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140 Organische Festkorperchemie, Teil II Sabine Luscbat Racematspaltungen und photochemisch-thermische Schalter sind nur zwei der vielversprechenden Anwendungsmoglichkeiten der organischen Festkorperchemie. 1 Kristall-Engineering en geplanten Aufbau von D organischen Festkorpern be- zeichnet man auch als Kristall- Engineering [l ~ 31. Ein Entwurf von spezifischen organischen Molekiilkristallen, d. h. die Vor- hersage der Packungsart der Mo- lekule im Kristall basierend auf der bekannten Molekiilstruktur, ist leider bislang noch nicht mog- lich. Fur die Synthese einkristalli- ner Werkstoffe n i t maflgeschnei- derten physikalischen Eigen- schaften (z. B. nichtlineare Optik, Es soll hier jedoch nicht der Ein- druck entstehen, dai3 das Kri- stall-Engineering vollig unmog- lich sei. Anhand von einigen aus- gewahlten Beispielen soll im folgenden gezeigt werden, dai3 entscheidende Fortschritte auf diesem Gebiet erzielt werden konnten, dai3 jedoch eine Fiille weiterer Informationen notwen- dig ist, um Kristalle im Detail zu verstehen und gezielt aufbauen zu konnen. Abb. 1. Schematische Darstellung der Anordnung von a) Chlor und b) 1,4-Dichlorbenzol im Kristall. Alle Kristallstrukturen organi- Ferromagnetismus und elektrische Leitfahig- keit) ware eine derartige Vorhersage jedoch von unschatzbarem Wert. Dabei sind es im Grunde genommen drei Probleme, die das Kristall-Engineering so schwierig machen: er- stens die Vielzahl der moglichen Orientierun- gen eines Molekuls irn Kristall (vgl. Polymor- phismus, Teil I"), zweitens die Unsicherheit beim Abschatzen von Energiebeitragen und drittens die Beteiligung und gegenseitige Ver- flechtung von thermodynamischen und kine- tischen Beitragen zum Kristallwachstum. Hierbei ist aui3erdem zu beachten, dai3 eine Kristallstruktur immer eine Kompromii3- losung ist, gelegentlich sogar ein sehr schlech- ter Kompromifi zwischen Wechselwirkungen mit unterschiedlichen Starken, Richtungsab- hangigkeiten und abstandsabhangigen Eigen- schaften. Aus dem zuvor Erwahnten folgt, dai3 der Zu- sammenhang zwischen Molekulsyinnietrie und Kristallsymmetrie nahezu unbekannt ist. Von Kitaigorodskii wurden folgende Regeln aufgestellt, die versuchen, Packungsverhalten und Kristallsymmetrien zu rationalisieren [4]: 0 Molekiile nehmen im Kristall eine mog- lichst dichte Packung ein. 0 Die kristallographische Symmetrie ist im allgemeinen kleiner als die lokale Molekiil- symmetrie. Wenn man das Beispiel einer zweizahligen Drehachse (C2-Achse) nimmt, so bedeutet dies, dai3 ein Molekiil mit einer C2-Achse sich im Kristall entsprechend der zweizahligen Achse orientieren mui3. Wenn dadurch aber eine dichte Packung nicht ge- wahrleistet ist, wird das Molekiil in einem Gitter kristallisieren, welches eine niedrigere Symmetrie als C2 aufweist. Die Molekulsym- metrie wird hierdurch nicht beeinflufit. 0 Wenn die Molekiilgestalt eine gewisse ,,Unformigkeit" uberschreitet, dann wird eine dichte Packung schwierig, so dai3 offene Netze gebildet werden, in die Gastmolekiile eingeschlossen werden. Chemie in unserev Zeit /31. Jahvg. 1997/Nx 3 0 VCH Verlagsgesellschaft mbH, 69469 Weinheim, 1997 0009-28~1/97/0306-0140 $17.150 + .150/0 " scher Verbindungen konnen als Netze mit Knoten dargestellt werden, wobei die Knoten die Molekiile reprasentieren und die Verbindungen zwischen den Knoten die intermolekularen Wechselwirkungen. Mathe- matisch lassen sich solche Netze mit Knoten sehr gut durch eine topologische Analyse mit Hilfe der Graphentheorie beschreiben. Zer- legt man eine Kristallstruktur in supramole- kulare Synthone (vgl. Teil I), also Substruk- turelemente, die durch schwache Wechselwir- kungen miteinander verkniipft sind, so kann dies zu einer Vereinfachung fiihren, durch die der Vergleich mit anderen scheinbar unter- schiedlichen Kristallstrukturen erleichtert wird. Die beiden Verbindungen Chlor und 1,4-Dichlorbenzol haben beispielsweise vol- lig verschiedene physikalische Eigenschaften und chemische Reaktivitaten (Tabelle 1). Ein Blick auf die Rontgenstrukturanalysen (Ab- bildung 1) zeigt jedoch, dai3 die beiden Ver- bindungen im Kristall frappierende Ahnlich- :' Siehe diese Zeitschrift 1997,31, 87- 92.

