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Psalm 91 1. Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, 2. der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe. 3. Denn er errettet dich vom Strick des Jägers und von der schädlichen Pestilenz. 4. Er wird dich mit seinen Fittichen decken, und deine Zuversicht wird sein unter seinen Flügeln. Seine Wahrheit ist Schirm und Schild, 5. daß du nicht erschrecken müssest vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen, 6. vor der Pestilenz, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die im Mittage verderbt. 7. Ob tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen. 8. Ja, du wirst mit deinen Augen deine Lust sehen und schauen, wie den Gottlosen vergolten wird. 9. Denn der Herr ist deine Zuversicht, der Höchste ist deine Zuflucht. 10. Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird zu dei- ner Hütte sich nahen. 11. Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, daß sie dich behüten auf allen dei- nen Wegen, 12. daß sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. 13. Auf Löwen und Ottern wirst du gehen und treten auf junge Löwen und Drachen. 14. “Er begehrt mein, so will ich ihm aushelfen; er kennt meinen Namen, darum will ich ihn schützen. 15. Er ruft mich an, so will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not, ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen. 16. Ich will ihn sättigen mit langem Leben und will ihm zeigen mein Heil.”

Ob Tausend Fallen - Lebensgeschichte Peter Ebb - Jesus Bibel Christus Gott Glaube Religion Esoterik

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Psalm 91

1. Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt undunter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, 2. derspricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine

Burg, mein Gott, auf den ich hoffe. 3. Denn er errettetdich vom Strick des Jägers und von der schädlichen

Pestilenz. 4. Er wird dich mit seinen Fittichen decken,und deine Zuversicht wird sein unter seinen Flügeln.

Seine Wahrheit ist Schirm und Schild, 5. daß du nichterschrecken müssest vor dem Grauen der Nacht, vor

den Pfeilen, die des Tages fliegen, 6. vor der Pestilenz,die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die im

Mittage verderbt. 7. Ob tausend fallen zu deinerSeite und zehntausend zu deiner Rechten, so wirdes doch dich nicht treffen. 8. Ja, du wirst mit deinen

Augen deine Lust sehen und schauen, wie denGottlosen vergolten wird. 9. Denn der Herr ist deine

Zuversicht, der Höchste ist deine Zuflucht. 10. Es wirddir kein Übel begegnen, und keine Plage wird zu dei-ner Hütte sich nahen. 11. Denn er hat seinen Engelnbefohlen über dir, daß sie dich behüten auf allen dei-nen Wegen, 12. daß sie dich auf den Händen tragen

und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. 13. Auf Löwen und Ottern wirst du gehen und tretenauf junge Löwen und Drachen. 14. “Er begehrt mein,so will ich ihm aushelfen; er kennt meinen Namen,darum will ich ihn schützen. 15. Er ruft mich an, sowill ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not, ichwill ihn herausreißen und zu Ehren bringen. 16. Ich

will ihn sättigen mit langem Leben und will ihm zeigen mein Heil.”

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ISBN 3 - 932308 - 04 - 2 Ob tausend fallen...

© der 1. Ausgabe 1988: Memra-Verlag, WeichsChristliche Missions-Verlags-Buchhandlung

© der 2. Ausgabe 1997: CMVBChristliche Missions-Verlags-Buchhandlung

Satz und Umschlagsgestaltung: CMVBDruck: Ebner UlmPrinted in Germany

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8Im Sturm der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21Das Ende des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33Stalins Gefangener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39Wieder in Posen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52Unterwegs nach Norden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64In Rußlands Straflagern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75Njandom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89Lager Nr. 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97Weitere Lagererlebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112Drei Tage des Glücks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132Lager Nr. 16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136Es geht irgendwie weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154Lager Nr. 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161Lager Nr. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168Die Jahre 1952/53 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173Das Jahr 1954 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189Daheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195Worterklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

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Vorwort

Peter Epp, der in diesem Buch seine persönlichen Erlebnissemitteilt, kam 1976 als Umsiedler nach Deutschland. 1913 inSchönwiese, einem deutschen Vorort des heutigen Saporoshje,geboren, teilte er das Schicksal der deutschen Minderheit inRußland. Man hatte diese Deutschen als begehrte Siedlerumworben und später auch ihre Leistungen bewundert, aberdann kam das Jahrhundert der extremen Ideologien und desHasses.

Dem Autor blieb nichts erspart, und dennoch versucht er, dieEreignisse und sein persönliches Erlebnis objektiv zu beurtei-len. Das nimmt seiner Erzählung aber nichts an Spannung, imGegenteil, man wird von der einfachen Einsicht des Erzählersgefangengenommen und staunt.

Nicht entgehen wird dem Leser, daß Peter Epp Mennonit ist,d.h., daß er sich als Christ zur Friedenslehre von Menno Simonsbekennt. Auch in dieser Frage bietet er keine billige Antwort an,sondern setzt sich mit den Widersprüchen seines eigenenHandelns auseinander. Wer immer diese spannende und ofterschütternde Geschichte liest, wird ungeachtet seiner eigenenÜberzeugung dem Zeugnis dieses Schreibers Respekt entge-genbringen können. Hier spricht jemand für den einfachenMann aus dem Volke, der trotz der vielseitigen Vergewaltigungdurch die Mächtigen dieser Welt sein gottgeschenktesUrteilsvermögen nicht einbüßt.

Die Aufforderung zur Veröffentlichung dieses Buches kamvon Herrn Gerhard Ens, Schriftleiter der kanadisch-mennoniti-schen Zeitschrift »Der Bote«. Ihm verdanken wir auch die ersteVeröffentlichung einer Serie von Artikeln von Peter Epp. DasMennonitische Lehrzentrum der Winnipeger Universität(Mennonite Studies Centre) hat die Bearbeitung des gesamten

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Materials übernommen und demselben Buchform gegeben.Dabei hat man Sorge dafür getragen, daß die Absicht desSchreibers nicht geändert würde und daß auch der Stil mög-lichst authentisch bliebe.

Herrn Gerhard Ens sprechen wir unseren Dank für seineBemühungen aus. Ferner danken wir auch der Dr. D. D. FriesenFamilienstiftung, deren Bemühungen um das MennonitischeLehrzentrum an der Universität solche Arbeit möglich macht.Ferner sei hier auch die sorgfältige Arbeit von Frau ChristineBell anerkannt, die das druckreife Manuskript fertigstellte.

Georg K. EppDirektorMennonite Studies CentreUniversität WinnipegWinnipeg, Manitoba, Kanada

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Einführung

Als die schwerste Zeit meines Straflageraufenthalts vorbeiwar, der Hunger weniger nagte und die Hoffnung den Willenzum Überleben stärkte, fand sich auch das Bedürfnis, Erlebtessachlich zu dokumentieren. Sollte ich ein Tagebuch wagen?

Ich sah keine Möglichkeit, denn jeden Monat kam es minde-stens einmal zu einer gründlichen Barackendurchsuchung,während die Häftlinge außerhalb des Lagers waren. Da wurdealles ausgeräumt, denn der Häftling durfte nicht mehr besitzen,als er auf dem Leibe hatte. Später wurde es lockerer, und es warauch von Lager zu Lager verschieden, ganz vom Chef desLagers abhängig. Notizen zu machen war gefährlich, denn dasGericht war in solchen Fällen immer sehr freigiebig mit»zusätzlichen Jahren«, und ich wollte doch leben und meineFamilie wiedersehen. Die Angst gebot mir, kein Tagebuch zuführen.

Nach Jahren kam die langersehnte Freiheit, und dann erstrecht das Verlangen zu schreiben, bevor das Erlebnis zum ver-schwommenen Bild wird. An ein Buch habe ich zu jener Zeitnicht gedacht, aber meine Kinder sollten meine Erlebnisse lesenund vielleicht daraus lernen.

Doch die Furcht lähmte mich wieder, um so mehr, als derGeheimdienst mich einmal vom Arbeitsplatz abgeholt hatte.Mit Drohungen, dann mit geheuchelter Gutmütigkeit und dannwieder mit Vorwürfen, daß ich ein staatsfeindliches Element seiund zehn Jahre abgebüßt hätte, wollte man mich zwingen, alsSpitzel zu arbeiten.

Gott sei Dank, meine Lagererfahrungen und viele Verhörekamen mir zugute - ich konnte fest bleiben. Nach wiederholtenVersuchen gab man es auf mit der Bemerkung: »Wehe dir,wenn du plapperst, auch deine Frau darf davon nichts erfahren.«

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Ich wurde durch diesen Fall wieder daran erinnert, daß esüberall Spitzel gab. Obzwar es zu der Zeit schon viel, viel bes-ser war als zu Stalins Zeit, hatte ich doch Angst, mit meinemBericht zu beginnen.

1968 erkrankte ich. Ich erkrankte derart, daß ich gezwungenwar, meine Arbeit als Putzer und Maler aufzugeben. Ich mußteaber arbeiten und Geld verdienen, durfte jedoch nur ganz leich-te Arbeit tun, und so wurde ich in demselben BetriebNachtwächter. Die langen Nächte, wenn ich allein und unbeob-achtet war, nutzte ich nun, mein jahrelanges Verlangen zu stil-len. Nachts, nach dem Zwölf-Uhr-Schichtwechsel, wennniemand mehr durchs Tor ein- und ausging, schrieb ich, zwi-schen meinen Rundgängen, meine Erinnerungen nieder. WirWächter wurden nachts oft von Milizkontrollen überrascht,doch meine Hunde meldeten diese Überraschungen immerrechtzeitig an.

Ein unangenehmes Gefühl hatte ich jedoch immer. Ich hieltalles total geheim, nicht einmal meine Frau wußte davon, bisnach Jahren die ersehnte Ausreise nach Deutschland möglichwurde. Wie sollten meine Notizen jetzt über die Grenze kom-men? Es ging wieder nicht ohne Herzklopfen, aber Gott mach-te es möglich, daß sie auf Umwegen nach Deutschland kamen.

Nach verschiedenen Überlegungen habe ich mich dann aufAnraten mancher Freunde dazu entschlossen, meine Erlebnissezu veröffentlichen. Ich bin kein Schriftsteller, und vieles wirdlückenhaft und ohne Glanz sein. Man wolle mir deshalb verzei-hen und nach dem Pauluswort handeln, das Gute zu behalten,wo es die Prüfung besteht.

Gott wolle das in Schwachheit Geschriebene segnen.Vielleicht hilft es dem einen oder anderen, umzudenken und dieVergangenheit ohne Verbitterung zu bewerten.

Die jüngere Generation wolle es für die Freiheit der gegen-wärtigen Zeit zu Dank bewegen. Uns allen möge es helfen, derNotleidenden unserer Zeit mit liebendem Herzen und offenenHänden zu gedenken.

Der Verfasser

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Kindheit und Jugend

Ich wurde als drittes Kind der Lehrerfamilie Kornelius undMaria Epp geb. Dyck in Schönwiese, einem Stadtviertel derStadt Alexandrowsk (heute Saporoshje) am Dnjepr, geboren.

Der schöne Fluß Dnjepr durchfurcht die Ukraine von Nordennach Süden und ergießt sich bei Odessa ins Schwarze Meer.

Wenn die Wellen des Dnjepr erzählen könnten, würden sievieles zu berichten haben, denn dieser Fluß hat bei kriegeri-schen Auseinandersetzungen immer eine wesentliche Rollegespielt. Der Fluß war immer wieder eine Abwehrgrenze, dienicht so leicht überwunden werden konnte, wenn irgendeineMilitärmacht im Vormarsch war.

Diese Tatsache habe ich schon in meiner frühen Kindheit,während des ersten Weltkrieges und auch während desBürgerkrieges, erfahren können.

Die Stadt Alexandrowsk war von diesen Umständen ganzbesonders in Mitleidenschaft gezogen, weil dort zu jener Zeitdie einzige Brücke den Dnjepr überquerte. Aus jener Zeit habeich auch meine ersten Erinnerungen, die sich in mein Gemütschnitten.

Die erste Erinnerung reicht in den Sommer 1918 zurück, alsdie Ukraine von den Deutschen besetzt wurde. Ich war nochnicht ganz fünf Jahre alt. Ich entsinne mich, daß eines Tages aufBefehl alle Deutschen von Schönwiese in die Keller mußtenund niemand sich auf der Straße zeigen durfte. Ich weiß noch,daß die Eltern und andere, die im Keller bei der Schule saßen,aufgeregt waren, was sich auch auf uns Kinder auswirkte. Wirsaßen alle still, es wurde nur im Flüsterton gesprochen. In derStadt war eine unheimliche Stille. Mir dünkt heute, daß es langedauerte. Da plötzlich begann draußen eine Schießerei, ab und zuknatterte ein Maschinengewehr. Dies währte aber nur ganz

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kurze Zeit, und dann folgte wieder die unheimliche Stille, diejetzt noch bedrückender war als vorher. Nach geraumer Zeitwaren von ferne irgendwelche Rufe zu vernehmen, die immernäher kamen und mit der Zeit gut zu hören waren. Mit kurzenUnterbrechungen rief jemand: »Quartier, Quartier!« Und danndas erleichterte Aufatmen meiner Eltern: »Die Deutschen sindda!« Dann liefen alle aus dem Keller.

In der Schule und im Schulhof wurde, zur Freude der Kinder,eine Husarenabteilung einquartiert. Ich sehe noch die Reiter mitrotem Rock und Goldverzierung auf der Brust und einem Helmmit schwarzem Busch. Ich erinnere mich, wie ich auf dem Knieeines Husaren mit Namen Siering ritt. Der Abzug des deutschenMilitärs fehlt in meinem Gedächtnis.

Das nächste Jahr, 1919, ist mir schon schärfer in Erinnerunggeblieben, denn als die Deutschen abzogen, folgte der furchtba-re Bürgerkrieg und die Bandenzeit, wo besonders dieAnarchistengruppe unter der Führung von Batjko Machno(Väterchen Machno) sich durch Grausamkeit auszeichnete.

Die Stadt Alexandrowsk ging ständig von Hand zu Hand. Icherinnere mich, daß es vier Gruppen gab: Die Weißen (die zari-stische Armee), die Roten (welche die Revolution verteidigten),die Grünen (sie wurden auch nach ihrem Führer Petljurowzegenannt und kämpften für eine freie Ukraine) und dieSchwarzen, auch Machnowze genannt, die kein festes Zielaußer Rache, Rauben und Morden hatten. Alle gingen mit derBevölkerung brutal um. Viel unschuldiges Blut ist damalsgeflossen, jedoch das meiste, als die Schwarzen sich der Stadtbemächtigten.

Ich erinnere mich an folgende Begebenheit: Als die Weißendie Stadt besetzt hatten, war die Schule, in der wir wohnten,wieder einmal voll mit Militär besetzt, und die zaristischenOffiziere organisierten ein Siegesfest. Im Garten auf demRasen, genau vor unseren Fenstern, hatten sie teureTischdecken ausgebreitet und das Mahl bereitet. An Alkoholfehlte es nicht. Wir Kinder beobachteten alles neugierig ausdem Fenster. Die Offiziere betranken sich furchtbar, tanzten mitdem Säbel in der Hand den Hoppatschok (russischer, wilderTanz) auf den Tischdecken zwischen den Tellern, schrien undfluchten, daß wir Kinder Furcht vor ihnen bekamen.

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Ein älterer Mann charakterisierte die Dinge so: »Ob weiß, obrot, grün oder schwarz; alles Ferkel von einer Sau!«

Besonders in Erinnerung ist mir ein Tag, als es einigermaßenruhig war. Mein Vater saß am Fußharmonium und spielte.Während er spielte, wurde ihm von jemandem ein Brief über-reicht. Ich stand neben dem Fußharmonium und war wohl neu-gierig, denn Briefe gab es damals selten. Das Postwesen warlahmgelegt. Mein Vater öffnete den Brief und las. Plötzlichspannten sich seine Züge, dann legte er seinen Kopf auf dieTasten des Harmoniums und weinte bitterlich. Und ich weintemit, obzwar ich nicht wußte, um was es ging. In dem Briefstand, daß die Machnoleute seinen Vater, einen Bruder undviele andere ermordet hatten. Im Nachbardorf Eichenfeld habeman alles, was männlich war, ermordet.

Obzwar die Bevölkerung zum großen Teil Angst vor demKommunismus hatte, atmeten die Menschen auf, als 1920 dieRote Armee alle anderen Gruppen verdrängte und es ein wenigruhiger wurde. Aber schöne kindliche Erinnerungen aus dieserZeit habe ich nicht, denn der Hunger brachte neue Not.

Durch Revolution und Bürgerkrieg war der Viehbestand fastauf Null gesunken, denn man nahm den Bauern fast alles, wassie hatten. Die Felder konnten nicht bearbeitet werden. Es fehl-te an Saatgetreide, und dazu kam noch eine große Dürre, so daßim Frühjahr des Jahres 1921 eine furchtbare Hungersnot aus-brach, wobei viele verhungerten. Mein Vater war Lehrer, aberohne Lohn, denn die neue Sowjetregierung hatte noch keinGeld. Für jedes Familienglied gab es eine spärliche Brotration.Bald bekamen die Lehrer anstatt Brot Makucha, das sindausgepreßte Ölkuchen. Ich sehe noch, wie Vater die Ölkuchenin Stücke schlug und gerecht zu teilen versuchte, denn es warleider sehr wenig. Wir froren, es gab jedoch nichts zum Heizen.Mit Vater und Mutter gingen wir zum Dnjepr und suchten etwasBrennbares. Ich erinnere mich, daß wir eines Tages an einerDampfmühle vorbeikamen. Es war die einzige Mühle, die abund zu noch ein wenig zu mahlen hatte. Am Tor dieser Mühlesammelten sich die Hungrigen, und als wir dort ankamen,mußten wir über Tote und Halbverhungerte steigen. Dieses Bildhat sich mir tief ins Gedächtnis geprägt.

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Endlich eine schöne Erinnerung: die amerikanisch-kanadischeund holländische Hilfe. Es war die Geburtsstunde des heute sobekannten Mennonitischen Zentralkomitees. Einmal täglicherhielten wir 200 g Weißbrot, ein wenig Reis und süßen Kakao.Jetzt gab es jeden Tag eine große Freude, wenn die Zeit kam, inder wir unsere schöne Mittagsration holen durften.

Aber nicht nur wir, auch die ukrainische Bevölkerung wurdemit dieser Ration unterhalten. In der Schönwieser Schule warein Verteilungspunkt, wo sich zu bestimmter Zeit immer großeSchlangen ansammelten. Was Amerika damals an Rußlandgetan hat, ist überhaupt nicht hoch genug zu schätzen! Mit derZeit kam auch Kleidung, die verteilt wurde. Wie glücklichwaren mein Bruder Kornelius und ich, als der Vater eines Tagesmit zwei Anzügen nach Hause kam, die für uns bestimmtwaren. Es waren keine neuen Anzüge, aber wer fragte danach?

1922 wurde es schon ein wenig leichter. Der Mensch wirdgenügsam nach schwerer Zeit, die von Angst, Not und Hungergeprägt ist. Wir Kinder hatten bald die Vergangenheit überwun-den, und wir spielten Revolution, Krieg und Bandenwesen. Wirspielten immer das, was wir sahen, und auch heute spielenKinder, was sie sehen.

Was wir Kinder damals sahen und spielten, sehen die Kinderheute im Fernsehen: Krieg, Krimis, Mord, Unmoral, Unzuchtusw. Und ihre Charaktere werden dementsprechend geformtund geprägt. Darum Eltern, bewahrt eure Kinder vor diesenFilmen!

Es war das Jahr 1923. Unruhen, Schrecken und Hungersnotwaren überwunden. Das Leben in den Städten und Dörfern hattesich einigermaßen normalisiert. Durch die NÖP (Neue Ökono-mische Politik) waren Landwirtschaft und Industrie imAufschwung.

In diesem Jahr wurde mein Vater von der SchönwieserGemeinde zum Prediger gewählt. Das wurde ihm zumVerhängnis. Die neue kommunistische Regierung duldete keinePrediger als Lehrer in den Schulen. Also wurde er abgesetzt.

Aus Osterwik ging um diese Zeit Prediger und Lehrer DavidRempel nach Kanada. Als die Osterwiker erfuhren, daß unserVater als Lehrer entlassen war, bemühten sie sich um ihn bei derObrigkeit, und weil so großer Lehrermangel war, hieß es, er

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dürfe in einem Dorf als Lehrer arbeiten. Sofort kamen dieOsterwiker und baten den Vater, die Lehrerstelle im DorfOsterwik anzunehmen. Dem Vater blieb keine andere Wahl, erwilligte ein.

Ich war damals knapp zehn Jahre alt. Und niemand war mehrerfreut über diesen Umzug als ich. Denn ich war ein begeister-ter Pferdefreund. Mein Großvater mütterlicherseits war aus die-sem Grunde stolz auf mich und meinte, aus mir würde nochetwas werden, ein guter Landwirt natürlich, wie er es sah.

An Osterwik habe ich sehr schöne Kindheitserinnerungen. DieSorgen meiner Eltern berührten mein kindlich-fröhlichesGemüt nicht, durften mein Bruder und ich jetzt doch Taubenund Kaninchen züchten. Ich durfte mit den Nachbarn mitfahren,wenn die Arbusen (Wassermelonen) vom Feld gefahren wur-den. In der Erntezeit fuhr ich oft mit aufs Feld, wenn die Garbenzum Dreschen geholt wurden. Ich erlebte sehr viel Freude mitmeinem Freund Heinrich Dück, und dann wurde da auch nochein Bruder geboren.

Anders sah es aber bei meinen Eltern aus. Vor Schulbeginn imJahre 1924 wurde mein Vater wieder als »unzuverlässiger«Lehrer abgesetzt. Lenin war gestorben, und Stalin war neuerChef des großen russischen Reiches geworden, der sofort stren-gere Saiten aufzog. Ich sehe heute noch dieNiedergeschlagenheit meiner Eltern. Die Osterwiker nahmen anihrem Schicksal teil. Wir durften in der Wohnung bleiben, undmeine Eltern wurden von der Gemeinde als Schulaufräumerangestellt.

Im Jahre 1925 war durch die Auswanderung vieler Lehrernach Kanada wieder großer Lehrermangel in den Dörfern, unddie Obrigkeit gestattete meinem Vater, in einem anderenDorfrat eine Lehrerstelle anzunehmen. Es waren diesmal dieFranzfelder (Warwarowka) aus dem Nikolaipoler Dorfrat, diesich um meinen Vater bemühten.

Meine Eltern waren sehr glücklich darüber. Ich konnte dieseFreude nicht teilen, denn ich sollte nun Freunde und alles, wasmir lieb geworden war, verlassen.

Das Dorf hatte bei der Gründung den Namen Franzfeld erhal-ten. Später mußten die Dörfer alle einen russischen Namenhaben, und so wurde aus Franzfeld Warwarowka.

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Anfangs fühlte ich mich in Franzfeld nicht wohl. Ich hatteSehnsucht nach meinem Freund Heinrich, nach dem schönenGarten, der hier fehlte, und im großen und ganzen nachOsterwik, das mir lieb geworden war. Aber diese Sehnsuchthatte ich bald überwunden, und später wurde mir Franzfeld sehrlieb, denn es war ein schönes Dorf. Unterhalb der Gärten warein kleiner, künstlicher Stausee. Im Sommer wurde dort vielgebadet und im Winter Schlittschuh gelaufen. An Pferden, dieich so liebte, mangelte es hier auch nicht.

Mein Bruder und ich mußten in Franzfeld schon in dieZentralschule. Die Nikolaipoler Zentralschule wurde wiederAckerbauschule. Als solche war sie von den Mennoniten vorder Revolution geplant worden. Mich freute es sehr, daß ichAgronomie studieren durfte. Die Landwirtschaft interessiertemich ja schon von Kindheit an. Zwei Jahre lang ging alles sehrgut. Das Leben wurde leichter. Auch mein Vater durfte seinemBeruf nachgehen; er war mit Leib und Seele Lehrer.

Das Jahr 1927 brachte aber wieder dunkle Wolken über unse-re Familie. Vater wurde dieses Mal endgültig vom Lehreramtabgesetzt; wir mußten die Wohnung räumen. Vater war arbeits-los. Schmalhans zog wieder bei uns ein.

Ich war jetzt 14 Jahre alt und verstand die Sorgen unsererEltern nun schon besser. Zudem wurde es in der Schuleungemütlich. Sie wurde plötzlich zu einem Zootechnikumgemacht. Es gab neue Lehrkräfte, die der kommunistischenPartei angehörten. Atheistenzirkel und Komsomolorganisation(kommunistische Jugend) zogen ein. Auf die Schüler wurdemehr und mehr Druck ausgeübt, zumindest dem Atheistenzirkelbeizutreten.

Die Entlassung meines Vaters bewirkte der Schulinspektor desChortitzaer Rajons (Bezirk), ein ehemaliger Schulkameradunseres Vaters aus dem Lehrerseminar. Er beschuldigte denVater des verbotenen Religionsunterricht, was nicht der Fallwar. Aber ein regelmäßiger Kirchgänger war er, und das genüg-te, um bei der Obrigkeit in Ungnade zu fallen. DerKirchenbesuch wurde auch den Schülern des Zootechnikumszum Verhängnis. Die Schüler der Mennoniten, deren Väterdiese Schule einst geschaffen hatten, um eigene Agronome undgute Landwirte auszubilden, verschwanden aus dieser Schule.

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Ende 1927 waren aus unserm Dorf nur noch mein BruderKornelius und ich dort.

Seit dem Herbst des Jahres 1927 wohnten wir bei einemJunggesellen, namens Johann W. Er nahm uns auf, obwohl erwußte, daß meine Eltern kaum zahlungsfähig waren. MeineMutter litt sehr unter dieser Tatsache. Vater fand dann doch eineAnstellung als Assistent in einem Milch- und Buttergeschäft.

Die Bauern, die jetzt wirklich gut lebten, wurden allmählichwieder unter Druck gesetzt, und als das Jahr 1928 kam, wurdedie herzlose Stalinpolitik spürbar. Große Geldsummen (willkür-liche Erpressungen) wurden den Bauern auferlegt. Wenn siedann zahlungsunfähig wurden, folgte die Versteigerung ihresEigentums.

Für mich und meinen Bruder wurde das Jahr 1928 auch immermehr zum Problem. Auch wir waren regelmäßige Kirchgänger.Zu unserem Nachteil waren Schule und Kirche Nachbarn, unddie Schüler, die zur Kirche gingen, wurden immer vonKomsomolzen (Mitgliedern des Leninschen Jugendverbandes)genau registriert, was in der Schule Verspottung und sonstigeQuälereien nach sich zog.

Unsere Lage wurde erst recht kritisch, als der genannteSchulinspektor Direktor unserer Schule wurde. Er entdecktehier die Söhne des früheren Lehrers K. Epp, den er hinausge-worfen hatte. Und jetzt saßen hier seine zwei Söhnchen, genausolche Kirchgänger wie der Vater, und traten nicht derKomsomolorganisation, auch nicht dem Atheistenzirkel bei. Erbrachte uns vor die allgemeine Schülerversammlung, wo wirvon allen Seiten verspottet und angefochten wurden. Es war einschwerer Stand für uns. Wir waren damals noch jung und beiweitem keine starken Christen.

Ich kann heute kaum verstehen, wie wir damals standhaft blei-ben konnten. Das war Gottes Werk. Die Komsomol-organisation, bevormundet vom Direktor, verlangte denAusschluß. Unsere Rettung war Lehrer Dietrich Peters, eben-falls ein Parteimann. Doch im Unterschied zu den anderen warPeters ein ehrlicher Parteimann, der wirklich an eine goldeneZukunft des Kommunismus glaubte. Der Direktor warKarrierist und nutzte das rote Büchlein nur, um zu steigen.

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Lehrer Peters verteidigte uns. Lenin habe gesagt, dieMenschen müßten erzogen und überzeugt werden, und nirgendsspreche er von einem solchen Vorgehen, wie es hier geplantwerde. Er sagte zusätzlich, die beiden Epps gehörten zu ihrenbesten und diszipliniertesten Schülern und es wäre nicht recht,sie einfach hinauszuwerfen. Jedenfalls durften wir bleiben, aberder Direktor vergaß uns nicht.

Im Jahre 1928 machte unser Direktor mit dem Zootechnikumvon Prischib (Molotschnaja) einen Wettbewerb. Alle Studentendes Zootechnikums sollten 100prozentig im Atheistenzirkelsein. Entsprechend war nun auch wieder der Druck, besondersdurch die Komsomoljugend, die vielfach nur aus Mitläufernbestand, um lernen zu können. Mit der Zeit hatten sie esgeschafft, daß alle, außer meinem Bruder und mir, imAtheistenzirkel waren.

Dies brachte den Direktor ganz außer sich. Sollte er wegenzwei Dickköpfen den ganzen Wettbewerb verlieren?!

Es war im Frühjahr, Ende des dritten Quartals, als der Direktorwieder eine allgemeine Schülerversammlung einberief mit fol-gendem Punkt auf der Tagesordnung: »Ausschluß der beidenEpps, die dem Aufbau des neuen kommunistischen Systemsschädlich sind.«

Wieder mußten wir beide vor der ganzen Versammlung stehenund uns von allen Seiten, nicht zuletzt vom Direktor, bearbeitenlassen. Wenn ich daran denke, wird mir heute noch übel. Undwieder war es Lehrer Peters, der uns verteidigte und es fertig-brachte, daß es bei der Abstimmung für unseren Ausschlußkeine Stimmenmehrheit gab. Der Direktor war außer sich, aberwir wurden nicht ausgeschlossen. Nach dieser Versammlungnahm Lehrer Peters mich und meinen Bruder unauffällig bei-seite und sagte: »Jungens, ihr tut mir leid, aber ich kann euchnicht länger halten, deshalb rate ich euch, geht freiwillig.«

Sein Wohlwollen tat uns gut, aber seine Worte schnitten einetiefe Wunde in mein Gemüt. Ich wollte, wenn schon nichtAgronom, so doch wenigstens Zootechniker werden. Dies lag jaauch im Bereich meiner Interessen, und jetzt sollte alles aussein? Wir waren schon im letzten Viertel des letzten Jahres, undjetzt sollten wir freiwillig abbrechen; ich konnte es kaum fas-sen. Ich wußte aber zu gut, daß Lehrer Peters recht hatte, und

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daß er es gut mit uns meinte. Mit den Tränen kämpfend verab-schiedeten wir uns von ihm. Lehrer Peters wurde bald auch einOpfer des Stalinregimes; er wurde erschossen.

Die Molkerei, in der Vater arbeitete, stand vor dem Bankrott.Vater hatte schon etliche Monate keinen Lohn mehr bekommen,und unser Austritt aus der Schule belastete die Eltern.

Im Sommer desselben Jahres wurden die Bauern zur gemein-samen Bodenbearbeitung in Genossenschaften gedrängt. MeinBruder und ich fanden bei der neuen Landvermessung für zweiWochen Arbeit, mit zwei Rubel Lohn pro Tag, für die damaligeZeit eine ansehnliche Bezahlung. Darauf machten wir beide unsauf und gingen 28 km zu Fuß bis nach Einlage, und das Geldreichte für jeden zu einem Anzug und einem PaarSonntagsschuhen. Wie glücklich wir beide, ohne Müdigkeit zuspüren, an demselben Tag die 28 km noch einmal zurücklegten,ist kaum zu beschreiben.

Die Lage im Land verschlechterte sich. Die NÖP wurde auf-gehoben, und 1930 wurde die Kollektivierung gewaltsamdurchgeführt. Darauf folgte die Entkulakisierung, das heißt, diebesten und stärksten Landwirte wurden zu Kulaken(Ausbeutern) abgestempelt, sie wurden enteignet und nach demNorden des Ural oder Sibiriens verschickt. Es war eine Zeit dertotalen politischen Willkür, und Stalin fehlte es nicht anHandlangern.

Eingeschüchtert traten alle dem Kollektiv bei. Geistliche undstarke Bauern wurden ausgesiedelt. Das grausame Kapitel die-ser Aktion ist wohl bekannt; wenige überlebten sie. 1931 gab esbei uns eine Menge Brandstiftungen. Ein Brandstifter wurdeertappt, angezeigt und trotzdem nicht verhaftet. Es war ein vonder Obrigkeit geplantes Verbrechen, für das Unschuldige büßensollten - die Kulaken.

Das Jahr 1932 brachte wieder neue Erfahrungen. Ich arbeiteteredlich im Kollektiv, und weil ich mit Pferden arbeiten durfte,die ich doch so gerne hatte, war ich zufrieden. Anders ging esdenen, die früher ihre eigene Landwirtschaft gehabt hatten.

1932 regnete es wenig, und die Ernte war daher bescheiden,aber niemand brauchte zu hungern. Da geschah für uns dasUnbegreifliche. Die Getreidelieferung an den Staat wurde nachErfüllung der ersten Lieferung verdoppelt. Um dieser

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Forderung des Staates nachzukommen, mußten Futtergetreideund Saatgut ebenfalls abgeliefert werden. Trotzdem reichte esnicht aus. Schon im Dezember wurden die Bauern unter Druckgesetzt, dem Staat vom eigenen Brot zu geben. Wer nicht gab,wurde »mit dem Norden« bedroht. Die Mehlkästen wurden aus-gefegt und eine künstliche Hungersnot heraufbeschworen.

So geschah es in der ganzen Ukraine. Es gab ein furchtbaresFrühjahr, das dem von 1921 ähnlich war, mit dem Unterschied,daß damals die städtische Bevölkerung am meisten litt und jetztdie Dorfbevölkerung. Dem Arbeiter gab Stalin, wenn auchwenig. Den Bauern vernichtete er. In unserem Dorf gab es auf-gedunsene Gesichter, doch keine Verhungerten, aber imNachbardorf Sacharnoje (Ukrainer) soll die Hälfte derBewohner umgekommen sein.

Im Frühjahr war kein Saatgetreide vorhanden. Da kam einSchreiben von der Obrigkeit, das beteuerte, daß man dieKollektive in ihrer Not nicht im Stich lassen wolle. Man borgteuns die Saat, die man uns geraubt hatte, mit 10% Zinsen bis zurRückerstattung im Herbst. Und die armen Pferde, schwach undelend, mußten das Getreide, das sie hingefahren hatten, wiederzurückholen.

Die Aussaat begann früher als gewöhnlich. Im April kamBefehl, sonntags zu arbeiten. Ich widersetzte mich; die Pferdeseien zu schwach und müßten ruhen.

Es dauerte nicht lange, bis ich abgeholt wurde. Es gab einVerhör, geführt von einem bevollmächtigten Parteimann aus derStadt mit Namen Einhorn. Er war es auch, der im Winter dieBauern erpreßte und das letzte Mehl aus dem Mehlkasten fegenließ. Als ich dran war (es waren auch noch andere Männer da),erschrak ich, denn Einhorn hatte es auf meinen Vater abgese-hen. Er wollte, daß ich zugebe, der Vater hätte mich überredet,nicht zur Arbeit zu gehen. Ich erkannte, daß ich meinen Vater inGefahr gebracht hatte. Obwohl ich schon so viel erlebt hatte -wie man unschuldige Menschen enteignet, aussiedelt oder ver-haftet -, hatte mein jugendliches, oberflächliches Denken ver-sagt. Ich beteuerte eifrig, daß ich nur wegen der Pferde, dieschwach seien, gehandelt hätte. Ich fügte noch hinzu, daß meinVater mich zur Arbeit geschickt hätte und ich trotzdem nichtgegangen wäre.

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Da mischte sich der Vorsitzende des Dorfrats, Johann Z., inunser Gespräch ein und sagte: »Wenn du versprichst, amNachmittag zur Arbeit zu gehen, verzeihen wir dir dieses Mal,und du bist frei.« Ich gedachte meines Vaters und versprach,ohne zu zögern, am Nachmittag zu arbeiten.

An diesem Sonntagabend, trotz Arbeit und Müdigkeit, ver-sammelte sich die Jugend in der sogenannten »Roten Ecke« (einGesellschafts- und Propagandaraum) und war nach ihrer Artfröhlich. Ich fehlte auch nicht und war wie alle anderen lustigund unbekümmert. Am anderen Ende dieses Hauses fand eineSitzung der Kollektivverwaltung statt. Nach geraumer Zeit,während die Jugend fröhlich Lieder sang, tauchte der Sekretärdes Kollektivs auf: »Man läßt dir sagen, daß die Verwaltungdich und die anderen soeben aus dem Kollektiv ausgeschlossenhat.«

Einhorn hatte diese Sondersitzung einberufen und denAusschluß verlangt, und niemand hatte gewagt, dagegen zustimmen. Wenn ein zugeschickter Parteiagent einen Vorschlagmachte, wurde er immer einstimmig angenommen. Wer nichtdie Hand aufhob, wurde als staatsfeindliches Element betrach-tet und mußte auf alles gefaßt sein.

Ich erkannte nun, wie leichtsinnig ich gehandelt hatte. Ich waralso arbeitslos. Es heißt aber: Alles, was Gott tut, dient zumGuten. Und so war es auch in diesem Fall.

Der Hunger griff immer mehr um sich. Die wenigenSaatkartoffeln, die uns geblieben waren, wurden auch aufge-gessen. Mutter schälte sie roh und bewahrte die Schale auf, alsSaatgut. Die Kartoffeln teilte sie uns täglich, gekocht, in kleinenRationen zu. Ich hatte ja nun Zeit und half der armen Mutter beider Gartenarbeit. Die Kartoffelschalen steckten wir behutsam indie Erde. Und Gott zeigte uns, daß alles an Gottes Segen gele-gen ist. Die Kartoffelschalen brachten schöne, gesundePflanzen hervor. Und später eine gute Kartoffelernte.

Es war ein außergewöhnlich warmer Frühling. Fast alle Tagewarmer Regen und dann Sonnenschein. Das Gras wuchs mitMacht, so daß die Kühe schnell gute Weide hatten und unsreichlich Milch lieferten. Die Pferde wurden geweidet underholten sich ein wenig. Allerhand Kräuter wuchsen und wur-den gesammelt und gekocht. Auch Feldmäuse wurden von

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Menschen gefangen und gegessen. Wir wohnten direkt amTeich, und da ich Zeit hatte, ging ich oft fischen. Wenn wir unsauch nicht satt essen konnten, blieben wir doch am Leben. Gottsorgte für uns.

Eines Tages wurden wir, die wir aus dem Kollektiv ausge-schlossen waren, zum Dorfrat geholt. Dort erklärte uns derVorsitzende, daß wir als Strafe für unser Vergehen einen MonatZwangsarbeit abzubüßen hätten. Er redete aber freundlich mituns und betonte, daß es uns guttun würde, denn er habe mit demVorsitzenden des Nikolaipoler Kollektivs verabredet, daß wirmorgens und mittags in der Küche zu essen bekämen.

So gingen wir dann am nächsten Tag zum Nachbarkollektiv,wo wir eine große Scheune abbrechen mußten. Die Hauptsacheaber war das Essen.

Der Vorsitzende des Kollektivs hatte heimlich angeordnet, ineiner Scheune unter der Spreu Hirse zu verstecken. Und jetzt,als die Arbeit im Frühjahr losging, wurde die Hirse allmählichhervorgeholt und zu Grütze verarbeitet. Der Vorsitzende retteteso viele Menschen, mußte es aber später büßen. Es wurde zuauffällig, daß seine Leute besser aussahen. Die Sache wurdeuntersucht, und er wurde zu fünf Jahren Straflager verurteilt.

In diesem Jahr empfing ich die Taufe und wurde Glied derGemeinde.

Ende Mai wurde ich vom Vorsitzenden des FranzfelderKollektivs aufgefordert, eine Bittschrift um Aufnahme zuschreiben. Mein Ausschluß war nur auf Druck geschehen, jetztwar Einhorn nicht mehr da, und ich durfte zurück.

Im Juli begann die Ernte, und Gott segnete über Bitten undVerstehen. Es gab eine reiche Ernte. Trotz Abgaben undSaatschuld mit Zinsen blieb noch viel übrig, und alle lebten auf.

Am 13. Oktober 1934 heiratete ich Helene Pätkau. Es war dieletzte Hochzeit, die in unserer Kirche gefeiert wurde, bevor sievon der Obrigkeit geschlossen wurde.

Unser lieber Ältester mußte die Wohnung bei der Kirche auf-geben. Er und seine Frau wurden, Gott sei Dank, bei gutenLeuten aufgenommen. Das war gefährlich, denn dieGeistlichkeit wurde als »staatsfeindliches Element« angesehen.

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Viele Jahre hatte er der Gemeinde gedient, und plötzlich warer allein. Die meisten besuchten ihn nicht, aus Angst vor derObrigkeit. Vieler Unterlassungen sind wir vor Gott schuldiggeworden. »Was du einem der Geringsten nicht getan hast, dashast du mir auch nicht getan!«

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Im Sturm der Zeit

Im Januar des Jahres 1935 mußten alle jungen Männer, die vordem Soldatendienst standen, zu einer zweiwöchigenSoldatenausbildung nach Chortitza. Der Wehrersatzdienst warvon der Regierung ganz aufgehoben worden. Es gab keineGemeinde mehr, keinen Jugendunterricht, keine Prediger, diesich bei der Obrigkeit für die jungen Männer einsetzten, dennsie waren entweder ausgesiedelt, im Gefängnis oder sonstwo -auf jeden Fall machtlos. Die Herde war ohne Hirten. Es warzum Staunen, wie schnell sich das negativ auf die Gesellschaftauswirkte.

Die politische Lage verschlechterte sich seit HitlersMachtübernahme in Deutschland. Eine neue Qual kam mit denObligationen, den »freiwilligen« Anleihen. Die Menschen wur-den einzeln eingeladen, bereits festgelegte Summen, die manvon ihnen haben wollte, zu unterschreiben. Es war immer einBevollmächtigter aus der Stadt dabei, der den entsprechendenDruck mit Drohungen ausübte. Wieviel Elend und Tränen dasbrachte, ist kaum zu beschreiben. Ich unterschrieb für 500Rubel, obwohl kein Geld im Haus war. Einige Wochen späterbrachte man uns die Obligationen ins Haus, und es solltegezahlt werden. Da wir kein Geld hatten, wurde uns eine kurzeFrist gewährt, aber »wenn du nicht zahlst«, hieß es, »bist dustaatsfeindlich gesinnt«, und was das bedeutete, wußte einjeder. Man mußte dann damit rechnen, nachts abgeholt zu wer-den.

Meine Frau und ich fanden keinen anderen Ausweg als unserSchweinchen, welches uns im Herbst ein wenig Fleisch bringensollte, zu verkaufen. Das taten wir auch, mit blutendem Herzen.

Es brachte uns genau die 500 Rubel, die wir für die Anleiheschuldig waren, aber wir blieben wieder ein Jahr ohne Fleisch.

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Im November des Jahres wurde unsere erste Tochter geboren,was uns Freude machte und die trüben Gedanken etwas ver-drängte.

Im nächsten Jahr, 1936, ballten sich die Gewitterwolken derPolitik immer mehr zusammen. Zeitungen und Radio warenvoll von Hetze gegen England, Amerika und besonders gegenDeutschland. Es gab wieder mehr Verhaftungen.

Im Januar 1937 wurde unsere zweite Tochter geboren, und wirvergaßen wieder, was uns bedrohte. Im Frühjahr kamen einigeMänner frei, die fünf Jahre in Haft gewesen waren, und wirhofften, daß es ruhiger werden würde, aber schon nach einigenMonaten wurden diese Männer wieder nachts abgeholt. DieNachtbesuche wiederholten sich immer öfter. Unter Jeshow, derJagoda ablöste, gab es nie dagewesene Massenverhaftungen.Die Nacht wurde für uns zum Schrecken, weilHausdurchsuchungen und Verhaftungen immer nachts gescha-hen.

1938 wurde es ruhiger, aber die Kriegshetze blieb und diequälenden jährlichen Obligationen auch. Die Einnahmen desKollektivbauern bestanden aus Milch, Butter und Eiern. Milchund Butter brachten nicht sehr viel Geld, denn jede Familiehatte nur eine Kuh, und von jeder Kuh mußten 180 l Milch anden Staat geliefert werden. Außerdem mußten die Eier zumSpottpreis verkauft werden.

Besonders schwer war die Lage für die vielen Frauen mit klei-nen Kindern, deren Männer man nachts weggeholt hatte. DieFrauen hofften immer noch auf die Freilassung ihrer Männer,die leider bis zum heutigen Tag ausblieb. Nach Stalins Tod wur-den viele rehabilitiert und zu unschuldigen Opfern desStalinregimes erklärt, aber sie lebten nicht mehr.

Wir wurden verschont, und ich durfte bei der Familie bleiben.Unverdiente Gnade, denn ich war auch kein christliches Vorbildin jener Zeit.

Das Jahr 1939 fing zunächst ruhig an. Die Kriegshetze beach-teten wir kaum noch. Es ging uns doch schon wesentlich besser.Im März wurde unserer Familie ein Junge geschenkt. Wir wur-den aber wieder aus unserer Ruhe gebracht, da sich die politi-sche Lage zuspitzte. Wir erschraken, als im September diedeutschen Truppen in Polen eindrangen, und noch mehr, als es

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plötzlich eine große Mobilmachung gab und die Rote Armeeebenfalls in Polen eindrang. Wir fürchteten einenZusammenstoß zwischen der Roten Armee und der deutschenWehrmacht. Der Haß gegen die Deutschen war schon großgenug, was würde geschehen, wenn es einen Krieg gäbe? AberStalin und Hitler einigten sich, und es kam sogar zu einemVertrag, der alle, besonders uns Deutsche, beruhigte.

Das Jahr 1940 brachte wieder viele Neuigkeiten, die sich gera-dezu überstürzten. Rußland griff Finnland an und besiegte esunter großen Opfern. Dann besetzte Rußland die baltischenStaaten und schließlich Bessarabien. Die deutschen Truppendrangen in Frankreich ein - überall Pulvergeruch.

Der Winter kam und ging. Im Frühling schienen alleKriegshandlungen zum Stillstand zu kommen, aber es war nurdie Ruhe vor dem Sturm. 1941 erschütterte die Welt.

Am 3. Mai wurden unerwartet einige Jahrgänge junger deut-scher Männer einberufen. Wenn bis jetzt kaum ein Deutscherzum Militär gekommen war, so wurden sie jetzt massenhaftmobilisiert und zu unserer Verwunderung an die polnischeGrenze geschickt. Ich hatte meine Mutmaßungen darüber.Sollten diese Jungen Dolmetscher werden für den Fall, daß dieRote Armee in Deutschland eindrang, trotz desNichtangriffspaktes, der ja sowieso kein ehrliches Abkommenwar? Jede Seite wartete nur auf die Gelegenheit, der anderendas Genick zu brechen.

Das Jahr 1941 lag voller Spannungen vor uns. DieNachrichten überstürzten sich. Griechenland fiel, die InselKreta wurde besetzt. Und wir merkten, daß auch Rußland sichauf einen Krieg vorbereitete. Am 21. Juni 1941, um zwölf Uhr,erfuhren wir: »Um sechs Uhr morgens hat Deutschland derUdSSR den Krieg erklärt! Gegen vier Uhr morgens wurdenKiew und andere Städte bombardiert.«

Ein Blitz hätte mich nicht schlimmer treffen können. Krieg mitDeutschland, das bedeutete, daß wir, die Deutschen in Rußland,die wir seit Hitlers Machtergreifung sowieso als Feinde desLandes behandelt wurden, eine dunkle Zukunft vor uns hatten!Schon in den nächsten Tagen wurde eine Masseneinberufungdurchgeführt, aber kein Rußlanddeutscher wurde zu den Waffengerufen. Hier und da gab es Verhaftungen. Alle Radiogeräte

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und Fahrräder wurden beschlagnahmt. Wir alle arbeiteten nachKräften, pünktlicher als je, aus Furcht, daß man uns antisowje-tischen Verhaltens beschuldigen könnte. Die Gefängnisgitterwaren zu der Zeit für uns Deutsche immer in sichtbarer Nähe.

Nachts mußten wir abwechselnd auf Straßen und WegenPosten stehen, um die Zerstörung von Telefonleitungen durchFeinde zu verhindern. Dann kam eines Tages der Befehl, alleKräfte zum Ausheben von Panzergräbern einzusetzen. Auchmein 16jähriger Bruder und ich mußten mit. Wir hatten Glück.Die Menschen unseres Dorfes wurden, nur zehn Kilometer vonFranzfeld entfernt, am Dnjepr eingesetzt. Drei Meter tief undacht Meter breit mußte der Graben sein. Die Arbeit war schwer,aber noch schlimmer war der moralische Druck. Was geschiehtmit uns Deutschen, wenn die Front näher kommt?Unübersehbare Menschenmassen, Männer und Frauen, warenhier zusammengetrieben. Es stellte sich bald heraus, daß dergeplante Panzergraben sich in Richtung unseres Dorfes zog.Von dem zweiten Abschnitt aus, den wir zugeteilt bekamen,konnten wir unser Dorf sehen. Das gab uns Mut und Hoffnung.

Am 12. August kamen wir in einen neuen Abschnitt, der direktauf dem Gebiet unseres Dorfes lag. Nachts vom 15. auf den 16.August hatte es geregnet. Es lag irgendwie etwas Unheimlichesin der Luft. Die Aufseher waren verschwunden. Niemand arbei-tete, einige nützten die Situation aus und eilten nach Hause,denn wir lagen mit unseren Zelten höchstens zwei Kilometervon unserem Dorf entfernt. Um die Mittagszeit gallopierteplötzlich ein Reiter an uns heran, mit dem Befehl, daß wir allesofort nach Hause kommen sollten. Um zwölf Uhr solle sichjeder bei der Dreschtenne am Ende unseres Dorfes melden. Wirliefen nach Hause, begrüßten unsere Familien und gingen sofortzur Dreschtenne. Dort waren schon Vorgesetzte aus dem Rajon,die uns sagten, daß wir in vier Stunden zur Evakuierung bereitsein müßten. Keiner dürfe zurückbleiben. Wir wurden zusam-mengruppiert, fünf Familien auf einen Wagen. Um 17 Uhr stan-den die Fuhren, überreichlich mit Lebensmitteln beladen, aufder Straße. Oben drauf saßen dann noch die Frauen mit Kindernund Greisen. Dreißig bewaffnete Milizionäre (Polizei) leitetendiese Aktion. Auch das Vieh, sogar die Schweine, durften nichtzurückgelassen werden. Es war ein trauriges Bild: Kinder wein-ten, Kühe brüllten, Alte und Kranke stöhnten. So wurden Hals

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über Kopf vier Dörfer - Nikolaipol, Franzfeld, Hochfeld undAdelsheim - unter Bewachung ausgesiedelt. Wie wir spätererfuhren, hatte dieses Schicksal alle 19 deutsche Dörfer desChortitzer Rajons ereilt. Die Ukrainer durften zurückbleiben.

Bis der lange Treck in Bewegung gebracht wurde, war esAbend geworden, und wir kamen nicht weit bis zur Dunkelheit.Nachts besuchten uns deutsche Flugzeuge, warfenLeuchtfallschirme ab, kreisten einige Male über uns, warfenaber keine Bomben. Trotzdem war die Aufregung groß.

Am nächsten Morgen, dem 17. August, ging es weiter. DerTag war heiß, und die großen, fetten Schweine ertrugen dieHitze nicht und fingen an zu krepieren, so daß der Wagen vontoten Schweinen gekennzeichnet war. Bald hier, bald dort brachein Wagenrad unter dem zu schweren Gewicht. Bis das Radwieder in Ordnung war, mußte der ganze Treck stehenbleiben,denn es durfte ja niemand zurückgelassen werden. Wenn dannwieder alles in Bewegung war, sah man nur eine großeStaubwolke. Es ging langsam voran, denn immer wieder hörteman »Halt« rufen. Aber wir hatten es nicht eilig, Haus und Hofund Heimat zu verlassen, und freuten uns, wenn alles stand.

Abends mit Sonnenuntergang erreichten wir einen Teich, wowir zur Nacht lagern sollten. Aber kaum hatten wir begonnen,die Pferde auszuspannen, während die Frauen anfingen, sichums Abendbrot zu kümmern, als ein neuer Befehl durchgege-ben wurde: schnellstens aufzubrechen und weiterzufahren.Daran erkannten wir, daß die Deutschen nicht mehr ferne seinkonnten. Mein Bruder Kornelius riet, mit dem Anspannensolange zu zögern, daß wir hinten im Treck fahren mußten, wasuns auch, ohne aufzufallen, gelang. Bis der schwer bewegliche,lange Treck wieder richtig in Bewegung kam, war es finstereNacht geworden.

Die Milizionäre trieben zu größter Eile an, aber trotzdem ginges immer langsamer. Unsere Blicke waren immer wieder west-wärts gerichtet, von wo wir die Deutschen erwarteten. Plötzlichstiegen am westlichen Horizont einige Leuchtkugeln empor.Unsere Hoffnung auf Rettung wuchs! DieBewachungsmannschaft wurde unruhig und trieb noch mehr zurEile, aber der Treck stand immer öfter, und die Bewachung ver-lor immer mehr die Kontrolle über uns. Es war finster, die

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Soldaten liefen hin und her, konnten aber die Ursache des vie-len Stehens nicht feststellen. Sobald sie dahin kamen, wo man»Halt« gerufen hatte, fuhr man weiter, und niemand verriet, wergerufen hatte. Ihre Unruhe stieg panikartig, als uns einPersonenwagen, mit einer Frau als Fahrerin, überholte. Sie hieltkurz an und sagte, daß die Deutschen höchstens zehn Kilometervon uns entfernt seien. Nach dieser Nachricht verschwand dieBewachung, die die Nachhut bildete, unbemerkt. Wir hattentrotz wachsender Hoffnung ein beklemmendes Gefühl. Wiewürde das enden? Der Treck war ganz ins Stocken gekommen;alles stand.

Mein Bruder lief nach vorne, um zu erfahren, was dort los war.Die Nachricht von der Nähe der Deutschen war wie einLauffeuer bis nach vorne gedrungen. So standen wir ohne Zielund Rat. Eine unheimliche Stille umgab uns. Im Westen gingenab und zu Leuchtkugeln hoch. Da tauchte endlich mein Bruderwieder auf und berichtete, daß die Fuhrleute sich geweigert hat-ten weiterzufahren. Die Polizisten hatten gedroht zu schießen,wenn man nicht sofort weiterfahren würde. Sie wurden abersofort von einer Menge des Volkes umringt, und jemand habegesagt: »Ihr wollt uns alle erschießen, und dann?« Die Nähe derDeutschen machte sie unsicher. Während dieser Aufregung kamein Lastkraftwagen, den sie anhielten, und nach kurzerUnterredung stiegen sie allesamt auf und fuhren mitVerwünschungen und Drohungen ab. Wir hatten hinten vonalledem nichts gemerkt.

Jetzt wurden alle Fuhren zusammengezogen, um zu übernach-ten. Hoffnung und Furcht waren in unserer Stimmung gemischt.Waren wir jetzt wirklich frei, gerettet, oder war die Lage, durchdie Weigerung weiterzufahren, schlimmer geworden, falls dieMilizionäre mit Verstärkung zurückkämen? Es war Mitternachtgeworden, bis wir zur Ruhe kamen. An Schlaf war kaum zudenken. Viele ernste Gebete stiegen in jener Nacht zu Gottempor. Ungewißheit quälte uns - die Deutschen konnten nochzurückgeschlagen werden. Die Miliz könnte dann tatsächlichmit Verstärkung wiederkommen und ihre Drohungen wahrmachen.

Die Nacht verlief aber sehr ruhig. Der 18. August brach an, einheiterer Morgen. Kein Lüftchen bewegte sich, die Sonne schienhell. Die Lerchen trillerten ihr Morgenlied hoch in der Luft, als

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ob es keinen Krieg, kein Leid, keine Not mehr gäbe. Und dochwirkte dieser Friede unheimlich beruhigend. Wir lagen zwi-schen zwei feindlichen Kriegsheeren! Plötzlich zeigte sich eindeutsches Aufklärungsflugzeug, das einige Kreise zog. Vonirgendwo wurde nach ihm geschossen, bis es wieder abdrehteund verschwand. Wir lagen direkt an einem Kreuzweg. DieJungen waren mit den Pferden ins Dorf geritten, um sie zu trän-ken. Da sahen wir aus westlicher Richtung einenPanzerspähwagen kommen. Er bewegte sich nur langsam inunsere Richtung, überquerte die Kreuzung und hielt an. EinSoldat spähte mit einem Fernrohr in östlicher Richtung. DerPanzerwagen und die Soldaten, die darauf waren, waren so ver-staubt, daß man die Abzeichen nicht gut erkennen konnte.

Während wir aufgeregt rätselten, kam ein Lastkraftwagen mitrussischen Soldaten gefahren. Sobald der LKW vorbeigefahrenwar, schoß der Spähwagen dem LKW die Reifen kaputt. DieseSchießerei brachte einen Schrecken unter unsere Leute, aberbald klärte sich alles. Die vom Spähwagen winkten einem vonunseren Männern zu und fragten in gebrochenem Russisch, obMilitär in der Nähe sei. Da erkannten die Männer, daß wirDeutsche waren! Sie rieten uns, ins Dorf Neuenburg im Tal zufahren, weil es hier oben vielleicht noch zu kleinen Gefechtenkommen könnte. »Wir sind gerettet!« Das Gefühl jener Stundeist überhaupt nicht zu beschreiben. Meine Kinder, meine Frau,meine Eltern, all die Menschen, die mir lieb waren, gerettet!

Jetzt wurde es auf den Straßen lebendig. Große militärischeEinheiten der deutschen Wehrmacht zogen in RichtungChortitza und Saporoshje. Flugzeuge kreisten, Artilleriefeuerwar zu vernehmen, und man merkte, daß in der Nähe desDnjepr der Kampf entbrannt war. Wir blieben aber verschont,dem Herrn sei Dank dafür! Der Kampf dauerte nicht lange,dann war wieder alles still. Nur ab und zu war eine entfernteKanone zu hören.

In Neuenburg trafen wir viele jüdische Flüchtlinge an. ImGegensatz zu unseren fröhlichen Gesichtern war auf ihrenGesichtern Angst, Schrecken und Ratlosigkeit zu lesen. Sietaten mir von Herzen leid. Ich wußte damals zwar noch nicht,was für ein grausames Schicksal ihnen bevorstand, aber sie ahn-ten es wohl.

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Um drei Uhr nachmittags wurden wir Jüngeren ungeduldig,weil noch immer alles ruhig war. Wir wollten nach Hause,obwohl wir eine gute Unterkunft hatten, denn Neuenburg warleer, es war ja auch ein deutsches Dorf und die Menschenwaren, genauso wie wir, vertrieben worden. Einige draufgänge-rische junge Männer spannten die Pferde vor ihre Wagen undfuhren mit ihren Familien los, trotz der Warnung der Alten, lie-ber abzuwarten, denn es sei immer noch Krieg! Aber jetzt gabes kein Halten mehr. Einer nach dem andern folgte demBeispiel der Ungeduldigen. Zwölf Kilometer vor unseremHeimatdorf Franzfeld stießen wir auf deutsche Posten, die unsdie Weiterfahrt verweigerten, da unsere Dörfer noch vonRotarmisten besetzt seien. Also hatten die Alten doch rechtgehabt.

Rings um uns ein buntes Durcheinander. Viehherden triebendaher, Traktoren und Mähdrescher standen am Wege. DieBeauftragten, die diese Sachen evakuieren sollten, hatten allesim Stich gelassen, als die deutsche Wehrmacht sie überholte.Alle wollten nur schnell nach Hause, zur Familie. Wir ent-schlossen uns, in der Nähe abzuwarten, abseits des Weges, ineinem Tal mit einem kleinen Teich. Das Wasser war für unserVieh wichtig, und am Teich gab es eine Ziegelbrennerei miteinem großen Ofen, der in den Berg hineingebaut war. In demOfen brachten wir unsere Frauen mit kleinen Kindern unter,damit sie vor Bomben und Kugeln sicher waren, denn wir lagenja fast direkt an der Frontlinie und wußten nicht, wie sich dieDinge entwickeln würden. Auch meine Frau mit unseremJüngsten, damals einen Monat alt, war im Ofen untergebracht.Es gab eine erstaunlich ruhige Nacht.

