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ORDNUNGSPRINZIPIEN IN JOHANN SEBASTIAN BACHS KLAVIERÜBUNG ANDREAS JACOB Will man übergeordnete Prinzipien der Ordnung und der kompositorischen Kontinuität in der Klavierübung Bachs beschreiben, so drängen sich mit der zu verwendenden Begrifflichkeit Probleme leicht in den Vordergrund, die zur Klärung der zu bezeichnenden Sache wenig beitragen. Der Terminus „Musi- kalischer Zyklus“ – aus dem 19. Jahrhundert vertraut – wird dann zum Ge- genstand der Diskussion hinsichtlich seiner Anwendbarkeit auf das Kompo- nieren Bachs. Dabei lassen sich verschiedene Positionen skizzieren, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln die Benennung als Zyklus etwa für Instru- mentalsammlungen des 17. und 18. Jahrhunderts beurteilen 1 . Einen solcherart einschließenden Standpunkt vertritt beispielsweise Klaus-Jürgen Sachs 2 , der auch Sammlungen, die einem bestimmten Ordnungsprinzip verpflichtet sind, als „disponierten Zyklus“ ansieht 3 . Als Beleg für diesen Ansatz, der „aus- drücklich verschiedene Arten und Grade von einheitsbildenden Momenten be- rücksichtigt“ 4 , beruft er sich auf die literaturwissenschaftliche Behandlung dieses Begriffs 5 . In anderer Weise verfahren (mit verschiedenen Ausrichtun- gen) Rudolf Stephan, der bei der Untersuchung der Begriffe „Satz – Werk – 1 Vergleiche zum Beispiel die Differenzierung in „zyklisches Einzelwerk“ (mit „zykli- scher Form“) und „Zyklus“ in W. Seidels Artikeln „Zyklische Form“ und „Zyklus“, in: Das große Lexikon der Musik, hrsg. v. M. Honegger und G. Massenkeil, Freiburg i. Br. 1982, S. 422 f. 2 K.-J. Sachs, Aspekte der numerischen und tonartlichen Disposition instrumentalmusi- kalischer Zyklen des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts, in: Archiv für Musikwissenschaft 1984, S. 237-256. 3 Ebenda, S. 255. 4 Ebenda, S. 254. 5 So auf Grimms Deutsches Wörterbuch, Bd. XVI, Leipzig 1854, S. 1452, und auf V. J. Günters Artikel „Zyklus“, in: Kleines literarisches Lexikon III, Bern/München 4 1966, S. 458.

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Andreas Jacob

ORDNUNGSPRINZIPIENIN JOHANN SEBASTIAN BACHS KLAVIERÜBUNG

ANDREAS JACOB

Will man übergeordnete Prinzipien der Ordnung und der kompositorischenKontinuität in der Klavierübung Bachs beschreiben, so drängen sich mit derzu verwendenden Begrifflichkeit Probleme leicht in den Vordergrund, die zurKlärung der zu bezeichnenden Sache wenig beitragen. Der Terminus „Musi-kalischer Zyklus“ – aus dem 19. Jahrhundert vertraut – wird dann zum Ge-genstand der Diskussion hinsichtlich seiner Anwendbarkeit auf das Kompo-nieren Bachs. Dabei lassen sich verschiedene Positionen skizzieren, die ausunterschiedlichen Blickwinkeln die Benennung als Zyklus etwa für Instru-mentalsammlungen des 17. und 18. Jahrhunderts beurteilen1. Einen solcherarteinschließenden Standpunkt vertritt beispielsweise Klaus-Jürgen Sachs2, derauch Sammlungen, die einem bestimmten Ordnungsprinzip verpflichtet sind,als „disponierten Zyklus“ ansieht3. Als Beleg für diesen Ansatz, der „aus-drücklich verschiedene Arten und Grade von einheitsbildenden Momenten be-rücksichtigt“4, beruft er sich auf die literaturwissenschaftliche Behandlungdieses Begriffs5. In anderer Weise verfahren (mit verschiedenen Ausrichtun-gen) Rudolf Stephan, der bei der Untersuchung der Begriffe „Satz – Werk –

1 Vergleiche zum Beispiel die Differenzierung in „zyklisches Einzelwerk“ (mit „zykli-scher Form“) und „Zyklus“ in W. Seidels Artikeln „Zyklische Form“ und „Zyklus“, in: Dasgroße Lexikon der Musik, hrsg. v. M. Honegger und G. Massenkeil, Freiburg i. Br. 1982,S. 422 f.

2 K.-J. Sachs, Aspekte der numerischen und tonartlichen Disposition instrumentalmusi-kalischer Zyklen des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts, in: Archiv fürMusikwissenschaft 1984, S. 237-256.

3 Ebenda, S. 255.4 Ebenda, S. 254.5 So auf Grimms Deutsches Wörterbuch, Bd. XVI, Leipzig 1854, S. 1452, und auf V. J.

Günters Artikel „Zyklus“, in: Kleines literarisches Lexikon III, Bern/München 41966,S. 458.

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Ordnungsprinzipien in Johann Sebastian Bachs Klavierübung

Sammlung – Zyklus“6 eben die „Sammlung, der eine überlegte, aber musika-lisch abstrakt bleibende Ordnung zugrunde liegt“ abhebt von Anordnungen,die „sinnvoll mögliche und praktisch realisierbare Zyklen“7 ergeben, und Wer-ner Breig, der zu diesem angesprochenen Sachverhalt die Unterscheidung von„komponierten Zyklen“ und „Aufführungszyklen“ vorschlug8. Sachs’ weiter-gefaßter Zyklusbegriff scheint deshalb adäquat, da er dem Ursprung des Zy-klusgedankens am nächsten kommt, der in den Jahreszyklen des Kirchenjahr-Propriums zu sehen ist. Kantatenjahrgänge entsprechen in barocker Zeit die-sem Propriums-Aspekt des Zyklischen (bei Telemanns Kantatenjahrgängenwird dem auch im Sinne eines zusammenfassenden Ordnungsgedankens kom-positorisch Rechnung getragen). Eine solche Auffassung ist auch bei AlbertSchweitzer anzutreffen, wenn er von „Jahreszyklen von Choralvorspielen“spricht9. In säkularisierter Form erscheint der Zyklusgedanke beispielsweisein Antonio Vivaldis Vier Jahreszeiten. Darüber hinaus legt Sachs überzeugenddar, wie gängige numerische und tonartliche Ordnungsprinzipien im Sinne ei-ner zyklischen Anlage zu verstehen sind.

Jedoch sollte nicht übersehen werden, daß der Begriff des Zyklus bei Bach,um den es hier geht, nicht verwendet wird. Eine begriffsgeschichtliche Diskus-sion scheint deshalb in einer Sachfrage nicht weiter zu führen, bei der es darumgeht, bestimmten Zusammenhang stiftenden Momenten in Bachschen Samm-lungen nachzugehen. Der Einfachheit halber sollen solche Anzeichen von Kon-tinuität in Disposition und Elaboration hier als zyklische Momente benannt wer-den, wenngleich es sich bei den besprochenen Werken nicht um einen abgerun-deten Kreislauf im ursprünglichen Sinn des Wortes Zyklus handelt.

Die Frage nach solchen einheitsstiftenden Momenten muß im Falle Bachsvor allem bei seinen wenigen im Druck erschienenen Werken interessant er-scheinen, da man davon ausgehen darf, daß er gerade hier besondere Sorgfalt

6 R. Stephan, J. S. Bach und das Problem des musikalischen Zyklus, in: Bach-Jahrbuch1973, S. 39-52; vergleiche dazu auch M. Schiffner, Werk – Sammlung – Zyklus: Bachs Kla-vierübung Teil III, in: Bericht über die Wissenschaftliche Konferenz zum VI. Internationa-len Bachfest der DDR in Verbindung mit dem 64. Bachfest der Neuen BachgesellschaftLeipzig, 11./12. September 1989 (= Beiträge zur Bach-Forschung, Heft 9/10), im Auftragder Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten Johann Sebastian Bach vorgelegt vom Be-reich Forschung, Leipzig 1991, S. 77-84, wo zwar eine vorsichtige Formulierung des Zy-klusbegriffs gewählt wird, es aber doch gleich auf S. 77 heißt: „Dem Gesamtaufbau derKlavierübung liegt, wie bereits angedeutet, ein entsprechendes formales Schema zugrunde,das auf ein planvoll zyklisches Schaffen schließen läßt.“

7 Ebenda, S. 47.8 W. Breig, Bachs „Kunst der Fuge“: Zur instrumentalen Bestimmung und zum Zy-

klus-Charakter, in: Bach-Jahrbuch 1982, S. 103-123, dort auf S. 120.9 A. Schweitzer, Johann Sebastian Bach, Leipzig 1908, S. 263.

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in der Zusammenstellung der Werke walten ließ. Erwähnen, wenn auch kei-nesfalls überbewerten, sollte man in diesem Zusammenhang beispielsweisedie Tatsache, daß Bach dem I. Teil der Klavierübung bei der Drucklegung dieBezeichnung „OPUS I“ beifügte. Alfred Einstein schrieb in einem Essay unterdem Titel „Opus I“ unter anderem folgendes über diesen Sachverhalt: „DiesePartiten sind die Krone ihrer Gattung! (...) Wenn er die ,Partiten‘ der Weltvorlegte, so muß er damit etwas beabsichtigt haben. Und zwar mehr als denBeweis musikalischer, handwerklicher Vollkommenheit“10.

Neben der exponierten Stellung durch die Drucklegung ist hier ebenso zuberücksichtigen, daß Bach den vereinheitlichenden Oberbegriff der Klavier-übung wählte (vielleicht in Anlehnung an die ,,Clavier-Übung“ seines Amts-vorgängers Johann Kuhnau, deren beide Teile 1689 und 1692 erschienen wa-ren). Dies legt einen inneren Zusammenhang nahe, besonders auch wegen derbeigefügten Benennung einzelner Sammlungen als „Zweyter“ bzw. „Dritter“Teil dieses Gesamtwerks. Zwar wurden schon entsprechende Arbeiten vorge-legt, die Ordnungsprinzipien innerhalb dieser verschiedenen Teile der Klavier-übung nachwiesen, mit unterschiedlicher Betonung des zyklischen Aspekts11.Daraus ergeben sich nun Ansatzpunkte, um zur Klärung der Verwendbarkeitdes Zyklusbegriffs sowohl innerhalb der einzelnen Sammlungen als übergrei-fend für einen eventuell konzipierten Gesamtzyklus beizutragen.

10 A. Einstein, Von Schütz bis Hindemith. Essays über Musik und Musiker. Zürich1957, S. 222 f.

11 Als wohl wichtigste Arbeiten seien hier – neben den bereits erwähnten – genannt (inchronologischer Reihenfolge): W. Ehmann, J. S. Bachs „Dritter Theil der Clavier Übung“in seiner gottesdienstlichen Bedeutung und Verwendung, in: Musik und Kirche, 5. Jahrgang1933, S. 77 ff; K. Ehricht, Die zyklische Gestalt und die Aufführungsmöglichkeit des III.Teils der Klavierübung von Joh. Seb. Bach, in: Bach-Jahrbuch 1949-1950, S. 40 ff.; R. El-ler, Serie und Zyklus in Bachs Instrumentalsammlungen, in: M. Geck (Hrsg.), Bach-Inter-pretationen, Göttingen 1969, S. 126-143; Chr. Wolff, Ordnungsprinzipien in den Original-drucken Bachscher Werke, in: M. Geck (Hrsg.), Bach-Interpretationen, a. a. O., S. 144-167; W. Breig, Bachs Goldberg-Variationen als zyklisches Werk, in: Archiv für Musikwis-senschaft 1975, S. 243-265; M. Schiffner, Zu Johann Sebastian Bachs Klavierübung (TeilI-III). Ordnungsprinzipien und zyklische Gestaltungskonzeption, Diss. Halle/Saale 1981;Gr. Butler, Bach’s Clavier-Übung III: the making of a print, with a companion study of thecanonic variations on „Vom Himmel hoch“ BWV 769, London 1990. Auffällig ist hierbei,daß derartige Ansätze bei Klavierübung III schon sehr früh erfolgten, während die allge-meinere Beschäftigung mit solchen Ordnungsprinzipien ihren Initialschub gleichsam erstdurch die angeführten Aufsätze aus dem Jahr 1969 erhielt.

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Ordnungsprinzipien in Johann Sebastian Bachs Klavierübung

II

Fünf Jahre nachdem er die erste Partita veröffentlicht hatte, ließ Bach denSammeldruck der 6 Partiten unter folgendem Titel erscheinen: Clavir Ubung/bestehend in/ Praeludien, Allemanden, Couranten, Sarabanden, Giguen,/ Me-nuetten, und andern Galanterien;/ Denen Liebhabern zur Gemüths Ergoet-zung verfertiget/ von/ Johann Sebastian Bach/ Hochfürstlich Sächsisch-Wei-senfelsischen würcklichen Capellmeistern/ und/ Directore Chori Musici Lipsi-ensis./ OPUS 1./ In Verlegung des Autoris./ 173112.

