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Überfordert im Wandel - Forschungsergebnisse und Erfahrungen aus dem Praxisalltag -
Das erschöpfte SelbstTagung, 5. – 6. Oktober 2007
St. Virgil Salzburg
PD Dr. med. H. BökerKlinik für Affektive Erkrankungen und Allgemeinpsychiatrie Zürich Ost
Zentrum für Depressions- und Angstbehandlung
- Häufigkeit der Depression- Multidimensionalität depressiver Erkrankungen- Die Bedeutung des Wandels: Scheitern am Wandel
- Trennungserfahrungen- Psychosoziale Belastungen, u.a. Arbeitslosigkeit
- Die Bedeutung der Geschlechtsrollenfaktoren- Die Bedeutung der Persönlichkeit- Die Bedeutung des Selbstbildes- Die Biologie der Depression- Aus dem Praxisalltag- Fazit: Scheitern an Autonomie, Neu-finden und Neu-entwerfen?
Überfordert im Wandel - Forschungsergebnisse und Erfahrungen
aus dem Praxisalltag -
Häufigkeit der Depression
WHO-Schätzungen
Lebenszeitprävalenz von unipolaren Depressionen
Autoren Land Lebenszeitprävalenz (%)
Weissmann u. Myers (1978) USA 18Wittchen et al. (1993) WHO 17 (4,2 schwer, 7,3 mittelschwer,
5,6 leicht)Lepine (1994) F 16,4Blazer et al. (1994) USA 17,1Spanner et al.(1994) Kanada 8,6Maier et al. (1996) D, WHO 7-12 Angst (1997) CH 16
♀ : ♂ = 2 : 1
Veränderungen in der Reihenfolge der krankheitsbedingten Beeinträchtigungen infolge der 15 bedeutendsten Erkrankungen weltweit im Zeitraum von 1990 – 2020 (Murray & Lopez 1996)
Unipolar major depression
Unipolar major depression
Mehrdimensionalität depressiver Erkrankungen
Vulnerabilität Gemischte biologische und
psychosoziale
Depressiver Affektsignalisiert drohenden oder
eingetretenen intrapsychischen Stillstand
(„Deadlock“, Gut 1989)
LebensereignissePersönlichkeit
Depressives Syndrom
Produktive Änderung
Psychobiologische StressreaktionDysbalance zwischen Stressachse,
serotonergem System und Wachstumsfaktor
Präfrontale kortikale DysfunktionNegative affektive Tendenz
Stimmungsabhängige ErinnerungAktivierung des autonomen
Nervensystems
Depression als Psychosomatose der Antriebs-Stimmungs-SystemeEntwicklung und Funktion des depressiven Affekts
Die Bedeutung des Wandels: Scheitern am Wandel
Ergebnisse der Life-Event-Forschung bei Depressionen(Paykel & Dowlatshahi 1988)
• Wesentlich mehr Life events vor Ausbruch der Depression als bei anderen psychischen Störungen
• Trennungs- und Verlustereignisse (75%)• Anstieg der Anzahl belastender Lebensereignisse in
den Wochen vor Beginn der Depression.• Untergruppe (20%): keine Life events im Vorfeld
Die Bedeutung psychosozialer Belastungen - Zeitlicher Zusammenhang zwischen belastenden
Lebensereignissen und Depressionen(Kendler et al. 1998) -
Verlaufsstudie an 680 Zwillingen
Risiko, im folgenden Monat an einer Depression zu erkranken:
• Keine belastendes Lebensereignis è 0.9%• 1 Ereignis è 3,4%• 2 Ereignisse è 6,8%• 3 Ereignisse è 23,8%
Die Bedeutung psychosozialer Belastungen - Ätiologisches Modell zur Vorhersage von
depressiven Episoden (Kendler et al. 1993) -
Stichprobe: 680 Zwillinge
Reihenfolge der Prädiktoren:
1. Belastende Lebensereignisse
2. Genetische Faktoren
3. Frühere depressive Episoden
4. Neurotizismus
Die Bedeutung psychosozialer Belastungen- Odds Ratio für den Beginn einer depressiven
Episode nach DSM-III im Monat des Ereignisses bei 1898 weiblichen Zwillingen (Kendler et al. 1999) -
