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4 Der amerikanische Spracheinfluß der Frühphase Der Einfluß anderer Sprachen ist immer ein sozialer Prozeß und steht in engem Zusammenhang mit der technisch-wissenschaftlichen, ökonomischen, politischen oder kulturellen Dominanz einer bestimmten Kommunikationsgemeinschaft. Diese Rolle hat für Westeuropa spätestens seit 1945 die USA inne. Die diskursgeschicht- liche Analyse der Atomenergiedebatte kann über das allgemeine Faktum hinaus im Detail deutlich machen, wie sich dieser Prozeß in seiner sozialen Dynamik ab- spielt, und zwar im Folgenden speziell in der fachorientierten Kommunikation. Sprachwandeltheoretisch interessant ist in dieser Phase neben der Sprachkontaktsi- tuation besonders der Gegensatz zwischen spontaner Eindeutschung und termino- logischer Normierung, zwischen ungesteuerter Entwicklung und Sprachlenkungs- versuchen, zwischen etabliertem Wortgebrauch und sprachsystematischer Logik. 4.1 Die ungleiche Sprachkonkurrenz mit den USA Die diskursgeschichtliche Konstellation nach 1945 erscheint in vielen Hinsichten wie ein kontrolliertes linguistisches Laborexperiment Zwischen der Entdeckung Hahns zum Jahreswechsel 193 8 I 39 und der Bekanntgabe des Abwurfs einer Atombombe waren die entscheidenden technischen Durchbrüche gelungen. In en- gem Zusammenhang mit der experimentellen Umsetzung hatte sich dabei eine neue Begrift1ichkeit entwickelt. Aufgrund der strikten Geheimhaltung aber war dies entgegen dem üblichen wissenschaftlichen Internationalismus an mehreren Orten gleichzeitig, ohne sprachlichen Austausch und gegenseitige Durchdringung geschehen. Knapp sechs Jahre lang zirkulierte die neue Werkstatt- und Theorie- sprache nur in den verschworenen Kommunikationsgemeinschaften kleiner For- schergruppen, die zudem Codewörter verwenden mußten. In Deutschland redete man nur von Präparat 38 bzw. Spezialmetall statt von U 3 0 8 und arbeitete unter dem Deckmantel des harmlos klingenden Uranvereins in einem Laboratorium, das man zur Abschreckung Neugieriger Virushaus getauft hatte. In den USA lautete der Tarnname für das gewaltige Atombombenvorhaben Manhatfan Project, und wichtige Substanzen wurden verschlüsselt als Product 9 bzw. P9 bezeichnet. 1 Nach jahrelanger sprachlicher Abgeschiedenheit standen Forscher mit ihrer neuentwickelten, vielfach noch tentativen Fachsprache 1945 schlagartig im Ram- penlicht der Medien und mußten sich nicht nur dem öffentlichen Sprachgebrauch, sondern auch der ausländischen Terminologie-Konkurrenz stellen. Die diskursge- schichtliche Konstellation blieb dabei außergewöhnlich. Ihr technisch-wissen- schaftlicher ,Sieg' verlieh den Amerikanern eine natürliche terminologische Au- torität, die Besatzungssituation mit strenger Zensur von Presse und Rundfunk gab den Alliierten ein Informations- und Bezeichnungsmonopol zu einem entscheiden- den Zeitpunkt. Die über diese Kanäle "nunmehr auch in den alten, leidgeprüften lrving 1967, S. 36 u. 310, bzw. Jacnecke 1987, S. 67f.; vgl. außerdem im folgenden zu Termino- logie und Geschichte der deutschen Forschergruppe Walker 1990. M. Jung, Öffentlichkeit und Sprachwandel © Springer Fachmedien Wiesbaden 1994

Öffentlichkeit und Sprachwandel || Der amerikanische Spracheinfluß der Frühphase

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4 Der amerikanische Spracheinfluß der Frühphase

Der Einfluß anderer Sprachen ist immer ein sozialer Prozeß und steht in engem Zusammenhang mit der technisch-wissenschaftlichen, ökonomischen, politischen oder kulturellen Dominanz einer bestimmten Kommunikationsgemeinschaft. Diese Rolle hat für Westeuropa spätestens seit 1945 die USA inne. Die diskursgeschicht­liche Analyse der Atomenergiedebatte kann über das allgemeine Faktum hinaus im Detail deutlich machen, wie sich dieser Prozeß in seiner sozialen Dynamik ab­spielt, und zwar im Folgenden speziell in der fachorientierten Kommunikation. Sprachwandeltheoretisch interessant ist in dieser Phase neben der Sprachkontaktsi­tuation besonders der Gegensatz zwischen spontaner Eindeutschung und termino­logischer Normierung, zwischen ungesteuerter Entwicklung und Sprachlenkungs­versuchen, zwischen etabliertem Wortgebrauch und sprachsystematischer Logik.

4.1 Die ungleiche Sprachkonkurrenz mit den USA

Die diskursgeschichtliche Konstellation nach 1945 erscheint in vielen Hinsichten wie ein kontrolliertes linguistisches Laborexperiment Zwischen der Entdeckung Hahns zum Jahreswechsel 193 8 I 39 und der Bekanntgabe des Abwurfs einer Atombombe waren die entscheidenden technischen Durchbrüche gelungen. In en­gem Zusammenhang mit der experimentellen Umsetzung hatte sich dabei eine neue Begrift1ichkeit entwickelt. Aufgrund der strikten Geheimhaltung aber war dies entgegen dem üblichen wissenschaftlichen Internationalismus an mehreren Orten gleichzeitig, ohne sprachlichen Austausch und gegenseitige Durchdringung geschehen. Knapp sechs Jahre lang zirkulierte die neue Werkstatt- und Theorie­sprache nur in den verschworenen Kommunikationsgemeinschaften kleiner For­schergruppen, die zudem Codewörter verwenden mußten. In Deutschland redete man nur von Präparat 38 bzw. Spezialmetall statt von U30 8 und arbeitete unter dem Deckmantel des harmlos klingenden Uranvereins in einem Laboratorium, das man zur Abschreckung Neugieriger Virushaus getauft hatte. In den USA lautete der Tarnname für das gewaltige Atombombenvorhaben Manhatfan Project, und wichtige Substanzen wurden verschlüsselt als Product 9 bzw. P9 bezeichnet. 1

Nach jahrelanger sprachlicher Abgeschiedenheit standen Forscher mit ihrer neuentwickelten, vielfach noch tentativen Fachsprache 1945 schlagartig im Ram­penlicht der Medien und mußten sich nicht nur dem öffentlichen Sprachgebrauch, sondern auch der ausländischen Terminologie-Konkurrenz stellen. Die diskursge­schichtliche Konstellation blieb dabei außergewöhnlich. Ihr technisch-wissen­schaftlicher ,Sieg' verlieh den Amerikanern eine natürliche terminologische Au­torität, die Besatzungssituation mit strenger Zensur von Presse und Rundfunk gab den Alliierten ein Informations- und Bezeichnungsmonopol zu einem entscheiden­den Zeitpunkt. Die über diese Kanäle "nunmehr auch in den alten, leidgeprüften

lrving 1967, S. 36 u. 310, bzw. Jacnecke 1987, S. 67f.; vgl. außerdem im folgenden zu Termino­logie und Geschichte der deutschen Forschergruppe Walker

1990. M. Jung, Öffentlichkeit und Sprachwandel© Springer Fachmedien Wiesbaden 1994

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Kontinent wieder einströmende Literatur" 1 konnte sich besonderer Aufmerksam­keit sicher sein.

