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8 FOLIO 3/2019 Seit Sommer 2018 werden die 7. Klassen an der Oberstufenschule Frutigen im Berner Oberland nach dem neuen Lehrplan unterrichtet. Was hat sich seitdem geändert? Ein Augenschein vor Ort. OBERSTUFENSCHULE FRUTIGEN Unterrichten nach Lehrplan 21 Frutigen im Berner Oberland. Das verwinkelte Gebäude der Oberstu- fenschule liegt noch wie zu meiner Schulzeit vor 25 Jahren eingebettet zwischen grünen Wiesen, auf denen Kühe friedlich grasen. Die Glocke dröhnt schrill über den Schulplatz. Die grosse Pause ist vorbei. Die Schülerinnen und Schüler strömen die Treppen hinauf in ihre Klassen- zimmer. Die Wandtafel und der Blick aus dem Fenster lassen meine Ge- danken zurück in die Vergangenheit schweifen. An das leise Tuscheln mit Schulfreundinnen, während der Leh- rer vorne referierte. An das Abschrei- ben von der Wandtafel, fein säuber- lich von Hand. An die unbequemen Holzstühle, die zum Schaukeln einlu- den. Diese – und die Pulte – wurden in der Zwischenzeit durch ergonomi- schere Modelle ersetzt. Doch sonst scheint sich auf den ersten Blick nicht viel verändert zu haben. Dieser Blick täuscht. Es sind einige Reformen durch das Zimmer geweht. Doch keine hat wohl im Vorfeld für so viel Wirbel gesorgt wie diejenige vom letzten Sommer. Seitdem werden hier

OBERSTUFENSCHULE FRUTIGEN Unterrichten nach Lehrplan 21 · Lehrplan 21 unterrichtet. Die Schülerin - nen und Schüler aus dem Oberland gehören damit zu den rund 100 000 Kindern,

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Page 1: OBERSTUFENSCHULE FRUTIGEN Unterrichten nach Lehrplan 21 · Lehrplan 21 unterrichtet. Die Schülerin - nen und Schüler aus dem Oberland gehören damit zu den rund 100 000 Kindern,

8 FOLIO 3/2019

Seit Sommer 2018 werden die 7. Klassen an der Oberstufenschule

Frutigen im Berner Oberland nach dem neuen Lehrplan unterrichtet.

Was hat sich seitdem geändert? Ein Augenschein vor Ort.

OBERSTUFENSCHULE FRUTIGEN

Unterrichten nach Lehrplan 21

Frutigen im Berner Oberland. Das

verwinkelte Gebäude der Oberstu-

fenschule liegt noch wie zu meiner

Schulzeit vor 25 Jahren eingebettet

zwischen grünen Wiesen, auf denen

Kühe friedlich grasen. Die Glocke

dröhnt schrill über den Schulplatz.

Die grosse Pause ist vorbei. Die

Schülerinnen und Schüler strömen

die Treppen hinauf in ihre Klassen-

zimmer. Die Wandtafel und der Blick

aus dem Fenster lassen meine Ge-

danken zurück in die Vergangenheit

schweifen. An das leise Tuscheln mit

Schulfreundinnen, während der Leh-

rer vorne referierte. An das Abschrei-

ben von der Wandtafel, fein säuber-

lich von Hand. An die unbequemen

Holzstühle, die zum Schaukeln einlu-

den. Diese – und die Pulte – wurden

in der Zwischenzeit durch ergonomi-

schere Modelle ersetzt. Doch sonst

scheint sich auf den ersten Blick

nicht viel verändert zu haben.

Dieser Blick täuscht. Es sind einige

Reformen durch das Zimmer geweht.

Doch keine hat wohl im Vorfeld für so

viel Wirbel gesorgt wie diejenige vom

letzten Sommer. Seitdem werden hier

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FOLIO 3/2019 9

THEMA

Text: Sarah Forrer

Bild: Michael Würtenberg

«Mehr Lektionen,

dafür weniger

Hausaufgaben»

die drei 7. Klassen nach dem neuen

Lehrplan 21 unterrichtet. Die Schülerin-

nen und Schüler aus dem Oberland

gehören damit zu den rund 100 000

Kindern, die im Kanton Bern auf das

Schuljahr 2018/2019 umgestellt haben.

Mittendrin: Eugen Klein. Der 46-jährige

Lehrer unterrichtet seit vier Jahren an

der Oberstufenschule Frutigen. Er ist

der Klassenlehrer der Realklasse.

FOLIO: Eugen Klein, wie sehr hat sich

Ihr Berufsleben seit vergangenem

Sommer verändert?

Eugen Klein: Ich bin ein Quereinstei-

ger und habe mich erst vor acht Jah-

ren vom Pflegefachmann zum Lehrer

umschulen lassen. Somit wurde ich

bereits in der Lehrerausbildung auf

den Lehrplan 21 vorbereitet und lern-

te die neuesten Didaktik-Methoden.