Der folgende Morgen war wieder herrlich und schön. DerTeich lockte, und auch ich nahm unsere drei Kinder und stiegmit ihnen ins Wasser. Es war ein lustiges Treiben, bis plötzlichdas Brummen von Flugzeugmotoren zu hören war. Schon imnächsten Augenblick tauchte ein russisches Jagdflugzeug auf.Im Tiefflug sauste es über uns hinweg und feuerte aus allenRöhren. Ich zog meine drei Kinder an mich und beugte michüber sie, als ob mein Körper die Kugeln abhalten könnte.Diesem Jagdflugzeug folgten im Sekundenabstand noch sechsandere, und jedes feuerte auf die Badenden. Das Wasser spritz-te an allen Seiten hoch, und alles ging so schnell, daß wir gar

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nicht zur Besinnung kamen. Erst als die Flieger weg waren,erfolgte eine panikartige Flucht aus dem Wasser. Erschrockenschauten wir zurück. Da müßten doch Tote und Verwundetesein, aber wir stellten fest, daß alle heil davongekommenwaren! Wer mochte hier noch ein Wunder Gottes abstreiten.»Ob tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deinerRechten, so wird es dich doch nicht treffen!« Dies hatten wirbuchstäblich erlebt.

Da der Fliegerangriff nun vorüber und alles so wunderbarglücklich ausgegangen war, waren wir froh und auch schonwieder bereit zum Lachen. In der Aufregung hatte niemandgemerkt, daß sich ein Mann im Adamskostüm zu den Frauen imZiegelofen gerettet hatte. Am allerwenigsten dachte dererschrockene Mann daran, daß er immer noch seine Kleiderunter dem Arm hatte. Ein Lachen griff um sich, bis derBetroffene plötzlich merkte, daß er die Ursache des Lachenswar. Niemand rühmte sich, daß ihm so etwas nicht passierenkönnte.

Am Nachmittag dieses Tages wurde uns der Weg zurHeimfahrt freigegeben. Das russische Militär, welches in unse-ren Dörfern stand, als wir herausfahren mußten, war nachtsohne Kampf abgetreten. Erleichtert, mit froher Stimmung undguter Hoffnung fuhren wir los. Die verlassene Viehherde wei-dete immer noch am Wege, und es wurde angeordnet, das Viehmitzutreiben und im Kuhstall des Kollektivs unterzubringen.Der Stall stand leer, denn das Kollektivvieh war schon früh überden Dnjepr getrieben worden. Auch einen verlassenen Traktorund einen Mähdrescher nahmen sachkundige Männer mit, dennunsere Maschinen waren alle wegtransportiert worden. DasTraurige dabei war, daß es unsere Leute waren, die Vieh,Traktoren und Mähdrescher evakuieren mußten, und so vielevon ihnen sind in der Arbeitsarmee verhungert und haben ihreFamilien nie wiedergesehen.

Kaum wieder auf der Reise, wurden wir von einem sowjeti-schen Bomber angegriffen. Ein Mädchen wurde verwundet,aber auch dieser Angriff lief verhältnismäßig harmlos ab. Sokamen wir am selben Tage noch nach Hause. Aber nicht allekamen nach drei Tagen wieder heim. Wieviel Not, Elend,Schikanen, Hunger und Frost haben andere Verschleppte in den

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Kriegsjahren im Ural, in Sibirien, Magadan und Mittelasienertragen müssen!

Als wir nach Hause kamen, sah es in unseren Häusern rechtwüst aus. Die Bewohner der benachbarten Dörfer hatten sichallerhand geholt. Sie konnten ja auch nicht ahnen, daß wir wie-der zurückkommen würden. Doch wer dachte an den Verlustbeim Gedanken an die Rettung!

Am Abend unserer Rückkehr stiegen viele Dankgebete zuGott empor!

Wir waren also wieder zu Hause. Gott hatte noch einmal seineschützende Hand über uns gehalten. Gott hatte Gnade vor Rechtergehen lassen. Das beklemmende Gefühl, welches wir mona-telang, aber besonders in den letzten drei Tagen gehabt hatten,war gewichen. Meine Frau und ich hatten so viel zu danken,denn so viele Männer fehlten schon, und ich war immer nochbei der Familie.

Die Arbeit im Kollektiv wurde wieder aufgenommen, denn eswar ja Erntezeit. Die Front stand einen ganzen Monat zehnKilometer von uns am Dnjepr. Wir wurden oft von sowjetischenBombenflugzeugen belästigt, und doch schützte Gott uns vorVolltreffern. Wir wohnten aber alle bei den Eltern, wo es fürden Fall eines Bombenangriffs einen gewölbten Keller gab. Alsdie Front weiter rückte, glaubten wir, der Krieg sei für uns nunvorbei. Die deutsche Wehrmacht benahm sich in den meistenFällen tadellos. Als aber die Soldaten weiterzogen und dieZivilbehörden kamen, lernten wir etwas vom wahrenHitlerregime kennen. Die unselige Rassentrennung und dieteuflische Art, wie man mit den Juden umging, konnte ich nichtbegreifen.

Die deutsche Besatzungsbehörde setzte Landwirtschaftsführerein, die von der Bodenbearbeitung in der Ukraine keine Ahnunghatten. Unser Landwirtschaftsführer war ein hitziger Mann. Erschrie und benahm sich oft unmöglich wegen Kleinigkeiten.Bei den Ukrainern schlug er auch drein und machte sichverhaßt. Die Ukrainer, die vielfach auf die Deutschen gewartethatten und ihnen mit Brot und Salz entgegengegangen waren,wurden bitterste Feinde. Allmählich sickerten verschiedeneGerüchte von einer Judenvernichtung durch. Ja, man erzählte,daß bei Felsenbach die Zigeuner alle erschossen wurden. Mir

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gefielen solche Gerüchte nicht. Ja, ich stritt sogar dagegen: »Soetwas hat nicht einmal Stalin getan, und auch die Deutschenkönnten das nie tun!« Aber die Gerüchte wurden mit der Zeitglaubwürdiger. Ich konnte nachts kaum schlafen. Eines Tagessagte ich zu meiner ältesten Schwester: »Die Deutschen habenden Krieg verloren!«

Die Schwester war auch aufgeregt und sagte: »Was redest du!Wenn die Deutschen den Krieg verspielen, sind wir verloren!«

»Das glaube ich auch«, sagte ich, »aber so eine Missetat kannGott nicht ungestraft übersehen!« Ich habe dann viel über dieJuden nachgedacht. Viele waren nicht ganz unschuldig. Sie hat-ten auch in Rußland viele Feinde, denn viele waren StalinsHandlanger gewesen. Doch habe ich auch sehr gute Juden ken-nengelernt, die nicht einverstanden waren mit dem, was ihreBrüder taten.

Aber was immer die Tatsachen sein mochten, Hitler hatteGottes Volk angetastet. Die Deutschen wurden gestraft, und dieFolgen für ein ganzes Volk, besonders für dieAuslandsdeutschen, waren katastrophal. Für mich war es eingroßer Trost, daß die meisten Soldaten mit dieserJudenvernichtung nicht einverstanden waren.

Es gab aber auch Erfreuliches während der Besatzung. DieKirche wurde uns zurückerstattet, aber es waren keine Predigerda. Der Älteste war inzwischen gestorben. Da nahm mein Vatersich der Gemeinde an. Bald wurden Predigerwahlen durchge-führt und auch ein neuer Ältester gewählt. Es war zum Staunen,wie schnell Gott das Gemeindewesen wieder zum Leben brachte.

Die Ernte konnten wir gut einbringen, obwohl so wenigArbeiter da waren. Die Frauen haben damals Großes geleistet.Das Getreide wurde auf die Esser und nicht nach Verdienst ver-teilt. Das war eine sehr weise Regelung. Die Frauen mit vielenKindern, deren Männer verschleppt oder in der Armee waren,sollten nicht leiden.

Der Frühling kam, und wir machten die Aussaat. Alles wuchsherrlich. Die Deutsche Wehrmacht ging wieder zur Offensiveüber und das mit Erfolg. Und je weiter die Front von uns ent-fernt war, desto ruhiger wurden wir. Die Wehrmacht war schonbis zum Kaukasus vorgedrungen, geriet dann aber ins Stocken.Dann kamen immer mehr Nachrichten, wie grausam die

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Amerikaner deutsche Soldaten bombardierten. DiePartisanenbewegung machte sich immer mehr bemerkbar. Eswurden aus dem Hinterhalt Soldaten und Offiziere erschossen.Darauf gab Hitler den unsinnigen Befehl, für jeden Deutschenzehn Männer zu erschießen. Gott sei Dank, daß diesem Befehlnicht immer Gehorsam geleistet wurde.

Im Winter des Jahres 1943 ging die Rote Armee zur Offensiveüber. Nach Stalingrad sahen wir der Zukunft mit Schrecken ent-gegen. Im Herbst hatten wir noch alles eingeerntet, unserDachboden war voll Getreide, der Keller voll schönerKartoffeln, und auf dem Hof stand ein schönes Häuflein Heu.Noch nie waren wir so reich gewesen, und jetzt sollte das allesliegenbleiben, denn die Front rückte immer näher. Eines Tageshieß es, bei Nikoljsk seien die Russen schon über den Dnjeprund hätten einen Brückenkopf gemacht. Nikoljsk war nur 25km von uns entfernt. Die Adelsheimer, die näher am Dnjeprlagen, mußten evakuiert werden. Mit Pferdegespannen zogensie westwärts.

Bald kam auch für uns der Befehl. Drei Tage Frist gab manuns zur Vorbereitung. Wir hatten keine Zeit zu grübeln, denn esgab viel zu tun, um das Notwendigste zu packen.

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Das Ende des Krieges

Am 10. Oktober 1943 brachten uns Wehrmachtskraftwagenzum Bahnhof Kanzerowka. Es herrschte eine bedrückendeStimmung bei allen. Ich sehe genau das letzte Bild unseresDorfes: die Gärten, die Hecken, die daran grenzenden Felder.Die Angst, Stalin in die Hände zu fallen, erleichterte uns denAbschied. Ich fühlte mich der ukrainischen Bevölkerunggegenüber nicht schuldig; wo ich konnte, hatte ich sie mit mei-nen Sprachkenntnissen verteidigt, wenn wir mit ihnen gemein-sam für die Wehrmacht fuhrwerken mußten. Aber wer fragt imKrieg nach Schuld und Unschuld, wenn nur die Gesetze derGewalt und Rache herrschen.

In zwölf Tagen kamen wir nach Deutschland, in die StadtHindenburg. Dort wurden wir in verschiedene Flüchtlingslagerverteilt, und nach zwei Wochen mußten die arbeitsfähigenMänner alle zum Arbeitsamt. Ich wurde als Hilfsmaschinist(Lehrling) angestellt. Im OEW (Oberschlesisches Elektrowerk)arbeiteten auch russische Kriegsgefangene, mit denen ich baldbekannt wurde. Mein Meister hatte mit einem Gefangenen einbesonders gutes Verhältnis, und jetzt konnte ich denDolmetscher spielen. Es war eigentlich verboten, mit denKriegsgefangenen zu verkehren, aber mit Vorsicht taten wir esdoch.

Einberufen wurden wir nicht, weil wir keine deutscheStaatsangehörigkeit hatten, aber man drängte uns, freiwilligzum Militär zu gehen.

Eines Tages erschien in unserem Lager ein SS-Offizier, umFreiwillige für die SS-Einheiten zu werben. Jedes Lager hatteeinen Lagerführer, der jetzt für das Erscheinen aller Männer zueiner Versammlung verantwortlich war. Der SS-Offizier wolltemit uns reden. Ich versprach dem Lagerführer zu kommen und

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verschwand dann unbemerkt. Gott wolle mir diesen Betrug ver-zeihen! Ich kam wieder einmal davon. Die anderen, die dortwaren, wurden so lange belästigt, bis sie unterschrieben und sozum Militär kamen. Kurz darauf wurden wir alle ohneAusnahme mit den Familien eingebürgert und somit auchgesetzlich wehrpflichtig.

Im Juni wurden wir unerwartet von Hindenburg nachTuschinwald bei Litzmannstadt (Lodz) gebracht.

Arbeit gab es hier nicht, aber das Wehrmachtsamt meldetesich, um die letzten Männer zu holen. Bald kam dann auch fürmich die Einberufung. Bei der Einberufungskommission wur-den unsere russischen und ukrainischen Sprachkenntnissegeprüft, aber ich wurde noch einmal zurückgestellt und fuhrglücklich nach Hause. Meine Frau war nicht minder froh, dennmit fünf Kindern in einem polnischen Dorf zurückzubleibenund einer ungewissen Zukunft entgegenzusehen, war für sienicht leicht. Mein Trost war, daß Vater und Mutter und meineSchwester auch im Dorf waren. Ich war nur wenige Tage zuHause, da kam eine Einberufung. Ich mußte mich in Posen beider Dolmetscherkompanie melden.

Während ich nun unfreiwillig Soldat geworden war, standmeine Frau plötzlich mit fünf Kindern da. Materiell wurde sievom Staat versorgt, aber am 17. Januar nachts begann dieFlucht nach Westen. Mit einem Pferdegespann, bei Frost undHunger, kamen sie am 3. März in Kitzen bei Leipzig an. Dortbrachte sie während eines furchtbaren Bombenangriffs aufLeipzig noch einen Sohn zur Welt. Einen Sohn, den ich niegesehen habe - er starb während meiner Verbannung. Gott seiDank, daß sie mit meinen Eltern zusammen war, die sie niemehr verließen. Von Kitzen mußte sie mit meinen Eltern denWeg zum Norden des Ural antreten.

Der furchtbare Krieg war in seiner Endphase. Die Front näher-te sich, als ich am 10. November 1944 einberufen wurde. DieFamilie blieb in einem polnischen Dorf zurück. Was würde mitmeinen Lieben im Ernstfall geschehen? Würde ich überleben,und würde ich sie jemals wiedersehen?

Ich mußte mich in Posen bei der Dolmetscherkompanie mel-den und ich hoffte, von der Front verschont zu bleiben. Aber eskam alles anders. Wir erhielten zuallererst taktische

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Militärausbildung, und Ende Dezember wurden wir zumSchützengrabenausheben eingesetzt. Es hieß, Posen solle zurFestung erklärt werden. Das bedeutete also: kein Rückzug,wenn die Russen kommen, sondern die Stadt verteidigen biszum letzten Atemzug. Und so geschah es auch. Als die neueOffensive der Roten Armee begann, die sich schon lange vorder Weichsel, bei Warschau, gesammelt und zu diesem Angriffvorbereitet hatte, begann bei den Deutschen der unaufhaltsame,ungeordnete Rückzug.

Am 15. Januar 1945 gab es bei uns in der Kaserne in Posenschon Hochalarm. Schnell wurden einige Hundert Dolmetscherden Wehrmachtseinheiten zugeteilt, und los ging’s in dieSchützengräben. Jetzt sollte ich mit der Wirklichkeit des grau-samen, mörderischen Krieges bekannt werden, und ich kam mitmeinem Gewissen in Konflikt. Ich war im Herzen der größteFeind des Tötens, konnte aber dennoch mit der Wehrlosigkeitnichts anfangen, denn wie schutzbedürftig wir Mennonitenwaren, hatte uns der Krieg vor Augen geführt.

Wir hatten doch einen Dankgottesdienst gehabt für dieBefreiung durch die Deutsche Wehrmacht. Wir hofften auf einneues, freies Leben mit Religionsfreiheit. Diese Freiheit im Jahr1941 war aber mit Blutvergießen erkauft worden. Hatte ichdenn ein Recht, wehrlos zu bleiben und andere für mich sterbenzu lassen?

Und doch, als ich im Schützengraben lag und die Russen einenernsten Großangriff machten, merkte ich, wie sehr mich dieWehrlosigkeit geprägt hatte und wie sehr ich das Töten verab-scheute. Ich konnte einfach nicht auf Menschen schießen. Alsder furchtbare Angriff, der in drei Wellen kam, abgewehrt war,wobei Hunderte, ja vielleicht Tausende russischer Soldaten aufdem Schlachtfeld liegengeblieben waren durch das mörderischeFeuer der Verteidiger, dankte ich Gott! Nach längerer Zeit dach-te ich über mein Dankgebet nach. Wofür hatte ich eigentlichgedankt? Doch dafür, daß unsere MG-Schützen so gute Arbeitgeleistet hatten und wir dadurch bewahrt blieben! Also hatte ichfür das Blutvergießen gedankt, welches ich im Grunde so ver-abscheute. Ich fühlte, daß ich vor Gott genauso schuldig warwie die, die getötet hatten! Solche und ähnliche Gedanken quäl-ten mich. Ich bin ein Feind des Krieges und Tötens - jetzt erstrecht - aber niemand wage ein zu leichtes Urteil zu sprechen

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über Soldaten, die im Krieg ihre Waffen einsetzen und ihrHeimatland verteidigen.

Drei Tage und Nächte waren wir in den Schützengräben, undimmer wieder gab es Angriffe, so daß auch die Küche nicht anuns heran konnte. Es war kalt, und Winterkleidung hatten wirnicht bekommen. Unsere dünnen Sommermäntel wärmten nichtgenügend, weil wir still liegen mußten. Bei dieser Gelegenheitfroren meine Zehen an, denn wir hatten nur dünne Strümpfe undLederschuhe. Dann endlich kam die Ablösung. Auch dieserWechsel konnte nicht ohne Töten und Verwundete vollzogenwerden.

Die Ruhe währte nicht lange, da gab es schon wieder Alarm.Die Russen hatten unsere Stellungen, die wir einige Stundenzuvor verlassen hatten, erstürmt, und wir wurden zumGegenangriff eingesetzt. Hier bekam ich eine Halsverwundung,die mich für kurze Zeit von der Front befreite. Dann wurdeunsere Einheit von diesem Frontabschnitt in eine kleine Festungverlegt. Es war ein alter Bau, aber stabil gebaut, und wir fühl-ten uns einigermaßen sicher darin. An der anderen Seite derWarte waren die feindlichen Stellungen. Westposen war schongefallen. Wir warteten auf den Angriff, aber außer MG-Beschuß vom anderen Ufer geschah eine Woche lang nichts.Die Stadt selbst war ständig Bomben und Artilleriefeuer aus-gesetzt, und sie war nur noch ein brennender Trümmerhaufen.Dann kam Befehl, fünfzehn der Jüngeren zu einemSondereinsatz zu einer Einheit zu schicken, und ich mußte auchmit. Ich ging sehr ungern aus dieser sicheren Festung, um somehr, da meine angefrorenen Zehen schmerzten. Warum solltegerade ich zu einem Sondereinsatz, wo es bestimmt hart zuge-hen würde?

Unter heftigem Artilleriebeschuß kamen wir zu einemWohnviertel in der Nähe des Fabrikgebäudes, wo wir imKellerraum eines großen vierstöckigen Hauses untergebrachtwurden. Das Fabrikgelände war schon von den Russen besetzt,und es sollte durch unseren Sondereinsatz zurückerobert wer-den. Zu unserer Verwunderung hatten wir etliche Tage Ruhe.

In dieser Einheit, der wir jetzt zugeteilt wurden, gab es fünf-zehn russische Kriegsgefangene. Sie wurden nicht sonderlichbewacht, gingen frei herum, in alten Wehrmachtskleidern ohne

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Abzeichnung. Sie wurden hauptsächlich zur Bedienung derKüche, aber auch zum Munitiontragen eingesetzt.

Mit einem dieser Kriegsgefangenen befreundete ich michsofort. Irgendetwas zog uns zueinander. Nikolaj war ein guterKerl und hatte sofort Vertrauen zu mir. Unser Sondereinsatzverzog sich immer wieder aus mir unbekannten Gründen undNikolaj nützte jede Gelegenheit, wenn er frei war, zu mir zukommen. Ich war zu der Zeit moralisch zerschlagen. Sorgen ummeine Familie quälten mich. Meine Eltern und meineSchwester mit vier Kindern waren in dem polnischen DorfNehrhausen geblieben. Mein Schwager war auch einberufenworden. Und diese Gegend bei Litzmannstadt war schon langevon den Russen besetzt. Zudem ging der Posener Kessel, indem wir steckten, immer mehr dem Ende zu. Der Westteil warschon lange gefallen, und der Ostteil wurde von Tag zu Tagkleiner. Es gingen furchtbare Gerüchte umher. Ja, und wiewürde mein Los sein? Entweder Tod oder Gefangenschaft -Gefängnis, Verhöre, mit Quälereien und Lager, und wohl nieein Wiedersehen mit den Lieben. Nikolaj wiederum war inguter Stimmung. Er hoffte auf Befreiung und ein Wiedersehenmit den Seinen. Ich tat ihm aber richtig leid. Ich höre seineWorte noch: »Peter, warum ist die Welt so ungerecht? Du undich sind hier so schnell gute Freunde geworden, und wenn manuns in zwei Lager trennt, jedem ein Gewehr in die Hand drückt,müssen wir uns gegenseitig töten. Warum muß das so sein? Dubist traurig und fürchtest das Ende des Kessels, und das mitRecht, denn deine Aussichten sind schlecht. Ich, dein Freund,kann den Tag meiner Befreiung kaum abwarten, denn das heißtfür mich Freiheit und Wiedersehen mit den Eltern undGeschwistern.«

Wie glücklich und hoffnungsvoll schaute Nikolaj auf das Endedes Kessels, wie rosig lag die Zukunft vor ihm!

Vom Sondereinsatz wurde ich, Gott sei Dank, verschont! Irgendwie wurden wir in Bereitschaft gehalten und brauchten

dadurch nicht in die Kämpfe, wo es sehr grausam zuging. DieFestung, die ich so ungern verließ, war schon am nächsten Tagvon den Russen mit großer Übermacht erobert worden. Vielemeiner Kameraden waren dort gefallen oder verwundet worden

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und in Gefangenschaft geraten. So schnell wurde das »Warum«von Gott beantwortet! Ich sollte noch leben!

Wir warteten einen Tag nach dem anderen auf denSonderbefehl, während Tausende kämpften und starben. Am14. Februar 1945 um zehn Uhr abends war es soweit. DerBefehl hieß: »Gegenangriff!« Das Fabrikgelände solltezurückerobert werden. Mit gemischten Gefühlen war ich mitdabei: Häuserkampf, Straßenkampf, Hölle. Eine Mine explo-dierte unmittelbar vor mir. Ich war von der Explosion ganzbenommen und glaubte, es habe mich erwischt, wie dieSoldaten sich ausdrückten. Ich war ganz mit Erde bedeckt,merkte aber, daß meine Glieder heil waren. Der Kamerad hintermir war jedoch schwer verwundet. »Ob tausende fallen zu dei-ner Rechten, so wird es dich doch nicht treffen...« Während wiruns um die Verwundeten mühten, kam ein Melder vomHauptquartier mit dem Befehl, unsere Einheit zurückzuziehen.Wer war glücklicher als ich?

Wir wurden zusammengezogen bei großen Häuserblocks, dieim Moment als Lazarette dienten. Hier erhielten wir den Befehl,uns aus dem Kessel rauszuschlagen. Die Sowjetarmee stand zuder Zeit schon 120 km hinter Posen, an der Oder. Die armenVerwundeten mußten zurückgelassen werden. Ein Arzt weiger-te sich mitzugehen, mit der Begründung, er könne seineVerwundeten nicht verlassen. Sein Gewissen erlaubte es ihmnicht. Welch ein edles Herz! Gott wird es ihm nicht unbelohntlassen.

Zurückgelassen wurde nur die Besatzung der Zitadelle, siesollte weiterkämpfen. Wir aber mußten ausbrechen. EinPosener Arzt, der die Gegend gut kannte, zeigte unsSchleichwege, so daß wir ohne einen Schuß durch die feindli-chen Linien kamen. Wir marschierten nur nachts, und am Tagelagen wir im Versteck in irgendeinem Wald. Dann verschwan-den die Offiziere, und die Gruppe wurde immer kleiner. Da warkein Gedanke mehr an Durchbruch bis zur Oder.

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Stalins Gefangener

Drei Tage nach dem Ausbruch aus Posen waren wir nur nochein kleines Häuflein deutscher Soldaten, fünfzehn an der Zahl.Die meisten waren SS-Soldaten und unter ihnen ein Offizier.Am 17. Februar wollten wir uns am frühen Morgen in einemkleinen Wäldchen verstecken, um tagsüber zu ruhen. Nachtswollten wir wieder westwärts schleichen. Der SS-Offizier stell-te eine Wache auf und hielt dann noch leise eine feurige Rede,in der er betonte: »Kameraden, ihr wißt, was uns bevorsteht,wenn wir in Gefangenschaft kommen! Also wollen wir uns inkeinem Fall ergeben. Wir kämpfen bis zum letztenBlutstropfen.« Diese Rede gefiel mir gar nicht. Ich mußte hierweg, aber wie? Wie durch ein Wunder war ich wieder mit mei-nem Freund Eduard zusammen, den ich im Posener Kessel ken-nengelernt hatte.

Mit Edi wurde ich schnell einig, was zu tun sein. Wir mußtenuns von diesem Haufen trennen. Der Morgen fing an zu grauen,als wir im Nebel ein Gut entdeckten. Wir freuten uns ungemein,denn wir waren hungrig. Drei Tage hatten wir schon keineVerpflegung mehr bekommen, hatten aber auch Angst, uns demGutshof zu nähern, denn wir wußten ja nicht, wer auf dem Hofwar. Es konnte da schon russisches Militär einquartiert sein.

Vorsichtig gingen wir in den Hof. Die Türen fanden wir offen.Wir untersuchten alle Räume, Keller und Stall, konnten abernichts Eßbares entdecken. Alles hatte der Bauer mitgenommen,oder es war schon von der polnischen Bevölkerung wegge-schleppt worden. Ach, wie waren wir enttäuscht! Sehr nieder-geschlagen und mit hungrigem Magen wollten wir uns dann inder Scheune auf dem Heuboden verstecken, um am Tage zuschlafen.

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Bevor wir aber zum Schlafen kamen, hörten wir jemanden lautrufen. Oh, wie wir erschraken! Wir schlichen an die großeScheunentür heran, spähten durch einen Spalt ins Freie undmußten erkennen, daß der Hof von polnischer Volkspolizeiumzingelt war. Das Blut wollte uns in den Adern erstarren.

Und wieder erschallte der Ruf in gutem Deutsch: »Ergebt euchund kommt heraus, sonst schießen wir!«

Wir waren verblüfft, erschrocken und unschlüssig! Was soll-ten wir tun? Ein furchtbarer Kampf tobte in mir. Ich konntenicht fassen, daß dies Wirklichkeit war. Gefangen - verloren! Inmeinem Innern schrie ich zu Gott! Er antwortete nicht...

Unsere Hoffnung war so plötzlich zu Schanden geworden! Eduard wollte nicht rausgehen, aber ich sah ein, daß es das

einzig Richtige war, die einzige Möglichkeit, vielleicht dasLeben zu retten, wenn wir der Aufforderung Folge leisteten,denn immer dringender und ungeduldiger wurde der Ruf.

Wir warfen die Gewehre weg und gingen mit erhobenenHänden unserem Schicksal entgegen. Unser Hoffnungssternwar erloschen. Würden die Polen uns erschießen oder zu Todequälen? Im besten Falle warteten auf uns Gefängnis, Straflager,grausame Verhöre. Nie würde ich die Familie wiedersehen.

So gingen wir die 150 Meter, die uns von der von den Russenorganisierten Volkspolizei trennten. Wir gingen wie in einemfurchtbaren Alptraum, bis man uns »Halt« zurief.

Ein älterer Polizist kam uns entgegen und durchsuchte uns. Erfragte, wo unsere Gewehre seien. »In der Scheune«, war unsereAntwort. Er wollte wissen, ob sich in der Nähe noch mehr deut-sche Soldaten versteckt hielten. Wir sagten, wir wüßten esnicht. Die dreizehn Zurückgebliebenen im Wäldchen wolltenwir doch nicht verraten.

Dann führten sie uns zu einem anderen Wäldchen und hieltenan. Da verhandelten sie unter sich in der polnischen Sprache.Sie wurden ziemlich eifrig, und so viel merkten wir, daß es sichum uns handelte. Uns dünkte, die einen wollten uns in demWald erschießen, während zwei der Volkspolizisten dagegenwaren. Endlich einigten sie sich und verteilten sich, um denWald abzusuchen; nur zwei blieben zurück. Wie ein Stein wälz-te sich die Angst von unseren Gemütern. Dann erzählte der älte-

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re Polizist in gutem Deutsch die Ursache ihres Streites. »Siewollten, daß wir euch zu zweit zum Polizeistützpunkt abführensollten, wir aber wollten nicht allein mit euch gehen, denngestern führten wir auch zwei Gefangene, und plötzlich kam einLastwagen mit russischen Soldaten. Sie hielten an, nahmen unsdie deutschen Gefangenen weg und erschossen sie. Wenn wiralle zusammen sind, werden sie nicht so frech sein.«

Wie Balsam wirkte diese Erzählung auf uns! Also nicht um zutöten, hatten sie gestritten, sondern um uns am Leben zu erhal-ten. Und das waren die Polen, vor denen wir so große Angstgehabt hatten. Mit der Zeit kamen die andern vom Durchsuchendes Waldes zurück, und wir wurden ins Dorf geführt. Im Dorfliefen die Leute zusammen und blickten uns neugierig an, eini-ge von ihnen haßerfüllt, andere schickten uns Verwünschungennach.

Unser Mut sank wieder auf Null. Dann erreichten wir denPolizeistützpunkt und wurden zum Polizeichef gebracht. DerChef schaute uns nicht mit Verbitterung an, sondern nötigte unszum Sitzen. Seine erste Frage war: »Seid ihr hungrig?«

Fast zugleich sagten wir: »Wir haben drei Tage nichts geges-sen!«

Dann ordnete er an, uns etwas zum Essen zu holen. Wir trau-ten unseren Ohren kaum. Während wir hier saßen, trat ein rus-sischer Soldat ein. Er wollte Verpflegung haben. Als er unserblickte, schimpfte er und sagte: »Warum schleppt ihr euch mitdiesem Mist herum? Nur zum Misthaufen führen underschießen, mehr sind die verfluchten Fritze nicht wert.« Wirtaten, als ob wir kein Wort verständen. Hätte er geahnt, daß wirDeutsche aus Rußland waren, wäre sein Wutausbruch nochgrößer gewesen. Aber Gott sei Dank, er ging wieder, und unsbrachte man eine große, dicke Scheibe Brot, mit Schmalz undFleisch belegt. Und für jeden eine Feldflasche mit heißemKaffee und Milch. Oh, war das ein herrlicher Schmaus!

Als wir alles verzehrt hatten, fragte ich den Polizeichef, wie eskäme, daß er als Pole, obwohl sie doch so ungerecht von denDeutschen behandelt worden seien, so freundlich mit uns, sei-nen Feinden, verfuhr. »Wir wollen zeigen, daß nicht alle Polenso schlecht sind, wie Hitler sie gemacht hat.« Er sprach eintadelloses Deutsch.

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Dann begann das Verhör und die schriftliche Aufnahme unse-rer Personalien. Es ging alles über unsere Erwartung. DieserPolizeichef, der die Gewalt über uns hatte, zeigte richtigesMitgefühl. Ich konnte nicht anders, als meinen GefühlenAusdruck zu geben, indem ich sagte: »Bei Ihnen möchte ich alsGefangener bleiben.«

Er antwortete darauf: »Wenn ich die Macht hätte, würde icheuch freilassen, damit ihr eure Familien suchen könnt. Ich weißzu gut, daß nicht alle Deutschen an dem Elend schuld sind, wel-ches die Polen erlitten haben. Aber ich bin unter der Kontrolleder russischen Besatzungsbehörden. Ich habe strengen Befehl,jeden deutschen Soldaten und auch Zivilisten an die russischeKommandantur abzuliefern. Ich muß euch nach Obornikabführen lassen, sonst geht es mir an den Kragen. Ihr tut miraufrichtig leid, und ich muß euch sagen, die Dinge stehen füreuch äußerst schlecht. Aber der liebe Gott wolle mit euch sein,vielleicht habt ihr das Glück zu überleben!« Erschreckend, aberauch tröstend wirkten seine Worte auf uns. »Aber der liebe Gottwolle mit euch sein«, klang es noch lange in meinen Ohren. Derpolnische Polizeichef hatte uns einen Segensspruch zum Geleitgegeben - kaum zu glauben, und eine Stunde später brauchtenwir dringend Gottes Schutz!

Nach diesem Gespräch befahl der Chef, uns Verpflegung mit-zugeben. Wieder erhielten wir eine dicke Schnitte Brot, mitSchmalz und Fleisch belegt, und die Feldflasche voll Kaffee.Und dann ging es los.

Zwei bewaffnete Begleiter führten uns ab. Als wir das Dorfverließen, sagte der eine Pole zu Eduard in sehr gebrochenemDeutsch, mit Polnisch gemischt: »Du Soldat, Rußky Uhr weg-nehmen.« Eduard hatte noch eine Uhr, und der Pole machte ihndarauf aufmerksam, daß die Uhr bei den Russen sofort wegge-nommen werde. Er hatte bestimmt große Lust auf die Uhr, waraber nicht so frech, sie ihm abzunehmen.

Ich sagte zu ihm: »Edi, gib dem guten Mann doch deine Uhr,irgendein Unhold nimmt sie dir sowieso weg.« Ohne zu zögernnahm Edi die Uhr ab und schenkte sie dem polnischenVolkspolizisten. Der Mann bedankte sich freundlich, und wirgingen weiter.

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Wir waren wohl eine halbe Stunde gegangen, als wir rechts amWege einen russischen Panzer sahen und hinter dem Panzereinige Tankisten (Panzersoldaten) mit Frauen. Je näher wirkamen, desto klarer wurde uns, daß sie dort ein Trinkgelage hat-ten. Es ging laut zu, und je mehr wir uns näherten, destounheimlicher wurde uns zumute. (Ich erinnerte mich daran, wasder deutschsprechende Polizist erzählt hatte.) Da hatten dieRussen uns auch schon gesehen, und sofort kam Leben in sie!Einige standen auf und verstellten uns den Weg. Als wir an sieherankamen, sagte ein stark Betrunkener zu den Polen: »Wohinführt ihr die Hunde? Gebt sie uns her, ich mache kurzen Prozeßmit ihnen!«

Den Polen war nicht wohl zumute, und sie sagten, indem siedie Papiere zeigten: »Wir sind für sie verantwortlich und wer-den bestraft, wenn wir sie nicht bei der Kommandantur ablie-fern.«

Aber der Panzersoldat wollte nichts davon hören und bestanddarauf, wir gehörten ihm und er würde Abrechnung mit uns hal-ten. Er schrie, sie sollten zur Seite gehen, sonst schieße er mit-ten drein. »Wir sind die Sieger, ihr Polen habt nichts zu sagen«,schrie er.

Die Frauen und ein Soldat waren beim Panzer zurückgeblie-ben, und als die Lage hier kritisch wurde, kam der eine Soldatgelaufen, stellte sich zwischen uns und den Betrunkenen undsagte: »Aljoscha, laß doch. Warum wollen wir unseren verbün-deten Polen Unannehmlichkeiten machen? Die Fritze verreckenauch so«, und langsam drängte er den anderen ein wenig zurSeite und blinzelte den Polen zu; ein Zeichen, uns schnell wei-terzuführen. Jener Segensspruch des Polizeichefs, anders kannich es nicht nennen, hatte schon so bald seine göttliche Wirkunggehabt. So kamen wir bis zum Städtchen Obornik, ungefähr 30km westlich von Posen gelegen.

Was würde uns hier begegnen? Wir sahen schwarz, eineunheimliche Angst überkam mich, als wir der Kommandanturübergeben wurden.

Im Wartezimmer nahm uns der Adjutant desStadtkommandanten in Empfang, nahm auch unsere Akten ent-gegen und machte Meldung. Sofort wurden wir beide vorgelas-sen und dem Kommandanten vorgestellt. Der Kommandant war

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eine außergewöhnliche Erscheinung mit dunkler Hautfarbe,schwarzen Augen und schwarzem Haar. Er wirkte unheimlich.Er schaute uns auch mit verächtlichen, haßerfüllten Augen an,und seine ersten Worte waren: »Wieviel Russen habt ihrerschlagen?« Sein Verhör war sehr unangenehm, wenn auchnicht lang. Dann befahl er, daß wir uns bis auf die Unterwäscheausziehen sollten. Alle Kleider wurden durchsucht. Ich hatteeine Photographie, ein Familienbild, das warf er weg. Ich batum das Bild, aber er sagte: »Zum Sterben brauchst du es nicht!«Ich hatte eine ganz alte, unansehnliche Uniform, Eduard dage-gen hatte vor kurzem eine ganz neue bekommen. Die legte erzur Seite, gab ihm einen alten Militärmantel und veranlaßte, unsabzuführen. Eduard blieb in Hemd, Unterhose und Mantel. Alswir wieder im Warteraum waren, war es der Adjutant, der unsMut zusprach und freundlich mit uns redete. So wurden wirzum Gefängnis gebracht, das gegenüber der Kommandanturlag. Dort standen deutsche Kriegsgefangene, und wir wurdenhinzugetan.

Es kamen einige Polen, und der eine nahm unsere Akten undsagte zu den Russen, sie müßten eine feierliche Übergabemachen. Sie besprachen sich und lachten dabei, dann ging einPole ins Gefängnis und kam mit einem Gummiknüppel zurück.Darauf mußten wir uns in Reih und Glied aufstellen, und einPole mit einem verhältnismäßig guten Deutsch trat vor uns. Mitstrahlendem Gesicht hielt er uns eine Lektion über die gutenEigenschaften des Gummiknüppels. Unter anderem sagte er:»Bis jetzt kennt ihr den Gummiknüppel nur theoretisch, undpraktisch habt ihr ihn bei den Polen angewandt, so daß ihr denrichtigen Wert nie gekannt habt. Jetzt machen wir es einmalumgekehrt, damit ihr ihn richtig schätzen lernt.« Die russischenund polnischen Soldaten wollten sich fast krank lachen, aberuns armen Gefangenen war nicht nach Lachen zumute. Dannwurden wir zu einer Treppe gebracht, die zum Kellerraum desGefängnisses führte. Unten war ein langer Korridor mit Türen,die zu den Gefängniszellen gehörten. Vorn im Korridor hattensie einen Stuhl hingestellt, mit der Lehne zu uns. Über dieseStuhllehne mußten die deutschen Kriegsgefangenen sich beu-gen, mit dem Kopf auf dem Sitz. Den Kopf hielt dann ein Polefest, zwei andere hielten die Füße, und noch zwei, mitGummiknüppeln versehen, schlugen aus Leibeskräften drauflos. Es gab ein Geheul, das oft in ein Brüllen ausartete.

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Mir kam es erniedrigend und beschämend vor, daß dieGepeinigten so unbeherrscht schrien, und in mir kam ein Gefühldes Stolzes hoch. Ich sagte mir, du wirst nicht schreien, dieFreude machst du ihnen nicht. Ich wollte mich beherrschen undschweigend meine Schläge hinnehmen. Die Reihe kam allmäh-lich an uns. Eduard war vor mir, und als er dran war, schrie ersofort beim ersten Schlag furchtbar, und ich wunderte mich, daßer nicht allzuviel Schläge bekam.

Mit großem Unbehagen und Angst vor dem, was da kommensollte, aber mit dem festen Vorsatz zu dulden, ohne zu schreien,beugte ich nun meinen Körper über die Stuhllehne. Derb wur-den mein Kopf und die Füße gepackt und festgehalten. Ich hattenoch einen Vorsatz, den Salomo eitel nennt. Ich wollte dieSchläge zählen, welche ich bekommen würde. Aber schon beimersten Schlag erschrak ich über die furchtbaren Schmerzen, dieer verursachte, doch beherrschte ich mich und schwieg. Zählenkonnte ich nur bis acht, dann versagte mein klares Denken, nurmit meiner Beherrschung hatte ich furchtbar zu tun.

Mein Schweigen versetzte meine Schläger in Wut, und mitpolnischen Flüchen begleitet gaben sie dem Gummiknüppelmehr Nachdruck. Ich weiß nicht mehr, wie mir geschah, aberauf einmal stöhnte ich furchtbar, bis mir zuletzt ein schauerli-ches Brüllen entfuhr. Da waren sie zufrieden und hörten auf.Dann hieß es: »Der Nächste!«

Ich durfte in die Gefängniszelle, wo Eduard schon gespanntauf mich wartete. Ich wollte mich setzen, aber es ging nicht. Icherzählte Edi, wie es mir ergangen und wie mein stolzesVornehmen gescheitert war. »Du Dummkopf!« sagte er daraufzu mir. »Hier in dieser Lage noch Stolz zu zeigen.« Er hattewohl recht. »Ich«, sagte er weiter, »merkte sofort, daß die, wel-che lauter schrien, weniger Schläge erhielten, und als ich dannan der Reihe war, schrie ich sofort los und kam gut dabei weg.«

Um 16 Uhr war Schichtwechsel. Ein anderer Gefängniswärtertrat ein und fragte freundlich, ob alles in Ordnung sei, ob wirvielleicht einen besonderen Wunsch hätten, den zu erfüllen inseiner Macht lag. Es verging eine kurze Zeit, dann wurde plötz-lich das Beobachtungsloch geöffnet, und einige Butterbrötchen,in Papier eingewickelt, flogen durch die Öffnung. Ich bekamnichts davon ab, aber es tat mir wohl zu sehen, daß es doch auch

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gute Menschen unter den Polen gab. Dann erhielten wir unserAbendbrot. Es war eine verhältnismäßig gute Erbsensuppe miteinem Stück Brot. Den Imbiß, den wir mitbekommen hatten,hatte uns der Kommandant weggenommen.

Nach dem Abendbrot legten wir uns in eine Ecke auf demFußboden. Wir waren müde, denn die vorige Nacht hatten wirja noch im Wald als Freie auf dem Weg in den Westen zuge-bracht. Tagsüber hatten wir so viel erlebt, aber trotz all derAufregung waren wir bald eingeschlafen. Doch nicht lange dau-erte unsere Ruhe. Wir erwachten von lautem Wortwechsel imKorridor. Zu unserem Schreck hörten wir Russen sprechen.»Gib her die Schlüssel, sonst gibt’s was!«

Der gute Pole weigerte sich. »Ich darf sie niemandem geben«,sagte er, aber die Eindringlinge drohten und pochten wie alleRussen wieder darauf: »Wir haben den Krieg gewonnen, wirsind die Sieger!« Eduard und ich verstanden jedes Wort. Wirahnten nichts Gutes! Da rasselte das Schloß, und die Zellentüröffnete sich. Es trat ein russischer Offizier mit einemSergeanten und einem Soldaten ein. Alle drei waren tüchtigangetrunken.

»Antreten!« gab der polnische Gefängniswärter Kommando.Mit klopfendem Herzen folgten wir dieser Anweisung. Die dreiEindringlinge schauten uns mit haßerfüllten Augen an, dannfragte der Offizier: »Offiziere sind da?«

Alles blieb still. Noch einmal rief er diese Aufforderung undzwar in einem sehr schlechten Deutsch. Da interessierte sich inder hintersten Ecke ein junger Soldat für das, was der russischeOffizier gesagt hatte, und man erklärte es ihm. Im nächstenAugenblick sprang er auf, schlug zackig die Absätze zusammenund machte Meldung: »Ich bin ein Offizier!«

Wir erschraken alle! Was hatte der junge Leutnant sich wohlgedacht, der erst vor kurzem die Offiziersschule verlassen hatte,aber doch schon Frontbewährung hatte? Er war in vollerUniform und besaß das eiserne Kreuz, welches er schnell ausder Tasche zog und sich an die Brust heftete. Auch der russischeOffizier war ein wenig überrascht über den Mut dieses jungendeutschen Leutnants. Im nächsten Augenblick sprangen diebeiden Rotarmisten vor uns und versetzten ihm von beidenSeiten derbe Ohrfeigen. Der 19jährige Leutnant stand wie eine

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Eiche, ohne einen Laut von sich zu geben. Er verzog kaum eineMiene und stemmte sich immer nur gegen die Schläge.

Der russische Offizier schaute immer noch mit Verwunderungauf den jungen Deutschen, bis er plötzlich schrie: »Otstawitj(Aufhören)! Wofür schlagt ihr diesen Mann? Dafür, daß er seinVaterland verteidigt hat? Das war seine Pflicht. Und wennDeutschland nur solche tapferen Soldaten gehabt hätte, wärenwir noch nicht bis zur Oder. Alle Ehre und Achtung diesemdeutschen Offizier! Geh, setz dich.« Der junge Deutsche durfteauf seinen Platz gehen. Dann fuhr der Russe fort: »Nicht solchesuche ich! Ich suche Vaterlandsverräter.«

Bei diesen Worten erschraken Edi und ich. Wenn er erfuhr,daß wir Rußlanddeutsche waren... Dann schritt er die Reihe abund fragte in gebrochenem Deutsch jeden persönlich, von wo ersei und die genaue Anschrift. Als er zu mir kam, klopfte meinHerz, aber ich sagte ihm in gutem Deutsch, ohne Hemmungen,die Anschrift meiner Frau, die ich in Nehrhausen beiLitzmannstadt zurückgelassen hatte, und er verdächtigte michnicht und ging weiter. Ebenso hatte auch Edi Glück.

Unweit von uns, als letzter, stand ein Mann, der uns erzählthatte, daß er russischer Kriegsgefangener sei. Er war wohl einKaukasier. Er erzählte, als die rote Armee kam, habe einDeutscher die Tore des Kriegsgefangenenlagers geöffnet undgerufen: »Rettet euch!« Ihn persönlich habe dieser Ruf noch inUnterkleidung überrascht, und er habe schnell Hosen undStiefel angezogen. Da er im Eifer keinen Rock mitgenommenhatte, habe er den Rock eines toten deutschen Soldaten angezo-gen. Und so hätten die Russen ihn gefangengenommen und her-gebracht. Sie glaubten ihm nicht, daß er ein Gefangenergewesen war, weil er einen neuen Soldatenrock trug. Dieserarme Kerl hatte einem SS-Mann den Rock ausgezogen undahnte nicht, daß dieser neue SS-Rock ihm zum Verhängnis wer-den könnte. Als der russische Offizier nun die Reihe abge-schritten hatte und zu diesem Kriegsgefangenen kam, fragte erihn wie alle: »Woher?«

Der arme Mann nannte wohl aus Angst, in einem sehr schlech-ten Deutsch, eine erdachte Adresse. Darauf sagte der Offizier:»Du verdächtige Fratze, du kannst ja überhaupt kein Deutschund willst dich verstecken! Her mit dir! Packt ihn und nehmt

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ihn mit. Wir werden dir zeigen, wie man sein Vaterland verrät!«Und so zogen sie mit ihm ab. Erleichtert atmeten wir auf, aberder arme Kriegsgefangene lag uns schwer auf dem Herzen.

Wenn wir geglaubt hatten, daß wir jetzt Ruhe haben würden,hatten wir uns getäuscht. Als sie kaum draußen waren, hörtenwir schon, daß der Arme furchtbar geschlagen wurde.Anfänglich stöhnte er, dann aber schrie er und bat um Gnade. Erversuchte sie zu überzeugen, daß er unschuldig war, aber nichtshalf. Sie schlugen, bis er immer stiller wurde und dann ganzschwieg. Uns war unheimlich zumute, wir konnten nicht schla-fen. Als wir schließlich ein wenig eingeschlafen waren, wurdenwir wieder durch lautes Schreien und Fluchen geweckt, und soging es bis um vier Uhr morgens! Zuletzt hörten wir ihn zwi-schendurch bitten: »Erschießt mich bitte, aber quält mich nichtlänger.«

Um vier Uhr morgens wurde es endlich still. Der polnischeGefängniswärter, der Deutsch sprach, erzählte uns am andernTag den genauen Hergang. Die Russen hätten ihn bis zurBesinnungslosigkeit geschlagen. Dann hätten sie in derZwischenzeit Spiritus getrunken, den sie reichlich mitgebrachthatten. Wenn der Gemarterte nicht von selbst zur Besinnungkam, hätten sie ihm Spiritus eingeflößt und ihn dann von neuemgepeinigt. Um vier Uhr hätten sie ihn dann tatsächlich heraus-geschleppt und erschossen. Der gute Pole war höchst empörtüber diese Grausamkeit.

Auch diese Schreckensnacht verging. Morgens nach demFrühstück mußten wir raus zu einer Aufräumungsarbeit. Wirwaren noch nicht lange bei der Arbeit, als ein Soldat mir befahl,die Schuhe auszuziehen, und als Ersatz gab er mir seine alten,kaputten Schuhe, die mir zu klein waren.

Ich war in einer schlimmen Lage. Mein angefrorener Zeh warnoch nicht wieder heil, und jetzt sollte ich Schuhe anziehen, diemir zu klein waren. Es gab aber kein Pardon. Wen kümmertenschon die Schmerzen eines Gefangenen?

Am nächsten Tag mußten alle Gefangenen raus. Wir wurdenunter Bewachung polnischer Volkspolizei zu einem deutschenFriedhof gebracht. Dort nahm uns ein russischer Offizier inEmpfang und machte uns mit der Aufgabe bekannt, den deut-schen Friedhof dem Erdboden gleichzumachen. Es war ein

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herrlicher Friedhof mit schönen Grabsteinen. Jetzt mußten wirdie Grabsteine mit großen Schmiedehämmern kaputtschlagenund in ein großes Kellergrab schaffen.

Dies rief große Aufregung bei der polnischen Bevölkerunghervor. In Schwarz gekleidet, kamen viele Frauen bis an denFriedhofszaun und beteten und weinten. Aber derSowjetoffizier ging von Zaun zu Zaun und vertrieb die Leute.Sobald er aber wegging, waren sie wieder da. Diese Frauenbrachten sogar Butterbrote mit, gaben sie heimlich der polni-schen Bewachung, und die verteilten sie auf dem Heimweg, alsder russische Offizier schon weg war, unter die Gefangenen.Einer der Volkspolizisten sagte unter anderem zu uns: »Welchein Unsinn! Was haben die Deutschen, die vor 100 Jahrengestorben sind, mit Hitler zu tun!« Einige Tage mußten wirdiese unangenehme, peinliche Arbeit verrichten.

Am 20. Februar nach dem Frühstück mußten alle antreten, unduns wurde gesagt, daß wir zum Posener Kriegsgefangenenlagergebracht würden. Der Verantwortliche für diesenGefangenenkonvoi (Wache) sprach ein gutes Deutsch, wie soviele in der Posener Gegend. Er fragte, ob jemand dabei wäre,der nicht gehen könne, vielleicht verwundet sei, der solle sichmelden, denn ein Pferdegespann würde uns begleiten, undKranke dürften auf dem Wagen fahren.

Edi sagte zu mir: »Melde dich doch mit deinem Fuß.« Ichhatte aber nicht den Mut dazu, obwohl mir sehr bange war, die30 km mit meinem kranken Fuß und viel zu kleinen Schuhen zugehen. »Wenn du es nicht machst, tu’ ich es«, und er ging undmeldete mich an. Und ich wurde freundlich genötigt, denWagen zu besteigen. Dann ging der Fußmarsch los.

Die Polen, die uns bewachten und ebenfalls zu Fuß gehenmußten, ruhten sich abwechselnd auf dem von Pferden gezoge-nen Wagen aus. Einer von ihnen unterhielt sich mit mir über dieZustände in Polen, nachdem es von den Sowjets besetzt war,und sagte: »Wir haben auf die Russen gewartet, aber die habenuns enttäuscht, jetzt müssen wir weiter warten.« Ich wollte wis-sen, auf wen sie denn jetzt noch warteten. Er sagte kurzerhand:»Auf die Engländer!« So war die Stimmung damals in Polen.Das russische Militär war durch den langen Krieg total demora-lisiert.

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Als wir gut den halben Weg hinter uns hatten, gab es wiedereine Überraschung. Uns kam eine Autokolonne entgegen, undschon von weitem war zu merken, daß die Fahrer betrunkenwaren. Die Autos waren voll mit Soldaten besetzt. DerVerantwortliche der Gefangenenkolonne rief uns allen laut zu,den Asphaltweg freizugeben und soweit wie möglich rechts zuhalten, denn als er den vorigen Gefangenentransport nach Posengebracht habe, sei ein betrunkener russischer Kraftfahrer mut-willig direkt in die Gefangenenkolonne hineingefahren. Es hätteTote gegeben!

Vor Schreck drängten die Gefangenen soweit wie möglichnach rechts. Der Pole, der uns gewarnt hatte, ging links von uns,als ob er uns vor der Gefahr, die uns drohte, abschirmen wollte.

Die Autokolonne kam näher und näher. Mit klopfendemHerzen warteten wir der Dinge, die da kommen sollten. Als dererste Kraftwagen uns erreicht hatte, hielt der Fahrer ziemlichplötzlich den Wagen an, und aus der Fahrerkabine sprang eintotal betrunkener russischer Offizier heraus und verstellte unsden Weg. Ein Häuflein Soldaten war ebenfalls vom Wagengesprungen und ihm gefolgt.

»Wohin führt ihr die verfluchten Njemze?«, schrie der Offizier.Und er bestand darauf, unterstützt von den Rotarmisten, genau-so wie wir es schon einmal erlebt hatten, ihm die Gefangenenzu überlassen. Er würde Abrechnung halten mit den verfluchtenHunden.

Unser Pole blieb hart. In keinem Fall gebe er die Gefangenenab. Er habe die Akten und die Verantwortung für uns. Aber derRusse blieb auch hartnäckig auf seinem Verlangen bestehen undbegann zu drohen. Genauso wie bei den Vorgängern betonte erimmer wieder: »Wir haben den Krieg gewonnen, ihr Polen habtgar nichts zu sagen!« Wir durchlebten furchtbare Angst - waskonnte der eine Mann gegen so eine Gruppe betrunkenerSoldaten ausrichten?

Die Russen wollten handgreiflich werden, da rief der Pole:»Toljko tscheres moj Trup perejdjotje!« (nur über meineLeiche!) und hielt das Automatengewehr bereit zum Schießen.Die Russen stutzten einen Augenblick, und dann kam dieRettung. Eine ganze Reihe Soldaten sprang vom Kraftwagenund kam dem Polen zu Hilfe. Sie drängten die Betrunkenen

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zurück und beruhigten sie, und wir durften weitergehen. Ichdachte wieder an den Segensspruch des Polizeichefs: »Behüt’euch Gott!«

Ich bewundere diesen Polen bis heute. Er riskierte sein Lebenfür uns. Es war ja Frontgebiet, wo das Gesetz der Willkür herr-scht. Wie leicht hätte der betrunkene Offizier mit seinenKumpanen das Feuer eröffnen können. Alle Achtung unseremLebensretter! Gott möge es ihm lohnen!

Ich hatte mich auch wieder überzeugt, daß es in jedem Volkgute und böse Menschen gibt. Wären die guten russischenSoldaten nicht zur Hilfe gekommen, wer weiß, womit es geen-det hätte?

Unsere Gefangenenkolonne bewegte sich immer näher derStadt Posen zu. Je näher wir der Stadt kamen, desto lauter hör-ten wir den Kanonendonner, denn in Posen wurde immer nochum die Zitadelle gekämpft, welche die Deutschen verteidigten.Auf dem Feld links und rechts lagen tote deutsche Soldaten. Eswar ein schauriges Bild. Genauso könnte ich ja irgendwo tot lie-gen. War ich denn besser als diese, die sterben mußten? Michhatte Gott bewahrt! Und während meiner kurzenGefangenschaft hatte Er schon zweimal nicht zugelassen, daßman mich erschoß!

So kamen wir bis Posen. Auf den Straßen Posens waren vieleNeugierige, die die verhaßten Gefangenen sehen wollten.Geschimpft und geflucht wurde über uns, man warf uns Steinenach. Die polnische Bewachung hatte Mühe, die aufgeregteMasse fernzuhalten. Was hatte Hitler doch für einen Haß aufdas ganze deutsche Volk gesät. Ob schuldig oder unschuldig,alle hießen sie jetzt »die verfluchten Deutschen«. Und dochwurde ich auch in dieser Lage getröstet. Ich sah Frauen, dieüber uns weinten, und Männer, die Mitleid zeigten. So kamenwir schließlich bis zum Kriegsgefangenenlager.

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Wieder in Posen

Das Kriegsgefangenenlager, zu dem wir gebracht wurden, wargroß. Der Pole trug unsere Akten herein. Kurz darauf wurde dasgroße Tor geöffnet, und ein Offizier kam mit unseren Aktenheraus.

Nach der Liste wurden wir alle von einem Dolmetscher auf-gerufen, und wenn unser Name gerufen wurde, mußten wir mit»Ja« antworten. Dann durften wir ins Lager gehen.

Manch ein bekanntes Gesicht trafen wir dort. Unser frühererWaffenmeister aus der Dolmetscherkompanie war alsDolmetscher tätig. Wir wurden von ihm zu einer Barackegewiesen, wo schon andere deutsche Gefangene wohnten.Betten gab es dort nicht, und wir lagerten uns auf demFußboden. Es war schon Spätnachmittag. Der Barackenältestenahm einige Gefangene zu sich, ging das Brot für den Abendholen und verteilte es der Liste nach, aber wir waren auf derListe noch nicht vermerkt. Wir waren ein wenig enttäuscht,hofften jedoch später nach einer besonderen Liste unser Brot zubekommen. Wir bekamen kein Brot. Als der Gongschlag zumAbendbrot ertönte, hieß es, für euch wurde noch keine Rationempfangen, und somit gab es für uns auch kein Abendbrot.Hungrig und müde legten wir uns schlafen. Wir waren trotzdemfroh, hier zu sein, denn im Gefangenenlager durften wir uns freibewegen, und wir hofften doch auf bessere Behandlung.

Am zweiten Tag hieß es wieder: »Für euch ist noch kein Brotund Frühstück da.« Allmählich wurde uns die Sache ungemüt-lich, aber wohin mit unserer Klage?

Dann wurden wir zu einer ärztlichen Untersuchung gebracht.Als ich an der Reihe war, mich auszuziehen, um nackt vor denÄrzten zu erscheinen, war ich peinlich berührt, daß es lauterFrauen waren. Die Untersuchung war nur sehr oberflächlich,

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aber als sie mich von hinten sahen, mit meinen blutunterlaufe-nen Striemen, schauten sie sich doch gegenseitig an und schüt-telten unwillig den Kopf. Es tat mir wohl, daß sie mit diesemWillkürakt nicht einverstanden waren. Denn alle, die jetzt vorihnen standen, hatten Striemen, aber ich war einSonderexemplar, und das aus eigener Schuld. Mittagessen warfür uns wieder nicht da. Da trafen wir einen Polendeutschen, dermit uns in der Dolmetscherkompanie in einer Abteilung gewe-sen war. Er hatte ebenfalls das Dolmetscherabzeichen. Oh, wiefreuten wir uns, wieder ein bekanntes Gesicht zu sehen. Auch ertat so, als ob er sich ernstlich freute.

»Kameraden«, sagte er, »ich werde euch helfen,« und schonzog er ein Blockbüchlein aus der Tasche und notierte unsereNamen. »Ich bring’ euch als Dolmetscher an. Dann braucht ihrnicht zu hungern, und ihr habt es gut.« Edi, der fast zehn Jahrejünger war als ich, war begeistert von dieser Sache, aber ich warprompt dagegen.

Ich sagte zu ihm: »In keinem Fall! Wir wollen nicht Russischsprechen. Wenn die erfahren, woher wir kommen, sind wir ver-loren!«

»Nun gut, wenn ihr nicht wollt«, sagte er und strich unsereNamen durch. Mir war diese Begegnung und sein Block, wennauch mit durchgestrichener Notiz, plötzlich unangenehm. Ichkannte Stalins Herrschaft nur zu gut.

Der Polendeutsche war schon im fortgeschrittenen Alter. Ersah übel aus, als wir ihn trafen. Gesicht und Kopf waren vollernicht ganz abgeheilter Wunden. Als wir ihn fragten, woher erein so zerschundenes Gesicht hatte, wich er unserer Frage ausund sagte: »Ach, was kommt an der Front nicht alles vor.«Später erfuhren wir, daß der arme Kerl ein Spitzel war. Manhatte ihn bei Verhören furchtbar geschlagen, bis er versprochenhatte, jeden Soldaten aus der Dolmetscherkompanie, den er tref-fen würde, anzumelden. Die Wahl hieß Erschießung oder für siearbeiten. Die Russen wußten durch Spionage sehr gut, daß inder Dolmetscherkompanie viele Rußlanddeutsche waren. In derDolmetscherkompanie waren alle Sprachen vertreten:Rumänisch, Polnisch, Englisch, Französisch; aber am meistenwaren Deutsche aus Rußland mit russischen und ukrainischen

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Sprachkenntnissen vertreten, und diese wollten die Sowjets her-ausfischen und mit ihnen Abrechnung halten.

Der Abend des zweiten Tages kam, und wir hofften fest, daßwir nun endlich auf der Brotliste stehen würden, aber wir wur-den wieder enttäuscht. Der Barackenälteste holte das Brot undsagte: »Für euch ist noch kein Brot da.« Und so ging es auch mitdem Abendbrot. Unser Hunger wurde immer unerträglicher. Eswaren jetzt schon drei Tage, seit wir im Gefängnis unser letztesFrühstück bekommen hatten, und das nicht im Übermaß. Aberwir überstanden auch die dritte hungrige Nacht.