Die einheimische fachsprachliche Tradition hatte aber noch mit weiteren Nach­teilen zu kämpfen. Als der Atombombenabwurf bekanntgegeben wurde, befanden sich die deutschen Koryphäen der Kernphysik in Gefangenschaft, so daß sie sich erst nach ihrer Freilassung einige Monate später öffentlich artikulieren konnten. In dieser Initialphase lexikalischer Innovation kommt die Verbreitung der einheimi­schen Terminologie im allgemeinen Sprachgebrauch die entscheidenden Monate zu spät. Da alliierte Direktiven zudem der Bundesrepublik bis 1955 jegliche kern­technische Betätigung untersagten, blieben die deutschen Größen der Kernphysik auch für die nächsten Jahre entscheidend gehandikapt. Ihnen fehlte nicht nur die Forschungspraxis, sondern ebenso die üblichen institutionellen Kanäle (Lehrtätig­keit an Universitäten, führende Funktionen in Gremien, exponierte öffentliche Stellung), um sprachprägend zu wirken. Zudem gab es keine Terminologie-Aus­schüsse, keine verbindlichen Begriffslisten, keine Fachwörterbücher, die die Um­setzung der amerikanischen Fachsprache hätten vereinheitlichen können. Resultat: die einheimische Terminologie stagnierte, statt sich auszudifferenzieren, und die Eindeutschung des amerikanischen Vokabulars wurde zu einer ungleich anarchi­scheren Entwicklung, als dies sonst in wissenschaftlich-technischen Bereichen üb­lich ist.

Im öffentlichen Sprachgebrauch triumphierte, wie im vorangegangenen Kapitel gesehen, nach I 945 der ,unwissenschaftliche' Gebrauch von Atom und nicht die fachlich korrekten Wortbildungsmuster mit Kern oder Uran. Das ist bereits aus der sprachlichen Vorgeschichte der Atomenergienutzung erklärlich (vgl. Kap. 2), wur­de aber durch amerikanischen Einfluß noch deutlich verstärkt. In den ersten Pres­sekommuniques hieß es ebenso wie in dem offiziellen Bericht zur Entwicklung der Atombombe durchgängig atom bzw. atomic. Auch dieser sogenannte Smyth-Re­port, noch 1945 veröffentlicht und unmittelbar darauf in hohen Auflagen und zahl­reichen Übersetzungen erschienen, zeigt trotz seines Charakters als technische Do­kumentation sehr viel mehr terminologische ,Lockerheit' - zum Beispiel was den Gebrauch von Atom angeht - als die vergleichsweise pedantischen deutschen For­scher. Da diese Publikation die Summe des Wissens enthielt, das die Amerikaner bereit waren preiszugeben, erlangte sie besondere sprachliche Autorität.

Die Dominanz von Atom wurde so stark, daß auch die deutschen Wissenschaft­ler sich dem Sprach-,Diktat' der Amerikaner beugten. Die Experten hatten zu­nächst dem öffentlichen Sprachgebrauch zu folgen und nicht umgekehrt. Alle Au­toren der hier berücksichtigten populärwissenschaftlichen Schriften dieser Zeit thematisieren zwar an der einen oder anderen Stelle, daß es statt Atomenergie "ei­gentlich", "richtiger" oder "besser" Kernenergie, inneratomare Energie, Kernspal­tungsenergie etc. heißen müsse. Danach kapituliert man dann aber umgehend vor dem dominierenden Sprachgebrauch: "Wegen seiner praktischen Einführung" be­halte man Atomenergie bei.2 Allgemein schlossen sich diese Wissenschaftler, die außerhalb der Forschungsgruppe um Männer wie Heisenberg und v. Weizsäcker gestanden hatten, besonders schnell den amerikanischen Gepflogenheiten an, mö­gen sie auch den anderen Sprachgebrauch noch erwähnen.3

Dessauer 1948, S. I 0. 2 Römpp 1949, S. 2lf.; Wcstphal 1948, S. 6; 13raunbek 1953, S. 14; Thirring 1946, S. 16. 3 Zum Beispiel Wcstphal 1948, S. 57f.; vgl. außerdem Bavink 1947, Smyth/Dessauer 1947, Dessau­

er 1948.

4.1 Ungleiche Sprachkonkurrenz mit den USA 53

Sogar Heisenberg, der sich doch bei der Bekanntgabe des Atombombenab­wurfs besonders ablehnend gegenüber Atom gezeigt hatte (vgl. Kap. 2, S. 24f.), benutzte fortan, wie eine sprachbiographische Analyse erweist, auch in wissen­schaftlichen Aufsätzen meist Atomenergie. 1 Allgemein waren die Vertreter der deutschen Tradition gezwungen, den eigenen Sprachgebrauch mit Bezug auf den amerikanischen zu thematisieren (nach dem Muster: "Die Amerikaner sagen I Bei uns dagegen ... ") und nicht umgekehrt. Sie hielten zwar zunächst noch an einem Ausdruck wie Uranbrenner fest, "da er sich im Kriege eingebürgert'' habe, kon­zedierten aber einzelnen amerikanischen Fachausdrücken, in gewisser Weise "bes­ser" zu sein.2 Der interne Jargon der deutschen Kernphysiker ist jedoch im öffent­lichen Sprachgebrauch von Anfang an marginalisiert, dient höchstens der stilisti­schen Auflockerung und veraltet bis zu den späten 50er Jahren vollends. Auch für seine Initiatoren hat er schließlich keinen Referenzcharakter mehr.3

Noch ungefähr ein Jahrzehnt blieb das Uran-Paradigma mit Ausdrücken wie Urantechnik, Uranbrenner etc. charakteristisch ftir die einheimische Terminolo­gietradition. Vielfach gehen dabei, wie schon in der eingangs geschilderten Szene gesehen (vgl. Kap. 2, S. 24f.), fachsprachliche Pedanterie und Atom-Skepsis Hand in Hand, was sich vorzugsweise in GänsefUßehen-Distanz äußert. Denn "mit Fug und Recht" spreche man statt vom Atomzeitalter nur vom Uranzeitalter, das mit den alten Schwärmereien vom Abtauen der Pole und der Klimabeeinflussung, die man "in der ersten ,Atombegeisterung' hier und da zu lesen und zu hören" be­komme, nichts zu tun habe.4 Auch der literarische Außenseiters Hans Henny Jahnn, Autor des pessimistischen Atomzeitalter-Stücks Trümmer des Gewissens, in dem die Menschheit durch die Radioaktivität von Atomtests und Energiemeilern verseucht wird, meidet in seinem Drama aus dem Jahr 1959 das Jubelwort Atom.

Der angloamerikanische Spracheinfluß zeigt sich in anderer Weise noch direk­ter. Typisch sind etwa anglisierte Schreibweisen wie Zyclotron, contaminös oder Nucleus, die erst später orthographisch angepaßt wurden. Ist von der "Epoche der ,nuclearen' Kräfte" bzw. dem "Gleichgewicht der ,nuclearen' Rüstung" die Rede, machen Anflihrungszeichen die Fremdartigkeit deutlich. Bezeichnenderweise übersieht hierbei der öffentliche Sprachgebrauch den fachsprachlichen, in dem die Anpassung - nuclear I nuklear etwa entstammt der Biologie- schon geleistet wor­den war. Auch ein Bundestagsabgeordneter spricht noch von "der Methode der ,fu­sion'", obwohl sich in der Fachliteratur die deutsche Entsprechung Kernverschmel­zung oder zumindest die eingedeutschte Schreibweise Fusion schon länger einge­bürgert hatte. 5

Weitere typische Interferenzeffekte der Frühphase sind deutsch-englische Mischkomposita wie "Uran-,Piles"' und die Verwendung von Uranium (engl. ura­nium) statt Uran oder atomisch (engl. atomic) statt atomar. Sie unterlaufen geie-

Fünf Belege in Heisenberg 194 7 gegenüber zwei ftlr Kernenergie bzw. drei ftlr die Kompromiß­formel Atomkernenergie.