Organische Festkörperchemie, Teil II

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Organische Festkorperchemie, Teil II

Sabine Luscbat

Racematspaltungen und photochemisch-thermische Schalter sind nur zwei der vielversprechenden Anwendungsmoglichkeiten der organischen Festkorperchemie.

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Kristall-Engineering

en geplanten Aufbau von D organischen Festkorpern be- zeichnet man auch als Kristall- Engineering [l ~ 31. Ein Entwurf von spezifischen organischen Molekiilkristallen, d. h. die Vor- hersage der Packungsart der Mo- lekule im Kristall basierend auf der bekannten Molekiilstruktur, ist leider bislang noch nicht mog- lich. Fur die Synthese einkristalli- ner Werkstoffe n i t maflgeschnei- derten physikalischen Eigen- schaften (z. B. nichtlineare Optik,

Es soll hier jedoch nicht der Ein- druck entstehen, dai3 das Kri- stall-Engineering vollig unmog- lich sei. Anhand von einigen aus- gewahlten Beispielen soll im folgenden gezeigt werden, dai3 entscheidende Fortschritte auf diesem Gebiet erzielt werden konnten, dai3 jedoch eine Fiille weiterer Informationen notwen- dig ist, um Kristalle im Detail zu verstehen und gezielt aufbauen zu konnen.

Abb. 1. Schematische Darstellung der Anordnung von a) Chlor und b) 1,4-Dichlorbenzol im Kristall. Alle Kristallstrukturen organi-

Ferromagnetismus und elektrische Leitfahig- keit) ware eine derartige Vorhersage jedoch von unschatzbarem Wert. Dabei sind es im Grunde genommen drei Probleme, die das Kristall-Engineering so schwierig machen: er- stens die Vielzahl der moglichen Orientierun- gen eines Molekuls irn Kristall (vgl. Polymor- phismus, Teil I"), zweitens die Unsicherheit beim Abschatzen von Energiebeitragen und drittens die Beteiligung und gegenseitige Ver- flechtung von thermodynamischen und kine- tischen Beitragen zum Kristallwachstum. Hierbei ist aui3erdem zu beachten, dai3 eine Kristallstruktur immer eine Kompromii3- losung ist, gelegentlich sogar ein sehr schlech- ter Kompromifi zwischen Wechselwirkungen mit unterschiedlichen Starken, Richtungsab- hangigkeiten und abstandsabhangigen Eigen- schaften.

Aus dem zuvor Erwahnten folgt, dai3 der Zu- sammenhang zwischen Molekulsyinnietrie und Kristallsymmetrie nahezu unbekannt ist. Von Kitaigorodskii wurden folgende Regeln

aufgestellt, die versuchen, Packungsverhalten und Kristallsymmetrien zu rationalisieren [4]:

0 Molekiile nehmen im Kristall eine mog- lichst dichte Packung ein.

0 Die kristallographische Symmetrie ist im allgemeinen kleiner als die lokale Molekiil- symmetrie. Wenn man das Beispiel einer zweizahligen Drehachse (C2-Achse) nimmt, so bedeutet dies, dai3 ein Molekiil mit einer C2-Achse sich im Kristall entsprechend der zweizahligen Achse orientieren mui3. Wenn dadurch aber eine dichte Packung nicht ge- wahrleistet ist, wird das Molekiil in einem Gitter kristallisieren, welches eine niedrigere Symmetrie als C2 aufweist. Die Molekulsym- metrie wird hierdurch nicht beeinflufit.

