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Deutsches Orthopädisches Geschichtsund Forschungsmuseum
JAHRBUCH BAND 1
Herausgegeben von L. Zichner M . A . Rauschmann K.-D. Thomann
WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT
Johannes Breitenfelder Kees S. Grooss Christa Habrich Rainer Kotz Werner F. Kümmel Benno Kummer Fritz Niethard Beat Rüttimann Dieter Wessinghage Hans H. Wetz
L. Zichner M. A . Rauschmann K. -D. Thomann (Hrsg.)
O R T H O P Ä D I E -
G E S C H I C H T E U N D Z U K U N F T
Museumskatalog
Mit 93 farbigen Abbildungen
STEINKOPFF DARMSTADT
Dr. med. Michael A. Rauschmann Orthopädische Universitätsklinik, Stiftung Friedrichsheim Marienburgstr. 2, 60528 Frankfurt
PD Dr. med. Klaus-Dieter Thomann Arzt für Rheumatologie, Orthopädie und Sozialmedizin Medizinhistorisches Institut der J. Gutenberg-Universität Mainz Am Pulverturm 13, 55131 Mainz
Prof. Dr. med. Ludwig Zichner Ärztlicher Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik, Stiftung Friedrichsheim Marienburgstr. 2, 60528 Frankfurt
ISBN 978-3-7985-1177-4
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Deutsches Orthopädisches Geschichts- und Forschungsmuseum, Jahrbuch, Band 1 / L. Zichner ... (Hrsg.). Orthopädie - Geschichte und Zukunft; Museumskatalog. - Darmstadt: Steinkopff, 1999
ISBN 978-3-7985-1177-4 ISBN 978-3-642-58701-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-642-58701-6
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1999 Ursprünglich erschienen bei Dr. Dietrich Steinkopff Verlag, Darmstadt in 1999
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen-und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Herstellung: K. Schwind Satz: K+V Fotosatz GmbH, Beerfelden
SPIN 10726802 5 4 3 2 1 0 - Gedruckt auf säurefreiem Papier
Vorwort
m 6. Juni 1998 wurde das Deutsche Orthopadische Geschichts- und Forschungsmuseum in den Raumen der Orthopadischen Universitatsklinik Stiftung Friedrichsheim wiederer6ffnet. Es ist eines der wenigen Museen, das von einer Fachgesellschaft gegriindet und unterhalten wird.
Inauguriert von Georg Hohmann, Ordinarius der Orthopadischen Universitatsklinik Friedrichsheim in Frankfurt am Main von 1930-1946, wurde es 1959 in Wiirzburg, am K6nig-Ludwig-Haus eingerichtet. Die dortige raumliche Enge machte eine Ortsveranderung unumganglich und so wurde das Museum 1995 nach Frankfurt verlegt.
Unter dem Motto: »Was Ihr ererbt von Euren Vatern - erwerbt es, urn es zu besitzen« erfolgte eine museumsgerechte Installation der in Wiirzburg angesammelten Exponate. Es kamen neue hinzu und auch Dauerleihgaben anderer medizinhistorischer Museen bereich ern die Sammlung.
Durch die Aufnahme weiterer Hinterlassenschaften wird das Museum standig erweitert und wird zukiinftig auch jahrliche Sonderausstellungen anbieten.
Danksagen m6chte ich allen Sponsoren, Institutionen und Museen in Deutschland, Osterreich und der Schweiz, die durch finanzielle Zuwendung und Leihgaben dieses Museum zu einem ganz besonderen Anziehungspunkt werden lassen.
Besonderen Dank bin ich meinem Mitarbeiter, Herrn Dr. M.A. Rauschmann und Herrn Priv.-Doz. Dr. K.-D. Thomann, Orthopade und Medizinhistoriker, sowie Herrn T. Guttandin, Diplom-Designer, schuldig, die das Museum konzeptionell gestalten. Herr A. Uschold und Frau J.Ruppelt haben einen GroBteil
VI Vorwort
der Exponate fiir den Katalog fotografiert. Ohne die tatkraftige Unterstiitzung und den Einsatz von Frau Dr. G. Volkert, Frau B. Riegel und Herrn K. Schwind, Steinkopff Verlag, hiitte der Katalog in dieser Form nicht erscheinen konnen - auch ihnen sei herzlich gedankt.
Der Museumsverein veranstaltet jiihrlich medizinhistorische Symposien, die in Form von Jahrbiichern im Steinkopff Verlag herauskommen werden.
Mit dem Museumskatalog liegt nun der erste Jahrbuch-Band vor.
Moge dieser Katalog das Interesse an dem Museum wecken und spiiter - nach dem Besuch - eine anregende Erinnerung bleiben.
Vielleicht entschlieBt sich auch der eine oder andere, dem Forderverein beizutreten - auf daB das Orthopiidiemuseum weiterhin bliihe, wachse und gedeihe.
Frankfurt, im Mai 1999 L. Zichner
Gedruckt mit freundlicher Unterstiitzung von
Aesculap AG & Co. KG, 78532 Tuttlingen Otto Bock, Orthopadische Industrie, 37105 Duderstadt Waldemar Link GmbH & Co., 22315 Hamburg Robert-Bosch-Stiftung GmbH, 70184 Stuttgart Speer Orthopadie-Technik, 66482 Zweibrucken Stryker-Howmedica-Osteonics Howmedica GmbH, 24232 Schonkirch Verein zur Forderung der Orthopadie und Sportmedizin e.v., 60528 FrankfurtIMain
Abbildungen Nr. 1, 16, 17, 18, 21, 22, 23, 25, 27, 28, 29, 30, 32, 34, 36, 37, 38, 39, 40, 43a-c, 51, 53, 54, 59, 61, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 83, 85, 86, 89, 90, 91 fotografiert von Anders Uschold und Judith Ruppelt.
Inhaltsverzeichnis
Die Griindung des Museums 1
Orthopadie, ein Fach mit Geschichte 3
Private orthopadische Heilanstalten im 19. Jahrhundert 4
Diakonie und Caritas nehmen sich der K6rperbehinderten an 7
Die orthopadische Chirurgie etabliert sich 10
Der Staat entdeckt die Bedeutung der Orthopadie 13
Orthopadie und N ationalsozialismus 16
Vom »Kriippelheim« zur Universitatsklinik »Friedrichsheim« 21
Palaopathologie 24
Anatomie 28
Die Anfange der Chirurgie 30
Bernhard Heine 32
Der aufrechte Gang 37
Krankheiten der Wirbelsaule 38
Rachitis 42
Skoliose 45
FuBfehlstellungen 49
Hiiftdysplasie - Hiiftluxation 55
Kinderlahmung (Poliomyelitis) 59
X Inhaltsverzeichnis
N arkose und Schmerztherapie im Wandel der Zeit 63
Antisepsis und Asepsis 66
Rontgen 68
Rontgenganzaufnahme 71
Heilgymnastik, Massage und physikalische Therapie 73
Naturheilkunde und Orthopadie 79
Korsettversorgung 83
Ersatz der unteren Extremitaten 86
Ersatz der oberen Extremitaten 91
Knochenbruchbehandlung 96
Endoprothetik 100
Minimalinvasive Chirurgie der Gelenke 105
Sponsoren 109
Die Griindung des Museums
1 959 wurde das Deutsche Orthopadische Geschichts- und Forschungsmuseum auf Anregung von G. HOHMANN in Wiirzburg gegriindet. In den folgenden Jahrzehnten war das Museum in der Orthopadischen Universitatsklinik Konig-Ludwig Haus untergebracht. Unter der Leitung von A. RUTT und vielen ehrenamtlichen Mitarbeitern gelang es, die Bestande immer weiter auszubauen. Voraussetzung hierfUr waren Spenden, die Schenkung von Nachliissen, unter anderem von B. VALENTIN und die Unterstiitzung der Deutschen Gesellschaft fUr Orthopadie und Traumatologie. Aus Platzgriinden wurde das Museum 1995 nach Frankfurt am Main verlegt und 1998 wiedererOffnet.
Abb. 1. Prof. GEORG
HOHMANN: Leiter der Orthopadischen Universitatskliniken Frankfurt (1930-1946) und Miinchen (1946-1954)
Prof. Georg Hohmann 1880-1970
(;. 11011 1 N
Orthopiidl' . 1880-1970
A. RUn Orthopiide. gC'b. 1918
H. VAI.E TIN
OrthopiidC', 1885- 1965. 1919-1922 Assistl'nl linter K. LudlolT alll
»Fl'iedrir.hshl'im«; 1924-11)36 Chcfarzt dl'r Or Lhopiidisch('n Klinik
Illlustift in Ilannovl!r. ansrhli('('\end rrzwun gf'ne Emigralion nat;h Siidamrri ka: LItOI'
dpr »Gcsch ichll' del' Or lhopiidie«
2 Die Griindung des Museums
Endoprothese: Kiinstlicher Gelenkersatz
Das Orthopiidische Museum gibt Einblicke in
- die Geschichte des menschlichen Korpers - seinen Wandel im Laufe des Lebens - Erkrankungen der Bewegungsorgane - die Behandlung aus historischer und aktueller
Sicht.
Das Orthopiidische Museum sammelt und erhiilt
- Gegenstande und Hilfsmittel, die der Vorbeugung und Behandlung von Erkrankungen oder Veranderungen des menschlichen Korpers dienen oder gedient haben
- Bucher, Zeitschriften und Broschuren zur Vervollstandigung der Bibliothek
- Dokumente, Abbildungen, ungedruckte Quellen und N achlasse.
- Endoprothesen, Implantate und anatomische Praparate.