2 Heisenberg/Wirtz 1947, S. 143; vgl. allgemein die Aufsätze der deutschsprachigen FIAT-REVIEW 1947 (zum Beispiel Heisenberg 1947, S. 326) sowie Hahn 1948, S. 21.

3 Beispiele: Hahn 1954 u. 1955, Braunbek 1953, Löwenthai/Hausen 1956. Die Archaisierung zeigt sich sehr schön im sprachbiographischen Vergleich zwischen Thirring 1946 und der in der Neu­auflage (Thirring/Grümm 1963) erfolgten terminologischen Modemisierung.

4 Römpp 1949, S. 24 bzw. 141; weiteres Beispiel fur den Gebrauch von Uran: Joos 1955, S. 43. 5 RP 11.2.55, BT 19.04.1956, S. 7298; Fusion zum Beispiel bei Schwenkhagen 1956. Viele angli­

sierte Schreibweisen finden sich etwa bei Zuckmayer 1955.

54 4 Amcrikanischer Spracheinfluß der Frühphase

gentlieh selbst Fachleuten 1, aber natürlich erst recht den Journalisten. Als sprach­liche Vermittler einer neuen Wirklichkeit waren sie -insbesondere in der Aus­nahmesituation der Nachkriegszeit- weitgehend auf sich allein gestellt, was die Umsetzung des angloamerikanischen Wortguts anging. Weder die zweisprachige Lexikographie noch die einheimische Terminologietradition waren präsent, ad­äquate deutsche Entsprechungen nicht spontan verfligbar. Immer wieder kam es deshalb in der Presse zu Entlehnungsprozessen als individuellen Neuschöpfungen. Die ,korrekte' Eindeutschung ganzer Wortfelder überstieg "die Möglichkeiten des Einzelnen", stellt ein zeitgenössischer Linguist bedauernd fest. Ähnlich wie bei­spielsweise später bei Umwelt und Ökologie erfolgte die Übernahme in die öffent­liche Diskussion also nicht über die einheimische fachsprachliche Tradition, son­dern direkt aus dem Englischen. Entscheidend ist nicht, wo ein Neuwort zum er­sten Mal auftritt und welche Form es hat, sondern wer es der Öffentlichkeit wie vermittelt. 2

Es ließ sich damals jedenfalls kaum vermeiden, "in der amerikanischen Fach­sprache zu reden". Deshalb müssen populärwissenschaftliche Nachschlagewerke wie das Atom-Lexikon die englischen Verweisstichwörter fission, atomic number und chain reaction fUhren, obwohl die deutschen Entsprechungen Kernspaltung, Ordnungszahl bzw. Kettenreaktion schon lange fachsprachlich gängig waren. Aus dem gleichen Grund erläutert der Entdecker der Kernspaltung in Person, Otto Hahn, flir ein Laienpublikum ein so banales Fachwort wie Spaltprodukte durch fission products. ,Fremdwörter' wie Fallout mögen folglich damals populärer sein als die offiziellen deutschen Entsprechungen (radioaktive Niederschläge o.ä.).3

Andere Sachverhalte wie fast reactor sind noch so neu, daß nach 1945 zu­nächst nicht einmal fachsprachlich eine deutsche Entsprechung etabliert ist. Im Laufe der Zeit, d.h. im wesentlichen nach 1955, wurde ein Großteil dieser ersten Welle von amerikanischen Nuklear-Neologismen im öffentlichen Sprachgebrauch so weit ,verdaut', daß man ihnen ihren Ursprung nicht mehr anmerkte. Erst dann ersetzen beispielsweise die Lehnprägungen (Schneller) Brutreaktor bzw. (Schnel­ler) Brüter die Anglizismen (fast) breeder/(jast) breeding reactor. 4

4.2 Aus der Neologismenwerkstatt der Kerntechnik

Die Schlagartigkeit, mit der die Atomenergie als technische Realität kommunikativ relevant wurde, löste auf breiter Front lexikalisch-semantische Innovationen aus. Besonders interessant flir eine "Momentaufnahme" sprachlichen Wandels in statu nascendi5 ist dabei der diskursgeschichtliche Prozeß, in dem sich die Bezeichnung flir den Sachverhalt herauskristallisierte, den wir heute Reaktor zu nennen pflegen.

Laue 1950, S. 126; Jungk 1956; Bloch 1959; weitere Belege ftir atomisch: Dessauer 1948, S. 260, Fn.; Vorwort zu Aldous lluxlcy, Schöne Neue Welt, Frankfurt/Main 1953; Manstein 1961, S. 155; Löwenthai I Hausen 1956, S. 233; BULLETIN 1956, S. 919; bereits älter: Jaspers 1932, S. I 08. Atomisch ist darüber hinaus typisch für die Schweizer Variante des Deutschen.

2 lschreyt 1958, S. 65. Zu Umwelt/Ökologie vgl. Jung 1989, hier S. 88f., bzw. Jung 1994a. 3 Römpp 1949, S. 20 und Hahn 1948, S. 34. Radioaktive Niederschläge wird zum Beispiel exklusiv

in den Bundestagsdebatten 1956/57 gebraucht; zur Popularität von Fallout- erst 1967 im Duden aufgenommen- vgl. Radkau 1983, S. 98.

4 Vgl. Römpp 1949 u. Joos 1955, zum Beispiel S. 52. Mattheier 1985a, S. 777.

4.2 Aus der Neologismenwerkstatt der Kerntechnik 55

Allein in den Wörterbüchern rivalisieren acht prinzipielle Benennungsmöglichkei­ten, die alle aus dieser Zeit stammen:

Uranbrenner bzw. Uranmaschine aus der deutschen Terminologietradition seit 1939 - pileals Entlehnung aus dem amerikanischen Werkstattjargon

Übertragungen von pile ins Deutsche mit Batterie, Meiler, Säule Lehnprägungen nach britischem Vorbild mit Ofen der wissenschallliehe Internationalismus Reaktor

Diese Zahl erhöht sich beträchtlich, berücksichtigt man die verschiedenen Kombi­nationsmöglichkeiten mit Uran-, Atom- und Kern- sowie idiosynkratische Eindeut­schungsversuche und okkasionelle Kontextvarianten wie Atomturm, Konstrukti­ons-Einheit u. v. a. m. 1

Das Bezeichnungschaos fl.ihrte nach 1945 zwangsläufig zu zahlreichen termi­nologischen Thematisierungen. Der eigene Sprachgebrauch muß jeweils einge­fl.ihrt, begründet und abgegrenzt werden. Bei Fachleuten, die aus Gründen sprach­licher Präzision mit den spontanen journalistischen Eindeutschungen unzufrieden waren, werden daraus dann häufig längere Exkurse. Da es keine offiziellen Instan­zen gibt und sie sich bewußt sind, in einer Initialphase lexikalischer Innovation zu stehen, versuchen sie, als Individuen sprachfixierend tätig zu werden. Das wird et­wa besonders deutlich in den Anmerkungen vom Übersetzer des offiziellen ameri­kanischen Smyth-Reports, dem Physiker Dessauer. Für ihn ist der Terminus der deutschen Physiker, Uranmaschine, "ungünstig gewählt", auch Übersetzungen von pile mit Element oder Batterie seien nicht "passend". Seine Alternativvorschläge Aufbaueinheit, Erzeugungseinheit, Energieeinheit überzeugen allerdings erst recht nicht.2