0 Wenn die Molekiilgestalt eine gewisse ,,Unformigkeit" uberschreitet, dann wird eine dichte Packung schwierig, so dai3 offene Netze gebildet werden, in die Gastmolekiile eingeschlossen werden.

Chemie in unserev Zeit /31. Jahvg. 1997/Nx 3 0 VCH Verlagsgesellschaft mbH, 69469 Weinheim, 1997 0009-28~1/97/0306-0140 $17.150 + .150/0

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scher Verbindungen konnen als Netze mit Knoten dargestellt werden, wobei die Knoten die Molekiile reprasentieren und die Verbindungen zwischen den Knoten die intermolekularen Wechselwirkungen. Mathe- matisch lassen sich solche Netze mit Knoten sehr gut durch eine topologische Analyse mit Hilfe der Graphentheorie beschreiben. Zer- legt man eine Kristallstruktur in supramole- kulare Synthone (vgl. Teil I), also Substruk- turelemente, die durch schwache Wechselwir- kungen miteinander verkniipft sind, so kann dies zu einer Vereinfachung fiihren, durch die der Vergleich mit anderen scheinbar unter- schiedlichen Kristallstrukturen erleichtert wird. Die beiden Verbindungen Chlor und 1,4-Dichlorbenzol haben beispielsweise vol- lig verschiedene physikalische Eigenschaften und chemische Reaktivitaten (Tabelle 1). Ein Blick auf die Rontgenstrukturanalysen (Ab- bildung 1) zeigt jedoch, dai3 die beiden Ver- bindungen im Kristall frappierende Ahnlich-

:' Siehe diese Zeitschrift 1997,31, 87- 92.

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Organische Festkorperchemie, Ted 11 141

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Abb. 2. Strukturmotive von Carbonsauren, die sich vom Dimer-Synthon ableiten. Abb. 4. Aromatische Polycarbonsauren.

3 keiten aufweisen. Das bedeutet, dai3 Verbin- dungen trotz unterschiedlicher Funktiona- litaten im Molekul ahnliche Kristallstruktu- ren haben konnen, wenn die Synthone ahnli- che Gestalt und Topographie aufweisen.

Wie bereits im ersten Teil dieses Aufsatzes erwahnt, beeinflussen H-Briicken die Nah- ordnung im Kristall, da sie eine Art mai3ig gerichteter, intermolekularer Wechselwirkun- gen sind. Auch die Zusammenlagerung von Monocarbonsauren zu symmetrischen Dime- ren im Kristall wurde bereits diskutiert. Dies ist jedoch nicht die einzige Moglichkeit, wie Carbonsauren im festen Zustand vorliegen konnen (Abbildung 2). Nach einer Recherche in der Cambridge Structural Data Base - dort sind ca. 80 % aller publizierten Rontgenstruk- turanalyse-Daten hinterlegt, zum Stichwort Carbonsaure ergibt sich folgendes (Abbil- dung 3): 90 % aller Carbonsauren liegen im festen Zustand als symmetrisches Dimer 1 vor, 5 % als doppelt verbriicktes Dimer 2, bei dem zwei Alkohol- oder Wassermolekule an der Briicke beteiligt sind, 4 % als Catemer 3 in

Abb. 3. Haufigkeit der Carbonsaure-Syn- thone 1 - 4. Die verbruckten Dimerstruk- turen 2 und 4 entstehen durch Einschub von zwei bzw. einem Alkoholmolekiil in die H-Brucken.

