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Deutsches Orthopädisches Geschichts- und Forschungsmuseum JAHRBUCH BAND 1 Herausgegeben von L. Zichner M .A. Rauschmann K.-D. Thomann WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT Johannes Breitenfelder Kees S. Grooss Christa Habrich Rainer Kotz Werner F. Kümmel Benno Kummer Fritz Niethard Beat Rüttimann Dieter Wessinghage Hans H. Wetz

Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

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Page 1: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Deutsches Orthopädisches Geschichts­und Forschungsmuseum

JAHRBUCH BAND 1

Herausgegeben von L. Zichner M . A . Rauschmann K.-D. Thomann

WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT

Johannes Breitenfelder Kees S. Grooss Christa Habrich Rainer Kotz Werner F. Kümmel Benno Kummer Fritz Niethard Beat Rüttimann Dieter Wessinghage Hans H. Wetz

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Page 3: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

L. Zichner M. A . Rauschmann K. -D. Thomann (Hrsg.)

O R T H O P Ä D I E -

G E S C H I C H T E U N D Z U K U N F T

Museumskatalog

Mit 93 farbigen Abbildungen

STEINKOPFF DARMSTADT

Page 4: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Dr. med. Michael A. Rauschmann Orthopädische Universitätsklinik, Stiftung Friedrichsheim Marienburgstr. 2, 60528 Frankfurt

PD Dr. med. Klaus-Dieter Thomann Arzt für Rheumatologie, Orthopädie und Sozialmedizin Medizinhistorisches Institut der J. Gutenberg-Universität Mainz Am Pulverturm 13, 55131 Mainz

Prof. Dr. med. Ludwig Zichner Ärztlicher Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik, Stiftung Friedrichsheim Marienburgstr. 2, 60528 Frankfurt

ISBN 978-3-7985-1177-4

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Deutsches Orthopädisches Geschichts- und Forschungsmuseum, Jahrbuch, Band 1 / L. Zichner ... (Hrsg.). Orthopädie - Geschichte und Zukunft; Mu­seumskatalog. - Darmstadt: Steinkopff, 1999

ISBN 978-3-7985-1177-4 ISBN 978-3-642-58701-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-642-58701-6

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikro­verfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speiche­rung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzli­chen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zu­lässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unter­liegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1999 Ursprünglich erschienen bei Dr. Dietrich Steinkopff Verlag, Darmstadt in 1999

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnun­gen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen-und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Herstellung: K. Schwind Satz: K+V Fotosatz GmbH, Beerfelden

SPIN 10726802 5 4 3 2 1 0 - Gedruckt auf säurefreiem Papier

Page 5: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Vorwort

m 6. Juni 1998 wurde das Deutsche Orthopadi­sche Geschichts- und Forschungsmuseum in den Raumen der Orthopadischen Universitatsklinik Stif­tung Friedrichsheim wiederer6ffnet. Es ist eines der wenigen Museen, das von einer Fachgesellschaft ge­griindet und unterhalten wird.

Inauguriert von Georg Hohmann, Ordinarius der Orthopadischen Universitatsklinik Friedrichsheim in Frankfurt am Main von 1930-1946, wurde es 1959 in Wiirzburg, am K6nig-Ludwig-Haus eingerichtet. Die dortige raumliche Enge machte eine Ortsveran­derung unumganglich und so wurde das Museum 1995 nach Frankfurt verlegt.

Unter dem Motto: »Was Ihr ererbt von Euren Va­tern - erwerbt es, urn es zu besitzen« erfolgte eine museumsgerechte Installation der in Wiirzburg an­gesammelten Exponate. Es kamen neue hinzu und auch Dauerleihgaben anderer medizinhistorischer Museen bereich ern die Sammlung.

Durch die Aufnahme weiterer Hinterlassenschaf­ten wird das Museum standig erweitert und wird zu­kiinftig auch jahrliche Sonderausstellungen anbie­ten.

Danksagen m6chte ich allen Sponsoren, Institutio­nen und Museen in Deutschland, Osterreich und der Schweiz, die durch finanzielle Zuwendung und Leih­gaben dieses Museum zu einem ganz besonderen Anziehungspunkt werden lassen.

Besonderen Dank bin ich meinem Mitarbeiter, Herrn Dr. M.A. Rauschmann und Herrn Priv.-Doz. Dr. K.-D. Thomann, Orthopade und Medizinhistoriker, sowie Herrn T. Guttandin, Diplom-Designer, schuldig, die das Museum konzeptionell gestalten. Herr A. Uschold und Frau J.Ruppelt haben einen GroBteil

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VI Vorwort

der Exponate fiir den Katalog fotografiert. Ohne die tatkraftige Unterstiitzung und den Einsatz von Frau Dr. G. Volkert, Frau B. Riegel und Herrn K. Schwind, Steinkopff Verlag, hiitte der Katalog in dieser Form nicht erscheinen konnen - auch ihnen sei herzlich gedankt.

Der Museumsverein veranstaltet jiihrlich medizin­historische Symposien, die in Form von Jahrbiichern im Steinkopff Verlag herauskommen werden.

Mit dem Museumskatalog liegt nun der erste Jahr­buch-Band vor.

Moge dieser Katalog das Interesse an dem Museum wecken und spiiter - nach dem Besuch - eine anre­gende Erinnerung bleiben.

Vielleicht entschlieBt sich auch der eine oder an­dere, dem Forderverein beizutreten - auf daB das Orthopiidiemuseum weiterhin bliihe, wachse und ge­deihe.

Frankfurt, im Mai 1999 L. Zichner

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Gedruckt mit freundlicher Unterstiitzung von

Aesculap AG & Co. KG, 78532 Tuttlingen Otto Bock, Orthopadische Industrie, 37105 Duderstadt Waldemar Link GmbH & Co., 22315 Hamburg Robert-Bosch-Stiftung GmbH, 70184 Stuttgart Speer Orthopadie-Technik, 66482 Zweibrucken Stryker-Howmedica-Osteonics Howmedica GmbH, 24232 Schonkirch Verein zur Forderung der Orthopadie und Sportmedizin e.v., 60528 FrankfurtIMain

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Abbildungen Nr. 1, 16, 17, 18, 21, 22, 23, 25, 27, 28, 29, 30, 32, 34, 36, 37, 38, 39, 40, 43a-c, 51, 53, 54, 59, 61, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 83, 85, 86, 89, 90, 91 fotografiert von Anders Uschold und Judith Ruppelt.

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Inhaltsverzeichnis

Die Griindung des Museums 1

Orthopadie, ein Fach mit Geschichte 3

Private orthopadische Heilanstalten im 19. Jahrhundert 4

Diakonie und Caritas nehmen sich der K6rperbehinderten an 7

Die orthopadische Chirurgie etabliert sich 10

Der Staat entdeckt die Bedeutung der Orthopadie 13

Orthopadie und N ationalsozialismus 16

Vom »Kriippelheim« zur Universitatsklinik »Friedrichsheim« 21

Palaopathologie 24

Anatomie 28

Die Anfange der Chirurgie 30

Bernhard Heine 32

Der aufrechte Gang 37

Krankheiten der Wirbelsaule 38

Rachitis 42

Skoliose 45

FuBfehlstellungen 49

Hiiftdysplasie - Hiiftluxation 55

Kinderlahmung (Poliomyelitis) 59

Page 10: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

X Inhaltsverzeichnis

N arkose und Schmerztherapie im Wandel der Zeit 63

Antisepsis und Asepsis 66

Rontgen 68

Rontgenganzaufnahme 71

Heilgymnastik, Massage und physikalische Therapie 73

Naturheilkunde und Orthopadie 79

Korsettversorgung 83

Ersatz der unteren Extremitaten 86

Ersatz der oberen Extremitaten 91

Knochenbruchbehandlung 96

Endoprothetik 100

Minimalinvasive Chirurgie der Gelenke 105

Sponsoren 109

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Die Griindung des Museums

1 959 wurde das Deutsche Orthopadische Ge­schichts- und Forschungsmuseum auf Anregung von G. HOHMANN in Wiirzburg gegriindet. In den folgen­den Jahrzehnten war das Museum in der Orthopadi­schen Universitatsklinik Konig-Ludwig Haus unter­gebracht. Unter der Leitung von A. RUTT und vielen ehrenamtlichen Mitarbeitern gelang es, die Bestande immer weiter auszubauen. Voraussetzung hierfUr waren Spenden, die Schenkung von Nachliissen, un­ter anderem von B. VALENTIN und die Unterstiitzung der Deutschen Gesellschaft fUr Orthopadie und Traumatologie. Aus Platzgriinden wurde das Mu­seum 1995 nach Frankfurt am Main verlegt und 1998 wiedererOffnet.

Abb. 1. Prof. GEORG

HOHMANN: Leiter der Orthopadischen Universitatskliniken Frankfurt (1930-1946) und Miinchen (1946-1954)

Prof. Georg Hohmann 1880-1970

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Orthopiidl' . 1880-1970

A. RUn Orthopiide. gC'b. 1918

H. VAI.E TIN

OrthopiidC', 1885- 1965. 1919-1922 Assistl'nl linter K. LudlolT alll

»Fl'iedrir.hshl'im«; 1924-11)36 Chcfarzt dl'r Or Lhopiidisch('n Klinik

Illlustift in Ilannovl!r. ansrhli('('\end rrzwun ­gf'ne Emigralion nat;h Siidamrri ka: LItOI'

dpr »Gcsch ichll' del' Or lhopiidie«

Page 12: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

2 Die Griindung des Museums

Endoprothese: Kiinst­licher Gelenkersatz

Das Orthopiidische Museum gibt Einblicke in

- die Geschichte des menschlichen Korpers - seinen Wandel im Laufe des Lebens - Erkrankungen der Bewegungsorgane - die Behandlung aus historischer und aktueller

Sicht.

Das Orthopiidische Museum sammelt und erhiilt

- Gegenstande und Hilfsmittel, die der Vorbeugung und Behandlung von Erkrankungen oder Verande­rungen des menschlichen Korpers dienen oder ge­dient haben

- Bucher, Zeitschriften und Broschuren zur Vervoll­standigung der Bibliothek

- Dokumente, Abbildungen, ungedruckte Quellen und N achlasse.

- Endoprothesen, Implantate und anatomische Pra­parate.

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Abb. 2. Postkarte aus dem Griindungsjahr des Orthopadischen Museums, anlaBlich der 47. Tagung der Deutschen Orthopiidi­schen Gesellschaft

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Orthopadie, ein Fach mit Geschichte

1 741 verOffentlichte der franzosische Arzt NICOLAS ANDRY ein Buch fUr Eltern, dem er den Titel »Or­thopadie« gab. Ganz im Sinne der Autklarung for­derte er eine natiirliche Aufzucht der Kinder, nichts diirfe sie einengen, Geist und Korper miiBten sich trotz aller Zivilisation ungehindert entfalten konnen. ANDRY empfahl. Verkriimmungen der Wirbelsaule und der Beine durch Schienen zu korrigieren. Dieser Vorschlag war revolutionar, denn bisher galten Ver­kriippelungen als gottgegeben und kaum beeinfluB­bar. Andry verglich die Aufgabe des Orthopaden mit der eines Gartners, der einen verwachsenen Baum an einen kraftigen Pfahl anschlingt. 1m Laufe der Zeit korrigiert das Wachstum die Fehlstellung.

Der Vorschlag ANDRYS richtete sich an Eltern und Erzieher, wurde aber schon bald von Mechanikern und A.rzten aufgegriffen. Bereits 1780 erOffnete J.-A. VENEL in Orbe (Schweiz) die erste orthopadische Heilanstalt der Welt. 1816 griindete der Wiirzburger J. G. HEINE das »Carolinen-Institut« und 109 damit Patienten aus vielen Landern Europas an.

Inzwischen sind mehr als 250 Jahre vergangen. Viele Krankheiten sind verschwunden, andere an ih­re Stelle getreten. Kaum ein Kind muB heute noch an einer Hiiftluxation oder einem KlumpfuB leiden. Fehlanlagen werden friih erkannt und meist vollig geheilt. Die operative Behandlung ersetzt zerstorte Gelenke, iiberbriickt Knochendefekte bei bosartigen Tumoren und kuriert Bandscheiben- und Gelenker­krankungen durch Minimaleingriffe.

N. i\NORY Mlt. 165 -1742 Bl'gri.inder lind l\amensgebrr drr OJ'lhop~idie

.1.- . VE. Ft i\rzl, l 740-179l. GrUndN dl's N<;len orthopadischen Institu­tes

J. G. IIE1:-1E Orthopiidicmcchan i kr r, 1770- 1838

Hiiftluxation: Hiiftaus­renkung auf dem Boden einer angeborenen Fehlbildung der Hiiftpfanne

KlumpfuB: Angeborene Fehlbildung des FuBskelettes

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Private orthopadische Heilanstalten im 19. J ahrhundert

Die Orthopaden des 19. Jahrhunderts behandelten fast ausschlieBlich Kinder und Jugendliche. Sie nutz­ten das Wachstum, urn Formabweichungen zu korri­gieren. 1m Vordergrund standen FuBfehlbildungen, x- und O-Beine sowie die seitliche Wirbelsaulenver­biegung (Skoliose). Der Korper wurde in Apparate, Korsetts und Schienen gezwangt, die der Fehlstel­lung entgegenwirkten. Haufig wurde diese Therapie durch eine Gymnastik zur Kraftigung der Muskula­tur erganzt. 1m Laufe von Monaten und Jahren nor­malisierten oder besserten sich die Haltungsfehler.

Lange Verweilzeiten, hohe Kosten

Diese zeitaufwendige Behandlung wurde nur statio­nar durchgefiihrt. In vielen Stadten Europas entstan­den orthopadische Privatheilanstalten, die von Arz­ten oder medizinischen »Laien«, zum Beispiel Me­chanikern, gegriindet und geleitet wurden. Verweil­zeiten von iiber einem Jahr waren die Regel. Da nicht selten Angehorige mitaufgenommen wurden, konnten sich nur begiiterte BevOlkerungsschichten die orthopadische Behandlung ihrer Kinder leisten. Allerdings stellten manche Heilanstalten armen Kranken einzelne Freiplatze zur Verfiigung. Gele­gentlich iibernahmen die Armenverwaltungen der Stadte oder der Staat die Kosten der stationaren Therapie.

Bedeutende Institute bestanden unter anderem in Wiirzburg, Cannstatt, Stuttgart, Berlin und Hanno­ver.

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Private orthopiidische HeilanstaIten im 19. Jahrhundert 5

Abb. 3. Links: Junge mit beidseitigen Genu valgum vor der Be­handlung (c. TEMMINK, 1888). Rechts: Gleicher Junge nach der Behandlung (c. TEMMINK, 1888)

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Abb. 4. Patientenliste der Seebadanstalt in Scheveningen bei Den Haag von JOHANN GEORG HEINE, 1835

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6 Private orthopiidische Heilanstalten im 19. Jahrhundert

Orthopiidische Heilanstalten fur arme Patienten

Die erste orthopadische Heilanstalt in Deutschland, die sich bewuBt mittellosen Kranken widmete, war die »Armen Anstalt fiir Verkriimmte im Paulinen-In­stitut zu Stuttgart«. Sie wurde im November 1845 gegriindet und besteht unter dem Namen Orthopadi­sche Klinik Paulinenhilfe noch heute. In den ersten 25 Jahren ihres Bestehens wurden knapp 500 Pa­tienten behandelt.

Die orthopadischen Heilanstalten des 19. Jahrhun­derts konnten nur einen kleinen Teil der Hilfsbediirf­tigen aufnehmen. K6rperbehinderung wurde noch nicht als ein soziales Problem angesehen. Es dauerte 44 Jahre, bis 1889 mit der Hiifferstiftung in Miinster die zweite orthopadische Klinik fiir arme Patienten in Deutschland erOffnet wurde.

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Diakonie und Caritas nehmen sich der Korperbehinderten an

D ie Industrialisierung und Verstadterung begiin­stigte die Entstehung »sozialer Krankheiten«. Rachi­tis, Tuberkulose und andere Infektionskrankheiten hinterlieBen nicht selten korperliche Dauerschaden. Behinderte Kinder und Jugendliche hatten weder ein Anrecht auf medizinische Therapie noch schuli­sche Ausbildung. Ihr Weg in Armut und Blend schien vorgezeichnet. In dieser Situation nahmen sich die Innere Mission und spater die Caritas der Korperbehinderten an. Am Oberlinhaus in Nowawes bei Potsdam entstand 1886 auf Anregung des Pa­stors THEODOR HOPPE das erste Heim fUr korperbe­hinderte Kinder. Die Unterbringungskosten wurden von den Armenverwaltungen getragen. Der Erfolg iibertraf aIle Erwartungen. Das Nowaweser Heim wurde zum Vorbild fUr andere konfessioneIle Heime unter anderem in Magdeburg, Kreuznach, Dresden, Angerburg (OstpreuBen), Hannover, Rostock, Stettin, Volmarstein, Zwickau, Arnstadt, Bigge, Braun­schweig und Hamburg. Viele der Heime bestehen noch heute, sie haben sich zu modernen orthopadi­schen Kliniken entwickelt.