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f)rll1upMllmc f)clrillilloll n. h •
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Abb. 2. Postkarte aus dem Griindungsjahr des Orthopadischen Museums, anlaBlich der 47. Tagung der Deutschen Orthopiidischen Gesellschaft
Orthopadie, ein Fach mit Geschichte
1 741 verOffentlichte der franzosische Arzt NICOLAS ANDRY ein Buch fUr Eltern, dem er den Titel »Orthopadie« gab. Ganz im Sinne der Autklarung forderte er eine natiirliche Aufzucht der Kinder, nichts diirfe sie einengen, Geist und Korper miiBten sich trotz aller Zivilisation ungehindert entfalten konnen. ANDRY empfahl. Verkriimmungen der Wirbelsaule und der Beine durch Schienen zu korrigieren. Dieser Vorschlag war revolutionar, denn bisher galten Verkriippelungen als gottgegeben und kaum beeinfluBbar. Andry verglich die Aufgabe des Orthopaden mit der eines Gartners, der einen verwachsenen Baum an einen kraftigen Pfahl anschlingt. 1m Laufe der Zeit korrigiert das Wachstum die Fehlstellung.
Der Vorschlag ANDRYS richtete sich an Eltern und Erzieher, wurde aber schon bald von Mechanikern und A.rzten aufgegriffen. Bereits 1780 erOffnete J.-A. VENEL in Orbe (Schweiz) die erste orthopadische Heilanstalt der Welt. 1816 griindete der Wiirzburger J. G. HEINE das »Carolinen-Institut« und 109 damit Patienten aus vielen Landern Europas an.
Inzwischen sind mehr als 250 Jahre vergangen. Viele Krankheiten sind verschwunden, andere an ihre Stelle getreten. Kaum ein Kind muB heute noch an einer Hiiftluxation oder einem KlumpfuB leiden. Fehlanlagen werden friih erkannt und meist vollig geheilt. Die operative Behandlung ersetzt zerstorte Gelenke, iiberbriickt Knochendefekte bei bosartigen Tumoren und kuriert Bandscheiben- und Gelenkerkrankungen durch Minimaleingriffe.
N. i\NORY Mlt. 165 -1742 Bl'gri.inder lind l\amensgebrr drr OJ'lhop~idie
.1.- . VE. Ft i\rzl, l 740-179l. GrUndN dl's N<;len orthopadischen Institutes
J. G. IIE1:-1E Orthopiidicmcchan i kr r, 1770- 1838
Hiiftluxation: Hiiftausrenkung auf dem Boden einer angeborenen Fehlbildung der Hiiftpfanne
KlumpfuB: Angeborene Fehlbildung des FuBskelettes
Private orthopadische Heilanstalten im 19. J ahrhundert
Die Orthopaden des 19. Jahrhunderts behandelten fast ausschlieBlich Kinder und Jugendliche. Sie nutzten das Wachstum, urn Formabweichungen zu korrigieren. 1m Vordergrund standen FuBfehlbildungen, x- und O-Beine sowie die seitliche Wirbelsaulenverbiegung (Skoliose). Der Korper wurde in Apparate, Korsetts und Schienen gezwangt, die der Fehlstellung entgegenwirkten. Haufig wurde diese Therapie durch eine Gymnastik zur Kraftigung der Muskulatur erganzt. 1m Laufe von Monaten und Jahren normalisierten oder besserten sich die Haltungsfehler.
Lange Verweilzeiten, hohe Kosten
Diese zeitaufwendige Behandlung wurde nur stationar durchgefiihrt. In vielen Stadten Europas entstanden orthopadische Privatheilanstalten, die von Arzten oder medizinischen »Laien«, zum Beispiel Mechanikern, gegriindet und geleitet wurden. Verweilzeiten von iiber einem Jahr waren die Regel. Da nicht selten Angehorige mitaufgenommen wurden, konnten sich nur begiiterte BevOlkerungsschichten die orthopadische Behandlung ihrer Kinder leisten. Allerdings stellten manche Heilanstalten armen Kranken einzelne Freiplatze zur Verfiigung. Gelegentlich iibernahmen die Armenverwaltungen der Stadte oder der Staat die Kosten der stationaren Therapie.
Bedeutende Institute bestanden unter anderem in Wiirzburg, Cannstatt, Stuttgart, Berlin und Hannover.
Private orthopiidische HeilanstaIten im 19. Jahrhundert 5
Abb. 3. Links: Junge mit beidseitigen Genu valgum vor der Behandlung (c. TEMMINK, 1888). Rechts: Gleicher Junge nach der Behandlung (c. TEMMINK, 1888)
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Abb. 4. Patientenliste der Seebadanstalt in Scheveningen bei Den Haag von JOHANN GEORG HEINE, 1835
6 Private orthopiidische Heilanstalten im 19. Jahrhundert
Orthopiidische Heilanstalten fur arme Patienten
Die erste orthopadische Heilanstalt in Deutschland, die sich bewuBt mittellosen Kranken widmete, war die »Armen Anstalt fiir Verkriimmte im Paulinen-Institut zu Stuttgart«. Sie wurde im November 1845 gegriindet und besteht unter dem Namen Orthopadische Klinik Paulinenhilfe noch heute. In den ersten 25 Jahren ihres Bestehens wurden knapp 500 Patienten behandelt.
Die orthopadischen Heilanstalten des 19. Jahrhunderts konnten nur einen kleinen Teil der Hilfsbediirftigen aufnehmen. K6rperbehinderung wurde noch nicht als ein soziales Problem angesehen. Es dauerte 44 Jahre, bis 1889 mit der Hiifferstiftung in Miinster die zweite orthopadische Klinik fiir arme Patienten in Deutschland erOffnet wurde.
Diakonie und Caritas nehmen sich der Korperbehinderten an
D ie Industrialisierung und Verstadterung begiinstigte die Entstehung »sozialer Krankheiten«. Rachitis, Tuberkulose und andere Infektionskrankheiten hinterlieBen nicht selten korperliche Dauerschaden. Behinderte Kinder und Jugendliche hatten weder ein Anrecht auf medizinische Therapie noch schulische Ausbildung. Ihr Weg in Armut und Blend schien vorgezeichnet. In dieser Situation nahmen sich die Innere Mission und spater die Caritas der Korperbehinderten an. Am Oberlinhaus in Nowawes bei Potsdam entstand 1886 auf Anregung des Pastors THEODOR HOPPE das erste Heim fUr korperbehinderte Kinder. Die Unterbringungskosten wurden von den Armenverwaltungen getragen. Der Erfolg iibertraf aIle Erwartungen. Das Nowaweser Heim wurde zum Vorbild fUr andere konfessioneIle Heime unter anderem in Magdeburg, Kreuznach, Dresden, Angerburg (OstpreuBen), Hannover, Rostock, Stettin, Volmarstein, Zwickau, Arnstadt, Bigge, Braunschweig und Hamburg. Viele der Heime bestehen noch heute, sie haben sich zu modernen orthopadischen Kliniken entwickelt.
»Krilppel« und »Krilppelheime«
Die konfessionellen Leiter der Heime bezeichneten die orthopadisch Kranken als »Kriippel«, ihre Einrichtungen als »Kriippelheime«. Sie wahlten bewuBt die abwertende Bezeichnung, urn Mitleid in der Bev61kerung zu erwecken und die Spendenfreudigkeit zu erhohen. Ihre Rechnung ging auf. Es gelang ihnen, innerhalb kurzer Zeit groBe finanzielle Mittel fUr den Bau der Kriippelheime zu sammeln. Die Wahl des Schimpfwortes »Kriippel« war zwar sozial-
T.IIOI'I'E Evangrlisrher I'["arrrr. ] 46- 1934. Dircklor dl's Oberiinhulises vun 1879 bis 1929
8 Diakonie und Caritas nehmen sich der Kiirperbehinderten an
politisch wirkungsvoll, diskriminierte jedoch die K6rperbehinderten. Viele Eltern wehrten sich gegen die Aufnahme ihrer Kinder in ein Kruppelheim.
»Krilppelheime« -moderne Zentren der Rehabilitation
Die »Kruppelheime« hatten die vollstandige gesellschaftliche Integration der orthopadisch Kranken zum Ziel. Sie setzten sich aus vier miteinander verzahnten Bereichen zusammen: 1. Schule 2.orthopadische Klinik 3. Berufsausbildung 4. Werkstatten fur Behinderte.
Diakonie und Caritas nehmen sich der Korperbehinderten an 9
Abb. 5. Kinder aus den Diakonischen Anstalten in Kreuznach urn 1904, von N. SCHMITHALS
Abb. 6. Schulunterricht in den Diakonischen Anstalten in Kreuznach urn 1904, von N. SCHMITHALS
Antisepsis: Hemmung bzw. Vernichtung von
Wundinfektionserregern durch antiseptische
Losungen
Asepsis: Keimfreiheit aller Gegenstiinde. die
mit der Wunde in Beriihrung kommen
Arthrodese: Geienkversteifung
1\. Ii0FFA Orlhopiidc. 1859-] 907.
Verfasscr des »Lehrbuches der Ortho
piidisehcn Chi rurgic«
A. LORENZ Orthopiide. 1854-1 <)46 .
Von 1889-1924 Leitl'!" d s Orlhopadischpn
Ambu latoriums in Wicl1
G . . IOAtHI 15TII"" Orlhopiide. 1863-1914.
b 1908 Leiter del' Polikli nik fUr O!"lho
pUdischl Chirurgic B rlin
J. vo MIKULICZHADECK I
Chi rurg. 1850-1905. (M iku lic:z-Linio)
1\. SCIIANZ Orlhopiidc. 1868-1931
( chanz-Krawatt • ·chanz-Ostcotomie
u. chanz-Sc:hraube)
Die orthopadische Chirurgie etabliert sich
D ie Einfiihrung der Anti- und Asepsis erOffnete der Chirurgie neue Horizonte. Bis zu diesem Zeitpunkt waren operative Eingriffe an Knochen und Gelenken nur bei vitaler Indikation zu rechtfertigen. Nun war es moglich, verbogene Knochen operativ zu begradigen, freie Korper zu entfernen und geUihmte GliedmaBen durch die Arthrodese wieder funktionsfahig zu machen. Einige Arzte spezialisierten sich auf Eingriffe an den Bewegungsorganen. Besonders zu erwahnen ist A. HOFFA, der nach chirurgischer Ausbildung und Habilitation 1886 eine Privatklinik fUr orthopadische Chirurgie in Wiirzburg erOffnete und im Laufe der folgenden Jahre zu internationaler Bedeutung gelangte. Er inaugurierte eine Vielzahl von Operationen unter anderem zur Behandlung der Hiiftluxation und verfaBte grundlegende Lehrbiicher zur Orthopadie und Traumatologie. Die Grtindung der noch heute erscheinenden Zeitschrift fiir Orthopadie im Jahre 1892 geht auf ihn zuriick.