Die Satzbezeichnungen finden sich in der angegebenen Form in Partita Iwieder, für die entsprechenden Sätze der anderen Partiten gilt dann die Sam-melbezeichnung der „andern Galanterien“. Übrigens waren diese Satzbezeich-nungen schon im Einzeldruck der ersten Partita so angegeben worden, die garkeine „andern Galanterien“ enthält; die Zusammenfassung zu einem Sammel-werk war also von Anfang an intendiert. Sachs zeigt in seinem oben erwähn-ten Aufsatz, daß die Sechsgliedrigkeit von zyklischen Sammlungen, die in derbarocken Praxis sehr häufig anzutreffen ist, auf der pythagoreischen Lehrevon den „vollkommenen Zahlen“ beruht13. Noch Johann Gottfried WalthersMusicalisches Lexicon von 1732 enthält einen Artikel „Numerus perfectus“,in dem er schreibt: „ist bei den Mathematicis z.E. die Zahl 6; weil sie aus al-len ihren partibus aliquotis wiederum entstehet und gemacht wird“14. Die Be-sonderheit dieser Sammlung liegt also nicht in der konventionellen Zusam-menfassung zu 6 Partiten; hier wird statt dessen das Gewicht auf die Einzel-sätze gelegt (wie der Titel nämlich davon spricht, die Klavierübung bestehe „inPraeludien...“ etc.). Diese Feststellung führte Rudolf Stephan zu der Überle-gung, „daß die Ouvertüre des zweiten Teils der Klavierübung viel ,zyklischer‘gedacht ist als die Partiten des ersten Teils“15. Auch in dem Titel Partita ist einsolches Moment der Individualisierung der Einzelsätze enthalten: So benenntBach in seinen frühen Choralpartiten „Christ, der du bist der helle Tag“ und„O Gott, du frommer Gott“ (BWV 766 und 767) den jeweiligen Einzelsatzmit ,Partita‘, das Gesamtwerk mit ,Partite diverse sopra...‘ Gerade dieser

12 Die Titel der Bachschen Originaldrucke stets nach Schriftstücke von der Hand Jo-hann Sebastian Bachs, Kassel Basel 1963 (= Bach-Dokumente, Band I), S. 224.

13 K.-J. Sachs, Aspekte der numerischen und tonartlichen Disposition instrumentalmusi-kalischer Zyklen des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts, a. a. O., S. 243 ff.

14 J. G. Walther, Musicalisches Lexicon oder musicalische Bibliothek, Leipzig 1732(Faksimilenachdruck: Documenta Musicologica I, III, hrsg. v. R. Schaal, Kassel 1953),S. 447.

15 R. Stephan, J. S. Bach und das Problem des musikalischen Zyklus, a. a. O., S. 44.

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Aspekt macht aber hier den zyklischen Grundgedanken aus, wie noch zu zei-gen sein wird.

Selbstverständlich verzichtet Bach aber nicht auf ein übergeordnetes Ord-nungsschema, das sich hier auch deutlich in der Tonartendisposition aus-drückt: Die Tonartenreihenfolge B-c-a-D-G-e beschreibt eine fächerförmigeExposition eines Hexachords G-e, wobei durch die Zuweisung der Dur-/Moll-tonarten dieses Hexachord in zwei nebeneinanderliegende MolldreiklängeG-B-D und a-c-e gegliedert wird. Die Fächerform der Entwicklung führtdazu, daß die umspannenden Rahmentonarten B-e sich in gleicher Weise wiedie Tonarten F-h im zweiten Teil der Klavierübung im Tritonusabstand gleich-sam diametral gegenüberstehen. Dieses Phänomen tritt beim dritten Teil derKlavierübung ähnlich erneut auf (siehe unten). Eine Untersuchung hinsicht-lich der Grobstruktur der einzelnen Partiten muß die verwendeten Satztypensowie Proportionen und Taktarten der verschiedenen Sätze berücksichtigen.Zur Vergegenwärtigung möge die folgende Aufstellung dienen, die auch dieh-Moll-Suite aus Klavierübung II enthält (die in Klammern angegebene Takt-zahl ergibt sich durch Auszählung der in Wiederholungszeichen stehendenTakte):

I. Teil der Klavierübung

Partita I B-Dur: Praeludium Allemande CorrenteC C 3/421 Takte 38(76) Takte= 60(120) Takte=

18(36)+20(40) 28(56)+32(64)Sarabande Menuet I Menuet II Giga3/4 3/4 3/4 C28(56) Takte= 38(76) Takte= 16(32) Takte= 48(96) Takte=12(24)+16(32) 16(32)+22(44) 8(16)+8(16) 16(32)+32(64)

Partita II c-Moll: Sinfonia Allemande CouranteC-C-3/4 3/291 Takte= 32(64) Takte= 24(48) Takte=7+22+62 16(32)+16(32) 12(24)+12(24)

Sarabande Rondeaux Capriccio3/4 3/8 2/424(48) Takte= 112 Takte 96(192) Takte=8(16)+16(32) 48(96)+48(96)

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Ordnungsprinzipien in Johann Sebastian Bachs Klavierübung

Partita III a-Moll: Fantasia Allemande Corrente3/8 C 3/4120 Takte 16(32) Takte= 56(112) Takte=

8(16)+8(16) 20(40)+36(72)

Sarabande Burlesca Scherzo Gigue3/4 3/4 2/4 12/828(56) Takte= 40(80) Takte= 32(64) Takte= 50(100) Takte=12(24)+16(32) 16(32)+24(48) 12(24)+20(40) 24(48)+26(52)

Partita IV D-Dur: Ouverture Allemande Courante-9/8 C 3/2

130 Takte= 56(112) Takte= 40(80) Takte=35+95 24(48)+32(64) 16(32)+24(48)

Aria Sarabande Menuet Gigue2/4 3/4 3/4 9/1652(104) Takte= 38(76) Takte= 28(56) Takte= 96(192) Takte=16(32)+36(72) 12(24)+26(52) 8(16)+20(40) 48(96)+48(96)

Partita V G-Dur: Praeambulum Allemande Corrente3/4 C 3/895 Takte= 28(56) Takte= 64(128) Takte49+46 12(24)+16(32) 32(64)+32(64)

Sarabande Tempo di Minuetta Passepied Gigue3/4 3/4 3/8 6/840(80) Takte= 52(104) Takte= 48(96) Takte= 64(128) Takte=16(32)+24(48) 12(24)+40(80) 12(24)+32(64) 32(64)+32(64)

Partita VI e-Moll: Toccata Allemande Corrente-C- C 3/8

108 Takte= 20(40) Takte= 116(232) Takte=26+62+20 8(16)+12(24) 54(108)+62(132)

Air Sarabande Tempo di Gavotta Gigue3/4

60=56+4 Takte= 36(72) Takte= 32(64) Takte= 52(104) Takte=12(24)+16(32)+4 12(24)+24(48) 12(24)+28(56) 24(48)+28(56)

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II. Teil der Klavierübung: Partita h-Moll

Ouverture Courante Gavotte I Gavotte II-6/8- 3/2 2 2

326 Takte= 24(48) Takte= 24(48) Takte= 24(48) Takte=39+287<248/39> 12(24)+12(24) 8(16)+16(32) 8(16)+16(32)

Passepied I Passepied II Sarabande3/8 3/8 3/432(64) Takte= 24(48) Takte= 28(56) Takte=8(16)+24(48) 8(16)+16(32) 12(24)+16(32)

Bourrée I Bourrée II Gigue Echo2 2 6/8 2/424(48) Takte= 28(56) Takte= 48(96) Takte= 72(144) Takte=12(24)+12(24) 12(24)+16(32) 16(32)+32(64) 32(64)+40(80)

Schon aus dieser groben Übersicht lassen sich einige Bemerkungen über dievorliegenden Strukturen ableiten:

Die „Normalform“ einer Partita besteht hier in sieben Sätzen (Ausnahme:Partita II); die Standardsätze Allemande, Courante/Corrente, Sarabande und(wiederum mit Ausnahme von Partita II) Gigue/ Giga kommen vor.

Jeder Partita ist – wie den Englischen Suiten – ein einleitender Satz vorge-schaltet, jedoch wird hier anders als bei diesen das Prinzip weitestgehenderIndividualisierung der Satztypen gewählt, was sich auch in jeweils unter-schiedlichen Titeln ausdrückt; daß dies kein Zufall ist, beweist die Überschrift„Praeambulum“ für den ersten Satz aus Partita V, der sonst bei Bach keineVerwendung findet und der offensichtlich zur Vermeidung der Duplizierungdes Titels „Praeludium“ eingeführt wird, der schon in Partita I gebraucht wur-de.

Die Folge Einleitungssatz – Allemande – Courante – Sarabande – zwei freiwählbare Tanzsätze – Schlußsatz (Gigue) wird außer in der schon erwähntenPartita II noch zweimal aufgebrochen, und zwar in Partita IV und VI, in de-nen eine Aria bzw. ein Air zwischen die „Suitenkernsätze“ Courante und Sara-bande gestellt sind.

Doubles eines Satztypus, wie in Klavierübung II und den Suitensammlun-gen üblich, werden bis auf Partita I vermieden. Dort wird gleichsam das Prin-zip der Doublierung einmalig vorgestellt, im weiteren Verlauf werden mög-lichst verschiedene Satztypen verwendet. Das „Menuet“ in Partita IV ist dannauch – als alleinstehendes Menuett – einem anderen Typ zugehörig als die in

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Ordnungsprinzipien in Johann Sebastian Bachs Klavierübung

A-B-A-Form aneinandergereihten Menuets aus Partita I. Differenziert wirdbeispielsweise auch zwischen Aria und Air, obwohl beide in der jeweiligenPartita wie erwähnt eine ähnliche Funktion bekleiden. Unterschieden wird fer-ner zwischen (zweistimmiger) Corrente (im 3/8- bzw. 3/4-Takt)16 und (voll-griffiger) Courante (im 3/2-Takt) sowie bei den Schlußsätzen bezüglich derTakt- und auch Satzart: Jeder Schlußsatz steht in einer anderen Taktart (bishin zum ungewöhnlichen in Partita VI), und an Satztypen entsprechen sichnur die Gigues von Partita III und VI (was aus der Stellung der Partiten imGesamtgefüge zu erklären ist).

Neben den Einleitungssätzen finden sich noch einige Sätze im Suitenzu-sammenhang, die keinem herkömmlichen Tanztyp zuzuordnen sind: die SätzeTempo di Minuetta bzw. Tempo di Gavotta aus Partita V und VI (die zwar dasTempo, nicht unbedingt aber den Rhythmus des vermerkten Tanzsatzes auf-greifen) sowie die Sätze Rondeaux und Capriccio aus Partita II17.

Anhand der verwendeten Satztypen und Taktarten der frei disponiblen Sät-ze (also der Sätze, die nicht zum Suitenkern Allemande – Courante – Saraban-de – Gigue gehören, wobei bei Courante und Gigue die Taktart auch disponi-bel bleibt) lassen sich Zusammenhänge zwischen den Partiten ablesen: Sowerden Partita V und VI außer durch ihre Tonartenverwandtschaft auch durchdas ungewöhnliche Verwenden einer Corrente im 3/8-Takt und eines mit„Tempo di...“ bezeichneten Satzes verbunden; überdies fällt auf, daß Bachhier darauf verzichtet, ein ungefähres Gleichgewicht zwischen Sätzen mit bi-närem und ternärem Metrum herzustellen: In Partita V dominieren eindeutigSätze mit Dreiergliederung, in Partita VI solche mit geradzahliger Taktart(vgl. vor allem die Gigue, die gänzlich ohne die typische Dreieruntergliede-rung auskommt). Solche Beziehungen lassen sich leicht zwischen Partita Iund III, II und IV, V und VI sowie IV und VI feststellen. Des weiteren findetman oft den Hinweis, daß durch die Ouverture von Partita IV – ähnlich wiebei Variation 16 der Goldberg-Variationen – die zweite Hälfte des Partitenzy-klus eröffnet wird18. Ähnlich eröffnende Funktion kommt Partita I zu, die den

16 Übrigens wird hier der 3/8-Takt das einzige Mal von Bach für Courantensätze ver-wendet, ein weiteres Indiz für angestrebte Individualisierung.