Das amerikanische Wortpile stellte wegen seiner Vieldeutigkeit zugegebener­maßen ein besonderes Übersetzungsproblem dar. In den Wörterbüchern finden sich -zig verschiedene deutsche Entsprechungen. Sie rechtfertigen Eindeutschun­gen wie Uranbatterie oder Uransäule fl.ir den einen Spezialisten ebenso wie Meiler fl.ir einen anderen als "sehr glückliche Entsprechung".3 Alle diese von Fachleuten aufgebrachten frühen Terminologievorschläge fl.ir pile sind inzwischen vergessen, aus den Wörterbüchern getilgt oder als veraltet markiert (vgl. S. 245ff.). Die einzi­ge noch heute präsente Bezeichnungsvariante der damaligen Zeit ist ausgerechnet Meiler - offensichtlich eine spontan entstandene Eindeutschung journalistischen Ursprungs.4

Daß Meiler, bevor Reaktor auftauchte, zunächst sogar in der Fachsprache den Sieg über die Vorschläge der Experten zur Eindeutschung vonpiledavonzutragen schien, ist ein weiterer Beleg fl.ir die vorübergehende Dominanz von Gemeinspra-

Die AusdrUcke finden sich außer im Duden (vgl. Anhang), in Meyers Neues Lexikon 1961 und dem Kleinen Brockhaus 1949 u. 1950; Ofen zum Beispiel in aus dem Britischen übersetzten Arti­keln (WELT 15.4.47, S. 3f.) sowie in OED-Belegen. Weitere Varianten bei Römpp 1949, S. 141; Dessauer 1948, S. 214fT.

2 Smyth/Dessauer 1947, S. 81 (Anmerkung des Übersetzers), Dessauer 1948, S. 214ff.; weitere der­artige Thematisierungcn beispielsweise: Westphall948, S. 57f. und Römpp 1949, S. 142.

3 Römpp 1949, S. 142; lschreyt 1958, S. 72. 4 Bisheriger Erstbeleg WELT 11.10.4 7 nach einem Wettbewerb der GfdS (vgl. DER SPRACHDIENST

1978, S. 48 bzw. S. 99). In der populärwissenschaftlichen Literatur vor 1950 wie Thirring 1946, Bavink 1947 oder Römpp 1949 fehlt Meiler, taucht dann aber nach 1950 überall auf(zum Beispiel in Braunbek 1953, Joos 1955, Thirring/Grümm 1963, bes. S. 123).

56 4 Amerikanischer Spracheinfluß der Frühphase

ehe und öffentlicher Diskussion über die Terminologie-Erwägungen der Techniker und Wissenschaftler. Der Erfolg von Meiler läßt sich gut erklären, denn der Neo­logismus (genauer gesagt, die Neubedeutung eines alten Wortes) hatte eine Reihe von Vorteilen aufzuweisen: Er gehörte zu den gemeinsprachlich akzeptierten Übersetzungen von pile, ließ sich gut aussprechen bzw. mit anderen Wörtern kombinieren, war anschaulich und traf die bezeichnete Sache darüber hinaus auch bildlich gesehen.

Denn zum einen bestand "tatsächlich eine gewisse Verwandtschaft mit einem Kohlenmeiler", da einpileganz wie ein Meiler aus zu verkohlenden Holzscheiten aus einzelnen Uranstücken aufgebaut sei, zum anderen paßte Meiler sehr gut zu dem ganzen Feld von Metaphern aus dem Sinnbezirk des Feuers, wie sie von An­fang an zur Beschreibung von Kernkettenreaktionen verwendet wurden (zum Bei­spiel entzünden, atomares Feuer, Atombrand, Atomasche, Atomofen, Uranbrenner etc.) und zum Teil heute noch in Kernbrennstoff oder Redeweisen vom Abbrand von Brennstäben fachsprachlich üblich sind. Das Schwelen eines Kohlenmeilers ist in gewisser Weise vergleichbar mit dem im Reaktor angestrebten, gesteuerten Vorgang und auch in seiner Assoziation ,Hitze' nicht falsch. Da die ursprüngliche Bedeutung mit dem Aussterben der Köhlerei weitgehend verblaßt war, fand eine neue Bedeutung leicht Platz in Meiler. Selbst manchen Terminologen erschien Meiler schließlich so "sinnvoll und treffend", daß sie es zumindest in der eingeeng­ten Bedeutung gesteuerter Reaktor beibehalten wollten. 1 Sprachbiographische Vergleiche erweisen den relativen Erfolg von Meiler. Wo das Wort bei Thirring 1946 noch fehlte, ist es knapp zwanzig Jahre später in der Neubearbeitung (Thirring/Grümm 1963) die einzige gelegentliche Variante zu Reaktor, während die ursprünglichen Ausdrücke Uranbatterie und Uranmaschine ganz verschwun­den sind.

Gerade aber die sinnliche Konkretheit und der einheimische Charakter von Meiler standen im Konflikt zu terminologischen Grundsätzen und der zunehmen­den Internationalisierung. Denn in den späteren Reaktoren wurden nicht mehr Uran- und Graphitziegel übereinander geschichtet (,to pile up'), ganz wie Holz­scheite und Erde im Kohlenmeiler, sondern statt dessen umhüllte Brennstäbe oder gar flüssige Lösungen verwendet. Damit war aber die Benennungsmotivation von pile ebenso wie die von Meiler schief. Lediglich aus praktischen Gründen werde dieser alte Ausdruck trotzdem weiterverwendet, hieß es zunächst. Reaktor, das in seiner englischen Form erstmals 1945 im OED belegt ist, entsprach dagegen in hervorragender Weise internationalen Terminologiegrundsätzen. Obwohl es nicht die normative Kraft der Erstbenennung pile hatte, das 1940 in den USA aufge­kommen war, war es genügend abstrakt, um nicht im Laufe des Entwicklungsfort­schritts zu veralten, vermied den Werkstattcharakter und die Jargonhaftigkeit von pile, war wie schon Kettenreaktion zehn Jahre früher aus der Nachbardisziplin Chemie vertraut und konnte sich als Internationalismus auf lateinischen Basis schnell in anderen Sprachen akklimatisieren. Die Tendenz zur ,Entsinnlichung' der Benennung ist schon für frühe Versuche von Wissenschaftlern, pile etwa durch Batterie einzudeutschen, charakteristisch, und wird besonders bei den idiosynkrati­schen Lehnprägungen Element und Einheit deutlich. 2

Westphall948, S. 58, Schwenkhagen 1956, S. 25; allgemein: lschreyt 1958, S. 72.

2 Römpp 1949, S. 20; Smyth/Dessauer 1947, S. 81, bzw. Dessauer 1948, S. 214fT. Zu Reaktor auch

lschreyt 1958, hier S. 72.

4.2 Aus der Neologismenwerkstatt der Kerntechnik 57

Das Verschwinden von pile bzw. den deutschen Varianten aus der Fachsprache entspricht damit Ablöseprozessen, wie sie schon flir Uranstrahlung und Radium­forschung dargestellt wurden (vgl. Kap. 2). Ganz wie letztere durch die abstrakten Ausdrücke Radioaktivität bzw. Kernphysik ersetzt wurden, veralteten die überkon­kreten Ausdrücke mit Maschine, Ofen oder Brenner. Das gleiche Schicksal ereilt das gesamte Uran-Paradigma, das ursprünglich bevorzugt worden war. Obwohl das Uran weiterhin eine zentrale Rolle in der Nukleartechnik spielt, sind nämlich ebenso Kernkettenreaktionen mit Plutonium und Thorium möglich, und für Kern­waffen kommen sogar noch mehr unterschiedliche Materialien in Frage. Spätestens Ende der 50er Jahre ist Reaktor, das in den entsprechenden Werken und Zeitungs­artikeln vor 1950 noch ganz fehlte, zum Standardausdruck in fachorientierten Schriften geworden. Lediglich zwecks Veranschaulichung flir ein interessiertes Laienpublikum greift man noch gelegentlich auf die vielen anderen Namen zurück, die aber alle "dasselbe" bedeuten würden. 1