Vor aHem das von A. LORENZ ab 1895 entwickelte Verfahren zur unblutigen Einrenkung der Hiiftgelenksluxation bereicherte das Spektrum der orthopadischen Therapie erheblich. Bereits 1901 wurde die Deutsche GeseHschaft fiir orthopadische Chirurgie von G. JOACHIMSTHAL, A. LORENZ, J. VON MIKULICZRADECKI, A. SCHANZ und H. HOEFTMANN gegriindet.
1m Vordergrund der orthopadischen Chirurgie stand die Behandlung der Wirbelsaulenleiden, FuBerkrankungen, des X-Beines, der Hiiftluxation und anderer angeborener bzw. erworbener Deformitaten.
Die orthopiidische Chirurgie etabliert sich 11
Abb. 7. HOFFA mit Mitarbeitern 1896: 1. Reihe: A. HOFFA und unbekannt; 2. Reihe: V. SIMON, K. DEUTSCHLANDER und A. ALSBERG
ZEIT HRIF'T
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Abb. 8. Titelblatt der ersten Ausgabe der Zeitschrift fur Orthopiidische Chirurgie, 1892
12 Die orthopiidische Chirurgie etabliert sich
t-L 1-IOEFrM N
Orthopiide, 1851-1917
J. G. ZANDER
rzt, 1835-1920
Abb. 9. ADOLF LORENZ und Mitarbeiter, wiihrend einer Reposition des linken Hiiftgelenkes
Neben der operativen profitierte auch die konservative Orthopadie und Orthopadietechnik von der Aufbruchstimmung. 1908 verOffentlichte A. SCHANZ das Handbuch der orthopadischen Technik. Zur gleichen Zeit gewann die Physiotherapie an Bedeutung. Zu nennen ist neben der schwedischen Heilgymnastik die maschinelle Therapie nach GUSTAF ZANDER, fUr die sich der Begriff »Medikomechanik« einbiirgerte.
Der Staat entdeckt die Bedeutung der Orthopadie
U rn die Jahrhundertwende hatte sich die Orthopadie als leistungsfahiges Spezialfach etabliert. Die konfessionellen »Kriippelheime« bewiesen, daB die Rehabilitation Korperbehinderter in die Gesellschaft moglich war. Allerdings waren weder die Arzte noch die Kirchen aHein in der Lage, ein flachendeckendes Netz von Kliniken und Rehabilitationszentren zu griinden. Es bedurfte nur noch eines AnstoBes, urn Staat und Offentlichkeit von der Bedeutung der Orthopadie zu iiberzeugen.
Diese Aufgabe iibernahm der junge Arzt K. BIESALSKI. Auf seine Anregung wurde am 10.10.1906 eine reichsweite »Kriippelzahlung« durchgefiihrt.
Die Zahlung starkte die SteHung der Orthopaden. Biesalski konnte befriedigt feststeHen:
»Wenn irgend etwas geeignet erscheint, die Existenzberechtigung und Notwendigkeit der Orthopiidie als SpezialwissenschaJt zu beweisen, so ist es die ungeheure Fiille des aus den Zahlen der Statistik hervorspringenden Kriippelelends ... Den Orthopaden fallt bei der Krilppeljilrsorge im ganzen betrachtet die Hauptarbeit zu.«
»Aus Almosenempjangern werden Steuerzahler«
Dieses Motto befliigelte die Entwicklung bis zum 1. Weltkrieg. Die Zahlung hatte das Eis gebrochen. Der Ausbau der Orthopadie wurde zu einer nationalen Aufgabe. In vielen Stadten entstanden Vereine zur Griindung orthopadischer Krankenhauser, die von Staat und Kommunen unterstiitzt wurden. Die Armenverwaltungen versprachen sich von den neuen Kliniken einen Riickgang der Unterhaltszahlun-
K. SIESAL KI
Orthopiide, 1868-1930. Bis zu seinem Tode Arztlicher Direktor des Oscar-Ilelcne- Ileimes in Berlin
14 Der Staat entdeckt die Bedeutung der Orthopiidie
gen an Behinderte, die Regierungen eine Zunahme der Wirtschaftskraft und militarischen Bedeutung Deutschlands. Die Mehrzahl der heutigen orthopadischen Universitatskliniken entstand im Rahmen dieser innenpolitischen Bewegung.
1902 1912 53 Hcirne mit j2391k1ten
Ennv.itkelunu der Ans1A11sfUrsorge-
Abb. 10. Ergebnisse zur »Kriippelziihlung«; Zeitschrift fUr KriippelfUrsorge 5, 1912
Der Staat entdeckt die Bedeutung der Orthopadie 15
Der erste Weltkrieg verzogerte den Bau der Kliniken nur fUr kurze Zeit. Einige Hauser wurden direkt nach ihrem Neubau als Reservelazarette genutzt. Die groBe Zahl der Beschadigten, die der Krieg hinterlieS, unterstrich noch einmal die Bedeutung der Orthopadie. Trotz finanzieller Schwierigkeiten wurde 1920 das »PreuBische Kriippelfiirsorgegesetz« verabschiedet. Es sicherte allen Personen bis zum 15. Lebensjahr das Recht auf unentgeltliche orthopadische Behandlung, schulische und berufliche Ausbildung zu. Nur wenig spater, 1924, wurde die Orthopadie Priifungsfach im medizinischen Staatsexamen. Das neue Fach war nun auch akademisch anerkannt.
Orthopadie und Nationalsozialismus
D ie N ationalsozialisten hatten vor der Machtiibernahme angekiindigt, die Ausgaben fiir »Minderwertige«, und hierzu rechneten sie auch die »Kriippel«, radikal zu beschneiden. In der Offentlichkeit entstand der Eindruck, die K6rperbehindertenfiirsorge sei kiinftig iiberfliissig. Bereits im Juli 1933 verabschiedeten sie ein Sterilisierungsgesetz, nach dem unter anderem auch Menschen mit einer »schweren erblichen MiBbildung« zu sterilisieren seien. Dem Text nach fielen in diese Gruppe viele Menschen mit
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Abb. 11. Titelblatt des Gesetzes zur Verhiitung erbkranken Nachwuchses, 1933
Orthopiidie und Nationalsozialismus 17
angeborenen orthopadischen Leiden. Aus Sicht der Rassenhygiene lieB sich damit langfristig die Zahl der orthopadisch Kranken verringern. Das Programm der Nationalsozialisten sah zugleich die F6rderung der »erbgesunden Familie« vor. Die Jugend soUte k6rperlich ertiichtigt und zur »aufrechten Haltung« erzogen werden. Die nationalsozialistische Politik wirkte sich unterschiedlich auf die Orthopaden und ihre Patienten aus: Einerseits muBten K6rperbehinderte befiirchten, von ihren behandelnden Orthopaden zur Sterilisierung vorgeschlagen zu werden. Hierdurch wurde das Vertrauensverhaltnis beeintrachtigt. Andererseits fiihlten sich viele Orthopaden von dem Gedanken der »Verhiitung erbkranken N achwuchses« und dem Aufbau einer leistungsorientierten GeseUschaft angezogen. Dieser Widerspruch soUte die Beziehung zwischen den neuen Machthabern und den Orthopaden wahrend der zw61fjahrigen Diktatur pdigen.
Die nationalsozialistischen Ziele treffen auf Zustimmung . ..
Auf dem Orthopadenkongress 1933 versicherte der bisherige Vorsitzende FRANZ SCHEDE ADOLF HITLER die riickhaltlose Unterstiitzung der Orthopaden. Die Kriippelfiirsorge soUte nur denjenigen Behinderten zukommen, die dadurch arbeitsfahig wiirden, »unheilbar Sieche« und »bildungsunfahige Kriippel« waren von ihr auszuschliessen. Von Ausnahmen abgesehen bekdiftigten auch die Leiter der folgenden Kongresse ihre innige Verbundenheit mit den Nationalsozialisten. Die Sterilisierung von Patienten mit »erblicher« Hiiftluxation wurde von verschiedenen Orthopaden, z. B. K. MAD, M. LANGE und H. ECKHARDT, befiirwortet.
... und - gelegentlich - auf Kritik
Aber nicht aUe Orthopaden stimmten der nationalsozialistischen Politik zu. Manche grenzten sich ab, es lassen sich Zwischent6ne vernehmen, der eine oder
F. Sell!'!)" Orlhup~idl', I H::!-1976 (I.('ill'r dN orlhopHd ischcn lliH'rsilHlSkli nik in Lf'ipzig bis 1947)
K. VI,\
1890-L958 1- \' LA:"GE
1899-1975
18 Orthopiidie und N ationalsozialismus
M. I I CKE, BnOClI
1894-1979
L. KHEUZ 1888-1969
K. GA CELE
1878-1942
andere auBerte sich in wichtigen Einzelfragen ablehnend. Der Kolner Professor M. HACKENBROCH vermied bei der KongresserOffnung 1935 jede Anbiederung an die Nationalsozialisten. L. KREUZ, der einfluBreiche Berliner Orthopade, warnte ebenso wie K. GAUGELE (Zwickau) eindringlich vor einer Sterilisierung von Personen mit Hiiftgelenkluxationen oder KlumpfiiBen. Immer wieder wandten sich Arzte gegen eine Einschrankung der Korperbehindertenfiirsorge.