Morgens sagte der Barackenälteste: »Heute steht ihr auf derListe«, und wir erhielten zum Frühstücksschmaus vierPellkartoffeln in der Größe eines Taubeneies. Die Freude wargroß. Zum Schälen hatten wir keine Zeit, aber sie mundetenherrlich. Durch die Kleinigkeit war der Appetit aber nur nochschlimmer angeregt, und der Hunger quälte uns noch mehr. DasMittagessen wurde uns wieder nicht gegeben, aber Abendbrotund 500 g Brot bekämen wir gewiß, tröstete der Dolmetscheruns. Und die Hoffnung gab uns wieder Geduld und Mut. DerAbend kam heran. Der Barakenälteste nahm sich wie immereinige Gefangene mit und ging das Brot holen. Es waren jetztwohl nur noch einige Minuten, und dann würden wir Brotessen! Ja, auch Abendbrot würden wir essen. Endlich hatten wirwieder eine Hungerperiode überstanden!

Während wir so in froher Erwartung auf dem Fußboden lagen,trat der Dolmetscher ein mit einer Liste in der Hand. Dann laser laut Namen vor, und der Aufgerufene mußte mit »Ja« ant-worten und antreten. Auch Edi und ich wurden aufgerufen. Mirwurde übel. Ich ahnte nichts Gutes! Edi wiederum jubelte fastund sagte begeistert: »Er hat uns doch als Dolmetscher ange-meldet, jetzt werden wir es besser haben!«

Ich wollte ihm klarmachen, daß wir jetzt wohl verraten wären,aber davon wollte er nichts hören.

Wir mußten dem Dolmetscher folgen, und er lieferte uns ineiner kleinen Baracke ab. Dort wurden wir von einem russi-schen Offizier empfangen und in einen Raum gebracht, woschon einige deutsche Kriegsgefangene saßen. Ich war sehr nie-dergedrückt. Edi war aber immer noch voll Optimismus. Zudemquälte mich die Sorge, daß wir nun wieder um Brot und

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Abendverpflegung kommen würden. Während wir da so in derUngewißheit saßen, wurden immer wieder Soldaten aufgerufen,die dann in ein anliegendes Zimmer geführt und einem Verhörunterzogen wurden. Ich stellte fest, daß alle, die hier zusam-mengebracht waren, zur Dolmetscherkompanie gehört hatten.Dies bestärkte meine Vermutung, daß wir jetzt in der Fallewaren.

Dann sagte ich zu Edi: »Ich muß noch die Toilette aufsuchen«,erhob mich und ging zur Tür. Als ich die Tür öffnete, stand einWachposten davor, der mich barsch anschrie und zurückjagte.Meine Vermutung war bestätigt. Im Kriegsgefangenenlager,hinter Stacheldraht, noch einmal eine extra Bewachung - deut-licher konnte es nicht gesagt werden. Ich erschrak im Innern,obwohl ich doch schon wußte, was los war. Ich ging zurück undsetzte mich.

Edi stutzte und sagte: »Du wolltest doch rausgehen, warumkommst du zurück?«

Ich entgegnete ihm: »Versuch du es doch einmal.« Er schautemich fragend an und ging dann tatsächlich zur Tür, öffnete sieund schrak zurück. Genauso wie mich hatte der Posten auch ihnmit Fluchen begrüßt. Ganz bleich kam er zurück und setzte sichzu mir. Ich fragte ihn: »Glaubst du jetzt, was ich dir immersagte?« Er schwieg.

Wir waren beide noch nicht verhört worden, als es hieß: »Alledraußen antreten!« Als wir angetreten waren, gab esKommando »Vorwärts«, und wir wurden bis zum Tor gebracht.Das Begleitkommando, das uns empfing, war mit automati-schen Gewehren bewaffnet. Der Führer nahm die Mappe mitunseren Akten entgegen, und los ging es in die Stadt hinein. Wirwaren wohl zwanzig Mann, die abgeführt wurden. Wieder wur-den wir von Neugierigen begafft. Und so kamen wir bis zurStargarter Straße Nr. 6.

Es war das Lagerhaus eines geflüchteten Kaufmanns. DasErdgeschoß war sein Geschäftsbüro gewesen, die Wohnung imzweiten Stock und der Keller, der als Warenlager gedient hatte,waren mit vielen Abteilungen versehen, die jetzt alsGefängniszellen benutzt wurden. In diesem Hof, der mit einemhohen Bretterzaun umgeben war, hatte sich die russischeGegenspionage einquartiert, um Kriegsverbrecher zu suchen.

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Als wir auf dem Hof angekommen waren, übernahm uns dasPersonal dieses politischen Gefängnisses. Die wenigenKleinigkeiten, welche Soldaten bei sich tragen, wurden unsabgenommen. Dazu gehörte in erster Linie der Soldatengürtelmit Koppel. Dann wurden wir gründlich durchsucht. Währenddies geschah, schaute ich in Richtung Tor, und genau in demMoment ging dort ein Mann mit einem Kind vorbei, in dem icheinen Rigadeutschen erkannte, der in der Dolmetscherkompaniemit uns in einem Zimmer geschlafen hatte. Er war jetzt Posenerund hatte es fertiggebracht, während der Kämpfe zu desertierenund sich in Zivilkleidern zu verstecken. Er erkannte mich eben-falls und erschrak. Fast im Laufschritt, ging er weiter. Er hattebestimmt Angst, von mir verraten zu werden. Oh, wie beneide-te ich diesen Mann in dem Augenblick, als ich ihn sah. Dannwurden wir in den Keller geführt, eine Zelle wurde geöffnet,und wir mußten rein. Die Zelle war schon voll, aber wir wurdengeradeso hineingepfercht. Es war eine kleine Doppelkammermit einem kleinen Gitterfenster. Es waren 40 Häftlinge darin,und wir konnten nur einigermaßen stehen, an Liegen war nichtzu denken. So manch einen Bekannten trafen wir dort, denndiese 40 gehörten alle der Dolmetscherkompanie an, bei der ichmeine Ausbildung als Soldat bekam.

Ich traf dort Willi P., einen Odessadeutschen, der in meinerAbteilung war, auch unsern Oberleutnant S. und noch einigeandere. Unter ihnen war auch Oberleutnant J., Lehrer der russi-schen Sprache, auch ein Rigadeutscher, der noch zur KaiserzeitRussisch gelernt hatte.

Dieses Wiedersehen, wenn auch im dunklen Keller, brachtedoch ein wenig Sonnenschein in unser trostbedürftiges Herz.

Es war darüber Abend geworden, und plötzlich rasselte dasSchloß, die Tür wurde geöffnet, und zu unserer Freude reichteman uns allen, auch den Neuen, je 100 g Brot. Dann brachtensie für je zehn Mann eine große Schüssel mit einer dünnenKartoffelsuppe. Wir gruppierten uns zu zehn, und dann nahmjeder seinen Löffel, den sie uns nicht abgenommen hatten, unddas Jagen nach den Kartoffelstückchen begann. Die Suppe warheiß, und wir verbrühten uns den Mund, denn es blieb keineZeit zum Blasen oder Warten, sonst bekam man nichts. Um dieSchüssel hatten eigentlich nur fünf Platz, die andern fünfmußten irgendwie von hinten ihre Löffel bis zur Suppe bringen;

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dies und der lange Weg bis zum Mund benachteiligte sie ernst-haft. Nach dem Essen einigten wir uns, abwechselnd zu fünftdie nächsten Mahlzeiten zu nehmen. Das heißt, einmal aßenfünf die Suppe bis zur Hälfte, und das andere Mal die andernfünf als erste, ebenfalls bis zur Hälfte. Für die letzte Gruppeblieb immer nur die Suppe ohne Kartoffeln, deshalb derWechsel.

Wie gesagt, es war eng in der Zelle, aber solange die Türimmer wieder geöffnet wurde, war es erträglich. Als es nunNacht wurde und kein Luftwechsel geschah, wurde derSauerstoff immer weniger, und wir rangen nach Luft.Besonders die älteren Männer litten darunter. Wir klopften andie Tür und baten, sie doch ein wenig zu öffnen, wurden aberstur abgewiesen.

Allmählich wurden wir müde, denn wir standen ja nochimmer, und es war schon Nacht. Die Müdigkeit quälte immermehr. Dann machten wir einen Versuch. Eine Hälfte von unslegte sich auf den Zementboden. Die Zelle war nur so breit, daßein großer Mann liegend von einer Seite bis zur anderen reich-te. Wie die Heringe lagen wir, und die anderen zwanzig standenzwischen den Leibern, wie eben möglich. Nach einigen Stundenwechselten wir, wenn auch mit großer Mühe. Das Erfreulichewar, daß die, die da unten lagen und schliefen, bessere Luft hat-ten. Um zwölf Uhr wurde die Wache gewechselt, und wir ver-suchten wieder um Lüftung zu bitten. Als wir anklopften,öffnete ein Soldat, ohne Zweifel ein Grusiner, und fragte nachunserem Begehren. Als er uns angehört hatte, sagte er: »Ich darfes eigentlich nicht tun. Wenn man mich ertappt, werde ichbestraft. Ich will die Tür eine kurze Zeit offenlassen zurAuslüftung. Aber niemand darf mich verraten.« Wir verspra-chen zu schweigen und waren ihm von Herzen dankbar. Derliebe Gott wolle es ihm vergelten.

Drei Tage und Nächte verbrachten wir in diesem elendenZustand. Zwischendurch wurden immer wieder einige zumVerhör abgeholt, die nichts Ermutigendes zu berichten hatten.

Am dritten Tag rasselte wieder einmal das große Schloß, unddie Tür wurde geöffnet. Vor der Tür standen hohe, russischeOffiziere. Eintreten konnten sie nicht, weil die Zelle ja voll war.Sie fragten, ob wir Beschwerden hätten. In aller Demut spra-

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chen wir von der Enge, dem Sauerstoffmangel und dem nassenZementboden. Darauf wurde die Tür wieder geschlossen.Ungefähr zwei Stunden später wurden zwanzigLeidenskameraden abgeholt und anderswo untergebracht. Dannbrachten sie uns große Sperrholzplatten, womit wir den kaltenund feuchten Fußboden bedecken durften. Wie dankbar warenwir! Die Kommission hatte doch wirklich geholfen.

Bald wurde auch ich zum Verhör geholt. Mit bangem Herzenund stillem Beten ging ich hin. Die, die schon früher verhörtworden waren, berichteten, wie brutal sie verhört wurden. DerUntersuchungsrichter habe sie geschlagen usw. Also ging ichmit klopfendem Herzen der Ungewißheit entgegen. Als ich zumUntersuchungsrichter kam, wurde ich zum Hinsetzen genötigt,auf einem Holzschemel, der ca. drei Meter vor seinem Tischstand. Der Mann entsprach aber nicht den Schilderungen, dieich von den andern gehört hatte. Er hatte eher ein sympathischesAussehen.

Zuallererst mußte ich meine ganze Autobiographie erzählen.Als ich endlich bis zu meiner Einberufung zur Dolmetscher-kompanie kam, sagte er: »Nicht Dolmetscherkompanie, son-dern Schkola Spionow (Spionageschule). Ja,« sagte er, »dortwurden Spione für Rußland ausgebildet!« Ich bestritt es aufsäußerste, aber er blieb fest bei seiner Behauptung. Im großenund ganzen verlief das Verhör ruhig. Ich kam aber dann dochganz erschrocken zurück in die Zelle, denn wenn ich alsSpionageschüler angesehen wurde, waren die Aussichten fürmich sehr dunkel! »Wie war’s?« fragten alle. Sie wundertensich, daß ich keine Schläge bekommen hatte. Es stellte sich her-aus, daß alle Insassen unserer Zelle in diesem Punkt beschuldigtwurden.

Die Tage vergingen, wenn auch langsam. Die Verhöre wurdenimmer intensiver. Drei unserer Leidenskameraden wurdenbesonders scharf verhört. In dem Zimmer desUntersuchungsrichters waren immer zwei polnische Frauenzugegen, und wenn der Offizier ein Geständnis erpressen woll-te, hieß es: »Paninki, bringt ihm das Reden bei!« Und dann gin-gen diese Frauen mit Genugtuung an ihre Geräte. Sie schlugendie Gefangenen, bis sie besinnungslos dalagen. DieJammerschreie drangen gedämpft bis in unsere Kellerzellenhinunter. Damit es nicht zu arg auf der Straße zu hören war,

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spielte im Zimmer nebenan ein Pole recht laut Klavier. Wennwir Klavierklänge vernahmen, wußten wir, jetzt wird einerunserer Kameraden grausam geschlagen. Dann lagen wir allemäuschenstill, und so manch ein Stoßseufzer ging zum Himmelempor. So vergingen ungefähr zwei Wochen, bis einOberleutnant aus Riga zum Verhör mußte. Er war einer vondenen, die sehr geschlagen wurden. Diesmal kam er ganz zer-schunden zurück und schwankte. Wir schauten ihn alle mitbewegtem Herzen an. Er war 186 cm groß und ein stark gebau-ter Mann, von starker Natur, aber die Frauen hatten auch ihngebrochen. Nachts um Mitternacht wurde er herausgerufen undabgeführt. Er kam nicht mehr zurück! Wir vermuteten, daß ererschossen wurde. Meine Gedanken waren weit weg bei meinerFamilie, von der ich nicht wußte, wo sie war oder ob sie nocham Leben war. Ich hatte ein inniges Verlangen, eine Nachrichtzu übergeben, für den Fall, daß auch mich das Schicksal desOberleutnants ereilen sollte.

Oberleutnant J. wurde kurz darauf wieder zum Verhör geholtund zurückgeschleppt. Er sah wie eine Leiche aus. Wir legtenihn auf seinen Platz. Er war mein Nachbar. Nach kurzer Zeitsagte er zu den Rigadeutschen, die ihn kannten und umgaben:»Ich werde sterben! Wenn ihr überleben solltet, berichtet mei-ner Frau, wo ich geblieben bin.« Es war kaum zu verstehen, waser sagte. In derselben Nacht starb er. Am Tage mußten wir ihnauf dem Hof in der hintersten Ecke begraben. In den nächstenTagen wurde dort noch ein Offizier von derDolmetscherkompanie beerdigt, der ebenfalls zu Tode gemar-tert worden war.

So furchtbar litten unschuldige Menschen, und ich kam immerohne Schläge davon! Ich war der einzige aus unserer Zelle, derverschont blieb. Immer denke ich an den Abschied von dempolnischen Polizeichef: »Die Dinge stehen für euch schlecht!Behüt’ euch Gott!« Wurde ich durch diesen Segensspruchbewahrt? Gott war es jedenfalls, der mich diesen Weg führte.

Den ganzen Monat, den wir in dieser Zelle zubringen mußten,durften wir uns nicht waschen. Mein Freund Willi P. erkranktean der Ruhr, aber obwohl es gemeldet wurde, kümmerte sichniemand darum. Man hörte höchstens: »Daß ihr alle verreckenmöget!«

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Außer dem guten Grusiner war da noch ein guter Ukrainer, derMitleid mit uns hatte. Auf unser ernstes Bitten hin erlaubte eruns einmal nachts, als alle schliefen, uns einzeln zu waschen.Der Wasserhahn war direkt gegenüber unserer Tür. Er war nochganz jung und hatte auch Angst, daß man sein Mitleidmißbrauchen könnte. »Ich werde die Tür öffnen, und dann geheich zum Ausgang und werde aufpassen. Wenn jemand kommt,werde ich ein Liedchen pfeifen, dann geht derjenige sofort reinund schließt die Tür, so daß ich nur noch zuschließen muß.« Somachten wir es, und wir durften uns alle einmal Hände undGesicht waschen. Aber was war das gegen die Ruhr? Und mitWilli wurde es immer schlimmer. Der arme Mann saß dauerndauf dem Fäßchen, das unsere Toilette darstellte. Und zumStaunen, er überstand die Krankheit! Noch mehr zum Staunen,daß niemand von uns erkrankte. Jeden Morgen wurden wir ausdem Keller herausgeführt und unter strenger Bewachung zurToilette gebracht. Eines Tages, als wir wieder wie gewöhnlichherausgeführt wurden, saßen draußen, oben beim Ausgang, rus-sische Soldaten und schlugen mit ihren Soldatengürteln, mitdem Koppelende, nach Herzenslust auf unsere Köpfe, währendwir die Treppe hochgingen. Sie hatten an diesem Spiel großeFreude. Als wir zurückgingen, mußten wir wieder durch diesesFegefeuer. Niemand wehrte sich.

Allmählich wurden die Verhöre weniger, aber die Läuse wur-den immer mehr. Meinem Untersuchuchungsrichter Fomenkomuß ich doch ein gutes Zeugnis geben. Er war manchmal auchgrob, aber nie so gehässig wie die andern. Er mußte ja für micheinen politischen Paragraphen finden, der mir mindestens zehnJahre Straflager brachte. Mein Freund Eduard war auch seinKlient. Seine Sache war weit mehr verzwickt als meine, undauch ihn hat er menschlich behandelt. Schläge bekam Edi nur,wenn ein anderer zugegen war.

Eines Tages wurde ein älterer Mann zu uns in die Kammergebracht. Wie immer bestürmten wir ihn mit Fragen. Und dannberichtete er, daß er aus einem Dorf käme, wo er mit seiner Frauund einer 17jährigen Tochter gelebt hatte.

Als die Rote Armee ins Dorf gekommen war, ging dasVergewaltigen der jungen Frauen und Mädel los. Er hatte seineTochter rechtzeitig auf dem Heuboden verstecken können.Nachts hatten sie ihr dann immer etwas zu essen gebracht. Da

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kam eines Tages ein junger russischer Offizier in Begleitungzweier Soldaten betrunken herein und verlangte in sehr gebro-chenem Deutsch die Tochter. Sie wurden immer ungehaltener,und dann sagte der Offizier: »Ich gehe jetzt, und morgenkomme ich wieder. Und wenn ihr dann nicht die Tochter hierhabt, werde ich dich Alte gebrauchen und nachher erschießen!«Und so gingen sie fort.

»Meine 60jährige Frau war krank, und durch all dieseAufregung kam sie ganz zum Liegen. Wir glaubten ja, daß allesnur Drohung sei, hielten es aber nicht für möglich, daß sie dieDrohung wahrmachen könnten. Und wer will schon seineTochter hingeben für einen solchen Zweck, als Spielzeug fürbetrunkene Unholde? Aber der dritte Tag kam. Und auch derbetrunkene Offizier kam mit seinen Soldaten wieder. »Na«,hieß es, »wo ist die Tochter?«

»Wir wissen es nicht«, war unsere Antwort.»So, ihr wißt es nicht. Dann, Alte, her mit dir.« Und er ging

tatsächlich zu ihr ins Bett. Ich war außer mir, entrüstet, daß ermeine kranke Frau schänden wollte, und sprang zu dem Kerl,um es zu verhindern. Da packten mich aber die andern beidenund drückten mich in die Ecke, und ich mußte Augenzeuge derVergewaltigung meiner Frau sein. Als er fertig war, sagte er:»Und jetzt noch mein letztes Versprechen«, zog die Pistole her-aus und erschoß meine Frau. Was in mir vorging, ist nicht wie-derzugeben. Dann wurde ich von ihnen mitgenommen, in denKarzer gesperrt und schließlich hierhergebracht mit derBeschuldigung, ich hätte mich der Besatzungsobrigkeit wider-setzt.

Schiller hatte recht: »Der schrecklichste der Schrecken, das istder Mensch in seinem Wahn!«

Der Mann wurde in den nächsten Tagen abgeholt, und ichhabe ihn nie wieder getroffen. Und immer wieder stand mirdann meine Familie vor Augen. Wie mochte es meinen Liebenergehen?

Es wäre aber falsch, dieses Bild auf alle Russen zu beziehen.Wir hatten uns nun in einem Monat nur einmal dürftig Hände

und Gesicht waschen können. Unser Kampf gegen die Läusewar fast erfolglos. Da überraschte uns die freudige Nachricht,

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daß wir endlich einmal zur Entlausung und zum Bad gebrachtwerden sollten. Alle Gefangenen mußten antreten, und dannging es durch die Stadt bis zu einem russischen Militärlager. Ineinem größeren Raum mußten wir uns entkleiden. Die Kleiderwurden dann zum Ofen gebracht. Im Raum waren drei Polen,die diese sogenannte Badeanstalt bedienten. Sie gaben einemjeden eine schwarze, klebrige Salbe in die Hand, womit wirunseren Körper ganz einreiben mußten. Es sollte anscheinendein Desinfektionsmittel gegen Läuse sein und auch die Seifeersetzen. Als wir mit dieser Prozedur fertig waren, erhielten wireinen Bottich mit ungefähr acht Litern lauwarmem Wasser.Dann mußten wir in die nächste Stube gehen, wo wir unswaschen sollten.

Aber, o weh! In dem Raum war kein Glas in den Fenstern, undobwohl es nicht Winter war, stand die Temperatur immer nochbei Null Grad. Es war jedenfalls kalt. Wir mußten aber ran,denn wir wollten doch unsere schwarze Salbe abwaschen. Eswollte uns aber nicht gelingen, denn sie saß zu fest, und dasWasser war ja viel zu wenig. Wir baten um mehr Wasser, wasuns aber versagt wurde. Während wir uns abmühten, dieSchwärze loszuwerden, schauten die Polen zu und amüsiertensich. Die Schwärze war überhaupt keine Seife, man hatte sicheinfach einen Spaß erlaubt, und wir gingen schwärzer zurück,als wir gekommen waren.

Als wir zurückgeführt wurden, erlebten wir dann wieder dasGegenteil. Ehe wir den Hof verließen, mußten wir an einerSoldatenbaracke entlanggehen. Da reichten uns russischeSoldaten Brotstücke und kalte, steife Hirsebreistücke zumFenster heraus. Die Bösen und die Guten leben oft nebeneinan-der.

Kurz nach dieser Entlausung kamen wir alle in einKriegsgefangenenlager, wo wir in einer Baracke untergebrachtwurden, die durch Stacheldraht vom allgemeinen Territoriumabgegrenzt und besonders bewacht war. Sie nannten es Spez-Lager. Das ließ vermuten, daß wir als gefährlicheKriegsverbrecher behandelt wurden. Es war hier aber doch vielangenehmer als in dem engen dumpfen Keller. Der Frühlingwar eingezogen, und am Tage durften wir vor der Baracke aufdem kleinen Rasen liegen und uns sonnen. Wir durften uns auchtäglich waschen, aber zum Baden kamen wir auch hier nicht,

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und unsere Bärte wurden immer länger. Willi, der die Ruhrüberlebt hatte, sah sehr blaß aus, und für ihn war diese Sonnebesonders wichtig. Es fand sich aber ein neues Leiden. EineKrankheit, die man Rose nannte, verbreitete sich und verlangteOpfer. Es wurde auch hier nichts dagegen unternommen, außerdaß die Kranken in einer besonderen Stube isoliert wurden, wo80% nicht überlebten. Wollten sie mutwillig nichts dagegen tun,oder hatten sie keine Medikamente? Ich weiß es nicht.

Jedenfalls lebten wir ständig in Sorge und Angst, daß jedervon uns der Nächste sein könnte. Wir schauten durch denStacheldrahtzaun auf das Gelände des Lagers und beneidetendie Gefangenen, die mehr Bewegungsfreiheit hatten als wir.Aber sie hatten den Vorteil, Kriegsgefangene zu sein, und wirwurden als Kriegsverbrecher abgestempelt!

Zwei Wochen wurden wir hier festgehalten. Eines Tages wur-den viele Zivilisten ins Lager gebracht, darunter auch Kinderund Greise. Sie wurden durch eine Kommission von vier hohenSowjetoffizieren auf ihre Tauglichkeit abgeschätzt. Zu viertmußten sie vortreten. Die vier Offiziere beschauten sie vonoben bis unten, und dann hieß es: »Goden!« (tauglich!). Dannkamen die nächsten vier dran. In kurzer Zeit hatten sie über1000 Zivilisten auf Tauglichkeit geprüft. Nur zwei Untauglichewurden gefunden, ein alter Mann und ein junger Knabe.

Was diese Prozedur bedeutete, sollten wir bald erfahren.Sobald man die Zivilisten weggeführt hatte, mußten wir ausdem Spez-Lager antreten. Wir wurden unter strengerBewachung zum Bahnhof gebracht und in denselbenTransportzug wie diese Leute verladen. Uns wurde jetzt klar -es geht nach Rußland!

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Unterwegs nach Norden

Der Waggon, in den wir gesteckt wurden, war wie alle ande-ren ein Frachtwaggon. Er war aber für diesen Transport spezi-ell eingerichtet. An jeder Seite der einandergegenüberliegenden Türen waren aus groben, ungehobeltenBrettern zwei übereinandergebaute Brettergestelle angebracht.Eduard, Willi und ich kamen unten auf dem Boden desEisenbahnwaggons, unter dem ersten Gestell, zum Liegen. Eswurden 40 Gefangene in unsern Eisenbahnwaggon gesperrt;darunter waren Russen, Polen, Ukrainer und Deutsche. Vierdavon waren russische Kriegsgefangene, die als Hilfswillige beiden Deutschen gearbeitet hatten. Dann waren da zwei Russen,die in Polen gelebt hatten, und zwei Polen in unserer Gruppe,aber die meisten waren deutsche Kriegsgefangene mit russi-schen Sprachkenntnissen.

Am 7. April 1945, nachmittags, setzte sich der Transport inBewegung. Es war ein herrlicher Tag. Die Felder waren schöngrün, die Kirschen blühten schon, und die Vögel sangen, als obes nie Krieg gegeben hätte und kein Leid in der Welt wäre.Meine Gedanken waren bei der Familie. Wie schön war es dochgewesen! Ach, wie wenig hatten wir doch jene Zeit geschätzt!Könnte ich doch wenigstens Nachricht von meinem Verbleibschicken!

Ich weiß nicht mehr, wo ich ein Stückchen Papier und einenBleistift herbekam, denn man hatte uns ja alles abgenommen.Jedenfalls schrieb ich einen kurzen Zettel an meine Frau, falte-te ihn zum Dreieck zusammen und schrieb die Adresse unseresletzten Aufenthalts, Nehrhausen, Litzmannstadt, darauf. Dannwarf ich ihn durch einen Spalt im Boden des Waggons ab, alswir eine Straße passierten. Den Brief hat meine Frau nie erhal-ten, weil sie zu der Zeit schon lange von dort geflüchtet war.

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Meine Gedanken waren auch von einer Nachricht belastet, diemir ein bekannter Gefangener aus der Festung in Posengebracht hatte. Da war doch mein Freund Nikolaj, der so auf dieBefreiung durch seine Landsleute gewartet hatte. Was war ausNikolaj geworden? Die Antwort meines Bekannten hatte michschockiert: »Nikolaj ist tot.« Sein Bericht war zuverlässig undließ keinen Zweifel zu: »Als ihr ausrücken mußtet, wurden wirzur Verstärkung in die Zitadelle überführt. Auch unsere 15Kriegsgefangenen mußten mit. Sie mußten dort im drittenUntergeschoß die noch übrigen Schweine füttern und Munitiontragen helfen. Als dann am 23. Februar die weiße Fahne gehißtwurde, lief einer zu den Gefangenen im Keller und rief ihnenzu: »Der Kampf ist zu Ende. Ihr seid frei!« DieKriegsgefangenen liefen überglücklich die Treppen hinauf undals erste aus der Festung raus, mit dem Ruf: »Bratzy, spasibo!«(Brüder, danke!) Vor dem Tor, unter vielen andern, stand einbetrunkener Soldat mit einem MG: »Brüder?! Nicht Brüder,Verräter seid ihr!« und legte sie alle um.« Auch mein lieberNikolaj war unter ihnen. Der schrecklichste der Schrecken, dasist der Mensch in seinem Wahn!

Nikolaj hatte sich so auf die Freiheit gefreut, sah so hoff-nungsvoll auf das Ende des Posener Kessels und mußte gerade,als das Ende da war, von der mörderischen Hand seinesLandsmannes sterben. Und ich kam durch, wo ich vor demEnde doch solche Angst hatte. Wer trug mich durch alleGefahren (Psalm 91,7)? Die Reise ging weiter, und wenn wirdurch das kleine Gitterfenster schauten, merkten wir schon nacheinigen Tagen, daß die Felder nicht mehr grün waren - es gingin Richtung Norden. Willi hatte schon einmal drei Jahreabgebüßt und hatte uns schaurige Dinge davon erzählt.

Unsere Verpflegung war auch nicht dazu angetan, unsereStimmung zu heben. Wir bekamen geröstetes Brot undSalzfische, und das in sehr knappen Rationen. Trocken Brot undFische erzeugten einen großen Durst, und Wasser gab es nur,wenn der Zug einmal irgendwo anhalten mußte.

Als wir nach fünf Tagen in die Gegend von Minsk kamen,spähte ich durchs Fenster und sah ein trauriges Bild. Es wurdeauf dem Felde gesät, und die Zugkraft waren Frauen. Fünf bissechs Frauen zogen einen kleinen Pflug, einige Frauen eineEgge. Ein schon älterer Mann säte das Korn mit der Hand. Das

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war die Frucht des unseligen Krieges. Das hatte Hitlers Drangnach Osten erreicht. Auch wir, die jetzt zu Kriegsverbrecherngestempelt waren, waren ja Opfer dieses Wahnsinns! Als ich amnächsten Morgen an die Tür trat, erschrak ich! Jemand hatteversucht, ein Loch, 20x20 cm, in die Tür zu schneiden. O Gott,was würde geschehen, wenn die Wache es erfuhr? Ich schlichmich still zurück und weckte meine Kameraden. Auch siewaren ganz verwirrt. Was tun? Sollten wir schweigen?

Wir einigten uns, es dem Waggonältesten zu melden, was ichdann auch tat. Er erschrak auch! Er wußte ja, daß er in ersterLinie zur Verantwortung gezogen würde! Wie einWahnsinniger schlug er jetzt gegen die Waggonwände undschrie: »Fluchtversuch, Fluchtversuch!«

Die Wachen, die auf den Bremsplattenformen fast bei jedemWagen standen, riefen zurück: »Wartet bis zur nächstenStation!« Und wir warteten, mit klopfendem Herzen. Alles warstill, kein Gespräch wollte in Gang kommen.

Nach einer nicht zu langen Fahrt verlangsamte der Zug seineGeschwindigkeit, und je langsamer er fuhr, desto schnellerwurde das Herzklopfen. Gewiß war, daß jetzt etwasUnangenehmes geschehen würde! Plötzlich stand der Zug, undschon nach einigen Minuten hörten wir schnelle Schritte undlautes Schimpfen. Dann rasselte das Schloß, die Tür wurde mitWucht zur Seite geschoben, und ein Sergeant mit einigenSoldaten sprang in den Waggon. »Wer ist der Älteste desWaggons?« hieß es. Der Älteste meldete sich. Sofort fielen sieüber ihn her und schlugen ihn, weil er nicht aufgepaßt hatte.Dann schrien sie: »Alle erheben! Alle zur rechten Seite!« Unddann begannen sie alles gründlich zu durchsuchen. Es dauertenicht allzu lange, bis ein altes, stumpfes Tischmesser über mei-nem Lager gefunden wurde. Mir wollten die Glieder vor zusätz-lichem Schreck erstarren. »Wer schläft hier?« war die Frage.Ich meldete mich. Sofort warfen sich die Soldaten und derSergeant auf mich, zerrten mich in die Mitte des Waggons, undes wäre mir übel ergangen, wenn nicht gerade in diesemAugenblick ein Offizier hereingekommen wäre, der da rief:»Otstawitj! (Aufhören)«

Sie ließen mich los, und der Sergeant machte Meldung, daß siedas Messer bei mir gefunden hätten. Worauf der Offizier sagte:

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»Und ihr glaubt wirklich, daß er das Messer bei sich versteckthätte, wenn er das Loch geschnitten hätte? Das Messer ist ihmfälschlich untergeschoben worden. Zudem, ein Deutscher hätteauf deutschem Boden den Fluchtversuch gemacht, denn wohinsoll er in deutscher Uniform und ohne russische Sprache inRußland? Noch eines: Merkt euch das und schlagt nicht gera-deso auf unschuldige Menschen los. Die Arbeit, die dort mitdiesem stumpfen Messer gemacht worden ist, muß an denHänden zu sehen sein!« Darauf mußten wir alle die Hände mitder flachen Seite nach außen aufheben, und der Offizier schrittdie Reihe ab und schaute, bis er zu einem jungen Weißrussenkam, stehenblieb und sagte: »Da haben wir’s, schaut euch ein-mal diese Hände an!«

Und in der Tat, die Hände waren voller blutunterlaufenerBlasen. Einige Blasen waren schon durchgerieben, mit einemWort, sie sahen furchtbar aus. Ich war wieder einmal gerettet,aber der arme Weißrusse wurde erbarmungslos geschlagen. Erhatte ja kein Verbrechen begangen, nur seine Freiheit gesucht.

Die Tür wurde jetzt mit Brettern vernagelt, und derTransportzug setzte sich wieder in Bewegung und eilte demNorden zu. Ich war um eine Erfahrung reicher geworden. Esgab mir viel zum Nachdenken, und ich dankte Gott für dieBewahrung. Wenn ich jetzt zurückdenke, dann merke ich, wiemeine Gebete doch so falsch waren. Ich betete immer nur fürmich und meine Familie. Alles drehte sich immer nur um michselbst, schon gar nicht daran zu denken, daß ich für meinePeiniger gebetet hätte! Und der geduldige Gott ließ es gelten.

Bald nach diesem Zwischenfall kam der junge Weißrusse zumir gekrochen, legte sich neben mich, entschuldigte sich wegendes Messers und klagte mir seine Not. Als die Russen 1939 inPolen einmarschierten, wurde sein Vater nach Rußland ver-schleppt und kam dort um. »Und ich lasse mich nicht zu Todequälen«, fügte er hinzu. »Ich werde jede Gelegenheit zumFliehen nützen. Entweder ich entkomme oder ich werde auf derFlucht erschossen.« Er hielt sein Wort. Wir waren noch nichtlange im Lager, als er und ein Pole am hellen Tage vomArbeitsplatz mit ein paar Sprüngen im nahen Wald verschwan-den. Die Wachposten schossen, trafen aber nicht. In höchstenseiner halben Stunde waren die Häscher da, mit großenSchäferhunden, die die Spur aufnahmen. Als wir von der Arbeit

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kamen, mußten wir alle beim Lagertor an seiner Leiche vorbei,die sie extra dort hingelegt hatten, um uns von Fluchtversuchenabzuschrecken.

Der Zug fuhr durch Brjansk in Richtung Moskau. DieRichtung erfuhren wir immer wieder, wenn der Transport aufeinem größeren Bahnhof anhielt, um Wasser, Kohle und sonsti-ges für die Lok aufzunehmen und die Leichen loszuwerden. DieRuhr verbreitete sich immer mehr unter den Gefangenen. Wirerfuhren jetzt, daß unserem Transport einige Waggons mit ehe-maligen Polizisten angehängt worden waren. Sie wurden beson-ders streng und mit Haß behandelt. In ihnen sah man dieschlimmsten Verbündeten Hitlers: Es war eine ganz falsche,durch Propaganda geförderte Vorstellung. Diese Polizistenwaren lauter Männer im fortgeschrittenen Alter. Es war kaumjemand unter fünfzig. Die jungen Polizisten waren an die Frontgeschickt worden, und Männer wie diese wurden mobilisiertund in die Polizei gesteckt. Ich habe später einige kennenge-lernt, denen das Polizeiamt überhaupt nicht lag.

Wir näherten uns einer großen Stadt, so viel konnten wir durchdas kleine Gitterfenster feststellen. Gespannt harrten wir derDinge, die da kommen sollten. Sollte dieses schon unser Zielsein? »Moskau«, hörten wir, also hatten wir die Hauptstadterreicht, wo über unser Schicksal entschieden würde. EinTransport mit internierten Frauen und Männern im Alter von 15bis 60, dann Polizisten und wir. Es war ein unheimlichesWarten, aber dann ging’s weiter. In der Hoffnung, vielleichtdoch noch von einem Aufenthalt im Norden verschont zu blei-ben, schliefen wir ein.

Als wir morgens erwachten und das eintönige Rattern auf denSchienen immer noch zu hören war, schaute jemand durchsFenster und sagte: »Hier ist noch Winter, es liegt noch allesunter Schnee!« Also, keine Hoffnung mehr, es ging dem hohenNorden zu.

Besonders Willi war traurig und spähte immer wieder zumFenster hinaus. Der Zug fuhr ziemlich schnell, ohne anzuhalten.Plötzlich war Willi ganz aufgeregt: »Da sind sie!« Wir wußtennicht, wovon er sprach. Eduard und ich eilten zum Fensterlein,und er zeigte uns, wovon wir noch nichts verstanden - die

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Wyschki (Wachtürme), die jedes Straflager kennzeichnen.Darauf legten wir uns wieder auf unsere Plätze.

Willi war verzweifelt: »Das überlebe ich nicht ein zweitesMal.« Aber dann sagte er ganz nüchtern: »Wir müssen unsereAnschriften auswendig lernen, für den Fall, daß einer von unsdieses Lager überlebt. Vielleicht kann er einmal denAngehörigen Nachricht geben über die, die hier umkommen.Ich werde es nicht überleben.«

Eines Tages, als der Zug wieder einmal auf einem Bahnhofhielt, wurden ich und noch einige aus unserem Waggon rausge-rufen, um wieder eine ganze Reihe Toter abzuladen. Da wurdeich Zeuge eines Gesprächs der russischen Offiziere. Der eineprotestierte aufgeregt, indem er sagte: »Ist es denn unbedingtnötig, daß wir die Toten am hellen Tag abladen? Muß denn dieBevölkerung sehen, wie wir mit den Gefangenen umgehen?«Ein anderer wiederum sagte bitter: »Haben denn die Deutschenweniger von den unsrigen umgebracht? Alle sollen sie sehen,wie die Fritze verrecken!«

Menschliche Gefühle im Widerstreit mit dem Haß! KeinWunder, daß ein Mensch, der nicht im Glauben erzogen ist, sohaßerfüllt ist! Prüfen wir uns doch, ob wir Christen im Lebenmit diesen teuflischen Gefühlen immer fertig werden!

Als ich zu einem Waggon kam, wo nur Frauen waren, schenk-ten sie mir ein paar Stücke geröstetes Brot. Oh, wie war ichdankbar und teilte es mit meinen Kameraden.

Wir fuhren auf der Linie Konoscha-Workuta weiter und wei-ter in nordöstlicher Richtung. Zehn Kilometer hinter dem klei-nen Taigabahnhöflein wurden wir bei 19° Frost und Haufen vonSchnee, wie wir sie nie gesehen hatten, ausgeladen. Es war der19. April 1945.

Wir mußten antreten, die Kranken wurden verladen, aber diezwei Schlitten konnten nur die ganz Bedürftigen aufnehmen, sodaß vielen, die an Dysenterie (Ruhr) erkrankt waren, unter dieArme gegriffen werden mußte. Eduard und ich sahen unter denKranken einen uns bekannten Oberleutnant aus derDolmetscherkompanie und nahmen uns seiner an. Er war eingroßer Mann und litt auch an der Dysenterie. Er schaute unsdankbar an, weil wir ihm halfen. Er war aber so schwach, daßer nach ein paar Schritten zusammenbrach. Wir hielten jeder

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einen seiner Arme auf unserer Schulter und schleppten ihn wei-ter, blieben aber langsam zurück, ein Soldat blieb geduldig beiuns. Schließlich versagten auch unsere Kräfte immer mehr,nach all dem Hungern. Wir hielten an, um zu ruhen. Da sagteder Soldat, wir sollten ihn liegenlassen und vorwärts gehen.Dazu konnte ich mich nicht entschließen, denn ich hatte gehört,daß man die, die nicht mehr können, erschießt. Mir war esschrecklich, und wir rafften uns wieder auf und versuchten, denarmen Oberleutnant weiterzubringen, aber ohne Erfolg. Dabefahl der Soldat streng, ihn liegenzulassen, und versicherteuns, daß er einen Schlitten nach ihm schicken würde.

Es war für uns eine schwere Entscheidung, da lispelte derKranke: »Jungen, rettet euch! Mir ist nicht mehr zu helfen. Ichmuß sowieso sterben.« Einen mit Schrecken erfüllten, mitleidi-gen Blick warfen wir ihm zu, und das war der Abschied, wirmußten gehen. Grausames Schicksal. In dünnenSoldatenkleidern, ohne Handschuhe, legten wir ihn auf den kal-ten Schnee.

Wir waren noch nicht bis zum Lager gekommen, als uns schonein Schlitten begegnete, der uns helfen sollte. Er wurde vomSoldaten weitergeschickt, und er brachte den Leidendentatsächlich ins Lager. Meine Befürchtung, daß man ihnerschießen würde, bewahrheitete sich nicht.

Dieses Lager war klein und nur für 450 Häftlinge bestimmt.Während einer Nacht mußten hier aber 1500 übernachten. Dochzum erstenmal seit zwei Wochen bekamen wir wieder eineheiße Suppe und ein Stückchen Brot. Die Kranken wurden ineiner besonderen Baracke untergebracht, obwohl es keine ärzt-liche Betreuung gab.

Am nächsten Morgen wollten wir nach dem krankenOberleutnant sehen und fanden ihn nicht. Uns wurde gesagt, ersei nachts gestorben und liege draußen im Schuppen. Bestürztgingen wir zum Schuppen und fanden dort vier Tote, die nachtsgestorben waren. Und da sah ich ein Bild, das mich anwiderte.Gefangene stritten sich um die Schuhe dieser Toten. Wir wand-ten uns ab und gingen zurück.

Hier wurde unser Freund Willi Dolmetscher des Lagerchefs.Er hatte es geschafft. Er hatte freien Zugang zur Küche. SeineGedärme waren aber zu schwach, am dritten Tag starb er. Ich

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habe mich unseres gegenseitigen Versprechens erinnert undfand später seinen Sohn.

Am 7. April 1945 hatte man uns in Posen an einem schönenFrühlingstag verladen, und am 19. April erreichten wir unserZiel und wurden mit 19° Frost empfangen.

Sämtliche internierte Deutsche, auch wir, wurden auf einemkleinen Bahnhof mitten im Urwald ausgeladen und in ein leeresLager mit hohem Stacheldrahtzaun gebracht. Das Lager warklein, für 450 Häftlinge vorgesehen, wir waren aber 1500Personen. Wie die Heringe lagen wir auf dem Fußboden. Wirbefanden uns im Gebiet Archangelsk, an der EisenbahnstreckeKonoscha-Workuta, südlich von Kotlas. Soweit wir sehenkonnten, gab es nur Wald und keine Bevölkerung.

Am nächsten Tag wurden wir in drei Gruppen geteilt. EineGruppe blieb im Lager, und zwei Gruppen wurden in andereLager gebracht. Wir politischen Häftlinge wurden auch verteilt,so daß in jedem Lager einige Dolmetscher waren. Zu meinerFreude blieb ich mit meinem Freund Eduard zusammen. Wirsollten die Eisenbahnlinie Konoscha-Workuta ausbauen, richti-ger gesagt, ausbessern. In den nächsten Tagen wurden wir inBrigaden eingeteilt. Jeder Brigade wurde ein Kriegsgefangenerzugeteilt und als Vorarbeiter eingesetzt. Es sollteMilitärdisziplin herrschen. Wir wurden Wswodnyj (Zugführer)genannt. Bei jeder Gelegenheit mußten wir militärischeMeldung machen. Wehe uns, wenn das nicht klappte! Ich wurdeder Zugführer über 30 ehemalige Hitlerjungen. Sie wurden auchein wenig als Kriegsverbrecher angesehen. Es waren guteJungs, wie taten sie mir leid! Bei schlechtem Essen verlangteman von ihnen, was über ihre Kräfte ging.

Es war an einem warmen Julitag, als uns gemeldet wurde, daßim Verlaufe des Tages eine Kommission aus Moskau unserenEisenbahnbauabschnitt besichtigen würde. An der Spitze derKommission sei ein General, der Chef vom Lager. Streng wurdeden Zugführern angesagt, dem General mit militärischerHaltung Meldung zu machen: »Zugführer so und so, Brigade sound so, bei der Arbeit.« Meine Brigade war an dem Tage mitHolzsägen beschäftigt. Wir bedienten eine große Kreissäge, die

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in etwa 150 Metern Entfernung vom Bahnhof stand. Die ande-ren waren alle beim Eisenbahnbau mit Erdarbeiten beschäftigt.

Ich konnte die Ankunft des Generals vom Arbeitsplatz aussehen. Wir hörten das Pfeifen der Lokomotive schon aus derFerne. Der Wagen wurde abgekoppelt, und dann entstieg ihmder General mit einigen anderen Offizieren. Sie kamen direkt zuunserem Arbeitsplatz. Wir hielten die Kreissäge an, die Jungsstellten sich in Reih und Glied auf. Als die Gesellschaft bis aufungefähr zwölf Meter herangekommen war, trat ich fünf Metervor und sagte meinen Vers. Anscheinend war der Generalzufrieden, denn er stellte nur einige oberflächliche Fragen, danngingen sie weiter in Richtung des Eisenbahnbauplatzes, wo alleanderen Brigaden arbeiteten. Mir fiel ein Stein vom Herzen,und ich dachte, so schlimm ist der General doch nicht. Müde,schwach und hungrig traten wir den Heimweg an. Als wir insLagertor einmarschierten, rief man: »Schnell Abendbrot essenund dann alle Zugführer beim General melden.« DerSonderwagen mit dem General stände auf dem nächstenBahnhof, nur zehn Kilometer von unserem Lager entfernt. Ichkonnte es nicht fassen, daß es dem General gefiel, uns nachschwerer Arbeit noch einen Marsch von 20 km zuzumuten.Warum, wozu und wofür? All die Ungerechtigkeiten undGreueltaten Hitlers wurden uns zur Last gelegt. Irgendwiemußte man doch seinen Haß entladen!

In aller Eile aßen wir unser spärliches Abendbrot und bemüh-ten uns zum Lagertor. Dort wartete auch schon ein bewaffneterSoldat, der von diesem Auftrag auch nicht gerade begeistertwar. Dieser Usbeke war nicht schlecht zu uns, er hatte Mitleid,aber er trieb uns immer wieder an, denn wehe ihm, wenn er unsnicht zur rechten Zeit einlieferte.

Unterwegs erfuhr ich die Ursache des Strafmarsches. EinWolhyniendeutscher, ebenfalls Zugführer, war in Ungnadegefallen, und das wurde uns allen zum Verhängnis. Er war mitseiner Brigade so beschäftigt gewesen, daß er den General erstbemerkt hatte, als er direkt vor ihm stand. Sofort hatte er dannMeldung gemacht, aber zu spät. Nun genügte es dem Generalnicht, nur diesen einen zu strafen. Er war froh, eine Gelegenheitzu haben, seine Macht und Verachtung zum Ausdruck zu brin-gen.

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Nach fast zwei Stunden Marsch erreichten wir gerade recht-zeitig den Bahnhof mit dem Salonwagen des Generals. DerWagen stand auf dem Nebengleis. Der Adjutant des Generalsmeldete unsere Ankunft, und wir durften eintreten, mußten unsin Reih und Glied aufstellen, und dann ging es los. Zuerst fiel erüber den sogenannten Schuldigen her. Dann entdeckte er plötz-lich einen Mann unter uns, der schwach und zermürbt dastand,zudem fehlten ihm ein paar Knöpfe am Mantel. Es war derSchwächste unter uns, der nun zur Zielscheibe wurde. »Ichwerde euch lehren, wie man Meldung macht, ich werde euchzeigen, was Disziplin ist.« Auch hier sparte er nicht mitFlüchen, die ich von hohen Offizieren bis jetzt eigentlich nichtgehört hatte. Dann ließ er uns abführen. Diese ganze Prozedurhatte kaum zehn Minuten in Anspruch genommen, und dochhatte es sich gelohnt, uns herzujagen.

Jetzt lagen die zehn Kilometer Rückweg vor uns. »Vorwärts,marsch«, schrie der Soldat, jetzt genauso stur, wie wir es ebenerlebt hatten. Aber schon nach 200 Metern, nach einer Biegung,hinter Bäumen und Gebüsch, mußten wir anhalten. Richtiggemütlich sagte er: »Ich will versuchen, euch per Bahn nachHause zu bringen. Einige Minuten vor elf Uhr nachts kommtder Passagierzug, Workuta-Konoscha. Ich werde es schon mitdem Schaffner regeln.«

Das war wie Sonnenschein nach Gewitter. »Aber wir müssensehr vorsichtig sein, daß der General es nicht sieht, sonstkomme ich dran. Setzt euch hinter den Busch und verhalteteuch ruhig.« Wie froh waren wir, daß wir uns setzen durften,und wie dankbar waren wir dem guten Soldaten. Es dauertenicht sehr lange, da hörten wir von ferne das Pfeifen einerLokomotive. Unser Herz schlug schneller - würde es gelingen?Der Soldat ordnete an, uns zu erheben und näher zur Bahn zuschleichen, durch den Wald, nicht auf dem Wege. Sobald derZug anhielt, sprang der Soldat auf die Treppe und sprach mitdem Schaffner, dann winkte er uns einzusteigen. Wir konnten eskaum glauben, es war zu schön, um wahr zu sein. Wir warengerade beim Einsteigen, als plötzlich der General vor uns stand.

»Raus«, schrie er. »Seht einmal die Herrschaften an, gemüt-lich fahren wollen sie?!« Und jetzt war der arme Soldat dran,der versucht hatte, ein gutes Werk zu tun. Der General hattewohl geahnt, daß der Soldat uns heimfahren würde. Und er

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wollte seine Schikane doch nicht abmildern lassen. DerRückmarsch ging sehr langsam. Der Soldat hatte große Geduldund Einsicht mit uns. Er setzte sogar Ruhepausen ein. Gott hatteauch im Lager seine guten Menschen, die unsere traurige, aus-sichtslose Lage hier und da ein wenig erhellten.

Nach ein Uhr nachts kamen wir müde an - ach, müde ist wohlhier nicht der richtige Ausdruck, denn müde waren wir schonam Vorabend von der Arbeit gekommen, ohne diese zusätzli-chen Strapazen. Ich habe mich oft gewundert, was ein Menschdoch alles ertragen kann. Wir waren unbeschreiblich müde undhungrig. Leider stand uns nichts mehr zu. Wir hatten unserAbendbrot verzehrt, ehe wir gingen. Also gingen wir hungrigschlafen, und um sechs Uhr mußten wir schon wieder aufste-hen.

»Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen...« Ich habe esdamals nicht fertiggebracht, für meine Peiniger zu beten. Vergibmir, Ewige Geduld!

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In Russlands Straflagern

Als ich am 25. August 1945 in Archangelsk ins politischeGefängnis eingeliefert wurde, war ich mit meinem FreundEduard zusammen. Bald aber wurde er in eine andere Kammerüberführt. Schon auf dem Weg zum Gefängnis hatten wir ver-abredet, daß wir einer vom anderen nichts wußten, nur daß wiruns im Posener Kessel zum erstenmal getroffen und dannzusammen in Gefangenschaft geraten seien.

Während der Verhöre wollte der Vernehmungsrichter immerwieder eine Menge von Eduard wissen. Dann erzählte er mir,was Eduard über mich gesagt hatte, z. B. daß ich während derBesatzungszeit als Bürgermeister gearbeitet hätte. »Und du«,sagte er, »schonst ihn und verheimlichst, was du von ihmweißt.« Es war ein schlauer Trick, worauf so manch einer her-eingefallen ist. Wie ich später erfuhr, hatte er Eduard genau wiemir vorgemacht, daß ich über ihn allerhand Dinge verratenhätte.

Nachdem mein Verhör beendet war, hatte ich eine kurzeRuhepause, aber dann wurde ich plötzlich wieder abgeholt.Mein Untersuchungsrichter empfing mich recht freundlich undsagte: »So, Epp, deine Untersuchung ist nun völlig beendet,jetzt können wir uns gemütlich unterhalten, von Mensch zuMensch.« Und in der Tat, es entwickelte sich ein harmlosesGespräch über meine Familienverhältnisse, was ich imKollektiv gearbeitet hätte usw. Ich war aber auf der Hut undfragte mich, worauf er jetzt wohl hinaus wolle; und tatsächlich,ganz unauffällig war er wieder auf das Thema »Eduard«gekommen. Wie wir uns kennengelernt hätten usw.

Als er aber nicht weiter kam mit seinen Forschungen, nicht daserfuhr, was er eigentlich wollte, sagte er: »Ich sagte ja schon,was du jetzt sagst, spielt keine Rolle mehr, denn deine Verhöre

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sind abgeschlossen. Dies ist nur ein Gespräch unter uns.« Ichantwortete, daß ich verstehe, verschwieg aber, daß ich ihn sofortdurchschaut hatte.

Im Januar 1946 wurden wir alle, die wir zusammen nachArchangelsk gekommen waren, ins allgemeine Gefängnis über-führt. Da sollten wir auf unser Gerichtsurteil warten. DerKomfort mit Betten, Matratzen, Kissen und Decken war vorbei.Hier gab es nur ein 50 cm hohes Bettgestell, das sich von einemEnde der Zelle bis zum andern zog. Aber wir waren frei, durf-ten sitzen, ruhen zu jeder Zeit und hatten keine schlaflosenNächte mit Verhören.

Die Verpflegung war hier noch dürftiger, und doch fühlten wiruns jetzt wohler, wenn auch nicht stärker. Besonders ich konn-te mich nach meiner Krankheit nicht erholen, konnte aber schondie kurzen täglichen Promenaden draußen mitmachen. Bis zumJuni zog sich dieses eintönige Warten aufs Gerichtsverfahren.Dann wurde Eduard zur Verhandlung abgeholt. Gespannt war-teten wir auf seine Rückkehr. Wie würde sein Urteil sein? Aberer kam nicht mehr zurück. Nach einigen Tagen wurde ich zurVerhandlung abgeführt. Mit den Händen auf dem Rücken, zehnMeter vor mir ein Soldat mit schußbereitem automatischemGewehr und hinter mir noch ein Soldat mit Gewehr und einemgroßen Schäferhund. Ich war noch in meiner deutschenUniform. Alle vorübergehenden Menschen gafften mich an. Ichempfand eine tiefe Erniedrigung, aber auch diese Erfahrung wargut für mich. Denn genauso hatte ich einmal vor dem Kriege inDnjepropetrowsk einem Häftling nachgeschaut und gemeint,einen großen Verbrecher gesehen zu haben.

Das Urteil hatte nicht viel auf sich - zehn JahreErziehungslager! Als es verlesen wurde, kämpfte der schonältere Soldat, der mich im Gerichtsraum bewachte, mit denTränen. Es ist schwer zu beschreiben, wie wohl das tat. Ichselbst nahm das Urteil verhältnismäßig ruhig entgegen, dennich war schon monatelang darauf vorbereitet und froh, endlichGewißheit zu haben. Dann ging mein Marsch wieder zurückzum Gefängnis. Aber auch ich durfte nicht mehr zurück inmeine frühere Zelle. Ich kam in eine größere Sammelzelle.Überall fremde Gesichter. Wie gerne wäre ich mit meinenFreunden zusammengeblieben!

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Am nächsten Tag wurden wir auf den Hof geführt, wo schonder »Schwarze Rabe« (Gefangenentransportwagen) auf unswartete. Auf holprigen Straßen ging es einer ungewissenZukunft entgegen. Nach kurzer Fahrt hielt der Wagen. Die Türwurde geöffnet, und wir standen direkt am Fluß, der Nord-Düna, die ins Weiße Meer fließt. Wir wurden auf ein kleinesPassagierschiff verladen, das uns über den Fluß brachte. HoheHolzzäune, Stacheldraht und Wachtürme wurden sichtbar. Nachkurzem Marsch erreichten wir das Tor in einem dieser hohenZäune. Ein Offizier nahm uns in Empfang. DieWachmannschaft überreichte ihm unsere Akten, dann wurdenwir namentlich aufgerufen, scharf durchsucht und ins Lagergeführt.

Es war eine neue Welt: Baracken, Tausende von Menschen...und alles wirkte unheimlich, denn man erkannte sofort dieVerbrechertypen mit ihren rohen, spöttischen Gesichtszügen.Dieses Lager war ein Durchgangslager. Von hier aus wurdendie Sträflinge verteilt und in die Arbeitslager geschickt,hauptsächlich in die Taiga zum Bäumefällen.

Der Offizier, welcher uns in Empfang nahm, führte uns zueiner Baracke, wo wir ärztlich untersucht wurden. Wir wurdenvon Neugierigen bestürmt, denn jeder suchte und forschte nachBekannten. Auch ich traf einen Bekannten aus Odessa, von demich erfuhr, daß Eduard dagewesen, aber etliche Stunden zuvorabtransportiert worden war. Er starb in Rußland, ohne Frau undKinder zu finden, ich aber bin der Begnadete - das ist kaum zufassen.

Zu meinem Staunen wurde ich nach der ärztlichenUntersuchung in eine Krankenbaracke eingeliefert; nicht alsKranker, sagte man mir, sondern als Unterernährter. Mein Herzjauchzte, ich wußte nicht, wie mir geschah. Ich konnte es nichtfassen. Ich wurde auf ein Bett gelegt mit weißen Laken, Kissenund Decke. Ich hatte eine viel schlimmere Vorstellung vomLager. Aber der Schein trügt. Die späteren Erfahrungen zeigtenein anderes Bild: Je tiefer im Wald, desto größer die Willkür.

Doch für mein Herz war dieser erste Empfang wie Balsam,und dafür dankte ich Gott! Von B., der mich besuchte, erfuhrich, daß es hier im Lager besonders furchtbar zuging. Die

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Verbrecherwelt führte hier das Regiment. Sie stahlen, raubten,schlugen... ungehindert.

Während ich so lag und über alles nachdachte, trat eineSchwester an mein Bett und fragte, ob ich Deutscher sei. Über-rascht von dieser Frage antwortete ich: »Ja«. Sie habe es anmeinem Namen erraten, sagte sie. Das war eine freudige Über-raschung, und es gab ein Hin- und Herfragen. Sie wollte rechtviel aus der Freiheit wissen, denn sie war eine der Überleben-den, die 1937 massenweise verhaftet wurden. Sie kam von derKrim.

Von der Krim konnte ich leider nichts berichten, da wußte ichzu wenig. Sie konnte mir ein wenig erklären, wie es im Lagerzuging. Von ihr erfuhr ich, daß die Gefangenen zwei Briefemonatlich schreiben durften. Sie schenkte mir auch ein BlattPapier und einen Stumpen von Bleistift. Es war für mich eingroßes Geschenk. Aber wohin sollte ich schreiben? UnsereHeimat in der Ukraine gab es nicht mehr. Alle Deutschen warenvon dort fort und in Polen, Deutschland und sonstwo zerstreut,so auch meine Familie, Eltern und Geschwister. Was war ausihnen geworden? Lebten sie überhaupt noch? Geduld! Aber washatte ich weniger als gerade Geduld? Mein Wunsch in demAugenblick war jedenfalls, recht lange in der Betreuung dieserdeutschen Schwester zu bleiben, deren Namen ich leider nichtmehr weiß. Schon am nächsten Tag mußte ich mit einer kleinenGruppe weg. Die Schwester tröstete mich und behauptete, daßich in das Gebietskrankenlager käme, und dort wäre es gut.

Und so nahm ich Abschied von ihr. Neun Jahre hatte sie schonabgebüßt und war am Leben geblieben, dank dem, daß sie alsKrankenschwester gearbeitet hatte. 1947, also ein Jahr später,sollte ihre Frist zu Ende sein. Gott gebe, daß sie ihreAngehörigen wiederfinden konnte, denn die Deutschen von derKrim waren nach Kasachstan verschickt worden, als der Krieg1941 ausbrach.

Höchstens 500 Meter ging unser Weg, dann standen wir amTor des gelobten Krankenlagers. Auch hier, wie immer, kamdas Aktenprüfen, Durchsuchen und namentliche Aufrufen.Dann wurde das Tor geöffnet, und wir durften ins Lager.

Ich war überrascht! Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Eswar sauber auf dem Hof. Alle Wege und Stege waren mit dicken

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Holzbohlen ausgelegt. Die Stege waren mit den schönstenBlumen gesäumt. Es war Ende Juli, also im Norden, wo wir unsbefanden, schon Herbst, aber es war noch schönes Wetter. DasGanze paßte nicht zu den Vorstellungen, die ich von einemLager hatte.

Je nach Krankheit wurden wir in verschiedene Baracken ver-teilt. Das Abendbrot war knapp, aber besser. Überwältigt vonall dem Erlebten schlief ich ein, nachdem ich Gott gedankthatte. Ich wachte schon vor sechs Uhr auf und hatte dasVerlangen, aufzustehen und mich in der frischen Morgenluftfrei zu bewegen nach meiner elfmonatigen Kerkerhaft. UnsereKleider hatte man uns abgenommen, aber einen langenLazarettmantel hatte ich erhalten, den zog ich an und schlichaus der Baracke.