Im Umgang mit der allgemeinen Öffentlichkeit dagegen ist Mitte der 50er Jah­re Meiler "approbiert", um in der Terminologie von Große/Neubert 1982 zu reden. Während also im Bundestag oder in der Branchenzeitschrift DIE ATOMWIRT­SCHAFT, abgekürzt ATW, von Reaktor die Rede ist, dominiert der populäre Aus­druck auf den vorderen Seiten der Presse, und Städte verteilen an die Öffentlich­keit Broschüren mit Titeln wie "Karlsruhe bewirbt sich um den Atom-Meiler".2

Bis in die 70er Jahre kann sich Meiler in der öffentlichen Diskussion als Standar­dausdruck gegen Reaktor behaupten, bevor es zu einer selteneren stilistischen Va­riante von Reaktor absinkt. Noch heute begegnet einem Meiler regelmäßig in Pressetexten als in der Öffentlichkeit keineswegs veralteter, typisch journalisti­scher Sprachgebrauch. Die stilistische Auseinanderentwicklung von Meiler und Reaktor verdeutlicht exemplarisch den Unterschied zwischen den Bezeichnungs­bedürfnissen in den beiden Kommunikationsbereichen. Die schließlich auch im öf­fentlichen Sprachgebrauch erfolgende Ablösung von Meiler durch Reaktor kann dagegen als stellvertretend für einen Prozeß gesehen werden, der unter dem Stich­wort , Verwissenschaftlichung' in die Sprachgeschichten eingegangen ist. Fach­sprachlich betrachtet ist der Erfolg von Reaktor ein Indiz dafür, daß die diskursge­schichtliche Konstellation sich Mitte der 50er Jahre normalisiert. Die Ausnahmesi­tuation, die durch Krieg, Besatzung und das Verbot jeglicher kerntechnischer Betä­tigung entstanden war, ging 1955 mit der Wiedererlangung der Souveränität zu Ende.

Dieser Zeitpunkt fallt mit dem spektakulären Kurswechsel der USA zusammen, die Ende 1953 beschlossen hatten, ihren kerntechnischen Vorsprung zu kommer­zialisieren, statt ihn allmählich einzubüßen. In den USA war in dem Jahrzehnt, in dem sie ihr Nuklearmonopol gehütet hatten, ein "in sich geschlossener Bestand an Fachwörtern" geschaffen worden, der auch heute noch die Basis der Kerntechnik ausmacht. Mit dem entsprechenden Schrifttum kam er im wesentlichen erst jetzt nach Europa und speziell nach Deutschland.3 Ab 1955 gab es jedoch wieder einen institutionellen Rahmen, in dem sich der fachsprachliche , Wildwuchs' zurück-

Braunbek 1953, S. 41; vgl. hierzu auch explizit terminologische Werke wie Schwenkhagen 1956, Müller 1959, Franzcn 1957.

2 Zit. nach Glcitsmann 1987, S. 225. In den Bundestagsdebatten 1956/57 (vgl. Anhang) findet sich nur ein Beleg tlir Meiler gegenüber 65 flir Reaktor, in den Inhaltsverzeichnissen von ATW 1956-1960 kein einziger, incl. Zusammensetzungen. Ofen, Brenner oderpilesucht man dort vergeblich.

3 lschreyt 1958, S. 66.

58 4 Amerikanischer Spracheinfluß der Frühphase

schneiden ließ. Über Fachausschüsse und verbindliche DIN-Normen konnte man nun versuchen, den amerikanischen Fachwortschock zu kanalisieren und einheimi­schen Vorstellungen anzupassen. Nach zehnjähriger Parenthese mündet die termi­nologische Entwicklung wieder in geordnete Bahnen ein. Das Jahr 1955 ist somit einerseits Höhepunkt des ,anarchischen' amerikanischen Einflusses, gleichzeitig aber Ausgangspunkt einer ,normalen' Sprachentwicklung.

Dadurch wird eine weitere Runde der Auseinandersetzung mit dem anglo-ame­rikanischen Spracheinfluß bzw. zwischen dem spontanen, ungeplanten Sprach­gebrauch und den Lenkungsbemühungen der Sprachnormierer eingeläutet - nun allerdings nicht mehr auf individueller, sondern auf institutioneller Ebene.

4.3 Macht und Ohnmacht der technischen Sprachnormung

Mit der Aufhebung der Geheimhaltung im Bereich der zivilen Kernenergienutzung kam die internationale Fachkommunikation wieder einigermaßen ungehindert in Gang. Die Pionierzeiten verschworener Gemeinschaften von Wissenschaftlern und Technikern unter der Aufsicht der Militärs waren endgültig vorüber. Die Verhält­nisse, auch die sprachlichen, normalisierten sich wieder- im doppelten Sinne des Wortes. Der daraus folgende allgemeine Trend zur Re-Terminologisierung der Fachsprache soll hier zunächst einmal am Schicksal von Atomenergie demonstriert werden. Erst jetzt, wo im anglo-amerikanischen Sprachraum "das Wort ,nuclear' mehr und mehr den ursprünglich verwendeten Ausdruck ,atomic'" ersetzte, drin­gen auch im Deutschen die Fachleute, die vor 1955 noch vor der Macht des Fakti­schen kapituliert hatten (vgl. Kap. 4.1, S. 52f.), mit ihren Vorbehalten bezüglich der "unscharfen Abkürzung" Atom durch. 1

Kernenergie, das ja ebenso wie nuclear energy in der Physik schon lange vor 1945 gebraucht worden war (vgl. Kap. 2.3, S. 32ff.), ist damit rehabilitiert. Aus der okkasionellen Variante wird nun der Standardausdruck im fachorientierten Zei­chengebrauch. Als Ausgangspunkt systematischer Wortbildungsreihen, wie sie die neue Technik erforderte, hatte Kern allerdings große Nachteile. Seine gemein­sprachliche Mehrdeutigkeit störte nicht nur die Bildung von Wortzusammenset­zungen, sondern blockierte auch die Ableitung eines Adjektivs, denn kernig kam für technische Zusammenhänge nicht in Frage. Eine flexible und ökonomische Handhabung hätte neben Atom/ atomar der Internationalismus nuklear geboten, der allerdings damals in der deutschen physikalischen Terminologie und erst recht im technischen und allgemeineren Sprachgebrauch ungenügend verankert war.

Der sich hier andeutende Konflikt zwischen terminologischer Motiviertheit, systematischen Eigenschaften und historisch gewachsenem Zeichengebrauch macht aus der Verbreitungsgeschichte von Kern ein interessantes Untersuchungs­objekt für das Verhältnis vom "inneren" zum "äußeren Sprachwandel". Zahlreiche Inkonsequenzen fallen dabei von Anfang an ins Auge. Selbst ein Terminologe, der betont, daß es eigentlich "sinnvoller" sei, "nur die Wortbildungen mit der Vor­satzsilbe ,Kern-' zu verwenden", verzichtet auf Kernenergie als Stichwort und be­vorzugt Atomkernenergie. 2 In einem englisch-deutschen Fachwörterbuch der glei­chen Zeit (Franzen 1957) erfolgt zwar die Übersetzung von nuclear bei den 138 Haupt- und Nebenstichwörtern i. d. R. programmatisch mit Kern, bei unüblichen

Schwenkhagen 1956, S. 7. 2 Schwenkhagen 1956, S. 9.