Belastendes Lebensereignis Odds Ratio
Überfall 25.36Schwerwiegende Eheprobleme 8.39Schwerwiegende Wohnschwierigkeiten 7.42Todesfall im sozialen Umfeld 6.29Finanzielle Schwierigkeiten 5.85Schwierigkeiten mit einer Person in der sozialen Umgebung 5.04Verlust der Arbeitsstelle 3.95Verlust eines bedeutungsvollen Menschen 3.17Schwere Krankheit 3.10Schwere Krankheit im sozialen Umfeld 2.50
Die Bedeutung der Arbeitslosigkeit
Arbeitsunfähigkeit infolge psychischer Störungen (1997 – 2001)
Davon bedingt durch:• Affektive Störungen (F30 – F39): ♂ 31,2, ♀ 55,3• Neurotische Störungen (F40 – F48): ♂ 30,9, ♀ 56,9
Arbeitsunfähigkeitstage 2001
Die Bedeutung der Arbeitslosigkeit- Weniger guter oder schlechter
Gesundheitszustand in Abhängigkeit von Arbeitslosigkeitserfahrungen bei Männern
(Selbstangabe) -
Die Bedeutung der Arbeitslosigkeit- Bedrohung durch mögliche eigene
Arbeitslosigkeit und Angst und Depressivität (HADS, Sächsische Längsschnittstudie) -
Die Bedeutung der Arbeitslosigkeit- Bedrohung durch mögliche eigene
Arbeitslosigkeit und Einschätzung des Gesundheitszustands
(Sächsische Längsschnittstudie) -
Die Bedeutung der Arbeitslosigkeit und Belastungen am Arbeitsplatz
arbeitend mit Sorgen
Arbeitslosigkeit schlägt Narben in die Seele
Der Sturz in die Arbeitslosigkeit hinterlässt psychische Spuren, die nie wieder ganz verschwinden. Eine Langzeit-Studie ergab jetzt, dass ehemals Erwerbslose – selbst wenn sie einen neuen Job finden – nie mehr so zufrieden werden wir früher.
Quelle: Spiegel-online 2004
Warten auf einen Job: Erwerbslosigkeit hinterlässt bleibende Spuren in der Psyche
Die Bedeutung der Geschlechtsrollenfaktoren
♀ : ♂ = 2 : 1- Hormonelle Faktoren
• Schwankungen des Östrogen- und Progesteron-Spiegels• Wochenbett, prämenstruell, Klimakterium
- Verlangsamte Auffüllung der Serotonin-Reserven- Doppelbelastung (Familie, Beruf)- Soziale Benachteiligung (Armut, Missbrauch, Bildung,
Abhängigkeit, altersbedingter Entzug sozialer Anerkennung)- Männer: Autismus, Aufmerksamkeitsschwäche, Hyperaktivität,
Alkoholismus- Rollenverteilung: Zusammenhang von Depression bei Frauen und
Sorge um die Kinder (Brown)- Kulturunabhängiges Überwiegen bei Angst-und Essstörungen
Die Bedeutung der Geschlechtsrollenfaktoren
Die Bedeutung der Persönlichkeit
Die Bedeutung der Persönlichkeit- Persönlichkeit depressiv Erkrankter -
Ormel et al. (2001):• Kombination von Neurotizismus, lang anhaltenden, schwierigen
Lebensumständen und belastenden Lebensereignissen
Parker (2000): • Vorherrschen eines ängstlichen Persönlichkeitsstils
Hirschfeld et al. (1997):• Neurotizismus• Geringe emotionale Stabilität• Interpersonelle Abhängigkeit• Aggressivität
Alnaes & Torgerson (1997):• Komorbidität von Depressionen und Persönlichkeitsstörungen• Erhöhtes Suicidrisiko• Ungünstige Prognose (Chronifizierung, Rezidivrisiko)
• Typus melancholicus (Tellenbach 1861)
Empirische Persönlichkeitsforschung
Die Bedeutung von Selbstbild und sozialer Wahrnehmung
- Objektnähe / Objektferne -
01020304050607080
KG D-Ges DU BIP UM DY SAP
Nähe Ferne
KG: Kontrollgruppe
D-Ges: Depression gesamt
DU: Unipolare Depression
BIP: Bipolare affektive Störung
UM: Unipolare Manie
DY: Dysthymie
SAP: SchizoaffektivePsychose