Wie herrlich war es, endlich einmal ohne Bewachung einenMorgenspaziergang zu machen, wenn auch nur im Lagerhof.Ich lenkte meine Schritte zu den schönen Blumen, da entdeckteich hinter den Blumen Gemüse, Kartoffeln, Mohrrüben undZwiebeln. Wie ich alles so bestaunte, kam mir ein kleiner Mannentgegen und sagte, ich solle zurück in die Baracke, denn vorsieben Uhr dürfe sich niemand auf dem Lagerterritorium zei-gen. Wenn er es nicht so herrisch gesagt hätte, wäre ich wohlohne weiteres umgekehrt, aber so? »Nein«, sagte ich, »Ichmache meine Runde und gehe dann zur Baracke!«

Er versperrte mir den Weg und wollte mich zur Umkehr zwin-gen. Ich aber war zu stolz, um nachzugeben. Er stieß mich dannein wenig zurück, und das war zuviel für mich. Meine Kräftereichten nicht aus, und ich fiel schwer hin. Erschrocken schau-te er mich an. Als ich mich dann erheben und es nicht so rechtgelingen wollte, eilte er herbei, half mir auf die Füße und sagtedann gutmütig: »Schon gut, mach deine Runde und geh schla-fen.« Ich wußte nicht, wie mir geschah. Ich schämte mich undwar zutiefst über meinen elenden Zustand erschrocken. Ich ver-stand jetzt, warum man mich nicht zur Arbeit in den Waldschickte. Die Ärzte wußten besser als ich, wie schwach unduntauglich ich zur Arbeit war.

In diesem Lager waren eine ganze Reihe guter Ärzte tätig.Alle waren Verurteilte aus den dreißiger Jahren nach demParagraphen KRD (Konterrevolutionäre Tätigkeit). So betreute

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unsere Abteilung ein jüdischer Arzt mit Namen Ljewin; derwurde beschuldigt, zu der von Stalin erdachten Gruppe zugehören, die an Maxim Gorjkis Tod Schuld haben sollte. Auchein guter Zahnarzt war da. Er beschäftigte sich aber am aller-wenigsten mit Häftlingen. Die freien Offiziere und dieStadtväter nützten diese Chancen, und so war es auch mit denÄrzten. Aber wie das auch sein mochte, mir kam dieseEinrichtung ebenfalls zugute. Ich durfte hier den Winter überbleiben und wieder zu Kräften kommen.

Doktor Ljewin, der gut zu den Kranken war, sagte eines Tageszu mir: »Kann man ein so großes Kamel mit diesenKatzenrationen zu Kräften bringen? Da muß was anderes getanwerden. Ab morgen gehst du in der Hefekocherei arbeiten,damit du satt wirst. Ich bespreche diese Angelegenheit mit derIwanowa.« Iwanowa war die ehemalige Direktorin einerHochschule in Gorjky, ebenfalls unter dem Paragraphen KRDzu zehn Jahren verurteilt. Sie hatte ihre zehn Jahre fast abge-dient, und zur Zeit verwaltete sie die Hefekocherei. Es wurdenvon jedem Häftling 50 g Brot einbehalten und von dem erspar-ten Roggen Hefe gekocht, die dann zu 200 g täglich jedemHäftling gegeben wurde. Es sollte ein Mittel gegen Skorbutsein. Ich freute mich gewaltig über diese Entscheidung desArztes. Mir klangen seine Worte »damit du satt wirst« herrlichin den Ohren.

Am nächsten Tag, schon früh, meldete ich mich bei derIwanowa in der Hefekocherei. Sie betrachtete mich so von obenherunter, ein wenig mißtrauisch und begann mir zu erklären,was meine Aufgaben von nun an sein würden.

Meine Arbeit geschah in drei Phasen. Erstens mußte ich denRoggen in flache, breite Holztröge schütten und Wassernachgießen, um ihn zum Keimen zu bringen. Diesen gekeimtenRoggen mußte ich dann trocknen und in einem speziellen Ofendörren. Und dann kam das Schlimmste für mich. Der gedörrteRoggen mußte in einer großen, ca. 70 cm hohen Kaffeemühlegemahlen werden. Alles ging gut, nur das Drehen derKaffeemühle klappte schlecht. Ich hatte einfach nicht die Kraftdazu. Das konnte wiederum meine Vorgesetzte Iwanowa nichtverstehen. Sie war unzufrieden mit mir, weil es so lange dauer-te, denn sie mußte ja die Hefe kochen. Da sagte sie eines Tageszu einer kleinen Frau, die bei uns tätig war: »Fanja, zeig ihm

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einmal, wie man die Mühle dreht!« Und wirklich, Fanja zeigtees mir: Ruck-zuck, und der Rumpf der Kaffeemühle war leer.Ich schämte mich vor dieser kleinen Frau, aber es blieb allesbeim Alten. Bei mir drehte die Mühle langsam mit Pausen.

Ich wurde aber mit allerhand »Delikatessen« gut genährt.Mittags gab mir meine Chefin 100 g Roggenmehl. Davon koch-te ich mir einen Brei, der großartig schmeckte. Ich hätte gernenoch mehr davon gegessen, aber die Chefin sagte, für denAnfang reiche es, sonst könne es gefährlich für sie werden.Abends, wenn die Hefe fertig war und in besondere Gefäßegefüllt wurde, gab sie mir ungefähr 400 g Hefebrei von dem,was im Kessel beim Kochen der Hefe zurückblieb. Wiederumein herrlicher Schmaus! Dann durfte ich zur Nachtruhe in meineBaracke zurück, wo ich zusätzlich mein Abendbrot erhielt. Ichfühlte mich dann voll, aber das Hungergefühl blieb. Die näch-sten Tage wiederholte sich alles wieder, mit dem Unterschied,daß meine Chefin die Roggenmehlration für mein Mittagessenvergrößerte und auch die Kelle mit dem Hefesatzbrei vollermachte. Schon nach etlichen Tagen fühlte ich mich besser, unddie Vorwürfe der Iwanowa wurden seltener. Nach einem Monatging die große Kaffeemühle fast von selbst, und ich bekam hieund da ein Lob für meine Arbeit. Drei Monate lang war ich dorttätig und hätte gern meine zehn Jahre in dieser Hefebrauereiabgebüßt, aber das wäre zu schön gewesen. Jeden Monat kameine ärztliche Kommission, die alle Krankenhausinsassen unter-suchte, um die Stärkeren wieder ins Arbeitslager zu schicken.Für die Hefebrauerei war ich schon zu stark, dort gehörte wie-der ein Schwächerer rein. Es war bestimmt eine richtigeEntscheidung, aber für mich schwer hinzunehmen.

Während ich dort arbeitete, wurde die Iwanowa frei. Sie nahmherzlich Abschied von mir und sagte: »Peter, ich habe mich andir verschuldet. Ich habe dich für einen faulen Kerl gehalten.Ich war recht unglücklich, als man dich zu mir schickte, undkonnte nicht verstehen, daß du wirklich keine Kraft hattest. Duwarst ein treuer, kluger und zuverlässiger Arbeiter. Bitte verzeihmir.«

Sie wurde von einem russisch-orthodoxen Priester abgelöst,der auch 1936 verhaftet und zu zehn Jahren verurteilt wordenwar. Kurze Zeit habe ich noch mit ihm gearbeitet und manchinteressantes Gespräch mit ihm gehabt.

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In dieser Zeit befreundete ich mich auch mit einem Berliner,der beim Zahnarzt die Öfen heizte und aufräumte. Ihn habe ichwährend der Zeit auch ein wenig mit Hefebrei oder aufgequol-lenem Roggen unterstützen können. Ich fand hier viele guteFreunde, unter anderem Esten, Letten, Litauer, Chinesen undRussen.

Nach der Brauarbeit wurde ich dem Kommandanten desLagers zugeteilt, der für Ordnung zu sorgen hatte. Es war all-mählich Winter geworden, und meine Hauptbeschäftigung war,mit einigen anderen die Wege und Stege vom Schnee freizuhal-ten. Das war eine sehr erträgliche Arbeit.

Eines Tages führte mich der Kommandant zu zwei neugebau-ten Baracken, die von innen schon verputzt, aber noch naß unddumpfig waren. Diese beiden Baracken sollte ich heizen, aberder Trockenprozeß ging kaum vorwärts.

Es galt auch Öfen zu heizen, und das Holz mußte ich selbermit einem Schlitten holen und dann sägen und spalten. DasHolz war immer ganz naß, denn es wurde direkt aus der Nord-Düna herausgezogen. Wenn man heizte, zischte es nur, und allmein Heizen wollte die Baracke nicht erwärmen. Ich überlegte,wie ich es trocknen könnte.

Am nächsten Tag machte ich eine größere Menge Holz fertig.Es war wohl schwer, aber ich wußte, daß es später so viel leich-ter sein würde. Das übrige Holz legte ich zur Nacht zumTrocknen. Der Erfolg blieb nicht aus. Am Tag danach branntemein Holz ein wenig besser, und die Öfen wurden ein wenigwärmer. Ich brauchte sogar weniger Holz. Ich faßte Mut undsägte und spaltete täglich immer über meinen Verbrauch. Mitder Zeit hatte ich so viel Vorrat an Holz, daß ich es richtig trock-nen konnte. Ich brauchte dann kaum die Hälfte der früherenHolzmenge, und die Öfen wurden heiß, daß es eine Freude war.Der Kommandant wunderte sich: »Wie kommt es, daß früherdie Öfen nicht so heiß wurden, und jetzt ist es richtig warm undtrocknet gut? Wie machst du das?« Ich sagte, ich hätte einenZauberspruch. Das Holz hatte ich in einem Versteck, denn derFeuerwehrmann hatte das Trocknen auf den Öfen inzwischenverboten, wegen Feuergefahr. Ich trocknete es heimlich undversteckte das Trockenholz. Aber die Hauptsache war: ichwurde zuversichtlicher, denn es ging mir verhältnismäßig gut.

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Ich war nicht mehr so schwach, wenn auch nicht satt. DieArbeit gefiel mir, und ich wünschte und hoffte, vielleicht in die-sem Lager meine zehn Jahre absitzen zu dürfen. MeinVorgesetzter war sehr zufrieden mit mir, und das tat mir wohl.

Es sollte aber wieder anders kommen. Es war Ende März, alsder Kommandant zu mir in die Baracke kam und sagte: »Epp,du gehst morgen auf Etap (Gefangenentransport).« Das war einDonnerschlag! All mein Mut und meine Zuversicht waren weg.Hatte ich doch schon viel von den Zuständen im Lager gehört.Dort hieß es, im Wald zu schuften, unter den Schikanen undGewalttaten der Verbrecher, mit denen man zusammen war.

Zuletzt fiel mir noch mein getrocknetes Holz ein. Und ichsagte zum Kommandanten: »Alle meine Mühe war vergebens!«Dann zeigte ich ihm mein Versteck mit dem Trockenholz.

Er staunte und sagte: »Das kann aber auch nur einemDeutschen einfallen! Jetzt ist mir klar, warum deine Öfen heißerwurden als früher.«

Am nächsten Vormittag wurden wir, wohl fünfzehn an derZahl, zurück in die Pereselka (Verteilungslager) gebracht, vonwo ich gekommen war. Damals war ich elend und schwach,doch voller Hoffnung. Jetzt war ich gesünder und stärker, abermutlos und traurig.

Im Verteilungslager hatte es große Änderungen gegeben. AlleHäftlinge waren hinter Schloß und Riegel, nicht wie früher freiim Hof der Verbrecherwelt ausgeliefert. Ich war richtig frohdarüber. Wir wurden in eine Zelle gesteckt und waren froh, daßwir unter uns bleiben konnten. Ein Lette hatte vor einigenTagen ein Paket von zu Hause bekommen, und er machte sichSorgen, daß es ihm von den Verbrechern abgenommen werdenkönnte, sobald wir in den Waggon verladen würden. Etliche rie-ten ihm, jetzt lieber das Paket unter uns zu verteilen. Das wareine freudige Überraschung für mich. Ich bekam ungefähr 250g Gerstenmehl - ein herrliches Mahl.

Schon am nächsten Tag bestätigte sich seine Befürchtung. Alswir am Vormittag von unserer kurzen Promenade zurückkamen,war zu unserer Verwunderung ein fremder, wüst aussehenderMann in unserer Zelle. Wie er sagte, war er aus derNachbarzelle und wolle hier einmal Ordnung schaffen. Und ermachte eine richtige Hausdurchsuchung und wühlte alles durch.

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Alle mußten sich vom Lager erheben. Papier und Tabak nahmer weg. Ich hatte mich auch auf mein Lager gelegt und beob-achtete den ungerechten Vorgang mit Widerwillen. In mirbäumte sich alles auf gegen diese gemeine Frechheit eines ein-zelnen Banditen. Als er zu mir kam, blieb ich liegen. Er schriemich an: »Podnemajsja« (Steh auf!)

Ich weiß heute noch nicht, wo ich den Mut her hatte; ich sagtezu ihm, ich schätze, ich hätte es nicht nötig, mich auf seineBefehle zu erheben. Er stutzte; so was hatte er nicht erwartet.Und das auch noch von einem »Fritz«, wie man uns nannte,denn ich war in deutscher Uniform. Er wurde wütend und droh-te zu schlagen, er würde mir die Augen ausstechen usw. Ich tat,als ob ich ganz ruhig sei, obzwar mein Herz mir im Leib fastzerspringen wollte, und sagte ihm, er solle nur ruhig anfangen,ich warte schon darauf! Und er ließ tatsächlich von mir ab, abermit der Drohung: »Warte, wenn wir uns im Lager treffen, dannwerden wir dich schon kleinkriegen!« Er ging dann zur Tür undklopfte an. Der Aufseher öffnete ihm und brachte ihn ohne wei-teres in unsere Nachbarkammer, von wo er uns dann noch mitFlüchen bedachte. In der Wand zwischen unseren Zellen, ganzan der Decke, war ein kleines Loch, darin hing die elektrischeLampe, welche unsere zwei Zellen beleuchtete; so konnte mandie Stimmen von drüben gut hören.

Was diesen Mann in Schranken hielt, weiß ich nicht. War es,weil ich groß war, oder hatte er einen gewissen Respekt vor denDeutschen, die doch als tapfer galten, sogar als brutal, lautsowjetischen Zeitungen? Hätte er geahnt, daß dieser Deutschenoch nie in seinem Leben in eine Schlägerei verwickelt gewe-sen und total ungeschickt in solchen Dingen war, ja, daß seinHerz wie bei einem Sperling klopfte, so hätte er mich zusam-mengehauen.

Seine Drohung: »Warte, wenn wir uns im Lager treffen«,machte mir Sorgen. Ich war in Lagersituationen noch zu uner-fahren; an so was hatte ich nicht gedacht. Die späterenErfahrungen zeigten mir, wie recht er hatte. Gott sei Dank, ichhabe ihn nie wiedergetroffen!

Einige Tage später mußten wir fort. Aus verschiedenen Zellenwurden wir auf dem Hof gesammelt und in Viererkolonnen auf-gestellt. Mich überkam ein Unbehagen sondergleichen, denn

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ich erinnerte mich jenes Banditen und seiner Drohung. Wie,wenn er mich hier mit seinen Kumpanen treffen sollte. Ich warja bei weitem nicht der Unerschrockene, wie ich ihn gespielthatte.

Dann hieß es: »Sljeduj« (folgen!) Und los ging’s in RichtungBahnhof. Hier sollte ich eine neue Erfahrung machen. In denhinteren Reihen waren nur Verbrecher und unter ihnen ein gut-gekleideter Mann. Dieser feine Mann, den die anderen mitBatja (Väterchen) anredeten, lief zwischen uns hin und her. Ernahm aus den hintersten Reihen, wo seine Kumpanen waren,meistens junge Burschen und verteilte sie so, daß schließlich injeder Reihe, also unter vier Sträflingen, einer der Verbrecherstand. Unverständlich und unglaublich war mir, daß dieBewachung ihn absolut nicht störte! Mir kam sofort derGedanke, daß es eine verabredete Sache sei, und meineVermutung stimmte.

Beim Bahnhof wartete ein Waggon auf uns, den man Stolepinnannte. Es war ein großer Passagierwagen, mit Gittern verse-hen. Drinnen war jedes Abteil mit einer Gittertür versehen. DasAbteil war zweistöckig. Zum oberen Teil führte eine kleine Öff-nung, durch die sich ein Mensch so eben hinaufschwingenkonnte. Als wir nun in den Stolepin reinmußten und in denAbteilen verteilt wurden, kamen selbstverständlich in jedesAbteil ein oder zwei Verbrecher unter die friedlichen Häftlinge.Immer verständlicher wurde mir das, was ich gesehen hatte, undimmer überzeugter wurde ich, daß alles gemeinsames Planenvon Verbrechern und Bewachung war.

Als ich in eines der Abteile gesteckt wurde, schlüpfte ichsofort durchs Loch nach oben. Ich war zu meinem Entsetzenganz von meinen Kameraden abgekommen. Ein zweiterSchreck überkam mich, als der Batja, der Verbrecheranführer,sich durch die Öffnung zwängte und sich mir gegenüber hin-legte. Dann kamen noch einige seiner Handlanger. Alles bliebjedoch ruhig. Aber kaum hatte sich der Zug in Bewegunggesetzt, als es im Waggon lebendig wurde. Man hörteSchimpfen, Fluchen, Weinen, Bitten: Alles deutete darauf hin,daß die Verbrecher jetzt am Werk waren. Sie raubten und nah-men, was immer ihnen gefiel. Wer sich wehrte, wurde brutalerpreßt und geschlagen. Die Bewachung kümmerte sich nichtdarum. Ab und zu beschwichtigten die Soldaten sie mit den

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Worten »tjische, tschto sa schum?« (stiller, warum so laut?)Wer noch irgendwas Gutes an Kleidung oder Schuhen hatte, derwurde es hier los, und dasselbe galt für Lebensmittel und Tabak.

Auch an mich machten sie sich heran. Ich spielte wieder denRuhigen und sagte zu dem Batja, sie sollten mich einmal gründ-lich untersuchen, damit ich dann meine Ruhe hätte. Was kannein deutscher Kriegsgefangener überhaupt haben? »Richtig«,antwortete er, »untersucht ihn und laßt ihn schlafen.« Die Sucheging los. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, denn ich hatte indie Hose 60 ersparte Rubel eingenäht. Als ich in derHefebrauerei arbeitete, hatte ich ab und zu meine 150 g Brot,die es zum Abendbrot gab, verkauft, um eine kleine Reserve fürschlimmere Zeiten zu haben. Ein Heft und ein paar Farbstiftehatte ich erstanden; die wurden mir weggenommen. Das Papierund die Bleistifte brauchten sie zum Spielkartenmachen, aberdann ließen sie von mir ab. Ein Stein fiel mir vom Herzen. MeinGeld blieb mir, und ich hatte zwei Reisetage Ruhe.

Während dieser Reise schnappte ich ein Gespräch zwischendem Banditenchef und einem anderen Häftling auf. Ich lausch-te aufmerksam, tat aber so, als ob ich schlief. Ich wollte meinenOhren nicht trauen! Der Batja erzählte, daß er ständig unter-wegs sei, von Archangelsk nach Wologda und zurück, und dassei mit der Obrigkeit der Lager so vereinbart. Sobald einTransport fertig war, wurde er hinzugetan, um in den Waggonsdas Rauben zu organisieren. Alles »Organisierte« wurde ihmabgeliefert, und er übergab es dort bestimmten Leuten, die esauf den Markt brachten. Der Erlös wurde dann unter den Freienund ihm eingeteilt. Er verteilte schließlich das Erworbene unterseinen Handlangern. Es klang wie ein Märchen, aber alles, wasich schon gesehen und erlebt hatte, bestätigte seinen Bericht.

Mein Abenteuer in dieser Gesellschaft war aber noch nichtabgeschlossen. Unser Zug hielt auf Bahnhöfen an, von denen esim Urwald nicht zu viele gab. Hier und da wurden Häftlingeausgeladen. Ich konnte es kaum abwarten, bis ich von diesenBurschen loskam. Plötzlich hielt der Zug wieder, und der Batjasagte: »Das ist Bahnhof Njandom, da ist auch ein großesSammel- und Verteilungslager.« Er war gut informiert. Ich hattedas Gefühl, daß ich hier rausmüsse. Ich rückte unwillkürlichnäher zur Öffnung, um hinunterzusteigen, sobald mein Namegerufen würde. Der Verbrecherchef beobachtete mich und sagte

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dann: »Jungens, jetzt untersucht diesen Deutschen noch einmalgründlich, er kommt aus dem Krankenlager, und es ist undenk-bar, daß ein Deutscher ohne einen Geldvorrat von dort kommt.«

Wie ein Blitz schlugen diese Worte bei mir ein: »Jetzt bist duverloren!« Schon krochen die Kerle an mich heran. In diesemMoment wurde mein Name von der Bewachung aufgerufen,und ich sprang sofort direkt in die Öffnung; aber vergebens, siefingen mich auf. So baumelte ich bis unter die Arme in der Öff-nung. Der Batja schrie: »Haltet ihn, laßt nicht los!«, und erselbst durchsuchte eifrig meine Taschen, als er sich auch schonmeine Hose vornahm, wo ich mein Geld eingenäht hatte. DieAngst um mein Geld gab mir Kraft, und mein Vorteil war meinKörpergewicht, sie mußten mich schließlich fallen lassen; soentkam ich im letzten Augenblick, und meine 60 Rubel bliebenmir. Ich sprang aus dem Waggon, von Flüchen undVerwünschungen auf den verfluchten »Fritz« begleitet.

Der Häftlingstransport fuhr weiter. Ich fühlte mich erleichtertund dankte Gott, daß ich mein Geld behalten durfte und von denVerbrechern losgekommen war. Wir wurden zum Lagergeführt, das nicht weit vom Bahnhof lag. Schon am nächstenTag wurden wir mit einem Lastwagen weiter in den Waldgefahren, zu einem Lager, wo neue Überraschungen auf michwarteten.

Ich habe später viel über diese Erfahrungen nachgedacht. DieVerbitterung gegen jene Menschen ist, Gott sei Dank, ganz ver-schwunden. Kann man den Vorgesetzten der Lager, die diesesRauben bei den Transporten »organisierten«, ihreHandlungsweise verübeln, wo sie doch im Haß gegen uns erzo-gen wurden? Die, welche gepeinigt wurden, waren jahauptsächlich politische Häftlinge mit dem Paragraphen 58,also »Vaterlandsverräter«. In ihren Augen geschah uns recht.Wir waren die »Naziverbrecher« usw. Zudem kannten dieseMenschen keinen Gott, keinen Erlöser, keineSündenvergebung. Da ist es schwer, gerecht und human zu blei-ben - vielleicht unmöglich.

Und die armen Verbrecher, die meistens nicht schuld daranwaren, daß sie kriminell wurden! Oft waren es schon die Eltern,die ihre Kinder zum Verbrechen erzogen. Wenn der Batja sol-

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che Eltern und solche Erziehung gehabt hätte wie ich, ob ernicht ein viel brauchbarerer Mensch als ich geworden wäre?

Wenn ich daran denke, daß alle die Peiniger in die Hölle kom-men sollen, dann wird’s mir dunkel vor den Augen. Ich glaubean einen gnädigen Gott und hoffe und bitte um Erbarmen fürdiese Menschen. Das eine ist gewiß: Gott wird am Tage desGerichts von uns, die wir Christen sind, mehr verlangen als vondiesen armen Geschöpfen. Und wehe uns, wenn wir uns alsRichter aufspielen wollen!

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Njandom

Das war wieder eine neue Welt für mich! Das Aussehen desLagers war im Vergleich zum Krankenhauslager beiArchangelsk, wie Tag und Nacht. Irgendwie sah es düster aus.Die Bewohner wirkten unangenehm auf mich - vieleVerbrechergesichter, wie ich sie im Durchgangs- undVerteilungslager gesehen hatte. Ich war wieder ganz entmutigt.

Zu dem Lager gehörten große Werkstätten, in denen dieseMenschen arbeiteten. Besonders Schusterleisten wurden hiermassenweise von der kleinsten bis zur größten Nummer ange-fertigt. Alles wurde damals noch sehr primitiv handgefertigt; eswar ja Nachkriegszeit. Dieses Lager hatte zwei Waldbrigaden,welche das Material für die Werkstätten liefern mußten. DiesenBrigaden wurden wir Neuen zugeteilt.

Hier begegnete ich bald einem Mann aus meinem einstigenNachbardorf. Ich freute mich gewaltig, wurde aber sehr ent-täuscht - wir waren grundverschieden. Dann traf ich noch einenälteren Mann, der in meinen Augen ein echter Mennonit war. Erhatte schon fast zehn Jahre abgebüßt und war Mensch geblie-ben. Überlebt hatte er, weil er meistens als Klempner arbeitenkonnte und Kochtöpfe, Krüge usw. anzufertigen verstand. Alldas brauchte man in den Kriegszeiten nötig. Auch Reparaturenvon Kochgeschirr und Lötarbeit machte er und stand dadurchmit den Köchen in gutem Verhältnis, so daß er nicht hungerte.Der dritte Mann mennonitischer Herkunft war im Kontor(Büro) beschäftigt. Auch er hungerte nicht. Alle Listen derHäftlinge gingen durch seine Hände, und ich hoffte immer, erwürde sich vielleicht ein wenig meiner annehmen. Ich habe ihnetliche Male getroffen, mein Herz schlug immer höher, dochhatte ich nicht den Mut ihn anzusprechen, und auch er hat es inden vier Monaten, die ich dort darbte, nie getan.

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Schon am zweiten oder dritten Tag nach meiner Ankunftmußte ich mit der Brigade Nr. 1 zur Arbeit in den Wald. Aberdiesmal nicht zum Bäumefällen, sondern um die gefälltenBaumstämme, die zu zwei bis drei Meter Länge zersägt waren,zur Holzbahn zu fahren. Diese Holzbahn bestand aus zweiHolzschienen, die auf Schwellen lagen.

Es gab nur eine solche Holzschienenbahn, die direkt aus demLager der Werkstätte in den Wald führte. An jeder Seite derBahn, etwa 300 bis 400 Meter, wurde das Holz für den Bedarfder Werkstätten gefällt. Im Winter hatten diese zwei Brigadendie Bäume gefällt, und jetzt mußten wir sie mit großen, speziel-len Handschlitten zu dieser Holzbahn fahren. Jedem Schlittenwurden drei Mann zugeteilt. Ungefähr einen KubikmeterStämme luden wir auf; so ging es den ganzen Tag. Die Norm(Tagessoll) war hoch, es war eine schwere Arbeit bei schwacherErnährung. Es war schon April, und das Tauwetter setzte ein,wenn auch nur am Tage, und die Schlitten versanken amNachmittag immer öfter im weichen Schnee. Wir konnten nichtmehr so viel aufladen und konnten dadurch auch unser Sollnicht erfüllen. Wir bekamen dementsprechend weniger zuessen, und unsere Kräfte nahmen ab.

Der Schnee lag in den Wäldern ein bis eineinhalb Meter hoch,und es wurde unmöglich, die Stämme mit dem Schlitten zutransportieren. Da kam der Befehl, die Schlitten beiseite zu stel-len und das Holz auf dem Rücken aus dem Wald zu tragen.Wieder hieß es: So und so hoch ist die Norm. Es war schwer,aber das Schlimmste sollte noch kommen. Der Schnee tauteweiter, und unter dem Schnee sammelte sich immer mehrWasser. Wir brachen immer wieder durch und hatten nasse,kalte Füße. Morgens bemühten wir uns noch, nach Möglichkeitdiese Senkungen mit Wasser zu umgehen, wenn wir dann abererst einmal nasse Füße hatten, gingen wir den geraden Weg,auch wenn er durch Wasser führte, um unser Soll zu erfüllen,was sowieso nicht alle erfüllen konnten. Ich war noch in mei-nen Wehrmachtskleidern, und an den Füßen hatte ich abgetra-gene Schuhe. Und diese Arbeit den ganzen Tag über imSchneewasser, oft bis zu halber Kniehöhe, mit der schwerenLast auf dem Rücken, hielt fast einen Monat an, bis der Schneeendlich weggetaut war.

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Ich kann heute noch nicht verstehen, daß dieseSchneewasserkur bei mir kein Rheuma ausgelöst hat. Aber Gotthat ja auch noch ein Wörtlein mitzureden. Wenn die Obrigkeitso herzlos mit uns umging, schickte Gott uns einen mitleidigen,guten Soldaten. Nach der Mittagspause ließ er uns nicht zurArbeit zurückgehen, bis wir am Feuer alles getrocknet hatten.Abends entließ er uns eine halbe Stunde früher von der Arbeit,und wir mußten ein Feuer anzünden. Er führte uns nicht eher insLager, als bis wir alle trocken waren. Vergelt’s ihm Gott!

Als nun alles Holz an der Bahn aufgestapelt war, sollte es mitPferden weggefahren werden. Daraus wurde aber nichts, denndie Pferde waren noch schwächer als wir, und anstatt zweiKubikmeter, konnten die Fahrer nur einen halben drauflegen,und doch kamen sie nicht immer den Berg hinauf, den sie zubewältigen hatten. Da wurde beschlossen, wirHolzfällerbrigaden sollten die Pferde ersetzen. Für jeden Wagenwurden fünf Mann bestimmt, eineinhalb Kubikmeter aufgela-den, und los ging’s. Es war nicht gerade leicht, diese Last dreiKilometer zu ziehen, aber gegenüber der Arbeit imSchneewasser, mit der Last auf dem Rücken, war es schon herr-lich. Das Schlimmste dabei war nur, daß meine Kräfte immermehr schwanden und der Hunger mich so furchtbar quälte, daßich nachts oft nicht schlafen konnte.

Dazu kam noch, daß die Verbrecherwelt uns im Lager immerwieder belästigte. Die Verbrecher spielten bis in die Nacht hin-ein mit selbstgebastelten Karten um Geld, Kleider, Eßwarenusw. Diese Sachen besorgten sie sich durch Stehlen, Raubenund Gewalttätigkeiten. Wenn ein Spieler sich ganz verschuldethatte und keinen Ausweg mehr wußte, setzte man ihm einUltimatum: Entweder ermordest du den oder den (es ging umPersonen, die sie haßten, meistens waren es Vorgesetzte), oderdu mußt selber sterben. Sie waren auch gegeneinander oft grau-sam. So erlebte ich, daß ein 16jähriger Knabe demKommandanten des Lagers, während er die Arbeitsbrigadenmorgens zum Tor hinausließ, mit einem Beil hinterrücks denKopf aufspaltete. Wie der Junge zu dem Beil gekommen war,wußte niemand. Denn ins Lager wurde kein Gerät hereinge-bracht, aber diese Typen terrorisierten einen jeden, und ausFurcht ums eigene Leben brachte man heimlich, was sie ver-langten. Die Todesstrafe war abgeschafft; was sollten sie da

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noch fürchten? Sie kamen dann zwar vor Gericht, aber dasGericht durfte ihnen nicht mehr als das Höchstmaß (zehn Jahre)geben. Ab 1948 wurde das Höchstmaß auf 25 Jahre erhöht.

Anfänglich hatte ich mir fest vorgenommen, mein Brot immerauf den ganzen Tag zu verteilen; dies hatte schon mein Vateruns Kindern zu Hause in den Hungerjahren 1921 und 1933gelehrt. Die 550g Brot, die uns morgens zugeteilt wurden, teil-te ich so, daß ich abends auch noch 200g essen konnte. Ich ver-steckte alles so gut wie möglich, und doch, eines Tages, als ichvon der Arbeit kam, fand ich mein Brot nicht mehr vor. Es istfast eine Schande zu gestehen, daß ich mit den Tränen kämpfenmußte. Hunger nimmt einem Menschen mit der Zeit jeglichenStolz und jegliches Ehrgefühl, und man wird kindisch. Seit die-sem Tage teilte ich mein Brot nicht mehr ein. Was ich erhielt,aß ich auch sofort auf, damit es nicht gestohlen wurde. Es warauch kein Problem, die 550g Brot zu verzehren, aber abendsblieben dann nur das Süppchen und 200g Haferbrei ohne Brot,und das nach schwerer Arbeit. Und das Brot... Der Bäckermußte 80 % Wasser hinzutun, das wurde gesetzlich von ihmverlangt.

Unsere zwei Waldbrigaden waren die einzigen, die als voll-wertig galten, und man wollte diesen ein wenig entgegenkom-men, weil von ihnen viel abhängig war. Wenn diese Brigadennicht genügend Holz lieferten, lahmte die Produktion in denWerkstätten. Eines Tages hieß es, Waldfäller bekommen zweiGlas Tabak pro Mann. Die meisten waren ungemein froh darü-ber, denn Tabak war sehr knapp; nur wer von zu Hause inPaketen etwas geschickt bekam, hatte etwas zu rauchen. Füreine Zündholzschachtel Tabak konnte man 150g Brot eintau-schen; ich wollte mich einmal satt essen. Gewissensbisse, daßich einem Hungrigen damit das Brot nahm, drängte ich zurück;es ging ums Überleben!

Bald fand sich ein Mann aus der Nachbarbaracke, der meinensämtlichen Tabak eintauschen wollte. Der Tausch war aber ver-boten, so daß wir aufpassen mußten, daß die Gefangenenwärter,die ständig das Lager durchkreuzten, uns nicht bemerkten. DerMann sagte zu mir: »Hier ist es gefährlich, komm, wir gehenhinter diese Baracke, da sieht uns niemand.« Und ich hatte wohlnoch zu wenig Erfahrung, denn ich ging mit. Den Tabak hatteich in einem selbstangefertigten Beutelchen. Hinter der Baracke

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begann das Handeln; er wollte nicht so viel geben, wie ich ver-langte. Er nahm den Tabakbeutel in seine Hände, wog ihn in derLuft und sagte schließlich: »Es ist zu teuer, ich nehme ihnnicht«, gab mir den Beutel zurück, wandte sich um und gingschnell fort. Plötzlich merkte ich, daß der Tabak in meinenHänden ganz schwer war - es waren Sägespäne. Der Mann hattemeinen Beutel geschickt umgetauscht, und ich hatte es nichtgemerkt. Wie elektrisiert schoß ich los, ihm nach.

Wo ich die Kräfte hernahm, weiß ich nicht. Er war genausoausgehungert wie ich, aber auch er lief und bangte um den soleicht erworbenen Tabak. Er war kleiner als ich und ahntejedenfalls nicht, wie schwach ich war. Wir kämpften verzwei-felt um unser Glück. Ich kam ihm ein wenig näher, aber er hattezuviel Vorsprung. Zu meinem Schreck verschwand er in derBaracke, wo die meisten Verbrecher wohnten. Es war gefähr-lich dort hineinzugehen; aber meine Angst um den Tabak nahmmir jegliche Überlegung, und ich lief ihm nach.

Als ich in die Baracke eilte, konnte ich gerade noch sehen, wieder Mann in der Mitte des Raumes den Tabak unter eineMatratze schob und weiterlief, dann aber stehenblieb. Zu ihmgesellten sich drei der Banditen, die mir unter Fluchen entge-genschrien: »Wohin wagst du dich!« Ich hatte mir genau diePritsche gemerkt, wo er den Tabak unter die Matratze gescho-ben hatte, und lief weiter in die Gefahr hinein, als ob ich denDieb packen wollte, griff unter die Matratze, machte kehrt undfloh mit meinem zurückeroberten Schatz. Die Banditen kamenjetzt zur Besinnung, und eine ganze Gruppe verfolgte mich.Jetzt war ich der Gehetzte. Die Angst beflügelte meine Füße.Ich schaffte es, in meine Baracke zu laufen. MeineArbeitskollegen kamen mir zur Hilfe, und die Bande ließ vonmir ab. Ich war aber total fertig, warf mich auf meine Pritscheund dankte Gott, daß alles so glimpflich ausgegangen war.Wieder eine Erfahrung mehr, und das Leben ging weiter.

Eines Tages hieß es, unsere Brigade sollte eine großeHolzbrücke reparieren. Die meisten meinten, es wäre leichterund besser, als Bäume zu fällen. Als wir zu dieser reparaturbe-dürftigen Brücke kamen, mußten wir aber doch erst in der NäheBäume fällen, um Material zu haben. Nach einigen Tagen wares dann soweit. Der Meister verteilte die Arbeit, der Konwoj(Gefangenenwache) steckte mit roten Fähnchen unser

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Territorium ab, in dem wir uns bewegen durften. EinemMoskauer Studenten und mir fiel die Arbeit zu, die Bäume, diewir gefällt hatten, von der Rinde zu befreien und zur Brücke zutragen, und hier bekam ich den Rest. Die zugeschnittenenBalken waren sechs bis acht Meter lang, 25 cm dick an einemEnde und 35 cm am anderen; zudem waren sie naß und unheim-lich schwer. Man hatte uns beide dazu ausgesucht, weil wir, derMoskauer Student und ich, die Größten waren. Der Moskauerwar noch größer als ich und viel kräftiger gebaut, und er litt kei-nen Hunger, denn seine Eltern waren gutsituierte Leute inMoskau. Er war aber ein guter Mensch und bemühte sich, esmir so leicht wie möglich zu machen.

Er wollte sich anfänglich unter das dicke Balkenende stellen,aber ich war zu schwach, das dünne Ende allein auf meineSchulter zu legen, wenn wir ihm das dicke aufgelegt hatten. Soblieb uns nichts anderes übrig, als daß ich das dicke Balkenendeübernahm. Zusammen legten wir es auf meine Schulter, dannnahm er das dünne Ende allein auf seine. Wir hatten zum Glücknicht sehr weit zu tragen, und doch war ich jedesmal kurz vordem Zusammenbrechen. Ich wußte nicht, wie ich den Tagdurchhalten sollte, und nach Arbeitsschluß war immer noch dervier Kilometer lange Heimmarsch zu bewältigen. Damals lern-te ich ernstlich zu beten. Die Bitte: »Unser täglich Brot gib unsheute« wurde mir in jenen Jahren verständlich.

Jeden zehnten Tag wurden wir nach dem Abendbrot ins Badgeführt und unsere Kleider wurden in den Entlausungsofengesteckt. Auch gegen die Wanzen wurde hier mit größeremErfolg gekämpft, als es allgemein der Fall war. Eines Tages, alswir wieder einmal ins Bad mußten, betrachtete ich meinenKörper und erschrak über mein Aussehen. Ich war eineElendsgestalt geworden, wie sollte es weitergehen? Es lag nichtdaran, daß man uns mutwillig hungern ließ. Die Lage war inganz Rußland kritisch. Die freie Bevölkerung hungerte oft mehrals die Häftlinge.

Es war wohl Ende Juni oder Anfang Juli, als es hieß: »Morgengeht ein großer Etap aus diesem Lager zum Kargopollag.« Sohieß die Verwaltung einer Zwangslagergruppierung, die sichhauptsächlich mit Bäumefällen und Holzliefern befaßte. DieseNachricht war mir unangenehm. Würde ich dabeisein? Zwarging es mir hier nicht gerade gut, aber was würde mich im näch-

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sten Lager erwarten? Hier hatte ich mich wenigstens eingelebt,ich kannte schon eine ganze Reihe Menschen. Und am meistenschreckte mich der Etap deshalb, weil es da immer furchtbarzuging. Wir waren dann der Willkür der Verbrecher vollkom-men preisgegeben.

Am nächsten Morgen kam ein Mann mit Listen in die Barackeund meldete: »Alle, deren Namen ich vorlesen werde, machensich sofort mitsamt ihren Sachen fertig.« Ich horchte gespannt,mein Herz klopfte laut, und da hörte ich auch schon: »Epp,Peter, geboren 3.10.1913.« Also doch! Wie ein Messerstichging es mir durchs Herz, aber wir waren ja willenloseGeschöpfe und hatten nur zu gehorchen.

Wir bekamen noch unser Frühstück, dann wurden wir aufKraftwagen verladen. Wir mußten uns auf den Kastenboden set-zen, die Beine auseinander, während der Nächste sich zwischendie Beine des Vordermanns hockte. Vorne war ein kleiner Raummit Brettern abgeschirmt, wo die Bewachung saß. Bevor wirlosfuhren, hieß es wie immer: »Jedes Gespräch ist verboten! Eswird ohne Warnung geschossen!« Dann ging unsere unbequemeReise los, auf den holprigen Waldwegen, wo selten einmal einKraftwagen fuhr.

Wir mußten 30 km bis zur Bahn fahren, dazu brauchten wirwegen der schlechten Strecke nahezu zwei Stunden. Dort standauf einem Nebengleis ein großer Frachtwaggon bereit, in denwir unverzüglich hineingebracht wurden. Er war leer, ohne jeg-liche Einrichtung. Es gab ein unheimliches Durcheinander vonMenschen aller Nationalitäten, aller Verurteilungsparagraphen,und nicht wenige waren Verbrecher mit mordbeflecktenHänden. Anfänglich war alles ruhig, aber ich wußte schon ausErfahrung, daß es nur die Stille vor dem Sturm war. DieVerbrecher warteten, bis der Zug in Bewegung war, dann konn-te sie niemand mehr an ihrem Tun hindern.

Wir waren kaum einige Minuten unterwegs, da kamBewegung in die Männer. Es fand sich auch sofort einAnführer. Und sie wußten ganz genau, wo was zu haben war.Zuallererst kamen die dran, die noch etwas zum Essen hatten,und das waren die Letten, Esten, Litauer und Westukrainer, diefast sämtlich Pakete von daheim erhielten. Aber nicht jeder wargewillt, ohne weiteres alles abzugeben, und einige versuchten,

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sich zu wehren. Sie bekamen aber keine Unterstützung von sol-chen, die nichts hatten und auch schwach waren. Ein hungrigerMensch, der noch Kraft hat, kann gefährlich werden, aber einhalb verhungerter Mensch wird apathisch und hat überhauptkeine Willenskraft mehr. Sein einziger Gedanke ist Essen.Wozu sollte er sich in Gefahr begeben, denn diese Verbrecherwaren brutal. Einen Menschen töteten sie so leicht wie eineFliege. Und dann die Gefahr, daß sie sich später irgendwo imLager rächen würden. Es ging furchtbar zu, mit Schlagen,Würgen, Rauben...

Ich kam diesmal gut davon, denn ich besaß nichts als meinealten Kleider auf dem Leibe. Ich hatte damals sogar ein kleinesGlücksgefühl, daß ich nichts hatte, ja, ich dankte dafür.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir reisten. Als nichts mehr zuholen war, wurde es ruhiger, und ich dankte wieder.

Wir waren in Richtung Wologda gefahren, dann aber an einenandern Zug gekoppelt worden. Gespannt beobachteten wir, woes nun hingehen würde. Der Beobachter am kleinenGitterfenster meldete, daß wir von der BahnstreckeArchangelsk-Moskau ostwärts abschwenkten. Auf dieserStrecke, die direkt in die Taiga führte, befand sich alle fünf bisacht Kilometer ein Lager. Nach zwei Stunden Fahrt hielt derZug, und die Waggontür wurde geöffnet. Offiziere, bewaffneteSoldaten und selbstverständlich auch ein großer Schäferhunderwarteten uns. Aussteigen!... Listen... Akten... Aufrufen...Zählen... Warnung: »Kein Gespräch! Ein Schritt links oderrechts aus den Reihen gilt als Fluchtversuch. Es wird ohnezweite Warnung geschossen! Vorwärts!«

Höchstens 500 Meter vor uns lag das Lager Nr. 9,»Tschushga«; dorthin wurden wir gebracht, und wieder Listen...Akten... Zählen...

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Lager Nr. 9

Es war ein Lager mit 1500 Häftlingen. Im hintersten Eck die-ses Lagers war eine Baracke abgezäunt, und dort wurden wirhingeführt. Es hieß, wir sollten zwei Wochen Quarantänehaben, weil in den Lagern immer Krankheiten herrschten. Andemselben Tage noch wurden wir einer ärztlichenUntersuchung unterzogen. Auch der Natschaljnik(Vorgesetzter) des Lagers war dabei. Da hörte ich, wie er unzu-frieden schimpfte: »Ich habe einen Antrag auf Arbeiter miterster und zweiter Kategorie gestellt, und die haben Leute mitdritter und vierter Kategorie geschickt, aber in den Listen stehterste und zweite!« Die erste und zweite Kategorien bestandenaus solchen, die noch in voller Arbeitskraft standen und guternährt waren. Dritte Kategorie waren Unterernährte, die nur zuleichter Arbeit verwendet werden konnten (d.h. wenn man jeneArbeit leicht nennen darf). Als vierte Kategorie zählten die,welche so unterernährt waren, daß sie nicht mehr arbeiten konn-ten. Sie wurden auch Invaliden genannt.

Ich kam mit Kategorie zwei an, aber die Ärztin gab mir diedritte Kategorie. Also war ich von der schweren Waldarbeitbefreit. Ich war überglücklich. Aber es ist gut, daß der Menschseine Zukunft nicht kennt, denn in diesem Lager sollte ichmeine schwersten Erfahrungen machen.

Als unsere Quarantäne zu Ende ging, wurde ich derEisenbahnbaubrigade zugeteilt. Die Gegend war hügelig und inden Niederungen sumpfig. Also mußten wir die Anhöhendurchgraben und im Sumpf Dämme aufschütten. Bevor wir denDamm schütten konnten, mußte der Sumpf trockengelegt wer-den. Also hieß es, Gräben zu ziehen und oft bis zu den Knienim Wasser zu arbeiten.

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In diesem Lager wurden wir dann mit alten Soldatenkleidernversorgt. An den Füßen trugen wir aus alten Autoreifen ange-fertigte Galoschen, die die Schuster an Ort und Stelle machten.Die Füße waren also wieder den ganzen Tag naß, aber es warSommer und das Wasser nicht so kalt. Die Sumpfarbeit waralles andere als leicht. Unser Vorgesetzter war Ingenieur; erhatte selber gerade zehn Jahre abgebüßt, durfte aber nicht nachHause und mußte hier als Freier weiterarbeiten. Er war Grusinerund ein guter Mensch. Ich konnte mit meinen Kräften nicht vielanfangen, aber er sah mein Bemühen und schrieb mir immer einüberfülltes Soll an. Das bedeutete, daß ich zu meinerGarantiespeise noch 100 g Brot und 200 g Haferbrei zusätzlicherhielt. Im Wald, wo wir bestimmte Kubikmeter Holz aufzeigenmußten, war dieses nicht möglich. Hier half der Sumpf. DerGrusiner schrieb anstatt 20 cm Wasser 30 und anstatt 30 cm 40oder 50, und dementsprechend war das Soll kleiner.

Aber auch der gute Vorgesetzte konnte mir nicht helfen, dennich wurde zusehends magerer und schwächer. Die Küche warzu diesem Zeitpunkt sehr schlecht. Alle Vorräte waren ausge-gangen, für die 500 g Suppe, die wir morgens und abendserhielten, war nichts mehr da, und so wurde eine besonderePflanze, Iwan-Tschaj, gemäht und davon Suppe gekocht. Eswar nur Kraut mit Wasser und ein wenig Salz. Die Suppe hatteeinen bitteren Geschmack; das merkte ich damals aber nicht,denn Hunger ist der beste Koch.

Außerdem wurden wir von der Quarantänebaracke in andereBaracken verteilt, und ich kam in ein regelrechtesVerbrechernest. In diesem Lager hatten die Verbrecher volleKontrolle über die hungrigen, ehrlichen Arbeiter. Sie arbeitetennicht, wurden krankgeschrieben, weil der Arzt sich auchbedroht fühlte, und der wirkliche Kranke und Schwache mußtezur Arbeit. Wenn die Verbrecher aber zur Arbeit mitgingen,saßen sie den ganzen Tag am Feuer und wärmten sich undschliefen. Und wehe, wenn der Brigadier ihnen nicht eine guteLeistung anschrieb, damit sie ihr volles Essen bekamen!Schläge und Totschlag konnten ihn erwarten. Wo sollte derBrigadier aber die Kubikmeter hernehmen, wenn diese Gaunernichts leisteten? Er nahm sie dann von den ehrlichen Arbeitern,die ihr rechtmäßig und ehrlich verdientes Brot nicht erhieltenund dahinsiechten. Wie viele sind dadurch umgekommen!

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Und wenn die Verbrecher, sie nannten sich Wore (Diebe), nachHause kamen, paßten sie nur auf, wo ein Balte ein Paketbekommen hatte, und dann wußte man schon, was kam. Nachtsspielten sie ebenfalls Karten, hauptsächlich in der Baracke, inder ich wohnte. Trotz Verbot brannte das Licht fast bis zumMorgen. Um zehn Uhr war Zapfenstreich, aber nicht für sie.Auch die Soldaten hatten Respekt vor ihnen; sie bangten eben-falls um ihr Leben. Wir durften uns die Kleider und Schuhe zumSchlafen nicht ausziehen, sonst war morgens alles weg. So sahmeine Nachtruhe nach der schweren Arbeit aus. Die Decke überden Kopf gezogen, schrie mein Herz zu Gott. Ich konnte ihnnicht verstehen. Morgens ging wieder alles seinen alten Gang:um sechs Uhr aufstehen, das spärliche Frühstück zu sich neh-men, um sieben Uhr zum Tor, wo man uns nach Brigadenabzählte, dann der Spruch: »Schweigen! Nicht links, nichtrechts, ich schieße!« Alles war so aussichtslos, und noch warenüber acht Jahre abzubüßen!

Gott sei Dank, daß ich zwei Briefe im Monat schreiben durfteund auch Antwort erhielt. Die Briefe waren auch nicht ermuti-gend. Sie berichteten von Not, und ich konnte nicht helfen. EinSohn war schon gestorben, und der Jüngste, der während mei-ner Abwesenheit geboren wurde, war krank.

Eines Tages schwankte ich nur noch zur Arbeit; ich konntenicht mehr. Am Arbeitsplatz erkrankte ich. Ich hatteLeibschmerzen und eine Magenverstimmung. Ich konnte kaumetwas tun. Heimgekommen meldete ich mich beim Arzt. Aberich war nicht allein. Eine ganze Menge solcherJammergestalten hatte sich dort versammelt und hoffte aufBefreiung von der Arbeit, wenigstens für einen Tag. Ich mußteziemlich lange warten, bis ich an die Reihe kam. Die freie Ärz-tin, Olga Michajlowna, und ein zweiter Arzt, ein Häftling,untersuchten mich. Dann sagte die Ärztin zu einem ukraini-schen Feldscher, der als Sanitäter angestellt war: »Geh mit Eppin die Toilette und bring eine Probe von seinem Stuhl.«

Er gab mir ein Gefäß und fragte, wie oft ich am TageStuhlgang gehabt hätte. Ich sagte: »Dreimal.«

Dazu meinte er: »Wenn die Ärztin fragen wird, sage sieben-mal, dann legt sie dich in die Sanitätsabteilung.« An eine solcheMöglichkeit hatte ich nicht gedacht. Ich freute mich so, daß ich

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ohne Gewissensbisse sechs Stuhlgänge angab, als ich gefragtwurde. Gott wolle es mir verzeihen!

»Es könnte Ruhr sein«, sagte Olga Michajlowna,»Schwetschuk (so hieß der Sanitäter), bring Epp zurSanitätsbaracke!«

»Siehst du, ich sagte es dir. Jetzt kannst du eine Zeitlangruhen«, sagte er.

Als ich mich baden mußte und auf ein sauberes Bett gelegtwurde, glaubte ich zu träumen. Schon der Gedanke allein:»Morgen brauchst du nicht in den Sumpf«, machte mich sofroh, daß ich fast Freudentränen weinte. Darauf trat wieder eineSchwester ein und verabreichte mir Medikamente, welche dieÄrztin verordnet hatte. Dann kam mein Abendbrot, das wohlknapp, aber besser war. Als dann alles ruhig wurde und ich sorecht zur Besinnung kam, erfüllte mein Herz ein mächtigesDankgefühl. Endlich stieg wieder einmal ein inbrünstigesDankgebet zum Himmel empor! Gestern noch wußte ich nichtaus noch ein! So schnell hatte Gott Hilfe geschafft!

Am nächsten Morgen erhielt ich zum Frühstück eine Suppeund Reisbrei und sogar ein Stückchen Weißbrot. Bald nach demFrühstück kam der tägliche ärztliche Rundgang. Als dieOberärztin, Olga Michajlowna, zu mir kam, fragte sie, wie ichmich fühlte. Gut, sagte ich. Und es stimmte - ich hatte nachtsnicht einmal zur Toilette gehen müssen. Wie weggewischt warmeine Krankheit. Die Ärztin war freundlich zu mir und sagte,daß sie mir jetzt die vierte Gruppe gegeben habe; also Invalide,der vorläufig nicht zu arbeiten brauchte, es sei denn, ich suchtemir eine Beschäftigung in der Lagerzone, in der Bäckerei oderKüche. Dieses war für mich eine neue Überraschung, für die ichder Ärztin dankbar war, vor allem aber dem lieben Gott! Ichfürchtete nur, daß ich bald wieder in die unheilvolle Barackezurückmüßte.

Die Ärztin schrieb mich aber nicht gesund. Ich sei zu elend,ich solle hier ein wenig zu Kräften kommen. Ich weiß nichtmehr, wo ich Heft und Bleistift herhatte, jedenfalls fing ich ausLangeweile an zu malen. Ich war gerade dabei, die Küche zumalen, die ich durchs Fenster sehen konnte, als die Ärztin her-einkam und mich beobachtete. Plötzlich fragte sie, ob ich einKunstmaler sei. »Nein«, sagte ich, »nur ein Liebhaber.«

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»Aber Talent haben Sie«, meinte sie dann. »Ich habe eine Idee.Hier mit den Katzenrationen kriegen wir dich doch nicht auf dieBeine, dazu bist du zu groß. Ich werde mit dem Kunstmaler desLagers reden. Er geht binnen zwei Monaten in die Freiheit.« Ichtraute meinen Ohren nicht! Ich hatte Angst, weil ich keinKünstler war, und hoffte doch, auf diese Weise meine verblei-benden acht Jahre leichter abzubüßen. Eine kleine Ahnung vonder Arbeit hatte ich ja; ich hatte oft zugeschaut, wie meinBruder malte, und in Aquarell hatte ich mich selber ab und zuversucht.

Am nächsten Tag kam Olga Michajlowna ganz freudig rein.»So«, sagte sie, »heute noch schreibe ich dich raus. Ich habe mitdem Maler, auch mit Sitnikow gesprochen. Du wirst vorläufigin der KWTsch (Kulturelle Erziehungsabteilung) als Aufräumerarbeiten, da sind nur zwei kleine Stübchen zu besorgen, undnebenbei lernst du Losungen malen. Die Küche ist dort neben-an, da bröckelt dann auch noch etwas für dich ab.« Die Ärztinwar wirklich wohlwollend. Und so ging ich dann aus demKrankenhaus, mit gemischten Gefühlen, um mich bei Sitnikowzu melden. Sitnikow war ein Moskauer Künstler, ebenfalls zuzehn Jahren verurteilt, war hier aber als Kulturarbeiter ange-stellt. Seine Pflicht war es, hie und da Kulturabende zu veran-stalten, die in erster Linie von den freien Soldaten undOffizieren mit ihren Frauen besucht wurden. Den müden, hung-rigen Häftlingen interessierte so was nicht. Nur Häftlinge, dieim Büro saßen oder Bäcker, Köche, Schuster, Schneider oderdergleichen waren, fanden auch Interesse an solchenVeranstaltungen. Sitnikow war nicht sehr begeistert von mir,aber er mußte mich anstellen. Dann kam wieder die furchtbareNacht in der Baracke unter den Verbrechern.

Am Morgen bat ich Sitnikow, mir zu erlauben, im großenEßsaal, der auch als Theatersaal diente, hinter den Kulissenmein Lager zu machen. Es wurde mir erlaubt. Ich holte sofortmeine mit Hobelspänen gefüllte Matratze und die Decke undrichtete mich ein. Oh, wie glücklich war ich. Jetzt würde ichwieder ruhig schlafen können, und, ohne das ständige Fluchenzu hören, würde ich mich sogar wieder zum Schlafen entkleidenkönnen. Wieviel Grund zum Danken! Ich gewann auch bald dasVertrauen Sitnikows. Ich wurde mit dem Oberleutnant,Sitnikows Vorgesetztem, bekannt, was mir später, als ich wie-

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der in Not war, zur Rettung wurde. Aber als Invalide bekam ichkein Mittagessen, nur die schon erwähnte Suppe und denHaferbrei am Morgen. Abends gab es wieder dasselbe. Für denTag gab es 550 g Brot mit 80% Wassergehalt. Bei der Küchebröckelte für mich nichts ab. Nach der Abfütterung derBrigaden gab es so viele, die um einen Nachschlag baten, diegenau wie ich als Invaliden gestempelt waren. Nur für dieFrechsten reichte es.

Oh, das Betteln ist überhaupt schwer! Und so konnte ich michnicht erholen.

Die Ärztin Olga Michajlowna hatte mit dem Kunstmaler, derin Kürze in die Freiheit gehen sollte, verabredet, daß er mich imMalergewerbe anlernen sollte. Daß er mir beibringen sollte, mitFarbe und Pinsel umzugehen, und wie man Losungen(Transparente) schreibt, um ihn nachher zu vertreten.

So wartete ich gespannt auf meinen Lehrgang, aber nichtsgeschah. Er war überhaupt ein Sonderling. Er ließ mich nichteinmal zuschauen, wenn er arbeitete. Er arbeitete immer beiverschlossenen Türen.

Einen Tag vor seiner Entlassung, wurde ich zu ihm gerufen.»So«, sagte er, »morgen gehe ich in die Freiheit und du wirstmeinen Platz und Arbeit übernehmen. Jetzt will ich dir zeigenwie man mit Leimfarbe umgeht, denn hier wirst du nur mitLeimfarbe arbeiten, die du dir selbst zubereiten mußt.« Dannerklärte er mir wie man den Tischlerleim kocht und in Wasserauflöst und dann die trockene Farbe (Pulver) mit dieserLeimlösung anrührt. »Nur eines mußt du dir merken,Wasserfarbe wird wenn sie trocknet immer heller. Also mußt duimmer damit rechnen und sie ein wenig dunkler anfertigen alsdu sie brauchst.« Dann verabschiedeten wir uns und somit warich jetzt scheinbar der Kunstmaler des Lagers Nr. 9. Daß ichmich nicht wohl fühlte bei diesem Gedanken, kann wohl jederverstehen. Wie sollte ich das Malen angreifen, wenn ich es niegemacht hatte und nicht einmal hatte zusehen dürfen, wie manes machte. In der Schule hatte ich zwar immer gern gemalenund auch gute Noten bekommen vom Lehrer, aber als ich älterwurde, war ich Bauer mit Leib und Seele und hatte nie einenPinsel in der Hand gehabt. Aber nun hieß es abwarten, wasdabei raus kommt.

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Es war Herbst und es ging dem Fest der Oktoberrevolutionentgegen. Von jeher war es in der U.d.S.S.R. so gewesen, daßein großer Aufwand an patriotischen Losungen zu jedem kom-munistischen Feiertag gemacht wurde. Es wurde aufgefordert,ehrlich zu arbeiten, den Arbeitsplan und Soll zu überfüllen usw.

Jetzt war es soweit, jetzt sollte ich das ganze Lagerterritoriummit solchen Losungen schmücken. Sitnikow, der Leiter derKWTsch (Kulturabteilung) brachte mir aus einemZeitungsausschnitt eine ganze Reihe solcher Losungen und jetztlos, sagte er.

Ich war selbstverständlich ganz aufgeregt. Aber ich begann dieverantwortungsvolle Arbeit. Meine ersten Buchstaben warentraurig anzuschauen. Sitnikow war ganz unglücklich mit seinemneuen Maler und schüttelte mit dem Kopf. Aber es wurde lang-sam besser mit meinen Buchstaben. Und zuletzt war Sitnikowdann doch zufrieden mit meiner Arbeit. Aber die Hoffnung,vielleicht doch auf diesem Posten zu bleiben, wurde mirgenommen. Es wurde der Ärztin, die sich für mich bemühte,abgesagt, mit dem Vorwand, daß ein politischer Häftling mitParagraph 58, solchen Posten nicht bekleiden dürfe. DasSchlimmste war wohl noch, daß ich ein Deutscher war. DieHauptverwaltung aller Lager versprach einen Künstler zuschicken, aber vorläufig hätten sie keinen und so wurde ich vor-läufig geduldet.