Das war für mich sicher ein Vorteil.

Ich musste meine Unterrichtsgestal-

tung nicht grundsätzlich überdenken.

Mir war immer wichtig, die Stunden

abwechslungsreich mit Einbezug der

Schülerinnen und Schüler zu gestal-

ten. Was sich verändert hat, sind si-

cher formale Punkte wie die Anzahl

Lektionen und Beurteilungsformen.

Was heisst das konkret?

Das lässt sich kurz zusammenfassen:

mehr Lektionen, dafür weniger Haus-

aufgaben. Um die Fachbereiche

Deutsch, Mathematik sowie Informa-

tik und Medien zu stärken, wurden

zusätzliche Lektionen eingeführt. Um

dies auszugleichen, dürfen wir weni-

ger Hausaufgaben geben. Auch die

Fächerbezeichnungen wurden ange-

passt. Die grösste Herausforderung

ist für uns das neue Beurteilungssys-

tem. Es werden nicht nur Tests, son-

dern auch Lernprozesse beurteilt.

Das lässt viel Platz für die subjektive

Wahrnehmung und ist daher sicher

eine Knacknuss.

Wie werden Sie von der Schul leitung

und dem Kanton unterstützt?

Der Lehrplan 21 ist das zentrale The-

ma im Lehrerzimmer! Mit den Kollegen

diskutieren wir oft über mögliche Un-

terrichtsformen, aber auch über Beur-

teilung und neue Lehrmittel. Die Um-

stellung ist eine Chance, sich wieder

intensiv mit dem Unterricht auseinan-

derzusetzen. Wir haben intern päda-

gogische Weiterbildungen, und auch

auf kantonaler Ebene werden wir ge-

schult.

An diesem Freitagmorgen steht RGZ –

Räume, Zeiten, Gesellschaften – auf

dem Stundenplan. Eugen Klein proji-

ziert ein Bild an die Wandtafel, das

eine alte Kreidetafel von 1906 neben

einem Tablet von 2013 zeigt. «Was hat

dieses Bild mit Geschichte zu tun?»,

fragt Eugen Klein. Mit dem Pultnach-

barn tauschen sich die Schülerinnen

und Schüler aus. Dann folgt eine kur-

ze Inputrunde. Als Nächstes teilt der

Lehrer Blätter aus. Jeweils zu zweit

lesen sie den kurzen Text über Epo-

chen der Menschheit. Jeder Abschnitt

wird von einem der Schüler zusam-

mengefasst. Der andere stellt Fragen.

Das kooperative Lesen, das die Klasse

im Deutschunterricht behandelt hat,

fliesst fliessend in die Geschichts-

stunde ein.

Eugen Klein geht herum, horcht und

hilft. Nach zehn Minuten teilt er die

Klasse in fünf Gruppen ein. Diese sol-

len selbstständig mithilfe des Com-

puters Informationen über wichtige

Ereignisse der Weltgeschichte zu-

sammentragen und am Schluss der

Klasse vortragen. Während meine

Schulzeit einem ruhigen Fluss glich –

der Lehrer dozierte, wir hörten zu oder

schrieben von der Wandtafel ab –,

kommt der Unterricht heute wie ein

lebendiges Bergbächlein daher. Der

Verlauf ist nicht kanalisiert, die Schü-

lerinnen und Schüler können – und

müssen – sich ihren Weg, ihr Wissen

selbst aneignen.

Eugen Klein: Ist diese Lektion typisch

für den Lehrplan 21?

Eugen Klein: Ja, das entspricht sicher

dem Geist des neuen Lehrplans. Ich

übernehme die Rolle des Regisseurs,

des Coaches. Die Schülerinnen und

Schüler selbst spielen die Hauptrollen.

Sie sollen selber denken und Zusam-

menhänge verstehen. Dabei geht es

nicht nur um das jeweilige Fach, son-

dern um die Verknüpfung mit Deutsch,

Geografie und so weiter. In Zweier-

und Gruppenarbeiten lernen die Schü-

lerinnen und Schüler überfachliche

Kompetenzen wie Teamfähigkeit, ge-

genseitiges Zuhören und Respekt.

Was der Lehrplan 21 auch unterstützt,

ist das Rausgehen, das Verlassen des

Schulzimmers, um Zusammenhänge

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THEMA

zu sehen. Dabei können sehr spannen-

de Geschichten entstehen!»

Haben Sie ein Beispiel?

Anfang des Schuljahres habe ich die

Klasse aufgefordert, durch Frutigen

zu gehen und eine historische oder

geografische Frage zu entwickeln

und diese zu beantworten. Dafür

mussten sie die Umgebung wahrneh-

men, auf Personen zugehen, Inter-

views führen. Eine Gruppe stellte die

Frage: Wer ist die älteste Person auf

dem Friedhof? Sie sprachen dann mit

dem Pfarrer und der Kirchgemeinde.