»Krilppel« und »Krilppelheime«

Die konfessionellen Leiter der Heime bezeichneten die orthopadisch Kranken als »Kriippel«, ihre Ein­richtungen als »Kriippelheime«. Sie wahlten bewuBt die abwertende Bezeichnung, urn Mitleid in der Be­v61kerung zu erwecken und die Spendenfreudigkeit zu erhohen. Ihre Rechnung ging auf. Es gelang ih­nen, innerhalb kurzer Zeit groBe finanzielle Mittel fUr den Bau der Kriippelheime zu sammeln. Die Wahl des Schimpfwortes »Kriippel« war zwar sozial-

T.IIOI'I'E Evangrlisrher I'["arrrr. ] 46- 1934. Dircklor dl's Oberiinhulises vun 1879 bis 1929

Page 18: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

8 Diakonie und Caritas nehmen sich der Kiirperbehinderten an

politisch wirkungsvoll, diskriminierte jedoch die K6r­perbehinderten. Viele Eltern wehrten sich gegen die Aufnahme ihrer Kinder in ein Kruppelheim.

»Krilppelheime« -moderne Zentren der Rehabilitation

Die »Kruppelheime« hatten die vollstandige gesell­schaftliche Integration der orthopadisch Kranken zum Ziel. Sie setzten sich aus vier miteinander ver­zahnten Bereichen zusammen: 1. Schule 2.orthopadische Klinik 3. Berufsausbildung 4. Werkstatten fur Behinderte.

Page 19: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Diakonie und Caritas nehmen sich der Korperbehinderten an 9

Abb. 5. Kinder aus den Diakonischen Anstalten in Kreuznach urn 1904, von N. SCHMITHALS

Abb. 6. Schulunterricht in den Diakonischen Anstalten in Kreuz­nach urn 1904, von N. SCHMITHALS

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Antisepsis: Hemmung bzw. Vernichtung von

Wundinfektionserregern durch antiseptische

Losungen

Asepsis: Keimfreiheit aller Gegenstiinde. die

mit der Wunde in Beriihrung kommen

Arthrodese: Geienkversteifung

1\. Ii0FFA Orlhopiidc. 1859-] 907.

Verfasscr des »Lehr­buches der Ortho­

piidisehcn Chi rurgic«

A. LORENZ Orthopiide. 1854-1 <)46 .

Von 1889-1924 Leitl'!" d s Orlhopadischpn

Ambu latoriums in Wicl1

G . . IOAtHI 15TII"" Orlhopiide. 1863-1914.

b 1908 Leiter del' Polikli nik fUr O!"lho­

pUdischl Chirurgic B rlin

J. vo MIKULICZ­HADECK I

Chi rurg. 1850-1905. (M iku lic:z-Linio)

1\. SCIIANZ Orlhopiidc. 1868-1931

( chanz-Krawatt • ·chanz-Ostcotomie

u. chanz-Sc:hraube)

Die orthopadische Chirurgie etabliert sich

D ie Einfiihrung der Anti- und Asepsis erOffnete der Chirurgie neue Horizonte. Bis zu diesem Zeitpunkt waren operative Eingriffe an Knochen und Gelenken nur bei vitaler Indikation zu rechtfertigen. Nun war es moglich, verbogene Knochen operativ zu begradi­gen, freie Korper zu entfernen und geUihmte Glied­maBen durch die Arthrodese wieder funktionsfahig zu machen. Einige Arzte spezialisierten sich auf Ein­griffe an den Bewegungsorganen. Besonders zu er­wahnen ist A. HOFFA, der nach chirurgischer Ausbil­dung und Habilitation 1886 eine Privatklinik fUr or­thopadische Chirurgie in Wiirzburg erOffnete und im Laufe der folgenden Jahre zu internationaler Bedeu­tung gelangte. Er inaugurierte eine Vielzahl von Operationen unter anderem zur Behandlung der Hiiftluxation und verfaBte grundlegende Lehrbiicher zur Orthopadie und Traumatologie. Die Grtindung der noch heute erscheinenden Zeitschrift fiir Ortho­padie im Jahre 1892 geht auf ihn zuriick.

Vor aHem das von A. LORENZ ab 1895 entwickelte Verfahren zur unblutigen Einrenkung der Hiiftge­lenksluxation bereicherte das Spektrum der orthopa­dischen Therapie erheblich. Bereits 1901 wurde die Deutsche GeseHschaft fiir orthopadische Chirurgie von G. JOACHIMSTHAL, A. LORENZ, J. VON MIKULICZ­RADECKI, A. SCHANZ und H. HOEFTMANN gegriindet.

1m Vordergrund der orthopadischen Chirurgie stand die Behandlung der Wirbelsaulenleiden, FuB­erkrankungen, des X-Beines, der Hiiftluxation und anderer angeborener bzw. erworbener Deformita­ten.

Page 21: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Die orthopiidische Chirurgie etabliert sich 11

Abb. 7. HOFFA mit Mitarbeitern 1896: 1. Reihe: A. HOFFA und un­bekannt; 2. Reihe: V. SIMON, K. DEUTSCHLANDER und A. ALSBERG

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Abb. 8. Titelblatt der ersten Ausgabe der Zeitschrift fur Orthopii­dische Chirurgie, 1892

Page 22: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

12 Die orthopiidische Chirurgie etabliert sich

t-L 1-IOEFrM N

Orthopiide, 1851-1917

J. G. ZANDER

rzt, 1835-1920

Abb. 9. ADOLF LORENZ und Mitarbeiter, wiihrend einer Reposition des linken Hiiftgelenkes

Neben der operativen profitierte auch die konser­vative Orthopadie und Orthopadietechnik von der Aufbruchstimmung. 1908 verOffentlichte A. SCHANZ das Handbuch der orthopadischen Technik. Zur glei­chen Zeit gewann die Physiotherapie an Bedeutung. Zu nennen ist neben der schwedischen Heilgymna­stik die maschinelle Therapie nach GUSTAF ZANDER, fUr die sich der Begriff »Medikomechanik« einbiir­gerte.

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Der Staat entdeckt die Bedeutung der Orthopadie

U rn die Jahrhundertwende hatte sich die Orthopa­die als leistungsfahiges Spezialfach etabliert. Die konfessionellen »Kriippelheime« bewiesen, daB die Rehabilitation Korperbehinderter in die Gesellschaft moglich war. Allerdings waren weder die Arzte noch die Kirchen aHein in der Lage, ein flachendeckendes Netz von Kliniken und Rehabilitationszentren zu griinden. Es bedurfte nur noch eines AnstoBes, urn Staat und Offentlichkeit von der Bedeutung der Or­thopadie zu iiberzeugen.

Diese Aufgabe iibernahm der junge Arzt K. BIE­SALSKI. Auf seine Anregung wurde am 10.10.1906 eine reichsweite »Kriippelzahlung« durchgefiihrt.

Die Zahlung starkte die SteHung der Orthopaden. Biesalski konnte befriedigt feststeHen:

»Wenn irgend etwas geeignet erscheint, die Exi­stenzberechtigung und Notwendigkeit der Orthopii­die als SpezialwissenschaJt zu beweisen, so ist es die ungeheure Fiille des aus den Zahlen der Stati­stik hervorspringenden Kriippelelends ... Den Ortho­paden fallt bei der Krilppeljilrsorge im ganzen be­trachtet die Hauptarbeit zu.«

»Aus Almosenempjangern werden Steuerzahler«

Dieses Motto befliigelte die Entwicklung bis zum 1. Weltkrieg. Die Zahlung hatte das Eis gebrochen. Der Ausbau der Orthopadie wurde zu einer nationa­len Aufgabe. In vielen Stadten entstanden Vereine zur Griindung orthopadischer Krankenhauser, die von Staat und Kommunen unterstiitzt wurden. Die Armenverwaltungen versprachen sich von den neu­en Kliniken einen Riickgang der Unterhaltszahlun-

K. SIESAL KI

Orthopiide, 1868-1930. Bis zu seinem Tode Arztlicher Direktor des Oscar-Ilelcne- Ileimes in Berlin

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14 Der Staat entdeckt die Bedeutung der Orthopiidie

gen an Behinderte, die Regierungen eine Zunahme der Wirtschaftskraft und militarischen Bedeutung Deutschlands. Die Mehrzahl der heutigen orthopadi­schen Universitatskliniken entstand im Rahmen die­ser innenpolitischen Bewegung.

1902 1912 53 Hcirne mit j2391k1ten

Ennv.itkelunu der Ans1A11sfUrsorge-

Abb. 10. Ergebnisse zur »Kriippelziihlung«; Zeitschrift fUr Kriippel­fUrsorge 5, 1912

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Der Staat entdeckt die Bedeutung der Orthopadie 15

Der erste Weltkrieg verzogerte den Bau der Klini­ken nur fUr kurze Zeit. Einige Hauser wurden direkt nach ihrem Neubau als Reservelazarette genutzt. Die groBe Zahl der Beschadigten, die der Krieg hin­terlieS, unterstrich noch einmal die Bedeutung der Orthopadie. Trotz finanzieller Schwierigkeiten wurde 1920 das »PreuBische Kriippelfiirsorgegesetz« ver­abschiedet. Es sicherte allen Personen bis zum 15. Lebensjahr das Recht auf unentgeltliche orthopadi­sche Behandlung, schulische und berufliche Ausbil­dung zu. Nur wenig spater, 1924, wurde die Ortho­padie Priifungsfach im medizinischen Staatsexamen. Das neue Fach war nun auch akademisch aner­kannt.

Page 26: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Orthopadie und Nationalsozialismus

D ie N ationalsozialisten hatten vor der Machtiiber­nahme angekiindigt, die Ausgaben fiir »Minderwer­tige«, und hierzu rechneten sie auch die »Kriippel«, radikal zu beschneiden. In der Offentlichkeit ent­stand der Eindruck, die K6rperbehindertenfiirsorge sei kiinftig iiberfliissig. Bereits im Juli 1933 verab­schiedeten sie ein Sterilisierungsgesetz, nach dem unter anderem auch Menschen mit einer »schweren erblichen MiBbildung« zu sterilisieren seien. Dem Text nach fielen in diese Gruppe viele Menschen mit

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Abb. 11. Titelblatt des Gesetzes zur Verhiitung erbkranken Nach­wuchses, 1933

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Orthopiidie und Nationalsozialismus 17

angeborenen orthopadischen Leiden. Aus Sicht der Rassenhygiene lieB sich damit langfristig die Zahl der orthopadisch Kranken verringern. Das Pro­gramm der Nationalsozialisten sah zugleich die F6r­derung der »erbgesunden Familie« vor. Die Jugend soUte k6rperlich ertiichtigt und zur »aufrechten Hal­tung« erzogen werden. Die nationalsozialistische Po­litik wirkte sich unterschiedlich auf die Orthopaden und ihre Patienten aus: Einerseits muBten K6rperbe­hinderte befiirchten, von ihren behandelnden Ortho­paden zur Sterilisierung vorgeschlagen zu werden. Hierdurch wurde das Vertrauensverhaltnis beein­trachtigt. Andererseits fiihlten sich viele Orthopaden von dem Gedanken der »Verhiitung erbkranken N achwuchses« und dem Aufbau einer leistungs­orientierten GeseUschaft angezogen. Dieser Wider­spruch soUte die Beziehung zwischen den neuen Machthabern und den Orthopaden wahrend der zw61fjahrigen Diktatur pdigen.

Die nationalsozialistischen Ziele treffen auf Zustimmung . ..

Auf dem Orthopadenkongress 1933 versicherte der bisherige Vorsitzende FRANZ SCHEDE ADOLF HITLER die riickhaltlose Unterstiitzung der Orthopaden. Die Kriippelfiirsorge soUte nur denjenigen Behinderten zukommen, die dadurch arbeitsfahig wiirden, »un­heilbar Sieche« und »bildungsunfahige Kriippel« wa­ren von ihr auszuschliessen. Von Ausnahmen abge­sehen bekdiftigten auch die Leiter der folgenden Kongresse ihre innige Verbundenheit mit den Natio­nalsozialisten. Die Sterilisierung von Patienten mit »erblicher« Hiiftluxation wurde von verschiedenen Orthopaden, z. B. K. MAD, M. LANGE und H. ECK­HARDT, befiirwortet.

... und - gelegentlich - auf Kritik

Aber nicht aUe Orthopaden stimmten der nationalso­zialistischen Politik zu. Manche grenzten sich ab, es lassen sich Zwischent6ne vernehmen, der eine oder

F. Sell!'!)" Orlhup~idl', I H::!-1976 (I.('ill'r dN orlho­pHd ischcn lliH'rsilHlS­kli nik in Lf'ipzig bis 1947)

K. VI,\

1890-L958 1- \' LA:"GE

1899-1975

Page 28: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

18 Orthopiidie und N ationalsozialismus

M. I I CKE, BnOClI

1894-1979

L. KHEUZ 1888-1969

K. GA CELE

1878-1942

andere auBerte sich in wichtigen Einzelfragen ableh­nend. Der Kolner Professor M. HACKENBROCH vermied bei der KongresserOffnung 1935 jede Anbiederung an die Nationalsozialisten. L. KREUZ, der einfluBreiche Berliner Orthopade, warnte ebenso wie K. GAUGELE (Zwickau) eindringlich vor einer Sterilisierung von Personen mit Hiiftgelenkluxationen oder Klumpfii­Ben. Immer wieder wandten sich Arzte gegen eine Einschrankung der Korperbehindertenfiirsorge.

Von 1937 bis 1945 stand der Frankfurter GEORG HOHMANN an der Spitze der Orthopadischen Gesell­schaft. Er entsprach nicht dem Typ des nationalso­zialistischen Fiihrers. Nach dem ersten Weltkrieg war er liberaler Abgeordneter im Bayrischen Land­tag, noch 1932 unterzeichnete er einen Professoren­aufruf gegen den Antisemitismus. Obwohl HOHMANN eine hohe Funktion ausiibte, vermied er in den Mit­gliederversammlungen jede Annaherung an die Machthaber. Es diirfte nicht zuletzt das Verdienst HOHMANN'S sein, daB die Zeitschrift fiir Orthopadie den Namen des Begriinders ALBERT HOFFA auf dem Titelblatt fiihrte, obwohl er aus einer jiidischen Fa­milie stammte. Die Aufsatze, die bis 1945 verOffent-

Abb. 12. Sommerfest des K6rperbehindertenheimes »Alten Ei­chen« bei Altena urn 1938

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Orthopiidie und Nationalsozialismus 19

licht wurden, sind mit wenigen Ausnahmen sachlich. Selbst jiidische Autoren wurden weiterhin zitiert.

HOHMANN wurde 1945 erster Rektor der wiederer­Offneten UniversiHit Frankfurt am Main, ab 1947 stand er der Miinchner UniversWit vor.

1947 wurde HOHMANN erneut zum Vorsitzenden gewahlt, er betrauerte den Verlust vieler Mitglieder, die in »den beriichtigten Lagern« inhaftiert, in die Emigration gezwungen oder in »grauenvoller Weise« umgebracht worden seien.

Orthopiiden jiidischer Abstammung, die in die Emigration gezwungen wurden

H. J. BETTMANN (Leipzig) J. FUCHS (Baden-Baden) E. GUTMANN (Coburg) E. HEILBRONNER (Stuttgart) HEYDE MANN (Berlin) J. HASS (Wien) P. HOFMANN (Kassel)

W. Michaelis (Leipzig) E. NEUSTADT (Berlin) W. V. SIMON (Frankfurt) B. Valentin (Hannover) WISBRUN (DiisseldorO R. Zuelzer (Potsdam)

Erbbiolo i der

an hoI' n n Korp rf hi r

Abb. 13. M. LANGE:

Erbbiologie der angeborenen Kiirper­fehler, 1935

p",r. Dr. L\X L IN .:

1 . 9 · 3 · l .' F. R Il , .\'0 t 'K £ \ t.HU T TTC~HT

Page 30: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

20 Orthopiidie und Nationalsozialismus

»Wertvolle« und »minderwertige« Korperbehinderte

Bereits kurz nach der Machtiibernahme korrigierten die Nationalsozialisten ihre anfanglich ablehnende Haltung zur Korperbehindertenfiirsorge. Durch eine Integration der Korperbehinderten in die »Volksge­meinschaft« lieBen sich Kosten sparen und Arbeits­krafte gewinnen. Da der Begriff »Kriippel« die Inte­gration behinderte, wurde er durch die wertfreie Be­zeichnung »Korperbehinderter« ersetzt. Damit er­fiillten die Nationalsozialisten zugleich eine lange ge­hegte Forderung der Betroffenen. Ausdriicklich wur­de betont, daB Personen mit orthopadischen Veran­derungen »rassisch wertvoH« seien und das Sterili­sierungsgesetz vor aHem fiir geistig und seelisch »Minderwertige« gedacht sei. Dem entsprach die Praxis. 1934 entfielen nur 0,3% aHer Unfruchtbar­machungen auf korperliche MiBbildungen, hieran soHte sich auch in den nachsten Jahren nichts we­sentliches andern.