einer zickzackformigen Kette und 1 % als Di- mer 4 mit einem Alkohol- oder Wassermo- lekul als Briicke [ 5 ] . Eine trifunktionelle Car- bonsaure wie die Trimesinsaure (Benzol- 1,3,5-tricarbonsaure) 5 (Abbildung 4) bildet im Kristall graphitartige Netze, die immer die Substruktur 1 enthalten. Bei einer solchen wa- benartigen Anordnung wurden jedoch groi3e Hohlraume entstehen. Da immer die Tendenz zur dichtestmoglichen Packung der Molekule im Kristall besteht, werden diese Hohlraume vermieden, indem sich die zweidimensionalen Netze gegenseitig durchdringen. Wird diese gegenseitige Durchdringung verhindert, dann konnen Fremdmolekule in die Hohlraume eingelagert werden. Solche Einschluherbin- dungen nennt man Clathrate. Es gibt drei Me- thoden, um bei der Trimesinsaure die Durch- dringung zu verhindern: I) Cokristallisation von Trimesinsaure mit einer Gastverbindung, z. B. Pyren, die in die 14 A grogen Kanale ein- gebaut werden kann. In Abbildung 5 ist die Wabenstruktur deutlich erkennbar. 2) Wird der Trimesinsaurekern funktionalisiert (6), so wird die Durchdringung ebenfalls gehindert, und es bildet sich die Catemer-Struktur 3 (Abbildune 6). 3) Werden zwei funktionali-

V I ,

Tabelle 1. Einige physikalische Eigenschaften von Chlor und 1,4-Dichlorbenzol. sierte Trimesinsauremolekule iiber einen star- ren Spacer miteinander verkniipft (7), so bildet sich wieder ein Wabenmuster, bei dem aber

Aggregatzustand Schmelzpunkt/ Raurngruppe aus Platzgriinden nur noch THF in die Hohl- bei 1 atm, 25 "C "C im Kristall raume paat (Abbildung 7).

Reaktionen im Festkorper Chlor gasformig -101 Cmca 1,4-Dichlorbenzol kris tallin + 55 P 21/a, PZl/c, PI Solche Clathrate sind aber nicht nur asthe-

tisch reizvoll, sondern man kann damit auch

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142 Organische Festkorperchemie, Teil 11

ungewijhnliche Reaktionen im Festkorper durchfuhren [6]. Zunachst sollen einige klas- sische Festkorperreaktionen vorgestellt wer- den. In der Praxis werden meist die fein pulverisierten Ausgangsverbindungen bei Raumtemperatur gemischt. Die eigentliche Reaktion lauft dann bei einer bestimniten Temperatur ohne Zusatz eines Losungsmittels ab. In vielen Fallen sind solche Festkorper- reaktionen effizienter und selektiver als Reak- tionen in Losung, da die Molekiile im Kristall dichter und regularer gepackt sind. Als Faustregel gilt: Je kleiner die TeilchengroBe der Kristalle, desto grofler ist die Reaktions- geschwindigkeit. Bei der Baeyer-Villiger-Oxi- dation von 8 zu 9 etwa ist die Ausbeute der Festkorperreaktion vie1 groi3er als bei der entsprechenden Umsetzung in Losung, und bei der Benzilsaure-Umlagerung von 10 zu 11 wird die Reaktionszeit irn Festkorper dra- stisch verkiirzt (Abbildung 8). Daneben laflt sich noch eine Vielzahl anderer Reaktionen im Festkorper durchfuhren, beispielsweise Grignard-, Reformatsky-, Luche-Reaktio- nen, Glaser-Kupplungen, Umsetzungen rnit Yliden, Veretherungen, Pinakol-Umlagerun- gen, Reduktionen, Wittig-Reaktionen, Eli- minierungen, Aldol-Kondensationen und Michael- Additionen.

Eine vollig andere Perspektive bieten Fest- korperreaktionen in Clathraten. Indem eine oder mehrere Ausgangsverbindungen als Gastmolekiile in einem Wirtsgitter eingelagert werden, kann die spezifische Orientierung von Wirt und Gast im Kristall, die im Prinzip auf einer molekularen Erkennung beruht, dazu genutzt werden, um stereoselektive Um- setzungen zu erzielen, da sich ein Reagens dem Ausgangsmolekul ebenfalls nur in einer vorgegebenen Orientierung nahern kann. Dieser Templateffekt sol1 anhand von zwei Beispielen illustriert werden. Das Wirtmo- lekiill3 bildet eine groi3e Zahl von EinschluB- komplexen, wobei ein Netzwerk aus Wasser- stoffbriicken gebildet wird (Abbildung 9). Die starre Struktur des Wirtes 13 ist fur die Entste- hung der Clathrate essentiell. So lauft die Pho- todimerisierung von Chalcon 12 in diesem Wirt stereo- und regiospezifisch ab, d. h. es wird nur das Kopf-Schwanz-verkniipfte Di- mer 14 gefunden, wohingegen in Losung eine komplexe Mischung aller moglichen Isomere entsteht. Setzt man das C2-symmetrische chi- rale Diol 15, das sich aus der Weinsaure ablei- tet, als Wirt ein, so gelingt die Racematspal- tung des Glycidesters 16 durch fraktionieren- de Destillation in 93 % ee. Dazu wird der racemische Gast 16 mit dem optisch aktiven