Von 1937 bis 1945 stand der Frankfurter GEORG HOHMANN an der Spitze der Orthopadischen Gesellschaft. Er entsprach nicht dem Typ des nationalsozialistischen Fiihrers. Nach dem ersten Weltkrieg war er liberaler Abgeordneter im Bayrischen Landtag, noch 1932 unterzeichnete er einen Professorenaufruf gegen den Antisemitismus. Obwohl HOHMANN eine hohe Funktion ausiibte, vermied er in den Mitgliederversammlungen jede Annaherung an die Machthaber. Es diirfte nicht zuletzt das Verdienst HOHMANN'S sein, daB die Zeitschrift fiir Orthopadie den Namen des Begriinders ALBERT HOFFA auf dem Titelblatt fiihrte, obwohl er aus einer jiidischen Familie stammte. Die Aufsatze, die bis 1945 verOffent-
Abb. 12. Sommerfest des K6rperbehindertenheimes »Alten Eichen« bei Altena urn 1938
Orthopiidie und Nationalsozialismus 19
licht wurden, sind mit wenigen Ausnahmen sachlich. Selbst jiidische Autoren wurden weiterhin zitiert.
HOHMANN wurde 1945 erster Rektor der wiedererOffneten UniversiHit Frankfurt am Main, ab 1947 stand er der Miinchner UniversWit vor.
1947 wurde HOHMANN erneut zum Vorsitzenden gewahlt, er betrauerte den Verlust vieler Mitglieder, die in »den beriichtigten Lagern« inhaftiert, in die Emigration gezwungen oder in »grauenvoller Weise« umgebracht worden seien.
Orthopiiden jiidischer Abstammung, die in die Emigration gezwungen wurden
H. J. BETTMANN (Leipzig) J. FUCHS (Baden-Baden) E. GUTMANN (Coburg) E. HEILBRONNER (Stuttgart) HEYDE MANN (Berlin) J. HASS (Wien) P. HOFMANN (Kassel)
W. Michaelis (Leipzig) E. NEUSTADT (Berlin) W. V. SIMON (Frankfurt) B. Valentin (Hannover) WISBRUN (DiisseldorO R. Zuelzer (Potsdam)
Erbbiolo i der
an hoI' n n Korp rf hi r
Abb. 13. M. LANGE:
Erbbiologie der angeborenen Kiirperfehler, 1935
p",r. Dr. L\X L IN .:
1 . 9 · 3 · l .' F. R Il , .\'0 t 'K £ \ t.HU T TTC~HT
20 Orthopiidie und Nationalsozialismus
»Wertvolle« und »minderwertige« Korperbehinderte
Bereits kurz nach der Machtiibernahme korrigierten die Nationalsozialisten ihre anfanglich ablehnende Haltung zur Korperbehindertenfiirsorge. Durch eine Integration der Korperbehinderten in die »Volksgemeinschaft« lieBen sich Kosten sparen und Arbeitskrafte gewinnen. Da der Begriff »Kriippel« die Integration behinderte, wurde er durch die wertfreie Bezeichnung »Korperbehinderter« ersetzt. Damit erfiillten die Nationalsozialisten zugleich eine lange gehegte Forderung der Betroffenen. Ausdriicklich wurde betont, daB Personen mit orthopadischen Veranderungen »rassisch wertvoH« seien und das Sterilisierungsgesetz vor aHem fiir geistig und seelisch »Minderwertige« gedacht sei. Dem entsprach die Praxis. 1934 entfielen nur 0,3% aHer Unfruchtbarmachungen auf korperliche MiBbildungen, hieran soHte sich auch in den nachsten Jahren nichts wesentliches andern.
Ein anderes Schicksal erwartete Mehrfachbehinderte, vor aHem geistig Behinderte, spastisch Gelahmte und seelisch Kranke, bei denen zusatzlich ein orthopadisches Leiden bestand. Diese Personen wurden als »Kriippelsieche« bezeichnet, ihre Rehabilitation war wirtschaftlich nicht lohnend. Sie galten als »Ballastexistenzen«. Unter den zwischen 1939 und 1941 ca. 70000 Menschen, die im Rahmen der Euthanasie getOtet wurden, befanden sich auch Menschen mit orthopadischen Krankheiten.
Vom »Kriippelheim« zur Universitatsklinik »Friedrichsheim«
A m 22. Februar 1908 fand eine erste 6ffentliche Veranstaltung in Frankfurt am Main statt, mit der fUr die Grundung einer Einrichtung fUr K6rperbehinderte geworben wurde. Diese Initiative wurde von dem Oberburgermeister F. ADICKES und einfluBreichen Burgern unterstiitzt. Ein Jahr spater, am 21. 3. 1909 wurde der »Verein fUr KruppelfUrsorge fUr die Bezirke Wiesbaden und Frankfurt am Main« gegrundet. Den finanzieUen Grundstock legte die Fabrikantenwitwe ELISABETH KONIG. Neben 200000 Reichsmark uberschrieb sie dem Verein sechs Morgen Land in der besten Wiesbadener Villengegend auf dem Neroberg. Hier soUte das neue »Kruppelheim« entstehen. Allerdings scheiterte dieser Plan am Widerstand wohlhabender Burger. Die Stadt Wiesbaden lehnte daraufhin die Schenkung mit folgenden Worten ab: »Hier in der Weltstadt wiinscht man nicht, das Elend der armen Kriippel zu sehen. Man muj3 aufdie Luxusfremden Riicksicht nehmen. Man lebt von ihnen.«
Der Verein wich nach Frankfurt aus und nahm das Angebot der Stadt an, in der Nahe des Stadtischen Krankenhauses eine »orthopadische Heil- und Erziehungsanstalt« zu errichten. 1m August 1913 begannen die Bauarbeiten. Die Einrichtung wurde nach dem Ehemann der Stifterin, FRIEDRICH KONIG, »Friedrichsheim« genannt. Nach ihrer Fertigstellung im Oktober 1914 diente die Klinik als Reservelazarett. Arztlicher Direktor des Friedrichsheims wurde K. LUDLOFF, 1919 wurde er zum Professor berufen. LUDLOFF leitete die Klinik bis zur Ubergabe an seinen Nachfolger G. HOHMANN. Die Grundung der Lehranstalt fUr Massage (1923) und fUr Krankengymnastik (1928) trug der groBen Bedeutung der Physiotherapie innerhalb der Orthopadie Rechnung.
K. LUDLOFF
1864-1. 945, i\rztlicher Di rckto r von 1914 bis 1930
22 Vom »Kriippelheim« zur Universitiitsklinik »Friedrichsheim«
littforgr fur' rrhrupptltr! ~inCabune
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rrli~~ltttl·. l'(lTIII,,... ""I 1!~lbil~nn). !III, Untl"lI •• rt". ~'Nn Ji4 110ft: ~,'Iatml/tilmltlt !Inti Itlfll.NltlII"
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"Iflen 1U,~btullolj ... .Q,U" IBllbunoj. unb !IlI,rI\lalt. far lI!'rlrl1l>~dle In Rrtlllllll4J
lht'''nd'j •• ,. tUI~'''_lta'' "'l1li"".. 401$156 C!luUl1u.,I~n: Dr • .Atlcha IIlClb\.inn: Dr. Uonnrlll: "lIb.l. ntf1lb. Bop Obrr1\:lIItll&nftollt Dr. Ihlpt't'b 1I1um ClOI"nI'DIl allll1ifl,lnlahal ~H.lm HI,"r
~l:'~:: t,~~!:l !)"foli~h.1 ~i~~~ D':;,.!~~'U bhfl~~p,".hlll 'tI'lInn D, £bit,. MurillO lh-Ittfl'. 6t...~ntlh~'t !a.. :::~:: ::: ~f':~ ' ~~~;bt[~,:(;~t,~'t;11,~n! I" ~ Gt\rlllln RMN~nnl Dr, ,GaM n'l. lIotll"ll"'.~.'~1 '0111 .MUUal
\L !to B. G1:1I:11I II; Ik) lfDm~u,l!.,c.t IL. PUIiTlat..Golllwd
t~Q~ Ob~,t~::~'!~I,"llibrnl Dr. =~I~IU'l~.·lI;r, .od. Sdunilh. U ..... , Oorfl~bt btl litt,,· IIlldltllll I4nD. f la.,nwulllt "0. "tl...... '{t;!n. "4,lul 111Ib 61rU·
0Ur1 .... JW'-c1.l'LtA Collin I!! hJ ,.I1"',II'6P_nl,. Gc~t=II.lt'l~~~ 0,.. U_n",l.. " •• tnl. lilt prhA~ }'Iraorp.
Abb. 14. Anzeige aus dem »Intelligenzblatt« iiber eine Versammlung am 22. 2. 1908 tiber die Grtindung eines »Krtippelheimes« in Frankfurt am Main
Abb. 15. Die Orthopiidische Klinik »Friedrichsheim« urn 1914
Yom »Kriippelheim« zur Universitatsklinik »Friedrichsheim« 23
Am 22.3.1944 zerstorten Bomben das Friedrichsheim fast vollig. Ein Notbetrieb wurde in SchloB Gettenbach bei Biidingen (Oberhessen) bis zum AbschluB des Wiederaufbaus im Jahre 1951 aufrecht erhalten.
Unter der Leitung von E. GUNTZ erlangte die Klinik einen besonderen Ruf in der Behandlung von Wirbelsaulenerkrankungen. Die Welle der Conterganschaden fiihrte zur Errichtung einer Sonderstation und eines Forschungslaboratoriums fiir Technische Orthopadie.
Unter der Leitung von W. HEIPERTZ wurde die Klinik durch Neu- und Umbauten kontinuierlich erweitert. So entstanden neben weiteren Bettenhausern vor allem der op-Trakt mit Poliklinik und Rontgenabteilung. Die Forschung der 70er Jahre wurde gepragt durch die stiirmische Entwicklung der Endoprothetik.
Weitere Schwerpunkte wurden fiir die Sportmedizin und Knochenerkrankungen gebildet. Unter L. ZICHNER stehen unter anderem die Zellforschung, die Zelltransplantation, die Extremitatenverlangerung und die minimalinvasive Chirurgie im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses.