Zum Oktoberfest bereitete Sitnikow ein Drama vor. Dazubrauchte er etliche Dekorationen. Die wichtigste und schwersteDekoration war der Hintergrund, der den Kreml darstellen soll-te. Im Vordergrund der Dekoration sollte das Flüßchen Moskwadarstellen, das durch Moskau fließt. Hinter dem Flüßchen lagdie Straße Nabereschnjaja, umsäumt mit schönen Bäumen. Undim Hintergrund die Kremlmauer und hinter der Mauer derRegierungspalast, Kirchen, Kathedralen usw. Und soetwaskonnte ich ja unmöglich malen, das war mir, aber auchSitnikow klar. Und der versprochene Maler kam nicht.

Und da gab es plötzlich scheinbar eine Lösung. Wieder war esdie Ärztin, die Rat wußte. Sie hatte einen Maler imKrankenhaus entdeckt. Es war kein gelernter Berufsmaler, aberer konnte wirklich was. Er hatte gelegentlich noch in derFreiheit Kunstmalerei betrieben. Und die Ärztin schickte ihn zu

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uns. Er sah schlimmer aus als ich und war schon geschwollen.Als die Ärztin ihn zu uns brachte, ermahnte sie ihn ernst, nichtviel Salz zu essen und nicht zu viel Wasser zu trinken, denn essei für ihn gefährlich. »Denn wenn der Schwulst bis zumHerzen kommt, ist es dein Tod.« Und den Küchenchef bat sie,den Jungen doch ein wenig zu unterstützen.

Drei Tage war er da und arbeitete, und er verstand seine Sache.Ich verstand mich gut mit ihm und habe in diesen 3 Tagen vielbei ihm abgesehen und gelernt. Von einem Zeitungsbild mitvergrößerten Maßstäben malte er den Kreml mit allem drumund dran mit Bleistift in einer Größe von 4 Meter auf 3 MeterHöhe.

Leider war er aber unbeherrscht und hörte nicht auf dieMahnung der Ärztin, die es doch gut mit ihm meinte. DerNachschlag, den die Köche gaben, war eine recht dünne Suppe.Haferbrei gab es kaum. Der größte Fehler, den er machte, war,daß er sich bei den Köchen Salz erbat und die dünne Suppe überalle Maßen salzte. Ich bat ihn ernstlich, es doch nicht zu tun, erließ sich aber nicht warnen und sagte, »ich habe so ein großesVerlangen nach Salzigem.« Schon am zweiten Tag waren seineBeine dicker geworden und der Schwulst war höher gegangen.Die Ärztin hatte verordnet, daß er sich nach 3 Tagen bei ihr mel-den sollte, zur Kontrolle. Er ging aber nicht, aus Furcht, daß sieihn wieder auf die Station verlegen würde. Er sah am drittenTag schon fürchterlich aus. Auch das Gesicht war schongeschwollen, aber trotzdem beendete er mit dem Bleistift dieDekoration. Der Schwulst nahm zu, aber trotzdem nahm er wie-der am Mittag seinen Nachschlag, die dünne Suppe, und salzteund trank sie.

Vor Abend schickte die Ärztin einen Sanitäter, der ihn zurKontrolle abholte. Er kam nicht mehr zurück. Er wurde sofortin die Krankenbaracke gelegt. Nach 3 Tagen starb er. Er tat mirfurchtbar leid, er war ja noch so jung. Olga Michajlowna sagtewiederum, »mir tut er überhaupt nicht leid. Ich wollte ihm sogerne helfen, aber er wollte ja nicht gehorchen, er ist ja selbstschuld.«

Ähnliche Fälle gab es oft, daß Menschen durch dieUnbeherrschtheit starben. Hunger macht einen Menschen wil-lenlos, da dürfen wir nicht zu streng urteilen. Ich habe es ja am

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eigenen Leibe erfahren, wie schwer es ist sich zu beherrschen,es war nur der Glaube und das Gebet, das mir half, in solchenFällen standhaft zu bleiben.

Sitnikow war außer sich. Seine neue Hoffnung war tot. Wastun? Die Skizze des Kremls auf der großen Leinwand lag imgroßen Eßraum auf dem Fußboden, aber der Meister war tot.Schließlich trat er an mich heran und sagte: »Peter, du mußt denKreml malen, es bleibt keine andere Wahl.« Ich wiederumsagte: »Ich kann es versuchen, für mich ist es ein Lernen, aberich kann nicht versprechen, daß da was raus kommt.« »Dasweiß ich«, sagte er, »aber du mußt es versuchen. Sowieso fliegtalles in den Graben, und wenn du es einigermaßen hinkriegst,bin ich gerettet.«

Und so begann ich mit schwerem Herzen, die Leimfarben fer-tig zu machen. Vom Himmel mußte ich beginnen, der solltehellblau sein. Der frühere Maler hatte ja zu mir gesagt, beiWasserfarben mußt du immer daran denken, daß sie beim trock-nen heller werden, also färbte ich den Himmel tüchtig blau. Undzwar so blau, daß er trocken noch wie ein Nachthimmel aussah.Ich war ganz unglücklich; schon beim Beginn so einMißgeschick. Aber da tröstete mich Sitnikow, indem er sagte:»Mach nur so weiter, wir machen eine Abendlandschaft daraus.In die Fenster bringst du Licht rein und malst alles dunkler wieim Abendschein.« Und so machte ich es dann auch, und esgelang mir wohl besser als es im Gegenteil gewesen wäre.

Die große Leinwand war im großen Eßsaal, auf dem Fußbodenausgebreitet, weil sonst nirgends so viel Platz war. Die Köche,die sonst keine Notiz von mir genommen hatten, wurden plötz-lich auf mich aufmerksam, sprachen unter sich vom neuenChudoshnjik (Maler). Ich war in ihren Augen plötzlich einMensch geworden, mit dem man auch einmal ein Wort redenkonnte.

Das ist die ungerechte, lieblose Welt. Meistens war es so, daßHäftlinge, denen das Schicksal günstig gewesen war, die nichthungern brauchten, nichtachtend auf die Hungrigen,Schwachen schauten. Das russische Sprichwort sagt: »Der Satteglaubt oder versteht einen Hungrigen nicht.« Die Satten über-hoben sich oft, lachten und spotteten über die Hungrigen, undnicht selten teilten sie wegen Kleinigkeiten Schläge aus.

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Meine Lage wurde jedenfalls leichter, seit ich als Menschanerkannt wurde. Der Oberkoch, der ein Moskauer war, warganz begeistert als die Kremldekoration dem Ende zuging. »Ichfühle mich wie zu Hause, wenn ich diese Dekorationbeschaue«, sagte er einmal. Und er ordnete an, mir ab und zueine Zuschlag aus der Küche zu geben, ohne daß ich darum bit-ten mußte.

Als die Kremllandschaft fertig war, mußte ich noch eineGartendekoration malen. Da war es mir eine große Hilfe, daßich in meiner Studentenzeit einmal meinem Bruder KorneliusHandlangerdienste getan hatte, als er eine Gartendekorationmachte für eine Vorstellung in der Schule. Diese Dekorationwar für mich leichter, als die Vorige, und sie gelang mir dochziemlich erträglich.

Sitnikow war zufrieden und sehr froh, daß alles soeinigermaßen klappte. Denn er mußte etwas leisten, wenn erseine günstige Position festigen wollte. Und sein Drama ohneDekoration - da wäre der Effekt wohl nur halb so groß gewesen.Als Drittes mußte ich eine Zimmerdekoration malen. Nun, daich jetzt schon ein wenig Erfahrung hatte, war es für mich schonnicht so schwer, sie hinzuzaubern.

In dieser Zeit, wo ich so beschäftigt war und meiner Arbeitwie Putzen, Heizen, Holz sägen usw. nicht mehr nach kam,hatte Olga Michajlowna mir einen Mann zur Hilfe geschickt. Eswar ein großer Este, noch jünger als ich, der ebenfalls zurGruppe 4 gehörte, also nicht arbeitsfähig für den Wald war.

Es war ja Ende Oktober, im Norden schon vollständig Winter,zwei Öfen mußten geheizt werden und auch das Holz dazu,mußte gesägt und gespaltet werden. Diese Arbeiten nahm er mirab, außer das Holz beschaffen, da half ich ihm, denn das konn-te er nicht allein. Der Este war ein prächtiger Kerl, und wir ver-standen uns gut.

Das Oktoberfest kam heran. Den 6. November abends sollte esgefeiert werden. Die Revolution 1917 geschah am 25. Oktoberalter Zeitrechnung, deshalb hieß sie Oktoberrevolution. Nachder neuen Zeitrechnung war es der 6. November. Auf der Bühnewurden alle Vorbereitungen getroffen und am Abend, nachdemalle Brigaden abgefüttert waren, wurden die Tische weg-geräumt und Bänke herein geschafft.

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Zur gegebenen Zeit füllte sich der Saal. Auf der ersten Reihesaßen der Lagerchef und alle Offiziere mit ihren Frauen. Dannfüllten die Sergeanten (Unteroffiziere) und Abteilungs-kommandiere und schließlich auch die einfachen Lagerhüter dieReihen.

Dann folgten die Wore (Verbrecher), die, wie ich schon frühererwähnte, das Lager terrorisierten. Und schließlich alle anderen,die noch Lebensmut (Köche, Bäcker) hatten.

Die Feier eröffnete Mojsejew, der Chef der Kulturabteilungmit einer feurigen Rede über die Errungenschaften derOktoberrevolution und nicht zuletzt über den Sieg über denFaschismus.

Dann folgte der kulturelle Teil des Abends mit demBühnenstück. Sitnikow, der Artist und auch Regisseur diesesDramas war, eröffnete diesen kulturellen Teil mit ein paarWorten.

Ich und mein Freund, der Este, saßen hinter der Bühne, aufunseren selbstgebauten Pritschen, ziemlich teilnahmslos, alsSitnikow vor dem Vorhang trat und würdevoll dieEinleitungsworte machte. Und da hörte ich ihn sagen:»Teilnehmen namentlich die und die Artisten, unter der Regievon Sitnikow und die künstlerische, dekorative Ausstattung istvon Peter Epp.«

Ich erschrak, als ich es hörte, und fühlte mich nicht wohldabei. Ich dachte, wenn die doch wüßten, was für ein erbärmli-cher Künstler hier hinter der Bühne sitzt. Nun, Sitnikow warklug genug, mich nicht aufzufordern, mich dem Publikum zuzeigen.

Das Bühnenstück wurde jedenfalls ein Erfolg, nachLagerverhältnissen. Und Sitnikow war stolz darauf. Und bei mirstieg doch wieder ein wenig die Hoffnung, als Kunstmalermeine Frist abzusitzen.

Lieber Leser, nach diesem Bericht scheint das Häftlingslebenim Lager doch ziemlich erträglich zu sein. Aber nicht allenwurde von Gott so eine Ruhepause geschenkt wie mir. Wennich von Ruhe rede, meine ich nicht nur Ruhe von der schwerenArbeit, sondern auch Ruhe von dem Wirrwarr und ruhelosen

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Nächten in den Baracken. In der allgemeinen Lagerzone ging esoft fürchterlich zu. Schlägereien bis aufs Messer, auch Tote gab es.

Die Verbrecher teilten sich in 2 Gruppen, in Wore (Diebe) undin Ssuki (Hündinnen). Und sie waren stolz auf ihre Namen. Siestanden sich aber feindlich gegenüber und rangen beide um dieOberherrschaft im Lager. Eines hatten sie gemeinsam, sie terro-risierten beide die anderen Häftlinge.

Nach der Oktoberfeier wurde es für mich ruhiger. DieHauptarbeit blieb: Holz sägen, Öfen heizen und zweiZimmerchen sauber halten. Ich erholte mich durch dieZuschläge an Suppe und Brei, die ich von den Köchen bekam,so daß ich jetzt vielleicht schon in Gruppe drei gehörte; alsoarbeitsfähig war. Jeden dritten Monat wurden alle Invaliden mitGruppe vier einer ärztlichen Untersuchung unterzogen. Wersich erholt hatte (das waren die, welche in der Bäckerei oderKüche Beschäftigung bekommen hatten), wurde dann einerBrigade zugeteilt. Für mich setzte sich Sitnikow ein. Er bat,mich für drei weitere Monate in der vierten Gruppe zu lassen,er habe sonst keinen, der die Wandzeitung künstlerisch gestal-ten könne. Olga Michajlowna stellte mich noch einmal zurück.Gott lenkte die Dinge, und obwohl ich hungrig und schwachblieb, konnte ich für jeden Tag von Herzen danken. Abends saßich jetzt oft in dem Stübchen, wo Sitnikow schlief und wohnte.Er sah mich schon als Partner. Der Oberleutnant Mojsejew,unser Chef, kam ab und zu und besuchte uns, und ich mußtestaunen, wie offen er mit uns über alles sprach. Er hatte eingutes Herz und paßte gar nicht in das Lagerkonzept.

Einmal wagte ich es und fragte, wie er sich eigentlich zu die-ser Arbeit hatte entschließen können. Darauf sagte er: »Ganzeinfach. Ich war noch ungefähr anderthalb Jahre nach demKrieg als Offizier in Deutschland bei den Besatzungstruppen.Meine Familie lebte in Rostow, und ich unterstützte sie mitPaketen (Lebensmittel). Dann wurde ich mit vielen anderendemobilisiert. Als ich nach Hause kam, nach Rostow, sah ichdas Elend, wovon ich brieflich eigentlich schon wußte. Ich binSchlosser von Beruf, aber Arbeiten und Leiden kannte ich nichtmehr. Ich hatte direkt Angst vor dieser neuen Situation. Da lasich einen Aufruf in einem Werbeblatt: »Offiziere werden in denLagern der NKWD (politische Geheimpolizei) gebraucht.« Eswaren gute Bedingungen, aber der Vertrag mußte für drei Jahre

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abgeschlossen werden. Man konnte wählen, in welcherFunktion man arbeiten wollte. In der Anzeige wurde ein Cheffür die kulturelle Erziehungsabteilung gesucht. Das gefiel mir.Da könnte man den armen Häftlingen vielleicht etwas Gutestun.

Mit der Frau wurde ich bald einig. Nach drei Jahren würdesich in Rostow die Lage bessern, und dann könnte ich zurück.In den Werbungen wurde uns Honig auf die Lippen geschmiert,und jetzt? Ich kann niemandem helfen. Meine Hauptarbeit ist,um neun Uhr morgens in der Sanitätsabteilung dabeizusein,wenn die vielen Verhungerten, die nicht mehr die Kraft haben,zur Arbeit zu gehen, zusammengetrieben werden. Ich soll ihnendann Moralpredigten halten, sie zum Patriotismus bewegen undherausfordern, das Letzte für unsern Staat zu geben. Und ichmuß dann auch noch mitentscheiden, wer zur Strafe in denIsolator (Lagergefängnis) gesperrt wird. Es ekelt mich alles an,aber ich sitze für drei Jahre hier fest.«

Und so verging die Zeit. Ich erhielt ziemlich regelmäßigBriefe von zu Hause, aber nur in russischer Sprache.

Am 31. Dezember 1947 abends, an der Schwelle des neuenJahres, klopfte jemand an die Tür. Ich öffnete, und vor mir standein kleiner, untersetzter Mann. Er war noch jung und trug einBündelchen mit sich. »Ich bin als Kunstmaler von derHauptverwaltung hergeholt worden und komme direkt aus demGefängnis. Bei wem darf ich mich melden?« Ich erschrak!Obzwar es für mich, einen Politischen, keine Aussicht für die-sen Posten gab, suchte ich doch immer noch nach einem klei-nen Hoffnungsstrahl. Jetzt war mein Schicksal besiegelt! Ichmeldete ihn bei Sitnikow an.

Es blieb alles fast beim alten. Der Maler bekam bald darauf einPaket, worin ihm seine Frau Ölfarben und Pinsel schickte,worum er brieflich gebeten hatte. Dann begann er gelegentlichPorträts zu malen. Zu mir sagte er: »Wenn mein Plan gelingt,wird das Leben bei uns anders werden. Du wirst meine Arbeitmachen, wie du es früher tatest, und ich werde Porträts undBilder malen und damit Kartoffeln und Sonnenrosenöl verdie-nen«

Und in der Tat, er hatte bald viele Kunden. Einer der erstenwar ein Offizier, der ein größeres Bild wollte. Zu dem sagte

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Ljoscha (so nannten wir ihn), er brauche 300 g Sonnenrosenölum das Bild zu malen, und für die Arbeit ein wenig Kartoffeln.Es wurde ihm gebracht, und dann haben wir sofort einen klei-nen Topf voll Kartoffeln geschält, mit ein wenig Öl begossenund im Ofen gebraten. Ich mußte immer mit zu Tisch. »Du hastes verdient«, sagte er, »du tust ja meine Arbeit, sonst hätte ichnicht so viel Zeit für diese Arbeit.«

Seit dieser Zeit ging es mit mir bergauf. Fast jeden Abend gabes ein Kartoffelmahl. Innerhalb eines Monats hatte ich erheb-lich an Gewicht zugenommen. »Hast genug geruht, jetzt heißtes, ein wenig arbeiten!« sagte Olga Michajlowna wohlwollend.»Du gehst wieder in die Eisenbahnbrigade, denn mehr als diedritte Gruppe kann ich dir noch nicht geben, und im Sommerschicke ich dich für drei Monate zum Lager Nr. 4 zur Erholung.Dort wird nur vier Stunden täglich gearbeitet, und es gibt bes-seres Essen. Es ist ein landwirtschaftliches Lager.«

So mußte ich raus, mußte wieder in der unruhigen Barackeschlafen. Ich machte dann eine neue Erfahrung. Wir bauten jetztprovisorische Eisenbahnen auf Schnee. Seitlings derHauptstrecke wurden ein Meter hohe Schneedämme aufge-schüttet, dann mit den Füßen festgetreten. Die Schwellen wur-den eingegraben und, wenn möglich, mit Wasser begossen, daßsie festfroren. Wasser gab es genügend im Sumpfgebiet: Unterder dicken Schneedecke war das Wasser kaum eingefroren.Diese Schneedämme waren verhältnismäßig leicht zu bauen,und doch bekam man zu magere Kost für diese Arbeit. Bis zumMai, als der Frühling richtig begann, war ich schon wiederschwach. Und das ständige Hungergefühl verließ mich nicht.

Ich versuchte, durch die Bekanntschaft mit den Köchen nachtsin der Küche Arbeit zu bekommen. So wurde ich zumKartoffelschälen genommen. Das ging bis ein Uhr nachts. Wiraßen dann immer wieder rohe Kartoffeln, und bevor wir gingen,erhielten wir 300 g Brei. Aber das Schlimme dabei war, ichschlief während der Arbeit immer wieder ein, worüber dieandern unzufrieden waren. Ich mußte aufhören und alles sogehen lassen, wie es eben ging. Es gab wieder eine schwereZeit, und ich wurde mutlos. Gottes Uhr ging indessen weiter.Doch er hat mich nie ganz fallenlassen. Immer, wenn die Notam größten war, war seine Hilfe nahe. Ende Mai oder Juni 1948war es, als einige von uns zum Arzt geholt wurden. Die

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Oberärztin Olga Michajlowna untersuchte uns oberflächlichund sagte: »So, morgen transportieren wir euch zum Lager Nr.4, zur Erholung für drei Monate. Die ganze Zeit über werdet ihrdort Regierungsbrot essen. Wenn ihr dann zurückkommt, dürftihr euch drei Monate lang nicht bei mir zeigen, verstanden?«

Früh am nächsten Tag wurden wir in einen kleinenFrachtwaggon gesteckt, der dann bald an einenHolztransportzug gekoppelt wurde, und los ging’s.

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Weitere Lagererlebnisse

Ich war jetzt kein Neuling mehr, und doch mußte ich wiedereine neue Erfahrung machen. In diesem Transport waren aus-nahmsweise keine Verbrecher. Jetzt würde es einmal ruhigzugehen. Aber ich hatte mich getäuscht. Ich sah, wie sich eini-ge Häftlinge gruppierten und leise miteinander sprachen. Dannging’s los. Sie überfielen etliche, die Sachen bei sich hatten, umihnen alles, was eßbar war, wegzunehmen. Die, welche nichtfreiwillig alles abgaben, wurden mißhandelt und mit den wider-lichsten russischen Flüchen bedacht. Ich sagte: »Was macht ihrda, schämt ihr euch nicht?«

Darauf reagierte aber nur einer: »Jedem ist sein eigenes Hemdam nächsten! Deine Moral ist im Lager nicht anwendbar. Hiergeht es ums Überleben!«

Die Fahrt dauerte nur einige Stunden. Wir wurden im LagerNr. 4 wie gewöhnlich aufgenommen und in die Baracken ver-teilt. Diese Lagerverwaltung duldete keine Verbrecher, deshalbverlebte ich hier drei ruhige, fast schöne Monate. Dem Herrn seiDank dafür!

Einige Tage hatten die Neuen völlige Ruhe. Das Essen warnicht reichlicher, aber besser. Die Suppen waren nicht so dünn,der Brei dicker, und wir durften auch, ob wir arbeiteten odernicht, zu Mittag essen. Nun darf man sich aber nicht vorstellen,daß wir satt wurden, dazu reichte es noch lange nicht. Ich standja kräftemäßig schon wieder an der Grenze zur vierten Gruppe,und da kann man essen, soviel man will: man wird voll, abernicht satt.

Und doch, wenn alle Lager so gewesen wären wie dieses, wie-viel weniger Opfer hätte es gekostet.

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Es war Anfang Juni, die Sonne schien schon warm, und es warAussaatzeit. Auch Lager Nr. 4 war emsig mit Gemüsebaubeschäftigt.

Vom ersten Tage an bemühte sich ein junger Mann um meineBekanntschaft. Er sagte, er sei Ukrainer, und erzählte mir, daßim Krankenhaus ein Jakob U. aus der Gegend um Saporoshjeläge. Bis jetzt hatte ich nur den einen Landsmann im erstenLager getroffen. Sollte dies mein Schulkamerad vomNachbardorf sein? Ich ging sofort zum Krankenhaus und frag-te, ob es hier einen Jakob U. gäbe. Und bald kam der Genannte.Es war nicht mein Schulkamerad, aber doch ein Jakob U. ausmeiner Heimat. Er sah noch elender aus als ich. Wir fielen unsum den Hals, wie zwei Brüder, obzwar wir vorher nie etwasGemeinsames gehabt hatten.

Am nächsten Tag sagte mir mein Freund, die Chefin derSchneider- und Schusterwerkstätte sei eine deutsche Frau ausSaporoshje. Da kam es mir in den Sinn, daß sie vielleicht etwasvon meinen Verwandten aus Schönwiese wisse, dennSchönwiese war ja ein Stadtteil von Saporoshje. Ich ging hin,stellte mich auf Russisch vor und brachte mein Anliegen vor.Ihre Augen leuchteten vor Freude, als sie ausrief: »Nu tjenn wieji dann mol Plautdietsch rädi!« (Nun können wir ja malPlattdeutsch reden!) Sie hieß Mariette K., ihr Mann war in derdeutschen Wehrmacht gefallen. Selbst stammte sie von derMolotschna. Von den Schönwiesern wußte sie nichts. Sie habeeine Zeitlang bei den Deutschen als Dolmetscherin gearbeitetund sei deshalb zu zehn Jahren verurteilt worden. Ihre größteSorge war ihr Sohn. Sie sei in Berlin auf der Straße verhaftetworden und den Sohn habe sie auf der Straße zurücklassen müs-sen. Er war erst zwei Jahre alt gewesen und hatte furchtbargeschrien.

Es gab ein vielfaches Hin- und Herfragen. Sie sagte, ich sollenur recht oft reinschauen, dann könnten wir immer Plattdeutschreden. Und sie fügte hinzu: »Ich habe gute Beziehungen zu demOberarzt; ich habe schon manches für ihn und seine Familiegenäht. Vielleicht kann ich auch etwas für dich tun.« Und ichbrauchte tatsächlich während dieser drei Monate nicht zu dervierstündigen Arbeit. Ich galt als Aufräumer und Wächter beider Schneiderwerkstatt. Mariette K. war eine perfekteSchneiderin und litt keine Not auf ihrem Posten, aber sie tat viel

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Gutes, wo immer sie konnte. Auch ich bin ihr zu großem Dankverpflichtet. Gott wolle es ihr lohnen.

Eines Tages lag ich allein auf dem Rasen hinter der Baracke,als L., der Ukrainer, sich zu mir gesellte. Eine Weile schwieg er,und dann begann er plötzlich Plattdeutsch zu sprechen. Ich trau-te meinen Ohren nicht. Er sagte: »Etj sie tjeen L.« (Ich heißenicht L.) Aber das wisse hier niemand, meinte er, und ich sollees bitte nicht weitererzählen. Er habe es nicht länger aushaltenkönnen zu schweigen, aber auf mich verlasse er sich. Er erzähl-te nun: »Ich war als Deutscher 1941 in der Trudarmee(Arbeitsarmee), und dort ging es grausam zu. Wir hungertenfurchtbar. Es gelang mir, eines Tages zu flüchten. Unser Lagerwar nördlich von Moskau. Die Deutschen standen vor Moskau,und ich wollte mich zu ihnen durchschlagen. Es gelang mirauch, ziemlich nahe an die Front ranzukommen. Da ich in altenSoldatenkleidern war, ging ich betteln und gab mich als Soldateiner zerschlagenen Einheit aus. Schließlich fiel ich aber einerSoldatenpatrouille in die Hände. Auch hier erzählte ich dasMärchen von der zerschlagenen Einheit und wie ich kaum ent-kommen wäre und alles verloren hätte. Weil damals so einpanikartiges Durcheinander herrschte, glaubte man mir ohneweiteres, und ich wurde unverzüglich einer Militäreinheit zuge-teilt, unter dem Namen L., den ich angegeben hatte.«

»Aber wie bist du hier gelandet?« fragte ich.»Ja«, sagte er, »in der Armee bekamen wir auch schlecht zu

essen. Als wir einmal im Hinterland in Ruhe standen, ließen wiruns gelüsten, ein einjähriges Kalb zu stehlen und heimlich zuschlachten. Dabei wurden wir erwischt. Wenn die jetzt hiererfahren, daß ich als Deutscher aus der Trudarmee geflohen bin,und wenn sie die Namensfälschung entdecken, dann bin ichverloren! Also bitte, verrate mich nicht!«

Nach drei Monaten mußten wir uns trennen, und ich habe niewieder etwas von ihm gehört. Er war noch sehr jung, 22 Jahrealt; ich hoffe, daß Gott ihn aus der verzwickten Lage gerettethat.

Diese drei Monate vergingen so schnell, und ich hatte michwirklich erholt. Oh, wie fürchtete ich den Wald! Aber ichwußte, Gott sei Dank, nicht, wie schlimm es mir ergehen sollte.In diesem Lager erhielt ich mein erstes und auch letztes Paket.

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Meine Frau und meine Eltern wollten mir eine kleine Freudemachen. Sie hatten mir Aquarellfarbe, einen Pinsel und einMalheft geschickt, weil ich gern malte, und ein paar Bonbons.Ich war damals sehr enttäuscht. Ich war hungrig und hoffte, daßda ein wenig Grütze oder getrocknetes Schwarzbrot drin seinwürde. Was sollte ich mit Bonbons? Aber ich beruhigte michund brachte sie der Mariette K., die mich dafür mit Suppe undBrei sehr reichlich entschädigte.

Der Tag der Abreise kam. Mit schwerem Herzen verabschie-dete ich mich von meiner Wohltäterin. Sie gab mir zumAbschied noch zehn Rubel. Es war mir peinlich, aber ich nahmsie. Dann ging es wieder zur Bahn: Abzählen, Aktenübergabe,Türverriegeln, und der Zug bewegte sich zurück zum Lager Nr.9, einer ungewissen, dunklen Zukunft entgegen.

Mich befiel ein beklemmendes Gefühl, als ich durchs Torschritt, denn jetzt klangen mir die Worte der Ärztin wieder imOhr: »Drei Monate werdet ihr umsonst Regierungsbrot essen,und drei Monate dürft ihr euch nicht in der Sanitätsabteilungzeigen, wenn ihr zurückkommt!« Ich wußte schon ausErfahrung, wie schnell ich bei der dürftigen Nahrung wieder anKraft verlieren würde. Meine volle Kraft hatte ich ja lange nochnicht wiedererlangt.

Ich wurde der ersten Brigade zugeteilt, deren BrigadierUschkow ich noch von früher kannte. Er war bei der Obrigkeitbeliebt und hielt schon lange den ersten Platz beimBäumefällen. Er übererfüllte das Soll immer. Aber er war uner-bittlich streng und gefühllos gegen die Häftlinge. Er kannte nurdas Wort: Dawaj! Dawaj! (Los! Los!)

Schon am nächsten Morgen mußten wir hinaus. Wir wurdennicht mit der allgemeinen Masse der Häftlinge in den vierKilometer entfernten Wald, sondern abgesondert in eine andereRichtung geführt. Zwei Soldaten, mit automatischen Gewehrenund einem Schäferhund, waren unsere Begleiter. Wir mußtenzehn Kilometer marschieren, und das in einem schnellenTempo. Wir sollten die Pioniere eines zukünftigen Lagers seinund die ersten Flächen von Bäumen befreien. Der Weg dorthinwar kein Spaziergang. Ganz müde von dem fast zweistündigenMarsch kamen wir hin. Uschkow gab uns nur soviel Zeit zumAusruhen, daß die Raucher eine Zigarette rauchen und die

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Soldaten unsere Grenzen mit roten Fähnchen abstecken konn-ten. Und dann hieß es: »Dawaj!« Trotz des weiten Weges bliebdas Soll. So ging es einige Tage. Da entstand ein Waldbrand inunserer Nähe. Zu den Löscharbeiten wurden wir nicht zugelas-sen, aus Furcht, daß unter der Deckung des Rauches jemandeinen Fluchtversuch machen könnte. Soldaten wurden zumLöschen geschickt. Eine ziemlich große Fläche Wald verbrann-te. Eines Tages sagte Uschkow begeistert: »Jungens, wir habenGlück! Wir sollen den abgebrannten Wald fällen.« Es hieß alsonur fällen, zersägen und aufstapeln. Früher als sonst waren wirdamit fertig. Aber wie sahen wir aus? Zu Hause mußten wir unswaschen, ohne Seife und mit kaltem Wasser, und so blieben wirziemlich dunkelhäutig. Wir nahmen es aber gerne in Kauf, dennso war das Leben leichter.

Schon am zweiten oder dritten Tag hatte ich Pech, was mirzum Verhängnis werden sollte. Kurz vor dem Abend traf michein drei Meter langer Baumstamm so unglücklich am rechtenDaumen, daß er sich sehr verstauchte und ich große Schmerzenbekam und die rechte Hand unmöglich gebrauchen konnte. Ichkonnte nur noch für den Rest des Tages mit der linken Handetwas Holz tragen. Uschkow gefiel die Sache nicht, aber weil esfast Abend war, schwieg er und sagte nur: »Wenn wir nachHause kommen, gehst du sofort zum Arzt!«

Ich wußte selbst, daß ich zum Arzt mußte, aber ich wußteauch, daß ich mich drei Monate lang den Ärzten nicht zeigendurfte, und es waren doch kaum zwei Wochen seit meinerRückkehr aus dem Erholungslager verstrichen.

Im Lager angekommen, ging ich mit bangem Herzen zumArzt. Ich hoffte, daß Olga Michajlowna, die immer gut zu mirgewesen war, diesen Fall, an dem ich doch nicht schuld war,respektieren würde. Zu meiner Enttäuschung war sie nichtzugegen. Es war nur der zweite Arzt, der selber ein Häftlingwar, anwesend, und der sagte: »Wegen so einer Kleinigkeit gibtes nicht frei!«

Am nächsten Morgen ging ich ganz mutlos nach demFrühstück zum Tor, wo sich die Brigaden schon versammelten.Als Uschkow mich erblickte, raunte er mich barsch an: »Waswillst du hier?«

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»Ich habe nicht frei bekommen«, sagte ich ganz niederge-drückt.

Darauf meinte er unmißverständlich: »Wenn du mitgehst,wirst du bei mir arbeiten, ich brauche keine Drückeberger!« Ichwußte aber, daß ich mit der rechten Hand noch nicht arbeitenkonnte. Tief im Innern verletzt, schwieg ich, wandte mich umund ging weg. Aber wohin? Ich wußte ja, wer nicht zur Arbeitging, wurde Otkastschik (Verweigerer) genannt und in denIsolator geworfen. Warum sollte ich noch zur Baracke gehenund mir neue Beleidigungen anhören? Ich nahm Kurs auf denIsolator und ging hin. Mich überfiel eine Gleichgültigkeit son-dergleichen.

Als ich an die Tür des kleinen Lagergefängnisses kam, klopf-te ich an. Der Gefängniswärter öffnete und fragte verwundertnach meinem Begehren. Als ich ihm sagte, wie die Sache stän-de, lachte er und sagte: »Solange ich hier arbeite, ist dies dererste Fall, daß sich ein Freiwilliger bei uns meldet!« Aber ichwurde freundlich von ihm aufgenommen. Er öffnete mir eineZelle, und ich trat ein. Die Zellen im Isolator waren klein, unddiese Zelle, wo ich einquartiert wurde, war übervoll.

An der hinteren Wand war eine 50 cm hohe, aus groben,dicken Brettern erbaute Pritsche angebracht, auf der dieOtkastschiki zusammengepfercht lagen. Die Gesichter verrie-ten, was das für Leute waren. Vorn war ein Gang von einemMeter Breite, der lag voll von solchen, die das Schicksal, ähn-lich wie mich, hergeführt hatte. Nur in der Ecke, wo dieParascha stand, war noch ein Platz auf dem Fußboden.Parascha hieß ein 50-60 cm hohes Fäßchen, welches unsereToilette ersetzte. Sie verbreitete einen furchtbaren Gestank. DerStarschij (Älteste) der Zelle war ein hochgewachsener Grusiner.Der wies mir meinen Platz bei dieser Parascha an. Ich war nichtüberrascht, denn die Gefängnisordnungen hatte ich schon ken-nengelernt. Und doch erwachte ich aus meiner Gleichgültigkeitund fühlte mich gedemütigt! »Lieber Gott, warum?«

Als ich mich dann auf dem Fußboden niederließ, fragte michder Grusiner, wie ich hieße. »Epp«, antwortete ich. Und derVorname?« - »Peter.« - »Bist du ein Deutscher?« Er fragte es ingebrochenem Deutsch. Dann gab er strenges Kommando:»Zusammenrücken, neben mir Platz machen!«

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Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Soeben hatte er mirnoch den niedrigsten Platz angewiesen und jetzt nachGefängnisbegriffen einen Ehrenplatz neben sich. Er erzähltemir dann, daß er in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesenund später freiwillig der Wlasowarmee beigetreten wäre. Dannsei er in russische Gefangenschaft geraten und zu zehn Jahrenverurteilt worden. Aber er arbeite nicht für die Kommunisten!Da sollten sie ihn einsperren, soviel sie wollten, arbeiten werdeer nicht! Er sympathisierte mit den Deutschen, und so kam es,daß er mich in Schutz nahm.

Um zehn Uhr rasselten die Schlösser, und die Tür wurdegeöffnet. Der Isolatorwärter trat herzu und fragte, ob jemandzum Arzt wolle. Ich meldete mich und hoffte jetzt doch aufErbarmen. Als ich an der Reihe war, holte mich der Wärter. Zumeiner Freude saß Olga Michajlowna in dem Wärterstübchen.Als sie mich erblickte, stutzte sie und dann schaute sie mich mitgroßen Augen an. Bitter fragte sie: »Wie kommst du hierher?!«

Ich sagte, der Arzt habe mich nicht befreit, ich habe aber dieHand so verstaucht, daß ich mit der Rechten nicht arbeitenkönne. Ich wollte noch weitere Erklärungen abgeben, aber sieließ mich nicht mehr zu Wort kommen, sondern schrie mich an:»Weißt du nicht, daß du drei Monate umsonst Regierungsbrotgegessen hast? Und daß du dich drei Monate lang nicht bei mirzeigen darfst?« Ich wollte noch was hinzufügen, aber sie sagte:»Ich will deine Hand nicht einmal sehen. Sitzen wirst du! Führtihn ab!«

Der Grusiner tat sein Bestes, mich aufzumuntern. Er konnte janicht sehen, wie es in meinem Innern aussah.

Als der Abend kam, erhielten wir ein dünnes Süppchen. DieNacht verging, und ich schlief schlecht. Mein Herz schrie zuGott: »Hilf!« Zu beten: »Dein Wille geschehe«, brachte ichnicht fertig. Und obwohl ich große Ursache hatte zu danken,daß Gott mir den Grusiner geschickt hatte, der meine Lagewesentlich erleichterte, fand ich keine Worte des Dankens.

Morgens erhielten wir unser spärliches Frühstück, und dannkam der Wärter und fragte: »Wer will wieder zur Arbeitgehen?« Ich meldete mich. Sofort wurde ich entlassen. MeinenGönner, den Grusiner, habe ich nie wiedergesehen.

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Am Tor versammelten sich die Waldbrigaden. Auch meineBrigade war schon da. Uschkow nahm kaum Notiz von mir, soals wenn nichts geschehen wäre. Die verstauchte Hand war bes-ser geworden. Ich konnte sie schon vorsichtig gebrauchen, habedie ersten Tage aber unter großen Schmerzen gearbeitet, dochauch das ging vorüber. Schlimmer war der Hunger, meineKräfte schwanden. Im Isolator war ich auf Strafration gewesen,d.h. morgens 300 g Brot und Suppe, kein Mittagessen, undabends nur die Suppe. Und jetzt zehn Kilometer Marsch, dasSoll, und weil ich einen Tag nicht gearbeitet hatte, erhielt ichwieder nur die Strafration. Daß ich abends Gott meine Not kla-gen konnte, war der einzige Trost.

Es wurde Winter. Als Uschkow erst sah, daß ich nicht mehrvoll mitmachen konnte, bemühte er sich, mich loszuwerden. Esgelang ihm auch, mich in eine andere Brigade zu überführen.Nun konnte ich von Herzen Gott danken, daß ich von demgefühllosen Menschen befreit war. Zudem gingen die anderenBrigaden nur vier Kilometer weit zur Arbeit. Dadurch hattenwir mehr Zeit, unser Soll zu erfüllen, und kamen früher nachHause. Allerdings kam diese Erleichterung für mich zu spät. Ichwar schon zu schwach. Aber der Brigadier war menschlicherund bemüht, mich zu schonen.

Das Unglück schien mir jedoch geradezu nachzulaufen. Esverging kaum ein Monat nach dem ersten Unfall, als ich schonwieder verunglückte. Beim Stämmeladen fiel ich hin, weilmeine Kraft versagte, und das Wurzelende des dicken Stammesfiel auf mich. Meine Brust bekam solch einen derben Schlag,daß es mir den Atem nahm. Daß ich nicht ganz zerquetschtwurde, war wieder ein Wunder Gottes. Ich fiel in eine kleineVertiefung, und so drückte der Stamm mich zwar fest, konntemich aber nicht vollends erdrücken. Die armen Kollegenerschraken und mühten sich, mich unter dem Holz hervorzuho-len, waren aber froh, daß es nicht schlimmer gekommen war.Meine Brust schmerzte, ich konnte kaum atmen, doch dankteich Gott von Herzen, daß er mich vor dem Schlimmstenbewahrt hatte! An Arbeiten war nicht zu denken. Ich schlepptemich abends nach Hause. Drei Monate sollte ich mich nicht inder Klinik sehen lassen. Ich fürchtete Olga Michajlowna! Gott,warum solche Wege? Die Ärztin behauptete, daß ich dieseUnglücksfälle mutwillig suche, um nicht arbeiten zu müssen.

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Ich solle mich schämen, meine Gesundheit selbst zu ruinieren.Aber trotzdem gab sie mir einige Tage frei. Jetzt war ich fastsoweit, Gott dafür zu danken, daß er mir dieses Unglückgeschickt hatte, so froh war ich, daß ich einige Tage nicht zurArbeit brauchte.

Ich arbeitete wieder, aber es wurde schwerer. Die drei Monatewaren immer noch nicht vorbei. Der Schnee lag schon rechthoch. Es war eine herrliche Landschaft, aber meine Augensahen die schönen Tannen nur mit Widerwillen, wenn ich michmüde und matt nach Hause schleppte.

Nun waren wir eines Tages auf dem Heimwege. Es war schonfinster, und es lag viel Schnee. Vor unserem Abmarsch hattenwir noch unsere gefällten Bäume, die wir diesmal zu acht MeterLänge gesägt hatten, auf einen Schlitten geladen. Im Winterwurde das Holz auf Schlitten transportiert. Auf diesemHeimweg überholten wir den Fuhrmann mit unseren Stämmen.Der Weg war hier abschüssig, und sein Schlitten war mit derschweren Last von der Fahrbahn geraten. Unser Konwoj hieltan, und wir mußten dem Fuhrmann helfen, den Schlitten wiederauf die rechte Bahn zu bringen. Wir waren wohl 15 Häftlinge,und ein jeder packte an, wo es nur möglich war. Ich schob hin-ten an der abschüssigen Seite. Gerade in dem Augenblick, alsdie Pferde anzogen, sprang hinten eine Runge heraus undschlug mit Gewalt auf meine gespannten Sehnen im Knie, sodaß ich zusammensackte.

Der furchtbare Schlag verursachte mir so große Schmerzen,daß ich am Boden lag und stöhnte. Ich konnte mich nicht erhe-ben, von Gehen konnte schon gar nicht die Rede sein. Als derSchlitten dann endlich wieder auf die Bahn gebracht war, nah-men mich zwei Kameraden unter die Arme, und so hinkte ichunter großen Schmerzen zum Lager. Der Vorsteher hatteEinsicht und trieb uns nicht an.

Aber mein Hauptgedanke war: »Ich muß zum Arzt!« Der drit-te Unfall in zwei Monaten! Was für einen Skandal würde daswieder geben!? »Drei Monate umsonst Brot gegessen, dreiMonate kein Recht, krank zu sein!« Oh, lieber Gott, warum,warum muß ich das wieder erleiden? Meine Kameraden brach-ten mich in die Baracke und besorgten einen derben Stock. DieSchmerzen hatten wesentlich nachgelassen. So hinkte ich dann

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mit großer Mühe langsam zum Arzt. Mein innigster Wunschwar, daß Olga Michajlowna nicht zugegen wäre, denn ich fürch-tete sie inzwischen wie das Feuer.

Ich hatte Glück, sie war nicht da. Nur der Häftling war da. Oh,wie gut, dachte ich, und trat vor. Er beschaute oberflächlichmeine Kniekehle. Die Sehnen waren dick und blau, aber erbemerkte: »So schlimm, wie du tust, ist es nicht. Stell den Stockzur Seite und geh, ohne zu hinken, durchs Zimmer, dann gebeich dir einen Tag frei.«

Ich traute meinen Ohren nicht. »Das kann ich beim bestenWillen nicht, Doktor«, sagte ich.

»Kannst nicht«, herrschte er mich an, »also wirst du morgenarbeiten, geh! Der Nächste komme herein!«

Ich hinkte aus dem Empfangszimmer hinaus. Oh, es warenkeine christlichen Gedanken, die meinen Kopf durchkreuzten.Ich wünschte dem Arzt, daß er in meine Lage kommen möchte.Ich haderte mit Gott, daß er mich unschuldig leiden ließ! Wenndie Schmerzen anfänglich nachgelassen hatten, so steigerten siesich allmählich immer mehr. Nachts, wie es bei den Schwachenimmer der Fall ist, mußte ich sehr oft meine Notdurft verrich-ten, und ich konnte auch mit Hilfe des Stockes nicht mehr. Ichstöhnte, ja, fast schrie ich, wenn meine Kameraden mich hin-austrugen, und das geschah wohl fünfmal während jener Nacht.Die armen guten Jungens hatten meinetwegen auch wenigRuhe, und morgens sollten sie wieder zur Arbeit. Vergelt’sihnen Gott! Aber auch diese Nacht verging, die Schmerzenwurden gegen Morgen erträglicher. Alle gingen zur Arbeit, nurich blieb mit großem Unbehagen in der Baracke zurück. Ich warja wieder Otkastschik. Ich hatte nicht freibekommen und wareigenmächtig zu Hause geblieben. Ich nahm mir den Mut, dennes mußte sein, und hinkte an meinem Stock zum Arzt. Dort war-tete eine Überraschung auf mich. Olga Michajlowna war wiedernicht da, und auf ihrem Stuhl saß der Offizier Mojsejew, derChef der Kulturabteilung.

Als ich hineinging, schrie der Arzt: »Warum bist du nicht zurArbeit gegangen?!«

»Ich kann nicht gehen, Doktor«, sagte ich.

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Da fragte Mojsejew mich: »Epp, wie kommst du unter dieOtkastschiki? So kenne ich dich ja gar nicht!« Ich berichtetekurz, was vorgefallen war und daß der Arzt mich gestern nichtvon der Arbeit befreit habe. Mein Knie war jetzt schon ziemlichangeschwollen, danach schaute aber niemand. Mojsejew sagteeinfach mit Bestimmtheit: »Frei schreiben!« Und dann fügte ernoch hinzu: »Ich kenne diesen Menschen, er wird nie zu Ihnenkommen, wenn er nicht einen Grund hat!«

»Danke, vielen Dank!«»Ist schon gut, geh, ruh dich aus«, sagte er nur, und ich hum-

pelte überglücklich zurück in die Baracke. Jetzt konnte ich auchwieder danken! Mein Frühstück hatte man mir gebracht, dochwie gerne hätte ich zu Mittag gegessen; mein Mittagessen aberwar im Wald, und hier stand mir nichts zu. Mein Knie schwollimmer mehr an, und abends bekam ich ohne weiteres frei.Wieder war ich froh und hinkte am Stock davon.

Am zweiten Tag verbreitete die Schwellung sich schon überdas ganze Bein, aber die Schmerzen waren fast weg. Ichbrauchte den Stock nicht mehr zum Gehen. Doch als ich abendszum Arzt mußte, ging ich am Stock und lahmte sehr. Jetztbetrog ich ihn wirklich, wieder aus Furcht, zur Arbeit zu müs-sen. Als er mich abends empfing, erschrak er anscheinend übermeinen dicken Fuß und sagte: »Anstatt besser wird es ja immerschlimmer. Ich werde dich in die Krankenbaracke legen.«

Mein Herz jauchzte! Olga Michajlowna war zu meinem Glückin diesen Tagen wieder abwesend. Am nächsten Tag wurde icheingeliefert.

Ich hatte jetzt soviel Freude, daß ich Gott für diesen Unfalldanken konnte. Im Lager galt das Sprichwort: »Einen Tag ruhengleicht einem Jahr Gesundheit!« Bis 1951 gab es nur jedenzehnten Tag einen Ruhetag, und unser Arbeitstag war neunStunden lang. Die lange Anmarschzeit zur Arbeit und zurückwurde nicht als Arbeitszeit berechnet. Da bedeutete es schonsehr viel für einen vom Hunger geschwächten Menschen, einenTag zu Hause zu sein oder gar ins Krankenhaus zu kommen.

Im Krankenhaus gab es nicht viel zu essen, aber immerhin dreietwas bessere Mahlzeiten und saubere Bettwäsche. Ich nütztedie Zeit zum Malen und Briefeschreiben. Aquarellfarbe hattemeine Frau mir geschickt, und weil es nicht mehr lange bis zum

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Weihnachtsfest war, malte ich auf dem Briefpapier in die obereEcke einen Tannenzweig mit einem brennenden Licht mit demuns wohlbekannten Weihnachtsgruß »Fröhliche Weihnachten!«Darauf schrieb ich dann an Familie und Eltern meinen Brief.Dabei beobachtete mich eine Krankenschwester und waranscheinend begeistert über meine noch sehr unvollkommeneArbeit. Sie bat, ich solle doch auch so einen Briefbogen für siemalen, aber er solle fürs Neue Jahr sein. Dafür brachte sie mirdann eine Portion Haferbrei von ihrer Mahlzeit. Oh, da war ichglücklich, und wie habe ich damals Gott von Herzen gedanktfür diese zusätzliche Nahrung!

Ich hatte noch etlichemal das Glück, für so ein primitivesKärtchen etwas Essen zu bekommen. Ich war ganz zufrieden,aber mein Glücksgefühl sollte bald gedämpft werden. Das Knieblieb geschwollen. Keine Besserung! Ich hatte jedoch keineSchmerzen. Und dann kam der Tag des Gewitters, vor dem ichmich schon lange gefürchtet hatte. Olga Michajlowna kehrtevon ihrer Dienstreise zurück. Noch bevor sie Visite bei unsmachte, hatte sie mich auf der Liste entdeckt. Noch nicht dreiMonate zurück und nun schon das dritte Mal krank, jetzt sogarim schönen Krankenhaus! Als sie hereinkam, wäre ich am lieb-sten in der Erde versunken. Als sie an mein Bett trat, begrüßtesie mich mit den Worten: »Protjiwnaja Rosha (widerlicheFratze), zeig mir deinen Fuß! Was tust du, daß der Schwulstnicht weggeht?«

»Nichts«, sagte ich nur.»Das ist nicht möglich!« ereiferte sie sich. »Ich werde dich

dem Gericht übergeben!« Die Kranken schwiegen still, sie hat-ten Mitleid... Abends wollte mein Gebet nicht gelingen. DemTeufel war es gelungen, mein Herz hart zu machen. Mit einemHerzen, das der Ärztin unerbittlich hart gegenüberstand, konn-te mein Gebet wohl nicht höher als bis zur Decke steigen.

Sie hatte mit dem Gericht gedroht! Ich wußte nur zu gut, wasdas bedeutete. Der Gedanke, noch länger als zehn Jahre in die-ser Schmach zu leben, war für mich unerträglich. Aber vorerstgeschah nichts. Ich beruhigte mich allmählich und konnte demlieben Gott wieder danken, daß ich im Krankenhaus war, unddas Jahr 1949 brach an. Was würde es mir bringen? Ich konnte,

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nachdem ich so viele schlechte Erfahrungen gemacht hatte,nichts Gutes erhoffen.

Mein Bein war immer noch dick, aber immerhin war eine ganzkleine Besserung zu sehen. Eines Tages kam die Kontrolle derHauptverwaltung. Ein Arzt überprüfte die Krankenbaracken.Als Olga Michajlowna in Begleitung dieses Arztes in unsererAbteilung erschien, hatte ich wieder böse Vorahnungen, denndie Ärztin hatte mir noch etlichemal mit dem Gericht gedroht,wenn auch nicht so grob wie das erstemal. Wie, wenn sie inGegenwart dieses hohen Besuchs erneut mit der Sache begin-nen würde? Olga Michajlowna ging mit dem Arzt in eineKabine, die mit einer Bretterwand von uns getrennt war. Balddarauf rief mich die Schwester, ich solle zu den Ärzten kom-men. Ich als erster, das bedeutete nichts Gutes! Jetzt geht’s ummein Bein. Wie wird dieser Mann aus der Zentralverwaltungreagieren? Ich fürchtete mich, mußte aber gehen.

Als ich eintrat, schaute Olga Michajlowna mich finster an. Derandere Arzt verhielt sich aber ruhig, und nichts Böses war anihm zu merken. Ich mußte mein rechtes Bein entblößen, und erbegann, das ganze Bein tüchtig zu untersuchen. OlgaMichajlowna schalt immer zwischendurch. Als dieUntersuchung zu Ende war, ging’s wieder los. Immer dieselbeFrage: »Was hast du dir bloß angetan?«

Auch der andere Arzt sprach in dieser Richtung und meinte, essei strafbar, aber er blieb bei alledem ruhig. Unsere Ärztin gerietfast außer sich und wollte unbedingt ein Geständnis von mirhaben. Doch ich blieb bei der kurzen Antwort: »Ich habe nichtsgetan!« Trotz und Gleichgültigkeit bemächtigten sich meiner.Ich war am Ende. Jetzt war es nicht mehr nur eine Drohung, eswar Beschluß: »Gericht«. Ich konnte nicht mehr klar denken.Oh, Gott, Erbarmen!

Direkt an der Bretterwand, wo man jedes Wort verstehenkonnte, das in der Kabine gesprochen wurde, lag ein jungerRusse. Er hatte alles mitangehört. Der schlich plötzlich ganzleise zu mir und sagte im Flüsterton: »Peter, hab keine Angst!Du wirst nicht dem Gericht übergeben. Ich habe an derBretterwand gelauscht und jedes Wort verstanden. OlgaMichajlowna hat gesagt: »Es sieht wohl sehr verdächtig aus mitEpps Knie, aber es ist kaum zu glauben, daß dieser Mensch so

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was tun könnte. Ich denke auch nicht daran, ihn vor Gericht zubringen, aber man muß ihnen Angst einjagen.« Der andere Arztist mit ihr in allem einverstanden.«

Ich wußte nicht, wie mir geschah! Ein großer Stein fiel mirvom Herzen. Vor einigen Minuten schien noch alles so aus-sichtslos, und jetzt war ich überglücklich und hoffnungsvoll!Gott hatte meinen Seufzer gehört, wie dankbar war ich! Und dieHauptsache, Olga Michajlowna hatte bei mir wieder ihren altenPlatz als guter Engel. Sie war nicht so schlecht, wie sie sichzeigte.

Im andern Lager kam es zu dieser Zeit zu ernstenAuseinandersetzungen. Dort herrschten die Verbrecher, genau-er die Wore.

Im Spätherbst kam zu uns eine volle Brigade aus dem LagerNr. 11, das geschlossen wurde, weil der Wald dort ringsumabgeholzt war. Der Brigadier dieser Brigade war ein großer Estemit Namen Arlajd. Die ganze Brigade, ca. 20 Mann, bestandnur aus Esten, Letten, Litauern und Westukrainern. Alle warensie gesunde, starke, wohlernährte Kerle. Alle erhieltenPaketunterstützung von zu Hause. Diese Brigade hatte in Nr. 11immer den ersten Platz gehalten, immer das Soll weit überfüllt.Sie standen dort ständig auf der roten Tafel und wurden auchhier mit Ehren aufgenommen, denn jeder Lagerchef muß ja denPlan erfüllen. Arlajd stellte Bedingungen. Erstens, sie würdennur arbeiten, wenn sie als Brigade alle in einem Raum geschlos-sen wohnen dürften! Zweitens, sie wollten aus ihrer Mitte selbsteinen Dnjewaljnej (Aufräumer und Wächter zugleich) anstel-len, auf den sie sich verlassen könnten. »Denn wir wissen, wiedie Lage hier bei euch steht.«

Der Lagerchef, der sich von dieser Brigade viel versprach,akzeptierte ihre Bedingungen. Es wurde sofort Raum für siegeschaffen, und sie zogen ein. Alle waren mit einem großenKoffer versehen, ein Zeichen, daß sie Lebensmittel hatten undauch Kleidung zum Umziehen. Das war etwas Seltenes imLager. Die Wore beobachteten ihren Einzug mit Begeisterung:»Denen werden wir schon unsere Ordnung beibringen!«

Arlajd und seine Kumpanen waren aber sehr gut informiertüber unsere Verhältnisse, und sie hatten sich beraten, wie siegegen diese Bande ankommen wollten. Der Abend kam, es war

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aber noch hell, als diese Neuen zum Abendbrot geführt wurden.Nur der Dnjewaljnej blieb als Wächter in der Baracke.

Die Banditen warteten, bis die Neuen im Eßraum verschwun-den waren, dann ging es los. Der Aufseher fragte, was sie woll-ten. Der Batja, so nannte man auch hier ihren Anführer, sagte zuihm: »Schweig und setz dich dort in die Ecke, und wehe dir,wenn du schreist!«

Was sollte er in dieser Situation tun? Die Verbrecher machtensich mit Begeisterung an die Arbeit, indem sie die Koffer mitGewalt öffneten und nahmen, was ihnen beliebte. Sie waren sobeschäftigt, daß es dem Aufseher gelang, ihnen zu entkommen.Er lief zum Eßraum und schrie aus Leibeskräften: »Grabjat!«(Sie rauben!)

Darauf rief Arlajd: »Alle mir nach!« Bei der Baracke ange-kommen, ordnete Arlajd an, alle Fenster der Baracke zu beset-zen, so daß keiner entkommen konnte. Ihm als erstem folgteeine Gruppe, und sie gingen hinein. Es stellte sich heraus, daßArlajd ein professioneller Boxer war, und ein anderer warLiebhaberboxer gewesen.

Als sie hereinkamen, waren die Banditen ein wenig über-rascht. An so was waren sie nicht gewöhnt. Aber Feiglingewaren sie ja auch nicht gerade und zudem geübte Schläger, auchgewohnt, auf Tod und Leben zu kämpfen. Sie waren sogar mitMessern bewaffnet. Doch konnten sie diese gar nicht einsetzen,denn die Boxer schlugen sie geschickt aus ihren Händen. Unterihren Schlägen sackte einer nach dem andern zusammen. Einigeversuchten, durchs Fenster zu entkommen, und wurden danndraußen nicht gerade höflich empfangen. »Haut sie zusammen,aber niemanden erschlagen!« sagte Arlajd.

Bis auf der Wache Alarm geschlagen wurde und die Soldatenherbeieilten, war bereits alles vorbei. Die meisten Banditenmußten zum Lazarett getragen werden.

Seit dieser Zeit war es im Lager viel ruhiger. Wir waren Arlajdsehr dankbar. Arlajd wurde zwar verhört, aber sonst wurde dieSache vertuscht, denn sie brauchten ihn ja.

Der Batja aber lag schwer verletzt im Krankenhaus undschmiedete Pläne, wie sie sich in erster Linie an Arlajd rächenkönnten.

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Arlajds Leute waren jedoch vorbereitet, und der Kampf gingzugunsten der Waldbrigade aus. Batja wurde dieses Mal so zer-schlagen, daß er im Krankenhaus nach etlichen Tagen starb.Nachher wurden noch Attentatversuche auf Arlajd gemacht,aber er kam immer davon.

Ich war eigentlich schon gesund, hatte nur noch eine kleineSchwellung. Ich lag wohl einen Monat im Krankenhaus, hattemich tüchtig ausgeruht und war auch ein wenig zu Kräftengekommen. Es kam der Tag, wo ich wieder einer Brigade zuge-teilt wurde und hinaus mußte in Schnee, Eis und Frost. DerWinter 1949 war besonders schneereich. Es fiel fast jeden TagSchnee. Wir hatten auch immer Wind. Unser vier Kilometerweiter Weg war morgens wie abends stets verweht. Es brauch-te viel Kraft, bis wir zum Arbeitsplatz kamen. Dann hieß es,neun Stunden schuften und abends wieder vier Kilometerzurück.

Ich kam, Gott sei Dank, nicht mehr in die Brigade vonUschkow. Mein Brigadier war gemütlicher, aber die ersten dreiTage bekam ich kein Mittagessen, weil es drei Tage dauerte, bisalles durch die Buchführung bis zur Küche kam. Es waren zwarnur 200g Haferbrei und 100g Brot, welches wir am Mittagbekamen, wenn wir unser Soll erfüllten. Das war aber immer-hin besser, als hungrig zu bleiben. Es ist schwer, hungrig dazu-sitzen und zuzuschauen, wie andere essen. So verlor ich schnellwieder meine Kräfte. Es dauerte auch nicht lange, bis ich meinSoll nicht immer erfüllen konnte. Das bedeutete, daß ich nachdrei Tagen kein Mittagessen bekam. Ich sackte ab, derHeimweg wurde zur Qual.

Ich ging zum Arzt, fand aber kein Gehör! Olga Michajlownawar mal wieder auf Dienstreisen, um Medikamente zu besor-gen. Einige Tage schleppte ich mich noch zur Arbeit, dann faßteich den Mut und ging zu dem Natschaljnik Rabote (Chef überalle Arbeitszweige). Mit Herzklopfen trat ich abends in seinArbeitszimmer, wo er die Arbeit für den nächsten Tag verteilte.Er hatte eine Besprechung mit Arlajd, der inzwischen MastjerLjesa (Meister des Bäumefällens) geworden war. SeinVorgänger, Frolow, war während einer Mittagspause getötetworden. Während des Essens hatte ein 16jähriger Junge ihmvon hinten den Kopf mit dem Beil gespalten. Arlajd hatte auchhier, im Lager Nr. 9, durch gute Arbeit sein Ansehen gehoben.

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Jetzt waren alle Brigaden unter seiner Aufsicht und Leitung.Sein Erfolg und nicht zuletzt der Sieg über die Banditen warenihm aber zu Kopfe gestiegen. Er übertraf Uschkow bei weiteman Härte, und das sollte ich am eigenen Leibe erfahren.

Nach den Beratungen klopfte ich also an die Tür, und auf das»Herein« des Natschaljniks trat ich ein und klagte ihm meinLeid, bat ihn, er möge doch so gut sein und mich in dieWegebau-Brigade überführen, denn ich könne die Waldarbeitnicht mehr verrichten.