Für solche Projekte lassen sich die

Schülerinnen und Schüler nach an-

fänglichen Startschwierigkeiten oft

sehr gut motivieren. Und auch für

mich als Lehrperson sind sie berei-

chernd und bringen überraschende

Resultate zutage. Solche Konzepte

wünsche ich mir mehr – auch fächer-

übergreifend mit anderen Lehrperso-

nen. Es braucht aber etwas Zeit, bis

sich das in der Institution Schule ver-

ankert hat.

Wo sehen Sie Herausforderungen des

neuen Lehrplans?

Das neue Beurteilungssystem sorgt

für eine gewisse Unsicherheit – es ist

aber wohl einfach eine Frage der Zeit,

bis sich das eingespielt hat. Ein grös-

seres Hindernis ist für mich der Zeit-

faktor. Wer den Unterricht abwechs-

lungsreich mit Inputs der Schülerinnen

und Schüler gestaltet, braucht länger

für die Bearbeitung des Stoffes als

beim Frontalunterricht. Gerade im

Geschichtsunterricht hinke ich etwas

hinterher. Da stellt sich für mich die

Frage nach Qualität oder Quantität.

Die Klingel schrillt durchs Schulhaus.

Die Zeit ist – für mich jedenfalls – ver-

flogen. Die Mädchen und Jungs verab-

schieden sich und springen aus dem

Schulhaus rauf auf ihre Mofas. Eugen

Klein schaut ihnen nach. Er wird nach-

denklich. Die meisten seiner Schüle-

rinnen und Schüler stecken mitten in

der Pubertät. Sie sind mehr mit sich

selbst und mit ihrem Umfeld als mit

dem Lehrstoff beschäftigt. Aus eige-

Eine Mammutübung mit Knacknüssen

Bern ist nicht der einzige Kanton, der

auf das Schuljahr 2018/2019 mit

der Einführung des neuen Lehrplans

angefangen hat. Sechs weitere Kantone

haben ebenfalls auf diesen Zeit-

punkt umgestellt (siehe Artikel «Was

erwartet die Berufsbildung?»). Die

Art der Einführung, die Weiterbil-

dungen und die Lehrmittelwahl hat

jeder Kanton individuell festgelegt.

Eine Umschau zeigt: Die ersten

Rückmeldungen aus den Kantonen sind

durchaus positiv. Die Begleitung der

Kantone und die Weiterbildungsan-

gebote werden von den Lehrpersonen

als wichtig erachtet. Auch die ge-

staffelte Einführung begrüssen die

Schulleitungen. Die Schulen und Lehr-

personen schätzen, dass sie sich

während des Einführungsprozesses auf

ihr Kerngeschäft – den Unterricht –

konzentrieren können.

Dennoch ist klar, dass eine solche

Mammutübung nicht ohne Reibung

geschieht. Ein Thema sind beispiels-

weise die neuen Fachbereiche (Räume,

Zeiten, Gesellschaften oder Natur

und Technik), wo verschiedene Ein-

zelfächer zusammengezogen werden. Da

brauche es genaue Absprachen zwi-

schen den Lehrpersonen. Auch die

Beurteilung nach Kompetenzen sorgt

für Unsicherheit. Diese Ansprüche

alle gut unter einen Hut zu bringen,

sei sicher eine Herausforderung.

Kritik wird bezüglich der neuen

Lehrmittel im Fremdsprachenunter-

richt laut. In einem sind sich die

Kantone einig: Es braucht vor allem:

Zeit, bis der neue Lehrplan auch

wirklich in den Schulstuben angekom-

men ist. Für ein Fazit sei es des-

halb noch zu früh.

ner Erfahrung weiss Eugen Klein: Bei

vielen öffnet sich der Knopf erst nach

der Schule.

Und da sieht er beim LP21 denn auch

die grösste Chance: Dass er die Schu-

le als Institution verändert. Weg vom

«Bulimie-Lernen», wo die Jugendli-

chen innert kürzester Zeit das Wissen

in ihren Kopf reinpauken, um es einzig

und allein für den Test zu verwerten

und danach wieder zu vergessen, hin

zu einer Schule als Ort, wo man nicht

lernen muss, sondern darf und möch-

te. Wo Selbstständigkeit, Lernreflexi-

on und soziale Kompetenzen geför-

dert werden. Davon würden am Ende

alle profitieren: die Schülerinnen und

Schüler, die Gesellschaft, aber auch

die Lehrbetriebe. Eugen Klein: «Nicht

nur das Fachwissen ist entscheidend.

Sondern das, was wir den jungen Men-

schen darüber hinaus mit auf den

Weg geben.

Die elementaren Spielregeln

im Klassenzimmer gelten

auch mit dem LP21.