E. GUNTZ (1903- 1973) i\rztlie!wr Direktor von 1951 bis 1961
W . IIEIPEIITZ
(~eb. 1922) Arztlicher Dirt'klor von 1961 bis 1990
I.. ZICIINEH
(gob. 1942) Arztliclwl" DirC'klor snit 191)2
Osteochondrose: Degenerative Verande
rung der Grund- und Deckplatte des Wirbel
korpers
Koxarthrose: Hiiftgelenkarthrose
Osteomyelitis: Bakterielle Infektion
des Knochens
Spondylitis: Entziindung des Wirbelkorpers und
der Bandscheibe
Osteosarkom: Bosartiger Knochen
tumor
Plasmozytom synonym Multiples Myelom und
Morbus Kahler: Bosartiger Tumor des
blutbildenden Systems
Morbus Paget synonym Osteodystrophia
deformans: Erkrankung der Osteoklasten
(KnochenfreBzellen) unklarer Herkunft
Skoliose: Wirbelsaulenverkriimmung
PaHiopathologie
Menschliche Knochen sind haufig die einzigen sterblichen Reste, die tiber Jahrtausende erhalten bleiben. Die Paliiopathologie beschaftigt sich mit der Erforschung der Lebensbedingungen und Krankheiten des Menschen in der Geschichte. Sie vermittelt uns Kenntnisse tiber eine Vielfalt von Veranderungen am Skelettsystem: _ Degenerative Prozesse (Osteoporose, Osteochon
drose, Koxarthrose) - Entztindliche Veranderungen (Tuberkulose, Syphi
lis, Osteomyelitis, Spondylitis) Posttraumatische Zustande (Knochenbrtiche und Luxationen)
- Tumor6se Entartungen (Osteosarkom, Plasmozytom, Morbus Paget) Anomalien und MiBbildungen (Skoliose, Hemisakralisation, Spondylolyse, Ankylose)
- Stoffwechselerkrankungen (Rachitis, Morbus Forrestier)
- Zahn- und Kiefererkrankungen.
Abb. 16. Oben: Trokkenpraparat einer Lendenwirbelsaule in Frontalansicht mit Morbus Forrestier; Unten: Das gleiche Praparat in schrager Ansicht. Institut fiir Pathologie »Georg Schmorl«. Klinikum Dresden Friedrichsstadt. Dresden
Paliiopathologie 25
Morbus Forrestier. auch Hyperostosis ankylosans vertebralis senilis: Ausgepriigte degenerative Veriinderung der Wirbelsaule. haufig beim alteren Menschen in Verbindung mit Stoffwechselerkrankungen
26 Paliiopathologie
Hemisakralisation: Halbseitige Vereinigung
des 5. Lendenwirbels mit dem 1. Kreuz
beinwirbel
Spondylolyse: Spaltbildung der Zwischen
wirbelgelenkregion
Ankylose: Kni.icherne oder kapsuliire
Gelenkversteifung
Rachitis: Knochenerweichung aufgrund von
Vitamin D-Mangel
Osteoporose: Quantitative Verminde
rung des Knochengewebes bei weitgehend
erhaltener Knochenstruktur
Diese Befunde lassen Riickschli.isse iiber Umwelteinfliisse, Lebensalter und Erkrankungen der damals lebenden BevOikerung zu. Aus ihnen ergibt sich zum Beispiel, daB Frauen im 3.-6. Jahrhundert n. Chr. an Osteoporose litten und Arthrosen bereits bei den Neandertalern auftraten. Auch die Tuberkulose ist keine »moderne Krankheit«, sie bestand schon vor 4000 Jahren in Europa.
Abb. 17. Trockenpriiparat einer Lendenwirbelsiiule (Sagittalschnitt) mit hochgradigen osteoportischen Veriinderungen. Institut fur Pathologie »Georg Schmorl«, Klinikum Dresden Friedrichsstadt, Dresden
Abb. 18. Pathologische und palaopathologische Knochenpraparate zu einem Skelett zusammengefiigt
Palaopathologie 27
Anatomie: Lehre von Form
und Korperbau der Lebewesen
F. T. ' J)EDEMA '
Anatom , 1781-1861
GALE I os V. PEIlGAMON
Arzt lind atllrwissenschartlel',129- 199
A. VESALIUS
Anatom lind Chirllrg, 1514-1564
Anatomie
»A rzte ohne Anatomie gleichen Maulwiirfen. Sie arbeiten im Dunkeln und ihrer Hande Tagewerk sind - Erdhiigel.«
Dieser von F. T. nEDEMANN gepragte Satz beschreibt die groBe Bedeutung des Faches Anatomie fiir die Medizin. Bereits in der Antike beschaftigten sich Arzte mit diesem Fach. GALENOS VON PERGAMON, ein groBer Naturwissenschaftler seiner Zeit, systematisierte die anatomischen Kenntnisse. GALEN bezog sein Wissen vor aHem aus Sektionen an Tierkadavern und iibertrug die Befunde auf den menschlichen Organismus. Der langsame Fortschritt der Anatomie war einerseits in religi6sen Vorbehalten, Schwierigkeiten der Leichenbeschaffung und andererseits mit der kurzen Zeit der Verfiigbarkeit bei fehlenden Fixierungsm6glichkeiten begriindet. Erst 1400 Jahre spater kam es zu einer Wende in der Anatomie, die mit dem Namen A. VESALIUS eng verbunden ist. Dieser promovierte in Padua und befaBte sich intensiv mit dem Bau des menschlichen K6rpers. Er bezog sein Wissen aus der Sektion menschlicher Leichen. 1543 ver6ffentlichte er seine Forschungen in dem Werk »De humani corporis fabrica«.
Dieses Buch wurde iiber viele Jahrzehnte zum Standardwerk der Anatomen. Es zeigt neb en den anatomischen Praparaten, die haufig in bekannten antiken Posen und in sch6nen Landschaften zur DarsteHung kommen, auch versteckte Hinweise auf Praparationstechniken der damaligen Zeit.
Ein weiterer groBer Schritt nach der Erforschung des Makrokosmos war die Eroberung des Mikrokosmos. R. HOOKE pdigte den Begriff »cellula« bei Beobachtungen an Baumrinden. M. MALPIGHI (1666) U. A. VAN LEEUWENHOEK (1674) entdeckten einzelne Zellen im Blut. Beide Forscher legten damit die Grundlage fUr die Zytologie und Histologie.
Noch heute besitzt die Anatomie einen zentralen Stellenwert in der Medizin. Studenten pdiparieren, wie schon vor vielen Jahrhunderten Leichen, urn die topographischen VerhaJtnisse zu »begreifen«. Diese Moglichkeit ist und wird durch kein computergestiitztes Verfahren ersetzt werden konnen.
Abb. 19. Muskelrelief des Riickens. Anatomische Radierung aus DELSENBACH. urn 1769
Anatomie 29
H. IloOKE Malhcmatiker, 1635-1703
Cellula: Kiimmerchen (»Zelle«)
YI. MALPIGIII I\natom und Biologc. 1628-1694 1\. V. I.EEuwENIIOI-:K
·l'uchhlindll)l·. 1632-1723
Zytologie: Zellenlehre Histologie: Gewebelehre
Topographie: Beschreibung der LageverhiiJtnisse von Organen zueinander
Luxation: Ausrenkung eines Gelenkes
II. V. GEIlS))OIlFF
Chirurg. "1"1529
. PAIlE
Chirurg. 1510-1. 90 L. HElSTllH
Chirurg. 1683- 1758 » II 'isLf'rsches Kreuz«
(Korscltbehandlung a ls stUtzende Therapie)
J.-M. DELPECII
Chirul'g.1777- 1832. Mitbegrunder del'
Ileilgymnastik. 1816 OITCllf' Arhillessehn '11-
durchlrennung bei KI um pl"uBdefol'm iliit
SllbklltanB Tenotolllie : DurchLre nnung niner
Sehne du rch ein en kleinen 11a uLschni tt
L. STIlUMEYEIl
Chirurg.1804-1876 . 1831 subkutane
Ourchtrennung der Achillcssehne hei
Kl U III pfuBdc/'urmi Hit
Die Anfange der Chirurgie
D er Begriff Chirurgie kommt aus dem Griechischen. Er setzt sich aus den W6rtern Hand und Arbeit zusammen. 1m Gegensatz zum Arzt war der Chirurg fUr lange Zeit ausschlieBlich Handwerker, er renkte luxierte Gelenke ein, verband Wunden und richtete Knochenbriiche. Bereits in den aJtesten medizinischen Papyri wird die Wundbehandlung ausfUhrlich beschrieben. Die Schulterluxation wird noch heute durch die Methode nach Hippokrates eingerenkt. Gut verheilte Knochenbriiche an historischen Skeletten beweisen die Geschicklichkeit der Handwerkschirurgen. Die medizinische Versorgung der Bev61-kerung lag bis zum 18. Jahrhundert weitgehend in den Hiinden der Chirurgen, Bader und Barbiere .
Die Fortschritte der Anatomie in der Renaissance kamen auch der Chirurgie zugute. Der StraSburger H. VON GERSDORFF ver6ffentlichte 1517 sein »Feldtbuch der Wundartzney«.
Wichtige Impulse erhielt die Chirurgie durch den franz6sischen Chirurgen A. PARE, der die GefaBunterbindung bei Amputationen einfiihrte.
L. HEISTER aus Frankfurt am Main wirkte als Professor in den kleinen UniversiHitssHidten Altdorf und Helmstedt. Er gilt als ein bedeutender Chirurg des 18. Jahrhunderts.
Mit Beginn des 19. Jahrhunderts wurden auch vereinzelt orthopadische Erkrankungen operativ behandelt. J.-M. DELPECH fUhrte die schmerz- und risikoarme subkutane Tenotomie zur Korrektur von Fehlstellungen ein, ein Verfahren, das von L. STROMEYER weiterentwickelt wurde.