Ein anderes Schicksal erwartete Mehrfachbehin­derte, vor aHem geistig Behinderte, spastisch Ge­lahmte und seelisch Kranke, bei denen zusatzlich ein orthopadisches Leiden bestand. Diese Personen wurden als »Kriippelsieche« bezeichnet, ihre Reha­bilitation war wirtschaftlich nicht lohnend. Sie gal­ten als »Ballastexistenzen«. Unter den zwischen 1939 und 1941 ca. 70000 Menschen, die im Rahmen der Euthanasie getOtet wurden, befanden sich auch Menschen mit orthopadischen Krankheiten.

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Vom »Kriippelheim« zur Universitatsklinik »Friedrichsheim«

A m 22. Februar 1908 fand eine erste 6ffentliche Ver­anstaltung in Frankfurt am Main statt, mit der fUr die Grundung einer Einrichtung fUr K6rperbehinderte ge­worben wurde. Diese Initiative wurde von dem Ober­burgermeister F. ADICKES und einfluBreichen Burgern unterstiitzt. Ein Jahr spater, am 21. 3. 1909 wurde der »Verein fUr KruppelfUrsorge fUr die Bezirke Wiesba­den und Frankfurt am Main« gegrundet. Den finan­zieUen Grundstock legte die Fabrikantenwitwe ELISA­BETH KONIG. Neben 200000 Reichsmark uberschrieb sie dem Verein sechs Morgen Land in der besten Wies­badener Villengegend auf dem Neroberg. Hier soUte das neue »Kruppelheim« entstehen. Allerdings schei­terte dieser Plan am Widerstand wohlhabender Bur­ger. Die Stadt Wiesbaden lehnte daraufhin die Schen­kung mit folgenden Worten ab: »Hier in der Weltstadt wiinscht man nicht, das Elend der armen Kriippel zu sehen. Man muj3 aufdie Luxusfremden Riicksicht neh­men. Man lebt von ihnen.«

Der Verein wich nach Frankfurt aus und nahm das Angebot der Stadt an, in der Nahe des Stadti­schen Krankenhauses eine »orthopadische Heil- und Erziehungsanstalt« zu errichten. 1m August 1913 be­gannen die Bauarbeiten. Die Einrichtung wurde nach dem Ehemann der Stifterin, FRIEDRICH KONIG, »Friedrichsheim« genannt. Nach ihrer Fertigstellung im Oktober 1914 diente die Klinik als Reservelaza­rett. Arztlicher Direktor des Friedrichsheims wurde K. LUDLOFF, 1919 wurde er zum Professor berufen. LUDLOFF leitete die Klinik bis zur Ubergabe an sei­nen Nachfolger G. HOHMANN. Die Grundung der Lehranstalt fUr Massage (1923) und fUr Kranken­gymnastik (1928) trug der groBen Bedeutung der Physiotherapie innerhalb der Orthopadie Rechnung.

K. LUDLOFF

1864-1. 945, i\rztlicher Di rckto r von 1914 bis 1930

Page 32: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

22 Vom »Kriippelheim« zur Universitiitsklinik »Friedrichsheim«

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lht'''nd'j •• ,. tUI~'''_lta'' "'l1li"".. 401$156 C!luUl1u.,I~n: Dr • .Atlcha IIlClb\.inn: Dr. Uonnrlll: "lIb.l. ntf1lb. Bop Obrr1\:lIItll&nftollt Dr. Ihlpt't'b 1I1um ClOI"nI'DIl allll1ifl,lnlahal ~H.lm HI,"r

~l:'~:: t,~~!:l !)"foli~h.1 ~i~~~ D':;,.!~~'U bhfl~~p,".hlll 'tI'lInn D, £bit,. MurillO lh-Ittfl'. 6t...~ntlh~'t !a.. :::~:: ::: ~f':~ ' ~~~;bt[~,:(;~t,~'t;11,~n! I" ~ Gt\rlllln RMN~nnl Dr, ,GaM n'l. lIotll"ll"'.~.'~1 '0111 .MUUal

\L !to B. G1:1I:11I II; Ik) lfDm~u,l!.,c.t IL. PUIiTlat..Golllwd

t~Q~ Ob~,t~::~'!~I,"llibrnl Dr. =~I~IU'l~.·lI;r, .od. Sdunilh. U ..... , Oorfl~bt btl litt,,· IIlldltllll I4nD. f la.,nwulllt "0. "tl...... '{t;!n. "4,lul 111Ib 61rU·

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Abb. 14. Anzeige aus dem »Intelligenzblatt« iiber eine Versamm­lung am 22. 2. 1908 tiber die Grtindung eines »Krtippelheimes« in Frankfurt am Main

Abb. 15. Die Orthopiidische Klinik »Friedrichsheim« urn 1914

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Yom »Kriippelheim« zur Universitatsklinik »Friedrichsheim« 23

Am 22.3.1944 zerstorten Bomben das Friedrichs­heim fast vollig. Ein Notbetrieb wurde in SchloB Get­tenbach bei Biidingen (Oberhessen) bis zum Ab­schluB des Wiederaufbaus im Jahre 1951 aufrecht erhalten.

Unter der Leitung von E. GUNTZ erlangte die Kli­nik einen besonderen Ruf in der Behandlung von Wirbelsaulenerkrankungen. Die Welle der Conter­ganschaden fiihrte zur Errichtung einer Sonderstati­on und eines Forschungslaboratoriums fiir Techni­sche Orthopadie.

Unter der Leitung von W. HEIPERTZ wurde die Kli­nik durch Neu- und Umbauten kontinuierlich erwei­tert. So entstanden neben weiteren Bettenhausern vor allem der op-Trakt mit Poliklinik und Rontgen­abteilung. Die Forschung der 70er Jahre wurde ge­pragt durch die stiirmische Entwicklung der Endo­prothetik.

Weitere Schwerpunkte wurden fiir die Sportme­dizin und Knochenerkrankungen gebildet. Unter L. ZICHNER stehen unter anderem die Zellforschung, die Zelltransplantation, die Extremitatenverlange­rung und die minimalinvasive Chirurgie im Mittel­punkt des wissenschaftlichen Interesses.

E. GUNTZ (1903- 1973) i\rztlie!wr Direktor von 1951 bis 1961

W . IIEIPEIITZ

(~eb. 1922) Arztlicher Dirt'klor von 1961 bis 1990

I.. ZICIINEH

(gob. 1942) Arztliclwl" DirC'klor snit 191)2

Page 34: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Osteochondrose: Degenerative Verande­

rung der Grund- und Deckplatte des Wirbel­

korpers

Koxarthrose: Hiiftgelenkarthrose

Osteomyelitis: Bakterielle Infektion

des Knochens

Spondylitis: Entziindung des Wirbelkorpers und

der Bandscheibe

Osteosarkom: Bosartiger Knochen­

tumor

Plasmozytom synonym Multiples Myelom und

Morbus Kahler: Bosartiger Tumor des

blutbildenden Systems

Morbus Paget synonym Osteodystrophia

deformans: Erkrankung der Osteoklasten

(KnochenfreBzellen) unklarer Herkunft

Skoliose: Wirbelsaulen­verkriimmung

PaHiopathologie

Menschliche Knochen sind haufig die einzigen sterblichen Reste, die tiber Jahrtausende erhalten bleiben. Die Paliiopathologie beschaftigt sich mit der Erforschung der Lebensbedingungen und Krankhei­ten des Menschen in der Geschichte. Sie vermittelt uns Kenntnisse tiber eine Vielfalt von Veranderun­gen am Skelettsystem: _ Degenerative Prozesse (Osteoporose, Osteochon­

drose, Koxarthrose) - Entztindliche Veranderungen (Tuberkulose, Syphi­

lis, Osteomyelitis, Spondylitis) Posttraumatische Zustande (Knochenbrtiche und Luxationen)

- Tumor6se Entartungen (Osteosarkom, Plasmozy­tom, Morbus Paget) Anomalien und MiBbildungen (Skoliose, Hemisa­kralisation, Spondylolyse, Ankylose)

- Stoffwechselerkrankungen (Rachitis, Morbus For­restier)

- Zahn- und Kiefererkrankungen.

Page 35: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Abb. 16. Oben: Trok­kenpraparat einer Lendenwirbelsaule in Frontalansicht mit Morbus Forrestier; Unten: Das gleiche Praparat in schrager Ansicht. Institut fiir Pathologie »Georg Schmorl«. Klinikum Dresden Friedrichs­stadt. Dresden

Paliiopathologie 25

Morbus Forrestier. auch Hyperostosis ankylosans vertebralis senilis: Ausgepriigte degenera­tive Veriinderung der Wirbelsaule. haufig beim alteren Menschen in Verbindung mit Stoff­wechselerkrankungen

Page 36: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

26 Paliiopathologie

Hemisakralisation: Halbseitige Vereinigung

des 5. Lendenwirbels mit dem 1. Kreuz­

beinwirbel

Spondylolyse: Spalt­bildung der Zwischen­

wirbelgelenkregion

Ankylose: Kni.icherne oder kapsuliire

Gelenkversteifung

Rachitis: Knochener­weichung aufgrund von

Vitamin D-Mangel

Osteoporose: Quantitative Verminde­

rung des Knochen­gewebes bei weitgehend

erhaltener Knochen­struktur

Diese Befunde lassen Riickschli.isse iiber Umweltein­fliisse, Lebensalter und Erkrankungen der damals lebenden BevOikerung zu. Aus ihnen ergibt sich zum Beispiel, daB Frauen im 3.-6. Jahrhundert n. Chr. an Osteoporose litten und Arthrosen bereits bei den Neandertalern auftraten. Auch die Tuberkulose ist keine »moderne Krankheit«, sie bestand schon vor 4000 Jahren in Europa.

Abb. 17. Trockenpriiparat einer Lendenwirbelsiiule (Sagittal­schnitt) mit hochgradigen osteoportischen Veriinderungen. Insti­tut fur Pathologie »Georg Schmorl«, Klinikum Dresden Friedrichs­stadt, Dresden

Page 37: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Abb. 18. Pathologische und palaopathologische Knochenpraparate zu einem Skelett zusammengefiigt

Palaopathologie 27

Page 38: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Anatomie: Lehre von Form

und Korperbau der Lebewesen

F. T. ' J)EDEMA '

Anatom , 1781-1861

GALE I os V. PEIlGAMON

Arzt lind atllrwissen­schartlel',129- 199

A. VESALIUS

Anatom lind Chirllrg, 1514-1564

Anatomie

»A rzte ohne Anatomie gleichen Maulwiirfen. Sie arbeiten im Dunkeln und ihrer Hande Tagewerk sind - Erdhiigel.«

Dieser von F. T. nEDEMANN gepragte Satz be­schreibt die groBe Bedeutung des Faches Anatomie fiir die Medizin. Bereits in der Antike beschaftigten sich Arzte mit diesem Fach. GALENOS VON PERGAMON, ein groBer Naturwissenschaftler seiner Zeit, syste­matisierte die anatomischen Kenntnisse. GALEN be­zog sein Wissen vor aHem aus Sektionen an Tierka­davern und iibertrug die Befunde auf den mensch­lichen Organismus. Der langsame Fortschritt der Anatomie war einerseits in religi6sen Vorbehalten, Schwierigkeiten der Leichenbeschaffung und ande­rerseits mit der kurzen Zeit der Verfiigbarkeit bei fehlenden Fixierungsm6glichkeiten begriindet. Erst 1400 Jahre spater kam es zu einer Wende in der Anatomie, die mit dem Namen A. VESALIUS eng ver­bunden ist. Dieser promovierte in Padua und be­faBte sich intensiv mit dem Bau des menschlichen K6rpers. Er bezog sein Wissen aus der Sektion menschlicher Leichen. 1543 ver6ffentlichte er seine Forschungen in dem Werk »De humani corporis fa­brica«.

Dieses Buch wurde iiber viele Jahrzehnte zum Standardwerk der Anatomen. Es zeigt neb en den anatomischen Praparaten, die haufig in bekannten antiken Posen und in sch6nen Landschaften zur Dar­steHung kommen, auch versteckte Hinweise auf Pra­parationstechniken der damaligen Zeit.

Page 39: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Ein weiterer groBer Schritt nach der Erforschung des Makrokosmos war die Eroberung des Mikrokosmos. R. HOOKE pdigte den Begriff »cellula« bei Beobachtungen an Baumrinden. M. MALPIGHI (1666) U. A. VAN LEEUWENHOEK (1674) entdeckten einzelne Zellen im Blut. Beide Forscher legten damit die Grundlage fUr die Zytologie und Histologie.

Noch heute besitzt die Anatomie einen zentralen Stellenwert in der Medizin. Studenten pdiparieren, wie schon vor vielen Jahrhunderten Leichen, urn die topographischen VerhaJtnisse zu »begreifen«. Diese Moglichkeit ist und wird durch kein computerge­stiitztes Verfahren ersetzt werden konnen.

Abb. 19. Muskelrelief des Riickens. Anatomische Radierung aus DELSENBACH. urn 1769

Anatomie 29

H. IloOKE Malhcmatiker, 1635-1703

Cellula: Kiimmerchen (»Zelle«)

YI. MALPIGIII I\natom und Biologc. 1628-1694 1\. V. I.EEuwENIIOI-:K

·l'uchhlindll)l·. 1632-1723

Zytologie: Zellenlehre Histologie: Gewebelehre

Topographie: Beschreibung der LageverhiiJtnisse von Organen zueinander

Page 40: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Luxation: Ausrenkung eines Gelenkes

II. V. GEIlS))OIlFF

Chirurg. "1"1529

. PAIlE

Chirurg. 1510-1. 90 L. HElSTllH

Chirurg. 1683- 1758 » II 'isLf'rsches Kreuz«

(Korscltbehandlung a ls stUtzende Therapie)

J.-M. DELPECII

Chirul'g.1777- 1832. Mitbegrunder del'

Ileilgymnastik. 1816 OITCllf' Arhillessehn '11-

durchlrennung bei KI um pl"uBdefol'm iliit

SllbklltanB Tenotolllie : DurchLre nnung niner

Sehne du rch ein en kleinen 11a uLschni tt

L. STIlUMEYEIl

Chirurg.1804-1876 . 1831 subkutane

Ourchtrennung der Achillcssehne hei

Kl U III pfuBdc/'urmi Hit

Die Anfange der Chirurgie

D er Begriff Chirurgie kommt aus dem Griechischen. Er setzt sich aus den W6rtern Hand und Arbeit zu­sammen. 1m Gegensatz zum Arzt war der Chirurg fUr lange Zeit ausschlieBlich Handwerker, er renkte luxierte Gelenke ein, verband Wunden und richtete Knochenbriiche. Bereits in den aJtesten medizini­schen Papyri wird die Wundbehandlung ausfUhrlich beschrieben. Die Schulterluxation wird noch heute durch die Methode nach Hippokrates eingerenkt. Gut verheilte Knochenbriiche an historischen Skelet­ten beweisen die Geschicklichkeit der Handwerks­chirurgen. Die medizinische Versorgung der Bev61-kerung lag bis zum 18. Jahrhundert weitgehend in den Hiinden der Chirurgen, Bader und Barbiere .

Die Fortschritte der Anatomie in der Renaissance kamen auch der Chirurgie zugute. Der StraSburger H. VON GERSDORFF ver6ffentlichte 1517 sein »Feldt­buch der Wundartzney«.

Wichtige Impulse erhielt die Chirurgie durch den franz6sischen Chirurgen A. PARE, der die GefaBun­terbindung bei Amputationen einfiihrte.

L. HEISTER aus Frankfurt am Main wirkte als Pro­fessor in den kleinen UniversiHitssHidten Altdorf und Helmstedt. Er gilt als ein bedeutender Chirurg des 18. Jahrhunderts.

Mit Beginn des 19. Jahrhunderts wurden auch vereinzelt orthopadische Erkrankungen operativ be­handelt. J.-M. DELPECH fUhrte die schmerz- und risi­koarme subkutane Tenotomie zur Korrektur von Fehlstellungen ein, ein Verfahren, das von L. STROMEYER weiterentwickelt wurde.

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Die Anfiinge der Chirurgie 31

Abb. 20. Verschiedene Methoden zur Einrenkung luxierter Schul­tergelenke (R. FRORIEP, 1847)

Abb. 21. Operationsbesteck eines Chirurgen (England, 1760)

Page 42: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

B. II EI E (1800-1846)

C. [lAVERS

Anatom. 1650-1702. Entd('cker von G()raf3-

kanalpll am kompaktcn Knoclwn (I lavprs­

Kanale)

A. SCAHP,,\

llatom.1747-1832 (Klumpfuf3thcrapie)

J. CHU\,ElLl II EB

Palhologo. 1791-1 74

Bernhard Heine

B ERNHARD HEINE gilt als Pionier auf dem Gebiet der experimentellen Orthopadie. Dies ist einerseits auf die Erfindung des Osteotomes und andererseits aus den hieraus resultierenden Untersuchungen der Knochenregeneration zuriickzufiihren.

Geboren am 20.8.1800 in Schramberg (Schwarz­wald), verbrachte er seine Kindheit und Jugend im Hause seines Onkels, J. G. HEINE.