5

Abb. 5. Ausschnitt aus dem Kristallgitter des Trimesinsaure-Pyren-Clathrates. In den Hohlraumen sind aui3er Pyren noch Ethanolmolekiile eingelagert, so dai3 sowohl symme- trische Dimere 1 als auch doppelt verbriickte Dimere 2 auftreten (vgl. Abbildung 3).

Wirt 15 gemischt. Im festen Zustand wird der Einschluflkomplex eines enantiomeren Gastes mit dem Wirt gebildet. Danach wird die Mi- schung erhitzt, wobei das nicht komplexierte Enantiomer bei einer niedrigeren Temperatur abdestilliert als das komplexierte Enantiomer.

Racematspaltung durch lamellare Zwillingsbildung

Vor kurzem berichtete Collet iiber ein ande- res, ungewohnliches Verfahren zur Racemat- spaltung [7]. Das (-)-Enantiomer des bicycli- schen Lactams 17 ist eine wichtige Vorstufe fur die Synthese carbocyclischer Nucleosid- analoga wie beispielsweise (-)-Carbovir 18, die als Chemotherapeutica gegen HIV und Herpes sowie als Mittel zur Erweiterung der Coronargefafle bei Herzerkrankungen einge- set= werden (Abbildung 10). Das racemische Lactam (+)-17 bildet im festen Zustand ein Konglomerat. Wenn eine iibersattigte Losung von (+)-17 durch Zugabe eines Kristalls des reinen (-)-17 angeimpft und wahrend des Kristallisationsvorganges der optische Dreh- wert der Losung gemessen wird, dann wiirde man erwarten, daR der Drehwert in den posi- tiven Bereich steigt (Abbildung 1 I), da bevor- zugt das geimpfte (-)-Enantiomer auskristal- lisiert, und dafl sich nach einiger Zeit spon- tane Keime des (+)-Enantiomers bilden, das dann zusammen mit dem (-)-Enantiomer zu

kristallisieren beginnt. Tatsachlich wechselt jedoch die Enantiomerenzusammensetzung in einer Reihe von Oszillationen von Uber- schui3 (+) zu Uberschufl (-) und wieder zuriick, bis letztendlich die dem Loslichkeits- gleichgewicht entsprechende racemische Zu- sammensetzung erreicht ist (Abbildung 11). Diese Oszillation lafit sich folgendermaflen erklaren: Die Konglomerat-Kristalle sind ver- zwillingt, und ein Enantiomer kann jeweils auf der Oberflache des anderen wachsen, so dafl die ,,effektive" Handigkeit der Keime wahrend des Kristallisationsvorganges perio- disch umgekehrt wird. Dieses Phanomen wird auch als lamellare Zwillingsbildung aus (+)- und (-)-Enantiomeren in Konglomeraten bezeichnet. Bei Punkt R beginnen die (+)- Kristalle auf der Oberflache der bereits gebil- deten (-)-Kristalle zu wachsen, was das Kri- stallisieren des (-)-Enantiomers beendet. Spa- ter wird Punkt S erreicht, an dem das (+)-Enantiomer so weit auskristallisiert, dafl nun das (-)-Enantiomer in Losung im Uber- schufl vorliegt und deshalb beginnt, auf der Oberflache der (+)-Kristak zu wachsen, und so weiter. Werden die Kristalle unmittelbar vor der ersten Oszillation isoliert, so erhalt man das (-)-Enantiomer rnit 86 % ee. Als Ursache fur diese spezielle Form der Zwillingsbildung miissen auch hier wieder intermolekulare H-Briicken zwischen den Amiden angenommen werden.