/NIV/h O t/.FIlNru / j .1
Die Anfiinge der Chirurgie 31
Abb. 20. Verschiedene Methoden zur Einrenkung luxierter Schultergelenke (R. FRORIEP, 1847)
Abb. 21. Operationsbesteck eines Chirurgen (England, 1760)
B. II EI E (1800-1846)
C. [lAVERS
Anatom. 1650-1702. Entd('cker von G()raf3-
kanalpll am kompaktcn Knoclwn (I lavprs
Kanale)
A. SCAHP,,\
llatom.1747-1832 (Klumpfuf3thcrapie)
J. CHU\,ElLl II EB
Palhologo. 1791-1 74
Bernhard Heine
B ERNHARD HEINE gilt als Pionier auf dem Gebiet der experimentellen Orthopadie. Dies ist einerseits auf die Erfindung des Osteotomes und andererseits aus den hieraus resultierenden Untersuchungen der Knochenregeneration zuriickzufiihren.
Geboren am 20.8.1800 in Schramberg (Schwarzwald), verbrachte er seine Kindheit und Jugend im Hause seines Onkels, J. G. HEINE.
B. HEINE wurde Instrumentenmacher, studierte zudem Medizin und iibernahm 1828, nach dem Weggang von J. G. HEINE nach Scheveningen bei Den Haag (Holland), die Leitung des Carolinenstiftes. In dieser Zeit entwickelte er das Osteotom, eine Kettensage, urn die unangenehme Arbeit der Eraffnung des Riickenmarkkanals beim Sektionsakt zu erleichtern. Ziel war es, den Knochen mit einem Instrument zu schneiden, wie die Weichteile mit dem Messer. Er benatigte 6 Jahre bis er einen Prototyp vorstellen konnte, der bald auch klinischen Einsatz fand. Die ersten Operationen wurden 1831 durchgefiihrt. Gleichzeitig wurde das Instrument bei den Experimenten zur Knochenregeneration eingesetzt. Seine Erfindung brachte ihm internationalen Ruhm ein. Er wurde nach Petersburg eingeladen und erhielt 1836 den Mont yon-Preis der Akademie der Wissenschaften in Paris.
HEINES graBter wissenschaftlicher Erfolg ist seine Arbeit »Versuche iiber Knochenregeneration«. Die Knochenregeneration ist im 18. Jahrhundert ebenfalls von namhaften Wissenschaftlern (c. HAVERS, A. SCARPA, J. CRUVEILHIER) bearbeitet worden.
Abb. 22. Osteotom nach BERNHARD HEINE urn 1830
Er zeigte jedoch erstmals die Bedeutung des Periostes fUr die Neubildung und Regeneration des Knochens.
1838 wurde B. HEINE ehrenhalber zum Professor fur Orthopadie ernannt, 1844 zum auBerordentlichen Professor fUr Experimentalphysiologie. Allerdings konnte er das neue Fach nur ein Semester unterrichten, er erkrankte schwer und verstarb am 31. 7.1846 an einem »Blutsturz«.
Bernhard Heine 33
Periost: Knochenhaut, die den Knochen bindegewebig umgibt
34 Bernhard Heine
Inzision: Ein Schnitt
Resektion: Ausschneidung oder teilweise
Entfernung eines Organes
Exstirpation: Entfernung von
Gewebeteilen aus tieferliegendem
Gewebe
Ein Experiment zur Knochenregeneration
1m Rahmen seiner Arbeit iiber die Knochenregeneration fiihrte B. HEINE iiber 100 Operationen am Hund durch. Er unterschied Inzision, Resektion, Exstirpation und Einzelversuche.
Aus dem NachlaB B. HEINES existieren eine Vielzahl von Originalpraparaten aus den beschriebenen Versuchen. Eines dieser Praparate zeigt die EIle (Ulna) und die Speiche (Radius) eines Hundes, nachdem 4 Monate zuvor eine Resektion am Radius durchgefiihrt wurde. In dieses Lager erfolgte die Implantierung eines homologen Knochenstiicks. Nach 4 Monaten zeigt sich eine Liicke im Bereich der Resektion bzw. Implantation mit einer gabelfOrmigen iiberschieBenden Falschgelenkbildung (hypertrophe Pseudarthrose). Es kam zum Abbau des Fremdknochens und zur teilweisen Knochenneubildung in diesem Bereich. Die EIle ist reaktiv verandert. Sie zeigt einerseits eine deutliche Zunahme des Umfanges und andererseits eine Abknickung, die durch die Fehlbelastung hervorgerufen worden sein konnte.
Exstirpation des Oberschenkelknochens (Femur) eines zehnjahrigen Hundes unter Schonung des Periostes.
Nach drei Wochen finden sich bereits eine Knochenneubildung. Das Praparat zeigt eine korallenstockartige unregelmaBige Knochenmasse. Der aufgeschnittene Knochen ist von einer kompakten elfenbeinartigen Beschaffenheit mit vereinzelten spongiOsen Anteilen.
UnvoIlstandige Exstirpation des Wadenbeines (Fibula) einer dreimonatigen Katze. Bei der Entfernung blieb versehentlich der obere (proximale) Anteil zuriick.
Nach zwei Monaten hatte sich der Knochen teilweise regeneriert, hierfiir ist das zuriickgebliebene Periost verantwortlich zu machen.
Abb. 23. Trockenpraparat der BERNHARD HEINE-Sammlung: Vorderlauf eines Hundes, nach Teilentfernung der Speiche und Transplantation von Fremdknochen
Bernhard Heine 35
Der aufrechte Gang
ie Evolution des Menschen aus dem Tierreich ist untrennbar mit dem aufrechten Gang verbunden. Erst als der »homo erectus« zur Fortbewegung nicht mehr der Hande bedurfte, lernte er zu »begreifen«. »Erfassen« und »begreifen« sind Voraussetzungen der intellektuellen Entwicklung.
Die Gestalt des Menschen beruht unmittelbar auf dem Aufbau der Wirbelsaule. AIle Erkrankungen der Wirbelsaule beeinflussen die Haltung. Gestalt und Haltung sind nicht nur biologisch und anatomisch von Bedeutung, in ihr spiegeln sich auch tradierte kulturelle Werturteile.
Dem »Aufrichtigen« und »Aufrechten« wird Vertrauen entgegen gebracht, er wird geschatzt. Auch in demokratischen Gesellschaften ist die aristokratische Haltung ein Merkmal von Eliten. Kein Prasident tritt mit gesenktem Haupt vor das Publikum. Der Bucklige und die Hexe sind Symbole des Bosen, der Gebeugte ordnet sich unter.
Krankheiten der Wirbelsaule
D er angeschlungene Baum ist seit mehr als 200 Jahren Kennzeichen der Orthopadie. Er erinnert an die Skoliose, die noch heute eine ernstzunehmende Erkrankung von Kindern und Jugendlichen ist.
Abb. 24. Angeschlungener Baum, Wahrzeichen der Orthopiidie (N. ANDRY, 1744)
38 Krankheiten der Wirbelsiiule
Rachitis: Knochenerweichung
H. KOCIi
Baktcriologc. 1843-1910
P. Porr Chirurg. 1714- 1788.
(pott-Trias)
Pathologie: Krankheitslehre
I I. L USCIlKA
Arzt. 1 20-1875 \ . B EcliTEnEw
ourolugt'.1857- 1927 I I. . CH E ERMA N
Hadiologc. 1877- 1960 G. SCII.\ IOItL
Patho!ogc , 1860- 1923 F. H. ALHEE
Orthopiidisrher Chirurg. 1 76-1943
Andere Leiden der Wirbelsaule, die friiher weit verbreitet waren, sind eher von historischem Interesse. Die Rachitis verursachte den »Sitzbuckel« der Kleinkinder, Tuberkelbakterien besiedelten Knochen und Gelenke, zerst6rten Wirbelk6rper und verursachten den »Gibbus«, eine bisweilen spitzwinklige Abknickung der Wirbelsaule. Mehr als 100 Jahre vor Entdeckung des Erregers der Tuberkulose durch R. KOCH machte unter anderem der Englander P. Parr auf dieses Krankheitsbild aufmerksam.
Die Pathologie befaBte sich ab Mitte des 19. J ahrhunderts intensiver mit dem »Achsenorgan«. 1854 wurde das Wirbelgleiten (Spondylolisthese) beschrieben, nur zwei Jahre spater ver6ffentlichte H. LUSCHKA seine Untersuchungen zur Altersveranderung der Bandscheibe. Die entziindliche Versteifung der Wirbelsaule (Spondylitis ankylosans) wurde urn 1890 von W. BECHTEREW als eigenstandiges Krankheitsbild eingegrenzt. Wie H. SCHEUERMANN 1921 feststellte, ist der jugendliche Rundriicken (Kyphosis dorsalis juvenilis) auf eine keilf6rmige Verformung der wachsenden Wirbelk6rper zuriickzufiihren. Der Dresdener G. SCHMORL beschaftigte sich intensiv mit Wirbelsaulen- und Bandscheibenerkrankungen. Nach ihm sind kleine Bandscheibeneinbriiche in den Wirbelkorper benannt (»Schmorlsches Knotchen«).
F. H. ALBEE verbesserte die Heilungsergebnisse der Wirbelsaulentuberkulose durch die kiinstliche Versteifung von Wirbelsaulensegmenten mit Hilfe der Knochentransplantation (1911).
Krankheiten der Wirbelsaule 39
Abb. 25. Trockenpraparat einer fest verheilten Wirbelkorperentziindung (Spondylitis am Obergang der Brust- zur Lendenwirbelsaule, Gibbus). Institut fUr Pathologie »Georg Schmorl«, Klinikum Dresden Friedrichsstadt, Dresden
Abb. 26. 12jahrige Patientin mit ausgedehnter Spondylitis (A. ROLLIER, 1913)
40 Krankheiten der Wirbelsiiule
J. G. LOVE
Neurochirurg. 1903- l987
Abb. 27. Trockenpriiparat einer »Barnbusstabwirbelsiiule« bei Morbus Bechterew. Institut fUr Pathologie »Georg Schrnorl«, Klinikurn Dresden Friedrichsstadt, Dresden
Mit der steigenden Lebenserwartung und der Weiterentwicklung der Medizin traten Mitte dieses J ahrhunderts Krankheitsbilder aus dem degenerativen Formenkreis (Arthrose, Osteoporose) in den Vordergrund.