17 Ein Capriccio findet sich auch in der Orchestersuite BWV 1070 als Schlußsatz;überhaupt ist der Duktus dieser c-Moll-Partita sehr orchestral geprägt – mit einer Sinfoniaim Stile der Kantatensinfonien Bachs als Einleitungssatz – und weist weitere Eigenschaf-ten auf, die eine Negierung von Klaviertanzsätzen darstellen, wie die Allemande als Alla-breve-Stück ( ) und eine weitgehend zweistimmig kontrapunktierend angelegte Sarabande.Damit stellt sie einen Gegenpol zur klavieristisch geprägten D-Dur-Partita dar, weistgleichzeitig aber bereits auf die h-Moll-Partita mit ihrer orchestralen Anlage hin.

18 Vergleiche zum Beispiel R. Eller, Serie und Zyklus in Bachs Instrumentalsammlun-gen, a. a. O., S. 131; Chr. Wolff, Ordnungsprinzipien in den Originaldrucken Bachscher

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Andreas Jacob

Topos des „Praeludiums“ exemplifiziert, nicht nur durch entsprechende Be-nennung des Einleitungssatzes (vom Typ her einem Präludium des Wohltempe-rierten Klaviers zu vergleichen), sondern auch durch Verzicht auf einen be-schließenden Satz mit fugierter Struktur, wie sie eine Gigue aufweist. DieGiga ist eher als eine Art Platzhalter an Stelle einer echten Gigue zu sehen,die erste echte Gigue, wie sie eine Klaviersuite konventionellerweise zu be-schließen pflegt, findet sich zum Abschluß der ersten Hälfte, in Partita III.Überdies fällt in Partita I die Verschiebung der Proportionen zwischen denbeiden Teilen auf, von 9:10 sukzessive hin zu 1:2, die Partita entwickelt sicherst hin zu einem dem Ordo naturalis entsprechenden Teilungsverhältnis (aus-genommen bleibt das Menuet II, das mit 16 Takten allerdings in Ausdehnunggerade dem Vordersatz von Menuet I entspricht).

Zusammenfassend kann folgende Graphik der Beziehungen zwischen denPartiten erstellt werden:

Selbstverständlich lassen sich auch innerhalb der jeweiligen einzelnen SuitenBeziehungen der Einzelsätze zueinander und Entwicklungsstrukturen nach-weisen, was jeder Partita ihr individuelles Gepräge gibt. Wichtig wird dabeiauch die Proportionierung der einzelnen Sätze sein, das heißt die Frage, obder Ordo naturalis abgebildet wird oder eine intrikatere Aufteilung19 (vor al-lem bei den Einleitungssätzen liegt dies mit Ausnahme der Fantasia aus Parti-ta III vor). Hingewiesen sei noch auf zwei Aspekte, die sich aus einer derartiggroben Aufstellung nicht ersehen lassen, zum einen nämlich, daß Bach auchbei Sätzen von anscheinend größter Regelmäßigkeit wie beispielsweise demCapriccio aus Partita II oft eine sehr spezifische Binnengliederung verwendet(hier durch Verkürzung der Themenbeantwortung, so daß 7-(4+3)-taktige Ein-heiten entstehen), zum anderen, daß sich eine Bevorzugung bestimmter Ord-nungswerte für bestimmte Funktionen abzeichnet (hingewiesen sei nur auf dieZahl 28 – nach 6 der nächste „numerus perfectus“, auch mit Bezug auf die

Werke, a. a. O., S. 154; W. Breig, Bachs Goldberg-Variationen als zyklisches Werk, a. a. O.,S. 248.

19 Vergleiche dazu R. Dammann, Der Musikbegriff im deutschen Barock, Köln 1967;dort vor allem S. 62-69, wo zahlhafte Ordnung als Prinzip der Komposition erörtert wird.

I II III / IV V VI

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Ordnungsprinzipien in Johann Sebastian Bachs Klavierübung

„Bachzahl“ als 2x14 zu lesen – und ihrer Vielfachen, die in jeder Partita anexponierter Stelle erscheint, so zum Beispiel auch in der Sarabande aus derh-Moll-Partita in Klavierübung II).

Das hier nur in Umrissen Dargelegte führt zu der Folgerung, daß Klavier-übung I ein sehr hoher Organisationsgrad zugrundeliegt, der ein übergeordne-tes Ganzes zusammenschließt. Die Bedeutung von ‚Partita‘ allerdings, die als„eine Folge von Stücken“20 umrissen wird, was eine hohe Selbständigkeit derEinzelsätze impliziert (wie oben bereits dargelegt), wird dadurch nicht beein-trächtigt21: Im Gegensatz etwa zu den Englischen oder Französischen Suitenwerden stereotype Formen zugunsten einer weitestgehenden Individualisie-rung vermieden.

Der Sinn dieser Ambivalenz eines organisierten Ganzen und einzeln voll-gültiger Sätze liegt in ihrer Gesamtheit als Zahl: Es sind genau 41 komponier-te Einzelsätze in Klavierübung I enthalten. Hiermit signiert Bach sein „OPUS1“ mit der bekannten Umrechnungsgröße von J. S. Bach im Zahlenalphabet.

In der Individualität der Stücke und der Intimität der Besetzung (Klavier-übung I ist auf einem einmanualigen Cembalo darstellbar, im Gegensatz zuden folgenden Teilen der Klavierübung) nimmt sich Bach hier zur Privatper-son, zum Individuum zurück. Somit verleiht gerade die vermeintlich „nicht-zyklisch“ aufzufassende Komponente dieser Sammlung eine Bedeutung, diedie Annahme eines zyklischen Grundgedankens stützt.

III

Bachs Zweyter Theil/ der/ Clavier Ubung/ bestehend in/ einem Concerto nachItaliænischem Gusto/ und/ einer Overture nach Französischer Art,/ vor ein/Clavicymbel mit zweyen/ Manualen./ Denen Liebhabern zur Gemüths-Ergöt-zung verferdiget erschien 1735, im Jahre 1739 folgte Dritter Theil/ der/ Cla-vier Übung/ bestehend/ in/ verschiedenen Vorspielen/ über die/ Catechismus-

20 H. H. Eggebrecht, Studien zur musikalischen Terminologie, Wiesbaden 1955 (Akad.d. Wiss. u. d. Lit., Abh. d. geistes- u. sozialwiss. Klasse, Jg. 1955, Nr. 10).

21 R. Stephan wies darauf hin, daß auch Einzelsätze der Partiten in Abschriften überlie-fert sind (J. S. Bach und das Problem des musikalischen Zyklus, a. a. O., S. 42 f.); seineSchlußbemerkung zum Problem des Zyklus bei Bach lautet: „Für Bach kann ein einzelneskleines Menuett ebenso ein Werk sein wie ein Kantaten-Jahrgang ein Zyklus ist, jedoch, imGegensatz zum zyklischen Werk, stets eine Folge von Werken, die vereinigt eine höhereEinheit bilden, einzeln aber durchaus für sich bestehen können.“ (Ebenda, S. 52).

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und andere Gesænge,/ vor die Orgel:/ Denen Liebhabern, und besonders de-nen Kennern/ von dergleichen Arbeit, zur Gemüths Ergezung/ verfertiget. Ver-folgt man die Hinweise weiter, die aus Klavierübung I herauszulesen waren,so bemerkt man zum einen die Ausweitung des Instrumentariums bezogen aufdie Anzahl der benötigten Manuale: Klavierübung I – einmanualiges Cemba-lo, II – zweimanualiges Cembalo, III – Orgel mit drei Clavieren (= zwei Ma-nuale und Pedal). Auch die Anzahl der Einzelsätze läßt eine Konsequenz zuoben formulierten Gedanken feststellen: So besteht Klavierübung II aus 14(=3+11) Sätzen, Klavierübung III aus 27 (=33, oder 41-14). War der Zahl 41der Name J. S. Bach zuzuordnen gewesen, was als Bachs vollständigere Si-gnatur gedeutet wurde, so wird die Permutation 14 bekanntlich als B-A-C-Hverstanden. Die Zahl 27 wird oft als Trinitätssymbol gesehen, da Klavier-übung III als der Kirchenmusik zugehöriges Werk anzusehen ist. Da aber zweiAspekte einer Signatur Bachs auftraten, läßt sich überdies ein Zusammenhangzur Differenz zwischen den beiden Zahlen 41 und 14 herstellen, was sich si-cherlich einer theologischen Deutung ebenfalls nicht verschließt.

Diese Teile der Klavierübung erhalten im Kontext des Ganzen eine spezifi-sche Funktion, die sich aus den verwendeten Gattungen und Instrumentarienerschließen läßt. In Klavierübung II stehen die Einzelsätze in engerem Zusam-menhang als in Klavierübung I. Beim Italienischen Konzert leuchtet dies so-fort ein, bei der Ouverture h-Moll gilt es zu beachten, daß hier die frei dispo-niblen Tanzsätze prinzipiell paarweise gesetzt wurden, was zu einer Ver-schränkung der Großstruktur führt. Auch stellen diese beiden Werke eineÜbertragung orchestraler Satztechniken auf das Cembalo dar, wie noch zu be-legen sein wird. Der Inhalt dieser beiden Stücke besteht nicht in Darstellungmöglichst individueller Strukturen, sondern in Exponierung damals verbindli-cher musikalischer Normen. Schon die Polarisierung der Gattungen Suite –Konzert sowie der Traditionen Italienisch – Französisch, die in dem Tritonus-abstand F-h abgebildet wird (und bekanntlich wurde die Partita h-Moll von cnach h transponiert, der Tritonusabstand wird also bewußt verwendet), sprichtvorhandene Stilnormen der Barockmusik an. Die Disposition für zwei Manua-le impliziert ebenfalls ein auf größere Repräsentativität der musikalischenAufführung gerichtetes Komponieren. Betrachtet man die Taktproportionender Ouverture h-Moll im Vergleich zu denen der 6 Partiten aus KlavierübungI, so fällt die weitaus größere Regelmäßigkeit und Verwendung von auf demOrdo naturalis beruhenden Taktzahlen auf. Dies läßt sich ebenfalls an denEcksätzen des F-Dur-Konzertes nachweisen, in denen fast nur auf einfachegeradzahlige Gliederungsmomente zurückgegriffen wird.

Schon Bachs Zeitgenosse Scheibe erkannte das Mustergültige der Kompo-sitionsweise und verstand ebenfalls das Konzert F-Dur als Übertragung orche-straler Strukturen auf das Cembalo: ,,Dadurch wird auch ein solches einstim-miges Stück einem vollstimmigen Stücke ganz ähnlich. Man findet von dieser

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Ordnungsprinzipien in Johann Sebastian Bachs Klavierübung

Beschaffenheit, insonderheit für das Clavier, einige ziemlich gute Concerten.Vornehmlich aber ist unter den durch öffentlichen Druck bekannten Musik-werken ein Clavierconcert befindlich, welches den berühmten Bach in Leipzigzum Verfasser hat, und aus der großen Tonart, F, geht. Da dieses Stück auf diebeste Art eingerichtet ist, die nur in dieser Art zu setzen anzuwenden ist: soglaube ich, daß es ohne Zweifel allen großen Componisten, und erfahrnenClavierspielern so wohl, als den Liebhabern der Musik, bekannt seyn wird.Wer wird aber nicht sofort zugestehen, daß dieses Clavierconcert als ein voll-kommenes Muster eines wohleingerichteten einstimmigen Concerts anzuse-hen ist?“22 Die Übertragung der vom Orchester kommenden Konzertform aufdas Cembalo war „in den dreißiger und vierziger Jahren“ des 18. Jahrhundertsgeradezu eine „Modeerscheinung“23 geworden, des weiteren liegen ja 16 Kon-zerte anderer Komponisten vor, die Bach für das Cembalo transkribierte.Wolfgang Hirschmann zeigte in einer Analyse der Ecksätze dieses Konzerts,daß der Wechsel von Tutti- mit Solopassagen sich nicht allein aus den dyna-mischen Bezeichnungen f und p ableiten läßt und daß Bach einen differenzier-teren Formbegriff artikulierte24. Aus diesem kunstvollen Umgang der Wech-selbeziehung einer Solostimme mit einem gedachten Tutti-Apparat resultiertewohl diese zitierte Paradigmatisierung („vollkommenes Muster“)25. Standendie Einzelsätze der Partiten also eher für die Abbildung des individuellen Be-reichs, so ist hier die gesellschaftliche Konvention, in die der einzelne einge-bunden ist, ausgedrückt: Die Bezeichnung „gesellschaftlich“ läßt sich aus derWahl der Gattungen, die an gesellschaftliche Situationen und Funktionen desMusizierens gebunden sind, und aus der daraus resultierenden Anspielung aufein gemeintes Tutti-Concertino-Gefüge rechtfertigen.

Dem entspricht der Umstand, daß „Ouverture“ die nicht nur bei Bach ge-läufige Bezeichnung für eine Orchestersuite darstellt26. Weitere Indizien für

22 J. A. Scheibe, Critischer Musikus, Leipzig 21745 (Faksimilenachdruck: Hildesheim1970), S. 637.

23 L. Hoffmann-Erbrecht, Johann Sebastian Bach als Schöpfer des Klavierkonzerts, in:Quellenstudien zur Musik. Wolfgang Schmieder zum 70. Geburtstag, in Verbindung mitG. von Dadelsen hrsg. v. K. Dorfmüller, Frankfurt 1972, S. 70.