Er beschaute mich von oben bis unten und sagte dann: »Gut,ich überführe dich. Morgen gehst du mit den Wegebauern.« Ichbedankte mich vielfach und ging froh, Gott dankend, zur Ruhe.Wegebau war im Winter meist mit Schneeschaufeln verbunden.Es war viel leichter als Bäumefällen, und der Brigadier konnteeine dickere Schneeschicht angeben, da eine genaue Kontrollekaum möglich war. Dadurch konnte er für die Arbeiter immerzusätzliches Essen bekommen.

Morgens ging ich dann tatsächlich mit den Wegebauern. Esschien mir, als ob ich viel stärker geworden wäre und ich schau-felte mit Begeisterung Schnee. Ich hatte trotz meiner Schwächeneuen Mut, und das gab mir Kraft. Aber kurz sind solcheFreuden, singt man im Lied, und so war es auch bei mir. Arlajdkam des Weges, er war beim Rundgang durch alle Brigaden.Als er näher kam, entdeckte er mich. Erstaunt blieb er vor mirstehen und fragte ganz bestürzt: »Wie kommst du hierher?«

Ich erzählte ihm, daß der Natschaljnik, sein Vorgesetzter, michin diese Brigade überführt habe. »Genug damit«, sagte er. »Dortin der Brigade des B. fehlt so nötig ein Mann, und du gehstdahin. Leg die Schaufel sofort weg, und komm mit!« befahl erin strengem, unerbittlichem Ton. All mein Bitten und Reden,daß ich nicht mehr so schwer arbeiten könne, schlugen fehl, undso mußte ich mit. Er brachte mich zu seiner früheren Brigade,mit der er damals aus dem Lager Nr. 11 kam.

In dieser Brigade wurde wirklich gearbeitet. Der Brigadier, einWestukrainer, der mich kannte, tröstete mich, als Arlajd weg-ging. »Es wird schon werden, Peter, ich gebe dir eine leichteArbeit. Du wirst nur den Schnee von den Tannen wegschaufeln,daß die Fäller mit der Elektrosäge an den Stamm rankönnen.«

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Schneeschaufeln also! Ich war getröstet und bemühte mich,damit die beiden mit der Elektrosäge nicht warten brauchten.Aber ich hatte mich vergebens gefreut. Schnee gab es in diesemWinter, wie ich schon früher betonte, sehr viel. Er reichte einemstellenweise bis unter die Arme. In diesem Schnee mußte beijeder Tanne, die gefällt werden sollte, ein anderthalb Meter lan-ges Loch geschaufelt werden. Ich schaufelte ohne Pause, vonmorgens bis zum Mittag und nach der kurzen Mittagspause biszum Abend. Abends hatte ich kaum mehr die Kraft, die vierKilometer im Schnee nach Hause zu gehen.

Nach dem Abendbrot bing ich wieder zum Arzt und versuch-te, von Gruppe zwei in Gruppe drei zu kommen, ohne Erfolg.Er sagte, Olga Michajlowna sei im Urlaub und er sei nichtbefugt, darüber zu entscheiden, was aber nicht stimmte.

Am nächsten Tag mußte ich wieder mit. Morgens ging es nochmit dem Schaufeln, aber gegen Mittag mußten die Bäumefällerschon oft warten und wurden ungeduldig. Am Nachmittagging’s erst recht nicht, der Brigadier aber half mir, und irgend-wie wurde es schließlich abend. So ging es langsam bergab mitmir. Eines Tages hatte ich bis Mittag wieder mit größterAnstrenung durchgehalten, aber am Nachmittag war es aus. Einpaar Schippen Schnee warf ich raus, dann stand ich still undstützte mich auf meine Schaufel. Ich konnte einfach nicht mehr.Der Brigadier kam wieder, um mir zu helfen, aber ich schauteganz verzweifelt drein. »Ich kann nicht mehr!« sagte ich.

Er schaute ein Weilchen, dann sagte er:«Peter, es ist nichtrecht von dir; ich habe dir schon die leichteste Arbeit gegeben,und du willst die nicht einmal tun.«

Oh, wie dieser Vorwurf schmerzte. Ich war total fertig, aber er,der noch nie gehungert hatte, konnte mich nicht verstehen. Erglaubte, daß ich schwach war, aber daß ein Mensch gar nichtkann, glaubte er nicht. Am Nachmittag habe ich kaum wasgetan, dann aber kam wieder der Heimmarsch, und ich weißheute nicht mehr, wie ich bis zum Lager gekommen bin. Ichweiß nur, daß ich die ganze Zeit, während wir gingen, gebetethabe, Gott möge mir die Kraft zum Durchhalten schenken.Hierauf folgte, wie nicht anders zu erwarten war, dieVorhaltung, daß ich mein Soll nicht erfülle. Das wiederum hattezur Folge, daß ich ohne Mittagessen blieb. Es war für mich eine

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furchtbare Zeit, wenn das bißchen Mittagessen gebracht wurde.Ich konnte es nicht anhören, wenn gegessen wurde. Schon dasKlappern des Aluminiumgeschirrs war für mich grausam. Ichging dann abseits, setzte mich auf einen gefällten Baum undhielt mir die Ohren zu. Daß Hunger weh tut, habe ich damalserfahren.

Der liebe Gott wollte, daß ich’s auch nie mehr vergessen soll-te, denn im August 1945 hatte ich genau diese Worte zu einem16jährigen gesagt. Damals war ich Vorarbeiter. Ich hatte mit P.wirklich Mitleid und teilte ihm nur das halbe Soll zu, zudemhalf ich ihm ständig. Dann kam aber der Tag, als P. sich nurnoch auf die Erdschaufel stützte und ich alles für ihn machenmußte. Da sagte ich zu ihm: »P., du siehst, ich habe dir wenigerzugeteilt, ich helfe, und du willst nicht einmal das tun!« Erschaute mich verzweifelt an, sagte aber nichts. Am nächstenTag kam er ins Krankenhaus. Ich hatte Mitleid, aber ich konntedamals nicht ganz mitfühlen, weil ich es noch nicht erfahrenhatte. Wie gerne würde ich jetzt von Herzen Abbitte tun. Ichhabe nie mehr von ihm gehört.

Die Brigade, in der ich war, gehörte zu den Besseren, und weilich nichts mehr nützte, wurde ich abgeschoben in eine andere.Der Brigadier dieser Brigade erkannte meinen Zustand sofort.Er bemühte sich, mir die leichteren Arbeiten zu geben, wie dieabgehackten Äste zu sammeln und zu verbrennen, aber auchdas wollte nicht mehr gehen. Die Rückmärsche waren für michdas Furchtbarste. Ich bat den Brigadier, mich am Nachmittagam Feuer sitzen zu lassen, damit ich mich ausruhen könne, umKräfte zu sammeln zum Heimgang. »Wie du willst«, sagte er,»ich verstehe dich gut, ich war auch schon einmal so weit wiedu. Aber du mußt mich auch verstehen. Du weißt, ich habekeine Möglichkeit, dir die Erfüllung des Solls anzuschreiben.«Oh, das wußte ich zu gut! Er mußte bestimmte Kubikmeter lie-fern. So schleppte ich mich noch einige Tage hin. Ich versuch-te noch einmal, das Erbarmen des Arztes zu erflehen. Es hießimmer: »Nein, ich habe kein Recht, deine Gruppe zu ändern.«

Es kam so weit, daß gute Kameraden mir unter die Arme grif-fen beim Nachhausegehen, da meine Füße versagten. DieseRückmärsche waren ein Ringen mit Gott. Ich schrie um Kraft!Aber wo sollte sie, menschlich gesehen, herkommen? Wie

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lange war ich nun ohne Mittagessen gewesen, und jetzt war ichauf Strafration.

Aber wenn die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten!Eines Tages, als ich wieder mit Hilfe der Kameraden nachHause wankte, hieß es, Olga Michajlowna sei nach Hausegekommen! Diese Botschaft ging mir durch Mark und Bein.Nach der Abendsuppe - Brot stand mir nicht zu - bemühte ichmich zur Sprechstunde. Olga Michajlowna war zugegen, aberder Warteraum war voll. Wie die Heringe, Mann an Mann, stan-den sie, die Armen, denen es genauso ging wie mir. DieSprechstunde ging zu Ende, und der Warteraum blieb voll.Schließlich kam die Ärztin heraus, schlug die Hände über demKopf zusammen und sagte: »Kinder, Kinder, ich kann euchheute unmöglich alle untersuchen, es ist schon spät. Aberkommt morgen wieder, dann will ich sehen, wem ich helfenkann.« So mußte ich am nächsten Tag wieder hinaus; ich warenttäuscht, und mein Mut wollte versagen.

Am nächsten Tag aber kam ich tatsächlich dran. Sonderbar,ich hatte keine Angst vor Olga Michajlowna. Ich sah, wiefrüher, nur noch den rettenden Engel in ihr. Als ich hineinkam,erkannte sie mich sofort. Sie war aber nicht ungehalten, imGegenteil, sie zeigte Mitleid. »Nun, Epp«, sagte sie, »wasbringt dich zu mir?« Ich erzählte, wie schwach ich sei, ichkönne nicht mehr, und ich sagte auch, daß der Arzt meine Bitte,mir die dritte Gruppe zu geben, nicht erfüllt habe. Ich mußtemich ausziehen. Dann fragte sie noch einmal, welche Kategorieich habe. Die zweite, antwortete ich. Dann fuhr sie den Arzt an,was er sich eigentlich denke. »Trag Epp in die vierte Gruppeein.« Also: Invalide - nicht arbeitsfähig! Ich hatte zwar aufGruppe vier gehofft, aber glauben konnte ich es nicht, und jetztwar es Wirklichkeit. Diese Tatsache brachte mich fast durch-einander. Dann sagte sie: »Du brauchst morgen nicht mehr zurArbeit, und ich werde mit dem Oberkoch sprechen, daß er dichzum Kartoffelschälen nimmt.« Damit war ich entlassen.

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Drei Tage des Glücks

Ein neuer Abschnitt meines Lebens begann. Als ich morgenserwachte, erinnerte ich mich sofort an das Geschehen vongestern. Der Gongschlag, der immer so furchtbar in den Ohrenklang, hatte einen ganz anderen, wenn nicht sogar angenehmenKlang. »Du brauchst heute nicht hinaus!« klang es immer wie-der in meinem Innern. »Niemand wird dich holen kommen undin den Isolator werfen.« Mir schien es, als sei ich ein freierMensch. Zudem die Freude: »Du darfst Kartoffeln schälengehen. Du darfst da Kartoffeln essen. Du wirst zusätzlich Suppeund Brei bekommen!« Ich durfte noch liegenbleiben, denn dieInvaliden wurden erst zum Schluß abgefüttert, und dasKartoffelnschälen kam noch später, aber ich hatte keine Ruhe,ich mußte aufstehen.

Ich hatte zwei Tage Kartoffeln geschält, als derGeschirrwäscher zu mir kam. »Peter«, sagte er, »mich legt dieÄrztin ins Krankenhaus. Nimm du meinen Platz ein, aber mitder Bedingung, daß du mir später den Platz wieder abtrittst!«Ein Glück kam nach dem andern! Ich griff zu, der Oberkochwilligte ein.

Am nächsten Morgen war ich schon um fünf Uhr in derKüche; ich wollte auf keinen Fall diesen Platz verlieren. DerKoch gab mir sofort 500 g Haferbrei. Ein herrlicher Anfang!Um sechs Uhr begann das Abfüttern der Brigaden. Ich bedien-te einen großen hölzernen Trog, der mit warmem Wasser gefülltwar. Mein Waschraum war durch ein Fenster, 60 x 60 cm, mitdem Eßraum verbunden. Durch dieses Loch reichte man mir dasgebrauchte Geschirr. Es waren Schüsseln aus Aluminium.Binnen einer Stunde wurden über 1000 Menschen abgefüttert.Man kann sich vorstellen, wie sauber ich die 1000 und mehrSchüsseln gewaschen habe. Im Grunde war es kein Waschen,nur ein Spülen in dem immer dreckiger werdenden Wasser. Und

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trotzdem mußte ich mich sehr beeilen, um mit dem Waschenfertig zu werden, damit die Köche nicht auf die Schüsseln zuwarten brauchten. Aber ich schaffte es. Nach der Abfütterungder Arbeiter, ab sieben Uhr, kamen die Invaliden dran, wozu ichauch gehörte. Obwohl ich am frühen Morgen schon eine gutePortion Haferbrei verschlungen hatte, aß ich meine Suppe, Breiund Brot auf, ohne mich allerdings satt zu fühlen.

Dann mußte ich wieder weiter waschen. Zwischendurchbrachte mir der Koch noch einmal eine Schüssel Haferbrei,mindestens 400 g, und sogar Fett darauf. Auch dieses ver-schwand im Nu, ohne daß ich satt wurde, obzwar ich mich vollfühlte. Zuletzt blieben die großen Kessel zum Waschen, und daentdeckte ich eine freudige Überraschung! Unten in denKesseln war eine mindestens fingerdicke Schicht Haferbreiangeklebt. Als ich die zwei Kessel ausgekratzt hatte, waren davier Schüsseln mit Breiansatz.

Das Glücksgefühl wollte mein Herz zersprengen. Drei trug ichbehutsam in ein Versteck, und an der vierten ergötzte ich mich,wurde aber noch immer nicht satt. Es bedurfte der letztenWillenskraft, nicht noch mehr zu essen. Überglücklich ging ichmeiner Arbeit nach, als ich die Stimme des Narjadschik(Lagerbeamter) hörte. Er las Namen vor und sagte, dieVerlesenen sollten sich sofort mit ihren Sachen fertig machenzum Etap. Mir wurde ganz unheimlich zumute. Ich hatte eineböse Ahnung. Da hörte ich laut meinen Namen rufen. Icherschrak, obwohl ich es doch schon geahnt hatte. Mein Herzklopfte! Sollte das nun das Ende meines Glücks sein?

Ich hätte mich melden sollen, ich brachte es aber nicht fertig,als ob ich mit dem Schweigen das Schicksal ändern könnte.»Wo ist er?« fragte der Narjadschik ungeduldig. Jemand sagteihm, wo ich sei, und im nächsten Moment stand er schon vormir und rief ungeduldig: »Epp, sofort fertigmachen zum Etap!«In meiner Angst fiel mir ein, daß ich unter der Geschirrstallagenoch meine drei Schüsseln mit Brei hatte. Ich eilte hin und woll-te schnell den Brei essen, aber der Mann schrie mich an:»Genug jetzt, es ist keine Zeit mehr, der Konwoj wartet schonam Tor!« Er packte mich und schob mich zur Tür hinaus.

Wir waren nur sieben Häftlinge, die weggeschickt wurden,und alle mit Gruppe vier, also nicht arbeitsfähig. Wir konnten

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uns das nicht erklären. Wir wurden nicht zur Bahn gebracht,sondern tiefer in den Wald zum neuen Lager Nr. 16. Der Wegdorthin war für mich wie ein Märtyrerweg. Warum? Warumnahm Gott mich vom vollen Eßnapf wieder fort, wo ich doch solange gehungert und gelitten hatte? Mit meinen Dankgebetenwar es wieder vorbei. Ich konnte Gott nicht verstehen! Mitschweren Gedanken erreichte ich das Lager Nr. 16.

Ich mußte mich wundern, wie gut ich die acht Kilometerbewältigt hatte. Kaum hatte ich einige Tage geruht und bessergegessen, und schon fühlte ich, daß ich mehr Kraft hatte. DieUnmenge Haferbrei, die ich am Morgen gegessen hatte, hatteanscheinend meine Kraftreserven aufgebaut.

Das Lager Nr. 16 war ganz neu und sah noch wild aus. DieTannen und Fichten waren zwar abgesägt, aber dieBaumstümpfe standen noch alle. Es lag auch viel Schnee aufdem Gelände - kein einladender Anblick...

Vor dem Tor nahm uns der Wachtposten in Empfang:Namen... Akten... und dann wurde das Tor geöffnet. Dort emp-fing uns der Narjadschik, und zu meiner Überraschung war esein Bekannter von mir mit Namen Smirnow. Er war ein ehema-liger Untersuchungsrichter, der jetzt, in Ungnade gefallen, auchins Lager kam. In einem anderen Lager erkannte ihn einVerbrecher, welchen Smirnow einst im Verhör gehabt hatte.Dieser rächte sich an ihm, indem er ihn tüchtig verprügelte.Smirnow entkam schließlich und flüchtete in dieKulturabteilung, wo ich Aufräumer war. Ich versteckte ihn dannlängere Zeit.

Ein Narjadschik hatte im Lager großen Einfluß. AlleGefangenenlisten waren in seinen Händen. Er sprach mit, wenndie Brigaden aufgestellt wurden. Also schöpfte ich ein wenigHoffnung. Aber ich hatte mich getäuscht. Er tat so, als ob ermich überhaupt nicht kannte. »Folgt mir«, sagte er nur. Dannführte er uns in die neue Baracke, verteilte uns in denAbteilungen und sagte: »Ihr werdet den nächtlichenDnjewaljnej machen.« Das heißt aufpassen, daß nachts nichtgestohlen wird; zudem morgens dem eigentlichen Dnjewaljnejhelfen, die Baracke zu säubern. Also dafür hatte man uns her-geholt. Gesetzlich hatten sie kein Recht dazu, denn wir warenInvaliden der vierten Gruppe, arbeitsunfähig. Aber im Wald galt

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das Gesetz der Tajga! Wer würde sich um ein paar verhaßtepolitische Häftlinge kümmern, und dazu noch um einenDeutschen?!

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Lager Nr. 16

Nachdem mir nun diese nächtliche Verantwortung aufgetragenwar, erfuhr ich, daß in diesem Lager viele Verbrecher waren,die nachts Karten spielten und die müden Schlafenden beraub-ten. Unlängst waren diese Verbrecher nachts gekommen undhatten den Wächter mit dem Messer bedroht, ihn in eine Eckegesetzt und ihm zu schweigen geboten, während sie stahlen.Morgens wachten die Arbeiter auf, und dem einen fehlten dieHosen, dem anderen die Schuhe. Aufgeregt waren sie über denWächter hergefallen und hatten ihn furchtbar geschlagen, weiler nicht aufgepaßt hatte. Er fürchtete sich aber die Diebe zu ver-raten, denn sie drohten ihn zu töten. Diese Nachricht war janicht gerade erfreulich, denn ich sollte ab jetzt Wächter sein.

Nachts, als alle Arbeiter schliefen, saß ich, grübelte übermeine neue Lage nach und faßte einen festen Entschluß, daß ichdiese Nacht noch wachen und auch morgens den Dnjewaljnejhelfen würde, den Raum zu säubern, dann aber würde ich michabmelden und nicht eine Nacht länger wachen. Denn ich wolltenicht ständig in Gefahr leben. Ich wußte, daß man Invalidennach dem Gesetz nicht anstellen durfte, und darauf würde ichmich berufen. Ich wußte das von Oberleutnant Mojsejew.

So tat ich’s dann auch. Ich sagte dem Dnjewaljnej, daß ichnicht mehr kommen würde. Dann nahm ich meine wenigenHabseligkeiten und ging ins große Zelt. Zu meinem Glück wardort Platz für mich, und ich legte mich schlafen, in Erwartungder Dinge, die kommen sollten. Daß ich nicht so ohne weiteresmit meinem Streik davonkommen würde, war mir klar. Dochich hoffte, wenn ich mich weigerte, würden sie mich zurückzum Lager Nr. 9 schicken.

Am Nachmittag kam Smirnow ganz aufgeregt zu mir. Erwurde ziemlich laut: »Sofort gehst du wieder zurück, sonst

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melde ich es dem Narjadschik!« Ich blieb bei meinem »Nein«und betonte immer wieder, daß er nicht das Recht habe, michanzustellen! Ich ging nicht. Wütend ging er fort. Zwei Tage ver-gingen. Anscheinend hatte ich gewonnen. Als aber die anderensechs, die mit mir hergekommen waren, erfuhren, daß ich nichtmehr wachte und ich in Ruhe gelassen wurde, streikten sieauch. Das kam dem Chef zu Ohren, der schließlich ganz außersich war. Smirnow hatte auch gemeldet, wer der Urheber diesesStreiks war.

Am Abend mußten wir alle in sein Arbeitszimmer kommen.Ich hatte Furcht und war fast bereit zu kapitulieren. Dann stan-den mir aber wieder die Bilder vor Augen, wie ich als Wächtervon den Banditen mit Messern bedroht würde. »Nein«, sagteich mir, »der Chef ist nicht so gefährlich wie jene Bestien. Mehrals schreien und mich in den Isolator werfen wird er nicht!«Und das kannte ich ja schon; zudem war der Isolator hier nochnicht fertig.

Vor der Tür des Narjadschik sammelten wir uns alle sieben.Dann klopften wir außergewöhnlich nett an die Tür. Mein Herzpochte, und ich weiß, daß es den anderen nicht anders ging.Dann traten wir ein. Ich wußte es so einzurichten, daß ich alsLetzer hineinging. Wir mußten uns in einer Reihe vor ihm auf-stellen, und ich war der Letzte auf der linken Seite. Dann finger an, uns zu verspotten, ungefähr mit diesen Worte: »Seht ein-mal die Herrschaften; sie wollen es sich bei uns gemütlichmachen!« Aber bald kam er in Schwung: »Was!« schrie er,»meint ihr vielleicht, ihr seid hier zur Erholung? Arbeiten wer-det ihr bis ihr verreckt. Ihr Vaterlandsverräter!« Seine Redewürzte er noch mit den gemeinsten russischen Flüchen. Dannschrie er: »Ich schicke euch dorthin, wo es nur weiße Eisbärengibt, wenn es euch hier nicht gefällt!«

Dann sprach er uns einzeln an, absichtlich mich zuletzt, denner hatte schon gemerkt, daß sein Schreien und Fluchen michnicht rührte. Mein Gesichtsausdruck war ihm nicht entgangen,deshalb zog er es vor, mich als Letzten zu fragen. Und so wand-te er sich dann an den Ersten: »Pojdjosch?« (Gehst du?) -Antwort: »Ja!« - Darauf an den Zweiten und Dritten: »Gehst duarbeiten?« - Antwort: »Ja!«, und wer »Ja« gesagt hatte, durftegehen. Ich stand jetzt allein. Da schrie er mich an: »Pojdjosch!«Nein, sagte ich mit Bestimmtheit, er solle mich ins Lager Nr. 9

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schicken! - »Was«, schrie er, »du wirst hier verfaulen, aberzurückschicken werde ich dich nicht! Hinaus, ekelhafteFratze!« Dann wollte er mir einen Fußtritt geben, aber ich, derInvalide der vierten Gruppe, machte plötzlich so eine schnelleBewegung in Richtung Tür, daß der Fußtritt daneben ging.Dann kehrte ich zurück in mein Zelt und legte mich hin. MeinKopf wirbelte von Gedanken.

Ich hatte zwar standgehalten, war aber gar nicht glücklich.Wie würde es weitergehen? Ich glaubte nicht, daß der Chef sichmit seinem Mißerfolg zufriedengeben würde. Er hatte ja genü-gend Möglichkeiten, sich an mir zu rächen. Aber die Nacht ver-ging, und der neue Tag brach an. Ich holte mir meine Frühstückvon der Küche. Das war ein 2,5 Meter hohes Häuschen, provi-sorisch erbaut. Darin waren zwei größere Kessel aufgestelltworden und ein paar Stellagen eingebaut. In dieser Küche ent-deckte ich wieder ein bekanntes Gesicht. Mit dem Mann hatteich vor einem Jahr zusammen gearbeitet. Ich erzählte ihmmeine Lage und bat ihn um Arbeit in der Küche. Er willigte ein.Am nächsten Morgen sollte ich um fünf Uhr kommen, umKartoffeln zu schälen.

»Das Glück ist mir doch wieder zugetan!« dachte ich. Ich warplötzlich wieder froh und dankbar und konnte kaum denMorgen abwarten. Pünktlich um fünf Uhr war ich in der ausBalken erbauten Küche. Stjepan, so hieß der Koch, bediente unsmit einer Schüssel Brei, und los ging die Arbeit. Ich hatte eswieder geschafft, an den Fleischtopf Ägyptens zu kommen.

Als die Brigaden gefüttert und wir fast mit der Arbeit fertigwaren, trat plötzlich der Chef des Lagers in die Küche. Michüberlief es heiß und kalt! »Wie kommst du hierher?« sagte er.»Nun aber hinaus, und zwar schnell! Daß ich dich hier nichtwieder erblicke!« Ich erhob mich und verließ die Küche. Ichhörte noch wie er zu Stjepan sagte: »Wenn du Epp noch einmalArbeit gibst, fliegst du aus der Küche, verstanden?« Sehr guthatte Stjepan verstanden. Ihm war sein Platz teuer. Er getrautesich später nicht einmal, mir eine vollere Kelle Suppe zu geben.

Ich verließ die Küche mit gesenktem Haupt. All meineHoffnung hatte sich zerschlagen. »Gott warum?« - Allmählichberuhigte und tröstete ich mich, daß ich ja nicht zur schwerenArbeit in den Wald mußte. Ich merkte mit der Zeit, daß ich trotz

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allem Grund zum Danken hatte! Es war schon Ende März undimmer noch kalt, aber ich brauchte nicht zur Arbeit! Das Zeltwar nachts von innen ganz mit Reif bedeckt von all denAusdünstungen. Morgens, wenn der Eisofen wieder tüchtiggeheizt wurde, tropfte es von dem Zeltdach, so daß die Kleidernaß wurden. Trotzdem mußten die Arbeiter hinaus, und ichGlücklicher durfte drinnen bleiben. Wenn nur der Hunger michnicht so gequält hätte, wäre es leichter gewesen, denn eineMittagsmahlzeit stand uns in der vierten Gruppe nicht zu.

So verging der März, und der April brachte schon hier und daTauwetter. Das Zelt wurde trockener und angenehmer. EinesTages kam Smirnow zu mir, ganz freundlich, und fragte, ob ichnicht den Schneidern nachts helfen wolle, Kleider, besondersHandschuhe, zu flicken? Er sagte, die seien nicht hungrig, hät-ten zusätzlichen Verdienst und würden mich mit Essen unter-stützen.

»Wenn es was zu essen gibt, bin ich dabei.« Und so wurde ichFlickschneider. Ich erlernte die Flickarbeit ziemlich schnell undübernahm fast die ganze Arbeit, während die Schneider aller-hand für die Freien nähten. Dafür bekam ich oft eine Suppe oderBrei, den sie stehenließen.

Hier begann mein langsamer Aufstieg. Seit dieser Zeit bin ichnie mehr so ganz heruntergekommen. Es wurde langsamFrühling, der hier im Norden erst im Mai beginnt. In dieser Zeitwar die zweite Baracke fertig und auch die Banja (Badeanstaltund Wäscherei). Es kamen sofort mehr Häftlinge hinzu. DerBau einer Bäckerei wurde begonnen. Bis jetzt wurde das Brotnoch im Lager Nr. 9 gebacken. Unter den vielen Neuen, die hin-zukamen, waren selbstverständlich auch wieder Verbrecher,und der Sklad (Lagerhaus, wo Lebensmittel und Kleider aufbe-wahrt werden) sollte auf jeden Fall bewacht werden. Der Skladwar auch fertig geworden. Die Bauten waren alle ausBaumstämmen hergestellt. Die eine Seite des Balkens wurdemit dem Beil ein wenig ausgehöhlt und auf den andern Stammgelegt. Zwischen den Balken legte man Moos. Das Dach wurdemit selbst fabrizierten Schindeln gedeckt. Es wurde gebaut mitdem, was in der Nähe war. Es ging verhältnismäßig schnell, undso kam es dann, daß Smirnow, der Narjadschik, mal wieder zumir kam und mich fragte, ob ich nicht das Wächteramt am Skladübernehmen und dem Verantwortlichen, wenn nötig, nebenbei

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Hilfe leisten wolle. Begeistert sagte ich zu. Denn wenn man inder Nähe der Nahrungsmittel ist, bröckelt bestimmt auch malwas für einen ab. Im Lager wurde auch noch 1949 nur vomEssen gesprochen und nachts geträumt.

So wurde ich dann Wächter. Aber der Verwalter desVorratslagers hatte sich schon einen anderen Gehilfen besorgt.Es war einer von denen, die mit mir hierher gekommen waren.

Eines Abends kam dieser Mann und bat, ich solle ihm helfen,das Brot für die Arbeiter zum nächsten Tag auf der Waage zuverteilen. Das hieß, Portionen zu je 550 g vorzubereiten. Ichsagte gelassen »Ja«, aber mein Herz jauchzte, daß ich michkaum beherrschen konnte.

Als wir etwa um ein Uhr mit der Arbeit fertig waren, sagte er:»Ich kann dir kein Brot geben, denn ich habe zum ersten Maldas Brot selbst gewogen, und ich weiß nicht, ob es reicht, aberdie Krümchen kannst du alle haben.« Ich wischte die Krümchenin meine Mütze, und sie wurde fast voll. Überglücklich ging ichauf meinen Wächterplatz vor der Tür zurück. Es dürften wohlannähernd ein Kilogramm Krümchen gewesen sein. Dann gabes einen Festschmaus. Die Bitte »Unser täglich Brot gib unsheute« habe ich in den vielen Jahren des Hungers verstehengelernt. Ob man sie heute noch versteht?

Kurz nach diesem Fall wurde der Verwalter des Proviantlagersseines Postens enthoben und weggeschickt. Die Ursache warganz einfach. Er war wohl Häftling, hatte aber einenPassierschein, mit dem er sich von sechs Uhr morgens bis achtUhr abends frei bewegen durfte. Er verstand es, seine Situationauszunützen, und trieb Handel. Das Geschäft hatte er mit demLagerchef gemeinsam. Es kam so weit, daß sie zusammenTrinkgelage hielten (es war strengstens verboten, mitHäftlingen irgendeine Gemeinschaft zu haben). Bei so einemTrinkgelage waren diese beiden, wie es oft vorkommt, in Streitgeraten, und der Verwalter hatte seinen Vorgesetzten, denLagerchef, einen Offizier, verprügelt! Der verprügelte Chefhätte den Verwalter gerne vor Gericht gebracht, mußte aberschweigen, weil man dann auch ihn entlarvt hätte.

Ein Neuer wurde angestellt. Der neue Verwalter war alsSchneider tätig gewesen und verstand von dem ganzen Kramnichts. Schon im ersten Monat gab es einen Überschuß an Mehl,

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aber Öl, Fleisch und die eingesalzenen Heringe reichten nicht.Er flehte, man solle ihn wieder in die Schneiderei zurücklassen,denn er hatte nur noch ein Jahr zu sitzen, und er fürchtete eineneue Gerichtsverhandlung und Verurteilung. Man hat ihn danntatsächlich abgelöst.

Ich wurde immer stärker und fühlte mich schon viel besser.Dennoch war meine Stimmung getrübt, denn mit der Zunahmemeines Gewichts näherte sich wieder der Zeitpunkt, in denWald geschickt zu werden. Die früheren bösen Erfahrungen hat-ten mir einen heillosen Schreck vor der Waldarbeit eingejagt!

Es muß aber erwähnt werden, daß die Waldarbeit in diesemLager leichter war als in den vorherigen Lagern, weil dieHöchstentfernung bis zum Arbeitsplatz 500 Meter betrug,gegenüber den dortigen Entfernungen von vier, mit Ausnahmensogar zehn Kilometern. Zudem hatte das Brot eine bessereQualität. Es war nicht mehr wie in den ersten Jahren aus unge-siebtem Haferschrot. Der Hafer- oder Gerstenbrei war nichtmehr ganz so wässerig wie früher. Es war aber immer noch zuwenig, besonders für einen ausgewachsenen Mann, um mit die-ser Kost bei Kräften zu bleiben. Es gab auch schon täglich eini-ge Gramm Fleisch oder Fisch. Das Fleisch war vorwiegendSeehundfleisch. Was fehlte, waren Fett und Zucker. Ich glaube,wir bekamen nur zehn Gramm Fett, und Zucker, wenn ich nichtirre, 16 Gramm pro Tag. Den Zucker bekamen wir einmalmonatlich. Wenn wir in der Reihe nach Zucker standen, lauer-ten die Wore den Leuten auf und beraubten sie. Wenn es gelang,heil mit dem Zucker davonzukommen, gingen gerade die, dieden Zucker am nötigsten brauchten, zu den Satten (Ärzten,Sanitätern, Köchen, Bäcker, Büroarbeitern usw.) und tauschtenden Zucker gegen ein Stückchen Brot. Auch ich habe es ständiggetan, solange mich der Hunger quälte.

Der Verwalter des Verpflegungslagers wurde also wiederzurück in die Schneiderei versetzt, denn er war ein guterSchneider. Er war ein Baptist, dem man zehn Jahre wegenKriegsdienstverweigerung gegeben hatte.

Zu seiner Ablösung wurde ein Jude eingesetzt, der ein erfah-rener Lagerverwalter war. Bei der Übergabe sagte er: »Wenn ihrmir ein wenig Zeit laßt, übernehme ich die Defizite und bringesie allmählich in Ordnung.« Er tat es aus Mitleid mit seinem

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Vorgänger, denn dessen Lage war kritisch. Dem Gesetz nachwar er reif für das Gericht. Der verantwortliche Chef fürErnährung und Kleidung war aber ein guter Mensch, der auchschon die Verbannung kannte. Er wollte auf keinen Fall, daß derfrühere Lagerverwalter Unannehmlichkeiten bekäme, und ergab dem neuen Verwalter Zeit, alles einzurenken.

Bei der Inventur aller Lebensmittel hatten sie mich zu Hilfegeholt. Der Neue interessierte sich sehr dafür, wo ich herkom-me. Es stellte sich heraus, daß er direkt aus Saporoshje stamm-te, wo ich geboren war. Obwohl er Jude war, zeigte er keinenHaß gegen die Deutschen. Jedenfalls war er froh, so einenWächter und Gehilfen hier angetroffen zu haben. Ich meiner-seits war bestimmt noch weit froher als er, daß er mir solchesVertrauen entgegenbrachte, denn davon hing viel für mich ab.

Er bat mich, sofort am nächsten Tag nachmittags zu ihm in denSklad zu kommen, um zu helfen. Ich ging mit Begeisterung hin.Unsere erste Arbeit war, einige Eimer Wasser in alle Fässer mitgesalzenen Fischen hineinzugießen. Die Fische verlieren beitrockenem Wetter an Gewicht. Dieser Feuchtigkeitsverlust mußaufgeholt werden.

Am zweiten Tag gossen wir das Wasser wieder ab und prüftendas Gewicht auf der großen Waage, Faß für Faß, und in der Tat,das Gewicht war ganz anders. Das Wasser, welches wir hinzu-gossen, wurde entsprechend gesalzen und gekocht. Jedenfallshatte der Lagerverwalter alles verhältnismäßig schnell wiederim Griff. Ich mußte staunen, was für ein Vertrauen er zu mirhatte. Ich wurde seine rechte Hand, und abends, wenn dieKöche die Lebensmittel für den nächsten Tag holten, bedienteich auch die Waage. Er gab mir oft ein wenig Hafer- oder sogarHirsegrütze, so daß ich immer ein zusätzliches Abendbrotkochen konnte.

Zu dieser Zeit kam mit vielen anderen Peter B. in unser Lager,der auch Plattdeutsch sprach. Jetzt konnten wir unsere liebeMuttersprache sprechen! Mit ihm teilte ich dann auch gerne denBrei, den ich abends kochte. Er arbeitete am Bau. Beim Bau wares immer noch leichter als beim Bäumefällen, wo man dieschweren Stämme tragen mußte. Es war mein Wunsch, wennich wieder zur Arbeit mußte, zum Bau zu kommen. Im Lagerentstanden in dieser Zeit zusätzliche Baracken. Die Bäckerei

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war fast fertig. Die Krankenbaracke wurde begonnen, und - dieHauptsache für uns! - die Küche mit großem Eßsaal wurde fer-tig. Die kleine provisorische Küche wurde abgebrochen.

Meine drei Monate als Invalide gingen zu Ende. Meine Tagewaren zu gut gewesen! Die Ärztekommission berichtete mirfreudig, daß ich nun der zweiten Kategorie zugeteilt werde.Dies war wirklich ein Grund zur Freude, daß ich wieder Menschgeworden war, aber die Furcht, erneut den Weg bis zur viertenKategorie hinunterzumachen, lastete auf meinem Gemüt.

Ich wurde nicht der Baubrigade zugeteilt, sondern der Brigadeder Holz- und Stämmeverlader. Diese verrichtete die schwersteArbeit. Die ersten Tage waren besonders hart, sie brachten mirMuskelschmerzen, bis ich’s gewöhnt war, und als ich esgewöhnt war, fühlte ich schon, wie die Kräfte nachließen undder Hunger bei so anstrengender Arbeit mich quälte. Die Arbeitund die frische Waldluft gaben mir einen riesigen Appetit, unddem entsprach die Kost nicht. Zum Glück war der Verladeplatz,wo wir arbeiteten, nahe am Lager. Wenn der harte Arbeitstag zuEnde war, hatten wir nur zehn Minuten zu gehen. Wenn es auchschwer war, so war ich doch froh, daß ich hier war. Ich hatteinzwischen schon viele Bekannte und Freunde kennengelernt.

EinesTages erzählte mir Peter B., daß in der Baubrigade Malerzum Weißeln gebraucht würden und sie keine hätten. Wie einBlitz funkte diese Nachricht in meinem Gehirn! »DieseGelegenheit mußt du nützen!« Ich war kein Maler von Beruf,aber als ich vor dem Kriege noch Brigadier der Schweinefarmim Heimatdorf gewesen war, mußten wir immer selbst denSchweinestall mit Kalk weißeln. Ich wußte auch, wie manPinsel aus Binsensäcken macht. Aber wie sollte ich es anstellen,wo anfangen? Zum Lagerchef konnte ich unmöglich gehen, derwar nicht gerade mein bester Freund. Ich entschloß mich,Wesotzky anzusprechen; man sagte, er sei ein guter Mensch. Erwar Bauingenieur und Leiter aller Bauprojekte. Er besaß aucheine Passierschein, der von sechs Uhr morgens bis acht Uhrabends gültig war.

Jeden Tag nach der Arbeit wollte ich aufpassen, um ihm auf-zulauern. Es dauerte auch nicht lange. Am zweiten Tag standich unweit des Lagerortes und spähte nach ihm aus, da wurdedie Pforte geöffnet, und Wesotzky trat ein. Mein Herz pochte

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sofort gewaltig, und der Mut wollte mich verlassen! MeinSchicksal konnte jetzt eine gute Wendung nehmen, wenn ichihn ansprach. Wenn ich es heute nicht tue, ist morgen der Platzvielleicht schon von einem anderen besetzt, sagte ich mir. Ichriß mich zusammen, und als er mich erreicht hatte, sprach ichihn an. Er blieb stehen, betrachtete mich und hörte geduldig zu,was ich zu sagen hätte. »Ich bin in einer üblen Lage«, sagte ichund schilderte kurz meinen Zustand. »Ich habe jetzt erfahren,daß auf dem Bau Maler gebraucht werden.«

»Sind Sie Maler?« fragte er. Ich brachte es nicht übers Herz zulügen und sagte nein, aber ich hätte eine kleine Ahnung davonund erzählte getreu, inwieweit ich das Weißeln kannte. Daraufsagte er: »Wir brauchen eigentlich vielmehr Stukkateure(Putzer). Bei uns wird erst geputzt, und dann weißeln sie esauch selbst.« Ich erschrak ein wenig, sagte dann aber schnell,eine kleine Ahnung hätte ich ich auch davon, ich sei eineZeitlang Handlanger bei Putzern gewesen und verstehe, denSpeis für den Putz zuzubereiten. Was ich sagte, war dieWahrheit. Ich fügte noch hinzu, ich würde mir Mühe geben, dasPutzen zu erlernen. Darauf fragte er, ob ich ein Balte sei.

»Nein,« sagte ich, »schlimmer!«»Wieso schlimmer?« meinte er.»Ich bin ein Fritz.«Er lächelte und sagte dann: »Das ist nicht so schlimm.« Dann

notierte er meinen Namen auf einem Block und ging davon.Er hatte mir nichts versprochen. »Da ist wohl wenig

Aussicht«, dachte ich ganz betrübt.Am nächsten Morgen, bevor wir zur Arbeit gingen, kam der

Narjadschik, jetzt nicht mehr Smirnow, sondern ein Orlow, undrief in die Baracke hinein: »Wer ist Epp?«

»Ich!« rief ich.»Du gehst nicht mit deiner Brigade hinaus! Du bleibst im

Lagerterritorium und bist der fünften Baubrigade zugeteilt!«Jetzt hätte ich eigentlich jauchzen müssen - so schnell hatte icherreicht, was ich mir immer gewünscht hatte! Aber ich konntemich nicht so richtig freuen. Was für einen Maler würde ichabgeben? Erst eine Blamage und dann vielleicht wieder mitSchande zurück in die Brigade?!

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Aber ich mußte jetzt in den womöglich sauren Apfel beißen.So ging ich denn mit gemischten Gefühlen zum Bauplatz. Eswurde gerade eine neue Baracke angefangen. Also, Löcher gra-ben für die Pfosten, sagte ich mir. Ich war getröstet; zu grabenverstand ich ja. Ich nahm, ohne viel zu fragen, einen Spaten,ließ mir einen Platz zeigen und begann, feste zu graben. MeinMut stieg, mein Herz jauchzte plötzlich! Da kam der BrigadierKostja und fragte: »Wo ist der Neue?« Ich meldete mich. Erkam zu mir und lachte, indem er sagte: »Aber, lieber Mann,diese Arbeit ist für dich viel zu gering. Dazu haben wir dichnicht genommen. Wir brauchen dich als Maler und nicht zumGraben! Laß den Spaten liegen und geh zur Küche, dort werdetihr Fenster färben. Wesotzky wartet schon auf dich.« Fensterfärben war für mich auch nichts Neues; das hatte ich zu Hausean meinem eigenen Häuschen praktiziert. Als ich hinkam, warschon ein Maler dort, wohl nicht ein besserer als ich. Wesotzkymischte uns selbst die Farben und erklärte, wie wir anstreichensollten, und los ging die Arbeit. Ich wußte nicht, wie mir ge-schah! Gestern war ich noch unter den schweren Baumstämmenso mutlos gewesen, und heute führte ich den leichtenFarbpinsel. Kein Schimpfen und Antreiben! Ich konnte dem lie-ben Gott wirklich von Herzen danken!

Es bewahrheitet sich immer wieder das russische Sprichwort:»Die Welt ist nicht ohne gute Menschen.« Wesotzky selbst undauch sein Gehilfe, der Bauleiter, waren gute Menschen, dieselbst böse und schwere Erfahrungen gemacht hatten und jetztgroßes Verständnis für uns aufbrachten. Sie waren sehr bemüht,daß keiner auf Strafration käme.

Zur gleichen Zeit, als ich mich als Maler bewarb, hatte sichauch ein junger Bursche mit Namen Mustjin als Maler undOfensetzer gemeldet. Wenn ich schon wenig von der Sache ver-stand, so verstand er nichts davon. Er hatte es sich so gedacht,daß er mit den anderen Ofensetzern zusammenarbeiten würde,und mit denen hatte er schon alles besprochen, sie würden ihmhelfen und ihn anlernen.

Aber es kam anders, als er geplant hatte. Ich glaubte michnicht zu irren, daß der Bauleiter es so einrichtete, daß Mustjinund ich abgesondert zeigen sollten, was wir konnten. Es war einEintrittsexamen, um unsere Fähigkeiten festzustellen. EinigeTage hatte ich nun schon meine Arbeit zur Zufriedenheit mei-

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ner Vorgesetzten gemacht, als es hieß: »Epp, du gehst morgenmit dem neuen Ofensetzer hinaus in das Haus des Lagerchefs,das für ihn gebaut worden ist. Die Decken sind schon verputzt,die wirst du weißeln, und Mustjin wird den Ofen nachsehen.Der Ofen hat ganz schlechten Zug. Wenn Mustjin fertig ist,wird er dir helfen.«

Mustjin kannte ich persönlich sehr gut. Ich hatte noch im vori-gen Lager Nr. 9 mit ihm zusammen Bäume gefällt. Seinetwegenmußte ich einmal unschuldig im Isolator übernachten. DieBrigaden dort wurden immer zu drei Personen eingeteilt. Zudritt fällten wir dann Bäume. So arbeitete ich längere Zeit mitMustjin und Wassiljew zusammen. Ich erinnere mich nichtmehr, was die Ursache war, jedenfalls gerieten Mustjin undWassiljew in Streit wegen einer Kleinigkeit. Ich wollte Friedenstiften, aber vergebens, sie wurden immer heftiger. Mustjinsetzte sich auf einen gefällten Baum und arbeitete nicht mehr,es half kein Reden. Wassiljew erklärte schließlich: »WennMustjin nicht arbeitet, mach’ ich auch nichts mehr.« All meineRedekunst schlug fehl. Ich blieb allein und tat, so viel ich konn-te, aber allein geht das nicht gut. Schließlich kam der Leiterunserer Waldarbeit des Wegs und fragte, was los sei, warum sienicht arbeiteten. Auch sein Versuch, im Guten und mit Drohen,war vergebens. Sie hockten wie zwei sture Ochsen da.

Abends, als ich schon schlief, wurde ich plötzlich grob vomLagerkommandanten und einem Gefängniswärter geweckt.»Steh auf!« hieß es. »Du gehst in den Isolator!«

Ich traute meinen Ohren nicht und sagte: »Wofür? Das ist einMißverständnis! Ich gehe nicht mit!«

»Was!« rief einer, »du gehst nicht?« Und schon packten siemich an den Füßen und schleppten mich vom Bett. Es warenDoppelbetten, und ich lag im oberen Stock. Wie ein Sack fielich hinunter. Dann wurde ich gezerrt und mit Schimpfenvorangestoßen.

Im Isolator angekommen, öffnete der Gefängniswärter eineZellentür und stieß mich hinein. Es war finster drin, ich konntenichts sehen und trat jemanden auf die Füße. Der sagte:»Kannst du nicht ein wenig vorsichtiger sein?«, und ich erkann-te Mustjins Stimme. »Auch Wassiljew ist hier«, sagte er.

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Die Zelle war wieder Mann an Mann voll. An normalesSchlafen war nicht zu denken. Mustjin erzählte, abends habeman ihn zum Chef gerufen, und er habe gesagt: »Ich habe dortnicht zu suchen, wenn er mich braucht, soll er zu mir kommen.«Als der Laufbursche dem Narjadschik diese Nachricht brachte,habe er geschrien: »Die ganze Sweno (Dreimanngruppe) in denIsolator sperren!« Und so kam auch ich dran.

Am nächsten Tag wurden Mustjin und ich zum Tor herausge-lassen. Der Bauleiter selbst brachte uns zum Haus desLagerchefs. Ich hatte einen Eimer voll gelöschtem Kalk, einenPinsel und einen zweiten Eimer mitgebracht und begann denKalk zu verdünnen. Da trat Mustjin an mich heran und fragte:»Peter, hast du eine Ahnung von Öfen? Ich habe nie einen Ofengelegt und auch nie gesehen, wie man es macht.«

»Leider kann ich dir nicht helfen, denn ich verstehe davonauch nichts.«

»Oh, Jammer«, sagte er »jetzt bin ich in der Patsche. Wenndoch Kostja irgendwo zu sehen wäre, daß er mir einen Ratgeben könnte.«

Ich baute mir das Gerüst und begann mit dem Weißeln,während er sehnsüchtig nach Kostja ausschaute. Dann betrach-tete er wieder den Ofen und jammerte, bis plötzlich derLagerchef vor ihm stand. Mustjin erschrak vollends! Wenn derNarjadschik jetzt erfuhr, daß er kein Ofenbauer war, würde erihn unverzüglich zurück in die Waldbrigaden überführen lassen.Der Chef sagte: »Na, wie sieht’s aus, wird der Ofen ziehen?«

»Wird alles gemacht, Bürger Narjadschik!« antwortete er mitselbstsicherem Ton und rührte den schon fertigen Lehm mitgroßem Eifer. Der Chef schaute noch eine Weile zu und gingschließlich weg. »Das ist noch einmal gut gegangen! Aber wasmache ich bloß weiter?« Plötzlich schrie er aus Verzweiflung:»Kostja, Kostja! Komm doch bitte her!«

Und siehe da, Kostja kam. »Was ist los? Warum schreist du sofurchtbar?«

»Kostja, bitte hilf, sonst bin ich verloren«, sagte er. Dannerzählte er ihm alles.

»Ich kann mich nicht lange aufhalten, aber einen Tip will ichdir geben!« Schnell öffnete er den Ofen an einer Stelle und ent-

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deckte auch sofort die Ursache, erklärte eilig, was er tun solleund wie er alles wieder schließen müsse. Und weg war er.Mustjin war aufs erste gerettet. Er tat alles nach KostjasAnweisung, und der Ofen funktionierte wirklich gut. Aber dieArbeitsstelle sah furchtbar aus. Ich kritisierte ihn und erinnerteihn daran, er solle nicht vergessen, daß hier der Narjadschikwohnen wird. Es müßte schöner aussehen, aber Mustjin wardurch den ersten Erfolg schon wieder der Alte.

Mit dem Malerhandwerk klappte es auch nicht. Die Deckenwaren ja nur mit Sand und Lehm verputzt, und der ersteAnstrich mußte ganz vorsichtig gemacht werden. Mustjin konn-te das nicht.

Am nächsten Tag mußten wir beide in der sogenannten Zone(Lagerterritorium) bleiben. Eine Baracke war fertig, und auchdie Decken waren verputzt. Vier große Abteilungen waren es,welche wir jetzt weißeln sollten. Bei dieser Arbeit war Mustjinfaul. Es hatte aber seinen Gund. Er hatte es fertiggebracht,nachts eine Stelle in der Bäckerei zu bekommen, und tagsüberschlief er dann. Er verdiente gutes Brot dabei, und zwar soviel,daß er damit andere bestach, wenn es nötig war. Kostja warauch einer von denen, deshalb seine große Hilfsbereitschaft.

Als wir dann ans Anstreichen kamen, hatte er erst kurze Zeitgearbeitet, als ihn die Müdigkeit quälte. »Ich leg’ mich einwenig schlafen, Peter«, sagte er, »paß auf, wenn jemandkommt.«

»Mustjin«, sagte ich, »das ist zu gefährlich; wenn du erwischtwirst, jagen sie uns am Ende beide wieder in den Wald!« Ichfühlte mich schon gar nicht sicher im Sattel, und jetzt hatte ichso einen ungemütlichen Partner bekommen. Doch Mustjin bliebMustjin, er hörte auf meine Warnungen nicht, suchte sich einPlätzchen, und im nächsten Augenblick schnarchte er schon.

Nicht allzulange hatte er geschlafen, als der Bauleiter plötzlichvor uns stand. Ich war, Gott sei Dank, bei der Arbeit, aber denschlafenden Mustjin hatte er sofort entdeckt. Er wurde nichtgerade sanft geweckt, und dann ging das Gewitter los. DerBauleiter hatte auch genügend Grund dazu. »Ich habe Geduldmit euch gehabt, und wie dankt ihr mir dafür?« Zuerst ging allesauf unsere beiden Köpfe nieder, dann aber kam derHauptangriff direkt auf Mustjin. »Was hast du gestern beim

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Narjadschik zusammen gepfuscht! Furchtbar anzusehen, undjetzt schläfst du!« Und dann kam ein tröstliches Wort an meineAdresse. Er sagte: »Bei Epp sehe ich, daß er will, wenn auchnicht alles klappt, aber du...« usw.

Dann hieß es wieder: »Wenn ihr nicht bald was Bessereszustande bringt, fliegt ihr zurück in die Waldbrigaden!« Dieserletzte Spruch wirkte sogar auf Mustjin, nicht nur auf mich. DieFurcht vor früherem Leid war groß. Mustjin nahm die Sachevon da an ernster, jedenfalls war er vorsichtiger. Nach dieserBaracke, wo wir eine gute Übung im Streichen bekamen, hattenwir noch einmal eine schwere Erfahrung zu machen, als wirÖfen verputzen lernten. Es wollte nicht klappen. Der Bauleiterwar wieder nicht zufrieden. Zu wenig war, was wir gemachthatten, und zu schlecht.

Gut, daß der Ofen im Territorium des Lagers stand. So gingenwir beide nach dem Abendbrot noch einmal hin; er inBegleitung eines Berufsputzers, der seinen Öfen den letztenSchliff gab, und ich hatte einen guten Kameraden, der unlängstzu uns gekommen war. Er war von Beruf Maurer,Ofenspezialist und Putzer. Er half, meinem Ofen ein gutesAussehen zu geben, verputzte ihn bis zu Ende und gab mir nochgute Anweisungen, wofür ich ihm sehr dankbar war.

Dieser Freund war ein Westberliner. Er hatte versucht, seineSchwiegereltern in Ostberlin zu besuchen, kam auch glücklichhin, aber als er sich abends über die Grenze schleichen wollte,wurde er vom russischen Posten gefangen, ins Gefängnisgebracht und als Spion zu zehn Jahren Haft verurteilt. SeineFamilie und auch die Schwiegereltern wußten nicht, wo ergeblieben war. Sein Schicksal war weit schwerer als meines.Ich wußte immerhin, wo meine Familie war, und die Familiewußte von mir.

Morgens war der Bauleiter sichtlich erleichtert: »Das siehtschon anders aus. Jetzt habe ich eine besondere Arbeit füreuch«, und er führte uns in einen anderen Raum. In diesemRaum waren zwei große Kessel eingemauert, und die solltenschön verputzt werden. Von oben sollte der Stuck mit Zementverstärkt werden. Mit aller Geduld erklärte er uns, wie esgemacht wird, und ging dann, und wir beide blieben allein. Oh,wie tat es wohl, daß der Bauleiter so freundlich mit uns gespro-

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chen hatte! Die Hoffnung, in der Baubrigade zu bleiben, wurdegrößer. Aber würde es jetzt mit dieser neuen Aufgabe bei unsklappen? Wir waren uns beide einig, den Bauleiter nachMöglichkeiten zufriedenzustellen.

Der »Lehrgang« bei dem Westberliner hatte mir so viel gehol-fen, daß ich wußte, wie man schöne, gerade Ecken macht. Esfehlte wohl die Übung, aber langsam gelang es uns, die zweiOfen zu verputzen und mit Zement zu härten. Wir waren fastfertig, als der Bauleiter wieder kam: »Na, seht ihr, wenn ihrwollt, könnt ihr! Die Arbeit sieht gut aus, ihr seid schon fastprofessionelle Putzer. Jetzt habe ich doch Hoffnung, daß auseuch noch was wird!«

Nach Vollendung dieser Arbeit mußten wir mit der Brigadezum Bauprojekt außerhalb des Lagers, wo die neue Siedlung fürdie Freien gebaut wurde. Hier kamen wir wieder unter dieAufsicht unseres Brigadiers. Jetzt sollten wir lernen, mit Lehmund Sägespänen die Grundstukkatur zu machen. Der Brigadiersagte zu uns: »Helfer gebe ich euch keine, denn die könnt ihrnicht beschäftigen. Ihr werdet euch den Lehm selber zubereiten.Hier im Nachbarbau arbeiten die Berufsputzer, da geht hin undbefragt euch, wie man den Lehm zubereitet, und schaut euch an,wie sie den Lehm werfen, daß er an der Decke bleibt.« DasZuschauen, wie man es macht, war schnell getan, aber das dickeEnde kam zuletzt.

Wir brachten den Lehm auf das Gerüst und fingen an. So ein-fach, wie wir es bei den anderen beobachtet hatten, ging es abernicht. Wir warfen den Lehm zur Decke, aber er kam immer wie-der runter. Und weil wir unten waren, fiel uns der Lehm auf denKopf, ja oft ins Gesicht. Besonders viel blieb auf unserenSchultern hängen. Wir hatten uns auf diese Weise etwa zweiStunden abgemüht, als ein Feldwebel eintrat, der zukünftigeBewohner dieses Hauses. Es interessierte ihn zu sehen, wie dieArbeit vonstatten ging. An der Decke konnte er leider nicht vielerkennen, aber auf unseren Köpfen und Schultern! Mustjin setz-te sich schnell, als ob jetzt gerade unsere Pause wäre, und dreh-te sich mit Zeitungspapier eine Zigarette. Ich folgte schnellseinem Beispiel, wenn auch ohne zu rauchen. Wir wollten nichtzeigen, wie schlecht wir diesen neuen Beruf verstanden. DemFeldwebel entging aber nichts, und er lachte: »Na, bleibt nur

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ruhig sitzen, den Grad eures Berufes sieht man ja an eurenAchselstücken.« Dann ging er.

Es dauerte aber nicht lange, bis uns Lehmanfertiger zugeteiltwurden. Ja, wir durften sogar mitreden und brauchten nicht nurimmer Rügen hinzunehmen.

Im September mußten wir wieder im Lagerterritorium bleiben,während die Brigade hinausging. Acht Öfen waren in dieserZeit im Lager gelegt worden, und die sollten wir verputzen. Eswar eine herrliche Arbeit. Jedesmal, wenn ich an den Winter1948/49 zurückdachte, kam mich das Grauen an, und ich dank-te Gott für seine Führung. Ich hatte ja nicht zu diesem Lagergewollt und konnte Gott damals nicht verstehen! Aber Gotthatte alles bedacht und mir Menschen gesandt wie Wesotzkyund den Bauleiter, die es möglich machten, daß ich einen Beruferlernen konnte und somit fast mit Sicherheit nicht mehr in denWald brauchte.

Ich hungerte nicht mehr wie früher, hatte keine Strafrationenmehr zu befürchten und bekam täglich noch einen Zusatz fürÜberfüllung des Solls. Um wirklich satt zu werden, war esimmer noch zu wenig, aber arbeiten konnte man bei diesemEssen schon. Im Wald hätte ich aber auch bei dieser Speisenicht bestehen können. Wir hatten es wirklich gut!

Draußen wurde es immer kälter, und es regnete. Wir warenaber unter Dach und Fach. Wieder kamen mir die Erinnerungen,wie wir trotz Regen immer hatten arbeiten müssen; wie wir ein-mal im Regen, der in Schnee überging, Baumstämme auf derSchulter tragen mußten und wie das Schneewasser uns denRücken hinunterlief, so daß die Schuhe sich mit Wasser füllten.Und es gab doch kein Pardon! Jedoch kann ich mich nicht erin-nern, daß aus unserer Brigade damals jemand erkrankt ist. EinWunder - Gott schützte uns! Und jetzt hatte Gott mich ganz ausdieser schlimmen Lage befreit.

Es kam aber der Tag, an dem diese Herrlichkeit ein Ende hatte.Als wir mit all den Schornsteinen unten und oben fertig waren,ging ich morgens zum Brigadier, um Meldung zu machen undzu erfahren, wo wir nun hin sollten. Als er mich erblickte, sagteer nur, ehe ich zu Wort kam: »Ihr wißt euren Platz! Geht undmacht weiter!« Mir blieb meine Meldung im Halse stecken. Ich

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schwieg und ging zurück und erzählte Mustjin, wie es mirergangen war. Draußen war furchtbares Wetter.

Ich hatte aber Gewissensbisse; ich wußte, daß ich nicht rechtgehandelt hatte, indem ich schwieg. Mustjin wiederum war überalle Maßen froh und sagte: »Mach dir doch nichts daraus,komm schnell, laß uns zu unserem Arbeitsplatz gehen.« Ichfolgte, und so kletterten wir auf den Dachboden und gingenganz nach hinten, weiter ab von der Dachgiebeltür, und nistetenuns am Schornstein ein. Die Schornsteine waren alle warm,weil die Öfen geheizt wurden. Draußen wurde das Wetterimmer schlimmer. Die Temperatur sank fast auf Null, und derRegen ging in Schnee über. Wir schliefen beinahe den ganzenTag. Ich habe an diesem Tag viel gebetet und Gott gedankt. ObGott den Dank aber auch angenommen hat, bezweifle ich heute,denn diese Ruhe hatte ich mit ja mit des Teufels Hilfe gestoh-len. Es schien, als ob ich schon am nächsten Tag für meinUnrecht bestraft werden sollte.

Mustjin gefiel unser Sonderurlaub so gut, daß er am liebstennoch einen Tag hinter den Schornsteinen geschlafen hätte, aberich machte nicht mehr mit und meldete schon am Abend, daßwir mit allem fertig seien. »Dann geht ihr morgen mit derBrigade mit und werden in der Banja für die Freien die Öfenverputzen«, sagte der Brigadier.

Über Nacht war es noch kälter geworden, und es hattegeschneit. Die Brigade war mit dem Bau eines Pferdestallsbeschäftigt, und nebenan, in 150 Metern Entfernung, stand dieneu erbaute Banja. Wir heizten zuerst sämtliche Öfen an. Danngingen wir an die Putzarbeit. In 50 Metern Entfernung war einBrunnen gegraben, der noch keine Winde hatte, um Wasser zuschöpfen. Eine lange Leiter stand zu diesem Zweck da drin. Ichkletterte auf dieser Leiter mit einem Eimer vorsichtig hinein,um Wasser zu schöpfen. Es war aber nicht so einfach. Weil derBrunnen tief war, stand die Leiter ziemlich steil. Ich mußtemich fest an sie schmiegen, damit sie nicht rückwärts kippte.