4.3 Macht und Ohnmacht der technischen Sprachnormung 59

Komposita wie Kernjlugzeug, Kernlokomotive und Kernrakete nennt der Autor aber doch die etablierten Parallelbildungen mit Atom, und bei Atom-Unterseeboot verzichtet er ganz auf Kern. Nur in vier Fällen (Nuklearmedizin, nukleares Ge­schoß, nuklearer Treibstoffund nukleare Waffen neben Kernwaffen) verwendet er den Internationalismus nuklear, denn tendenziell war man in der Technik stärker ,deutschtümelnd' als in den Grundlagenwissenschaften. In der Physik waren näm­lich schon wenige Jahre später Nukleone und Nuklide ebenso gängig wie Atomkern bzw. Kernteilchen1, entsprechend einer Terminologie, die man ursprünglich aus der Biologie der Zellkerne übernommen hatte.

Die Re-Terminologisierung strahlte auch auf Kommunikationsbereiche aus, für die die Fachsprachen nun wieder eine normative Orientierungsfunktion übernom­men hatten: Wirtschaft und Politik. Ein neues Kern-Bewußtsein zeigte sich bei­spielsweise im Motto einer Gewerkschaftskundgebung zur "Kern-Energie im Dienste der Menschheit" (DGB 1958), wobei der Bindestrich recht gut die damali­ge Fremdartigkeit des Fachterminus deutlich macht. Und auch die individuelle Sprachgebrauchsanalyse des neuen Atomministers F. J. Strauß auf der Basis der Verlautbarungen im offiziellen Bulletin der Bundesregierung zeigt, daß er zwi­schen seinem Amtsantritt am 20.12.55 und dem Wechsel ins Verteidigungsmini­sterium 1956 vom exklusiven Gebrauch von Atom-Energie o.ä. zur Variation zwi­schen Atomenergie und Kernenergie übergeht.

Die schnelle Verschiebung von Atom- zu Kern- in fachsprachlich orientierten Kommunikationsbereichen spiegelt am plakativsten die Namensgebung bei den neu entstehenden kerntechnischer Fachzeitschriften wider. Während die beiden

Übersicht 1: Titel kerntechnischer Fachzeitschriften2

Hauptname Untertitel Jahr Atomener~ie Alomlechnik und Alomwir/schafi 1955 Alompraxis ane.ewandte Alomener~ie 1955 Atomwirlschajl Kernulttlvandlull~ 1956 Alomkern-Enere.ic Anwendung der Ker11energie 1956 Der Kemener~ie·lngenicur 1958 Kern/echnik 1959

1955 gegründeten Blätter noch ganz auf Kern verzichten, rückt nur ein Jahr später Kern zumindest in den Untertitel, und ab 1958 führen Neugründungen nur noch Kern im Namen. Auch juristisch gesehen wurde Kern verbindlich: Durch das "Ge­setz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren", 1957 erstmals dem Bundestag zur Abstimmung vorgelegt und endgül­tig 1959 verabschiedet, erlangten physikalisch-technische Kern-Termini wie Kern­spaltung, Kernbrennstoff, Kernenergie für die Exekutive normativen Charakter -letzteres Wort durch einen Passus über die konkurrierende Rechtsprechung zwi­schen Bund und Ländern, der 1959 in Artikel 74 eingefUgt wurde, sogar mit Grundgesetzstatus.

Dennoch wurde gerade im juristischen Bereich die sprachliche Problematik von Kern virulent, da der Name des neuen Gesetzes "kurz ,Atomgesetz'" lautete, wie

I Zum Beispiel bei Gerlach 1962, S. 59. 2 Erstellt nach Angaben der deutschen Zeitschriftengesamtdatenbank. Die Titel wurden fllr die

Übersicht sinnvoll gekürzt.

60 4 Amerikanischer Spracheinfluß der FrOhphase

der federführende Minister für Atomfragen erläuterte.' Kerngesetz war wegen sei­nes störenden Nebensinnes (,zentrales Gesetz') ausgeschlossen . Kernenergiegesetz wäre zu lang gewesen bzw. hätte den Geltungsbereich auf Energiefragen einge­schränkt. Als juristische Fachwörter wurden damit neue Atom-Komposita wie Atomrecht, Atomanlage, Atomgesetz vorbildhaft. Die ganze Widersprüchlichkeil des Atom- bzw. Kern-Gebrauches macht die Bundestagsdebatten der 50er Jahre

Graphik 1: »Atom-« bzw. »Kern«-Komposita im Bundestag 1956-19592

Kernbrennstoff

Atomminister

Atomfragen

Atomkommission

Atomtech­

Atomwirtschaft

Atomkraftwerk

Atom( energie )gesetz

Kernenergie

Atom

0 20

u

40 60

1112 Belege

u

%

80 100

deutlich, die eine Momentaufnahme des damaligen Sprachgebrauchs in der inter­nen politischen Kommunikation erlaubt.

Von einem durchgehenden Trend zu Kern kann keine Rede sein. Offensichtlich muß die Entwicklung flir jedes Kompositum differenziert beurteilt werden, wobei die Frage der Relevanz in der öffentlichen Diskussion der entscheidende Faktor ist. Bei neuen Fachausdrücken heißt der Standard Kern (zum Beispiel Kernbrennstoff). Neologismen wie Atomgesetz (Abkürzung: AtG), die diesem Trend widersprechen, haben ungeachtet der sprachnormativen Kraft des Gesetzgebers offensichtliche ,Akzeptanz'-Schwierigkeiten. Umgekehrt ist Atom bei nur wenig älteren, populä­ren Namensgebungen wie Atomkraftwerk, Atomtechnik bzw. Atomwirtschaft be­reits historisch und bei Atomminister, Atomfrage und Atomkommission außerdem noch institutionell zementiert.

Balke, BT 22.2.57, S. 11051. 2 Das angebene Wort ist jeweils die häufigste Variante, die gegen parallel gebildete Wörter mit

Kern bzw. Atom aufgerechnet wurden . Genaue Zahlenwerte und Erklärungen siehe Anhang, Tabelle 8, S. 244.

4.3 Macht und Ohnmacht der technischen Sprachnormung 61

Bei Energie geraten beide Tendenzen in Konflikt. Weder der Sprachgebrauch des Gesetzgebers noch die terminologische Norm können hier die absolute Akzep­tanz von Kernenergie gewährleisten, zu lang und intensiv war die öffentliche Kar­riere des Konkurrenzwortes Atomenergie. Andererseits aber hat der fachliche Sprachgebrauch schon so viel Prestige ftir die Abgeordneten, daß sie dem inzwi­schen erfolgten Gezeitenwechsel mit Kernenergie ganz überwiegend Rechnung tragen. Explizit deutlich wird das beispielsweise, wenn man den eigenen Sprach­gebrauch demonstrativ durch "besser gesagt, Kernenergiefragen" korrigiert', um sich durch seine Fach(sprachen)kenntnis als Spezialist für dieses Thema vor dem Bundestag und der eigenen Fraktion zu profilieren.

Eine AufschlüsseJung der Zahlen nach Sprechern erlaubt es, der sprachlichen Heterogenität bis auf die individuelle Ebene nachzugehen. Fünf von elf Bundes­tagsabgeordneten beispielsweise verwenden 1957 bereits ausschließlich Kern­energie, nur einer ebenso exklusiv Atomenergie und bei den übrigen sechs finden sich beide Varianten. Der individuelle Zeichengebrauch ist hier, wie auch später noch zu zeigen sein wird, altersabhängig bzw. eine Frage des Selbstverständnisses und der Bezugsgruppe. Als konsequent in der Verwendung von Kern über einzelne Komposita hinaus erweist sich keiner der Abgeordneten, obwohl es natürlich ge­nauso ,unsinnig' ist, vom Atomminister wie von der Atomenergie zu sprechen.