B. HEINE wurde Instrumentenmacher, studierte zudem Medizin und iibernahm 1828, nach dem Weggang von J. G. HEINE nach Scheveningen bei Den Haag (Holland), die Leitung des Carolinenstiftes. In dieser Zeit entwickelte er das Osteotom, eine Ketten­sage, urn die unangenehme Arbeit der Eraffnung des Riickenmarkkanals beim Sektionsakt zu erleichtern. Ziel war es, den Knochen mit einem Instrument zu schneiden, wie die Weichteile mit dem Messer. Er benatigte 6 Jahre bis er einen Prototyp vorstellen konnte, der bald auch klinischen Einsatz fand. Die ersten Operationen wurden 1831 durchgefiihrt. Gleichzeitig wurde das Instrument bei den Experi­menten zur Knochenregeneration eingesetzt. Seine Erfindung brachte ihm internationalen Ruhm ein. Er wurde nach Petersburg eingeladen und erhielt 1836 den Mont yon-Preis der Akademie der Wissenschaf­ten in Paris.

HEINES graBter wissenschaftlicher Erfolg ist seine Arbeit »Versuche iiber Knochenregeneration«. Die Knochenregeneration ist im 18. Jahrhundert eben­falls von namhaften Wissenschaftlern (c. HAVERS, A. SCARPA, J. CRUVEILHIER) bearbeitet worden.

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Abb. 22. Osteotom nach BERNHARD HEINE urn 1830

Er zeigte jedoch erstmals die Bedeutung des Peri­ostes fUr die Neubildung und Regeneration des Kno­chens.

1838 wurde B. HEINE ehrenhalber zum Professor fur Orthopadie ernannt, 1844 zum auBerordentli­chen Professor fUr Experimentalphysiologie. Aller­dings konnte er das neue Fach nur ein Semester un­terrichten, er erkrankte schwer und verstarb am 31. 7.1846 an einem »Blutsturz«.

Bernhard Heine 33

Periost: Knochenhaut, die den Knochen bindegewebig umgibt

Page 44: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

34 Bernhard Heine

Inzision: Ein Schnitt

Resektion: Ausschnei­dung oder teilweise

Entfernung eines Organes

Exstirpation: Entfernung von

Gewebeteilen aus tieferliegendem

Gewebe

Ein Experiment zur Knochenregeneration

1m Rahmen seiner Arbeit iiber die Knochenregene­ration fiihrte B. HEINE iiber 100 Operationen am Hund durch. Er unterschied Inzision, Resektion, Ex­stirpation und Einzelversuche.

Aus dem NachlaB B. HEINES existieren eine Viel­zahl von Originalpraparaten aus den beschriebenen Versuchen. Eines dieser Praparate zeigt die EIle (Ul­na) und die Speiche (Radius) eines Hundes, nachdem 4 Monate zuvor eine Resektion am Radius durchge­fiihrt wurde. In dieses Lager erfolgte die Implantie­rung eines homologen Knochenstiicks. Nach 4 Mona­ten zeigt sich eine Liicke im Bereich der Resektion bzw. Implantation mit einer gabelfOrmigen iiber­schieBenden Falschgelenkbildung (hypertrophe Pseudarthrose). Es kam zum Abbau des Fremdkno­chens und zur teilweisen Knochenneubildung in die­sem Bereich. Die EIle ist reaktiv verandert. Sie zeigt einerseits eine deutliche Zunahme des Umfanges und andererseits eine Abknickung, die durch die Fehlbelastung hervorgerufen worden sein konnte.

Exstirpation des Oberschenkelknochens (Femur) eines zehnjahrigen Hundes unter Schonung des Peri­ostes.

Nach drei Wochen finden sich bereits eine Kno­chenneubildung. Das Praparat zeigt eine korallen­stockartige unregelmaBige Knochenmasse. Der auf­geschnittene Knochen ist von einer kompakten elfen­beinartigen Beschaffenheit mit vereinzelten spongiO­sen Anteilen.

UnvoIlstandige Exstirpation des Wadenbeines (Fi­bula) einer dreimonatigen Katze. Bei der Entfernung blieb versehentlich der obere (proximale) Anteil zu­riick.

Nach zwei Monaten hatte sich der Knochen teil­weise regeneriert, hierfiir ist das zuriickgebliebene Periost verantwortlich zu machen.

Page 45: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Abb. 23. Trockenpraparat der BERNHARD HEINE-Sammlung: Vor­derlauf eines Hundes, nach Teilentfernung der Speiche und Transplantation von Fremdknochen

Bernhard Heine 35

Page 46: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Der aufrechte Gang

ie Evolution des Menschen aus dem Tierreich ist untrennbar mit dem aufrechten Gang verbunden. Erst als der »homo erectus« zur Fortbewegung nicht mehr der Hande bedurfte, lernte er zu »begreifen«. »Erfassen« und »begreifen« sind Voraussetzungen der intellektuellen Entwicklung.

Die Gestalt des Menschen beruht unmittelbar auf dem Aufbau der Wirbelsaule. AIle Erkrankungen der Wirbelsaule beeinflussen die Haltung. Gestalt und Haltung sind nicht nur biologisch und anatomisch von Bedeutung, in ihr spiegeln sich auch tradierte kulturelle Werturteile.

Dem »Aufrichtigen« und »Aufrechten« wird Ver­trauen entgegen gebracht, er wird geschatzt. Auch in demokratischen Gesellschaften ist die aristokrati­sche Haltung ein Merkmal von Eliten. Kein Prasident tritt mit gesenktem Haupt vor das Publikum. Der Bucklige und die Hexe sind Symbole des Bosen, der Gebeugte ordnet sich unter.

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Krankheiten der Wirbelsaule

D er angeschlungene Baum ist seit mehr als 200 Jahren Kennzeichen der Orthopadie. Er erinnert an die Skoliose, die noch heute eine ernstzunehmende Erkrankung von Kindern und Jugendlichen ist.

Abb. 24. Ange­schlungener Baum, Wahrzeichen der Orthopiidie (N. ANDRY, 1744)

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38 Krankheiten der Wirbelsiiule

Rachitis: Knochenerweichung

H. KOCIi

Baktcriologc. 1843-1910

P. Porr Chirurg. 1714- 1788.

(pott-Trias)

Pathologie: Krankheitslehre

I I. L USCIlKA

Arzt. 1 20-1875 \ . B EcliTEnEw

ourolugt'.1857- 1927 I I. . CH E ERMA N

Hadiologc. 1877- 1960 G. SCII.\ IOItL

Patho!ogc , 1860- 1923 F. H. ALHEE

Orthopiidisrher Chirurg. 1 76-1943

Andere Leiden der Wirbelsaule, die friiher weit verbreitet waren, sind eher von historischem Inter­esse. Die Rachitis verursachte den »Sitzbuckel« der Kleinkinder, Tuberkelbakterien besiedelten Knochen und Gelenke, zerst6rten Wirbelk6rper und verur­sachten den »Gibbus«, eine bisweilen spitzwinklige Abknickung der Wirbelsaule. Mehr als 100 Jahre vor Entdeckung des Erregers der Tuberkulose durch R. KOCH machte unter anderem der Englander P. Parr auf dieses Krankheitsbild aufmerksam.

Die Pathologie befaBte sich ab Mitte des 19. J ahr­hunderts intensiver mit dem »Achsenorgan«. 1854 wurde das Wirbelgleiten (Spondylolisthese) beschrie­ben, nur zwei Jahre spater ver6ffentlichte H. LUSCH­KA seine Untersuchungen zur Altersveranderung der Bandscheibe. Die entziindliche Versteifung der Wir­belsaule (Spondylitis ankylosans) wurde urn 1890 von W. BECHTEREW als eigenstandiges Krankheitsbild eingegrenzt. Wie H. SCHEUERMANN 1921 feststellte, ist der jugendliche Rundriicken (Kyphosis dorsalis juvenilis) auf eine keilf6rmige Verformung der wach­senden Wirbelk6rper zuriickzufiihren. Der Dresde­ner G. SCHMORL beschaftigte sich intensiv mit Wir­belsaulen- und Bandscheibenerkrankungen. Nach ihm sind kleine Bandscheibeneinbriiche in den Wir­belkorper benannt (»Schmorlsches Knotchen«).

F. H. ALBEE verbesserte die Heilungsergebnisse der Wirbelsaulentuberkulose durch die kiinstliche Ver­steifung von Wirbelsaulensegmenten mit Hilfe der Knochentransplantation (1911).

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Krankheiten der Wirbelsaule 39

Abb. 25. Trockenpraparat einer fest verheilten Wirbelkorperent­ziindung (Spondylitis am Obergang der Brust- zur Lendenwirbel­saule, Gibbus). Institut fUr Pathologie »Georg Schmorl«, Klinikum Dresden Friedrichsstadt, Dresden

Abb. 26. 12jahrige Patientin mit ausgedehnter Spondylitis (A. ROLLIER, 1913)

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40 Krankheiten der Wirbelsiiule

J. G. LOVE

Neurochirurg. 1903- l987

Abb. 27. Trockenpriiparat einer »Barnbusstabwirbelsiiule« bei Morbus Bechterew. Institut fUr Pathologie »Georg Schrnorl«, Klini­kurn Dresden Friedrichsstadt, Dresden

Mit der steigenden Lebenserwartung und der Wei­terentwicklung der Medizin traten Mitte dieses J ahr­hunderts Krankheitsbilder aus dem degenerativen Formenkreis (Arthrose, Osteoporose) in den Vorder­grund.

Eine neue Ara brach mit der operativen Behand­lung des Bandscheibenvorfalles an, dessen fUr viele Jahre giiltiges Standardverfahren durch J. G. LOVE

1939 entwickelt wurde.

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Krankheiten der WirbeIsauIe 41

Abb. 28. Trockenprapa­rat einer LendenwirbeI­saule (Sagittalschnitt) mit echtem WirbeIgIei­ten aufgrund einer Un­terbrechung in der In­terartikularportion des 5. LendenwirbeIs, Sta­dium 2 nach Meyerding (Spondylolisthesis vera des 5. Lendenwirbels). Institut fUr Pathologie »Georg Schmorl«, Klini­kum Dresden Fried­richsstadt, Dresden

Abb. 29. Trocken­praparat eines Lendenwirbels mit beid­seitiger Unterbrechung der Interartikularpor­tion (SpondyloIyse). lnstitut fUr Pathologie »Georg Schmorl«, Klinikum Dresden Friedrichsstadt, Dresden

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Rachitis

D ie Rachitis, auch als englische Krankheit bezeich­r. Gu o. net, wurde von F. GLISSON 1650 erstmalig beschrie-

Arzt. 1597-1677 ben. Die Krankheit ist auf eine abnorme Weichheit des Knochens zuriickzufiihren, der zu wenig Kalk einlagert. Die haufigste Ursache ist ein Vitamin D­Mangel infolge zu geringer Sonnenexposition.

Das Skelett versucht, den Mangel an Stabilitat mit einer iiberschieBenden Bildung der Knochengrund­substanz, des Osteoids, auszugleichen. Die Knochen verbreitern sich, ohne dadurch an Stabilitat zu ge­winnen. 1m Laufe der Zeit bilden sich die typischen Zeichen der Rachitis, der glockenformige Brustkorb, X-Beine, die becherfOrmigen Auftreibungen an den Gelenkenden, die Skoliose, der Sitzbuckel und das Kartenherzbecken.

Abb. 30. Trockenpraparat eines kindlichen Skeletts zum Geburts­zeitpunkt mit multiplen Fehlbildungen (Rachitis. Wolfsrachen. Dysmelie. KlumpfuB). Patholog. Anatom. Bundesmuseum. Wien

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Abb. 31. UnregelmiiBige, hochgradige Beinverkriimmung bei schwerer Rachitis (A. SCHANZ, 1928)

Die Therapie war bis zur Entdeckung der eigent­lichen Ursache symptomatisch, d. h. man versuchte, die FehlsteHungen durch auBere Schienung oder mit unblutigen Verfahren (Osteoklasie, Epiphyseolyse) zu korrigieren. Die Osteoklasie eignete sich vor aHem zur Therapie bei Kindern und Jugendlichen, da ihre Knochen noch weich waren und unkompliziert heil­ten. In hoherem Lebensalter wurden die FehlsteHun­gen der unteren Extremitaten durch Korrekturosteo­tomien beseitigt.

1920 entdeckte K. HULDSCHINSKY, Assistenzarzt am Berliner Oscar-Helene-Heim, die heilende Wir­kung der kiinstlichen UV-Strahlung und ermoglichte damit eine billige Massenbehandlung gefahrdeter Kinder.

Dank der Vitamin D-Prophylaxe tritt die Rachitis heute kaum noch auf.

Rachitis 43

Osteoklasie: Kiinstlicher Knochenbruch

Epiphyseolyse: Trennung der Wachstumsfuge

Osteotomie: Knochen­durchtrennung

K. II ULDSCIII SKY

Kindcrarzt. 1883-1941

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44 Rachitis

Abb. 32. Vitamin D-Mangel (Rachitis) bedingte Fehlstel­lungen der unteren Extremitaten (Coxa vara, Genu valgum und Sabelscheidentibia mit Schanz'schem Stiitzbogen). Medizin­historisches Museum an der Charite, »Virchowche Samm­lung«, Berlin

Abb. 33. Kleinkinder bei Quarzlichtbehandlung im Bestrahlungs­raum (F. THEDERING, 1930)

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Skoliose

D ie seitliche Wirbelsaulenverkriimmung, die Sko­li~se, kann durch verschiedene Ursachen hervorge­rufen werden. In der Vergangenheit spielten die Ra­chitis und die KinderHihmung hierbei eine wichtige Rolle.

Die Skoliose war, wie die meisten orthopadischen Krankheitsbilder, bereits in der Antike bekannt. Hip­pokrates empfahl die Behandlung der Skoliose mit Hilfe der Extension.

Abb. 34. Trockenpriiparat eines Rumpfskeletts mit einer hochgra­digen Seitverbiegung im Brust-Lendenwirbelsiiulenbereich (Torso mit idiopathischer, linkskonvexer KyphoskolioseJ. Institut fUr Pa­thologie »Georg Schmori«, Klinikum Dresden Friedrichsstadt, Dresden

Extension: Liingszug an der Wirbelsiiule zur Korrektur von Fehlstellungen, Knochenbruchen oder Ausrenkungen

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46 Skoliose

Retention: Ruhig­stellung durch iiuBere

Schienung oder mittels Gipsverband zum Erhalt

der Stellungskorrektur

J.-R . GUERI

Chirurg.1801 - 1886

R.A. IIII1B Orthopiidischcr Chil'ul'g.

1869- 1933

Bessere anatomische Kenntnisse in der friihen Neuzeit fOrderten das Interesse der Arzte an der Be­handlung der Skoliose. Gleichzeitig bildeten sich er­ste Behandlungsprinzipien heraus. Sie reichen von der Stiitzung einer vorhandenen Deformitat iiber die Streckung und Umkriimmung bis zur Entdrehung mit unterschiedlichsten Methoden.

Die Therapie veranderte sich mit dem zunehmen­den Wissen und Verstandnis der Pathologie und Bio­mechanik der Skoliose. Sie war und ist heute noch abhangig von den zur Verfiigung stehenden Werk­stoffen (Eisen, Leder, Gips, Kunststoffe) und den Moglichkeiten der operativen Therapie (Narkose, Asepsis, Implantate).

Die Streckbetten wurden im 19. J ahrhundert zur Extension verwendet, urn auch die Phase der Nacht­ruhe fiir die Therapie zu nutzen. Der Skoliosestuhl nach G. ZANDER verbindet das Prinzip des Zuges mit dem der zeitweiligen Retention.

Die Heilgymnastik wurde bereits urn 1828 von dem franzosischen Orthopaden J.-M. DELPECH zur Therapie der Skoliose eingesetzt. Er wirkte damit der Verkiimmerung der Muskulatur entgegen, die als Folge der auBeren SWtzung durch ein Korsett eintrat.

Der Beginn der operativen Therapie ist im Jahre 1839 anzusetzen. J.-R. GUERIN durchtrennte Muskeln und Sehnen der Riickenmuskulatur, urn die Seit­ausbiegung zu korrigieren. R. A. HIBBS und F. H. ALBEE beschrieben bereits 1911 unabhangig vonein­ander die Moglichkeit der Knocheninterposition zur Fusion der skoliotisch verkriimmten Wirbelsaule.

Ihren Durchbruch erlebte die operative Behand­lung der Skoliose jedoch erst mit der Einfiihrung sta­bilisierender Metallverstrebungen in den fiinfziger Jahren dieses Jahrhunderts. Endlich konnte die Wir­belsaule innerlich auf Dauer begradigt werden.

Gleichzeitig wurde auch die konservative Therapie bis zu den noch heute giiltigen Prinzipien weiterent­wickelt.

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Skoliose 47

Zeichenapparat nach Lange

Der Zeichenapparat nach F. LANGE diente der Doku- F. LANG E

mentation und der Verlaufskontrolle einer Skoliose. Orlhopadc, 1864-1952

Die Patientin oder der Patient wurde mit dem Rii-cken vor den Rahmen gestellt. Die Fixierung erfolgte mittels zwei Beckenklammern. Die Glasscheibe mit entsprechenden Lot- und Querlinien war in Felder eingeteilt. Mit einem Diopter wurden markante Punkte in ein Koordinatensystem ubertragen.