Prozentuale Verteilung der Stichproben auf „Nähe“ und „Ferne“(Depressive in Remission und Kontrollgruppe im Vergleich)
Böker et al., Journal of Affective Disorders (2000)
Ø Depressive erleben sich dem anderen nah (ähnlich)
Die Bedeutung von Selbstbild und sozialer Wahrnehmung
- Idealisierung -
0102030405060708090
KG D-Ges DU BIP UM DY SAP
Idealisierung keine Idealisierung
KG: Kontrollgruppe
D-Ges: Depression gesamt
DU: Unipolare Depression
BIP: Bipolare affektive Störung
UM: Unipolare Manie
DY: Dysthymie
SAP: SchizoaffektivePsychose
Prozentuale Verteilung der Stichproben auf „Idealisierung“ und „keine Idealisierung“ (Depressive in Remission und Kontrollgruppe
im Vergleich)
Böker et al., Journal of Affective Disorders (2000)
Ø Das Idealbild Depressiver ist ausgerichtet am anderen
10%
17%
23%
3%
47%
Selbst-nah,Ideal-nahSelbst-fern,Ideal-fernSelbst-fern,Ideal-nahIndifferent
Selbst-nah,Ideal-fern
12%
12%
40%
12%24%
Depression Gesamt (N=115) Somatische Kontrollgruppe (N=33)
Böker et al. PPmP Psychother. Psychosom. med. Psychol. (1997, 2000)
Die Bedeutung von Selbstbild und sozialer WahrnehmungObjektnähe und Idealisierung in den Partnerschaften
(Depressive in Remission und Kontrollgruppe im Vergleich)
Ø Depressive erleben ihr Selbst- und Idealbild ähnlich dem Bild der Partnerin/des Partners
Zur Biologie der Depression
Somatische Befunde bei depressiv Erkrankten I
• Familiäre Häufung (Merikangas & Kupfer 1995; Sonery et al. 1997)
• Neurochemische Befunde: Verminderung der Neurotransmitter Serotonin (Coppen 1967; Stanley et al. 1986; Maes & Meltzer 1997; Arranz et al. 1997) und Noradrenalin (Schildkraut 1967; Schatzberg & Schildkraut 1995; Green et al. 1995)
• Neurotransmitterdysbalance (Siever & Davis 1985; Müller 1991; Janowsky & Overstreet1995)
• Neurorezeptorbindungsstudien: Veränderungen der Dichte und Empfindlichkeit der Rezeptoren (Arranz et al. 1997)
• Überaktivität im Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden System (Holzboer 1995)
• Dysregulation im System Hypothalamus-Hypophyse-Schilddrüse (Holzboer1995; Rao et al. 1996)
• Chronobiologische Faktoren (Saisonale Depression (Caspar 1994; Partonen & Löhnquist 1998)
• Störungen im Schlaf-Wach-Rhythmus: Verkürzung der REM-Latenz (Kupfer & Reynolds 1992; Benca et al. 1992; Pflug 1987)
• Hirnfunktionelle Besonderheiten: Minderaktivität in der linken Präfrontal-Region , den Temporalregionen und der Amygdala (Ebert & Ebermeier 1996; Georg et al. 1998)
Somatische Befunde bei depressiv Erkrankten II
Aus dem Praxisalltag:Probleme der Erfassung: Diagnostisches Defizit
• 5 - 20% der ambulanten Patienten von Primärärzten leiden an einer Depression (Mulrow et al., 1995; Dilling et al., 1998)
• Davon werden nur 54% durch den Allgemeinpraktiker diagnostiziert („Diagnostisches Defizit“, Üstin & Sartorius, 1995)
• Nur 35% der Patienten mit schweren Depressionen werden behandelt (Lepine et al., 1997; Tylee et al., 1999)
• Nur 12% werden mit Antidepressiva behandelt
• Rückfallwahrscheinlichkeit nach 1. Episode einer schweren Depression in den ersten beiden Jahren nach Behandlung: 50% (APA, 1994)
• Lebenszeit-Rückfallwahrscheinlichkeit nach 1. Episode einer Major-Depression: 80% (APA, 1994)
• Chronischer Verlauf: 20% - 40% der Erkrankten sprechen nicht oder zu wenig auf psychopharmakologische Therapie an (Koscis et al., 2000)