Unten angekommen, schöpfte ich vorsichtig mit dem EimerWasser, aber sobald ich den Eimer mit Wasser anhob, kippte dieLeiter unter dem Gewicht, und zwar so plötzlich, daß ich vonder Leiter glitt und in das kalte Wasser fiel. Gut, daß ichschwimmen konnte. Aber in Kleidern ging es schwer. Und

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zudem war ich vor Schrecken durcheinander und schwammherum, anstatt mich zur Leiter zu begeben. Ein Arbeiter hattemeine Rufe gehört und eilte mir zur Hilfe. Er richtete die Leiterwieder auf und warf mir sogar einen Strick zu. Im Wasser merk-te ich nicht einmal, wie kalt es war, aber um so mehr, als ichwieder oben war. In der Banja war es noch kalt, die Öfen warennoch nicht durchwärmt, und ich mußte mich doch trocknen. Dasgeschah dann draußen an einem Feuer. Ich habe ziemlich gefro-ren, bis ich trocken war, und bin trotzdem nicht krank gewor-den. Mit dem menschlichen Verstand ist das nicht zu erklären -ich wurde bewahrt.

Und so verging das Jahr 1949. Mein Ansehen als »Meister«stieg. Unter diesen Bedingungen wurde ich von denVorgesetzten als Spezialist voll anerkannt, was für einenHäftling von großer Bedeutung ist.

Das Jahr 1950 brach an und brachte viele Veränderungen.Meine Wohltäter, Wesotzky und der Bauleiter, wurden in einenneuen Lagerkomplex versetzt, und bei uns übernahm ein Freierdie Bauleitung. Auch er war Häftling gewesen, durfte aber, wieso viele, nicht zurück in die Heimat, sondern mußte weiter unterMeldepflicht im Bereich des Gulag arbeiten. Er war auch keinschlechter Mensch, hatte aber den Fehler, daß er dem Alkoholverfallen war.

Es gab eine überraschende Neuerung. Wir sollten für dieArbeit durch eine neue Lohnregelung interessiert werden. Vondem Lohn wurden alle Unterhaltskosten, wie Unterhalt derMilitärobrigkeit mit allen Wachmannschaften, unsereVerpflegung und Kleidung, ärztliche Betreuung usw. abgezo-gen; der Rest sollte uns gehören. Das waren 80 Rubel. Dazukam noch, daß im Lager Brotkioske eröffnet wurden, in denenwir zusätzlich Brot kaufen konnten. Es spornte tüchtig zurArbeit an.

Der Briefwechsel mit meiner Frau, den Kindern und Elternging einigermaßen regelmäßig, war aber nur in russischerSprache gestattet wegen der Zensur. Ich erhielt leiderbedrückende Briefe, denn Vater war krank. Er litt an hohemBlutdruck, und seine Füße wollten nicht mehr.

Jetzt, wo ich die größte Not überstanden hatte, war es schwer,gegen Familie und Eltern so hilflos zu sein.

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Es geht irgendwie weiter

Der Winter 1950 ging vorüber. Wir hatten nicht immer Arbeitin unserem neuen Beruf, und ich hatte Gelegenheit,Verschiedenes am Bau zu lernen.

Im Mai wurde aus unbekannten Gründen plötzlich eine ganzeReihe politischer Häftlinge im Etap weggeschickt, darunterwaren alle Verputzer, die wir hatten, nur ich blieb sonderbarer-weise zurück. Mustjin hatte es nun doch bis zumOfenspezialisten gebracht, und er blieb auch da. Als wir amnächsten Tag zum Bauprojekt kamen, lachte der Bauleiter undsagte: »So, Epp! Ganz Rußland schaut jetzt zu dir auf!« Erwußte sehr gut, daß seine besten Spezialisten weg waren. Arbeitgab es nicht mehr so viel wie früher, denn das Lager war eigent-lich fertig: Für die Freien fehlten aber noch der Klub und aller-hand andere Bauten.

»Was machen wir bloß?« sagte der Bauleiter.Ich nützte diese Gelegenheit und sagte: »Erlauben Sie mir,

Peter B. anzulernen, er ist schon längere Zeit alsLehmzubereiter bei mir und versteht etwas von der Sache.«

»Keine schlechte Idee! Abgemacht; ab morgen nimmst du ihnals Schüler zu dir.« Peter und ich waren froh. Wir hatten schonlange davon geträumt, ihm das Verputzen beizubringen, undjetzt war die Gelegenheit ganz unerwartet gekommen.

Sonderbar war es, daß keine Ersatzmannschaft wie sonstüblich ins Lager gebracht wurde. Im Gegenteil, es wurdenimmer mehr weggeschickt. Schließlich blieben nur dieBaubrigaden. Und bald begann eine intensive Umgestaltung derBaracken. Alle Betten wurden hinausgeworfen, und neue, sta-bile, aus starken Bohlen wurden eingebaut. Mit dickemEisenbeschlag wurden sie befestigt. Die Öfen wurden mit star-kem Gitter umbaut. In Gefängnissen habe ich solche

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Vorsichtsmaßnahmen nie gesehen. Und dann sagte unserBauleiter: »Dieses Lager wird ein Regimelager (besondersstrenges Lager).« Das bedeutete, daß die schlimmstenVerbrecher hierher gebracht werden sollten, die meisten miteinem Bußtermin von 25 Jahren. Seit 1948 gab es schon dasneue Gesetz, daß Schwerverbrecher bis zu 25 Jahren verurteiltwerden konnten. Die Baubrigaden wurden alle in zweiBaracken, die in einer Ecke des Lagers standen, umgesiedelt.Dann wurde dieses Territorium mit einem hohenStacheldrahtzaun abgegrenzt und mit einem extraPförtnerhäuschen versehen. Wir waren über diese Neuerungwenig erbaut. Hatte ich während meiner Haft doch schon genü-gend Berührung mit Verbrechergruppen gehabt, doch waren sieimmer in der Minderheit gewesen. Jetzt sollten sie zusammen-gezogen werden. Wie würde das ausgehen? Wir waren doch einwenig getröstet, daß wir nicht mit ihnen gemeinsam wohnensollten und durch Stacheldraht von ihnen abgegrenzt waren.

Es kam der Tag, als die ersten gebracht wurden, und etlichestellten fest, daß die mit den 25 Jahren wohl vorwiegend Leuteaus der Verbrecherwelt, aber auch politische Gefangene waren,die wegen Kollaboration während der deutschen Besatzung,vielleicht als Dolmetscher, Lehrer oder Bürgermeister, verur-teilt worden waren. Es wirkt moralisch sehr deprimierend, wennman mitten unter den Banditen leben muß, wo man sich seinesLebens nie sicher ist.

Das Lager war bald voll. Ein Teil der Arbeiter wurde inHandschellen zur Arbeit geführt. Wenn sie nach Hause kamen,wurden sie sofort zum Essen in den Eßraum gebracht und dannin der Baracke eingeschlossen. Die Baracken waren in vierAbteilungen geteilt; an jedem Ende führte eine Eingangstür ineinen Korridor, und von dort führten wiederum je zwei Türen inein Abteil. Jede Abteilung hatte einen Kommandanten, und daswar immer einer von der Gruppe, die sich Ssuki nannte, dieAbtrünnigen der Wore. Diese zwei Verbrechergruppen standenständig in Fehde untereinander. Die Ssuki dienten dem Staat alsLagerpolizei. Sie waren manchmal schlechter als die Wore. Siewaren auch grausam streng unter diesen Häftlingen.

Abends um zehn wurde in diesen Abteilungen immer eineZählung vorgenommen. Dann mußten die Leute im Laufschrittantreten; wenn es nicht fix genug ging, schlugen die Ssuki drein,

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besonders, wenn es jemand von ihren Feinde, den Wore, war.Die Obrigkeit erlaubte diesen Kommandanten, zu ihrer eigenenVerteidigung große Messer zu tragen. Die Wore haßten sie undplanten Rache. Und so wurde ich nach einigen MonatenAugenzeuge eines Blutbades.

Um sechs Uhr morgens mußten die Häftlinge aufstehen. DieTür wurde aufgeschlossen, und sie durften sich waschen. DerWaschraum war ebenfalls durch den Korridor zu erreichen.Dann wurden sie in Begleitung ihrer Kommandanten zumEssen in den Eßsaal geführt. Obwohl die Schwerverbrecher sounter Kontrolle und nachts hinter Schloß und Riegel waren, hat-ten die Wore einen Aufstand vorbereitet. Sie waren für denbestimmten Tag teilweise mit Messern ausgerüstet oder miteinem Stück Eisen. Die schlimmsten Anführer waren besonderseingesperrt und nicht einmal zur Arbeit zugelassen, aber geradesie waren die Organisatoren dieses Blutbades, trotz Tag- undNachtarrest.

Eines Morgens bemerkten wir einen großen Tumult imRegimeterritorium. Auf ein bestimmtes Zeichen hin hatten alleGruppen ihre Peiniger, die Ssuki, angegriffen. Die achtKommandanten, die alle zu den Ssuki gehörten, wurden zu glei-cher Zeit so überraschend angegriffen, daß einige ihrenStichwunden sofort erlagen, denn es waren fünf bis sechsAngreifer gegen einen. Aber nicht bei allen ging es so schnell.Es kam zu einem furchtbaren Kampf. Der jüngste derKommandanten war ein schöner Mann und hieß Petro (Peter).Den griffen sie im Eßsaal an. Er brachte es aber fertig, auf einenTisch zu springen, der an der Wand stand, und so hatte er denRücken frei und verteidigte sich mit einem langen Dolch, so daßdie Angreifer nicht so recht herankamen. Er wußte aber, daß ersich auf die Dauer nicht halten konnte und versuchte zu ent-kommen, indem er einfach mitten in die Angreifer hineinsprang und, wie ich annahm, einen verwundete. Er gelangtetatsächlich aus dem Raum, aber einen Messerstich hatte er docherhalten, der ihn schwächte. Er konnte nicht mehr richtig lau-fen. Als die Verfolger ihn erreichten, fiel er hin, wie tot. Diesgeschah alles in einer Zeit von einigen Minuten. Alarm warschon geschlagen, und Soldaten drangen ein, um dem Gemetzelein Ende zu machen, aber es war bereits alles zu spät.

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Von den acht Kommandanten kam nur einer mit dem Lebendavon, wenn auch verwundet. Petro hätte auch am Leben blei-ben können, aber sein Stolz als »Ssuki-Mitglied« war zu groß.Als die Sanitäter die Toten und Verwundeten auflasen und indie Krankenbaracke brachten, trugen sie auch Petro auf einerTragbahre. Als sie die Treppe hinaufstiegen, lebte Petro plötz-lich auf. Er erhob sich ein wenig, und mit drohender Faust riefer: »Ich werde euch noch zeigen, wer Petro ist!« Wie elektrisiertreagierten einige 16jährige Bengels und liefen auf ihn zu. DieSoldaten in der Nähe liefen auch, so schnell sie konnten, umeinen weiteren Mord zu verhindern, aber die Verfolger warenschneller, und Petro wurde auf der Bahre erstochen.

Dieses Geschehen war das schlimmste, aber vorher und nach-her gab es ständig Einzelmorde. Es hatte fast den Anschein, alsob die Obrigkeit mutwillig die Verbrecher sich gegenseitig ver-nichten ließ.

Ein grauenhafter Fall geschah noch in unserer abgeschirmtenZone. In unserer Baubrigade war ein Wolodja, der nicht derbeste Arbeiter war und mit der Gruppe der Wore sympathisier-te. Und schließlich kam es soweit, daß er Wore werden wollte.Das war aber nicht so einfach. Es war immer eine Bedingungdabei. Als Eintritt mußte er zeigen, daß er fähig war, einenMenschen zu töten. Wolodja wurde die Aufgabe zuteil, in unse-rem Lager einen Mann zu töten, um Mitglied zu werden. DerMann hatte schon fast neun von zehn Jahren abgebüßt. Ihm hat-ten sie einmal geschworen, wegen einer Kleinigkeit den Garauszu machen, und unser Wolodja tat es. Er hatte den Mann schla-fend angetroffen. Wie er erzählte, war er doch aufgeregt gewe-sen, seinen ersten Mord zu begehen, und hatte sich selbst einwenig verletzt. Nach dieser Tat ging Wolodja in dieSanitätsabteilung, um sich verbinden zu lassen. Auf die Frage,was geschehen sei, antwortete er kaltblütig: »Ich habe soebenGott eine Seele abgegeben!« Dann ging er selbst zur Wache undmeldete: »Ich habe Turizien erstochen, sperrt mich ein.« Er warzu zehn Jahren verurteilt worden und wußte, daß er jetzt bis zu25 Jahre bekommen könnte, aber fortan als Wore zu geltenbedeutete für ihn mehr. »Der Satan geht umher wie ein brüllen-der Löwe und sucht, wen er verschlinge!«

Im Spätsommer durften wir schon Geld verdienen, undBrotkioske wurden eröffnet. Ungefähr eine Woche dauerte es,

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bis Peter B. und ich an das Brot herankamen. Es wollte nichtreichen, aber mit der Zeit wurden alle satter, und derBrotverkauf normalisierte sich. Peter und ich waren eigentlichschon früher längere Zeit mit Brot versorgt gewesen.

Die Bäckerei stand auf dem kleinen Territorium, das mitStacheldraht abgegrenzt war, wo auch unsere Baracken standen.Die Decke der Bäckerei war sofort, als der Bau fertig war, ver-putzt worden, und jetzt, da die Wände fast ein Jahr getrocknetwaren und sich gesetzt hatten, sollten sie verputzt werden. DerLagerchef und der Bauleiter sagten zu dem Oberbäcker, daß esseine eigene Angelegenheit wäre, diese Sache zu regeln; diePutzer hätten mehr als genug zu tun.

So kam es, daß mich der Oberbäcker eines Abends aufsuchteund mir anbot, daß ich das Verputzen der Wände in derBäckerei übernehmen könne. Ich besann mich nicht einenAugenblick und willigte ein. Es mußte ja alles nach der Arbeitgemacht werden, aber wir würden uns einmal an Brot satt essen.Wir arbeiteten immer bis zwölf oder ein Uhr nachts. Es war eineschwere Zeit, und doch wurden wir von vielen beneidet. Bevorwir an die Arbeit gingen, bekamen wir nun jeden Tag 300 gBrot, das wir sofort verzehrten, obwohl wir unser Abendbrotschon gegessen hatten. Und wenn wir uns zur Ruhe begebenwollten, wurde uns wieder pro Mann 500 g Brot zugeteilt, sodaß wir jetzt täglich 1600 g Brot und mehr aßen. Trotz unseres15 - 16stündigen Arbeitstages erholten wir uns und wurdenstark.

Die Hungerperiode war vorbei. Ich konnte allmählich sogarGeld sparen und meiner Familie schicken. Es war nicht ganzleicht, aber ein Brief meiner Tochter Lotte bewegte mich spon-tan dazu. Sie schrieb: »Papa, ich möchte so gerne Gitarre spie-len lernen, und ich weiß, wenn Sie jetzt zu Hause wären,würden Sie mir eine Gitarre kaufen.« Dieser Satz machte mir zuschaffen. Und ich entschloß mich fest, mich zu erkundigen, obund wie es möglich wäre, Geld nach Hause zu schicken.

Zu Peter, mit dem ich bis jetzt alles gemeinsam gehabt hatte,sagte ich: »Peter, wir werden uns jetzt teilen. Du hast keineFamilie, ich aber will jetzt versuchen, Geld zu sparen und derFamilie zu helfen.«

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Von Teilen wollte er nichts wissen. »Wir tun das gemeinsam«,sagte er, »schicke du nur, wie du es für nötig hältst.« Ich gingaber nicht darauf ein, ich wollte mit freiem Gewissen, unabhän-gig, mit meinem Geld walten können.

Und so kam es, daß ich bald die ersten 50 Rubel nach Hauseschicken durfte, und ich erhielt auch die freudige Nachricht, daßmeine Töchter eine Gitarre gekauft hatten. Ich glaube, es warsogar noch Geld übrig geblieben.

Die Briefe von zu Hause brachten Freude, aber auch Leid. DasJahr 1950 fing mit einer neuen Verhaftungswelle an. Es warwieder ein Totalangriff gegen die Gläubigen. Mein Vater warPrediger, und bei ihm und meiner Familie hatten sie schonHausdurchsuchung gemacht. Da kam eines Tages ein Brief mitder Nachricht, daß Vater gestorben sei.

Auch 1951 brachte für mich unangenehme Erfahrungen. Dadieses Lager fertig war und außerhalb des Lagers für die Freiennicht mehr viel zu tun blieb, wurden schon 1950 neue Projekteangefangen.

Ich kam in eine andere Brigade, deren Brigadier als ungerech-ter Haushalter, im biblischen Sinne, bekannt war. Er nahmGeld, und wer am meisten gab, verdiente auch am meisten.Schon am Abend desselben Tages, als unsere Brigade wegge-schickt wurde, schickte Tjurin, so hieß der Brigadier, einen sei-ner Getreuen zu mir und ließ mir sagen, wenn wir etwasverdienen wollten, sollten wir unsere Güte an ihm beweisen.

Es war ganz unmißverständlich, er wollte schon im vorausGeld von uns haben. Es ist mir immer schwer gefallen, wennjemand mich auf ungerechte Weise erpressen wollte, mich mirnichts dir nichts zu ergeben. Menschlich gesehen war es wohlrichtig, aber ob Gott mein damaliges Handeln immergutgeheißen hat, weiß ich nicht. Stand doch meistens nur daseigene Ich, der Stolz, dahinter. Jedenfalls ließ ich Tjurin bestel-len, unsere Güte wäre ganz von seiner Güte abhängig, zuerstsolle er seine Güte erzeigen, und dann würde sich das anderevielleicht ergeben! Hierauf antwortete er nichts, und am näch-sten Tag mußten wir mit seiner Brigade hinaus.

Der Bau des Klubs war soweit fertig. Es wurden schon Öfengelegt und das Dach mit selbstfabrizierten, finnischenSchindeln gedeckt. Obwohl schon Ende März, war es doch

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noch sehr kalt, zwischen 25 und 30° Frost, mit etwas Wind.Dieses Wetter kam unserem neuen Patron gerade recht, ummich und Peter klein zu kriegen. Er schickte uns, das Dach zudecken. Im Sommer war es eine schöne Arbeit, aber bei derKälte fast unmöglich. Die leichten finnischen Schindeln nahmuns der Wind immer wieder unter den Händen weg. Außerdemgab es zu dieser Zeit noch keine Nägel. Ein Stahltroß (Strick)wurde zu kurzen Nägeln zerhackt. Die Dinger waren krummund spalteten bei so großem Frost oft die dünnen Schindeln.Man konnte unmöglich mit dem Wattehandschuh die kleinenDrahtnägel halten; wir mußten dazu den linken Handschuh aus-ziehen. Die Hand war im Nu steifgefroren.

Unter diesen Umständen schafften wir an dem Tag weniger alsdas halbe Soll. Und das war es ja, was unser Peiniger erzielenwollte und nun auch erzielt hatte. Wir beide, Peter und ich,kamen jetzt mal wieder auf Strafration, wie zu der Zeit, als ichzu schwach zum Arbeiten war. Für solche Tage gab es auchkein Geld; vielmehr blieben wir dem Staat noch einiges schul-dig, was dann später, wenn wir wieder am Verdienen waren,einbehalten wurde. Diese planmäßige Gemeinheit Tjurinskränkte, aber sie brach meinen Stolz nicht. So mußte es dochauffallen, wenn der Bauleiter die Arbeitslisten kontrollierte, daßB. und Epp, die immer gute Resultate gezeigt hatten, plötzlichauf Strafrationen saßen. Wir schwiegen beide. Nach einigenTagen kam der Bauleiter zu uns in die Baracke und sagte zumir: »Epp, was ist denn mit euch beiden los? Wie kommt ihr zueiner Strafration?« Ich sagte ihm kurz, um was es sich handle.Aufgeregt ging er weg. Was er dem Brigadier gesagt hat, weißich nicht. Jedenfalls gab es keine Strafrationen mehr, aber rich-tig verdienen ließ Tjurin uns nicht, und ich war froh, als ich die-ses Lager verlassen durfte und wieder zu Kostja kam.

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Lager Nr. 17

Hier sah alles noch wild aus, so wie es im vorigen Lageranfangs gewesen war. Aber ich fühlte mich sofort heimisch,weil hier so viele Bekannte waren. Man wartete schon auf mich.

Als ich dorthin kam, brachte man gerade einen neuen Etap mitHäftlingen, die direkt aus dem Gefängnis kamen. Sie warenNeulinge und alle zu 25 Jahren verurteilt. Es waren keineVerbrecher, sondern alles harmlose Leute, die während derOkkupationszeit irgendwie im Dienste der Deutschen oder indeutscher Kriegsgefangenschaft gewesen waren. Sofort nachdem Kriege hatte man sie wohl einer tüchtigen Prüfung unter-zogen, dann aber freigelassen, weil die Gefängnisse und Lagerüberfüllt waren. Als 1948 das neue Strafgesetz erschien, daseine Haftstrafe bis zu 25 Jahren vorsah, und genügend zusätzli-che Lager gebaut waren, sammelte man diese Reserven wiederein.

Unter den Neulingen war ein richtiger Berufsputzer, mitNamen Budjansky; der wurde mir zugeteilt, weil ich jetzt alleinwar. Er war Meister im vollen Sinne dieses Wortes, hatte abermit Alabaster (Baugips) und Zement gearbeitet, nicht mit Lehmund Sägespänen. Er hatte in Jalta, dem bekannten Kurort, alsVerputzer gearbeitet und verstand sich auf Karniesen und der-gleichen. Wir haben uns sofort gut verstanden, denn er war einprima Kerl. Früher, als ich noch mit Peter B. arbeitete, war ichder größere Meister, aber jetzt lag die Sache anders. Budjanskyarbeitete mit solcher Geschicklichkeit, daß ich gar nicht mit-kam. Wir waren dadurch bei den Vorgesetzten dieses Lagersbald gut angesehen. Unser Verdienst stieg bis zu 100 Rubel unddarüber. Ich konnte der Familie ab und zu bis zu 100 Rubelschicken. Außerdem hatten die Köche mich gebeten, von Zeitzu Zeit die Herde in der Küche nach der Arbeit zu streichen.Dafür bekam ich zusätzliche Speise. Mit einem Wort gesagt, ich

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lebte auf, hatte eine gewisse Autorität erworben und ja auchbereits die erste, schwere Hälfte meiner Haft überstanden. Ichfing an, die Jahre zu zählen. Die Briefe meiner Frau, der Kinderund der Mutter klangen auch schon nicht mehr so traurig. Wennsie auch arm waren, so war die größte Hungersnot doch über-wunden.

Unter den Leuten im Lager lernte ich auch einen Mann ken-nen, der mir allerhand anvertraute, was er sonst verschwieg.Der Mann wurde zu uns gebracht, aber nicht zur Arbeitgeschickt. Eines Tages hieß es, daß er Leiter der KWTsch sei.Im Lager Nr. 16 hatte man noch keine Kulturabteilung organi-siert, obwohl es schon zwei Jahre bestand, und hier, wo es erstzwei Baracken auf dem großen Gelände und noch keinen Raumfür irgendwelche Kulturarbeit gab, wurde dieser Neue alsKulturarbeiter angestellt. Es sollte sich aber bald klären, was füreinen Hintergrund diese Eile hatte.

Für diesen Mann wurde in einer Ecke unserer Baracke eineWand aus Brettern gezogen, so daß er da ein abgeschirmtesStübchen hatte, wo er mehr oder weniger ungestört arbeitenkonnte.

Eines Tages nach der Arbeit kam dieser Neue zu mir undsagte: »Ich habe von Ihnen gehört, daß Sie malen können undLosungen schreiben. Ich brauche dringend Ihre Hilfe. Ich willeine Wandzeitung anfertigen, und da sollte mich doch jemandunterstützen, der ein wenig künstlerisch veranlagt ist, so daß dieZeitung auch ein schönes Aussehen bekommt.«

Ich antwortete darauf, daß ich kein richtiger Künstler sei, aberein wenig Übung hätte ich im Lager Nr. 9 bekommen; ichwüßte nicht, ob ihn das befriedigen würde. Zudem werde ich alsVerputzer gebraucht, und nach der Arbeit hätte ich allerdingskeine Lust, denn das Verputzen sei eine schwere Arbeit. »Ichhabe auch nicht gemeint, daß Sie es nach der Arbeit machensollen. Wenn Sie nur Ja sagen, will ich mit dem Lagerchef spre-chen und ihn bitten, daß er Sie mir für drei oder vier Tage gibt.Was Ihr Können anbelangt: Wer wird hier in der tiefen Taigaernstlich kritisieren?« Und tatsächlich, der Chef ordnete an,mich für kurze Zeit vom Verputzen zu befreien. Es waren wie-der richtige Ruhetage für mich. Meine Gedanken waren dannoft in der Vergangenheit mit all dem Hunger und Elend, als nie-

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mand sich um mich kümmerte; als man mich höchstens schaltund schikanierte. Jetzt sprach man mit mir wie mit einemMenschen. Sogar der Lagerchef beobachtete uns ab und zu beider Arbeit und hatte auch ein freundliches Wort für uns. Wennnicht gerade der große Zaun und die Flintenkerle mit ihrenSchäferhunden dagewesen wären und nicht die Sehnsucht nachWeib und Kind, dann wäre es gut gewesen. Und doch, derMensch wird in der Not sehr genügsam! So auch ich, und ichwar meinem Gott wirklich dankbar für meine gegenwärtigeLage!

In drei Tagen war die Wandzeitung fertig, und derKulturabteilungsleiter war mit meiner Arbeit zufrieden. Imnächsten Monat wurde ich ihm wieder zugeteilt, wir wurdenimmer mehr bekannt und vertraut miteinander. Er hatte einenbesonderen, mir unbekannten Paragraphen. Ich fragte, was derbedeute. Darauf sagte er: »Petro, ich will dir einmal etwas ausmeinem Leben erzählen, aber das bleibt unter uns. Als ich nochjünger war, war ich begeistert vom kommunistischen System.Ich glaubte damals wirklich an die goldene Zukunft desKommunismus. Selbstverständlich trat ich ohne Bedenken derKomsomolorganisation bei, und später wurde ich Kommunist.Weil ich ein Eiferer für die Sache war und als besonders zuver-lässig galt, wurde ich nach Moskau in eine Extra-Schulegeschickt. Ich sollte als zukünftiger Bürgermeister von Ljwow(Lemberg) ausgebildet werden. Dazu mußte ich denSchlosserberuf und die polnische Sprache gründlich erlernen,und politisch wurde ich entsprechend gedrillt. Als ich meineAusbildung beendet hatte, wurde mir meine Aufgabe klarge-legt.« Er solle jetzt nach Polen befördert werden, hieß es, undzwar mit einem Flugzeug. Seine Aufgabe sei, ganz unauffälligzu bleiben. Er werde dort als einfacher Schlosser arbeiten. Mitseinem ruhigen, jedermann entgegenkommenden Benehmensolle er die Sympathie der Arbeiter gewinnen.

1938 wurde er nachts mit einem Flugzeug über die polnischeGrenze geflogen und unweit von Ljwow über einem Wald mitdem Fallschirm abgeworfen. Er war mit einem polnischenPersonalausweis, mit einer Orientierungskarte und mit einerAnschrift versehen, wo er sich in Ljwow zu melden hatte.

Er landete glücklich, vernichtete den Fallschirm und warteteim Wald den Morgen ab. Dann ging er zum Weg, der nach

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Ljwow führt. Dort fuhr er per Anhalter mit einem Lastwagennach Ljwow und suchte die angegebene Adresse. Er klopfte an,ihm wurde geöffnet, und als man nach seinem Begehren fragte,nannte er das Kennwort.

Abends versammelte sich das ganze Geheimkomitee, und eswurde weiter geplant. Für seine Arbeitsstelle im größtenBetrieb Ljwows war schon vorher gesorgt worden. OhneSchwierigkeiten wurde er als Schlosser eingestellt. Und soarbeitete er über ein Jahr und erlangte wirklich die Sympathievieler.

Als dann 1939 in Polen der Krieg ausbrach, das Land geteiltwurde und die Rote Armee in Ljwow einmarschierte, bekam ereine Einladung zum russischen Stadtkommandanten. Auch derwußte von ihm und der vor Jahren geplantenBürgermeisterwahl. Es wurde alles durchgesprochen und derTag der Bürgermeisterwahl festgelegt. Auf Werbeblättern undTransparenten wurde die Bevölkerung schon lange vor derWahl aufgefordert, sich an den Wahlen zu beteiligen.

Der Tag kam. Viele Menschen hatten sich versammelt, um andem Geschehen teilzunehmen. Eine hohe Tribüne war errichtetworden, auf welcher der Sowjet-Stadtkommandant das Volkmit feuriger Rede ansprach. »Die Zeit der Knechtschaft ist vor-bei, wo der Arbeiter nichts zu sagen hatte! Jetzt werden dieReichen nicht mehr regieren und euch ausbeuten! Das Volk derArbeiter wird sich die Regierung wählen. Heute sollt ihr auseurer Mitte einen Bürgermeister wählen. Überlegt gut, daß ihreinen rechtschaffenen Mann wählt! Und jetzt bitte ich umKandidaten!«

Einer vom Geheimkomitee wartete nicht, bis jemand miteinem Kandidaten kam. Nein, er drängte sich durch dieVolksmenge zur Tribüne, erstieg sie, riß sich die Mütze vomKopf und schrie: »Bürger, endlich ist der Tag der Freiheitgekommen. Ich habe einen Kandidaten. Wer von euch kenntnicht den Schlosser von der Fabrik? Er ist selbst Arbeiter,beliebt im Umgang mit Menschen...« Und das Loben nahm keinEnde. Es wurde abgestimmt, und er wurde einstimmig zumBürgermeister gewählt. Das Volk war begeistert und ahntenicht, daß es keinen Polen, sondern einen MoskauerKommunisten gewählt hatte.

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Und so war er Bürgermeister, bis die Deutschen 1941 plötzlichins Land kamen. Er gab sein Bürgermeisteramt freiwillig aufund ging wieder seinem Schlosserberuf nach. Es kamen keineKlagen gegen ihn, und so wurde er in Ruhe gelassen.

Dann kamen die Russen wieder. Moskau hatte ihn nicht ver-gessen. Er wurde sofort gefunden und ins Gefängnis geworfen.Untersuchung und Verhöre zogen sich lange hin. SeineVerdienste wollte man ihm nicht ganz absprechen, aber eineswurde ihm vorgeworfen: warum er nicht Partisanen organisierthabe? Er habe ja als Schlosser für die Deutschen gearbeitet.Zum Schluß wurde er zu acht Jahren verurteilt.

Jetzt war mir klar, warum man ihn extra behandelte und wiesolche Sachen eingefädelt wurden.

Im Lager Nr. 17 war ich nicht lange. Die anfängliche Ruheverlor sich bald. Mit jedem neuen Etap kamen auch Verbrechermit und stifteten Unruhe. Trotzdem wollte ich schon gerne indiesem Lager bleiben. Aber es sollte anders kommen.

Eines Tages hatten wir Besuch. Es war der Lagerchef vomLager Nr. 1 mit Namen Koscheljew. Er war Oberleutnant undhatte die Vollmacht, sich Spezialisten auszusuchen. Er brauch-te Verputzer, Maler und Kunstmaler für Reparaturarbeiten ineinem großen Klub. Lager Nr. 1 lag direkt an der EisenbahnMoskau-Archangelsk, bei Erzewo. Dort war auch dieHauptverwaltung aller Lager, welche an dem Nebenzweig derEisenbahn lagen, der tief in die Tajga führte. OberleutnantKoscheljew hatte gute Beziehungen zur Verwaltung unddadurch besondere Vorrechte bei der Auswahl seinerLagerinsassen. Im Lager Nr. 17 stand er eines Tages unerwartetin der Baracke, wo Budjansky und ich arbeiteten, und beobach-tete uns längere Zeit. Wir hatten damals noch keine Ahnung,wer er war. Als er nach unseren Namen fragte, konnten wir unsnoch nichts erklären.

Nach einigen Tagen hieß es plötzlich: »Epp, du gehst heutemit dem Etap nach Erzewo.« Noch ein Ukrainer war dabei, dervor kurzem zu uns gekommen war, ebenfalls ein Putzer. Wie ichspäter erfuhr, war auch Budjansky auf der Liste von Koscheljewgewesen, aber weil er zu 25 Jahren verurteilt war, durfte er nichtmit. Aus Vorsicht wurden nur Leute mit weniger Bußjahrengewählt. Ich war selbstverständlich tief unglücklich. Hier ging

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es mir doch, wenn man einmal von dem Stacheldrahtzaunabsah, wirklich gut. Unser Lagerchef wollte uns nicht abgebenund setzte sich für uns ein. Unser Transport verzog sich dadurchnoch drei Tage, aber es half nichts. Koscheljew war stärker alser, wir mußten weg.

Die Eisenbahn war auch schon bis zu unserem Lager gebautworden. Ein Extrawaggon stand auf dem Nebengleis, dort wur-den wir hineingebracht. Namenaufrufe, Aktenprüfen usw.Autorität, Achtung, alles war wieder vorbei, hier galt nurGehorchen. Wieder war ich willenloses Geschöpf! Mein Mutsank, und wieder die Frage: »Warum?« Aber Gott wußte,warum. Der Waggon, in den man uns einsperrte, hatte in einerEcke ein Stübchen, mit starken Gittern abgeschirmt; dort warniemand drin.

Als wir eine Strecke gefahren waren, hielt der Zug. Baldwurde die Waggontür geöffnet, und es traten einige Häftlingeein. Die Gesichter und ihr Benehmen zeigten genau, wer siewaren. Besonders der eine sah gefährlich aus. Er grinste uns anund sagte: »Wartet nur, bis der Zug fährt, dann wollen wir ein-mal sehen, was ihr in euren Koffern habt.«

Pawlo, der Ukrainer, und ich hatten uns im Lager Nr. 17Sperrholzkoffer machen lassen, die mit einem primitiven, vomLagerschmied angefertigten Schloß versehen waren. In meinemKoffer war wahrhaftig nicht viel drin: ein paar alteReservefußlappen, Arbeitshandschuhe und ein wenig Papierund Aquarellfarbe, die ich vor Jahren von zu Hause bekommenhatte. Pawlo aber hatte mehr drin, denn er bekam Pakete vonseiner Frau. Wir beide lagen zusammen auf der langenBretterpritsche. Mir war nicht wohl bei der Sache, und ich hatteauch keine Lust, meinen Koffer abzugeben. Pawlo war auchkein Raufbold. Aber ich entschied mich einmal mehr, denTapferen zu spielen. Ich war größer als der Verbrecher, hattegegenwärtig auch Kraft. Ich sah auch nicht mehr so elend auswie in den Anfangsjahren. Als Mennonit versagte ich eigentlichschon in meinen Gedanken. Es waren beileibe keineWehrlosigkeitsgedanken, die in meinem Kopf herumgingen.Ich hatte Angst, und doch wollte ich mich wehren, wenn esnötig würde. Ja, es ist leicht, über Wehrlosigkeit zu diskutieren,wenn man unter friedlichen Leuten ist, aber es auszuleben...

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Als dann der Zug losfuhr, kam auch der Bandit sofort zu unsgekrochen. Zuerst kam er zu Pawlo und sagte, er solle denKoffer aufschließen. Darüber kam mir ein Gedanke, und sofortsprach ich ihn aus. Ich sagte: »Kein Koffer wird geöffnet!« Ichsagte es mit Nachdruck und blieb ruhig liegen. Zu Pawlogewandt, fügte ich hinzu: »Und wenn du den Kofferaufschließt, bekommst du es mit mir zu tun! Er hat nichts beiuns zu suchen!«

Der Bandit wurde wütend, schrie und tobte und fluchte fürch-terlich! Er würde mir dies und das tun. Ich spielte immer nochden Kaltblütigen und Überlegenen und sagte, er solle doch ein-mal anfangen, wenn er so ein Geroj (Held) sei. Mein Herz woll-te mir fast aus dem Leib springen. Aber der Verbrecher ließ sichvon mir täuschen; er glaubte bestimmt, er habe es mit einembesonders erfahrenen Schlägerhelden zu tun. Er ließ ab von uns,sagte nur: »Warte, wir treffen uns im Lager!«

Der Gedanke quälte mich auch, aber vorläufig waren unsereKoffer gerettet. Unser Schauspiel war gerade beendet, als dieEingangstür geöffnet wurde und ein Offizier mit zwei Soldateneintrat. Die Tür zu dem Gitterstübchen wurde geöffnet. Dannlas der Offizier einige Namen vor, darunter auch den Namenunseres Peinigers. Die Personen, deren Namen vorgelesen wor-den waren, wurden in dem Extraabteil eingesperrt. Ein Stein fielmir vom Herzen. Das arme Herz, das so lange den Tapferengespielt hatte, konnte sich beruhigen. Noch leichter wurde mirzumute, als alle diese Verdächtigen vor uns ausgeladen und wirwoanders hingebracht wurden.

So kamen wir heil bis zum Lager Nr. 1. Die Ordnung beimTransport von Häftlingen war doch wesentlich besser gewor-den.

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Lager Nr. 1

Vom Bahnhof Erzewo, der an der Eisenbahnlinie Moskau-Archangelsk liegt, wurden wir, wie immer unter Bewachung,bis vor das Tor das Lagers Nr. 1 im Gebiet Archangelskgebracht.

Irgendwie kam mir hier alles viel gemütlicher vor, falls mandiesen Ausdruck überhaupt gebrauchen kann. Es war schon auf-fallend, daß wir ohne Begleitung eines Schäferhundes vomBahnhof abgeholt wurden. Das Tor wurde geöffnet, dieTorwächter machten eine oberflächliche Untersuchung, undschon waren wir im Lagerhof, wo der Narjadschik uns inEmpfang nahm und uns unsere Baracke und Bettstelle anwies.

Dies schien mir eine ganz andere Welt zu sein. Hier war es vielsauberer als in den Lagern, die ich bisher erlebt hatte. Ja, sogarBlumen sah man hie und da, fast so, wie ich es in Archangelskim Krankenlager erlebt hatte. Ruhig und friedlich sah alles aus.Als abends die Arbeiter nach Hause kamen, blieb wieder allesruhig. Wir stellten fest, daß es hier keine Verbrecher gab. Undfalls tatsächlich einige kleine Diebe dabei waren, verhielten siesich jedenfalls ruhig. Ich sah hier auch keine elend aussehendenMenschen. Als wir zum Abendbrot in den Eßraum geführt wur-den, erlebten wir wieder etwas Neues und Ungewohntes. Wirwurden nicht nach Brigaden gespeist, sondern ein jeder gingpersönlich ans Verteilungsfenster und empfing sein Essen.

Später erfuhren wir auch, daß hier ca. 50% Balten waren.Außerdem gab es viele Deutsche, keine Mennoniten, undWestukrainer, die anscheinend in die Befreiungsbewegungunter Bendera verwickelt gewesen waren. Der Natschaljnik desLagers hatte gute Beziehungen zur Zentralverwaltung sämtli-cher Lager, weil diese sich hier in Erzewo befand. Und derChef, Leutnant Koscheljew, durfte sich seine Leute aussuchen,

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wenn aus dem Gefängnis ein neuer Etap mit Sträflingen kam.Er hatte schon genug Erfahrung, so daß er wußte, daß unter denBalten (Esten, Letten, Litauern) gute Facharbeiter waren, die ernötig brauchte.

Lager Nr. 1 war das Herz des gesamten LagerkomplexesKargapollag.

Es bediente eine große, moderne Sägemühle und eine großeReparaturwerkstatt für alle technischen Geräte (Kraftwagen,Traktoren, Bäumeschlepper usw.) des gesamtenLagerkomplexes. Außerdem bediente es eine Werkstatt fürLokomotiven- und Eisenbahnwagenreparaturen, denn das vieleHolz wurde ja per Bahn aus dem Wald zur HauptstreckeMoskau-Archangelsk gefahren. Koscheljew wußte nur zu gut,daß er mit Verbrechern diese verantwortungsvolle Arbeit nichtbewältigen konnte. So waren in diesem Lager überwiegendpolitische Gefangene mit dem 58. Paragraphen, und es gab hierruhige, normale Nächte.

Das Lager Nr. 1 in Erzewo war 1937 gebaut worden und somitschon 14 Jahre alt. Ich wurde mit einem Wolynier bekannt, derdieses Lager hatte bauen helfen. Seinen Berichten nach hattenwir es zu unserer Zeit sehr gut. Lager Nr. 1 war mitBohlenwegen und Bretterfußstegen versehen. Es gab hier keineWanzen. Der Arbeiter konnte wirklich ruhen, wenn er müdevon der Arbeit kam. Hier war tatsächlich eine andere Welt. Esgab viel mehr Menschlichkeit, aber die Gefangenschaft blieb.Man war abgeschnitten von der Welt, und die Sehnsucht nachden Lieben quälte. Wir kamen aber mehr mit der Zivilisation inBerührung, und die Erinnerung an die Freiheit wurde dadurchgestärkt.

Pawlo und ich wurden der Brigade Nr. 10 zugeteilt. Es wareine Baubrigade, die ein Kulturzentrum zu reparieren hatte, daszweistöckige Klubhaus, das erst drei Jahre zuvor gebaut wordenwar. Es war groß, hatte einen geräumigen Theatersaal mitBühne und allem, was dazu gehört. Auch eine Bibliothek, einSchachspielraum und andere Räumlichkeiten waren da. Aberdas Ganze stand auf keinem richtigen Fundament, sondern aufdicken, tiefeingegrabenen Holzpfählen. Diese Pfähle waren inden drei Jahren teilweise verfault, das ganze Gebäude setztesich, und innen gab es große Risse. Zu dieser Zeit hatte

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Koscheljew sich aus allen Lagern nach seinem GeschmackFacharbeiter geholt: Tischler, Putzer, Maler, sogar dreiKunstmaler.

Erzewo war schon eine größere Siedlung mit einigen Straßen.Wir wurden auf der Hauptstraße, wie gewöhnlich unterBewachung, zum Arbeitsplatz geführt. Auf der Straße begegne-ten uns gut gekleidete Menschen, von deren Anblick ich imWald ganz entwöhnt war. Es berührte mich peinlich, daß ichihnen als Gefangener begegnete. Beim Arbeitsplatz angekom-men, war ich wieder überrascht, wie der Wachhabende uns dieGrenzen zeigte. Das reparaturbedürftige Gebäude und derganze Hof standen uns zur Verfügung. Der Hof war mit einemein Meter hohen Staketenzaun umgeben; das war die Grenze.Die Wache war sehr oberflächlich und freundlich zu uns. Siewußten ja aus Erfahrung, daß Häftlinge, die schon die Hälfteihrer zehn Jahre überschritten haben und in erträglichenVerhältnissen leben, keinen Fluchtversuch mehr machen.

Pawlo und ich wurden zum Putzen angestellt. Ein Soll wurdeuns nicht auferlegt. Es hieß nur, die Arbeit solle sauber gemachtwerden, denn es war ja eine Kulturstätte für Freie und zumgrößten Teil für hohe Offiziere mit Familien, die es sich mit die-ser billigen Arbeitskraft leisten konnten, ein schönes, modernesKulturzentrum zu schaffen.

Den ersten halben Tag arbeiteten wir in aller Ruhe. In derMittagspause brachte man uns das Essen. Nach früheren Regelndurften wir eigentlich kein Mittagessen bekommen, denn wirhatten ja am Tag vorher nicht gearbeitet. Hier aber war esselbstverständlich, daß wir zu Mittag essen durften. Als ichgegessen hatte (viel war es ja nicht), hatte ich das Verlangen,meine Ruhepause an der Straßenseite, beim Klubeingang zumachen.

Die Eingangstür lag etwa drei Meter von der Straße entfernt.Mit Wohlbehagen setzte ich mich auf die Treppe und beobach-tete die Vorübergehenden. Irgendwie fühlte ich mich freier alsim Wald, nicht mehr so beengt, und ich war dankbar dafür.

Ich saß noch nicht lange da, als eine junge Frau vorüberging.An jeder Hand hielt sie ein Kind, schön, niedlich gekleidet.Meine Augen verschlangen geradezu gierig dieses schöne,friedliche Bild. Aber im nächsten Augenblick sah ich im Geiste

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schon meine Frau, wie sie mit meinen Kindern so vorüberging,und es war um mich geschehen! Ich verließ schleunigst meinenBeobachtungsplatz, suchte mir drinnen eine stille Ecke undweinte. Ich bat den lieben Gott, er solle mich doch wiederzurück in den tiefen Wald bringen, damit ich nicht mehr so leb-haft an Frau und Kinder erinnert würde. Aber Gott sei Dank,daß er mein Flehen nicht erhörte und mich nicht mehr zurück indie Taiga brachte.

Ich durfte nun in diesem Lager, ohne immer wieder hin- undher- transportiert zu werden, meine letzten vier Jahre abbüßen.Ich fand mein Gleichgewicht bald wieder und fühlte mich all-mählich doch wohler als im Wald. Die Arbeit war hier vielleichter und zudem höchst interessant. Als wir mit dem Putzenfertig waren, leiteten die drei professionellen Künstler die ganzeMalerarbeit. Hier lernte ich erst recht, mit Farben umzugehen,und bekam wohl meine Hauptausbildung als Maler, die mir spä-ter in der Freiheit viel geholfen hat. Anfangs war mir aber eineSache unangenehm. Im vorigen Lager galt ich als der großeMeister, und hier war ich ganz klein; man beachtete mich kaum.Es fällt ja einem Menschen meistens schwer, vom hohen Bergder Einbildung hinunterzusteigen. Aber die Zeit eilte hier vielschneller vorbei, weil ich ein weit leichteres und ruhigeresLeben hatte als vorher. Auch mein Ansehen als Maler stieg, alsman meinen künstlerischen Geschmack bemerkte. Ich war beimeiner Arbeit wohl auch akkurater als manche andere. MeinVorteil war, daß ich mich aufs Verputzen verstand und auch beider Malerarbeit vorangekommen war. Wenn es nötig war, konn-te ich auch einen Ofen setzen. Die meisten anderen waren ent-weder Maler oder nur Putzer.

Und so wurde während des Sommers dieses Klubgebäude fer-tig. Dann mußten wir ein neuerbautes Krankenhaus verputzenund die Malerarbeiten machen. Hier war es nicht mehr sogemütlich, und es gab wieder ein bestimmtes Soll. Manchmalhieß es auch wieder: »Dawaj, dawaj!« Aber ich war jetzt beiKräften und konnte mein Soll in den meisten Fällen überbieten.So konnte ich doch verhältnismäßig tröstende Briefe an meineFamilie und die Mutter schreiben.

Es gab aber auch unangenehme Stunden, in denen man esimmer wieder zu fühlen bekam, daß man eben nur ein Häftlingwar. Wenn ein Waggon mit Baumaterial ankam, ob am Tage

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oder nachts, unsere Brigade mußte hin, um den Waggon zu ent-laden. Oder es mußte ein Waggon geladen werden, vielleichtsogar zwei oder drei, dann mußten wir hinaus. Es war immerKnochenarbeit, aber Gott sei Dank, wir waren ja satt und kräf-tig. Wir verdienten ein wenig Geld, und Brot durften wir uns imLagerladen kaufen.

Es war am 25. Dezember 1951, als wir zum erstenmalWeihnachten feiern wollten. Obzwar es nicht erlaubt war, wares uns doch gelungen, ein winziges Tannenbäumchen ins Lagerzu schaffen.

Abends versammelten sich 25 deutsche Leidenskameraden amhintersten Ende der Baracke. Das Tannenbäumchen stand aufeinem kleinen Schränkchen von etwa 80 cm Höhe. DasSchränkchen hatten wir ein wenig von der Wand abgezogen,um das Bäumchen verschwinden zu lassen, fallsWachkontrollen auftauchen würden. Der Barackenaufseher, einLitauer, dessen Bett ganz vorne in der Nähe der Tür stand, hatteversprochen, uns ein Zeichen zu geben, wenn jemand von denAufsehern käme. So feierten wir, indem wir Weihnachtsliedersangen. Mit »Stille Nacht« wurde begonnen, dann folgte »O dufröhliche, o du selige Weihnachtszeit«.

Wir hatten noch nicht lange gesungen, als uns der Litauer einZeichen gab. Schnell verschwand unser Bäumchen hinter demSchränkchen. Als die Soldaten hereinkamen und bis zu unsgelangten, saßen wir schon verstreut und unterhielten unsunauffällig. Wir hatten Glück; sie merkten nichts oder wolltenvielleicht auch nichts merken. Als sie gegangen waren, sam-melten wir uns wieder und sangen weiter Weihnachtslieder. Eswar leider niemand unter uns, der es wagte, ein Gebet zu spre-chen. Und doch war tief in unseren HerzenWeihnachtsstimmung.

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Die Jahre 1952 - 53

Das Jahr 1952 begann ohne besondere Begebenheiten. Ichhatte aber wieder angefangen zu malen. Abends nach demAbendbrot konnte man überall verschiedene Bastler entdecken.Menschen suchten aus Langeweile Beschäftigung. Und somanch einer entdeckte künstlerische Talente bei sich.Verschiedene Schmuckkästchen wurden angefertigt. EinLitauer aus unserer Brigade und ich malten. Er hatte sogarirgendwo Ölfarben erstanden. Ich spezialisierte mich aufGeburtstagskärtchen, Weihnachtskarten und versuchte mit derZeit sogar das Porträtmalen. Allmählich gelang es mir, hie undda eine Ähnlichkeit mit dem Posierenden zu schaffen.Anfänglich malte ich Porträts nur aus Liebhaberei undLangeweile. Dann aber kamen Kameraden und baten, daß ichihr Porträt male. Es war ja nicht möglich, zu photographieren,und besonders die Jüngeren, welche mit einem Mädel imBriefwechsel standen, wollten ihr gern ein Bild von sichschicken. Ich versuchte es denn auch. Sehr getreu war dieWiedergabe des Gesichts nicht, aber meistens waren sie zufrie-den. In vielen Fällen mußte ich sogar meiner Phantasie Raumlassen und den Kunden einen sauberen Rock, Hemd undKrawatte anziehen. Etliche habe ich in der Uniform einesSergeanten malen müssen, was sie vielleicht nie gewesenwaren.

Meine größte Freude war, daß ich meine Briefe wieder aufDeutsch schreiben durfte und auch deutsche Briefe von derFamilie erhielt, und das nicht, weil es von der Obrigkeit erlaubtwar, nein, mein bißchen Malen hatte es bewirkt.

Der Lagerzensurdienst war gezwungen (weil sehr viele Baltenim Lager waren, die kaum oder gar nicht Russisch schreibenoder lesen konnten und noch weniger ihre Frauen zu Hause),Zensurarbeiter anzustellen, die der baltischen Sprachen kundig

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waren, und da stellten sie drei Häftlinge an, die keinen politi-schen Paragraphen hatten und zudem von zu Hause ein wenigrosa gestimmt waren. Diese drei Balten - ein Lette, ein Este undein Litauer - entdeckten mich, denn sie lebten, wie wir, imLager. Besonders zu Weihnachten und zu Ostern kamen sie mitBestellungen. Sie wollten auch gerne zahlen, ich nahm abernichts, sondern klagte ihnen meine Not, daß ich von meinerFrau keine Briefe erhielt, weil sie im Russischen zu schwachwar. Sie waren sich sofort alle einig, mir zu helfen. Von jetzt andurfte ich Deutsch schreiben, denn meine Briefe warf ich nichtmehr in den allgemeinen Postkasten, sondern brachte sie zuihnen, und sie beförderten die Briefe weiter. Und wenn Post fürmich von der Familie kam, nahmen sie den Brief und brachtenihn mir heimlich. Seit der Zeit schrieb ich öfter als vorher, dennoffiziell durften wir nur zwei Briefe im Monat schreiben. Dieser»ungesetzliche« Briefverkehr bewährte sich bis zu meinerEntlassung.

Das Jahr 1953 brachte die Nachricht von Stalins Erkrankung.Alle im Lager, ob politisch oder andere Sträflinge, warengespannt. Sogar die Verbrecherwelt horchte auf und versprachsich etwas davon, wenn Stalin sterben sollte. An dem Ernst sei-ner Erkrankung hatte niemand einen Zweifel, denn nie zuvorhatte man die Krankheit eines Regierungsmitglieds veröffent-licht. Seitdem wurde sein Zustand jeden Tag um sechs Uhr mor-gens im Radio bekanntgegeben.

Unsere Baracke faßte 100 Häftlinge. Mitten im Raum war einLautsprecher angebracht worden, und um diesen scharten sichalle 100 eng zusammengepfercht. Ein alter Mann sagte, weil essich einige Tage hinzog: »Sollte er doch noch gesund werden?«

Als Stalin dann doch starb, bemerkte derselbe Mann:»Triedzatj ljet ljischnich proshil!« (Dreißig Jahre zu langegelebt!) Eigentlich war es gewagt, solche Äußerungen zumachen, aber hier unterstützten alle seine Meinung. Alle warensich in einem Punkt einig, nämlich daß Stalin ein Tyrann gewe-sen war, und alle hofften stark auf eine Kursänderung und aufeine umfassende Amnestie.

Lagerleitung und Wachmannschaften waren wie verwandelt.Auch die Boshaftesten waren jetzt gut und milde zu denGefangenen. Gelegentlich hörte man von ihnen, daß viele

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Unschuldige im Lager wären. Sie wußten aber nicht recht, wiesie sich verhalten sollten, um bei der nächsten Regierung nichtin Ungnade zu fallen.

Dann wurde im Radio bekanntgegeben, der neue große MannRußlands sei Maljenkow! Nun folgte eine ungewöhnliche großeAmnestie. Leider galt sie nicht den Politischen mit Paragraph58. Massenweise wurden die schlimmsten Verbrecher entlas-sen. In unserem Lager wurde eine Baracke mit Stacheldrahtabgezäunt, und alle Amnestierten wurden durch unser Lager indie Freiheit geschleust. Auch meinen Freund Peter B. traf ichhier wieder und konnte mich durch den Stacheldrahtzaun vonihm verabschieden.

Hunderte wurden täglich entlassen, bis es in der Gegend vonErzewo unruhig und unsicher wurde. Eines Tages hieß es, imHause eines hohen Offiziers seien die Amnestierten nachts ein-gebrochen, hätten den Offizier samt Frau ermordet und dasHaus beraubt.

Von da an wurden die Entlassenen unter Aufsicht zumBahnhof gebracht, in Güterwaggons verladen, unterBewachung einige Stationen weiter gebracht und dann erst frei-gelassen. Aber auch das half nichts. Das Stehlen, Rauben undMorden hielt an, denn andere Lager machten es genauso. VonKonoscha transportierte man Freigelassene im Konwoj bisErzewo, und da ließ man sie laufen. Von Archangelsk transpor-tierte man die Verbrecher bis Konoscha und ließ sie laufen, sowurden die Verbrecher herumgereicht. Viele wurden wiederneu verurteilt und kamen in die Lager. Als die Schlimmstenwieder eingesperrt waren, wurde es allmählich ruhiger.

Das Jahr 1953 brachte aber bald große Veränderungen mitsich. Der Lagerstatus wurde geändert. Es wurden zwei unab-hängige Verwaltungen geschaffen. Wenn unser LagerchefKoscheljew früher über die Lagerverwaltung und über alle wirt-schaftlichen Zweige verfügte, so war er jetzt nur Chef derBetriebe und Werkstätten; Lagerverwaltung und Bewachungübernahm ein Oberleutnant.

Dieser Natschaljnik war schon ein alter Mann, und er war vielnachsichtiger. Dadurch litten Disziplin und Ordnung. Er wargenauso gleichgültig, wenn ein neuer Etap aus dem Gefängniskam. Er ließ sich alles zuschieben, was man ihm zuteilte. Er

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hatte wohl auch nicht das Wissen und die Befugnisse, dieKoscheljew gehabt hatte, um die besseren Gefangenen auszule-sen. Und so kam es, daß es im Lager nicht mehr ruhig blieb. Esgab bald Baracken, in denen nachts Karten gespielt wurde. DieÄrzte wurden bedroht, wenn sie einen gesunden Banditen nichtkrankschreiben wollten. Es wurde nachts gestohlen, undBarackenaufseher mußten schweigen, wenn sie nicht in Gefahrkommen wollten.

In dieser Zeit wurde ich einer Brigade zugeteilt, die für dieInstandhaltung des Lagers zu sorgen hatte. Es waren nur 15Personen: Tischler, Maurer, Putzer und Maler. Es war einegemütliche, friedliche Gesellschaft. In der Tischlerei durftenwir uns ein Stübchen einrichten, und wenn ich früher mit 100Häftlingen zusammenwohnte, waren wir jetzt nur 15 an derZahl. Das war ein herrliches Leben, im Vergleich zu dem, wasich in früheren Jahren gekannt hatte. Aber im Lager wurde esimmer kritischer. Es kamen immer mehr berüchtigte Verbrecherins Lager, die sich selbst mit Stolz Wore nannten.

Eines Tages wurden wir von jemandem gewarnt, der es wissenmußte, daß die Wore unserer Gruppe nachts einen Besuchabstatten wollten. Sie kundschafteten vorsichtig immer mehraus, wie weit sie mit ihrer Absicht, das ganze Lager unter ihrerücksichtslose Kontrolle zu bringen, gehen durften.

Es war eine beunruhigende Nachricht. Fünfzehn Mann zuüberraschen und zu überwältigen war für diese Kerle einKleines. Aber unsere Jungens waren nicht gewillt, dies einfachso hinzunehmen. Zwei Tischler, ein Lette und ein Russe, beiderichtige Draufgänger, entwarfen eine Plan zur Verteidigung.Die Tischler konstruierten während des Tages 15Prügelknüppel aus Holz. Sie waren 60 cm lang, aus schweremHolz, mit einem dünneren, angenehmen Griff. Ein jeder vonuns mußte das Ding unter seinem Kissen verstecken, dennerlaubt waren solche Sachen natürlich nicht. Nur weil unsereBrigade großes Vertrauen bei der Wachmannschaft undObrigkeit besaß, konnte so was unauffällig organisiert werden.

Abends um zehn Uhr war wie gewöhnlich Kontrolle, aber dieWache ahnte nicht, daß unter jedem Kissen ein Prügel aus der-ben Holz lag. Nachts wurde eine Wache aufgestellt, die dieAufgabe hatte, den Schrank, in dem unsere Arbeitsanzüge

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waren, auf die Einbrecher zu werfen, um sie zu verwirren, unddas sollte auch das Angriffszeichen sein. Einmütig sollten dannalle 15 Prügel auf die Banditen losgehen. Ich mochte ja solcheSchlägereien überhaupt nicht, aber zum Neinsagen hatte ichnicht den Mut, und ich hielt es auch für Unrecht, die Kameradenim Stich zu lassen. Ich betete zu Gott, aber mein Denken warnur menschlich: Wir müssen uns verteidigen, sonst sind wir ver-loren. Ich kam wieder einmal mit meiner christlichenAuffassung von Wehrlosigkeit in Konflikt.

Die Nacht verging, und Gott sei Dank, es geschah nichts; diedarauffolgenden Nächte ebenfalls nicht. Dann wurde unsgesagt, die Wore hätten durch jemanden erfahren, daß wir unsauf den Empfang vorbereitet hätten, und da sie sich ihrerPosition noch nicht so sicher gewesen seien, hätten sie einst-weilen von uns abgelassen. Wie dem auch sei, mir blieb dieserKampf erspart, wofür ich Gott dankte. Oder war es doch eineGebetserhörung meines schwachen und unwürdigen Flehens?

Bald darauf kam ein neuer Etap mit Gefangenen. Unter ihnenwaren wieder Wore, und drei davon wohlbekannt, die in mehre-ren Lagern Schlagzeilen gemacht hatten. Einer von diesen, dermit Batja betitelt wurde, riß sofort die Führung aller Verbrecheran sich. Und erstaunlicherweise schlossen sich viele der Wore-Gruppe an, die schon jahrelang im Lager waren und sich ruhigverhalten hatten. Es entstand eine große Spannung zwischenVerbrechern und Arbeitern.

Der neue Banditenchef plante mit seinen Komplizen einenGeneralangriff, um Herr der Lage zu werden. Die Arbeiter tatensich auch zusammen und beratschlagten, was zu machen sei.Sie entschlossen sich, zum Lagerchef zu gehen und umOrdnung zu bitten, sonst könnten sie nicht normal arbeiten undihr Soll erfüllen.