Die Torsion konnte nach dem Entfernen der Glas­scheibe auf einer horizontalen Richtbank abgenom­men und direkt auf Papier iibertragen werden. Diese Konstruktion war Anfang dieses Jahrhunderts in arztlichen Praxen und in Kliniken weit verbreitet, denn sie war billig und einfach in der Handhabung.

Abb. 35. Zeichenapparat nach F. LANGE, um 1900

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48 Skoliose

Abb. 36. Der Zeichenapparat nach F. LANGE in der Praxis

v . SCIIUI.lIIE S W. SCHULTHESS entwickelte ein ahnliches Modell, Orthopadc, 1855-1917 mit dem sich prazisere Ergebnisse erzielen lieBen.

Aus Kostengriinden hat sich diese Konstruktion je­doch nicht durchgesetzt. Gleiches gilt fUr die Fotodo­kumentation.

Heute ist diese Methode durch die Rontgenver­laufskontrolle ersetzt. Sie ermoglicht es den Grad der Skoliose zu messen und den Behandlungsverlauf zu dokumentieren. Neuentwickelte photometrische Einrichtungen befinden sich derzeit in Erprobung.

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FuBfehlstellungen

M an unterscheidet im wesentlichen den KlumpfuB (Pes equinovarus) vom PlattfuB (Pes valgus), SpitzfuB (Pes equinus), HackenfuB (Pes calcaneus) und dem HohlfuB (Pes excavatus). Der KlumpfuB ist die hau­figste angeborene FuBdeformitat. 1m Laufe der Zeit wandelten sich die Vorstellungen von dessen Entste­hung:

1m Mittelalter hielt man die Fehlstellung fUr eine »Offenbarung des gottlichen Willens«. Spater disku­tierte man eine HemmungsmiBbildung, auBerlichen Druck auf die Gebarmutter sowie einen Fruchtwas-

Abb. 37. Gipsabdruck eines Erwachsenen-KlumpfuBes

I

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50 FuBfehlstellungen

Abb. 38. Gipsabdruck eines SpitzfuBes (Pes equinus) von seitlich

Abb. 39. Gipsabdruck eines Erwachsenen-PlattfuBes (Pes planus) von innen

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Abb. 40. Wachsmoulage eines kindlichen PlattfuBes von fuBsoh­lenwiirts. Hygiene Museum, Dresden

i--

I I

Abb. 41. KlumpfuBschiene nach A. SCARPA, 1804

FuBfehlstellungen 51

Page 62: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

52 FuBfehlstellungen

Abb. 42. Lorenz Osteoklast zur Korrektur von FuBfehlstellungen

Abb. 43 a. GipsabguB eines ChinesinnenfuBskeletts von G. C. PERTHES

Page 63: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Abb. 43 b. Wachsmoulage eines ChinesinnenfuBes von fuBsohlen­warts

Abb. 43 c. Wachsmoulage eines ChinesinnenfuBes von auBen. sowie Chinesinnenschuhe einer Hofdame. Shanghai urn 1911. Dr. med. N. Moos, Bonn-Beuel

FuBfehlstellungen 53

Page 64: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

54 FuBfehlstellungen

Redression: Unblutige Stellungskorrektur

einer Deformitat

Osteoklast: Apparat zur unblutigen Korrektur

von Fehlstellungen an Knochen und Gelenken

11. O. l)(oMA

Chirurg, 1834- 1891 (Thomas-Schieno wr

Entlastung des Iliiftgclcnkcs: Thomas­

GrilT ZUI" Diagnostik von II ilftbeugckun Ll"akturen)

H. GOGIT

Orthopide, 1869-193

M. G. ' I)IILEN IU

Arzt, 1743-1 09

A. MATHI.J I, N

Chirurg, 1805-1878

sermangel wahrend der Schwangerschaft. Hinzu ka­men Theorien iiber Ungleichgewichte der Muskula­tur auf der Basis von neurologischen Storungen bzw. Muskelerkrankungen, Fehlanlagen der FuBwurzel­knochen und Fehlansatze der FuBmuskulatur.

Friihestmogliche Behandlung durch schrittweise Redression und nachfolgende Retention waren be­reits in der Antike Grundprinzipien der Therapie.

Die Art und Weise der Korrektur hat sich im Laufe der Jahrhunderte maBgeblich geandert. Neben einer Fiille von Apparaten (A. SCARPA, J. A. VENEL u. a.) wurden Osteoklasten eingesetzt (H. O. THOMAS, A. Lo­RENZ, H. GOCHT). Die offene (M. G. THILENIUS, 1784), spater die subkutane (G. F. STROMEYER) Durchtren­nung der Achillessehne markiert den Beginn der operativen Therapie. Mit der Narkose und Antisepsis erweiterten sich die Moglichkeiten der Behandlung. Eine wesentliche Verbesserung der KlumpfuBthera­pie konnte durch die Einfiihrung des Gipsverbandes (A. MATHIJSEN, 1851) erreicht werden.

Neben den angeborenen FuBfehlformen gibt es die groBe Gruppe der erworbenen Veranderungen. Sie werden maBgeblich durch auBere Zwange, zum Bei­spiel durch die Schuhmode hervorgerufen. Ein klas­sisches Beispiel hierfiir ist der ChinesinnenfuB, der durch konsequentes bandagieren entsteht. In Euro­pa sind Zehenfehlstellungen wie der Hallux valgus und die Hammerzehen oft Folge eines falsch ver­standenen Schonheitsideales.

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Hiiftdysplasie - Hiiftluxation

D as Htiftgelenk tibernimmt bei jedem Schritt die Last des Oberkorpers. Der Htiftkopf bedarf dazu ei­ner stabilen Abstiitzung in der Gelenkpfanne. Sie umgreift den Htiftkopf und verhindert ein Abgleiten. 1st dagegen die Pfanne zu flach angelegt (Htiftdys­plasie), dann rutscht der Kopf aus dem Gelenk (Htiftluxation). Ohne festes Widerlager bewegt er sich gegen die Darmbeinschaufel. Das betroffene Bein wird ktirzer. Menschen mit einer Htiftluxation hinken oder »watscheln«.

Die Htiftluxation war bereits den Anten des Alter­turns bekannt, ohne daB sie tiber eine wirksame Be-

Abb. 44. Riickansicht eines Miidchens mit einseitig luxierter Hiifte rechts und Skoliose (A. LORENZ,

1895)

Page 66: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

56 Hiiftdvsplasie - Hiiftluxation

G. B. PAI.ErrA Arzt.1748-1832

A. MAYEB

Chirurg.1798- 1860. (Flihrtc mstclJungs­

OSlcotomjcn an der Tibia bci X-Bcincn

clurch)

Reposition: Die Korrektur von

Verrenkungen bzw. Knochenbriichen

handlung verfiigten. A. PARE erkannte die flaehe Hiiftpfanne als Ursaehe der Luxation, er hielt eine Heilung fiir ausgesehlossen.

Erst im 19. Jahrhundert wurden Fortsehritte in der Therapie dieses Leidens gemaeht.

1820 besehrieb G. B. PALETTA die Sektion eines Sauglings mit einer Hiiftdysplasie. 1838 fiihrte C. G. PRAVAZ den Hiiftkopf naeh einer aeht- bis zehnmona­tigen Extension in das Gelenk zuriiek. Wahrend A. MAYER das gesunde Bein verkiirzte, wandte J. R. GUERIN die subkutane Tenotomie an und erganzte diese dureh eine Pfannendaehplastik. Allerdings ge­lang es erst A. HOFFA, den Hiiftkopf auf operativem Wege sieher in die Pfanne einzurenken. Es ist der Verdienst des Wiener Orthopaden A. LORENZ, die Hiifte bei jungen Kindern >>unblutig« zu reponieren (1895). Fiir veraltete oder nieht reponible Hiiftluxa­tionen wurden eine Vielzahl von Eingriffen zur Re­konstruktion des pfannendaehes oder Stellungsver-

Abb. 45. Mehrmonatige Extension in Settlage zur schonenden Reposition der luxierten Ruften (Overheaclextension) (A. LORENZ,

1895)

Page 67: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Hiiftdysplasie - Hiiftluxation 57

Abb. 46. Foto eines Madchens mit beidseitiger Hiiftluxation im fixierenden Gipsverband (A. LORENZ, 1920)

Abb. 47. Beckenpraparat mit beidseits luxierten Hiiftgelenken (A. LORENZ, 1895)

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58 Hiiftdysplasie - Hiiftluxation

Abb. 48. Lorenz-Extensionsschraube zur forcierten Reposition der luxierten Hiifte unter Athernarkose (A. LORENZ, 1895)

besserung des gelenknahen Oberschenkelknochens entwickelt.

In der konservativen Therapie verdrangten Ban­dagen und Schienen, die die funktionelle Ausreifung des Hiiftgelenkes unterstiitzen, die Gipsruhigstellung und die langfristige Extensionsbehandlung.

Die Einfiihrung der Ultraschalluntersuchung der R. GRAfl Sauglingshiifte durch R. GRAF im Jahre 1983 verbes-

Orthopad ,geb. 1946 serte die Friiherkennung und ermoglichte es, den Verlauf der Behandlung kontinuierlich zu beurteilen. Bei konsequenter Reihenuntersuchung aller Kinder direkt nach der Geburt ist es fast immer moglich, die Fehlanlage wirkungsvoll zu beseitigen.

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KinderHihmung (Poliomyelitis)

N och vor einigen Jahrzehnten war die KinderUih­mung auch in Deutschland eine gefiirchtete Krank­heit. Heute ist sie in den IndustrieUindern nahezu ausgerottet. Diese Entwicklung ist Impfstoffen zu verdanken, die anfiinglich abget6tete Viren beinhal­teten und in den 60er Jahren durch die bekannte Schluckimpfung mit geschwiichten Lebendviren ab­gel6st wurden.

Die Poliomyelitis wurde bereits im 18. Jahrhundert von M. UNDERWOOD beschrieben. Der Arzt brachte die Liihmungen jedoch nicht mit dem Ruckenmark in Verbindung. Diese Vermutung iiuBerte erstmals

Abb. 49. Titelblatt der Erstbeschreibung der spinal en Kinder­liihmung (J. HEINE, 1840)

BEOBACHTUNGEN

I.6I1 .. o ..... a ...... de der D.tera Bxtre­

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M. NOERWOOD

Arzt, 1737-1820

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60 KinderHihmung (Poliomyelitis)

J. HEINE

Orthopadc, 1800-1879. Mitbcschrciber der » Kil1derl~iJun ung«

fHeiM-Mcdin­Krankheil}

O. MEDii Arzt, 1847-1927

J. HEINE. Er sah einen Zusammenhang zwischen der Uihmung und den daraus entstehenden Deformita­ten und sprach bereits 1860 von der spinalen Kinder­lahmung. Der Schwede O. MEDIN entdeckte 1887 die epidemische Ausbreitung der Erkrankung. Aus die­sem Grund wird die Kinderlahmung auch als HEINE­

MEDINSCHE Krankheit bezeichnet. Die Kinderlahmung hinterlaBt nach ihrer akuten

Phase Lahmungen, insbesondere an den unteren Ex­tremitaten. Prinzipiell kann jedoch jede K6rperre­gion betroffen sein. Die orthopadischen Folgen die­ser Viruserkrankung sind von groBer Tragweite. Durch den asymmetrischen Befall der Nervenzellen im Riickenmark treten Ungleichgewichte in den je-

Abb. 50. Hochgradi­ge, liihmungsbedingte Fehlstellung des linken Kniegelenkes (Genu recurvatum) (F. J. HESSING, 1903)

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Kinderliihmung (Poliomyelitis) 61

Abb. 51. »Eiserne Lunge«, Modell E 52, Fa. Driiger, 1956

Abb. 52. Atemgeliihmte Patientin mit Rumpf-Respirator, Fa. Drii­ger, urn 1956

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62 Kinderliihmung (Poliomyelitis)

weiligen Muskelgruppen auf. Dies kann zu Gelenk­fehlstellungen, knochernen Deformierungen und Skoliosen fiihren. Die Behandlung der beschriebe­nen Veranderungen ist eine Domane der Orthopadie­technik (Orthesen, Schienen-Schellenapparate und Korsettversorgungen). Konservative und korrigie­rend operative Behandlungsmethoden erganzen die Therapie der Folgeschaden.

Die Beteiligung der Atemmuskulatur stellt die schwerste aller Komplikationen dieser Erkrankung dar. Sie kann eine kiinstliche Beatmung erfordern und bindet unter ungiinstigen Umstanden das Leben des Patienten an eine Beatmungseinrichtung. Die so­genannte »Eiserne Lunge« ermoglichte es, Poliomye­litis-Patienten mit Lahmung der Atemmuskulatur zu behandeln. Mit Ausnahme des Kopfes und des RaIses befanden sich die Patienten in der Kammer. In ihr herrschte wechselweise ein Uber- und Unterdruck, mit dem eine rhythmische Kompression bzw. Dekom­pression des Brustkorbes erreicht wurde.

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Narkose und Schmerztherapie im Wandel der Zeit

D er Kampf gegen den Schmerz ist so alt wie die Menschheit. Unzahlig sind die Versuche Schmerzen zu lindern. Der Durchbruch auf dem operativen Sek­tor wurde 1846 durch W. T. G. MORTON erreicht. Mit seiner Anwendung von Ather zur Narkose bei zahn­arztlichen Eingriffen ist er als der Begriinder der schmerzfreien Chirurgie anzusehen.

J. F. DIEFFENBACH begriiBt 1847 diese neue Errun­genschaft der Medizin mit den Worten: »Der schone Traum, daj3 der Schmerz von uns genommen, ist zur Wzrklichkeit geworden. Der Schmerz, dies hochste

Abb. 53. Pharmazie­flasche fiir Ather pro narcosi. Apothekenmuseum Bad Schwalbach

W.T. C. MOllTON Zah narzt, 1819- 186

J. F. DJEH:E BACH

Chirurg, 1792-1 47

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64 Narkose und Schmerztherapie im Wandel der Zeit

F. \ . V. ESMI\HClI

Chirurg. 1823-1908

r.. SCH IMMEI.B SCII

Chirurg.1860- 1895

A. BIEH

Chirurg. 1861-1949

Lokalaniisthesie: Lokale Schmerzausschaltung

Spinalaniisthesie: Riickenmarknarkose

Intubationsnarkose: Narkose unter

Verwendung eines Rohres (Tubus) zur

Beatmung iiber Mund oder Nase

Bewuj3tsein un serer irdischen Existenz, diese deut­lichste Empfindung der Unvollkommenheit unseres Korpers, hat sich beugen miissen vor der Macht des menschlichen Geistes, vor der Macht des Aetherdun­stes. . .. Durch sie ist die halbe Todesbahn zuriickge­legt, der Tod hat nur noch sein halbes Grauen.«

Die Geruchsbelastigung und Bronchialirritation durch Ather fiihrte zur Weiterentwicklung der Nar­kotika (Chloroformnarkose). Aus dieser Zeit stam­men erste Hilfsmittel zur Verbesserung der Ather- u. Chloroformnarkose (ESMARcH-Maske 1877, Schim­melbusch-Maske 1890). 1898 wurde neben der be­reits bekannten Lokalanasthesie mit Kokain oder Morphin die Spinalanasthesie durch A. BIER einge­fiihrt. Die Intubationsnarkose begann urn 1905, die intravenose Anasthesie konnte sich erst mit dem Vorhandensein neuer Medikamente (Barbiturate) etablieren.

Abb. 54. Ombn1-danne-Apparat zur Athernarkose mit Regelmoglichkeit der Riickatmung und Riickatembeutel aus Rinderdarm urn 1908

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Narkose und Schmerztherapie im Wandel der Zeit 65

Einige orthopadische Chirurgen f6rderten die Ent­wicklung der Anasthesie. So ist mit dem Namen F. ThENDELENBURG nicht nur die Schwache der Hiift­muskulatur bei Veranderungen am Gelenk verbun­den, sondern auch der 1870 entwickelte Trachealtu­bus mit Manschette zur Verhinderung der Aspiration nach Tracheotomie. OMBREDANNE beschrieb 1908 neb en einer Linie im R6ntgenbild zur Diagnostik der Hiiftverrenkung auch den Ombredanne-Inhaler zur verbesserten Athernarkose. G. PERTHES pragte das gleichnamige Krankheitsbild Morbus Legg-Calve­Perthes, eine Hiiftkopfnekrose des Kindes, er erfand zudem eine Absaugvorrichtung bei Inhalationsnar­kosen zum Schutz des Personals.

F. THEI DELE B HG Chirurg. 1844- 1924

Aspiration: Eindringen von festen oder fliissigen Stoffen in die Luftrohre

Tracheotomie: Luftrohrenschnitt

L. OMBRlil)AJ E Orthopiidischer Chirurg. 1871- ]956

G. C. PEIITIIES Orilioplide, 1869- 1927

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I. S EMM ElWEI GyniikoJoge, 1818- 1865

J. LI TER Chirurg, 1827- 191 2

Okklusivverband: Dicht abschlieBender

Verband als Schutz vor schiidlichen Einfliissen

Antisepsis und Asepsis

O perative Eingriffe sind eng verbunden mit der Ent­wicklung der Anasthesie und der Asepsis. Beide Ver­fahren nahmen ab Mitte des 19. Jahrhunderts Ein­zug in die Medizin.