24 W. Hirschmann, Zur konzertanten Struktur der Ecksätze von Johann SebastianBachs Concerto BWV 971, in: Archiv für Musikwissenschaft 1988, S. 148-162.

25 Der Mittelsatz, der eine Solostimme über einem Begleitsatz exponiert, greift in sei-ner Proportionierung dann auch eher auf Mittel der individualisierten Darstellung zurück:Die 49 (=7x7) Takte gliedern sich als Großstruktur in 27 (= 33) + (15+7); die ausgesuchteRegelmäßigkeit der konzertierenden Ecksätze wird also durch die Artifizialität der Propor-tionen des solistischen Mittelsatzes konterkariert.

26 Vergleiche hierzu unter anderem H. Riemann, Die französische Ouverture (Orche-stersuite) in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Musikalisches Wochenblatt 30(1898/99), Nr. 1-9.

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einen zugrundeliegenden gedachten Orchestersatz liefert die Ausformung derEinzelsätze: Auf den typischen Klaviersuitensatz Allemande wird verzichtet(wie in keiner anderen Bachschen Klaviersuite, aber wie in allen Orchester-suiten), der Umgang mit den verbleibenden Kernsätzen Courante – Sarabande– Gigue ist sehr frei (wie auch in der C-Dur-Ouverture BWV 1066 folgen aufeine Courante im 3/2-Takt zwei Gavotten, die Gigue wird nicht als Schlußsatzverwendet, danach folgt noch ein Echo-Satz)27. Außer den klavieristisch ange-legten A-Teilen des Ouverturen-Satzes (doch ergibt der Vergleich mit den Ou-verturen der Partita D-Dur und Variation 16 der Goldberg-Variationen hiereine sehr viel strengere, regelmäßigere Stimmführung) entsprechen die ande-ren Einzelsätze in Stimmführung und Gestus dem orchestralen Vorbild. DieZweimanualigkeit des Instruments macht Bach sich bei der dynamischen Ab-stufung zwischen Gavotte I/II und Bourrée I/II sowie in thematisierter Formim Echo-Satz zunutze. Auch die „Da-capo“-Bezeichnungen nach den mit„Tanzsatz II“ bezeichneten Stücken heben diese Suite von den entsprechendenAnalogstellen bei Klaviersuiten (etwa den Englischen Suiten oder der PartitaB-Dur) ab.

Wie schon beim Italienischen Konzert zeigt sich ein ausgeprägter Form-wille zu regelmäßigen, modellhaften Strukturen hin: Der Ordo naturalis wirdin allen Tanzsätzen sowie den fugierten Teilen des Einleitungssatzes abgebil-det. Der Schlußsatz kann mit seinen insgesamt 144 (=12x12) Takten als ex-emplarisches Abschlußstück in diesem Sinne betrachtet werden, doch findensich im Gegensatz zu Klavierübung I auffällig oft solche harmonischen Maßewie 24(48), 32(64), 48(96) sowie die bereits erwähnte Schlüsselzahl 28(56)bei Sarabande und Bourrée II.

Diese Beobachtungen belegen die Feststellung, daß bei Klavierübung IIein implizierter Orchestersatz auf das Cembalo übertragen wurde. Des weite-ren wurde modellhafte Verbindlichkeit angestrebt; zusammen mit der Wahlder Gattungen legt dies ein Verständnis der Stücke nahe, das sie als sozial ein-gebunden sieht. Im Sinne der versuchten Deutung aus der Anzahl der auskom-ponierten Einzelsätze heraus wäre diesem Umstand ein Bedeutungsfeld von,Bach (14) als sozial eingebundenes Wesen‘ im Gegensatz zur ‚PrivatpersonBach (41)‘ zuzuweisen. Diese Zuordnung der besagten Signaturziffern (die ja

27 Auch ein Vergleich mit K. Beißwenger, Johann Sebastian Bachs Notenbibliothek,Kassel 1992, S. 226-337 (Der nachweisbare Bestand) ergibt, daß die Bach mit Sicherheitvorliegenden Orchestersuiten (unter I/B/4 bis 7 von Johann Bernhard Bach, sowie BWV1025 für Violine und Cembalo unter I/An/14) einerseits und die Klaviersuiten andererseits(unter I/D/1 die Six Suites de Clavecin von François Dieupart, sowie Telemanns A-DurSuite – BWV 824 – unter I/T/3) den besagten Unterscheidungskriterien genügen; so weistkeine der Orchestersuiten, aber jede der Klaviersuiten eine Allemande auf.

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Ordnungsprinzipien in Johann Sebastian Bachs Klavierübung

bei Bach des öfteren anzutreffen sind) zu den Merkmalen, die an den beidenersten Teilen der Klavierübung festgestellt wurden, soll die übergreifende, alszyklisch zu betrachtende Gestaltungskonzeption verdeutlichen, stellt aber kei-nen zahlensymbolischen Deutungsversuch dar, der für die hier vorliegende In-terpretation konstitutiv wäre.

IV

Für Klavierübung III gibt es wie bereits erwähnt schon seit längerem unter-schiedliche Ansätze, ein zyklisches Prinzip herauszuarbeiten. Der Grund hier-für ist neben der Frage nach aufführungspraktischen Möglichkeiten darin zusehen, daß es sich zum Großteil um wortgebundene Musik handelt, was dieForschung nach Sinnzusammenhängen ermutigt28. Doch auch in den freienStücken (Präludium und Fuge Es-Dur, die vier Duette) äußert sich ein Strebennach starkem Ausdruckscharakter, so daß diese meistens in die Deutungsver-suche integriert wurden. Die hier vorgenommene Trennung des Publikums in„Liebhaber“ und „Kenner“ unterstützt die Ansicht, daß in diesem Fall Stückein Hinsicht auf besondere Inhaltsdichte konzipiert wurden.

Folgende wichtige interpretatorische Positionen seien hier umrißartig ge-nannt: Albert Schweitzer griff den im Titel implizierten Bezug zum lutheri-schen Katechismus auf, indem er dem Großen bzw. Kleinen Katechismus dieFolge der „großen“ bzw. „kleinen“ Choralvorspiele zuordnete29. Die Duettejedoch hätten „mit dem dritten Teil der Klavierübung von Haus aus nichts zutun. Sie haben sich beim Stich hineinverirrt“30. Diese Deutung als „Orgelkate-chismus“ wurde des öfteren wieder aufgegriffen, wobei die Arbeiten vonKlaus Ehricht31 und Robin A. Leaver32 hier stellvertretend genannt seien. Beibeiden erhalten auch die Duette einen Platz im Gesamtwerk, der innermusika-lisch bzw. theologisch-liturgisch begründet wird.

28 Schon Ph. Spitta schrieb über die Choralvorspiele: „Man ist genöthigt, die 21Choralsätze...als ein Ganzes zu betrachten, dem eine poetische Idee Einheit verleiht.“ (Ph.Spitta, Johann Sebastian Bach, Band 2, Leipzig 1880, Reprint Wiesbaden 1966, S.692 f.)

29 A. Schweitzer, Johann Sebastian Bach, a. a. O., S. 251 f.30 Ebenda, S. 251, Fußnote 30; vergleiche auch S. 280.31 K. Ehricht, Die zyklische Gestalt und die Aufführungsmöglichkeit des III. Teils der

Klavierübung von Joh. Seb. Bach, a. a. O.32 R. A. Leaver, Bach’s Clavierübung III: some Historical and Theological Considera-

tions, in: The Organ Yearbook, Vol. 6, 1975, S. 17-32.

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Im Gegensatz dazu steht der Lösungsversuch Wilhelm Ehmanns33, der sichder verbreiteten Benennung als „Orgelmesse“ bedient, worin der Ablauf einesGottesdienstes als Vorlage für den Kompositionsplan genannt wird34.

Christoph Wolff schließlich zeigt in seinem grundlegenden Aufsatz „Ord-nungsprinzipien in den Originaldrucken Bachscher Werke“35 einige wesentli-che Ordnungsschemata von Klavierübung III auf und erklärt unter Verwerfungder Ansichten Schweitzers und Ehmanns: „Wir haben hier offensichtlich eineArt Kompendium gottesdienstlichen Orgelspiels vor uns, in dem alleKompositionstypen vorhanden sind, die damals ein Organist benötigte: großeund kleine freie Vorspiele, ebenso große und kleine choralgebundene Vorspie-le“36.

Zu den Gestaltungsprinzipien führt Wolff aus: „In Klavierübung III trittuns eine Summierung unterschiedlich wirksamer Ordnungsprinzipien entge-gen: Achsialordnungen, Gruppen- und Paar- bzw. Kontrastpaarordnungen,Steigerungsordnungen, Schachtelordnungen. Diese fügen sich zusammen zueiner architektonisch konzipierten Rahmen-Kombinationsordnung, das heißtzu einer Rahmenordnung, die eine Reihe von Untergruppen umschließt, wel-che sich aus der Kombination verschiedener tektonischer Ordnungsprinzipienergeben“37. Seine Schlußfolgerung lautet: ,,Genausowenig wie bei den ande-ren Klavierübungen darf man jedoch hierin eine zyklische Spielfolge se-hen“38. Nach Stephans Zyklusverständnis kann die Konsequenz daraus nurheißen: „Der dritte Teil der Klavierübung ist also, wie immer man es auchdeuten mag, nicht selbst ein musikalischer Zyklus. Er realisiert eine Ordnung,die in sich Zyklen enthält“39.

Wie bereits in Klavierübung I geschehen, muß der Übergang von dem als„zyklische Spielfolge“ definierten Zyklusbegriff hin zum Verständnis als „dis-ponierter Zyklus“ erfolgen; dies kann wiederum durch den Nachweis formaler

33 W. Ehmann, J. S. Bachs „Dritter Theil der Clavier Übung“ in seiner gottesdienstli-chen Bedeutung und Verwendung, a. a. O.

34 Eine Darstellung und Erläuterung der Positionen Ehmanns und Ehrichts findet sichauch bei Chr. Albrecht, J. S. Bachs „Clavier Übung. Dritter Theil“. Versuch einer Deu-tung, in: Bach-Jahrbuch 1969, S. 46-66, vergleiche besonders Abschnitt II und III, ,Der„Dritte Teil der Klavierübung“ als zyklisches Werk‘ und ,Zur Aufführungspraxis‘, S. 60 ff.

35 Chr. Wolff, Ordnungsprinzipien in den Originaldrucken Bachscher Werke, in: M.Geck (Hrsg.), Bach-Interpretationen, a. a. O.

36 Ebenda, S. 152.37 Ebenda, S. 151.38 Ebenda, S. 152.39 R. Stephan, J. S. Bach und das Problem des musikalischen Zyklus, a. a. O., S. 47.

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Ordnungsprinzipien in Johann Sebastian Bachs Klavierübung

Grundideen geleistet werden, die das Element des Distinkten überschreiten.Dieser Distinktheitsgedanke tritt hier in den Formulierungen „Kompendiumgottesdienstlichen Orgelspiels“ und „Ordnung, die in sich Zyklen enthält“ ent-gegen. Das erstere spielt auf die gottesdienstliche Praxis an, für die man sichaus Klavierübung III wie etwa aus einem Choralbuch bedienen könne, daszweite negiert einen zusammenfassenden zyklischen Gedanken für die vorlie-gende Sammlung.