Der willenlose Chef unternahm aber nichts. In einer derBaracken wohnten 100 Häftlinge, die man Tschornaja Ssotnja(Schwarze Hundert) nannte. Wenn sie nach Hause kamen,waren sie wirklich auffällig schwarz, denn es waren allesSpezialisten, wie Schmiedemeister, Dreher, Schlosser usw. Diemeisten unter ihnen waren Letten, Esten und Litauer. AuchDeutsche und Westukrainer waren darunter. Diese Hundertwaren die Elite des Lagers. Bei ihnen herrschte die beste

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Ordnung und Einigkeit. Die Verbrecher umgingen ihreBaracken immer, denn sie wußten nur zu gut, daß dort diegrößte Gefahr für sie war. Die Arbeiter waren nicht mehr diehungrigen, schwachen und willenlosen Geschöpfe der vorigenJahre.

Und so entschlossen sich die Wore, die »Schwarze Hundert«zuerst in die Knie zu zwingen, alles andere war dann einKinderspiel. Sie wollten deren Reaktionsfähigkeit testen. Undso kam es, daß der Banditenanführer mit einigen seinerKomplizen tagsüber, als alle zur Arbeit waren, in der Barackeder Schwarzen Hundert erschien und dem Barackenaufseher einUltimatum stellte. Er solle bis morgen früh 1000 RubelKontribution von den Arbeitern sammeln.

Am nächsten Tage, morgens, kämen sie dann, um das Geldabzuholen, und wehe, wenn er ihnen nicht genau 1000 Rubelaushändigen würde! Dann gingen sie. Der arme Aufseher warin Not. Was sollte er machen? Er entschloß sich, es erst einmaldem Barackenältesten Kuhm zu melden. Nach dem Abendbrotging er zu Kuhm und weihte ihn in die Sache ein. »So«, sagteKuhm, »jetzt ist es so weit. Du sammelst nicht einen Rubelein!«

Dann rief er die ganze Hundertschaft zusammen und erzählte,was vorgefallen war. »Geben wir heute 1000 Rubel, wollen siemorgen 2000. Jetzt heißt es, einig sein, entweder sie oder wir.«Kuhm ordnete an, daß niemand Geld für die Schurken spendendürfe. Wer es wagen sollte, und sei es auch nur einen Rubel,würde es mit ihm zu tun kriegen! Dem Aufseher befahl er:»Sage ihnen, ich habe es verboten, und wenn sie was wollen,sollen sie zu mir kommen!«

Mit Herzklopfen erwartete der Arme den angekündigtenBesuch. Er erschien pünktlich. »Wo ist das Geld?« fuhren sieihn an. Er berichtete mit bebender Stimme, was Kuhm ihmgesagt hatte. Die Verbrecher stutzten. Sie waren sich wohlschon ihres Sieges sicher gewesen. Und nun merkten sie, daßdie Sache hier ernst werden könnte. Dann zogen sie aber wiederab mit Fluchen, Verwünschungen und Drohen, ohne dem Mannetwas zuleide zu tun. Kuhm war ein starkgebauter, ruhigerMann. Er war Este, ein guter Fachmann und bei denVorgesetzten in gutem Ansehen. Die Arbeiter hatten sich geei-

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nigt, alle bewaffnet nach Hause zu kommen. Und so war es inder großen Maschinenreparaturwerkstatt den ganzen Tag unru-hig. Jeder Arbeiter machte sich irgendwas zu seinerVerteidigung.

Obwohl alles sehr heimlich geschehen war, fiel es doch auf.Die Wachmannschaft meldete dem Vorgesetzten den ganzenVorfall. Die Brigade glaubte, ungehindert mit ihren Waffen insLager zu gelangen, weil sie schon jahrelang das Vertrauen derWache genossen. An diesem Tage aber hatten sie sichgetäuscht. Als das Tor des Fabrikgeländes geöffnet wurde, umsie zu entlassen, stand dort eine verstärkte Wache. AuchKoscheljew und der Offizier, der über die Wachmannschaft ver-fügte, waren da. Die Brigade war wie immer in Viererformationangetreten, und es begann eine gründliche Durchsuchung,wobei auch sofort gefunden wurde, wonach sie suchten. Kuhmhatte aber angeordnet, daß niemand seine Waffe freiwillig abge-ben sollte. Kuhm stand vorn, und Koscheljew wandte sich anKuhm mit der Frage, was das alles zu bedeuten habe. Kuhmsagte ganz kurz: »Wenn ihr nicht Ordnung schaffen könnt,damit wir ruhig und friedlich arbeiten können, sind wir gezwun-gen, es selbst zu tun. Unbewaffnet gehen wir nicht zurück insLager, um uns nachts abschlachten zu lassen.«

Die Verhandlungen gingen weiter. Die Vorgesetzten wolltenkeine Gewalt anwenden, denn die Planerfüllung hing ja vondiesen Männern ab. Aber diese aufgeregten Männer bewaffnetins Lager zu lassen, war zu riskant. Dann gab Kuhm dasKommando, zurück ins Fabrikgelände zu gehen. Zu denVorgesetzten sagte er: »Wir werden hier in der Werkstatt schla-fen und morgen wie gewöhnlich unserer Arbeit nachgehen. Wirhoffen, daß ihr die Verbrecher alle aus dem Lager entfernt undwir morgen unbewaffnet nach Hause kommen können.«

Die Lagerverwaltung war einverstanden und versprach, dieFriedensstörer zu entfernen.

Am nächsten Tag sollte es eine große Aktion geben. DieAufseher hatten eine Liste von denen, die weggeschickt werdensollten, und wollten sie zusammentrommeln. Sie hatten aber dieRechnung ohne den Wirt gemacht. Die Verbrecher waren genauüber den Vorfall vom Vortage informiert worden. Und siewaren nicht gewillt, so mir nichts dir nichts aufzugeben.

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Deshalb hatten sie sich in der Baracke verschanzt. Sie brachendie Öfen ab, besetzten alle Fenster und wehrten sich mit Ziegelnund Feuerlöschern, die in jeder Baracke hingen. Zu schießenwurde den Wachmannschaften nicht erlaubt, und so konnten sienichts machen. Die Vorgesetzten verhandelten, aber ohneErfolg, und so verlief der Tag ohne Änderung.

Es war zum Staunen, wie gut auch Kuhm über alles, was imLager geschah, informiert war. Die Brigade blieb unter seinerAnordnung wieder im Betriebsgelände. Am zweiten Tagschlossen sich die Arbeiter der Sägewerke und des Depotsebenfalls an und gingen nicht ins Lager. Das Essen wurde ihnenzugefahren. Die Arbeit ging aber trotzdem normal weiter.

Im Lager war es unheimlich leer geworden. Nur die Köche,die Barackenaufseher und unsere kleine Brigade von 15 Mannwaren da. Um so mehr Unholde gab es im Lager, die durchBedrohung der Ärzte die Krankenbetten im Krankenhaus beleg-ten und krankgeschrieben worden waren. Es war kaum zu ver-stehen, wie diese Wore es immer fertigbrachten, zu Hause zubleiben oder auf dem Arbeitsplatz zu faulenzen. Für uns, die wirmit ihnen im Lager blieben, war die Lage brenzlig. Wir mach-ten unsere Arbeit. Die Baracke, in der wir unsere Putz- undMalerarbeiten versahen, war ganz in der Nähe der Baracke, inder sie hausten. Wir fürchteten, daß sie jetzt ihre Wut an unsauslassen würden, aber nichts geschah. Auch nachts war allesruhig. Es war viel ruhiger als zuvor. Niemand wurde von ihnenbelästigt. Sie hatten den Ernst der Lage jedenfalls erkannt undhielten es für klüger, sich nicht noch mehr Schuld und Haß auf-zuladen.

Der dritte Tag dieses Sonderzustandes kam. Es gelang derObrigkeit, einige dieser Kerle abzuschieben, aber der größereund gefährlichere Teil blieb.

Zwischen Kuhm und der Obrigkeit wurde ständig verhandelt.Kuhm hatte genaue Listen von den Verbrechern, und er sagte:»Wenn die und die nicht wegkommen, gehen wir nicht unbe-waffnet ins Lager.«

Am dritten Tag meldete Kuhm den Vorgesetzten, daß sie nunden letzten Tag unter so unnormalen Umständen arbeiten wür-den. Er sagte weiter: »Morgen legen wir die Arbeit nieder, wennihr bis zum Abend nicht Ordnung im Lager schafft.« Und was

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Kuhm sagte, das galt, so weit kannten wir ihn schon. Kuhm warein ruhiger, weiser Arbeiterführer geworden. Alle Arbeiterschauten zu ihm auf, ihrem Retter. Was er sagte, das galt. DieVorgesetzten wollten ihn zur Geduld mahnen. Aber er bliebhart. Dann machte Kuhm ihnen ein Angebot: »Erlaubt uns,heute abend bewaffnet ins Lager zu kommen. Ich garantiere,daß niemand geschlagen wird, der freiwillig zur Wache geht.Wir werden alle Baracken absuchen und Ordnung schaffen.Wer sich wehrt, bekommt seine Schläge, bis er geht, aber ichübernehme die volle Verantwortung dafür, daß niemanderschlagen wird. Ich habe meine zuverlässigen Männer, die alsGruppenführer die Sache durchführen werden.«

Der Lagerchef hatte Angst, daß es vielleicht doch zu einemGemetzel kommen könnte, denn die Arbeitermasse hatte vieleJahre alles dulden müssen. Der Haß war groß. Wir hatten einenjungen Mann unter uns, der vor Jahren in einem anderen Lagerständig von den Banditen mißhandelt worden war. Viele hattenerlebt, daß sie von ihrem kleinen Verdienst regelmäßig 20 -30% hatten abgeben müssen. Und wie viele Schläge,Mißhandlungen waren da in Erinnerung. Die Lagerobrigkeitverhandelte auch mit den Wore, und zum Schluß sagten sieihnen konkret, wenn sie jetzt nicht freiwillig das Lagerverließen, würde man die Arbeiter bewaffnet hereinlassen. Dashalf, ein kleiner Teil ging freiwillig zum Lagertor und wurdezum Durchgangslager gebracht, aber die Haupträdelsführerblieben hartnäckig zurück.

Uns, die wir im Lager waren, kam die Zeit unendlich lang vor.Da brachte uns ein Freipäßler die Nachricht: »Heute kommenalle Brigaden nach Hause.« Die Lagerobrigkeit hatte KuhmsVorschlag angenommen. Kuhm hatte noch einmal versprechenmüssen, daß es kein Blutvergießen geben würde.

Wir waren ganz aufgeregt und konnten den Abend kaumabwarten. Wir befürchteten, daß die Wore sich noch im letztenAugenblick an uns rächen würden. Endlich kam der langer-sehnte Abend. Wir hatten uns alle am Tor versammelt.

Als das Tor geöffnet wurde und die ersten mit Kuhm an derSpitze hereinkamen, wurden sie mit Jubel empfangen. Auch mirfiel ein Stein vom Herzen. Kuhm selbst verteilte sofort alleArbeiter in Gruppen, für jede Baracke eine Gruppe mit einem

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Gruppenführer von seinen zuverlässigen Männern. Sie hattenListen, nach denen sie jede Baracke nach Verbrechern durchsu-chen und dieselben zum freiwilligen Verlassen des Lagers auf-fordern sollten.

Bald kam einer nach dem anderen zum Tor gelaufen, wo sievom Wachpersonal gesammelt wurden. Die freiwillig zum Torkamen, waren aber nicht die Schlimmsten, es waren eher dieMitläufer, und die wirklichen Drahtzieher wurden in denBaracken nicht gefunden. Also hieß es, in der Klinik und imKrankenhaus nachzusehen. Die Tür war verschlossen, und alsKuhms Männer ein Fenster einschlugen, um einzudringen, wur-den sie mit Feuerlöschern und Ziegelstücken begrüßt - es gabeinen ernstlich Verwundeten. Kuhm gab sofort Kommando, denAngriff einzustellen. »Es ist nicht nötig, daß wir uns die Köpfeeinschlagen lassen«, sagte er. Dann ging er an die Tür und bat,sie sollten den Widerstand aufgeben und freiwillig das Lagerverlassen. Sie müßten doch einsehen, daß sie mit der Zeit denKürzeren ziehen würden. Die Verbrecher dachten aber nichtdaran, mit Schande - ohne Kampf - abzuziehen.

Es war inzwischen finster geworden. Um dieseKrankenbaracke hatten sich alle Lagerinsassen versammelt.Kuhm hatte mit seinen Getreuen die Baracke umstellt undwehrte die aufgeregte Masse ab.

Ich persönlich war von Herzen froh, daß ich lediglich alsBeobachter hinten stand. Und doch hatte ich meinenPrügelstock aus Vorsicht unterm Kissen hervorgeholt und trugihn bei mir. Falls es ernst werden sollte, wollte ich mich weh-ren. Aber es hatte keine Not, es waren so viele da, die gerne ihreseit Jahren gespeicherte Wut an den Banditen auslassen wollten.Wenn Kuhm nachgegeben hätte, wäre das Krankenhausgestürmt worden, und es wäre nicht ohne Tote abgegangen.

Die Vorgesetzten waren auch alle zugegen und mahnten zurRuhe und Mäßigung. In dieser Zeit war es doch einigenDraufgängern gelungen, auf den Dachboden zu klettern, und siebegannen, die Decke aufzubrechen.

Da erschienen plötzlich der Prokurator und etliche hoheOffiziere mit Soldaten, so daß ein wenig mehr Ruhe unter dieHäftlinge kam. Ein Offizier sprach mit Kuhm, der ihm versi-cherte, daß sie die Verbrecher ohne Gefahr herausführen dürf-

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ten. Er käme dafür auf. Dann bat der Offizier um Einlaß insKrankenhaus, er wolle mit den Verbrechern verhandeln. Diesevergewisserten sich, daß niemand in der Nähe der Tür war, öff-neten kurz, und der Offizier durfte hinein. Er blieb ziemlichlange drinnen, dann kam er heraus und sprach mit Kuhm. DieBanditen sahen inzwischen ein, daß sie sich in einer gefährli-chen Lage befanden, hatten aber Angst hinauszugehen, denn siemeinten, man wolle sie nur herauslocken und dann niederschla-gen.

Nach dem Gespräch mit dem Offizier organisierte Kuhm mitseinen bewaffneten Männern ein Spalier vom Krankenhaus biszum Lagertor. Durch diesen Gang sollten die Banditen ihrenAbzug nehmen. Dann rief Kuhm noch einmal, daß es niemandwagen solle, sie irgendwie anzugreifen. Dann ging der Offizierwieder zur Tür und wurde sofort eingelassen.

Nach kurzem Warten öffnete sich langsam dieKrankenhaustür, und einer nach dem anderen kam heraus undbewegte sich in Richtung Tor. Aber wie sahen sie aus, gebückt,in Krankenkleidung, die Kranken vortäuschend. Sie warenklein.

Demütig sprachen sie sogar versöhnende Worte, es wäre dochmöglich, einig zu leben. Doch niemand glaubte dieserHeuchelei, und die Häftlinge ließen es an Schmähungen nichtfehlen. Der Abzug geschah aber, wie Kuhm es versprochenhatte. Es war für die Wore eine ungewohnte Demütigung. Nunfolgte eine angenehme, ruhige Nacht. Ruhe und Sicherheitwaren wiederhergestellt.

Als Folge kam eine Kommission aus Moskau, denn die Kundevon diesem Vorfall war bis dorthin gedrungen. Es hatte ja auchSachschaden gegeben. Etliche Fenster waren kaputt. Die Deckewar teilweise aufgebrochen, und drinnen hatten die Wore auchallerhand angestellt. Schuldige wurden gesucht und gefunden.Es waren wohl zehn an der Zahl, darunter drei Deutsche. Siewurden zu einem Jahr Gefängnishaft mit strengem Regime ver-urteilt. Die Wore aber saßen nebenan im Durchgangslager undplanten Rache. Sie meldeten sich krank. Und die Klinik war beiuns!

Es kam der Tag, an dem die Verurteilten abtransportiert wer-den sollten, nach Kalinograd ins Extragefängnis. Als die zehn

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Verurteilten zum Tor gebracht wurden, nachdem alle Arbeiterschon weg waren, mußten sie eine Weile warten, bis derKonwoj kam, um sie zur Bahnstation zu bringen. Während siemit ihren Koffern dastanden, wurde das Tor geöffnet und eineGruppe Häftlinge vom Durchgangslager zur ärztlichenUntersuchung geführt. Die Verurteilten erkannten in ihnengerade die Bande, welche sie vor kurzem hinausgejagt hatten.

Wegen dieser Banditen waren sie verurteilt, wo diese Gaunerdoch die Schuldigen und Urheber des Geschehens waren.

Als die Gruppe der Verbrecher in der Klinik verschwand,sagte einer der Verurteilten: »Jungens, wir müssen sowiesonach Kalinograd ins Gefängnis! Kommt, rächen wir uns nochschnell an diesen Gaunern! Hauen wir ihnen das Fell durch!«

Wie ein Mann ließen sie ihre Koffer stehen und liefen zurKlinik. Vergebens versuchte man, sie zurückzuhalten. Sie rissendie Tür auf, aber da stand schon einer der Verbrecher mit zweilangen Messern.

Jetzt waren Aufregung und Wut erst recht angefacht. Wie wares nur möglich, daß diese Wore bewaffnet durch die Wachegegangen waren, ohne durchsucht zu werden? Und wozu warensie mit Messern bewaffnet ins Lager gekommen?

Abgesehen hatten die Banditen es hauptsächlich auf dieNachtschichtarbeiter des Sägewerkes, die sich in der früherenAktion der Schwarzen Hundert mit Kuhm zusammengeschlos-sen und mitgewirkt hatten. Im Schlaf sollten dieselben über-rumpelt und niedergemetzelt werden. Dadurch aber, daß dieVerurteilten noch nicht draußen und abtransportiert waren,wurde dieses Blutbad vereitelt.

Die Verurteilten bewachten die Tür der Klinik, und einigeschlugen Alarm. Im Nu war die Nachtschicht auf den Beinenund zur Stelle. Das Lager wurde lebendig. Barackenaufseher,Schuster, Schneider, Wäscher, Invaliden und auch unsereBrigade waren da. Alle sahen, daß die Lage ernst war. Kuhmmit seinen organisierten Männern war nicht da, also mußtegehandelt werden.

Der Konwoj wollte alles auseinandertreiben, aber vergebens.Sie wollten die zehn Verurteilten mitnehmen und zur Bahn brin-

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gen, aber auch das gelang nicht. Die Verurteilten weigerten sichund übernahmen die Führung der aufgeregten Masse.

Die Verbrecher sahen, daß es ernst geworden war. Mit soeinem Auftritt hatten sie nicht gerechnet. Sie nahmen die Ärzte,Schwestern und Sanitäter als Geiseln und verbarrikadiertensich.

Die Wachmannschaft schlug Alarm, und es wurden wiederSoldaten herangezogen, welche die Häftlinge unbewaffnet aus-einandertreiben sollten. Aber bis die Obrigkeit mit dem Militärda war, hatte die Nachtschicht schon wieder mit demAufbrechen der Decke begonnen. Als die vorgesetztenOffiziere erschienen, wollte der stellvertretende Lagerchef,ebenfalls ein Offizier, wie vorher mit den Verbrechern verhan-deln. Er wurde auch sofort hereingelassen, und die Masse beru-higte sich ein wenig und wollte abwarten, welches Resultat dieVerhandlung bringen würde, aber der Offizier kam nicht wie-der. Da klirrten plötzlich Fensterscheiben, und der Offiziersprang aus einem Fenster heraus. Die Banditen hatten ihn eben-falls als Geisel drinnen behalten, er sprang aber einfach durchdas Fenster und entkam. Das war das Signal zum endgültigenSturm! Mit doppeltem Eifer wurde die Decke auf demDachboden aufgerissen und die Bedrängten mit Steinen bom-bardiert.

Die Soldaten aber hatten keine Lust, den Konflikt zu beenden,denn auch sie hatten immer Schwierigkeiten mit dieser undiszi-plinierten und gefährlichen Bande. Deshalb kamen dieVorgesetzten auf die Idee, die Feuerwehr einzusetzen. DieFeuerwehrmänner machten in aller Eile die Schläuche fertig.Da erklang ein lauter furchtbarer Schrei vom Dachboden: »Siehaben die Klinik angezündet, es brennt, gebt schnell denWasserschlauch auf den Dachboden rauf!«

Die Feuerwehrmänner beeilten sich nun wirklich, schnell denSchlauch auf den Boden zu reichen. Dies war aber nur einTrick, um den Schlauch in die eigenen Hände zu bekommen,und dann wurden die Wore mit kaltem Wasser ernüchtert. DieArbeit auf dem Dachboden ging dem Ende zu. Die Banditenwaren bis in das letzte Zimmer geflüchtet. Es war dasRöntgenkabinett. Die Not der Verfolgten war groß. Weiterkonnten sie nicht. Zum Fenster hinausspringen wäre der siche-

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re Tod gewesen. Kuhm mit seinem Komitee war nicht da, umdie Häftlinge in Schach zu halten, und die auf dem Dachbodenbegannen schon, die Decke des Röntgenzimmers aufzureißen.Ich befürchtete ein grausames Blutbad.

In diesem kritischen Moment wurde ganz plötzlich der hoheZaun geöffnet. Drei oder vier Bretter wurden gelöst, und durchdiese Lücke erschien der Prokurist mit erhobener Pistole undschrie: »Wer sich mir widersetzt, wird niedergeschossen!« Erging direkt zum Fenster, wo im Nebenzimmer die Banditen umihr Leben rangen. Dem Prokuristen folgte eine Menge bewaff-neter Soldaten, die eine Allee aufbauten, vom Zaun bis zumFenster. Mit ihren Gewehren eröffneten sie ein Höllenfeuer,aber sie schossen nur in die Luft. Das Fenster wurde aufgeris-sen, und der Prokurist sprang als erster durchs Fenster; ihmfolgten einige Soldaten. Der Prokurist gab ein paar Schüssenach oben zur Decke ab, und dann sprangen die Banditen zumFenster heraus, die noch konnten, Sie hatten Schwerverwundetebei sich und hinkten eilig der Öffnung im Zaun zu. Einen tru-gen die Soldaten in aller Eile durch das Spalier zur Öffnung desZaunes. Und so schnell, wie sie gekommen waren, zogen dieSoldaten mit dem Prokuristen an der Spitze wieder zur Öffnungzurück. Diese Öffnung wurde dann wieder geschlossen.

Es ging alles sehr schnell. Die Schießerei hatte eine ziemlichePanik bei den Häftlingen ausgelöst, und alle hatten sich von derBaracke zurückgezogen. Nur die auf dem Dachboden wolltenihr Vorhaben noch schnell beenden. Aber als der Prokurist dreiSchüsse durch die Decke jagte, stoben auch sie zur Seite. Gottsei Dank war niemand von einer Kugel getroffen.

Ganz plötzlich war der Skandal vorbei. Alles war still, und dieMenschenmenge zerstreute sich.

Es hatte keine Toten gegeben, aber der Kampf gegen dieVerbrecher ging weiter von Lager zu Lager. Nicht überall ginges so glimpflich ab wie bei uns; es hat viele Opfer gekostet.Aber seit der Zeit war es ruhig im Lager. Es kam kein Diebstahlmehr vor. Man konnte Geld auf dem Schränkchen liegen lassen,und niemand rührte es an. Das Komitee von Kuhm wurdeerweitert. Von jeder Nation kam ein Vertreter hinzu. DiesemKomitee wurden alle Unregelmäßigkeiten und Diebstählegemeldet, und dann wurde Gericht gehalten. Das war zwar nicht

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gesetzlich, aber dem Chef gefiel die Ordnung, und daher drück-te er ein Auge zu.

Für diese schöne Ordnung mußten aber die zehn Verurteiltenbüßen.

Die Reparaturbrigade mußte schon am nächsten Tag die ver-wüstete Klinik in Arbeit nehmen. In drei Tagen sollte sie wie-derhergestellt sein. Denn es wurde schon wieder eineKommission aus Moskau erwartet, die diesen Skandal untersu-chen sollte. Es wurde gehämmert, geputzt, geweißelt undgefärbt, und tatsächlich, in drei Tagen war das meiste getan. Eswurden spezielle Eisenöfen gesetzt, um alles schneller zu trock-nen. Als am vierten Tag die Kommission erschien, waren nurnoch einige Anstreicher mit dem Färben der Türen beschäftigt.

Es wurde niemand weiter verurteilt, wie wir es erwarteten.Alle Schuld wurde den schon Verurteilten zugeschoben. Aberder Lagerchef bekam einen strengen Verweis, weil er so etwaszugelassen hatte.

Einen nicht geringen Schreck sollte ich dann noch alsNachgeschmack bekommen. Kurz nach diesen Tagen wurde ichmit einem anderen Anstreicher, unter Bewachung natürlich,zum Durchgangslager geschickt, um eine Zelle wieder instandzu setzen.

Hier waren ja nun all die vertriebenen Verbrecher. Sie befan-den sich in einem abgezäunten Hof, in Kammern hinter Schloßund Riegel. In demselben Hof, ebenfalls in Zellen, saßen auchviele ihrer Feinde, die Ssuki. Es ist erstaunlich, wie genauimmer eine Gruppe über die andere unterrichtet war. An demTage, als wir Maler dort arbeiteten, gab es einen großenAufruhr, und auch wir beide, die wir dort arbeiteten, bliebennicht ganz verschont.

Während wir ruhig unserer Arbeit nachgingen und uns außerGefahr glaubten, tauchte plötzlich einer der Wore in der Tür aufund grinste uns an. »So«, sagte er, »hier haben wir euch, die tap-feren Männer vom Lager Nr. 1! Jetzt habt ihr Angst, jetzt zitterneuch die Knie.«

Er hatte vollkommen recht, wir waren über alle Maßenerschrocken. Wo kam er bloß her? Sie waren doch hinter Schloßund Riegel. Aber ich versuchte wieder den Ruhigen zu spielen

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und sagte: »Warum sollten wir wohl Angst haben? Wir habenniemand was zuleide getan.«

»Dann wollen wir einmal sehen, ob ihr nicht doch Angstkriegt, ich werde sofort die Kammertür aufschließen und alleauf euch loslassen!« sagte er darauf. Er ging dann zur Tür derNachbarkammer und machte sich eifrig mit einem Nagel andem Schloß zu schaffen.

Was blieb uns übrig, als schnell den Raum zu verlassen?Unsere Knie zitterten wirklich. Wenn es ihm gelang, das Schloßzu öffnen, waren wir verloren. Dann hätten wir büßen müssenfür alles, was sie an Haß in sich trugen. Aber im nächstenMoment kam ein Gefängniswärter gelaufen, um uns abzuholen.Wir kamen glücklich aus der explosiven Situation in den unge-fährlichen Hof. Wir hörten aber Schreien, Fluchen,Verwünschungen und zwischendurch gewaltige Stöße gegendie Wand. Und dieses Stoßen ging immer nach hörbaremKommando: »Ras, dwa, wsjalji!« (Eins, zwei, los!) Und esgelang den Wore tatsächlich, die Innenwand zu durchbrechenund zusammenzukommen. Die Kammer der Ssuki konnten sieaber nicht erstürmen, denn Militär erschien und machte kurzenProzeß. Es gab sogar einen Toten unter den Verbrechern.

Wir zwei Maler wurden, bevor dieses Drama endete, von derWache unseres Lagers abgeholt und fühlten uns erst wohl, alsdas Tor des Durchgangslagers hinter uns geschlossen wurde.

In den nächsten Tagen wurde die zerschundene Baracke vondiesen Übeltätern geräumt, und unsere Brigade hatte dann wieimmer die Aufgabe, zurechtzumachen, was zerschlagen war.

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Das Jahr 1954

Das Jahr 1954 brachte die Neuigkeit, daß der neueRegierungschef, Bulganin, eine Art Amnestie veröffentlichthätte, die auch für uns politische Häftlinge galt.

Erstens hieß es, daß jedem Häftling, der aufrichtig und gutarbeitete, die Möglichkeit geboten werde, seine Pflichthaft zuverkürzen. Je nachdem, wo und wie er arbeitete, sollten demehrlichen Häftling, für jeden abgearbeiteten Tag zwei bis dreiTage geschenkt werden. Dies spornte uns tüchtig an. Man hattedas Gefühl, daß nach Stalins Tod auch ein politischer Häftlingals Mensch angesehen wurde. Man gab auch zu, daß nicht alleUrteile gerecht seien. Alle politischen Häftlinge, die nachParagraph 58 verurteilt waren, unabhängig unter welchemPunkt, sollten einer neuen Untersuchung unterworfen werden.Meine Freude wurde aber gedämpft, weil sich gerade jetzt, woich meine baldige Freilassung erwartete, Herzbeschwerden ein-stellten. Das Herz war bei der schweren Krankheit imGefängnis und auch durch die starke Medizin überfordert wor-den. Mich quälte der Gedanke, daß ich als Arbeitsunfähiger zurFamilie heimkommen würde und, anstatt zu helfen, meiner Fraunur zur Last fallen würde. Dieser Gedanke regte mich so auf,daß mein Blutdruck stieg. Als mir der Lagerarzt dies mitteilte,erschrak ich noch mehr. Aber die Zeit ging weiter. Als ich michmehr damit abgefunden hatte, daß ich krank war, wurde meinZustand, wenn auch nicht gut, so doch wesentlich besser.

Während dieser Zeit fuhr tatsächlich eine Kommission vonLager zu Lager und untersuchte alle Akten, nahm Verhöre vorund entließ eine Menge politischer Gefangener. Die mit 25Jahren Lagerhaft Verurteilten kamen frei, oder ihre Frist wurdegekürzt. Auch zu unserem Lager sollte die Kommission kom-men. Es wurden Listen ausgehändigt mit den Namen derHäftlinge, die zu dieser Untersuchung zugelassen werden soll-

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ten. Ich war überrascht, als ich meinen Namen als einen derersten auf der Liste fand.

Es dauerte aber lange, bis die Untersuchungskommission zuunserem Lager kam, denn sie hatte ja wirklich viele Lager zubereisen, und in einem jeden gab es eine Menge Arbeit.

Ich gab mir jedoch Mühe, um zur Entlassung fertig zu sein. Ichwußte, daß zu Hause Armut herrschte und ich dort nicht sofortan Kleidung kommen würde, und es war mein innigsterWunsch, doch anständig gekleidet zu Hause zu erscheinen.Aber wie sollte ich das machen? Ich konnte das Lager ja nichtverlassen, um in den Geschäften zu suchen.

Aber da kam mir das Schicksal entgegen, jedenfalls von Gottgelenkt. In der kleinen Handelsbude, in der wir seit 1950zusätzlich Brot kaufen konnten, wurde auch Stoff angeboten. Erwar dunkelbraun, und wenn man ihn nicht zu genau betrachte-te, schön anzusehen. Ein Odessadeutscher und ich entschlossenuns, den Stoff zu kaufen. Wir wollten versuchen, davon Anzügeanfertigen zu lassen. Wir kauften auch noch einen anderenStoff. Er war dünner und für ein Oberhemd geeignet. Wie warich damals froh, daß es mir gelang, diesen Stoff zu bekommen!Wir gingen damit zu einem Litauer, der als Schneidermeisterarbeitete, und baten ihn, die Arbeit zu übernehmen. Es war einelangwierige Arbeit für ihn, denn er hatte ja keine Nähmaschinezur Verfügung. Aber er schaffte es. Er nähte die Anzüge mit derHand, und ich war überglücklich, froh und stolz, als alles fertigwar.

Es wäre noch unendlich viel zu berichten über das, was einLagerleben mit sich bringt. Die vielen Demütigungen,Schmähungen und Leiden können nicht alle zu Papier gebrachtwerden. Ich danke Gott, daß mir meine Wohltäter viel besser imGedächtnis geblieben sind als meine Peiniger.

So verging der Sommer. Die Kommission war immer nochnicht dagewesen, aber meine Entlassung kam näher, weil jederTag, den ich arbeitete, als zwei Tage galt. Einige Monate hatteich schon verdient. Und genau an dem Tage, als dieKommission ins Lager kam, am 13. Oktober 1954, genau anunserem Hochzeitstag, wurde ich entlassen. Das heißt, nicht soganz, denn ich wurde unter Bewachung zu meinemBestimmungsort gebracht.

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Die Heimreise zog sich zwei Wochen lang hin. Sie ging vonGefängnis zu Gefängnis. Drei Nächte verweilte ich in Wologdaim Gefängnis, bis ein entsprechender Stolepin zur Stadt Kirowfuhr. Dort mußte ich wieder drei Tage warten, bis einGefangenentransport in Richtung Perm ging. In Perm blieb ichnur eine Nacht, hatte da aber ein kleines Erlebnis. Als ich miteinem anderen jungen Deutschen in die Gefängniszelle einge-liefert wurde, lag dort auf der Couch ein Mann. Wie es beiHäftlingen immer war, fragten wir, wo er her sei, wofür er sitzeusw. Als er erfuhr, daß ich ein Deutscher war, sagte er: »Voreiner Stunde ungefähr wurde hier ein Deutscher von derKommandatur abgeholt. Er hatte auch seine zehn Jahre abge-sessen. Er schlief gerne auf dem Bett, auf welchem du jetzt liegst.«

»Wie hieß er?« wollte ich wissen. »Jaschke B.« Ich hatte dasbestimmte Gefühl, daß es Jakob B. war, den ich gut kannte, undes regte mich direkt auf. Es war mir wirklich schade, daß wiruns nicht hatten sehen dürfen! Nach Jahren, als ich ihn traf,wurde meine Mutmaßung bestätigt. Ich glaube, daß nicht jederLeser verstehen kann, warum dieses »Fasttreffen« mit einemLandsmann mich so aufregen konnte, aber um das zu begreifen,muß man zehn Jahre in der Verbannung, getrennt von derFamilie und von allen seinen Lieben gelebt haben.

Schon am nächsten Tag wurde ich mit dem jungen Mann ausBorowsk zum Bahnhof gebracht. Die Fahrt zum Bahnhofmußten wir immer in dem uns wohlbekannten Tschornej Woron(Schwarzen Raben) machen. Es war ein spezieller Wagen mitvergittertem Fensterlein oder ganz ohne Fenster. Ich fühlte michin diesem Wagen jetzt, da es nach Hause ging, besondersschlecht, denn ich hatte ja einen großen Koffer mit für michwertvollen Sachen bei mir. Anzug, Hemd und sogar eineKrawatte hatte ich erstanden, außerdem Unterwäsche und einewarme, wenn auch alte Überjacke. Ich fürchtete, daß ich diesalles verlieren könnte, denn die Fahrten im »Schwarzen Raben«machten wir, wie erwähnt, immer mit Verbrechern. Ich bangteso um diese mir teuren Sachen, daß ich ernstlich Herzklopfenbekam. Ich muß aber sagen, daß niemand auch nur den Versuchgemacht hat, mir etwas abzunehmen.

Seit Stalins Tod hatte die Verbrecherwelt nicht mehr so freieHand wie früher. Ich habe auf dieser Reise erlebt, wie dieBegleitmannschaft einen widerspenstigen Verbrecher furchtbar

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schlug und mißhandelte. Immer wieder sah ich, wie der Menschohne Gott und Christus zu Ungerechtigkeit und Willkür neigt.

Die Reise von Perm nach Solikamsk dauerte nicht sehr lange,aber mir dünkte sie eine Ewigkeit zu sein. Je näher ich denMeinen kam, um so aufgeregter wurde ich. »Wie werde ich sieantreffen?« Das Wiedersehen mit Frau und Mutter schien mirnicht so schwierig, aber mit den Kindern? Die jüngste Tochterwar zwei Jahre alt, als ich die Familie verlassen mußte, und jetztwar sie zwölf. Die älteste war damals neun, und jetzt war sieerwachsen. Würden sie mich im Herzen als Vater annehmenkönnen?

Aber der Zug fuhr weiter, und plötzlich hieß es: »BahnhofSolikamsk.« Anstatt mich so richtig zu freuen, erschrak ich.»Jetzt ist es so weit, jetzt bist du frei, jetzt bist du in der Stadt,die dir eine neue Heimat sein soll. Jetzt kommen all dieProbleme auf dich zu, die du vorhin erwogen hast.«

Aber ich wurde wieder nüchtern, als es aussteigen hieß unddann wieder wie gewöhnlich: »Vorwärts! Ein Schritt nach linksoder rechts wird als Fluchtversuch gesehen. Es wird ohneWarnung geschossen!«

Ich wurde auch hier zuerst ins Gefängnis gebracht. Es warschon spät am Nachmittag. Der Deutsche und ich wurdengemeinsam in eine kleine Zelle gesteckt. Die Koffer mußten wirdraußen stehen lassen. »So«, sagte ich, »jetzt sind wir schonfast zu Hause und werden hier noch wieder eine Nacht imGefängnis zubringen müssen.«

Es dauerte aber nur einige Minuten, bis die Zellentür aufge-schlossen und ich aufgefordert wurde herauszukommen. ImVorraum erwartete mich ein Offizier, der sich später als meinneuer Kommandant entpuppte. »Nun, Epp«, sagte er, »nimmdeine Sachen, und dann wollen wir gehen.«

»Wohin?« wollte ich wissen.»Zur Kommandantur, dort erledigen wir einige Formalitäten,

du bekommst eine Bescheinigung von uns, und dann kannst dugehen.«

Ich war überrascht und fragte: »Heute schon?«»Ja, heute! Deine Frau und Kinder warten doch bestimmt

schon sehr auf dich!« Zum ersten Mal seit zehn Jahren ging ein

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hoher Offizier nicht hinter, sondern neben mir und unterhieltsich sogar mit mir. Ich hatte ein komisches Gefühl.

Die Kommandantur war nicht weit vom Gefängnis entfernt.Dort saßen noch einige Arbeiter an Schreibtischen, in Uniform.Ich wurde wirklich gut und freundlich behandelt. Als sie mit derSchreiberei fertig waren, händigten sie mir eine Bescheinigungaus, erklärten mir, wie ich zur Bushaltestelle komme und wo ichaussteigen müsse, um zum Stadtteil Wolodjinka zu kommen,wo die Meinen wohnten.

Dann ging ich los. Mein Herz klopfte. War es denn wirklichwahr oder träumte ich? Es konnte doch nicht möglich sein, daßmir niemand folgte, daß ich ganz ohne Begleitung undBeobachtung gehen durfte!

Ich wandte mich vorsichtig um, es war aber niemand zu sehen.Es war überhaupt eine menschenleere Straße, und das machtemich unsicher. Ich war nun zehn Jahre lang gewöhnt, immerunter vielen, unter Hunderten, ja Tausenden zu sein, und plötz-lich ging ich allein auf einsamer Straße. Ich hatte das Gefühl,daß im nächsten Augenblick Soldaten aus ihrem Versteck her-vortreten und mich zurück ins Gefängnis bringen könnten.Obgleich ich mich mit Gewalt auf den Gedanken »Freiheit«umzustellen versuchte, kam ich nicht ganz von diesem Spuklos. Und er hat mich noch lange verfolgt.

So kam ich bis zur Bushaltestelle, die im Stadtzentrum derStadt Solikamsk lag. Ich hatte große Schwierigkeiten, bei demGedränge in den kleinen Bus hineinzukommen. Dann hieß es:»Hier mußt du aussteigen, wenn du nach Wolodjinka willst.«

Ich stieg aus, stand unschlüssig und überlegte, wie die Straßezu finden sei. Ich war jetzt ganz nahe am Ziel. Mein Herz woll-te mir vor Aufregung zerspringen. Mutter, Frau und Kinderwußten zwar schon, daß ich in Kürze heimkommen würde, aberden genauen Tag wußten sie nicht. Wie wünschte ich doch, daßjetzt jemand von den Meinen mich hier erblicken möchte! Undwährend ich so in schwere Gedanken versunken dastand, ver-nahm ich plötzlich Worte in Plattdeutsch: »Dit es ji Peta App!«Erschrocken und doch erfreut wandte ich mich um, und vor mirstand eine junge Frau aus unserem Nachbardorf. Das erstebekannte Gesicht nach zehn Jahren! Ich wurde zu unsererStraße, Baracke und sogar Tür gebracht und hatte durch das

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viele Fragen und Erzählen keine Zeit, an mein Herzklopfen zudenken. Plötzlich hieß es: »Hier sind wir«, und die Tür wurdegeöffnet. Ich stand vor meiner Familie, für sie zu plötzlich.Doch welch unvergeßliches Wiedersehen!

Ich danke heute noch unserem allmächtigen Gott, daß er michdiese Wege geführt hat. Ich danke für die unendliche Geduld,die er mit mir hatte, trotz all meiner Untugenden, die sich in derschlimmen Zeit entwickelt hatten. Ja, ich danke ihm, daß er inder großen Not immer zur rechten Zeit gute Menschen schick-te, die mir halfen. Ihm sei Ehre in Ewigkeit!

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Daheim

Ich war jetzt nach zehnjähriger Trennung daheim! War ichwirklich zu Hause? Nicht in dem Sinne jedenfalls, wie es im all-gemeinen verstanden wird. Ich war nicht in Franzfeld, wo ichmein Häuschen mit viel Schweiß und Mühe gebaut hatte undwo ich mit Frau und Kindern einst so glücklich war, sondern ineinem Verbannungsort, wo auch Frau, Kinder und Mutter unterMeldepflicht lebten.

Aber ich war endlich wieder mit meinen Lieben vereint, unddas nach zehn Jahren!! Wer kann das schon verstehen?! Hiersollte ab jetzt mein liebes Heim sein.

Ich hatte nun meine Frau, drei Kinder und meine Mutterumarmt, aber eine Tochter war nicht zu Hause. Sie hatteSpätschicht und sollte erst nach Mitternacht heimkehren. Beider Begrüßung mit den beiden Jüngsten war ich ziemlichernüchtert worden. Ich fühlte, daß ich für sie ein fremder Mannwar. Aber wie konnte es auch anders sein? Sie waren ja erstzwei und drei Jahre alt, als ich sie verließ.

Meine Frau mußte am Tage meiner Ankunft um 20 Uhr zurNachtschicht. Soeben war ich nach Hause gekommen, wir hat-ten uns noch nicht unterhalten können, und wir hatten ja beideso viel auf dem Herzen. Fortwährend kamen Nachbarn undBekannte, um mich zu begrüßen. Als ich endlich zur Ruhe ging,wollte der Schlaf sich nicht einstellen. Zuviel war auf mich ein-gestürmt, und zudem hatte ich ja die eine Tochter noch nichtgesehen.

»Lenas Mann ist aus dem Gefängnis gekommen!« MeineTochter hatte diese Nachricht bereits in der Nachtschichtgehört, so daß ich sie nicht mehr überraschen konnte. Die Zeitverging ungemein langsam, bis endlich die Sirene des

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Manganbetriebes Mitternacht meldete. Immer ungeduldigerwurde ich. Wie würde diese Begegnung sein?

Als meine Tochter dann kam, hatte sie nicht den Mut einzu-treten. Sie stand am Fenster und weinte, und ich lag wach undahnte nicht, was sich abspielte. Endlich klopfte sie vorsichtig andie Tür. Dann stand sie im Zimmer, und ich durfte sie umarmen.

Für die beiden ältesten Töchter war ich also doch keinFremder.

Der erste Tag war voller Freude aber auch Enttäuschungen.Wie freute ich mich, als ich sah, wie meine Kinder vor demSchlafengehen niederknieten und das Nachtgebet so schönsprachen. Zehn Jahre lang hatten meine Ohren nur Schimpfenund Fluchen gehört, aber nie ein kindliches Gebet. Wie gut wares doch, daß meine Kinder immer noch die Großmutter gehabthatten, wenn meine Frau zur Arbeit ging. Und wie sehr hattedoch mein verstorbener Vater die Erziehung beeinflußt, indemer den Kindern immer wieder die biblischen Geschichtenerzählte.

So fing ein neues Leben an. Meine Familie hatte kein norma-les Eßgeschirr auf dem Tisch. Getrunken wurde aus Blechdosenund allerlei Konservenbüchsen, die sie nicht selber geleert hat-ten. Es gab keine Stühle - alte Patronenkästen dienten alsSitzgelegenheit. Der Tisch war selbstgebastelt und stand aufgroben Kreuzfüßen. Für uns alle gab es nur ein altes Eisenbettneben einigen zusammengebastelten Pritschen. Ich mußte fest-stellen, daß ich in den letzten Jahren im Lager weit menschli-cher gelebt hatte als meine Familie in dieser sogenanntenFreiheit. Wir hatten in den letzten Jahren immerhin ausAluminiumschüsseln gegessen und aus Aluminiumbecherngetrunken. Ich hatte mir auch einen anständigen Löffel besor-gen können. Ebenso hielt der Wohnraum keinem Vergleichstand. In den letzten Jahren gab es im Lager keine Läuse undWanzen mehr, es wurde wirklich dagegen gekämpft. Zu Hausemußte ich die Wanzen wieder ertragen, so sehr meine Frau auchdagegen ankämpfte, denn die Holzbaracken waren zu günstigfür das Ungeziefer; und wo Armut ist, kommt auch dasUngeziefer. Ich hatte mir immer vor Augen gemalt, daß meineFamilie in sehr armen Verhältnissen lebte, aber wie groß ihreArmut wirklich war, erkannte ich erst, als ich sie sah.

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Dies waren so meine ersten Eindrücke nach meiner Heimkehr.Es war aber noch lange nicht alles, was auf mich zukommensollte. Mein Junge wollte nicht mehr lernen, obgleich er sehrbegabt war. Jetzt sollte ich mich als Vater durchsetzen, aberwie? Ich war doch als ein Fremder ins Haus gekommen. Es warauch gar nicht so einfach für die Kinder, mir Vertrauen undGehorsam entgegenzubringen. Und dann die Angst, ein Kindganz zu verlieren. Ich hatte ja wenig Erfahrung inErziehungssachen. Ich verließ kleine Kinder und hatte es nunmit Erwachsenen zu tun. Die Kinder waren auch täglich demEinfluß lauter vaterloser Kindern aller Nationen ausgeliefert,wo die Mütter keine Zeit für sie hatten.

Zunächst einmal bestand meine Frau in ihrer Sorge um michdarauf, daß ich noch keine Arbeit annahm. Sie sagte: »EinenMonat ruhst du dich jetzt erst einmal aus, bevor du Arbeitsuchst.« Ich war ihr dankbar für diese Nachricht, hatte ich dochauch etwas erspartes Geld mitgebracht.

Der Monat ging schnell zu Ende und meine Reserven auch.Ich begann, Arbeit zu suchen, was im Winter gar nicht so ein-fach war. Mein Beruf war Putzer und Maler und die Winterzeitnicht günstig. Eine Arbeit als Lastenträger konnte ich gesund-heitshalber nicht annehmen. Da versuchte ich es alsKunstmaler. Es ging ja nur um das Anfertigen von patriotischenWandzeitungen und dergleichen. Als ich aber vorsprach undmich ausweisen mußte und man meinen Entlassungsschein mitVermerk Paragraph 58 sah, hieß es: »Wir dürfen einen politi-schen Häftling nicht für eine politisch verantwortungsvolleArbeit anstellen.« Eine wesentliche Rolle spielte wohl noch,daß ich Deutscher war.

Ich wurde dadurch wieder entmutigt. »Gott, warum? Ist’snicht genug, daß ich zehn Jahre von meiner Familie getrenntwar und unter so schweren Verhältnissen leben mußte?« AberGott wußte es besser, und ein Jahr später erkannte ich es auchund war froh, daß ich die Anstellung nicht bekommen hatte,denn dann hätte ich mich nicht am Gemeindeleben beteiligendürfen, das nach der Freilassung etlicher Prediger wieder auf-zuleben begann.

So wurden aus meinem einmonatigen Urlaub sechs Monate.Meine Kunstmalerkenntnisse, die ich mir im Lager angeeignet

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hatte, halfen mir, in den arbeitslosen Monaten ein wenig Geldzu verdienen, indem ich Wandschoner malte, die damals inMode waren.

Im März, als der Frühling näher kam, hielt ich wiederAusschau nach Arbeit in meinem Beruf, und Ende des Monatsfand ich endlich einen Platz in der Wohnungs-kommunalabteilung des Manganbetriebes. Es wurde wärmer,und die Renovierungsarbeiten sollten wieder aufgenommenwerden. Es fehlte an einem Mann, der eine kleine Putz- undMalerbrigade leiten konnte. Der Chef war begeistert von mir.Ihn störten Vergangenheit und Nationalität nicht. ImTelefongespräch mit seinem Vorgesetzten sagte er: »Dies isteine Art Menschen, die, wenn sie einen Beruf haben, ihn auchwirklich können.« Ich war überglücklich, daß ich jetzt endlicheine Anstellung bekommen sollte und daß mein zukünftigerVorgesetzter keinen Anstoß an meiner Vergangenheit nahm.

Am nächsten Tag mußte ich mich beim Leiter der Abteilungfür Arbeitskader vorstellen. Ohne ihn wurde ein Arbeiter wederangestellt noch entlassen. Als ich da erschien und in seinemBüro vor ihm stand, überkam mich ein tiefes Unbehagen. Seineschwarzen Augen durchbohrten mich förmlich. Mißtrauen undVerachtung waren darin zu lesen. Er unterwarf mich einem rich-tigen Verhör, wie ich es nur aus dem Gefängnis in Erinnerunghatte. Wieso, warum, wofür ich gesessen hätte usw. MeinEntlassungsschein, den ich von der Kommandantur erhaltenhatte, genügte ihm nicht. Einen Personalausweis gab man mirnicht. Also war meine Vorfreude wieder gedämpft. Schließlichsagte er zu mir, ich solle zur Kommandantur fahren und ihmeine Kopie meiner Personalien bringen: Verurteilung, von wel-chem Gericht, Paragraph usw. Wenn ich die Stelle haben woll-te, mußte ich fahren. Dort bekam ich zur Antwort: »Nein!«, undman sagte mir, das gehe ihn überhaupt nichts an, dies wäreallein ihre Angelegenheit!

Am nächsten Tag sprach ich wieder beim Chef fürArbeitskader vor und berichtete, was man mir in derKommandantur mitgeteilt hatte. Da fuhr er mich wieder an, dasDokument müsse er haben, sonst bekäme ich keine Anstellung.Ich machte mich wieder auf den Weg zur Kommandantur, wie-der ohne Erfolg. »Wenn er was wissen will, soll er sich telefo-

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nisch melden«, sagten sie zu mir, und ich war entlassen. Auchdiese Meldung überbrachte ich.

Die Antwort: »Telefongespräche kann ich deinen Papierennicht beiheften«; ich mußte wieder gehen. Was sollte ich nurtun? Ich war mit meinem Latein am Ende.

Am nächsten Tag nahm ich mich nochmals fest zusammen,fuhr wieder zur Kommandantur und verlegte mich auf ernstli-ches Bitten, und die NKWD-Offiziere hatten endlich Mitleid.Der Chef sagte schließlich: »Fertige dem armen Mann aus-nahmsweise eine Kopie an und gib sie ihm, damit man ihn nichtmehr hin- und herjagt.«

Oh, war ich dem Mann dankbar, nahm meine Kopie inEmpfang und fuhr getröstet nach Hause. Noch einmal vergingein Tag, bis ich die Kopie vorzeigen konnte. »So«, sagte derBeamte, »das ist was ganz anderes. Jetzt können wir reden.« Erstudierte das Dokument sehr aufmerksam durch, gab es mirgedankenverloren zurück, drückte den Knopf, die Sekretärinerschien, und er ordnete an, mich als Maler der Renovierbrigadeeinzutragen. Ein Stein wälzte sich von meinem Herzen! DieKopie, die doch eigentlich meinen Unterlagen beigeheftet wer-den sollte, steckte ich ein, und niemand hat sie mir je abver-langt! So habe ich sie heute noch als Souvenir jener schwerenJahre bei mir.

Am Tag darauf meldete ich mich zur Arbeit. Ich hatte nichtweit bis zum Arbeitsplatz, und mein Herz wollte mir fast ausder Brust springen. Ich fürchtete schon, daß ich vielleicht nichtarbeiten konnte, und ich mußte doch! Wie es dann so ist, wennein Neuer kommt, wurde auch ich von vielen Augen neugierigbetrachtet. Die erste Aufgabe war, gemeinsam mit Walja, einer18jährigen Weißrussin, eine Wohnung zu renovieren. Es gabdort genügend Verputzarbeit, so daß ich Gelegenheit hatte,mein Können zu zeigen. Walja war eine Anfängerin, aber eingutes, williges Mädchen. Wir hatten uns schnell aneinandergewöhnt. Sonderbarerweise kam am ersten Tag niemand, um zusehen, was wir machten und ob ich überhaupt etwas konnte. Ichweiß nur, daß Walja am anderen Tag erzählte, daß unser direk-ter Vorgesetzter sie gefragt habe: »Na, wie ist dein Neuer?Versteht er überhaupt etwas?«

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Sie hatte ihm mit dem Daumen nach oben gesagt: »Und wie eres versteht!« Ich freute mich, daß meine Partnerin mich sofortangenommen und verteidigt hatte. Ich gewann jetzt schnell dasVertrauen meiner Vorgesetzten, und zu meiner Freude wurde esauch langsam besser mit meinem Herzen. Die Zeit derAufregungen hatte bestimmt eine wesentliche Rolle gespielt,und meine Mutter gab mir täglich ein Glas Zuckerwasser zutrinken.

Allmählich ging es auch zu Hause besser, als ich erst etwasverdiente. Und der Fremde wurde immer mehr der Papa. Auchmein Sohn ging wieder zur Schule. Der Bekanntenkreis erwei-terte sich, denn es gab in der Stadt Solikamsk viele Deutscheunter den Verbannten. Als ich das erstemal mit meiner Frau imKreise solcher Menschen war und viel gesungen wurde, wußteich nicht, wie mir geschah. Zehn Jahre hatte ich diese Liedernicht gehört, nur böse, unanständige Lieder und gemeineFlüche. Wie bewegte das zu Vorsätzen!

Ich war ja zu zehn Jahren verurteilt und weitere fünf Jahreohne Stimmrecht. Also durfte ich mich nicht am gesellschaftli-chen und politischen Leben beteiligen. Ich nahm weder anBetriebsversammlungen noch an Festdemonstrationen und der-gleichen teil, auch nicht an der Betriebsfeier zum 1. Mai. Soetwas fällt in Rußland sehr auf und wird sehr negativ bewertet.Eines Tages wurde ich ins Büro gerufen. Nanu, dachte ich, waswollen die von mir? Als ich hinkam, wurde ich genötigt, michzu setzen, und dann sagte der technische Leiter, Shidkow, zumir: »Pjotr Kornjejewitsch (russische Anrede), wir schätzenIhre Arbeit und sind sehr zufrieden mit Ihren Leistungen, aberSie beteiligen sich überhaupt nicht am politisch-gesellschaftli-chen Leben unseres Arbeiterkollektivs. Wir sehen Sie niemalsauf einer Betriebsversammlung.«

Darauf antwortete ich: »Genosse Shidkow, ich darf mich janicht beteiligen. Wissen Sie nicht, daß ich kein Stimmrechthabe? Fünf Jahre lang muß ich mich enthalten, so lautet meinUrteil! Fünf Jahre darf ich nicht mitreden und schon gar nichtmitbestimmen.«

Gespannt hatte er mir zugehört, und dann platzte er heraus:»Ach, das ist die Ursache? Mensch, mit wem sollen wir hier imVerbannungsgebiet denn arbeiten, wo der größte Teil der Leute

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ohne Stimmrecht ist? Enthalten Sie sich nur bei den Wahlen inden Obersten Sowjet, sonst sind Sie uns immer und überall will-kommen.« Shidkow war in den dreißiger Jahren mit seinenEltern hierher ausgesiedelt worden. Er war selber einStimmloser gewesen und hatte es bis zum Parteibillet gebracht.Er war aber wie so viele nur eine »Radieschen« (außen rot,innen weiß).

Ich habe bei meinen Vorgesetzten auch nie gespürt, daß ich alsehemaliger politischer Sträfling benachteiligt wurde. DieVorgesetzten waren fast alle Söhne früher ausgesiedelter,stimmloser Kulaken. Sie hatten die Baracken, in denen wirwohnten, einst gebaut und darin ein elendes Dasein gefristet.Meine Vorgesetzten haben mir auch später, als dasGemeindeleben sich entwickelte, nie einen Vorwurf gemacht,aber die politischen Parteifunktionäre wurden oft ungemütlich.Das wurde zu einem richtigen Problem, als wir unsereWohnung vergrößern wollten.

Aber Gott hat mir auch unter diesen Funktionären immer wie-der gute Menschen gezeigt, so daß ich doch auch schöneErinnerungen aus der Verbannungszeit habe. UnterChruschtschow gab es noch einmal eine durchgreifendeVerfolgung der Gemeinden, aber bei uns wurde niemand insGefängnis geworfen. Und es kam die Zeit, daß wir den Nordenverlassen und in der Stadt Dshambul, in Kasachstan, einenNeuanfang machen durften.

Dem Herrn sei Dank für seine wunderbare Führung!Ich hoffe, daß meine Aufzeichnungen nüchtern beurteilt wer-

den können. Vielleicht kann man aus meinen Erfahrungen sogaretwas lernen. Wir wollen uns nicht als Richter über die erheben,welche uns Leid zugefügt haben. Da war Einer, der lehrte unszu bitten: »Vergib uns unsere Schuld, wie wir unserenSchuldigern vergeben!«

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Worterklärungen

Arbusen - WassermelonenBanja - BadeanstaltBatjko Machno - Väterchen MachnoBatja - VäterchenDawaj - Los!Dnjewaljnej - Aufräumer und Wächter zugleichEtap - GefangenentransportGeroj - HeldGoden - tauglichGrabjat - sie raubenIsolator - LagergefängnisKargopollag - Lagerverwaltung im Nordwesten RußlandsKomsomolorganisation - kommunistische JugendorganisationKomsomolzen - Mitglieder des KomsomolKontor - BüroKonwoj - GefangenenwacheKulaken - wohlhabende Bauern ( »Ausbeuter« )Makucha - ausgepreßte ÖlkuchenMastjer Ljesa - Meister des BäumefällensMilizionär - PolizistNarjadschik - LagerbeamterNatschaljnik - Vorgesetzter (Chef)Natschaljnik Rabote - Chef aller Arbeitszweige

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Norm - TagessollOtkastschik - VerweigererOtstawitj - aufhörenParascha - Fäßchen, das die Toilette ersetztePereselka - VerteilungslagerPodmajsja - steh aufPojdjosch - gehst duProtjiwnaja Rosha - widerliche FratzeRajon - BezirkSklad - LagerhausSljeduj - folgenSsuki - Hündinnen (Name einer berüchtigten Verbrechergruppe)Starschij - ÄltesteStolepin - nach Stolepin benannter GefangenenwagenStukkateur - PutzerSweno - DreimanngruppeTrudarmee - ArbeitsarmeeTschornaja Ssotnja - Schwarze HundertTschornej Woron - Schwarzer Rabe (berüchtigter Etapwagen)Wore - Diebe (Name einer berüchtigten Verbrechergruppe)Wswodnyj - ZugführerWyschki - WachtürmeZone - Lagerterritorium

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Entlassungsschein des Autors. Solikamsk, 1954

Portrait des Autors, gezeichnet von einem Mitgefangenen im Lager Tschuschga 1947.

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J. C. Wenger

Wie die Mennonitenentstanden sind

Paperback

92 Seiten

J.C. Wenger ist ehemaligerProfessor für HistorischeTheologie am Goshen Bibli-cal Seminary, einer Schuleder Associated MennoniteBiblical Seminaries, Elkhart,Indiana. Er hat sein Lebenlang das Täufertumerforscht und zahlreicheAufsätze und Bücher aufdiesem Gebiet veröffentlicht.

Er studierte am Eastern Mennonite und Goshen College(BA), an den Theologischen Seminaren Westminster undPrinceton und an den Universitäten Basel, Chicago,Michigan (MA in Philosophie) und Zürich (Doktor derTheologie).

Er hat den Mennoniten als Diakon, Prediger und Bischofgedient.Im Jahre 1937 heiratete er Ruth D. Detweiler, Diplom-Krankenschwester. Sie haben zwei Söhne und zweiTöchter.

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Kornelius Krahn:Menno Simons,

Lebenswerk

Paperback

64 Seiten

Denn es gibt auf Erden nichts,

das ich so liebe,

wie die Gemeinde.

M. Simons

(In seinem Brief an seinen Schwager Reyn)

___________________________________Beide Bücher sind zu bestellen bei:

Christliche Missions-Verlags-Buchhandlung

Elverdisser Str. 29, 33729 BielefeldTel.: 0521/9774974; Fax.: 0521/9774969

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