Antisepsis und Asepsis

Der Zusammenhang von Wundinfektion und Desin­fektion ist mit dem Namen I. SEMMELWEIS eng verbun­den. Der Frauenarzt erkannte die Gefahr der Kon­taktinfektion und ordnete deshalb strengste Sauber­keit, Kleidungswechsel und vor aHem das Waschen der Hande in Chlorkalk an. Der Englander 1. LISTER fiihrte zunachst den Okklusivverband und spater die antiseptisch wirkende Karbolsaure in der Chirurgie ein. Sein Ziel war die Vernichtung der Eitererreger in der Wundumgebung und an den Randen des Chir­urgen, den Instrumenten, den Verbandsmitteln und in der Wunde selbst. Seiner Auffassung nach war es die Aufgabe des Operateurs, die Eiterung einer Wun­de zu verhindern und eine Primarheilung anzustre­ben. Er erfand einen Zerstauber, mit dem wahrend

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---.:::: :.-i -' .:... --- - Abb. 55. Karbolzerstiiuber

nach J. LISTER, urn 1867

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Antisepsis und Asepsis 67

Abb. 56. Aseptischer Operationsraum urn 1898

des operativen Eingriffes Karbolsaure versprtiht wur­de. Schon bald wurde das Prinzip der Antisepsis durch das der Asepsis, des keimfreien Operierens, er­setzt. Die Entwicklung fiihrte tiber die mechanische Handereinigung, die von E. VON BERGMANN prop a- E. VON B ERG~t'\ l N

gierte Sublimat-Desinfektion, die Dampfsterilisation r.h irul'g, 1836- 1907

(c. SCHIMMELBUSCH) bis zur Verwendung von sterilen Gummihandschuhen (W. H. HALSTED, 1890), dem Mundschutz (P. BERGER, 1897) und der Einrichtung \\'. 11 . H ,\t.STED

separater Operationsraumlichkeiten. Wichtige Auf- Chirllrg. 1852-1922

schliisse zur Entstehung der Wundinfektionen liefer- P. BEIICEH

ten die Forschungsarbeiten von R. KOCH. Chirlll'g. 1845-1908

Page 78: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Rontgen

»D ie orthopiidische Chirurgie gehort sicherlich zu den Spezialgebieten der iirztlichen Wzssenschaft, die den groftten Nutzen von der Anwendung der Ront­genstrahlen gehabt haben. Sie erleichtern die Dia­gnosenstellung, sie zeigen den richtigen Weg fur das therapeutische Handeln, uberzeugen auch den Pa­tienten von der Notwendigkeit eines Eingriffes, und gestatten, den Erfolg eines solchen zu uberwachen«. Diese Worte schrieb A. HOFFA in einem Radiologie­Atlas elf Jahre nachdem die Rontgenstrahlen am 8.

we. R ONT(;EN November 1895 durch W.e. RONTGEN entdeckt wor­Physiker. 1845-1923 den waren. Innerhalb kurzer Zeit breitete sich das

Rontgenverfahren auf der ganzen Welt aus. RONT-

Abb. 57. Rontgenauf­nahme der Hand von Frau BERTA RONTGEN

Page 79: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

II 1'1111'1'01.11 \1'1111-::-'

HOXrl'l LX·sTIL\ II LhX

\.1."0' -l .!

Abb. 58. Oben: Titelseite eines Atlas tiber Rontgenstrahlen des Physikalischen Vereins zu Frankfurt am Main, 1896; Unten: Ront­genbild einer Mumie des Senckenberg-Museums FrankfurtlMain aus dem Atlas

Rontgen 69

Page 80: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

70 Rontgen

Tomographie: Schicht­aufnahmeverfahren zur

Darstellung von Strukturen in einer

definierten Ebene des Korpers

Computertomographie: Computergestiitztes

rontgendiagnostisches Verfahren zur

Herstellung von Schnittbildern des

Korpers

A. G. . Hou SFiELD

Ingenieur. geb. 1919 (Nobelpreistdiger im Fach Mcdizin. 1979)

Sonographie: Ultra­schallverfahren zur

Erstellung von Schnitt­bildern, vornehmlich

von Weichteilen (Sehne, Muskulatur)

Szintigraphie: Nuklear­medizinische Untersu­

chungsmethode

Kernspintomographie: Bildgebendes Verfah­

ren, mit dem sich Korperstrukturen unter

Anlage eines starken Magnetfeldes abbilden

lassen

GEN wurde schon im Jahre 1901 mit dem ersten No­belpreis im Fach Physik geehrt.

Aus orthopadischer Sicht waren die konventio­nelle Tomographie (1930) und die von A. G. N. HOUNSFIELD entwickelte Computertomographie (CT) weitere Meilensteine in der bildgebenden Diagnostik mit Rontgenstrahlen. Insbesondere die CT erlaubt die Darstellung von Weichteilen ohne Verwendung von Kontrastmitteln und ermoglicht eine exakte Lo­kalisation und Grofienbestimmung von pathologi­schen Befunden.

Heute kommen, neb en den Rontgenstrahlen, die Sonographie, Szintigraphie und Kernspintomogra­phie als bildgebende Methoden zum Einsatz. Fur ab­sehbare Zeit wird keines der genannten Verfahren die Rontgendiagnostik ersetzen konnen.

Page 81: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

R6ntgenganzaufnahme

ie Darstellung des Menschen auf einem Rontgen­bild reduziert die dreidimensionale Gestalt auf eine zweidimensionale Ebene. In der Routineradiologie wird nur ein Ausschnitt des Korpers gerontgt. Der Bezug zum Gesamtorganismus geht damit verloren.

Lange Zeit war es aufgrund technischer Schwie­rigkeiten nicht moglich, ein Rontgenbild des gesam­ten Menschen herzustellen. Man begniigte sich zu­nachst mit dem Zusammensetzen von Einzelbildern. Erst 1927 gelang die Ganzaufnahme mit einer einzi­gen Belichtung. Insbesondere zur wissenschaftlichen Forschung in der Anthropologie, Biologie und in der Medizin wurde dieses Verfahren weiterentwickelt. Es konnte sich wegen der hohen Strahlenbelastung im Klinikalltag nicht durchsetzen und geriet in Ver­gessenheit.

Rontgenganzaufnahmen bieten folgende diagnosti­sche Moglichkeiten: - Vermessung des menschlichen Skelettes und Ver­

gleichsmoglichkeiten mit den Normalproportionen. - Abweichungen von den Normalproportionen als

Krankheitssymptom. - Funktionelle Aspekte des Skeletts bei bestimmten

Haltungen. - Systemerkrankungen des Skeletts bzw. multiloku­

!are Veranderungen (multiple kartilaginare Exo­stosen, fibrose Dysplasie).

Fibrose Dysplasie synonym Osteofibrosis deformans juvenilis, Morbus Jaffe­Lichtenstein. Ersatz des Knochens durch faserreiches Bindegewebe

Page 82: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

72 Rontgenganzaufnahme

Abb. 59. Rontgenganzaufnahme einer Frau vor 1930

Page 83: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Heilgymnastik, Massage und physikalische Therapie

Yom Wettkampf zur medizinischen Therapie

D ie Behandlung orthopadischer Erkrankungen mit Hilfe physikalischer Verfahren ist so alt wie die Me­dizin. Licht, Luft und Sonne wurden ebenso wie Be­wegung, Massage und Einreibungen in allen Kultu­ren als Heilmittel geschatzt. Gymnastik, Wettkampfe und Bewegungsspiele dienten dariiber hinaus der Vervollkommnung des Korpers, dem Erhalt seiner Schonheit und der Vorbeugung von Erkrankungen. Korperliche Leistungsfahigkeit und Einsatzbereit­schaft waren zudem schon immer Voraussetzung mi­litarischer Eroberungen.

Urn 100 v. Chr. empfahl R. VON EPHESUS gymnasti­sche Ubungen gegen Gelenkkrankheiten. GALEN lieB eine gezielte Rumpf- und Atemgymnastik ausfiihren, urn jugendliche Brustkorbdeformitaten zu beseiti­gen. Gelahmte behandelte C. AURELIANUS mit Massa­ge, Warmeanwendungen, passiver sowie aktiver Gymnastik und sogar mit Geraten, die die Bewegung erleichterten. In der Renaissance erhielten die Kenntnisse der Antike erneut groBeres Gewicht und begiinstigten ihre Ausbreitung. 1569 verOffentlichte G. MERCURIALI sein Werk »De arte gymnastica«, in dem er die Bedeutung der regelmaBigen korperli­chen Ubung mit Gesundheit und militarischer Starke in Zusammenhang brachte. Der franzosische Chir­urg A. PARE und der englische Arzt T. SYDENHAM griffen die aktive Bewegungstherapie und die Massa­ge als Behandlungsprinzipien auf.

Die aktive Bewegung hatte neben der Schienenbe­handlung zur Vorbeugung und Behandlung orthopa­discher Leiden bei N. ANDRY einen besonderen Stel­lenwert. 1780 publizierte J. C. 'nSSOT eine »Gymna-

H. vo ' EPHES S

griechisther Chirurg. lebte urn 100 v. Cllr.

C. A REUAN S

grierhischcr Arzt. lebte im 5. Jahrhundcrt v. Chr.

G. MEHCURIALI Arzt. 1530--1606. Verrasscr ciner fruhen VeriiITenUichung zur geslindheiUichen Be­deutung del' Gymnastik

T. 5VDE HAM J\rzt.1624-]689. Begrundcr der modernen Mcdizin in England

Page 84: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

74 Heilgymnastik, Massage und physikalische Therapie

J. C. T rSSOT Franzosische l' I'zl,

1750-1826. Bctonte die B'wegllng aIs

mcd izin isC'h ­thcl'apclI t isrh('s

Vel'fahrCIl

F. L. Ji\H N

Lehrer. 1778- 1852

P. II. LlG Gymnastiklch l'cl'.

1776-1839

Abb.60. »De arte gymnastica« (G. MERCURIALI,

1601)

stique medicale et chirurgicale«. Der Zuwachs ortho­piidischer VerOffentlichungen iiber die Bewegungs­therapie reflektiert deren groBe Bedeutung im 19. Jahrhundert. J. DELPECH ergiinzte die aktive eigen­stiindige Therapie mit korrigierenden Apparaten, die einen dauernden Zug ausiibten.

»Deutsches« Turnen und »schwedische« Heilgymnastik

Zur groBen Akzeptanz der Bewegungstherapie trug der als »Turnvater« bekannte F. L. JAHN bei, der das »deutsche Turnen« wiihrend der napoleonischen Herrschaft zur physischen und moralischen Stiir­kung der BevOlkerung propagierte. Die geistige Frei­heit so11te sich in der turnerischen Bewegung wider­spiegeln. Begriinder der »schwedischen« Heilgymna­stik war P. H. LING. Sein System setzte sich aus vier Teilen, einer priiventiven, militiirischen, iisthetischen

Page 85: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Heilgymnastik, Massage und physikalische Therapie 75

und medizinischen Gymnastik zusammen. Er behan­delte seine Patienten durch aktive und passive Ubungen und setzte ihren Bewegungen muskuHiren Widerstand entgegen.

LING gewann in ganz Europa viele Anhiinger. In Deutschland setzten sich vor aHem H. ROTHSTEIN und A. C. NEUMANN fiir das neue Verfahren ein. ROTHSTEIN wurde 1848 Leiter der militiirischen Zen­tral-Turnanstalt in Berlin. Die schwedische Heilgym­nastik war personeH aufwendig, fiir einige Ubungen wurden zwei oder sogar drei Gymnasten benotigt.

»Gesundheit maschinell herstellen«

Der schwedische Arzt G. J. W. ZANDER kam auf den Gedanken, die Heilgymnastik einer Maschine zu iibertragen. Er ersetzte den Gymnasten durch ein Geriit und hatte damit einen bahnbrechenden Er­folg. Schon bald war es »moderner«, sich von einer - nach wissenschaftlichen Kriterien konstruierten -Maschine als von einem Menschen behandeln zu las­sen. Die Technikbegeisterung und ein zunehmender Bewegungsmangel in den hoheren Schichten begiin­stigte die Verbreitung der Zanderschen Therapie.

Abb. 61. Wider­standsapparat nach G. ZANDER zur KriiJtigung der Riickenmuskulatur (Anwendung in Abb. 62)

I I. HOTH TEl N

Otnzicr, 1810- L863

A. . C. NEUi\'IANN

Orthopide. 1803- 1876

G. J. \ . %A DEli

Ar zL u nd Physioth rrape ut. 1835-1920

Page 86: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

76 Heilgymnastik, Massage und physikalische Therapie

II. KHUKENBEHG Orthopade, 1863-1935

(Krukenbergplastik und -arm)

I-I. EDEL Orthopade, 1853-1930.

Mitherausgeber der Zcitschrift fUr

Orthopadische Chirurgie

Teure und aufwendig gestaltete medikomechanische Institute entstanden in vielen europaischen GroB­stadten und Heilbadern. Dariiber hinaus iiberwiesen die Berufsgenossenschaften Verletzte zur maschinel­len Heilbehandlung, da sie sich hierdurch eine best­mogliche Wiederherstellung und damit niedrige Un­faHrenten versprachen. In Deutschland unterstiitz­ten unter anderem A. HOFFA, H. KRUKENBERG und der Frankfurter Orthopade H. NEBEL die Zanderthe­rapie. Eine spate Wiedergeburt erlebte dieses Be­handlungsverfahren mit der »passive motion« zur postoperativen Mobilisierung und Kontrakturbe­handlung.

Die Professionalisierung der Heilgymnastik

Die Zandertherapie geriet mit dem 1. Weltkrieg we­gen ihrer hohen Kosten und fehlender Mobilitat schlagartig in Vergessenheit. Die groBe Zahl der Ver­wundeten steHte neue Anforderungen an die ortho­padischen Chirurgen. Innerhalb der Physiotherapie gewann die Krankengymnastik an Bedeutung. Vor aHem machte sich ein Mangel an ausgebildeten The­rapeuten bemerkbar. Bisher gab es nur die urn 1900

Abb. 62. Wider­standsapparat nach ZANDER in Anwen­dung (A. LUNING und W. SCHULTHESS, 1901)

Page 87: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Heilgymnastik, Massage und physikalische Therapie 77

Abb. 63. Aktive Widerstandsiibung bei Skoliosebehand­lung (LUBINUS, 1933)

von J. H. LUBINUS in Kiel gegriindete »Bildungsan­stalt fUr Heilgymnastinnen«, die eine zweijahrige Ausbildung anbot. 1920 wurden in der von W. SMITT in Dresden begriindeten sachsischen Staatsanstalt fUr Krankengymnastik und Massage die ersten Schii­ler aufgenommen. Bis 1939 entstanden in Deutsch­land insgesamt neun Krankengymnastikschulen, 1958 wurde die Berufsbezeichnung Krankengymna­stiniKrankengymnast in der Bundesrepublik ge­schiitzt, 1960 eine neue Ausbildungs- und Priifungs­ordnung verabschiedet.

J.I-I . L B I N

Orthopade lind Klinikleiter.1865- 1937

Page 88: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

78 Heilgymnastik. Massage und physikalische Therapie

J. Zt\J3LUDOWSKI

Arzt.1851- 1906. Professor an der niversitat Berlin

Abb. 64. Druckmassage der Nervenabgange aus der Wirbelsaule bei Schwindsucht (ZABLUDOWSKI. 1903)

Die Massage stand in der jiingeren Vergangenheit im Schatten der Krankengymnastik. Das war nicht immer so. Seit 1875 galt die Massage als ein schul­medizinisch anerkanntes Behandlungsverfahren. sie wurde haufig als Sammelbegriff fiir die Bewegungs­therapie genannt. Die Berliner Universitat besaB so­gar eine »Massage-Anstalt« die von J. ZABLUDOWSKI geleitet wurde. 1m Laufe der folgenden lahrzehnte bildeten sich unterschiedliche Indikationen fiir Kran­kengymnastik und Massage heraus. ohne daB ihr in­nerer Zusammenhang verloren gegangen ware.

Page 89: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Naturheilkunde und Orthopadie

R eine Luft, Licht und Sonne werden seit Jahrtau­senden als Heilfaktoren geschatzt. ANDRY riet den Eltern, ihre Kinder der frischen Luft auszusetzen. Die Industrialisierung und Verstadterung, lange Ar­beitszeiten und einseitige Ernahrung begiinstigten Tuberkulose und Rachitis. Dem Leipziger D. G. M. SCHREBER fiel der Zusammenhang zwischen den so­zialen Verhaltnissen und der Haufigkeit von Krank­heiten auf. Auf seinen Namen gehen die »Schreber­Garten« zuriick, Kleingarten, mit denen armeren Bev6lkerungsschichten die M6glichkeit geboten wur­de, Zeit in der Natur zu verbringen und sich k6rper­lich zu betatigen. Der Schweizer A. RIKLI erhob Luft und Lichtbader zu zentralen Elementen einer Le­bensanschauung, er wurde Vorreiter der Heliothera­pie in der Naturheilkunde. Die medizinische Wirk­samkeit der Behandlung mit elektrischem Licht be­wies 1895 N. FINSEN, der damit Kranke, die an einer Hauttuberkulose, dem Lupus vulgaris, litten, heilen konnte. 1903 erhielt er hierfUr den Nobelpreis fUr Medizin. Auch die his zur Jahrhundertwende als weitgehend unheilbar angesehene Knochen- und Ge­lenktuberkulose verlor dank der Heliotherapie ihren Schrecken. Die Schweizer O. BERNHARD und A. ROL­LIER heilten auch Schwerstkranke durch intensive Sonnenbestrahlung. Urn die giinstigen Wirkungen der Sonne auszunutzen, wurden die orthopadischen und chirurgischen Kliniken bis in die 40er Jahre mit groBen Balkonen versehen, auf die die Patienten tagsiiber geschoben wurden. Ab 1920 gelang es, mit kiinstlichem UV-Licht die Rachitis wirksam zu hei­len.