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Organische Festkorperchernie, Teil 11 143

6 7

Abb. 6. Ausschnitt aus dem Kristallgitter des Trimesinsaure-Deri- vates 6 (Propylsubstituenten an den Benzolkerenen aus Grunden der Ubersichtlichkeit weggelassen). Hierbei tritt das Catemer-Syn- thon 3 auf. 8 10 12

Abb. 7. Ausschnitt aus dem Kristallgitter des 7-THF-Clathrates. Es wird nur das Dimer-Synthon 1 beobachtet.

Abb. 8. Beispiele fur Reaktionen im Fest- korper. 9

Abb. 10. Das bicyclische Lactam (-)-17 ist ein Synthese-Vorlaufer fur das carbocycli- sche Nucleosidanalogon 18. 11

Abb. 9. Beispiele fur Reaktionen in Cla- thraten. Im achiralen Wirt 13 lauft die Pho- todimerisierung von 12 hochselektiv ab. Der chirale Wirt 15 ermoglicht die Race- matspaltung des Glycidesters 16.

Abb. 11. Racematspaltung durch lamellare Abb. 12. Verschiedene Oxidationsstufen Zwillingsbildung. Entgegen dem erwarte- von Polyanilin: Leukoemeraldin 19, Eme- ten Verlauf (gestrichelte Kurve) oszilliert raldin-Salz 20 und Emeraldin-Base 21 sowie der Drehwert einer racemischen Losung Pernigranilin 22. des Lactams 17 nach Animpfen mit (-)-17.

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144 Organische Festkorperchernie, Teil 11

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Polyaniline als organische EPROMs

Neben den kristallinen Festkorpern sol1 hier eine Klasse von organischen polymeren Fest- korpern vorgestellt werden, die Polyaniline, deren physikalische Eigenschaften stark von ihrer Oxidationsstufe abhangen [S]. Drei Po- lyanilin-Formen sind isolierbar (Abbildung 12): Leukoemeraldin 19 (voll reduzierte Form), Emeraldin 21 (semioxidierte Form) und Pernigranilin 22 (voll oxidierte Form). Durch einen Redoxprozefl oder eine Bran- sted-Saure-Base-Reaktion kann hohe elektri- sche Leitfahigkeit induziert werden. Bei der Protonierung der Imin-N-Atome von 21 ent- steht die Emeraldin-Salz-Form 20, wobei die elektrische Leitfahigkeit um 13 Groflenord- nungen von 10-l' s . cm-l auf lo3 s . cm-I bei Raunitemperatur ansteigt (zum Vergleich: die elektrische Leitfahigkeit eines typischen Metalls wie Kupfer liegt bei lo6 S . cm-I). Wrighton et al. konnten zeigen [9], dai3 man mit Polyanilinen die Funktionsweise von elektronischen Bauteilen simulieren kann.

Polyanilin hat in der Leukoemeraldin-Form 19 zwei Sorten von Aminogruppen, eine end- standige primare und n interne sekundare Aminofunktionen (Abbildung 13), die prinzi- piell alle acylierbar sind, wobei jedoch die Acylierungsreaktionen spannungsabhangig sind. Wird 19 mit Trifluoracetanhydrid bei beliebigem Potential umgesetzt, dann wird die terminale NH2-Gruppe acyliert. U m auch die sekundaren NH-Gruppen zu acylie- ren, mui3 das Potential < 0,4 V sein. Die Ab- spaltung aller Trifluoracetylgruppen gelingt unter milden Bedingungen durch K2CO3 in H20/MeOH.

In einem mikroelektrochemischen Transistor (Abbildung 14a), bei dem der Oxidationszu- stand des Polymers durch eine Spannung UG gesteuert wird, wird eine kleine Spannung UD zwischen den beiden Elektroden angelegt. Der Strom ID fliek, wenn das Polymer im partiell oxidierten Zustand vorliegt. Dieser Stromflufl wird durch Cyclovoltammetrie gemessen. Auf der Achtelektrodenplatine in Abbildung 14b sind drei Transistoren X, Y, Z aus Polyanilin nebeneinander aufgereiht, deren Leitfahigkeit aus den Cyclovoltammo- grammen erkennbar ist. Wird bei X und Z 0,2 V Spannung angelegt, bei Y jedoch 0,5 V, dann findet nur bei X und Z eine Acetylie- rung statt, wenn die Anordnung kurze Zeit in Trifluoracetanhydrid getaucht wird. X und Z werden also beschrieben, d. h. trifluoracety-

Abb. 13. Potentialabhangige Trifluoracety- lierung von Polyanilin 19.

liert, wohingegen Y nicht reagiert, da es in der oxidierten Emeraldin-Form 21 gehalten wird. Wird die ganze Anordnung in KzCO3-Lo- sung getaucht, dann werden die trifluoracety- lierten Polyaniline in X und Z hydrolysiert, d. h. geloscht; die Leitfahigkeit der Transisto- ren wird wieder hergestellt. Es handelt sich hierbei also im Grunde genommen um einen EPROM (erasable programmable read only memory), einen Ioschbaren, programmier- baren Lesespeicher.