Ebensowenig setzte sich die ,Logik' der Bezeichnung Atomkernenergie durch, die von Terminologen um 1955 I 56 als die korrekte Vollform von Atomenergie2 empfohlen wurde und als die ideale Kompromißformel zwischen dem ,ungenau­en', aber populären Atomenergie auf der einen, dem mißverständlichen und fach­sprachlich blassen Kernenergie auf der anderen Seite erscheinen mochte. Atom­kernenergie hatte allerdings entscheidende Nachteile: mangelnde sprachliche Öko­nomie, fehlendes englisches Vorbild und zu geringe Verankerung im Sprachge­brauch. So haftete dem Wort der Ruch des zu spät gekommenen und wegen Kern­energie auch fachsprachlich überflüssigen Pedantismus an.

Atomkernenergie war praktisch nur bei besonders förmlichen institutionellen Benennungen und dem zugehörigen phraseologischen Umfeld vorübergehend er­folgreich. So wurde aus dem 1955 eingerichteten Ministerium für Atomfragen am 28.10.57 das Ministerium für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, nun geleitet von Dr.-1ng. Siegfried Balke, der sich selbst vor allem als Fachmann verstand. Ent­sprechend gab es einen Bundestagsausschuß für Atomkernenergie und Wasserwirt­schaft (bis 1965), den Bund-Länder-Ausschuß für Atomkernenergie (bis heute) und Haushaltstitel wie Die Bundesausgaben für Atomkernenergie, die vor 1959 auf Atomenergie und ab 1969 auf Kernenergie lauteten (vgl. das Inhaltsverzeichnis der Zeitschrift ATW). Im freien Sprachgebrauch dagegen war Atomkernenergie trotz seines quasi amtlichen Charakters chancenlos. Als extrem seltene Variante ist es beispielsweise im Bundestag in den Debatten der 50er Jahre nur ein einziges Mal belegt - im Namen der 1956 gegründeten Fachzeitschrift. Ein Großteil meiner (wenigen) Belege zu Atomkern wie Atomkernmedizin, Atomkernrisiko undfriedli­che Nutzung der Atomkernenergie findet sich wohl nicht zufallig im offiziellen Bulletin der Bundesregierung.3

Diskursgeschichtlich gesehen wird an diesem Beispiel deutlich, daß weder ,Ge­nauigkeit' und ,Logik' einer Bezeichnung noch strukturelle Analogien die ent-

BT 19.04.1956, S. 7298. 2 Zum Beispiel von Schwenkhagen 1956, S. 7. 3 Zum Beispiel im BULLETIN 1956, S. 1775 bzw. S. 394.

62 4 Amerikanischer Spracheinfluß der Frühphase

scheidende Rolle beim Sprachwandel spielen. Viel wichtiger ftir den Erfolg eines neuen Ausdrucks sind neben sprachökonomischen Gesichtspunkten soziolinguisti­sche Faktoren wie Verbreitung, Alter, gesellschaftliche Schichtung, Prestige und Institutionalisierung. Diese vielfaltigen und schwer zu beeinflussenden Faktoren greifen in komplexer Weise ineinander, so daß terminologische Lenkungsversuche aussichtslos bleiben müssen, wenn sie nicht bereits existierende Tendenzen ver­stärken. Die Bemühungen um die Normierung der neuen kerntechnischen Fach­sprache waren, wie bei Atom/ Kern nur am Rande deutlich geworden ist, vor allem ein Versuch zur Zurückdrängung oder zumindest Kanalisierung des Spracheinflus­ses der USA. "Massive Konventionen" sorgten nun daftir, daß die Amerikanismen, die zur Zeit des ,anarchischen' Sprachkontaktes in großer Zahl übernommen wor­den waren, aus Druckschriften, offiziellen Schriftstücken und Terminologiewerken der Kernenergielobby weitgehend verschwanden (Im internen Techniker-Sprach­gebrauch sah das allerdings anders aus). 1 Bei der ,Einverleibung' des amerikani­schen Wortschatzes gab es jedoch eine prinzipielle ,Verdauungsschwierigkeit'. Die neue Fachsprache hatte aufgrund der vorangegangenen Diskursgeschichte in wei­ten Teilen den Charakter eines Jargons angenommen.

Die Benennungen ftlr Gegenstände und Phänomene, die die Beteiligten aus der täglichen Arbeit bestens kannten, waren durch das "humorvolle Augenzwinkern" und den Bezug auf die private Sphäre der Menschen geprägt, so daß sie häufig wie eine den Eingeweihten vorbehaltene Geheimsprache wirkten. Dieses ftir die dama­lige kerntechnische Terminologie besonders auffällige Charakteristikum ist von Carl Zuckmayer in seinem Drama um Schuld und Pflicht der Atomphysiker, Das kalte Licht, literarisch verarbeitet worden. Hier ein Auszug (Ein Kommissar möch­te einen Atomphysiker sprechen und trifft auf die Putzfrau):2

Hodger: Der Chef blitzt im Heißen und muß erst aus der Haut fahren. Northon blickt sie ti·agend an. llodger: So, sie sind nicht vom Bau. Hier hat man ja sonst nur mit Fachleuten zu tun. Ich wollte sagen, er arbeitet im radioaktiven Labor und muß seine Strahlenabschirmungsbrocken ausziehen, bevor er rüberkommt. Wundern Sie sich nicht über meine Bildung. Jeder Nachtwächter muß hier die Merkblätter auswendig lernen. Was das wirklich heißt, verstehe ich ebenso wenig wie ein Irländer das Latünch in seiner Kirche. Lauter Geheimsprachen und die Weit wird nicht klüger davon.

Die gewagte Metaphernhaftigkeit des amerikanischen ,Slangs' war - wenig über­raschend -bei der ungesteuerten Übernahme in Lehnübersetzungen wie Schwimm­bad- bzw. Tauchsiederreaktor, Schneller Brüter, heiß (,hochradioaktiv'), Renn­bahn (Teilchenbeschleunigertyp) oder Lehnwörtern wie Dollar bzw. Cent (Maß­einheiten der Reaktivität) durchgehend bewahrt worden. Ein Gutteil dieser Jargo­nismen zeigt in ihrer Bildhaftigkeit übrigens deutlich, daß es sich um eine von ty­pischen Männerphantasien geprägte Sprache handelt, bei der wir der gleichen Verbindung von Atomtechnik und Sexualität, Gefahr und Erregung begegnen, die schon bei Atom zu beobachten war: Man(n) arbeitete auch in Deutschland mit nackten undjungfräulichen Reaktoren (,ohne Reflektor' bzw. ,vor erstmaliger In­betriebnahme'), hoffte auf Schnelle Brüter, zählte die jungfräulichen Neutronen "vor dem ersten Stoß" - so die offizielle Definition des Deutschen Instituts für Normung (vgl. DIN 1979)- und hantierte mitfruchtbarem Material. Daß letzteres beispielsweise "besser" als potentieller Kernbrennstoff zu bezeichnen sei, wie es in

I Schmitt 1985, S. 213. 2 lschreyt 1958, S. 71; Zuckmaycr 1955, S. 351 ( Hervorhebungen M.J).