D. G. M. ClIllEBEH

Ol'thOptid('. 1808-IR()1

A. . B IKLI Fiir bl'J' 'ibesitzc r und Na lurhei lkundl('r. 1823-1906

N. Fl SE '

Arzl, 1860-1904 (Nobelpreis il11 Farh Mrd izin, 1903)

O. BEll !l AII D

Chiru rg. 1861-1939

. RO Ll .IEIl

Chirllr!!. 1874-1954

Page 90: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

80 Naturheilkunde und Orthopiidie

Abb. 65. Links: 4jiihriger Patient mit fortgeschrittener Tuberkulose der beiden FiiBe und der rechten Hand vor der Heliotherapie (A. ROLLIER, 1913); Rechts: Derselbe Junge nach einjiihri­ger Behandlung, die Fisteln sind vernarbt, die Muskulatur hat sich wieder aufgebaut, der All­gemeinzustand ist sehr gut (A. ROLLIER, 1913)

Page 91: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

N aturheilkunde und Orthopiidie 81

Von der Elektrotherapie zum Ultraschall

Die Elektrotherapie konnte zwar niemals die gleiche Bedeutung wie die Krankengymnastik oder Massage erlangen, als erganzendes Behandlungsverfahren bereicherte sie jedoch das Spektrum der konservati­ven Therapie, zum Beispiel bei Lahmungen. Bereits 1744 veroffentlichte C. H. KRATZENSTEIN eine Ab­handlung von dem Nutzen der Electrizitiit in der ArtzneywissenschaJt. J. JALLABERT erbrachte nur vier Jahre spater den Nachweis, daB sich Muskeln mit Hilfe des elektrischen Stromes stimulieren las­sen. G. DUCHENNE verOffentlichte seine Erfahrungen und illustrierte sie 1857 mit Photographien. In Deutschland setzte R. REMAK die Galvanotherapie zur Behandlung von Nerven- und Muskelkrankhei­ten ein.

Die Kurzwelle fand durch E. SCHUEPHAKE 1930 Eingang in die Physiotherapie und verbreitete sich rasch. Die Ultraschallbehandiung wurde erstmals 1939 von R. POHLMANN zur Behandlung radikularer Syndrome empfohlen. Sie wird noch heute bei Weichteilerkrankungen und zur Beeinflussung der Knochenbruchheilung eingesetzt.

Erst wenige Jahre alt ist die StoBwelIentherapie, die Heilungsvorgange an Weichteilen beschleunigen und Gewebeverkalkungen auflosen solI.

c:. G. KHATZE, STEI :"l

Arzl, ] 723- 1795

J. JALLI\ BEHT

Arzl. 1712- 1768

B. G. DUCII Ei\i\ E

Physio logc . 1806-1875

H. lkmak Physiologe, 1815- 1865

E. CIILlEPIl AKlo

Arzl, 1894-1995

H. PO II DIA:"IN

PhysLker, 1907-197

Page 92: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

82 Naturheilkunde und Orthopiidie

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Abb. 66. Oben: Schrift tiber die elek­trische Medizin (J. G. SCHAFER, 1766); Unten: Abbildung aus der Schrift

Page 93: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Korsettversorgung

K orsette werden vor aHem bei unphysiologischen Kriimmungen der Wirbelsaule (Skoliose, Kyphose), Infektionen (Spondylitis) und Knochenbriichen (Frakturen) der Wirbelkorper eingesetzt.

Die Korsettversorgung der vergangenen Jahrhun­derte war einerseits von den unterschiedlichen bio­mechanischen Vorstellungen und dem Wissen iiber die pathologischen Veranderungen der Wirbelsaule und andererseits von den zur Verfiigung stehenden Materialien gepragt.

Mit den zunehmend besseren Operationstechniken hat sich die Indikation zur aHeinigen Korsettbehand­lung wesentlich gewandelt. War das Korsett vor 150 Jahren die einzige Moglichkeit der Versorgung, so

Abb. 67. F. HESSING

wiihrend einer Korsettanprobe

r. HESS I 'G

Orgelbauer und GroBunlcrnehmer, 1838-1918. Erneuerer def Orlhopadietcchnik. GrUnder del' orthopHdischen Ilcil­anstalt in Goggingcn. heute »Hessingschc SUl"tungcn«

Page 94: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

84 Korsettversorgung

L.A. SWllE

Ol'thopadischer Chirurg, 1820- 1900

K. LINDEMAN '

Ol'thopiidi cher Chirurg. 1901-1966

wird es heute wesentlich haufiger als begleitende MaBnahme zum operativen Eingriff angewandt. Bei den Skoliosen bestimmt das AusmaB der Krum­mung, ob nur das Korsett oder eine Kombinations­therapie in Frage kommt.

Von besonders groBer Bedeutung war die EinfUh­rung der Gipsbinde, die von L.A. SAYRE in der Skolio­sebehandlung inauguriert und spater auch fUr ande­re Indikationen (Wirbelkorperbruche, Spondylitis) eingesetzt wurde. So stabilisierte L. BOHLER Wirbel­korperbruche mit einem Gipskorsett.

Neben den starren Korsetten haben sich insbeson­dere fUr die degenerativen Leiden halbelastische Or­thesen nach G. HOHMANN (1941) und K. LINDEMANN (1946) etabliert, die noch heute ihren Stellenwert besitzen. Kontrovers diskutiert wird die Auswirkung auf die Ruckenmuskulatur.

Abb. 68. Diverse Korsettkonstruktionen (R. PASCHEN, 1902)

Page 95: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Abb. 69. Friihes StUtz­korsett, »Blechpanzer« (A. PARE, 1579)

Jah,.

1579 1592 FADIlI I

1700 1762 .R x 1768 F. G. L, A liEn

1789 J. E EL

24 J. SILA

2 J. DEl. PECIi

1 77 L. . SA RE

79 F. liE I G

19B E.G. 1l01,

1931 J.e. HI En

1945 W. P. BLO

1957 Y. COTREL

1970 P. TAG AlIA

1977 II. . \N "IT

1979 J. CIIE ' \

Thcrapi

Abb. 70. Friihes Redres­sionskorsett »Heister­sches Kreuz« (L. HEISTER, urn 1700)

»BI chpanzcr«

»11) pomorhlion« » II eisl rsell(' Kreuz«

Kors Ll mit \3rckenab tiitzung K,. tt und Ext n ion

K r tl mil Korrekturmogli hkeit del' Tor ion Kor eltanlag in • t nsion "inftihrung der akLiven

Therapi im Ko,. U

u pension und Gipsanlag

Rahmen tiitzko,.setl

Gipskorsctt

mkrummung qUl'ngclgips

lih auker-Kors II

E.D.F.-Gip kor tt

Lyon r-Kors Lt

Boston-Kor eU

Abb. 71. Die Korsettentwicklung vom Mittelalter bis in die Neuzeit

Korsettversorgung 85

Page 96: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

»Antoniusfeuer« synonym Ergotismus:

Erkrankung die durch den Befall des Roggens

mit Mutterkornpilzen auftritt

Ersatz der unteren Extremitaten

Die Amputation

Unfiille mit komplizierten Knochenbriichen, Verlet­zungen bei kriegerischen Auseinandersetzungen und Erfrierungen konnen Hiinde und FiiBe, Beine und Arme so schwer schiidigen, daB eine Amputation notwendig wird. 1m Altertum endeten schwere offe­ne Knochenbriiche wegen der nachfolgenden Infekti­on meist todlich. Am ehesten diirften die Verwunde­ten iiberlebt haben, bei denen die traumatische Am­putation mit einer glatten Schnittfliiche verbunden war. Auch der »Brand«, die trockene Nekrose einer Extremitiit als Folge einer DurchblutungsstOrung, konnte iiberlebt werden. Die hiiufigste Ursache war das »Antoniusfeuer«. Mit der Entwicklung der Chir­urgie, insbesondere der Einfiihrung der GefiiBunter­bindung, stieg die Wahrscheinlichkeit, eine Amputa­tion zu iiberleben. Die Amputation wurde nun sogar zur Lebensrettung bei schweren Erkrankungen, zum Beispiel bei unheilbaren Infektionen, eingesetzt.

Bein- und Fuj3prothesen

Die einfachste Prothese fiir den Unterschenkel ist der StelzfuB. Bekannt ist die Abbildung eines Satyrs auf einer etruskischen Vase aus dem 2. Jahrhundert v. Chr.

1m allgemeinen winkelt der Amputierte das Knie ab und belastet damit die Stelze im Sinne eines Knieruhebeines, auf der sich eine gepolsterte Platt­form befand. Bei aller Primitivitiit ermoglichte diese

H. BOSCH Konstruktion ein sicheres Gehen. Eine Grafik von H. urn 1450-1560 BOSCH liiBt erkennen, daB auch andere Prothesen,

sei es im Eigenbau oder von Handwerkern konstru-

Page 97: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Abb. 72. Nachbau des »Kleinen Lotharin­gers«, einer Ober­schenkelprothese (A. PARE, 1545)

Abb. 73. Prothesen­versorgung einer FuBwurzelarnputation nach N. PIROGOFF urn 1920

Ersatz der unteren Extrernitaten 87

Page 98: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

88 Ersatz der unteren Extremitiiten

II. RAVATON

Chirurg, Mitte 18. Jahrhundert

.IL'\BERMAN

Orthopadiemechaniker 1 91- 1963

H. PITZY

Orthopide, 1872-1956. Leitete wiihrend des

1. Weltkrieges cin Lazaretl mit 4000

Bellen

iert, in Gebrauch waren. Der Chirurg A. PARE er­wahnte im 16. Jahrhundert neben dem Stelzbein eine Oberschenkelprothese, die von einem Kunst­handwerker, dem »kleinen Lotharinger«, hergestellt worden sei. Es bestand aus Eisenblech und konnte im Knie abgeknickt werden. Auch der Oberschenkel­amputierte konnte mit einer Stelze versorgt werden, wenn der Kocher an den Stumpf angepaBt und Ab­stiitzungspunkte am Korper gefunden wurden. Das Stelzbein wurde durch einen Becken- oder Schulter­gurt gesichert. Da es sich besonders bei schweren und schmutzigen Arbeiten bewahrte, war es in Deutschland bis nach dem 1. Weltkrieg verbreitet, in der dritten Welt findet man sie noch heute.

1m 18. und 19. Jahrhundert nahm der Kunstbein­bau einen raschen Aufschwung. Man entwickelte Prothesen fUr die verschiedenen Amputationshohen. Knie- und FuBgelenk wurden beweglich gearbeitet. 1755 konstruierte H. RAVATON einen Unterschenkel­apparat aus Leder fUr einen FuBamputierten. 1m Laufe der Jahrzehnte verbesserte man PaBform, Be­festigung und Sicherheit der Prothesen. Als Material kamen Holz, Leder, Blech, Kupfer und Tierfell zur Anwendung.

Der Orgelbauer und Unternehmer F. HESSING brachte neue Ideen in die Orthopadietechnik. Er mo­dellierte die Orthesen und Prothesen anatomisch korrekt an den Korper an. Seine Oberschenkelpro­thesen nutzten schon das Sitzbein zur Lastiibertra­gung auf die Prothese.

Wichtige technische Neuerungen kamen den Kriegsbeschadigten nach dem 1. Weltkrieg zugute. Der Orthopade F. SCHEDE und der Orthopadiemecha­niker A. HABERMANN konstruierten ein polyzentri­sches Kniegelenk, das dem Sicherheitsbediirfnis des oberschenkelamputierten Patienten gerecht wurde. Urn die Zeit bis zu einer endgiiltigen Versorgung nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, wurde Am­putierten ein Kocher aus Gips als Interimsprothese nach H. SPITZY anmodelliert. Doppelt Oberschenkel­amputierte wurden direkt nach dem Eingriff mit Kurzprothesen (Stubbi) versorgt. In beiden Fallen

Page 99: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Abb. 74. Interims­Oberschenkelschaft­prothese nach H. SPITZY, 1920

Abb. 75. Modell einer Oberschenkelprothe­se mit polyzentri­schem Kniegelenk nach SCHEDE-HABER­

MANN,1920

Ersatz der unteren Extremitiiten 89

Page 100: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

90 Ersatz der unteren Extremitiiten

ging es darum, die Verwundeten schnell zu mobili­sieren.

In den letzten Jahrzehnten haben Kunststoffe zu­nehmend an Bedeutung gewonnen. Neben der Ge­wichtsersparnis spielen fertigungstechnische Vorteile eine Rolle. Dies gilt auch fiir die Modularprothesen, die aus einem Baukastensystem zusammengesetzt werden und einfache Justierungen wahrend der An­probe ermoglichen.

Geandert hat sich nicht nur die Technik, sondern auch die Indikation zur Amputation, heute miissen sich vorwiegend altere Menschen mit Durchblu­tungsstOrungen oder Stoffwechselerkrankungen die­sem Eingriff unterziehen.

Page 101: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Ersatz der oberen Extremitaten

D er Ersatz von Hand und Arm ist weitaus schwieri­ger als der des Beines. Die Beine dienen der Fortbe­wegung, sie iibertragen die Last des K6rpers auf den Boden. Eine gute Prothese erfiillt diese Anforderun­gen. Dagegen nehmen wir mit den Winden Kontakt zu unserer Umwelt auf, wir »begreifen« sie. Die Funktion der Hand ist unmittelbar mit dem Gefiihl verbunden. Diese kann niemals durch eine Prothese ersetzt werden. Der einseitig Amputierte benutzt die Prothese als Beihand, der doppelseitig Amputierte muB die Greiffunktion beider Kunsthiinde intellek-

Abb. 76. Gebrauchs­hand: Fischer-Hand, Zedernholz, 1917

Page 102: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

92 Ersatz der oberen Extrernitiiten

tuell kontrollierten. Das GefUhl fUr den Gegenstand fehlt ihm.

Trotz dieser Schwierigkeiten sind seit dem Alter­tum eine Vielzahl von beweglichen Hiinden erwahnt oder erhalten. So solI der r6mische General MARCUS SERGIUS, der urn 200 v. Chr. seine rechte Hand in ei­ner Schlacht verlor, mit einer Prothese viele Kampfe siegreich bestritten haben.

Abb. 77. Gebrauchshand: Hiifner-Hand, Metall, 1917

Abb. 78. Keller Arbeitshand, urn 1920

Page 103: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

Ersatz der oberen Extrernitaten 93

1504 wurde GOTZ VON BERLICHINGEN in einem Ge­fecht eine Hand abgeschlagen. Er lieB sich eine Kunsthand mit beweglichem Daumen und Langfin­gern aus Eisen anfertigen. Diese und viele andere Prothesen aus dem 16. bis 18. lahrhundert verfiigen tiber einen Mechanismus, mit dem Gegenstiinde fi­xiert und nach Aufuebung einer Sperre losgelassen werden k6nnen. Ein aktives Greifen war damit nicht

Abb. 79. Prothesenversorgung einer Unterarrn-Sauerbruch-Kine­plastik. urn 1916

Abb. 80. Prothesenversorgung einer Krukenberg-Plastik. urn 1925

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94 Ersatz der oberen Extremitiiten

P. B. BALLIF

Zahnarzt, 1775-1831

moglich. Die erste Prothese mit willkiirlich bewegli­chen Fingern geht auf den Berliner Zahnarzt und Techniker BALLIF im Jahre 1812 zuriick. Streckte der Trager den Ellenbogen, so Offneten sich die Fin­ger. Seit diesem Zeitpunkt baute man Seilziige in die Prothesen ein, mit denen die Finger iiber einer Be­wegung der gegenseitigen Schulter oder des Rump­fes geoffnet und geschlossen werden konnten.

Der erste Weltkrieg gab den Orthopaden den An­stoB, die Prothesenversorgung der oberen Extremi­tat weiter zu entwickeln. Der Greifmechanismus wurde verbessert. Bei vielen Prothesen lieB sich die

Abb. 81. Krukenberg­Plastik beidseits bei Zustand nach trau­matischer distaler Unterarmamputation (H. GOCHT, 1925)

Abb. 82. Praktischer Gebrauch der Greif­arme nach Kruken­berg-Plastik (M. LANGE, 1956)

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Ersatz der oberen ExtremWiten 95

bewegliche Hand gegen Arbeitsgerate auswechseln, die besser fUr spezielle Tatigkeiten geeignet waren. H. KRUKENBERG widmete sich den Ohnhandern. Bei dem nach ihm benannten Operationsverfahren wer­den Elle und Speiche getrennt, sie werden wie eine Zange zum Greifen benutzt und konnen auch in Ver­bindung mit einer Prothese Greiffunktion steuern. Der Chirurg F. SAUERBRUCH nutzte die Kraft der noch vorhandenen Muskeln, urn die Funktion der Kunst­hand zu verbessern. Er bildete Kanale in der Beuge­und Steckmuskulatur und verb and diese Muskeln uber Zuge mit der Hand. 1m Gegensatz zu anderen Versorgungen ermoglichten die beiden letztgenann­ten Operationsmethoden bei der nachfolgenden Pro­thesenversorgung eine Ruckmeldung der Greifkraft.