• Vermehrte Inanspruchnahme von medizinischen Einrichtungen (Crown et al., 2002)
Aus dem Praxisalltag: Probleme der Behandlung
Rückzug
↓
Abnahme des Selbstwertgefühls
Partnerschaftund Kommunikation
↓Gegenseitige
Verunsicherung↓
Blockierte Kommunikation↓
Spannung, Lähmung
KognitionDepressiver Affekt
Fokus nach innen
Dysfunktionale Kognition
Selektive Wahrnehmung Kodierung und
Bewertung
Schuldgefühle
↓
Zunahme der aggressiven Spannung
Subjektiver Ausdruck↓
Psychomotorik↓
verzerrte Körperwahrnehmung↓
Subjektiv als adäquate Ausdrucksgebung erlebt: Fixierung der Depression
Psychosomatische Zirkularität
↓
Zunahme der Blockade durch
autonomes Mitschwingen
neuronaler Systeme
Die Circuli Vitiosi der Depression: Wege in die Erschöpfung
Anklammerung
↓
Abnahme des Selbstwertgefühls
Mentzos 1995Böker 2003
- Schwere Krankheitsbilder- Zunahme der Depressionen bei Jugendlichen, jungen
Erwachsenen- Zunahme der Angststörungen- Deutliche Zunahme der Sucht-PatientInnen (Polytoxikomanie)- Komorbidität- Rezidivierung und Chronifizierung- Traumatisierung
- Migration- Arbeitslosigkeit
- Depression und Suicidalität im Alter
Aus dem Praxisalltag
Depression und Suicidalität im Alter
Depression und Suicidalität im Alter
• Ca. 12/100‘000 Menschen > 65 J suicidieren sich jedes Jahr (Heisel 2006)
• 21% der Menschen über 70 Jahren haben Suicidgedanken (Linden, Barnow, Berlin Aging Study, 1997)
• 80 – 100% der suicidgefährdeten Menschen haben eine psychiatrische Erkrankung
• Suicidgedanken sind signifikant assoziiert mit depressiven Symptomen sowie mit der Diagnose einer Demenz und einer Depression (Conwell et al. 2002)
• Das Suicidrisiko ist verbunden mit Suicidgedanken oder –verhalten, psychischer Erkrankung, Persönlichkeitsvulnerabilität, somatischer Erkrankung, Verlusten und mangelnder sozialer Unterstützung, funktionellen Störungen und niedriger Resilienz (Heisel 2006)
• Ältere Menschen (> 75 J) weisen die höchsten Suizidraten unter allen Altersgruppen auf (Miller et al. 2001)
• Suicidalität ist unter älteren Männern am häufigsten (Heisel 2005)
• Im Vergleich zu jüngeren Menschen leiden Ältere häufiger unter sozialer Isolation (Di Mauro et al. 2002)
Conwell et al. 2002
Psychiatrische Diagnosen bei Suiciden im Alter
Fazit: Scheitern an Autonomie, Neu-finden und Neu-entwerfen? - Modell der pathologischen Selbstwertgefühlregulation bei verschiedenen affektiven Störungen -
(Mentzos 1995)
Regressive Aktivierung
Erschöpfung und defensive Blockierung
SCHULD-DEPRESSION
ABHÄNGIGKEITS-DEPRESSION
MANIE
L E E R E D E P R E S S I O N
Selbstwertgefühl-Regulation
Stärku ng d urc h Iden tifikation
Stärkung durch Spiegelung
Exte
rne
Stär
kung
dur
ch A
nerk
ennu
ng
Fazit: Scheitern an Autonomie, Neu-finden und Neu-entwerfen?
• Bedeutung und Vielfalt des Einzelfalls• Tendenzen:
• „Verschwinden“ der Schulddepression• Verlust sozialer Sicherheit und Orientierung• „Narzisstische Blässe“
• Erschöpfung des Selbst• Individuelle Faktoren:
• Intrapsychische Konflikte• Dysfunktionale Bewältigungsstrategien• Biologisch bedingte Erschöpfung
• Soziale Faktoren:• Rollenverlust• Schwierigkeiten bezogener Autonomie in der neo-liberalen Gesellschaft
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!