4.3 Macht und Ohnmacht der technischen Sprachnormung 63

einem typischen Vorstoß hieß, um die biologistische Metaphorik zurückzudrängen, kümmerte die wenigsten. "Wörter vermitteln uns gewisse Tendenzen ihrer Schöp­fer".1

Die amerikanischen "Werkstattwörter", deren Entstehung und Bildungsweise "durchaus anders als die der rein wissenschaftlichen Fachwörter" war und die aus dem "Laborjargon mit seiner ,Hemdsärmeligkeit' in die Fachsprache eingegangen" seien, stießen bei den Terminotogen auf starken Widerstand. Der bildhafte, sub­jektive Charakter dieser Wörter widerstrebte dem "Genauigkeitsanliegen" und machte sie "der Technik in Deutschland verdächtig". Bei dem Versuch, Ausdrük­ke, die der "deutschen Zunge" nicht angemessen seien, in eine sprachlich "erträg­liche" Form zu bringen, stand neben der Ersetzung amerikanischer Lehnwörter vor allem das Wie der Eindeutschung im Vordergrund. Der fachsprachliche Purismus erforderte dabei häufig die Bildung von "nicht durchgehend gebräuchlichen deut­schen Wörtern".2 Die folgende Übersicht macht gut den Gegensatz zwischen ame­rikanischem Jargon und deutschem Fachterminus deutlich:

Übersicht 2: Amerikanische Nuklearjargonismen und ihre Verdeutschung3

amerikanisch wör tlich' offizieller Vorschlag burial groundlgraveyard Friedhof Alfalfager Alfal/grube canyon Sch/uciii/Canyon (Reaktor-) Tunnel cave lföhle (heiße) Zelle donut I douRhnut Berliner Ballen Flußverstärker l(uel Brennstoff Spaltstoff hol spo/ heijJer Punkt Uberlastpunkt master slave manioulator 1/err-Sk/ave-Ger(Jt Fernf!rei er rabbit hole Kaninchenbau Rohrpostkanal pi/e 1-faufen/ Meiler Reaktor comn Sari! Tronsportbehdlter" .~Iove box 1-fandsclwhkasten Arbeitskasten) gloriahole Gloria-Loch (?)0 1-fauf)tkanal

Wie man sieht, handelt es sich hier nicht mehr um eine Übertragung der Amerika­nismen, sondern um eine originäre Neubildung deutscher Termini, deren Benen­nungsmotivation eine völlig andere als die des Originals ist (Nach der klassischen linguistischen Terminologie wären es also lediglich Lehnschöpfungen). Der in Deutschland vielleicht besonders verbreitete fachsprachliche Pedantismus führte oft zu ,semantischen Kämpfen' um die terminologisch ,korrekteste' Bezeichnung. Intensiv war dabei die Diskussion um das Wortfeld (ver)brennen bzw. die Eindeut­schung von engl.fuel. Da bei Kernreaktionen im Unterschied zu chemischen Ver­brennungsvorgängen keine Verbindung mit Sauerstoff eintrete, sei Brennstoffkei­ne "exakte Bezeichnung". Man spreche deshalb besser von Spaltstoff 7

Diese Argumente kamen vor allem von seiten der Ingenieure. Denn die Physi­ker hatten bereits in den allerersten Spekulationen über die Möglichkeit einer nu­klearen Kettenreaktion vom Verbrennen des Urans gesprochen (zum Beispiel

Müller 1959, S. 95; Heringer 1990, S. 56. 2 lschreyt 1958, S. 70f.; Beier 1960, S. 134; Höcker 1957, S. 373. 3 Liste nach Höcker 1957 u. 1958 bzw. Franzen 1957. 4 Für radioaktive StoiTe. 5 Schutzkasten zum Arbeiten mit radioaktiven Substanzen. 6 Deutsch: "Glorie, Heiligenschein, Gloria, religiöser Lobgesang" (Langenscheidts Großwörterbuch

Englisch-Deutsch. München 1985). Gemeint ist eine Öffnung bis zur Reaktormitte. 7 Höcker 1957, S. 373; ahnlieh zum Beispiel auch Schwenkhagen 1956, S. 25.

64 4 Amerikanischer Spracheinfluß der Frühphase

Flügge 1939). Weitere fachsprachliche Thematisierungen richteten sich gegen die Übersetzung von eng!. breederdurch brüten (vgl. Schneller Brüter). Sie sei "sach­lich ungenau" und lediglich "irrtümlich" erfolgt. Richtiger sei hier züchten. I Die Normierungsvorstöße scheiterten jedoch: Schon in der 2., erweiterten Fassung der vom Ausschuß ftlr Begriffsbestimmungen der Arbeitsgemeinschaft flir Kerntech­nik (AfK) erstellten Liste mußte die chemische Metapher Kernbrennstoff doch wieder zugelassen werden, das zunächst noch gelegentlich belegbare Züchtung verschwindet bis zum Ende der 50er Jahre aus dem Fachsprachengebrauch, und nur Brüterl brüten bzw. Manipulator (statt wie vorgeschlagen Ferngreifer) werden 1973 im Duden lexikalisiert.2 Die kritischen Sprachthematisierungen der Termino­logen erfolgten offensichtlich zu spät, da der ,fehlerhafte' Wortgebrauch wohl erst dann zu Bewußtsein kommt, wenn er ausreichend etabliert ist. So werden Reaktor­kontrolle, das "besser durch die Begriffe Reaktorsteuerung und -regelung" zu er­setzen sei, und heiß als "Ausdruck der Umgangssprache" bzw. "Laborjargon" im Sinne von ,hochradioaktiv' ausgerechnet unter den alphabetischen Einträgen der beanstandeten Ausdrücke abgewertet. Die Kritik widerspricht hier der terminologi­schen Weihe, die faktisch durch die Aufnahme der beiden Stichwörter in Fach­Glossare erfolgt.3

Gerade Thematisierungen besiegeln also häufig genug die Kapitulation der Normierer vor dem faktischen Sprachgebrauch und das Scheitern des Versuchs ei­ner Sprachlenkung von oben. Durchgesetzt haben sich - ungesteuert und unge­plant - in der Regel die Termini, die wegen ihrer phonetischen Nähe zum engli­schen Vorbild (breed I brüt- bzw. cantrot I Kontrolle) oder der Wörtlichkeit der Übersetzung (juel = Brennstoff, hat = heiß) ganz besonders vordergründige Ein­deutschungen sind. Und selbst wenn die offiziellen Termini in amtlichen Doku­menten den Sieg davonzutragen scheinen, widerspricht dies häufig dem fachinter­nen Sprachgebrauch. Ein Beispiel aus einem anderen Bereich sei noch nachgetra­gen, weil es besonders gut die kommunikative Blindheit des (typisch deutschen?) terminologischen Pedantismus deutlich macht: Während sich ein Normenausschuß darüber ausließ, ein bestimmtes Schaltelement müsse bi-stabile transistorierte und nicht bi-stabile transistorisierte Kippstufe heißen, nannten die OS-Amerikaner die­ses Element flip-jlop - und so heißt es auch bis heute auf der ganzen Welt, Deutschland eingeschlossen.4

Mit dem Ende der 50er Jahre ist die bewegte Phase der zivilen Nutzung der Atomenergie in Deutschland zunächst einmal vorbei. Sowohl öffentlich wie auch fachintern verläuft die sprachliche Entwicklung fortan in ruhigeren und unspekta­kulären Bahnen. Damit ändert sich die diskursgeschichtliche Konstellation grund­legend, wie im nächsten Kapitel ausgeführt wird.

Weizsäcker 1957, S. 83; Schwenkhagen 1956, S. 51. Diese Meinung laßt sich z. T. rechtfertigen,

da deutsch brüten im Englischen eher mit brood bezeichnet wird. Dies gilt aber nicht durchgängig,

womit das transialarische Argument sehr brüchig wird.

2 Die erwähnte Liste tindet sich in Höcker 1958; Belege flir züchten: Römpp 1949, S. 145, und Joos

1955, S. 52; bcide Varianten kommentarlos bei Müller 1954, S. 235. Schon v. Weizsäcker 1957

verwendetetrotz seiner Vorbehalte nur brüten. Vgl. auch Koelzer 1990.

3 Müller 1959 bzw. DIN 1979. 4 Dieses Beispiel verdanke ich H. Roscnau.