklearwaffen oderwesentliche Komponenten stehlenoder sich über Weitergabe verschaffen,2) können sie selbstimprovisierte nukleare Sprengkörper oder 3) radiologischeWaffen bauen, und 4) können sie Nuklearanlagen angrei-fen. Die ersten beiden Wege können zu einer verheerendenAtomexplosion führen, die anderen beiden Varianten be-deuten dagegen eine lokale radioaktive Verseuchung ohneKettenreaktion.Sie haben keine militärische Bedeutung,pas-sen jedoch gut zu den Zielen von Terroristen, Aufmerksam-keit und Panik zu erzeugen.

Für einen improvisierten Sprengsatz müssen sich die Tä-ter waffenfähiges Material beschaffen, das Wissen zum

Bau einer Atombombe ist frei verfügbar. Man kann nur hof-fen, dass die Staaten ihre Nuklearlager dauerhaft und zu-verlässig bewachen. Absolut sicher ist das aber nicht. DieHauptsorge muss heute dem russischen Nuklearkomplexgelten.Die amerikanische National Academy of Science stell-te 2002 fest, dass das Risiko der Abzweigung von Nuklear-material in Russland „hoch“ ist, „da große Inventare vonspeziellem Nuklearmaterial an zu vielen Orten gelagert wer-den, bei denen eine Kontrolle offensichtlich nicht vorhan-den ist.“ Zu den Lagerorten, den Sicherheitssystemen undder Moral der Wachmannschaften gibt es Berichte, die eineprekäre Situation nachzeichnen. Es müssen verstärkt An-strengungen unternommen werden,die überschüssigen Ar-

senale zu sichern, abzubauen und irreversibel zu vernich-ten. Leider ist dies bisher in zu geringem Maße geschehen.

Die dritte Gefahr besteht im Einsatz „schmutziger“ Waf-fen. Heute gibt es viele radioaktive Quellen für medi-

zinische, industrielle und wissenschaftliche Anwendungen.Planübungen ergaben, dass westliche Staaten über unzu-reichende Notfallpläne oder Krisenmanagement verfügen.Meldesysteme, technische Schutzmaßnahmen und Gerätezur Nachsorge sind im Aufbau. Nicht zu unterschätzen ist ein gezielter Angriff auf zivile Nuklearanlagen. Vor allem Kernkraftwerke müssen gegen solche Angriffe ge-schützt werden, was zusätzliche Investitionen erfordert.

Die EU, UNO, NATO und IAEO initiierten kürzlich Pro-gramme zur Erhöhung nuklearer Sicherheit. Die G-8-

Staaten starteten 2002 die Initiative „Global Partnershipagainst the Spread of Weapons and Materials of Mass

Destruction“. Die USA, Europa undJapan haben sich verpflichtet, zehnJahre lang insgesamt 20 MilliardenUS-Dollar für Abrüstungshilfe im Be-reich der Ex-UdSSR zu investieren.Schwerpunkte sind unter anderemMaßnahmen zur nuklearen und ra-diologischen Sicherheit,die Demon-tage von nuklearen U-Booten und

die Stabilisierung der Arbeitsbedingungen von Nuklearper-sonal.Die Umsetzung steckt allerdings immer noch in ihrenAnfängen. Viele Tonnen waffenfähigen Materials sind nurunzureichend gesichert und nicht irreversibel abgerüstet.

Eine mehrschichtige Abwehr mit frühzeitiger Aufklärunggeplanter Abzweigungen und Anschläge ist ebenso not-

wendig wie ein effizientes Katastrophenmanagement. Ge-nauso wichtig ist die Installation von Radioaktivitätsmel-dern in Häfen, Grenzstationen und auf Flugplätzen. Dernachhaltigste Weg ist jedoch die irreversible Vernichtungoder Endlagerung von waffenfähigem Material. Schon derDiebstahl und der Bau einer einfachen Nuklearwaffe mit30 bis 50 kg HEU kann verheerende Folgen haben.Die nuk-leare Abrüstung steckt in der Krise, und die heutigen be-hördlichen Anstrengungen reichen nicht aus,um das zu ver-hindern, was unvermeidlich sein könnte: die Explosion eines nuklearen Sprengsatzes in einer Stadt.

Nuklearterrorismus:medienwirksamer Hypeoder baldige Realität?

Dr. Götz Neuneck ist Leiter des Arbeitsschwer-punkts „Rüstungskon-trolle und Abrüstung“am Institut für Friedens-forschung und Sicher-heitspolitik in Hamburg,Sprecher des Arbeitskrei-ses „Physik und Abrüs-tung“ der DPG und Mit-glied des Council der„Pugwash Conferenceson Science and World Affairs“.

DIE HAUPTSORGE MUSS HEUTE

DEM RUSSISCHEN

NUKLE ARKOMPLE X GELTEN