Ein photochemisch-thermischer Schalter

Ein anderes Beispiel sol1 die Auswirkungen von schwachen Wechselwirkungen in organi- schen Festkorpern auf die Datenkommunika- tion demonstrieren. Boese und Sustmann et al. konnten ein (1:l)-Gemisch aus einem meso- 1,2-Diphenylethan-1,2-diol und einem N,N'- Di(benzy1iden)ethylendiamin unter Aus- schlui3 von Licht kristallisieren, wobei sie gelbe Kristalle der Verbindung 25 erhielten (Abbildung 15) [lo]. Die Rontgenstruktur- analyse dieser Kristalle zeigt intermolekulare H-Briicken zwischen dem Diol und dem Diimin (Abbildung 16). Werden diese Kri- stalle jedoch dem Tageslicht ausgesetzt, dann farben sie sich sofort pechschwarz. Auger- dem zeigen Elektronenspinresonanz(ESR)- Untersuchungen, dai3 die schwarzen Kristalle 26 paramagnetisch sind, dai3 also ungepaarte Elektronen vorliegen. Dennoch ist 26 elek- trisch nicht leitfahig (< 1O-l' S . cm-I).

Man wiirde jetzt vermuten, dal3 sich die gel- ben und schwarzen Kristalle nicht nur hin-

Abb. 14. a) Aufbau eines mikroelektro- chemischen Transistors auf Polyanilin-Ba- sis und b) Aufbau und Funktionsweise ei- nes EPROMs bestehend aus drei Transisto- ren X, Y und 2, die je nach der angelegten Spannung UG unterschiedlich trifluor- acetyliert werden. Der Stromflufl durch die Transistoren ist anhand der nebenstehen- den Cyclovoltammogramme erkennbar.

sichtlich ihrer UV-Absorptionen und ihres Magnetismus unterscheiden, sondern dai3 auch die Kristallstrukturen unterschiedlich sind. Das ist jedoch nicht der Fall: Die schwarzen Kristalle 26 haben die gleiche ge- mischte Stapelstruktur mit Wasserstoff- briicken wie 25, die zu einem leiterartigen Supramolekul fuhrt. Werden die schwarzen Kristalle 26 unter Lichtausschlufi auf 60 "C erhitzt, so erhalt man wieder die urspriing- lichen gelben Kristalle 25. Die Ursache fur diesen Photochromismus ist ein koopera- tiver Protonen-Elektronen-Transfer: Stabili- siert durch die N,N'-Dimethylaminogruppe am Aromaten wird ein Elektron auf den benachbarten cyanosubstituierten Aromaten iibertragen, so dai3 ein Radikalkation-Radi- kalanion-Paar entsteht. Zugleich andert sich der Charakter der H-Briicken-Bindung zu- gunsten einer dipolaren Struktur, d. h. das Proton wird auf die Iminogruppe iibertragen, wobei eine Alkoholatgruppe zuriickbleibt. Das bedeutet, dai3 die Bindungsenergie stark zunimmt. Diese veranderten Bindungsver-

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Organische Festkorperchemie, Teil 11 145

15 Abb. 16. Ausschnitt aus der Kristall- struktur von 25 und 26. Unabhan- gig von den Kristal- lisationsbedingun- gen zeigen diese beiden Verbindun- gen dieselbe Kri- stallstruktur. Die leiterartige Anord- nung kommt durch intermolekulare H-Briicken zustan-