1949 wurde die »Vaduzer Hand«, eine elektromo­torisch betriebene Prothese von dem Schweizer E. WILMS patentiert. Seit 1955 nutzt man elektrische Muskelimpulse, urn die Funktion der Hand zu steu­ern. Hiermit lieBen sich gute Ergebnisse erzielen.

E. F. s,\ EIlIlIlUCIl

Chil'urg. 1875- 1951

E. WIL IS Arzl. 1911-1996

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Krepitation: Knochenreiben

F. STE I MA ' N

Chil'ul'g, 1872- 1932

M. K IRSC H NER

Ch irurg, 1879-1942

Knochenbruchbehandlung

K nochenbriiche sind so alt wie die Menschheit. Schon sehr friih bildeten sich praktische Richtlinien zur Diagnostik und Therapie von Briichen heraus. Fehlstellung, Krepitation und abnorme Beweglich­keit wurden bereits in der Antike als sichere Zei­chen eines Knochenbruches angesehen. Das Prinzip der Ruhigstellung der verletzten ExtremWit war von jeher unbestritten. 1m Laufe der Jahrhunderte an­derten sich die dazu verwendeten Materialien (Star­ke, Gips) und Gerate (z. B. Schienenapparate). Frii­her wie heute ist eine m6glichst optimale Reposition die Voraussetzung fUr ein gutes Ergebnis. Der Stel­lungskorrektur wurde gr6Bte Aufmerksamkeit ge­schenkt. Die EinfUhrung der R6ntgenstrahlen und verbesserte Methoden der Extension (Steinmann-Na­gel, Kirschner-Draht) erleichterten eine anatomisch korrekte Einrichtung.

Abb. 83. Trockenpraparat einer in Fehlstellung verheilten Ober­schenkelschaftfraktur. Institut fUr Pathologie »Georg Schmorl«, Klinikum Dresden Friedrichsstadt, Dresden

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Knochenbruchbehandlung 97

LORENZ BOHLER systematisierte die Therapie der Knochenbriiche wahrend und nach dem 1. Welt­krieg. Er propagierte die absolute Ruhigstellung der verletzten Region bei gleichzeitiger aktiver Bewe­gung aller nicht verletzten Gelenke. Seine Richtli­nien haben bis heute in der konservativen Fraktur­behandlung Bedeutung.

Manche Knochenbriiche heilen trotz Ruhigstellung nicht aus. Ein typisches Beispiel ist der Querbruch der Kniescheibe, bei dem die Oberschenkelmuskula­tur die Bruchfragmente auseinander zieht. J. MAL­GAIGNE beschrieb 1848 ein klammerartiges Instru­ment, mit dem die beiden Bruchstiicke der Knie­scheibe zusammengefUhrt werden konnten. Die oft unheilbare Schenkelhalsfraktur wurde 1858 von B. V. LANGENBECK mit einer Bolzung stabilisiert. J. LISTER »nahte« die gebrochene Kniescheibe und 1886 setzte LANGENBECK vor LAMBoTTE (1902) erst­mals einen Monofixateur externe ein.

T. GLUCK nahm schon 1891 wichtige Prinzipien der operativen Knochenbruchbehandlung vorweg (Marknagel, Platten), ohne sie zur Praxisreife zu fiih­ren. Die Verwendung von Schrauben und Platten zur Stabilisierung von Frakturen geht auf W. LANE und A. LAMBOTTE (Zugschraubenprinzip, 1907) zuriick.

Die Entwicklung rostfreier Stahle (V2A, 1912) war fUr die innere Knochenbruchschienung von entschei­dender Bedeutung, da die Korrosion der Implantate Metallosen verursachte. E. W. H. GROVES stabilisierte 1916 einen Ellenschaftbruch mit einer in den Mark-

Abb. 84. »Malgaigne Klammer«: Friiher Fixateur externe zur Be­handlung der Kniescheibenbriiche (A. EULENBURG, 1887)

L. HOIILEH Chirurg, 1885- 1973

J. MALGAIGNE

Chirurg. 1806-1865

B. VON !..IINGENBECK Chirurg.1810-1887 (Langcnbeck-Wund­hakcn)

Fixateur externe: AuBere Verspannung eines Knochenbruches mittels Steinmann­Nageln und Verbindungsstiicken

W. I.ANE

Orthopadiscllf'1' Chirurg, ! 56-1938

A. LAMBorn.; OrthopadisGhcr Chinll'g. 1865-1955 (LamboLtc­MciBcl)

E. w.1!. GROVES

Orlhopadischcr Chirurg, 1872-1944

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98 Knochenbruchbehandlung

L. V. R SH

Orthopiidische Chirurgin. gpb. 1905

II. L.RulI Orthopiidischer Chirurg.

1897-1965

G. KUNTSCHEH

Chirurg. 1900-1973

R. DANIS

Orthopiidischcr Chirurg. 1880-1962

kanal eingebrachten Metallstange. Dieses Verfahren wurde von L. V. und H. L. RUSH 1927 in Amerika ver­breitet (Rush-Pin). G. KUNTSCHER griff den Gedanken auf und entwickelte hieraus die stabile Marknage­lung der langen Rohrenknochen. R. DANIS konzi­pierte 1930 eine Platte, die Fragmente nach korrek­ter Reposition unter Druck brachte.

Die operative Knochenbruchbehandlung konnte sich erst mit der Griindung der Arbeitsgemeinschaft fUr Osteosynthesefragen (AO) international durchset­zen. Diese Vereinigung, die in der Schweiz 1958 ins Leben gerufen wurde, stellte allgemein giiltige Richt­linien zur operativen Knochenbruchbehandlung auf. Die Osteosyntheseverfahren wurden kontinuierlich weiterentwickelt. Auch zukiinftig werden neue Tech­niken (z. B. resorbierbare Klebstoffe) Eingang in die Praxis tinden.

Abb. 85. Trockenpraparat eines Oberschenkels mit Zustand nach Schaftfraktur und Kiintscher-N agel-Versorgung. Medizinhistori­sches Museum an der Charite, »Virchowche Sammlung«, Berlin

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Knochenbruchbehandlung 99

Abb. 86. Transparentes Kunststoffskelett zur Demonstration des kiinstlichen Gelenkersatzes (rechte Korperhiilfte) und der operati­ven Knochenbruchbehandlung (linke Korperhiilfte)

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Endoprothetik: Spezialgebiet der

Orthopiidie, das sich mit dem Ersatz eines

Gelenkes aus Fremdmaterial

beschiiftigt.

BIIEA BARTO

Chirurg. 1797-1871

Resektionsarthroplastik: Entfernung eines

Gelenkes mit dem Ziel der Schmerzlinderung und der Verbesserung

der Beweglichkeit

II. "ELFERICII Chirurg. 1851-1945

Faszie: Bindegewebige Hiille der

Skelettmuskulatur

Arthroplastik: Gelenk­neubildung und

Interposition von Haut-, Fett- oder Bindegewebe

zur Verbesserung der Gleitflache

Endoprothetik

H eute ist der kiinstliche Gelenkersatz bei Arthrosen ein Routineeingriff. Noch vor einigen Jahrzehnten stellten Gelenkerkrankungen die orthopadischen Chirurgen vor fast uniiberwindliche Problerne. Ge­lenkversteifungen und Fehlstellungen waren haufige Folge von Infektionskrankheiten wie der Tuberkulo­se, Knochenbriichen und rheurnatischen Leiden. Operative Korrekturen blieben bis zur Einfiihrung der Anti- und Asepsis seltene Ausnahrnen, die sich nur bei vitaler Indikation rechtfertigen lieBen.

1826 durchtrennte J. R. BARTON ein versteiftes Hiiftgelenk, urn eine storende Fehlstellung zu besei­tigen. Die Resektionsarthroplastik wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts haufiger an Stelle der Amputa­tion zur Behandlung tuberkulOser Erkrankungen an­gewendet. Die dauerhafte Rernobilisierung verkno­cherter Gelenke gelang erstrnals H. HELFERICH durch die Interposition von Muskel und Faszie zwischen die durchtrennten Knochenfragmente. Er legte darnit die Grundlagen der Arthroplastik, die durch

Abb. 87. Knie-Endo­prothesen aus Elfen­bein (T. GLUCK, 1891)

Page 111: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

die Operationsverfahren von E. PAYR bis nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland mitbestimmt wurden.

Von anfanglichen MiBerfolgen gepragt war der Einsatz von Fremdmaterialien und Gelenktransplan­tationen. 1891 implantierte T. GLUCK Scharnier­prothesen aus Elfenbein in tuberkul6se Kniegelenke. E. LEXER transplantierte 1907 vollstandige Leichen­knie. Da die Implantate abgestoBen wurden, standen die Chirurgen der Verwendung von Fremdmaterial in den folgenden Jahrzehnten ablehnend gegeniiber. Eine Anderung deutete sich erst 1923 an, als M. N. SMITH-PETERSEN Kappen unter anderem aus Metall in deformierte Hiiftgelenke einbrachte und damit die Funktion verbesserte. 1940 ersetzten A. T. MOORE und H. R. BOHLMANN einen tumor6sen Hiiftkopf durch eine Stielprothese und antizipierten damit die moderne Hiiftendoprothetik. Die Gebriider J. UND R. JUDET resezierten den Hiiftkopf und setz­ten eine gestielte Kappe aus Kunststoff auf den Schenkelhals. Zwischen 1946 und 1950 fiihrten sie mehr als 600 Eingriffe aus. Die Hiiftpfanne wurde 1951 erstmals durch G. K. McKEE ersetzt. Der engli-

Abb. 88. Smith-Peter­sen-Kappe auf einem Hiiftkopf aufgesetzt, urn 1923

. 1<.4.

Endoprothetik 101

E. P,WH

Chi r llrg. 1871-1946

T. (;L CK Ch irurg.1853- 1942

Enlcl! LExiin Chinll·g.l 67- 19:37

\ U\. S'"I1I-PI" I Ell '" Orthopiidisrhrr Chirllrg. 1886- 1953

.\ . T. t-.l00Hk Orlhoptidisehcr Chil'ul'g. 1899- 1963

II. R. BO II L\I .\:'-:>I Orthopiid is('hrr Chirurg. 1893-1979

J . .It:DET Orlhopiidiseher Cl1irurg. grb. 1905

n. J 11FT Ortl1opadisdwr Chirurg. 1909-1980

G. K. I\ Ic:KEE Urthopiidis{'\wl' Chil'ul'g. geb. 1905

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102 Endoprothetik

JOliN CIIAHNLEY

OrthupadiS 'her Chirurg, 1911-1982

Abb. 89. Srnith­Petersen -Kappe aus Plexiglas, urn 1939

Abb. 90. Hiiftkopf-Stiftprothese nach JUDET, 1946

sche Chirurg J. CHARNLEY erneuerte Htiftkopf und Pfanne und verwendete 1960 Knochenzement zur Verankerung der Prothesenteile. Der von ihm ent­wickelte Prothesentyp bestimmte tiber Jahrzehnte die Endoprothetik.

Weitere Verbesserungen sind neuen Werkstoffen, einem geanderten Prothesendesign, der Austausch­barkeit von Prothesenteilen und nicht zuletzt der Art der Verankerung im Knochenlager zu verdanken.

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Endoprothetik 103

Abb. 91. Sivash-Prothese, urn 1959

Abb. 92. Hiiftendoprothese nach J. CHARNLEY (A. HUGGLER, 1968)

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104 Endoprothetik

Zur Zeit befinden sich iiber 500 verschiedene Hiiftprothesen auf dem Markt. Diese groBe Zahl deu­tet an, daB noch keine einheitliche Meinung iiber Werkstoffe, Prothesendesign und Implantattechnik erzielt werden konnte.

Allein in Deutschland werden jahrlich mehr als 200 000 kiinstliche Hiiftgelenke eingesetzt. Eine par­allele Entwicklung zeichnet sich bei der Knieendo­prothetik abo Neben diesen haufigen Eingriffen ist unter anderem ein kiinstlicher Ersatz von Schulter-, Ellenbogen- und Handgelenk moglich. Selbst die En­doprothetik der Fingergelenke gewinnt zunehmend an Bedeutung.

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Minimalinvasive Chirurgie der Gelenke

D ie aseptische Gelenkchirurgie entwickelte sich En­de des 19. Jahrhunderts. Zur Arthrotomie entschloB man sich erst nach Aussch6pfung aller konservativer MaBnahmen. Die Operation des Kniegelenkes blieb ein schwieriger Eingriff, da insbesondere die »Bandscheiben des Kniegelenkes« nur teilweise zur Darstellung kamen. Mit Zunahme der degenerativen Leiden und der besseren Kenntnis tiber die Atiologie von Knieschmerzen kam der Diagnostik der Menis­ken eine zunehmend gr6Bere Bedeutung zu. Diese war mit den vorhandenen M6glichkeiten jedoch nicht zu erzielen.

Die Inspektion von Hohlraumen innerer Organe stellte auch andere Fachrichtungen vor groBe Pro­bleme. Die erste Voraussetzung, Strukturen sichtbar zu machen, die unter gew6hnlichen Bedingungen nicht zu sehen sind, war die Ausleuchtung von K6r­perh6hlen. Dies gelang dem Frankfurter P. BOZZINI im Jahre 1806 mit seinem »Lichtleiter«. Diese Ent­wicklung gipfelte in der Erfindung des Zystoskopes von J. LEITER und M. NITZE (1886). Der Schweizer E. BIRCHER machte sich diese bisherigen Kenntnisse und Instrumente zu Nutzen und setzte ein Laparo­skop zur Meniskusdiagnostik ein. 1921 berichtete er erstmals in einer Publikation tiber seine Erfahrun­gen. BIRCHER etablierte bereits Techniken, die heute noch zum Standard der Kniegelenkspiegelung zah­len. Die Arthro-Endoskopie fand nicht sofort allge­meine Anerkennung, so wurde die Methode kontro­vers diskutiert und teilweise als »schlichtweg un­m6glich« abgetan.

Trotz des Widerstandes konventioneller Chirurgen setzte sich das Verfahren mit der Verbesserung der technischen M6glichkeiten weiter durch. Den rein

Arthrotomie: Operative ErOffnung eines Gelenkes

Atiologie: Krankheitsursache

P. BozZI I J\rzt. 1773- 1R09

Zystoskopie: Spiegelung der Harnblase

.l. LEITEH

1 nstrumenlcll baurr. 1830- 1892

M. IT%E

I\n~t. 1848-1906

Ii. Bmell EB Chirurg, ] 882-1956

Laparoskopie: Spiege­lung des Bauchraumes

Arthroskopie: Gelenkspiegelung

Page 116: Orthop¤die — Geschichte und Zukunft: Museumskatalog

106 Minimalinvasive Chirurgie der Gelenke

M. WATANABE

Arzt. I lcrnusgober ines rthroskopieatlas 1957

... .............

Abb. 93. Endoskopi­sche Instrumente von NIETZE-LEITER, 1883

diagnostischen Ma8nahmen folgte die arthroskopi­sche Chirurgie. 1962 wurde in Japan von M. WATA­

NABE eine arthroskopische Meniskusoperation durchgefiihrt.

In den folgenden Jahrzehnten wurde die Technik weiter ausgebaut. Eine wesentliche Verbesserung kann in der Ubertragung des Bildes mit einer Video­kamera auf einen Bildschirm angesehen werden. Neben der optimierten Bildiibertragung wurden die Instrumente konsequent weiterentwickelt. Motori­sierte Systeme tragen heute zu der schnellen und vollstandigen Entfernung freier Gelenkpartikel beL Zur Gelenkauffiillung haben sich Fliissigkeiten (Glu­kose- o. Ringerlosung) im Gegensatz zu Sauerstoff, Stickstoff oder CO2-Insufflation durchgesetzt. Dank der modernen Technik ist es moglich, neben den Me­niskusoperationen auch Kreuzbandrekonstruktionen durchzufiihren, welche noch vor einem Jahrzehnt in der offenen Technik erfolgen muBten.

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Minimalinvasive Chirurgie der Gelenke 107

Neben dem Kniegelenk werden eine Reihe weite­rer Gelenke der oberen und unteren ExtremWit ar­throskopisch untersucht und behandelt (Schulter-, Ellenbogen-, Hand- und Sprunggelenk). Die Entwick­lung der minimalinvasiven Gelenkchirurgie ist noch nicht abgeschlossen. Flexible Arthroskope, dreidi­mensionale Wiedergabe, neue Lasertechniken und die Kombination mit modernen Navigationssystemen bieten weitere Verbesserungen der bestehenden dia­gnostischen und therapeutischen M6glichkeiten.