Einen der Schlüssel für die Widerlegung einer Auffassung von Klavier-übung III als Kompendium liefert Wolffs Deutung der vier Duette: „Vielleichthandelt es sich dabei um freie Intonationen (für die bevorzugten Töne E, F, Gund A), jedenfalls zum Präludieren dienende Stücke, die als kleinformatigeExempla von ihrer Bestimmung her den großen Stücken (Präludium undFuge Es-Dur) zuzuordnen sind“40. Nun wird ein Blick in damalige und auchheutige Gesangbücher41 darüber Klarheit schaffen, daß a-Moll eine eher selte-ne Choraltonart darstellt, aber keinesfalls unter die „bevorzugten Töne“ zurechnen ist, die häufigste Molltonart vielmehr d-Moll (oft dorisch-d) ist. Eindetaillierter Vergleich der in Klavierübung III vorkommenden Tonarten derChoralvorspiele mit dem sonst bei Bach in Choralsätzen und Choralvorspielenverwendeten Tonarten sowie den Tonarten dieser Choräle in den gebräuchli-chen Gesangbüchern führt in einigen Fällen zu einem ungewöhnlichen Ergeb-nis: So findet sich kein analoges Beispiel zu der Versetzung der großen Kyrie-Bearbeitungen von phrygisch-e nach g, keine Glorialied-Vertonung in F, keinePräzedenzfälle eines Credo-Lieds in e, des „Vater-unser...“ in e, des „Christunser Herr zum Jordan kam“ in c, des „Aus tiefer Not...“ in fis und des „JesusChristus, unser Heiland...“ in d oder f (wobei d allerdings die „Normaltonart“im Gesangbuch darstellt). Das Argument, dies sei für die unterschiedlichePraxis der Gemeinden so eingerichtet worden, ist vor allem dann nicht stich-haltig, wenn ein Choral wie „Vater unser...“, der in d-Moll schon bis zum freicht (was im Sopran-Schlüssel bereits Hilfslinien erfordert, also eine Hyper-bolé darstellt) nach e-Moll transponiert wird (Bachs Choralsätze mit solcherHöhe erscheinen hauptsächlich in Kantatenchören, also für mehr oder minderausgebildete Sänger); überdies gilt es zu bedenken, daß dieses Choralvorspielmeist auf einer im Chorton gestimmten Orgel, also noch einen Ton höher, er-klang. Gerade in besagtem Fall kann man von einem figurativen Einsatz der

40 Chr. Wolff, Ordnungsprinzipien in den Originaldrucken Bachscher Werke, a. a. O.,S. 152.

41 Auf die Wichtigkeit des Vopeliusschen Gesangbuchs für Bachs Choralschaffen wiesEmil Platen hin (E. Platen, Zur Echtheit einiger Choralsätze Johann Sebastian Bachs, inBach-Jahrbuch 1975, S. 50-62), vergleiche des weiteren: R. A. Leaver, Bach. Kirchenliederund Gesangbücher, in: Musik und Kirche 57 (1987), S. 169-174 (Anfang) und 58 (1988),S. 8-12 (Schluß).

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gewählten Tonart ausgehen, ähnliches gilt für die großen Kyrie-Bearbeitun-gen. Darüber hinaus lassen sich Choralvorspiele mit so extremer Ausdehnungwie die drei Verse des Kyrie, das „Vater unser...“ oder das „Jesus Christus, un-ser Heiland...“ auch nach Berücksichtigung der damaligen liturgischen Praxiswohl kaum als gottesdienstlich verwendbare Choralintonationen vorstellen42.

Somit scheiden Ehmanns und Wolffs Sichtweise des dritten Teils der Kla-vierübung in Hinblick auf die Möglichkeit einer liturgischen Einbindung derEinzelsätze aus. Die bereits erwähnte Tonartendisposition und deren figurati-ver Einsatz liefern einen Hinweis zur weitergreifenden Postulierung einerzyklisch zu verstehenden Gesamtkonzeption. Ähnlich wie bei Klavierübung Iund II wird die Tonartenspannung des Tritonus benutzt, um die Polarität derkompositorischen Ebenen kenntlich zu machen. Hier fungiert der Tritonus es-aals Rahmen: Er wird ersichtlich aus dem umspannenden Es-Dur von Präludi-um und Fuge einerseits und dem A-Dur am Ende der Missa brevis, bei derdritten Gloria-Bearbeitung, sowie dem unmittelbar vor der Schlußfuge expo-nierten a-Moll des vierten Duetts andererseits. Hier darf wohl bemerkt wer-den, daß nicht zufällig der „Diabolus in musica“ zwischen der Tonart mit dreib-Vorzeichen und den drei Kreuz-Vorzeichen des A gesetzt wurde, der Trito-nus läßt als Folge von drei Ganztönen weiterhin einen Bezug zur Dreizahl er-kennen, wie er sich in der besagten Anzahl der Vorzeichen, der Gesamtzahlder Einzelsätze (33), der Sätze der Missa brevis (3x3) und der dreigeteiltenEs-Dur-Fuge offenbart.

Ausgehend von der als bewußtes Stilmittel verstandenen Tonartendisposi-tion sowie von Zahl und Art der Vorzeichen (die wegen der teilweise zugrun-deliegenden Kirchentöne erwähnt werden müssen), trifft man auf den erstaun-lichen Umstand einer übergreifenden weitgehenden Symmetrie der Anlage.Der Tonartenweg der vier Duette beispielsweise verläuft analog zu Nr. 7 bis10. Überhaupt sind die vier Duette einer der Hauptindizien für eine als zy-klisch zu verstehende Gesamtanordnung43. Diese Ordnungssysteme seien hierkurz eingefügt44:

42 Dies erkannte auch Chr. Albrecht: „Etwa die Hälfte der Choralbearbeitungen istnicht im allsonntäglichen Gottesdienst zu verwenden; die übrigen scheiden wegen ihrerLänge ebenfalls als Choralvorspiel aus.“ (Chr. Albrecht, J. S. Bachs „Clavier Übung. Drit-ter Theil“. Versuch einer Deutung, a. a. O., S. 64).

43 So bemerkt Chr. Albrecht: „Ein Sammelwerk mit 23 Nummern wäre im BachschenSinne kein ‚Kosmos‘.“ (ebenda, S. 60), und W. Wiemer erkennt in seiner Arbeit Die wie-derhergestellte Ordnung in Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge, Wiesbaden 1977, die-se Einfügung von vier ,artfremden‘ Stücken in einen Gesamtzusammenhang als derart mo-dellhaft an, daß er die vier Kanons aus der Kunst der Fuge in Analogie zu Klavierübung IIIvor die Schlußfuge stellt (S. 53).

44 Vergleiche dazu auch Chr. Wolff, Ordnungsprinzipien in den Originaldrucken Bach-scher Werke, a. a. O., S. 150.

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Nr. Titel (mit Untertitel)1 Praeludium pro Organo pleno

(„Orgelmotetten“, stile antico)2 Kyrie, Gott Vater...c.f. in Soprano/à 2 Clav.et Ped3 Christe, aller Welt Trost/c.f. in Tenore/à 2 Clav.et Ped4 Kyrie,Gott hl. Geist/ à 5/c.f. in Basso/cum organo pleno (Versetten)5 Kyrie, Gott Vater... alio modo/manualiter (3/4-Takt)6 Christe, aller Welt Trost (6/8-Takt)7 Kyrie, Gott hl. Geist (9/8-Takt)

(Trios)8 Allein Gott in der Höh sei Ehr/à 3/c.f.in Alto (F-Dur)9 Allein Gott in der Höh sei Ehr/à 2 Clav. et Pedal (G-Dur)

10 Fughetta super Allein Gott... manualiter (A-Dur)

11 Dies sind die heilgen 10 Gebot/ à 2 Clav.et Ped/c.f.in Canone12 Fughetta super Dies sind... manualiter

13 Wir glauben all an einen Gott/in Organo pleno cum Pedale14 Fughetta super Wir glauben all... /manualiter

15 Vater unser im Himmelreich à 2 Clav.et Ped/c.f.in Canone16 Vater unser im Himmelreich /alio modo/manualiter

17 Christ unser Herr zum Jordan kam/à 2 Clav.e c.f.in Pedale18 Christ unser Herr zum Jordan kam/alio modo/manualiter19 Aus tiefer Not.../à6/in Organo pleno con pedale doppio20 Aus tiefer Not.../à4/alio modo /manualiter

21 Jesus Christus, unser Heiland.../à 2 Clav.e c.f.in Pedale22 Fuga super Jesus Christus, unser Heiland.../à4/manualiter

23 Duetto I (e-Moll, 3/8-Takt)24 Duetto II (F-Dur, 2/4-Takt)25 Duetto III (G-Dur, 12/8-Takt)26 Duetto IV (a-Moll, -Takt)

27 Fuga à 5 con pedale pro Organo pleno

Die Tonartenanordnung läßt ein kunstvolles Beziehungsgefüge erkennen (beiden Kyrie-Bearbeitungen wurde mit den eingeklammerten Tönen der TatsacheRechnung getragen, daß die jeweils ersten zwei dieser Choralvorspiele weit-

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gehend einen anderen Grundton exponieren als den phrygischen Grundton gbzw. e der jeweils dritten Verse der Choralbearbeitungen):

Nr. Grundton Vorzeichen I II III IV

1 es 3b 27 2-4,22 17 10,262 g (b) 3b3 g (c) 3b 1,27,22 9,11,12,254 g (g) 3b5 e (g) 06 e (a) 0 19 11,12,26 14,15,237 e (e) 08 f 1b 24 21 229 g 1# 25 11,12

10 a 3# 20,26 1,2711 g 0 12 19 2-4,9,2512 g 0 11 wie 1113 d 0 16,18 2114 e 2# 15 5-7,19,23 1715 e 2# 14 wie 1416 d 0 13,18 wie 1317 c 2b 1,27 14,15,2018 d 0 13,16 wie 1319 e 0 7 wie 5-720 fis 2# 10 1721 d 1b 8,24 13,16,1822 f 3b 8,24,1,27 1023 e 1# 9,25 5-7,14,15,1924 f 1b 8 2125 g 1# 9 11,1226 a 0 10 1,2727 es 3b 1 wie 1

I: gleicher Grundton, gleiche VorzeichenII: gleiche Vorzeichen, verwandter GrundtonIII: verwandter GrundtonIV: tonartliches Kontrastierungsprinzip

Aufschlußreich ist dabei folgendes: Außer dem offensichtlichen Rahmen es-esist für die Stücke 1-8 durch die unterschiedlichen Ausgangstonarten (Bezugs-

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Ordnungsprinzipien in Johann Sebastian Bachs Klavierübung

punkte) ein tonartlicher Zusammenhalt gegeben. Weiterhin erscheint die Folgee-f-g-a nicht nur bei den vier Duetten, sondern schon bei Nr. 7-10. Einen Mit-telpunkt der Sammlung stellen die Stücke Nr. 13, 16 und 18 dar, die in derverbreitetsten Kirchentonart, dorisch-d, stehen. In diese Gruppe sind mit Nr.14 und 15 einerseits zwei um einen Ganzton erhöhte, andererseits mit Nr. 17ein um einen Ganzton erniedrigtes Choralvorspiel eingefügt. Es werden also –vom Normalfall ‚0 Vorzeichen‘ umrahmt – 2#-2b einander entgegengesetzt.Dies ist eine Abschwächung der übergeordneten Spannung 3#-3b in Klavier-übung III. Bach überschreitet die 3b bewußt nicht und muß deshalb Nr. 22 indorisch-f notieren, nicht als Moll wie in der vorangegangenen großen Bear-beitung oder in BWV 363. Auch ist der Tritonus c-fis (Nr. 17-20 bringen dieFolge c-d-e-fis) ein Abbild des übergeordneten es-a; auch hier lautet die Ge-genüberstellung der Vorzeichen 2b-2# (dorisch-c hat ein b, phrygisch-fis ein #weniger als die Molltonart gleicher Stufe). Die Tonarten in Klavierübung IIIsind also um ein Symmetriezentrum mit 0 Vorzeichen angeordnet, dessenKern wiederum Nr. 16 darstellt.

Diese kleine Bearbeitung des Vater-unser-Liedes gehört als einziges der inKlavierübung III enthaltenen Choralvorspiele dem Typus an, der in Bachs Or-gelbüchlein auftritt, doch ohne die dortige spieltechnisch-didaktische Zielset-zung, „sich im Pedal studio zu habilitiren“, zu erfüllen. Klaus-Jürgen Sachsunternahm es bereits, diesen Typus „als Beispiel einer Verknüpfung von Lehreund Satzkunst zu beleuchten“45. Außerdem steht dieser Satz an seinem ge-wöhnlichen tonartlichen Platz (d), so daß in diesem Sonderfall eine liturgischeEinbindung möglich wäre. Durch die Ausformung als 6/8-Takt fügt sich die-ser Satz in den Ordo naturalis (24 Takte, sechs viertaktige Gruppen), dasdurchgehende figurative Prinzip besteht aus Gruppen von sechs Sechzehnteln,die entweder ein Tetrachord oder Hexachord umspannen. Damit weist Bachdem tonartlichen Symmetriezentrum der Sammlung möglichst ebenmäßige,modellhafte Züge zu.

Das numerische Zentrum von 27 Stücken liegt eigentlich bei Nr. 14, derkleinen Bearbeitung des Credo-Liedes. Wendet man sich diesem Stück zu, sostellt man fest, daß es sich hierbei mit nur 15 Takten um den kürzesten in Kla-vierübung III enthaltenen Einzelsatz handelt: Das Zentrum des Zyklus wirdhier also auf negative Weise markiert. Dies heißt aber nicht, daß dieser Satzdeshalb weniger gehaltvoll wäre: Ganz im Gegenteil wird hier in geradezu bi-zarrer Weise ein (vor allem rhythmisch kenntlich gemachter) Topos exponiert,dessen Bedeutung nur durch Analyse des Gesamtwerks erschlossen werden

45 K.-J. Sachs, Die „Anleitung..., auff allerhand Arth einen Choral durchzuführen“, alsParadigma der Lehre und der Satzkunst Johann Sebastian Bachs, in: Archiv für Musikwis-senschaft 1980, S. 135-154, zitierte Stelle auf S. 136.