Abb. 15. Die Cokristallisation eines rneso-l,2-Diphenylethan- de (farbige Version IJ-diols und eines N,"Di(benzyliden)ethylendiamins liefert in siehe Inhaltsver- Abhangigkeit von den Bedingungen zwei unterschiedliche Verbin- zeichnis). dungen: Unter Lichtausschlui3 entsteht 25 in Form gelber Kristal- le, welche beim Belichten durch einen Elektronen-Protonen- Transfer in 26 (schwarze Kristalle) iibergehen. 26 lafit sich ther- misch wieder in 25 iiberfiihren.

haltnisse bei den schwarzen Kristallen 26 konnen zwar nicht durch Rontgenstruktur- analyse nachgewiesen werden, aber die IR-Spektroskopie liefert eindeutige Indizien. So weisen die gelben Kristalle 25 eine OH- Bande bei 3272 cm-' und eine typische CN- Bande bei 2226 cm-' auf. Bei den schwarzen Kristallen 26 treten zusatzlich noch eine NH- Schwingung bei 3358 cm-' und eine zweite CN-Schwingung mit verringerter Wellenzahl bei 2177 cm-' auf, da formal nur eine C=N- Bindung vorliegt.

Diesen photochemisch-induzierten Protonen- Elektronen-Transfer konnte man fur einen photochemischen Schalter nutzen, der sich photochemisch ein- und thermisch ausschal- ten lafit, oder als optisches Speicherbauteil. Ein solcher Photoschalter wurde eine Datenubertragungsgeschwindigkeit von lo1* bit. s-' ermoglichen, wohingegen die zur Zeit in der Datenkommunikation verfug- baren elektronischen Schalter eine Uber- tragungsgeschwindigkeit von ca. lo9 bit. s-* haben [8]. Die Dateniibertragung liei3e sich also etwa um den Faktor 1000 steigern.

Fazit

Die obigen Beispiele demonstrieren die enge Verwandtschaft zwischen der Molekulchemie und der Supramolekularen Festkorperche- mie. Wahrend in der Molekulchemie Atom- bausteine durch kovalente Bindungen zu Molekiilen verkniipft werden, wobei unter- schiedliche Verknupfungen zu Strukturiso- meren fiihren, sind in der organischen Fest- korperchemie Molekule die Bausteine, die durch schwache nichtkovalente Wechselwir- kungen zu Kristallen verknupft werden, wo-

bei unterschiedliche Verkniipfungsmuster zu polymorphen Kristallen fuhren. Eine Isome- risierung zwischen zwei Molekulen findet ihren (festkorperchemischen) Gegenpart im Phaseniibergang, und Stereoisomere entspre- chen enantiomorphen Kristallen. Dement- sprechend ist das Kristall-Engineering das ,,supramolekulare" Analogon der Organi- schen Synthese. Die Chemie ist zwar heutzu- tage noch weit davon entfernt, eine Kristall- struktur rnit bestimmten physikalischen Ei- genschaften auf dem Papier entwerfen oder vorhersagen zu konnen, aber mit wachsender Kenntnis uber die Auswirkungen der koope- rativen Effekte von schwachen Wechsel- wirkungen in organischen Festkorpern ruckt dieses Ziel deutlich naher. Damit eroffnen sich neue Perspektiven in der Datenkommunikation, der umweltschonen- den und kostengunstigen industriellen Synthese von Verbindungen ohne Verwen- dung von Losungsmitteln und der Gewin- nung von enantiomerenreinen pharmazeu- tischen Wirkstoffen ohne Verwendung von chiralen Auxiliaren.

Summary

Although the bond energies of weak non-co- valent interactions like hydrogen bonds, van der Waals forces and dipolar interactions are about 10 - 20 times smaller than those of co- valent single bonds, the weak interactions can accumulate in the solid state, thus determin- ing interesting physical and chemical pro- perties of organic crystalline or polymeric so- lids, like inclusion of guest molecules, unpre- cedented solid state reactions, induced electric conductivity, resolution of racemates and photochemical-thermal switches.

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Literatur

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Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. Sabine Laschat, Institut fur Organi- sche Chemie der Technischen Universitat, Hagenring 30, D-38 106 Braunschweig, Tele- fax: Int. +531/391 5388.

Dieser zweiteilige Beitrag ist Professor Hans- Jurgen Schafer zum 60. Geburtstag gewidmet.

Chernie in unserer Zeit /31. Jahrg. 19971 Nr. 3