Eine neue Ara brach mit der operativen Behandlung des Bandscheibenvorfalles an, dessen fUr viele Jahre giiltiges Standardverfahren durch J. G. LOVE
1939 entwickelt wurde.
Krankheiten der WirbeIsauIe 41
Abb. 28. Trockenpraparat einer LendenwirbeIsaule (Sagittalschnitt) mit echtem WirbeIgIeiten aufgrund einer Unterbrechung in der Interartikularportion des 5. LendenwirbeIs, Stadium 2 nach Meyerding (Spondylolisthesis vera des 5. Lendenwirbels). Institut fUr Pathologie »Georg Schmorl«, Klinikum Dresden Friedrichsstadt, Dresden
Abb. 29. Trockenpraparat eines Lendenwirbels mit beidseitiger Unterbrechung der Interartikularportion (SpondyloIyse). lnstitut fUr Pathologie »Georg Schmorl«, Klinikum Dresden Friedrichsstadt, Dresden
Rachitis
D ie Rachitis, auch als englische Krankheit bezeichr. Gu o. net, wurde von F. GLISSON 1650 erstmalig beschrie-
Arzt. 1597-1677 ben. Die Krankheit ist auf eine abnorme Weichheit des Knochens zuriickzufiihren, der zu wenig Kalk einlagert. Die haufigste Ursache ist ein Vitamin DMangel infolge zu geringer Sonnenexposition.
Das Skelett versucht, den Mangel an Stabilitat mit einer iiberschieBenden Bildung der Knochengrundsubstanz, des Osteoids, auszugleichen. Die Knochen verbreitern sich, ohne dadurch an Stabilitat zu gewinnen. 1m Laufe der Zeit bilden sich die typischen Zeichen der Rachitis, der glockenformige Brustkorb, X-Beine, die becherfOrmigen Auftreibungen an den Gelenkenden, die Skoliose, der Sitzbuckel und das Kartenherzbecken.
Abb. 30. Trockenpraparat eines kindlichen Skeletts zum Geburtszeitpunkt mit multiplen Fehlbildungen (Rachitis. Wolfsrachen. Dysmelie. KlumpfuB). Patholog. Anatom. Bundesmuseum. Wien
Abb. 31. UnregelmiiBige, hochgradige Beinverkriimmung bei schwerer Rachitis (A. SCHANZ, 1928)
Die Therapie war bis zur Entdeckung der eigentlichen Ursache symptomatisch, d. h. man versuchte, die FehlsteHungen durch auBere Schienung oder mit unblutigen Verfahren (Osteoklasie, Epiphyseolyse) zu korrigieren. Die Osteoklasie eignete sich vor aHem zur Therapie bei Kindern und Jugendlichen, da ihre Knochen noch weich waren und unkompliziert heilten. In hoherem Lebensalter wurden die FehlsteHungen der unteren Extremitaten durch Korrekturosteotomien beseitigt.
1920 entdeckte K. HULDSCHINSKY, Assistenzarzt am Berliner Oscar-Helene-Heim, die heilende Wirkung der kiinstlichen UV-Strahlung und ermoglichte damit eine billige Massenbehandlung gefahrdeter Kinder.
Dank der Vitamin D-Prophylaxe tritt die Rachitis heute kaum noch auf.
Rachitis 43
Osteoklasie: Kiinstlicher Knochenbruch
Epiphyseolyse: Trennung der Wachstumsfuge
Osteotomie: Knochendurchtrennung
K. II ULDSCIII SKY
Kindcrarzt. 1883-1941
44 Rachitis
Abb. 32. Vitamin D-Mangel (Rachitis) bedingte Fehlstellungen der unteren Extremitaten (Coxa vara, Genu valgum und Sabelscheidentibia mit Schanz'schem Stiitzbogen). Medizinhistorisches Museum an der Charite, »Virchowche Sammlung«, Berlin
Abb. 33. Kleinkinder bei Quarzlichtbehandlung im Bestrahlungsraum (F. THEDERING, 1930)
Skoliose
D ie seitliche Wirbelsaulenverkriimmung, die Skoli~se, kann durch verschiedene Ursachen hervorgerufen werden. In der Vergangenheit spielten die Rachitis und die KinderHihmung hierbei eine wichtige Rolle.
Die Skoliose war, wie die meisten orthopadischen Krankheitsbilder, bereits in der Antike bekannt. Hippokrates empfahl die Behandlung der Skoliose mit Hilfe der Extension.
Abb. 34. Trockenpriiparat eines Rumpfskeletts mit einer hochgradigen Seitverbiegung im Brust-Lendenwirbelsiiulenbereich (Torso mit idiopathischer, linkskonvexer KyphoskolioseJ. Institut fUr Pathologie »Georg Schmori«, Klinikum Dresden Friedrichsstadt, Dresden
Extension: Liingszug an der Wirbelsiiule zur Korrektur von Fehlstellungen, Knochenbruchen oder Ausrenkungen
46 Skoliose
Retention: Ruhigstellung durch iiuBere
Schienung oder mittels Gipsverband zum Erhalt
der Stellungskorrektur
J.-R . GUERI
Chirurg.1801 - 1886
R.A. IIII1B Orthopiidischcr Chil'ul'g.
1869- 1933
Bessere anatomische Kenntnisse in der friihen Neuzeit fOrderten das Interesse der Arzte an der Behandlung der Skoliose. Gleichzeitig bildeten sich erste Behandlungsprinzipien heraus. Sie reichen von der Stiitzung einer vorhandenen Deformitat iiber die Streckung und Umkriimmung bis zur Entdrehung mit unterschiedlichsten Methoden.
Die Therapie veranderte sich mit dem zunehmenden Wissen und Verstandnis der Pathologie und Biomechanik der Skoliose. Sie war und ist heute noch abhangig von den zur Verfiigung stehenden Werkstoffen (Eisen, Leder, Gips, Kunststoffe) und den Moglichkeiten der operativen Therapie (Narkose, Asepsis, Implantate).
Die Streckbetten wurden im 19. J ahrhundert zur Extension verwendet, urn auch die Phase der Nachtruhe fiir die Therapie zu nutzen. Der Skoliosestuhl nach G. ZANDER verbindet das Prinzip des Zuges mit dem der zeitweiligen Retention.
Die Heilgymnastik wurde bereits urn 1828 von dem franzosischen Orthopaden J.-M. DELPECH zur Therapie der Skoliose eingesetzt. Er wirkte damit der Verkiimmerung der Muskulatur entgegen, die als Folge der auBeren SWtzung durch ein Korsett eintrat.
Der Beginn der operativen Therapie ist im Jahre 1839 anzusetzen. J.-R. GUERIN durchtrennte Muskeln und Sehnen der Riickenmuskulatur, urn die Seitausbiegung zu korrigieren. R. A. HIBBS und F. H. ALBEE beschrieben bereits 1911 unabhangig voneinander die Moglichkeit der Knocheninterposition zur Fusion der skoliotisch verkriimmten Wirbelsaule.
Ihren Durchbruch erlebte die operative Behandlung der Skoliose jedoch erst mit der Einfiihrung stabilisierender Metallverstrebungen in den fiinfziger Jahren dieses Jahrhunderts. Endlich konnte die Wirbelsaule innerlich auf Dauer begradigt werden.
Gleichzeitig wurde auch die konservative Therapie bis zu den noch heute giiltigen Prinzipien weiterentwickelt.
Skoliose 47
Zeichenapparat nach Lange
Der Zeichenapparat nach F. LANGE diente der Doku- F. LANG E
mentation und der Verlaufskontrolle einer Skoliose. Orlhopadc, 1864-1952
Die Patientin oder der Patient wurde mit dem Rii-cken vor den Rahmen gestellt. Die Fixierung erfolgte mittels zwei Beckenklammern. Die Glasscheibe mit entsprechenden Lot- und Querlinien war in Felder eingeteilt. Mit einem Diopter wurden markante Punkte in ein Koordinatensystem ubertragen.
Die Torsion konnte nach dem Entfernen der Glasscheibe auf einer horizontalen Richtbank abgenommen und direkt auf Papier iibertragen werden. Diese Konstruktion war Anfang dieses Jahrhunderts in arztlichen Praxen und in Kliniken weit verbreitet, denn sie war billig und einfach in der Handhabung.
Abb. 35. Zeichenapparat nach F. LANGE, um 1900
48 Skoliose
Abb. 36. Der Zeichenapparat nach F. LANGE in der Praxis
v . SCIIUI.lIIE S W. SCHULTHESS entwickelte ein ahnliches Modell, Orthopadc, 1855-1917 mit dem sich prazisere Ergebnisse erzielen lieBen.
Aus Kostengriinden hat sich diese Konstruktion jedoch nicht durchgesetzt. Gleiches gilt fUr die Fotodokumentation.
Heute ist diese Methode durch die Rontgenverlaufskontrolle ersetzt. Sie ermoglicht es den Grad der Skoliose zu messen und den Behandlungsverlauf zu dokumentieren. Neuentwickelte photometrische Einrichtungen befinden sich derzeit in Erprobung.