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kann – dazu später einige Bemerkungen. Direkt auf diesen Satz folgt die gro-ße Vater-unser-Bearbeitung, die durch die gleiche, für den vertonten Choraläußerst ungewöhnliche Tonart e-Moll sowie den in diesen Stücken einmaligauftretenden lombardischen Rhythmus mit ihm verbunden wird und die einesder musikalischen Hauptstücke des Zyklus darstellt46. Zusammen mit den um-schließenden numerischen und tonartlichen Symmetriezentren darf man hiervon einer Kerngruppe des Zyklus sprechen.

Ein im ganzen Zyklus immer wieder anzutreffendes kompositorischesPrinzip wird in einem Aufsatz von Christoph Bossert thematisiert: das Zusam-menfassen von 11- bzw. vor allem 13gliedrigen Einheiten an auffälligen Stel-len der Einzelsätze, was zuerst mit der Vertonung des Rufes ,eleison‘ bei denKyrie-Bearbeitungen und auch bei den Vorspielen über „Das sind die heilgenzehn Gebot“ koinzidiert47. In diesem Fall kann besagter figurativer Einsatz ei-nes Kompositionsprinzips wohl als „Symbol“ bezeichnet werden48. Dies seianhand der Kerngruppenstücke Nr. 14 und 15 kurz belegt.

In Nr. 14 tritt der Lombardicus als Umkehrung des bis dahin dominieren-den punktierten Rhythmus erstmals in Takt 11 auf. Das führt zu der Krisis deskurzen Stücks, dem unvermittelt auftretenden, 7stimmigen verminderten Ak-kord, T. 12 auf der ersten Zählzeit. Von diesem Akkord an sind es noch genau13 Zählzeiten bis zum Ende des Stücks. Doch wird auch die Zahl 14 hier miteingebracht, denn Bach setzt nach dem Schlußakkord und sogar nach der Fer-mate noch eine Viertelpause (hätte er den Takt komplettieren wollen, so müß-ten hier drei Zählzeiten stehen, es bleibt nur die Deutung eines signaturhaftenEinsatzes unter die Aussage des Stückes übrig, das in einem ‚Eleison‘-Rufkulminiert). Das folgende „Vater unser...“ besteht aus 91 (=7x13) Takten, wo-von in 39 (=3x13) Takten die Choralmelodie in den kanonischen Melodie-stimmen enthalten ist, in 52 (=4x13) nicht. Eine grobe Gliederung in Taktemit und ohne Melodiezeile läßt eine Zusammenfassung von aufeinanderfol-genden 13- bzw. 14taktigen Einheiten bis auf die Takte 26 bis 37 erkennen(die den Choral enthaltenden Takte sind unterstrichen):

46 Vergleiche dazu vor allem G. Zacher, Vater unser im Himmelreich. Die Proportionenin Bachs Choralvorspiel à 2 Clav. et Pedal e Canto fermo in Canone, BWV 682, in: DerKirchenmusiker 1992, S. 81-86. Die Ausnahmestellung dieses Vorspiels findet sich eben-falls betont bei H. Keller, Die Orgelwerke Bachs, Leipzig 1948, wo es dazu auf Seite 205heißt: „die komplizierteste und am schwersten verständliche aller ChoralbearbeitungenBachs.“ Speziell zu diesem Vorspiel vergleiche auch W. Weismann, Das große Vater-unser-Vorspiel in Bachs drittem Teil der Klavierübung. Versuch einer Deutung, in: Bach-Jahr-buch 1949-1950, S. 57-64, sowie K. Bäumlin, „Mit unaussprechlichem Seufzen...“. J. S.Bachs großes Vater-unser-Vorspiel, in: Musik und Kirche 60 (1990), S. 310-320.

47 Chr. Bossert, Vision von Einheit – der „eleison“-Ruf in der Orgelmesse von J. S.Bach, Programm-Sonderdruck, Stuttgart 1985.

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Ordnungsprinzipien in Johann Sebastian Bachs Klavierübung

11-7-7-6-6-8-6-5-8-7-6-6-8

Betrachtet man das exponierte Auftreten des kolorierten Kopfmotivs (auf e inT. 1, a in T. 19 und h in T. 56) als formbildendes Element, so ergeben sichdrei Großabschnitte: 18+37+36=91. Der Ordo naturalis wird also durch Hin-zufügung eines Taktes im zweiten Abschnitt gebrochen. Gerd Zacher erkenntT. 32 als den hinzugefügten, „wegen der exclamatio e-c’ im Pedal, der damitverbundenen Hyperbel (Hilfslinie bei Überschreitung der Stimmgrenze)und Kreuzung mit dem Alt und wegen des erstmaligen Erscheinens des Am-phibrachys, der mittels Prolongatio (regelwidrig übergebundenes e’) einge-führt wird“ und vermutet darin „vielleicht eine nachdrückliche Kreuzessym-bolik“49. Besagter Takt 32 (=25, 5 als Quersumme, was in manchen zahlen-symbolischen Systemen als Christuszahl gelesen wird) ist es dann auch, derbei den Takten 26 bis 37 als überzählig zu betrachten ist, die Aufrundung von11 auf 12 verursacht. (Die im Mittelabschnitt erscheinende zwölfte Primzahl37 wird später übrigens beim F-Dur-Duett wieder sehr wichtig werden, ge-nauso wie die 13 und deren Permutation 31, die elfte Primzahl.)

Ein zweiter äußerst wichtiger Takt ist T. 41, wo das einzige Mal der Lom-bardicus im Pedal erscheint. Das gesamte Stück wird dadurch in der Propor-tion 4:5 geteilt, der Mittelabschnitt in 22 (=2x11)+1+14 Takte. Zacher setztdiese Signatur „J. S. Bach“ in Verbindung zum Choraltext „heißest“ in diesemTakt und stellt eine Verbindung her zu T. 28 (=2x14), wo das Wort „rufen“, dadie fallende Chromatik der Nebenstimme in dieser metrischen Position hierzum ersten Mal aufgetaucht war, vertont wird: „Hier liegt ein deutlicher Lo-cus a persona vor: ,heißest‘ J. S. BACH und tust ,rufen‘ zu dem ‚Vater unser‘

48 Man kam von der Verwendung des Begriffs „Symbol“ im Zusammenhang mit ba-rocker Musik – außerhalb des Feldes der Zahlensymbolik – weitgehend ab, um ihn durchden korrekteren Terminus der „musikalisch-rhetorischen Figur“ zu ersetzen. Doch auchdieser Begriff ist nicht allgemein anwendbar. H. H. Eggebrecht bemerkte dazu an einerStelle: „Der Begriff „musikalisch-rhetorische Figur“ hat – wie alle derartig summarischenBegriffe – Vor- und Nachteile. Von Vorteil ist es, daß er im Wort „Figur“ die typisiertenkompositorischen Gebilde umfassend zu bezeichnen vermag, zu denen die Barockzeitneigte, und daß er zugleich dem Figurbegriff der Rhetorik benachbart ist, die für das musi-kalische Denken jener Zeit zweifellos eine Rolle gespielt hat. In Kauf kann genommenwerden, daß zahlreiche musikalische Figuren – so z.B. die hier genannten: chromatischerGang und Synkope – keine Verbindung zur Rhetorik haben, wenngleich sie nach Art dermusikalisch-rhetorischen Figuren gebraucht werden.“ (H. H. Eggebrecht, Bach – wer istdas?, in: Archiv für Musikwissenschaft 1985, S. 215-228, auf S. 224, Fußnote 5).

49 G. Zacher, Vater unser im Himmelreich. Die Proportionen in Bachs Choralvorspielà 2 Clav. et Pedal e Canto fermo in Canone, BWV 682, a. a. O., S. 82.

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Genannten“50. Die Fülle der B-A-C-H-Motivik in diesem Stück (erstmals inT. 4) legt einen solchen persönlichen Bezug des Vater-unser-Liedes zu Bachnahe. Bei Untersuchung des schon angesprochenen kolorierten Kopfmotivsstellt man überdies fest, daß hier aus acht zugrundeliegenden Cantus-firmus-Noten ein 26töniges Thema geformt wurde (also 2x13 Noten). Auch wirdbeim letzten Choraleinsatz, also 13 Takte vor Schluß, die Triolenfigurierungdurch Überbindung des dritten Sechzehntels zu einer Seufzerfigur umgewan-delt. Dies deutet die Wichtigkeit der schon erwähnten Signaturzahlen 14 und41 sowie der für Klavierübung III typischen Primzahlen 11 und vor allem 13an, die in den meisten Choralvorspielen sowie dem F-Dur-Duett konstitutivwerden.

Außer der Verwendung dieser Zahlen als Konstruktionsprinzip finden sichaber auch kompositorische Querverbindungen zwischen den einzelnen Sätzen,die bis in das Material hineinreichen. So knüpft das erste Vorspiel über „Al-lein Gott in der Höh sei Ehr“ unverkennbar an das vorangehende „Kyrie Gottheiliger Geist“ an51.

Nach dem Gesagten sollte man sich erneut den vier Duetten zuwenden, dieeine Schlüsselstellung in diesem Zyklus einnehmen. Schon in ihrer Vierzahllassen sie eine Konsequenz zu der numerischen Anordnung der Missa-brevis-und Katechismus-Choräle erkennen: (3x3 oder 32) – (3x4) – (2x2 oder 22).Die Sonderrolle dieser Stücke schlägt sich auch in einer Fülle von unter-schiedlichen Interpretationen nieder52.

Auch wenn solche Deutungsversuche nie das Feld des Spekulativen verlas-sen, bestehen zweifelsohne Bedeutungszusammenhänge zwischen diesenStücken und dem Rest der Klavierübung III, die sich neben den innermusika-lischen Verbindungen in auffälligen Zahlenproportionen niederschlagen. Sobesteht Duett I aus 73 Takten (der Permutation der bereits erwähnten 37), diesich in 46 (=2x23) thematische und 27(=33) nicht-thematische Takte untertei-len lassen, wobei eine regelmäßige Abfolge von 17- und 11taktigen Gliede-

50 Ebenda, S. 83.51 Christoph Bossert veranlaßte dies dazu, diesem Vorspiel die vierte Strophe des Glo-

ria-Liedes zuzuordnen, eine Art der Zuordnung, wie Gerd Zacher sie im Falle der Kanoni-schen Veränderung bereits praktiziert hatte (G. Zacher, Canonische Veränderungen BWV769 und 769a, in: Musik-Konzepte 17/18, München 1981, S. 3-l9). Den beiden anderenVorspielen ordnete Bossert im Falle der A-Dur-Bearbeitung die auf Christus bezogene drit-te Strophe (wegen der drei Kreuze der Tonart und den Querverbindungen zur großen Tauf-lied-Bearbeitung und der kleinen Bearbeitung von „Aus tiefer Not...“), im Falle der G-Dur-Bearbeitung die ersten zwei Strophen (wegen des größten Gewichts dieser Bearbeitung so-wie der viermaligen Wiederholung der letzten Zeile, was mit dem „all Fehd’ hat nun einEnde“ der ersten Strophe zu korrelieren scheint) zu (Chr. Bossert, Vision von Einheit – der„eleison“-Ruf in der Orgelmesse von J. S. Bach, a. a. O., S. 13 f.).

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rungseinheiten auftritt; Duett II besteht aus 149 Takten, die sich in37+31+13+31+37 Takte gliedern; Duett III, bestehend aus 39 (=3x13) Takten,läßt sowohl von der linearen Struktur als auch von der Unterteilung in nicht-thematische und thematische Takte eine Aufteilung von 19+20 erkennen;Duett IV schließlich besteht aus 108 (=4x27 oder 9x12) Takten, die in 48+60(also eine Proportion von 4:5), hinsichtlich der thematischen, Überleitungs-bzw. Abrundungstakten und sequenzierenden Takten in 48+12+48 (also eineProportion von 4:1:4) unterteilen. Gerd Zacher, der Leavers Lösungsvorschlagfavorisiert, analysiert diese Zahlenproportionen nach kabbalistischen Ge-sichtspunkten53, was interessante Koinzidenzien aufdeckt; doch ist die Frageder Zahlensymbolik und ihrer Deutung äußerst problematisch und kann hiernicht erörtert werden54. Doch sollte festgehalten werden, daß sehr wohl zykli-sche Zusammenhänge anhand einer durchgeführten semantischen Behandlungvon Zahlen und Proportionen in Klavierübung III aufgezeigt werden können,die im umfassenden Gesamtkontext der als Kürzel für trinitarische Ordnungaufzufassenden 27 Stücke verwirklicht werden. Wie angedeutet kann diese 27auch als „metaphysischer Gehalt“ der Bach-Signaturen (41-14) verstandenwerden.

52 Neben den bereits erwähnten Deutungsversuchen von Ehmann, als „unter der Com-munion zu musicieren“ (W. Ehmann, J. S. Bachs „Dritter Theil der Clavier Übung“ in sei-ner gottesdienstlichen Bedeutung und Verwendung, a. a. O.), von Ehricht, als den Zyklusder kleinen Bearbeitungen untergliedernde Vor-, Zwischen- und Nachspiele (K. Ehricht,Die zyklische Gestalt und die Aufführungsmöglichkeit des III. Teils der Klavierübung vonJoh. Seb. Bach, a. a. O., S. 44 ff.) und von Leaver, der hierin in Anlehnung an die Auftei-lung des Vopeliusschen Gesangbuches Gebete für Morgen, Abend, vor und nach dem Es-sen sieht (R. A. Leaver, Bach’s Clavierübung III: some Historical and Theological Consi-derations, a. a. O., S. 17 ff.) seien hier noch die Positionen Rudolf Steglichs als Versinn-bildlichung der vier Elemente (R. Steglich, Johann Sebastian Bach, Potsdam 1935, S. 146f.), Hermann Kellers als Klavierstücke, die aus Gründen des Absatzes hineingenommenwurden (H. Keller, Die Klavierwerke Bachs, Leipzig 1950, S. 209 ff.), sowie die zahlen-symbolischen Analysen von Ulrich Siegele im Falle des F-Dur-Duetts (U. Siegele, Bachstheologischer Formbegriff und das Duett F-Dur, Neuhausen-Stuttgart 1978) und ReinholdBirks (R. Birk, Die Bedeutung der „Vier Duette“ in Bachs „Klavierübung III“, in: Musikund Kirche 46/1976, S. 63-69), die einen christologischen Bezug herstellen, genannt. Einekommentierte Darstellung dieser rezeptionsgeschichtlichen Positionen findet sich in:W. Klüppelholz u. H. J. Busch, Musik gedeutet und gewertet. Dokumente zur Rezeptionsge-schichte von Musik, Kassel 1983, S. 11-35.

53 G. Zacher, Zur Interpretation der vier Duette aus dem Dritten Teil der Klavier-übung, in: ders., Bach gegen seine Interpreten verteidigt (= Musik-Konzepte 79/80), Mün-chen 1993, S. 143-170.

54 Vergleiche dazu U. Meyer, Johann Jacob Schmidts „Biblischer Mathematicus“ undseine Bedeutung für das Verständnis der Zahlensymbolik im Werk J. S. Bachs, in: Die Mu-

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V

War bei den ersten drei Teilen der Klavierübung vor allem zu klären, ob undinwiefern sie einem Zyklusbegriff entsprechen, so stellt sich die Frage bei denGoldberg-Variationen auf gänzlich andere Weise: Denn, wie Stephan schreibt,sie sind „wie man weiß, ein ganz und gar durchgegliederter musikalischer Zy-klus“55. Hier ist vielmehr herauszufinden, ob dieses zyklische Werk im Ge-samtkontext der anderen Teile der Klavierübung zu sehen ist, ob also die Be-zeichnung „vierter Teil der Klavierübung“ statthaft ist. Im Originaldruck fehltdiese Bezeichnung ja, hier wird nur der Titel Clavier Ubung/ bestehend/ in ei-ner/ ARIA/ mit verschiedenen Verænderungen/ vors Clavicimbal/ mit 2 Ma-nualen./ Denen Liebhabern zur Gemüths-/ Ergetzung verfertiget beigegeben.Doch muß dies nicht zwangsläufig bedeuten, die Goldberg-Variationen seienals „selbständige Klavierübung aufzufassen“56, da auch Klavierübung I nichtals erster Teil eines Ganzen angekündigt wurde (im Gegensatz etwa zum er-sten Teil von Kuhnaus Klavierübung). Wenn man dieses Werk in die vorher-gehenden Teile der Klavierübung eingebunden sehen will, so muß ein innererZusammenhang dargelegt werden. Hieraus ergäbe sich das Bild eines großenGesamtzyklus, was bei Teil I bis III kurz dargelegt und über die Analyse dereinzelnen Teile auf zyklische Eigenschaften einsichtig wurde. Den Goldberg-Variationen muß also eine spezifische Funktion im Gesamtplan zugeordnetwerden können. Dies läßt sich am leichtesten aus der Tonartendisposition derverschiedenen Teile der Klavierübung ableiten, deren Eckpfeiler wie folgtskizziert werden dürfen:

sikforschung 1979, S. 150-153, ders., Zum Problem der Zahlen in J. S. Bachs Werk, in:Musik und Kirche 49 (1979), S. 58 ff., ders., Erwiderung auf Stellungnahmen zum Aufsatz„Zum Problem der Zahlen“, in: Musik und Kirche 49 (1979), S. 232/233, und ders., Zah-lenalphabet bei Bach? Zur antikabbalistischen Tradition im Luthertum, in: Musik und Kir-che 1981, S. 15-19, bzw. als Gegenposition L. Prautzsch, Stellungnahme zu Ulrich MeyersAufsatz „Zum Problem der Zahlen in J. S. Bachs Werk“, a. a. O., S. 229-231, und ders.,Vor deinen Thron tret ich hiermit. Figuren und Symbole in den letzten Werken Johann Se-bastian Bachs, Neuhausen/Stuttgart 1980. Eine ausgezeichnete Darstellung der zu BachsZeit verbreiteten zahlensymbolischen bzw. -alphabetischen und kabbalistischen Technikenfindet sich bei R. Tatlow, Bach and the riddle of the number alphabet, Cambridge 1991.Gleichzeitig wird in Kapitel 5, Links to Bach, S. 120 ff., übergroße Spekulationsfreude derInterpreten abgemahnt, da sich diese Prinzipien kompositorisch bei Bach kaum nachweisenlassen.

55 R. Stephan, J. S. Bach und das Problem des musikalischen Zyklus, a. a. O., S. 47.56 Ebenda.

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57 Die Nomenklatur „Charaktervariation“ findet sich schon bei H. Keller, Die Klavier-werke Bachs, a. a. O., S. 215.

58 Vergleiche dazu vor allem W. Breig, Bachs Goldberg-Variationen als zyklischesWerk, a. a. O., und H. H. Niemöller, Polonaise und Quodlibet, in: Musik-Konzepte 42,München 1985, S. 3-28.

59 W. Breig, Bachs Goldberg-Variationen als zyklisches Werk, a. a. O., S. 246.

I: e B II: F h III: Es A/a IV: G(Skala: C Des D Es E F Ges G As A B H)

Eine auf den Quintenzirkel bezogene Darstellung liest sich wie folgt:

es-b-f-()-g-()-a-e-h

Die Grundtonart G der Goldberg-Variationen steht genau im Zentrum derdurch Klavierübung I bis III aufgespannten Tritonus-Felder und beschließt diedamit zum Ausdruck gebrachten Dichotomien. Dieser Gedanke des Aus-gleichs in der Einheit wird auch durch besagten Titel nahegelegt, der als In-halt der Klavierübung ja nur von ,,einer ARIA“ mit deren Veränderungenspricht. Ein Blick auf die formimmanenten Prinzipien zeigt, daß diesemGrundgedanken auch beim Konzeptionsplan der Goldberg-Variationen nach-gegangen wurde.

Die Gesamtzahl der Einzelsätze entspricht mit 32 (Aria – 30 Variationen-Aria) im Bauplan genau dem Ordo naturalis, der auch in den ebenfalls 32Takten der Themenaria zu finden ist. Des weiteren erhalten die 30 Variationendurch die im Dreierrhythmus auftretenden Kanons (deren Kanonintervall sichvon Prim zu Non ausweitet) und das Quodlibet am Schluß eine offensichtli-che regelmäßige Binnengliederung. Man kann an den dadurch entstehendenDreiergruppen eine typisierte Abfolge von suitensatzähnlichem Charakter-stück57, virtuoser Variation (meist auf zwei Manualen zu spielen) Kanon er-kennen, die in der ersten Dreiergruppe abgeändert wird (Typus 2 am An-fang)58. Der Zusammenhalt innerhalb der Gruppen wird laut Werner Breigdurch Ineinandergreifen zweier Prinzipien gewährleistet: „Es sind dies einmaldie Entgegensetzung von freierer und strengerer kontrapunktischer Gestal-tung, auf der die Form ‚Präludium und Fuge‘ beruht, zum anderen die Grup-pierung von Sätzen unterschiedlichen Bewegungscharakters, wie sie am rein-sten in der Suite, der Folge von stilisierten Tanztypen, ausgeprägt ist“59. Diesuitensatzähnlichen Elemente nehmen jedoch für die Gliederung der Gesamt-

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60 H. H. Niemöller, Polonaise und Quodlibet, a. a. O. Werner Breig sah in den meistender dieser Gruppe zugehörigen Variationen den „Bewegungscharakter der Courante... aus-geprägt.“ (S. 247.)

61 R. Dammann, Johann Sebastian Bachs „Goldberg-Variationen“, Mainz 1986, inKlammern sind stets die Seitenzahlen angegeben.

konzeption einen Raum ein, der bislang meist zugunsten der offensichtlichenDreiergliederung durch die Kanons vernachlässigt wird. Des weiteren zeigteHeinz Hermann Niemöller die konstitutive Bedeutung des Satztypus der Polo-naise vor allem für die als virtuosen Typus gekennzeichneten Variationen60.Eine Aufstellung über Taktarten, denkbare Bezeichnungen der Einzelsätze imGefüge einer Suite bzw. – falls nicht offensichtlich ein Tanztyp zugrunde-liegt – ihres Grundaffekts kann Klarheit über ein weiteres Gliederungsprinzipbringen; dieses wurde zumeist einzig als „forma bipartita“, als Teilung derSatzfolge in zwei Hälften durch die Ouverture rezipiert (auf die Analogie zuder Ouverture in Partita IV wurde schon hingewiesen). Als exemplarischeMöglichkeiten einer solchen Zuordnung werden die angegebenen Aufsätzevon Niemöller (dort S. 12-19) und Breig (S. 246 f.) sowie die Monographievon Rolf Dammann verwendet61. Kursiver Druck soll bei divergierendenStandpunkten die schlüssigeren Deutungen hervorheben.

Niemöller Breig Dammann

Aria- 3/4 Sarabande Sarabande (85)Var. 1-3/4 Polonaise Polonaise (94)

2-2/4 Air Duett alla Corelli (103)62

K 3-12/8 Gigue Siciliano Pastorale (108)4-3/8 Passepied Passepied (110)5-3/4 Polonaise (Courante) „virtuos“ (117)

K 6-3/8 Courante emanzipatorische Energiedes Chroma (122)

7-6/8 Gigue Gigue Giga (123)–al tempo di Giga (Canarie alla Siciliano)

8-3/4 Polonaise (Courante) Concerto-ähnlich,opernhaft (129)

K 9-C Air „seraphisch“ (130)10- Gavotte alter Stil,-Fughetta militärisch (134)11-12/16 Gigue Giga (136)

UK 12-3/4 Polonaise „Strukturelle Selbst-spiegelung“ (143)

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13-3/4 Sarabande Sarabande Sarabande, „affectusamorosus“ (147)

14-3/4 Polonaise (Courante) „pezzo di bravura“ (154)UK 15-2/4 Allemande „Subsumptio postpositiva“

–Andante-(Moll) (158), „lethal“ (161)Var. 16- -9/8-Ouverture (95 Takte)

17-3/4 Polonaise (Courante) „unerbittliche Mechanik“ (174)K 18- Gavotte Gavotte „stilus antiquus, ...

durchdrungen von elegantenZügen des frz. Balletts.“ (179)

19-3/8 Polonaise Menuett (180)63

20-3/4 Polonaise (Courante) „Bombo“ (189)K 21-C Air „affectus plangentium

(Moll) (Plainte, Lamento)“ (193)22- Gavotte „La Grandezza“ (197)–Alla breve23-3/4 Polonaise „verrückt“, Scherzo (198)

K 24-9/8 Courante Pastorale/Siciliano (204)25-3/4 Sarabande Sarabande „affectus dolorosus“,(Moll) Pathopoiia (211)26-3/4 Polonaise Sarabande brillierende Sarabande (219)–18/16 (mit Laufwerk)

K 27-6/8 Gigue Gigue galant, giguenähnlich (223)28-3/4 Polonaise „ondeggiando“ (228)29-3/4 Polonaise Toccatenanklänge (229),

musikalisch aufrauschend (233)Q 30-C „Saxonnaise“–(16/32 Takte)64

62 Wegen des diskursiven Charakters und der imitierenden Einsatzfolge ist auch einCapriccio nach Art des Satzes in der c-Moll-Partita denkbar.

63 Dammann stellt wegen der häufigen Betonung der zweiten Zählzeit auch eine Ver-bindung zum Sarabandentyp her. Dies trägt zwar der dichten Struktur des Satzes Rech-nung, doch ist der Grundgestus der Variation eher in Richtung eines Passepied, wie er inder G-Dur-Partita erscheint, zu lesen.

64 Dammann beschreibt die Funktion des Quodlibet treffend: „Mithin ist das Quodlibetam Ende der ,Goldberg-Variationen‘ ein einzigartiges Ergebnis kontrapunktischer Verknüp-fung. In ihm vereindringlicht sich die ingeniöse Klimax aller vorangegangenen Intervall-Kanons und ein Gipfel satztechnischen Könnens.“ (R. Dammann, Johann Sebastian Bachs„Goldberg-Variationen“, a. a. O., S. 239.)

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Hieran läßt sich schon eine interessante Feststellung machen: In der erstenHälfte findet sich im regelmäßigen Viererrhythmus (die Aria mitgerechnet)eine Gigue, die Vorderhälfte wird durch eine Mollvariation, den zweiten Um-kehrungskanon, beschlossen. Im Zusammenhang der Suitensätze hat die Giguebeschließende Funktion, also kann hier von vier Vierergruppen von Variatio-nen gesprochen werden. Doch noch ein weiterer Satz fällt in dem Gefüge desVorderteils auf, nämlich die Fughetta, Var. 10, die unvermittelt das für dieGruppe der Kanons bezeichnende Element des Kontrapunktischen an unge-wöhnlicher Stelle einführt.

In der zweiten Hälfte fallen folgende „Gliederungsvariationen“ auf: offen-sichtlicherweise die Ouverture; Var. 18, mit dem Alla-breve-Takt in eine Rei-he gestellt mit Fughetta, Ouverture und Var. 22; die Moll-Variation Nr. 21; be-sagtes Alla breve in Var. Nr. 22; die Moll-Variation Nr. 25 (dieser äußerst aus-drucksstarke Sarabandensatz); der gigue-verwandte Kanon der None (der ein-zige zweistimmige Kanon); schließlich natürlich Quodlibet und wiederkehren-de Themenaria. Damit läßt sich folgendes Gliederungsschema entwerfen:

Aria OuvertureVar. l Var. 17Var. 2Canone all’Unisono: Gigue Kanon der Sext: alla breve

Var. 19Var. 4 Var. 20Var. 5 Kanon der Sept: mollVar. 6Var. 7: al tempo di Giga Var. 22: alla breve

Var. 23Var. 8 Var. 24Var. 9 Var. 25: mollVar. 10: Fughetta-alla breve Var. 26: (zwei Taktangaben)Var. 11: Gigue Kanon der None: Gigue–

(zweistimmig) Var. 12: Umkehrkanon Var. 28 Var. 13 Var. 29 Var. 14 QuodlibetUmkehrkanon der Quint: moll- Aria

Andante

Hierin findet sich der Formplan der Aria abgebildet, wobei Moll-Variationenund gigue-verwandten Sätzen eine Schlußwirkung, Variationen im Alla-breve-Takt eine eröffnende Wirkung zugeordnet scheint. Diese Übereinstimmungenlassen sich teilweise bis in die einzelnen Variationen nachvollziehen, die ihr

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Ordnungsprinzipien in Johann Sebastian Bachs Klavierübung

Material dann aus dem „entsprechenden“ Takt der Aria beziehen. Dies ist zumBeispiel sehr deutlich an der Fughetta zu ersehen, deren Thema wörtlich dieOberstimme von Takt 11 der Themenaria reproduziert. Äußerst plastische Bei-spiele für ein solches Verfahren finden sich beispielsweise in Var. 2, wo inTakt 1 die Tonart e-Moll exponiert scheint, die in Takt 3 der Aria ebenfalls zu-erst erscheint. Die in Takt 4 auf der ersten Zählzeit auftretende markanteGruppierung von zwei mal drei Noten findet sich in Variation 3 als Umkeh-rung im Thema wieder. In Takt 7 wird durch den hier erstmalig erscheinendenlombardischen Rhythmus die Sekunde als Dissonanzintervall thematisiert,auch wird in den Unterstimmen erstmalig ein (Sept-)Vorhalt geschaffen. InVar. 6, dem Kanon der Sekund, erscheinen diese Strukturelemente ebenfallsals Hauptkennzeichen der Variation, überdies weisen die ersten zwei Takte derOberstimmen (Liegeton g", kanonisch hinzutretende Sopranstimme a"-g"-fis"-e"-d"-c") auffällige Übereinstimmungen mit dem Sopran des besagten Taktesauf. Var. 22 behandelt vor allem Septvorhalt, so wie die Oberstimmen vonTakt 23 sie mächtig postulieren. Des weiteren ist die jeweils typische Be-handlung der bei Bach oft figurativ eingesetzten Elemente Tetrachord –Doppelschlagsfigur – Dreiklang in Themenariatakten und entsprechenden Va-riationen auffällig. Es soll hier aber keinesfalls um jeden Preis eine Analogieaufgestellt werden, da zum Beispiel gerade für die immens wichtige Var. 1eine solche kaum festzustellen sein wird. Sehr wohl analog läßt sich aber derGesamtablauf beschreiben, was vor allem an den letzten Variationen verdeut-licht werden kann: Nach Var. 25, die einen großen Ruhepunkt darstellt, findeteine permanente Verdichtung und Beschleunigung bis zum Quodlibet hinstatt, dem schon vorweggenommene Schlußfunktion zukommt. Die wiederer-scheinende Aria bekräftigt diesen Schlußcharakter nochmals65. In der Aria isteine ähnliche Entwicklung nach Takt 26 zu beobachten, wo durchgehendeSechzehntelfiguren sich bis zur Sequenzierung (T. 29/30) auf einheitlichesmusikalisches Material beziehen lassen; Takt 31 steht schon in der zu errei-chenden Ausgangstonart G-Dur, Takt 32 bringt dann die Bestätigung der fina-len tonartlichen Beruhigung66.

65 Zur Problematik des Quodlibets sei vor allem hingewiesen auf H.-J. Schulze, Melo-diezitate und Mehrtextigkeit in der Bauernkantate und in den Goldbergvariationen, in:Bach-Jahrbuch 1976, S. 58-72. Niemöllers Umdeutung zur „Saxonnaise“ (H. H. Niemöller,Polonaise und Quodlibet, a. a. O., S. 18 und 27 f.) scheint insgesamt doch zu spekulativ.

66 Die augenscheinliche Sonderrolle dieser letzten sechs Variationen veranlaßte W.Breig dazu, eine Frühfassung der Goldberg-Variationen mit nur 24 Variationen anzuneh-men (W. Breig, Bachs Goldberg-Variationen als zyklisches Werk, a. a. O., besondersS. 252-255). Der Gedanke einer später vorgenommenen Umstellung oder Erweiterung desVariationenzyklus muß deshalb nicht verworfen werden, doch ob die ersten 24 Variationenin der jetzigen Reihenfolge ein selbständiges Konzept nahelegen, bleibt hinterfragenswert.

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Mit diesem Verfahren einer Selbstreflexivität der Goldberg-Variationen –als Großstruktur identisch mit dem Mikrokosmos der Themenaria – wird dasPrinzip der Einheit und Spannungsauflösung großartig umgesetzt. Ein innererZusammenhang der Klavierübung IV wird aus dieser Funktionalisierung dereinzelnen Teile im Kontext eines Großzyklus erklärbar. Doch werden sichauch Gegenpositionen belegen lassen. Markus Schiffner beispielsweiseschreibt zur Frage der Zusammengehörigkeit: „Von der inneren Werkplanungher sind deshalb die ,Goldberg-Variationen‘ weniger den Teilen der Klavier-übung als vielmehr den genannten Spätwerken Bachs zuzuordnen“67. Damitstellt sich aber die Frage nach dem Spätstil und dessen bewußter „Anwen-dung“ seitens Bachs, womit eine solche Kontrastierung von „Klavierübung“und „Spätstil“ relevant würde. Eines der Merkmale, die sich bei der Benen-nung des Spätstils durchzusetzen scheinen, ist von Martin Zenck als „das de-zidierte Hervortreten eines zahlhaft-quadrivialen und nicht mehr rhetorisch-trivialen Bewußtseins“ umschrieben worden68. Wie dargestellt wurde, trifftdies in vielen Punkten auch auf die anderen Teile der Klavierübung zu; mandarf davon ausgehen, daß sich Bachs Spätstil erst entwickelte und nicht eineplötzlich auftretende Zuständlichkeit darstellt. Gerade als solches, nämlich alsParadigma der Kompositionslehre Bachs auf dem Weg hin zu besagtem Spät-stil, dürfte die Klavierübung als Ganzes von Interesse sein.

Das bisher Gesagte tritt dafür ein, die als Klavierübung kenntlich gemach-ten Sammlungen als verschiedene Möglichkeiten der Konkretion des Zyklus-gedankens bei gleichzeitig stringenter Entwicklung hin zum Gedanken derEinheit (im „zyklischen Werk“ Goldberg-Variationen) zu betrachten. Zusam-menfassend kann die folgende Auflistung diesen Prozeß verdeutlichen:

Klavierübung I: „Folge von Folgen“69, der Einzelsatz, der Gedanke des Indi-viduellen, steht im Vordergrund, wobei tradierte Aufbauregeln anzutreffensind, Ordnungszahl 41;

67 M. Schiffner, Werk – Sammlung – Zyklus: Bachs Klavierübung Teil III, a. a. O.,S. 84. (Die „genannten Spätwerke“ sind Musikalisches Opfer, Canonische Veränderungenund Kunst der Fuge.)

68 M. Zenck, 1740-1750 und das ästhetische Bewußtsein einer Epochenschwelle? ZumText und Kontext von Bachs Spätwerk, in: Johann Sebastian Bachs Spätwerk und dessenUmfeld. Bericht über das wissenschaftliche Symposion anläßlich des 61. Bachfestes derNeuen Bachgesellschaft, Duisburg, 28.-30. Mai 1986, hrsg. v. Chr. Wolff, Kassel 1988,S. 109-116, hier S. 111.

69 R. Stephan, J. S. Bach und das Problem des musikalischen Zyklus, a. a. O., S. 47;M. Schiffner, Werk – Sammlung – Zyklus: Bachs Klavierübung Teil III, a. a. O., S. 84.

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Ordnungsprinzipien in Johann Sebastian Bachs Klavierübung

70 M. Schiffner, ebenda.71 Chr. Wolff, Ordnungsprinzipien in den Originaldrucken Bachscher Werke, a. a. O.,

S. 151.72 R. Stephan, J. S. Bach und das Problem des musikalischen Zyklus, a. a. O., S. 47.73 Chr. Wolff, Die sonderbaren Vollkommenheiten des Herrn Hofcompositeurs. Versuch

über die Eigenart der Bachschen Musik, in: Bachiana et alia musicologica. Festschrift Al-fred Dürr, hrsg. v. W. Rehm, Kassel 1983, S. 356-362.

Klavierübung II: „der Kontrastdualismus zweier mehrsätziger Einzelwerke“70,das gesellschaftliche Element steht im Vordergrund (eindeutige Zuordnungs-gruppen, gängige Typisierung von Form und Stil), Streben nach modellhaftemCharakter, Ordnungszahl 14;

Klavierübung III: „Summierung unterschiedlich wirksamer tektonischer Ord-nungsprinzipien“71, Betonung symbolischer, oft zahlhafter, aber auch im ein-zelnen rhetorischer Figuren, Ordnungsgedanke „künstlich“ (Ordo artificialis)konstruiert (Ordnungszahlen wie 11, 13, 14, 31, 41, aber auch 17, 19, 23, 37etc.), metaphysisch-theologischer Gehalt, der sich auch in den verschiedenenZahlen und ihrem Symbolgehalt widerspiegelt;

Klavierübung IV: „geschlossenes Werk, eine musikalische Einheit“72, Ein-heitsgedanke im Vordergrund, Ordo naturalis ausgebildet, durch eine selbstre-flexive Struktur auch nach innen gespiegelt, Zentrum der tonartlichen Ent-wicklung der vorherigen Teile.

Die Großform verkehrt sich also von der Vielzahl verschiedener Einheitenüber konventionelle und artifizielle Gliederungsmomente zur umfassendenund inwendigen Einheit. Damit begegnet man also einem Prinzip von erstaun-licher Rigorosität, das sich mit dem vielzitierten „Elaborationsprinzip“, Bachs„Streben nach einem Höchstmaß an künstlicher Ausarbeitung“73 in Einklangbefindet. Die Klavierübung läßt sich in diesem Sinne sowohl als Ganzes alsauch in ihren Teilen als ein Spiegelbild eines kompositorischen Individua-tionsprozesses begreifen.