FuBfehlstellungen
M an unterscheidet im wesentlichen den KlumpfuB (Pes equinovarus) vom PlattfuB (Pes valgus), SpitzfuB (Pes equinus), HackenfuB (Pes calcaneus) und dem HohlfuB (Pes excavatus). Der KlumpfuB ist die haufigste angeborene FuBdeformitat. 1m Laufe der Zeit wandelten sich die Vorstellungen von dessen Entstehung:
1m Mittelalter hielt man die Fehlstellung fUr eine »Offenbarung des gottlichen Willens«. Spater diskutierte man eine HemmungsmiBbildung, auBerlichen Druck auf die Gebarmutter sowie einen Fruchtwas-
Abb. 37. Gipsabdruck eines Erwachsenen-KlumpfuBes
I
50 FuBfehlstellungen
Abb. 38. Gipsabdruck eines SpitzfuBes (Pes equinus) von seitlich
Abb. 39. Gipsabdruck eines Erwachsenen-PlattfuBes (Pes planus) von innen
Abb. 40. Wachsmoulage eines kindlichen PlattfuBes von fuBsohlenwiirts. Hygiene Museum, Dresden
i--
I I
Abb. 41. KlumpfuBschiene nach A. SCARPA, 1804
FuBfehlstellungen 51
52 FuBfehlstellungen
Abb. 42. Lorenz Osteoklast zur Korrektur von FuBfehlstellungen
Abb. 43 a. GipsabguB eines ChinesinnenfuBskeletts von G. C. PERTHES
Abb. 43 b. Wachsmoulage eines ChinesinnenfuBes von fuBsohlenwarts
Abb. 43 c. Wachsmoulage eines ChinesinnenfuBes von auBen. sowie Chinesinnenschuhe einer Hofdame. Shanghai urn 1911. Dr. med. N. Moos, Bonn-Beuel
FuBfehlstellungen 53
54 FuBfehlstellungen
Redression: Unblutige Stellungskorrektur
einer Deformitat
Osteoklast: Apparat zur unblutigen Korrektur
von Fehlstellungen an Knochen und Gelenken
11. O. l)(oMA
Chirurg, 1834- 1891 (Thomas-Schieno wr
Entlastung des Iliiftgclcnkcs: Thomas
GrilT ZUI" Diagnostik von II ilftbeugckun Ll"akturen)
H. GOGIT
Orthopide, 1869-193
M. G. ' I)IILEN IU
Arzt, 1743-1 09
A. MATHI.J I, N
Chirurg, 1805-1878
sermangel wahrend der Schwangerschaft. Hinzu kamen Theorien iiber Ungleichgewichte der Muskulatur auf der Basis von neurologischen Storungen bzw. Muskelerkrankungen, Fehlanlagen der FuBwurzelknochen und Fehlansatze der FuBmuskulatur.
Friihestmogliche Behandlung durch schrittweise Redression und nachfolgende Retention waren bereits in der Antike Grundprinzipien der Therapie.
Die Art und Weise der Korrektur hat sich im Laufe der Jahrhunderte maBgeblich geandert. Neben einer Fiille von Apparaten (A. SCARPA, J. A. VENEL u. a.) wurden Osteoklasten eingesetzt (H. O. THOMAS, A. LoRENZ, H. GOCHT). Die offene (M. G. THILENIUS, 1784), spater die subkutane (G. F. STROMEYER) Durchtrennung der Achillessehne markiert den Beginn der operativen Therapie. Mit der Narkose und Antisepsis erweiterten sich die Moglichkeiten der Behandlung. Eine wesentliche Verbesserung der KlumpfuBtherapie konnte durch die Einfiihrung des Gipsverbandes (A. MATHIJSEN, 1851) erreicht werden.
Neben den angeborenen FuBfehlformen gibt es die groBe Gruppe der erworbenen Veranderungen. Sie werden maBgeblich durch auBere Zwange, zum Beispiel durch die Schuhmode hervorgerufen. Ein klassisches Beispiel hierfiir ist der ChinesinnenfuB, der durch konsequentes bandagieren entsteht. In Europa sind Zehenfehlstellungen wie der Hallux valgus und die Hammerzehen oft Folge eines falsch verstandenen Schonheitsideales.
Hiiftdysplasie - Hiiftluxation
D as Htiftgelenk tibernimmt bei jedem Schritt die Last des Oberkorpers. Der Htiftkopf bedarf dazu einer stabilen Abstiitzung in der Gelenkpfanne. Sie umgreift den Htiftkopf und verhindert ein Abgleiten. 1st dagegen die Pfanne zu flach angelegt (Htiftdysplasie), dann rutscht der Kopf aus dem Gelenk (Htiftluxation). Ohne festes Widerlager bewegt er sich gegen die Darmbeinschaufel. Das betroffene Bein wird ktirzer. Menschen mit einer Htiftluxation hinken oder »watscheln«.
Die Htiftluxation war bereits den Anten des Alterturns bekannt, ohne daB sie tiber eine wirksame Be-
Abb. 44. Riickansicht eines Miidchens mit einseitig luxierter Hiifte rechts und Skoliose (A. LORENZ,
1895)
56 Hiiftdvsplasie - Hiiftluxation
G. B. PAI.ErrA Arzt.1748-1832
A. MAYEB
Chirurg.1798- 1860. (Flihrtc mstclJungs
OSlcotomjcn an der Tibia bci X-Bcincn
clurch)
Reposition: Die Korrektur von
Verrenkungen bzw. Knochenbriichen
handlung verfiigten. A. PARE erkannte die flaehe Hiiftpfanne als Ursaehe der Luxation, er hielt eine Heilung fiir ausgesehlossen.
Erst im 19. Jahrhundert wurden Fortsehritte in der Therapie dieses Leidens gemaeht.
1820 besehrieb G. B. PALETTA die Sektion eines Sauglings mit einer Hiiftdysplasie. 1838 fiihrte C. G. PRAVAZ den Hiiftkopf naeh einer aeht- bis zehnmonatigen Extension in das Gelenk zuriiek. Wahrend A. MAYER das gesunde Bein verkiirzte, wandte J. R. GUERIN die subkutane Tenotomie an und erganzte diese dureh eine Pfannendaehplastik. Allerdings gelang es erst A. HOFFA, den Hiiftkopf auf operativem Wege sieher in die Pfanne einzurenken. Es ist der Verdienst des Wiener Orthopaden A. LORENZ, die Hiifte bei jungen Kindern >>unblutig« zu reponieren (1895). Fiir veraltete oder nieht reponible Hiiftluxationen wurden eine Vielzahl von Eingriffen zur Rekonstruktion des pfannendaehes oder Stellungsver-
Abb. 45. Mehrmonatige Extension in Settlage zur schonenden Reposition der luxierten Ruften (Overheaclextension) (A. LORENZ,
1895)
Hiiftdysplasie - Hiiftluxation 57
Abb. 46. Foto eines Madchens mit beidseitiger Hiiftluxation im fixierenden Gipsverband (A. LORENZ, 1920)
Abb. 47. Beckenpraparat mit beidseits luxierten Hiiftgelenken (A. LORENZ, 1895)
58 Hiiftdysplasie - Hiiftluxation
Abb. 48. Lorenz-Extensionsschraube zur forcierten Reposition der luxierten Hiifte unter Athernarkose (A. LORENZ, 1895)
besserung des gelenknahen Oberschenkelknochens entwickelt.
In der konservativen Therapie verdrangten Bandagen und Schienen, die die funktionelle Ausreifung des Hiiftgelenkes unterstiitzen, die Gipsruhigstellung und die langfristige Extensionsbehandlung.
Die Einfiihrung der Ultraschalluntersuchung der R. GRAfl Sauglingshiifte durch R. GRAF im Jahre 1983 verbes-
Orthopad ,geb. 1946 serte die Friiherkennung und ermoglichte es, den Verlauf der Behandlung kontinuierlich zu beurteilen. Bei konsequenter Reihenuntersuchung aller Kinder direkt nach der Geburt ist es fast immer moglich, die Fehlanlage wirkungsvoll zu beseitigen.
KinderHihmung (Poliomyelitis)
N och vor einigen Jahrzehnten war die KinderUihmung auch in Deutschland eine gefiirchtete Krankheit. Heute ist sie in den IndustrieUindern nahezu ausgerottet. Diese Entwicklung ist Impfstoffen zu verdanken, die anfiinglich abget6tete Viren beinhalteten und in den 60er Jahren durch die bekannte Schluckimpfung mit geschwiichten Lebendviren abgel6st wurden.
Die Poliomyelitis wurde bereits im 18. Jahrhundert von M. UNDERWOOD beschrieben. Der Arzt brachte die Liihmungen jedoch nicht mit dem Ruckenmark in Verbindung. Diese Vermutung iiuBerte erstmals
Abb. 49. Titelblatt der Erstbeschreibung der spinal en Kinderliihmung (J. HEINE, 1840)
BEOBACHTUNGEN
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... ". J . f'OtI. ll lfA"P '140
M. NOERWOOD
Arzt, 1737-1820
60 KinderHihmung (Poliomyelitis)
J. HEINE
Orthopadc, 1800-1879. Mitbcschrciber der » Kil1derl~iJun ung«
fHeiM-McdinKrankheil}
O. MEDii Arzt, 1847-1927
J. HEINE. Er sah einen Zusammenhang zwischen der Uihmung und den daraus entstehenden Deformitaten und sprach bereits 1860 von der spinalen Kinderlahmung. Der Schwede O. MEDIN entdeckte 1887 die epidemische Ausbreitung der Erkrankung. Aus diesem Grund wird die Kinderlahmung auch als HEINE
MEDINSCHE Krankheit bezeichnet. Die Kinderlahmung hinterlaBt nach ihrer akuten
Phase Lahmungen, insbesondere an den unteren Extremitaten. Prinzipiell kann jedoch jede K6rperregion betroffen sein. Die orthopadischen Folgen dieser Viruserkrankung sind von groBer Tragweite. Durch den asymmetrischen Befall der Nervenzellen im Riickenmark treten Ungleichgewichte in den je-
Abb. 50. Hochgradige, liihmungsbedingte Fehlstellung des linken Kniegelenkes (Genu recurvatum) (F. J. HESSING, 1903)
Kinderliihmung (Poliomyelitis) 61
Abb. 51. »Eiserne Lunge«, Modell E 52, Fa. Driiger, 1956
Abb. 52. Atemgeliihmte Patientin mit Rumpf-Respirator, Fa. Driiger, urn 1956
62 Kinderliihmung (Poliomyelitis)
weiligen Muskelgruppen auf. Dies kann zu Gelenkfehlstellungen, knochernen Deformierungen und Skoliosen fiihren. Die Behandlung der beschriebenen Veranderungen ist eine Domane der Orthopadietechnik (Orthesen, Schienen-Schellenapparate und Korsettversorgungen). Konservative und korrigierend operative Behandlungsmethoden erganzen die Therapie der Folgeschaden.
Die Beteiligung der Atemmuskulatur stellt die schwerste aller Komplikationen dieser Erkrankung dar. Sie kann eine kiinstliche Beatmung erfordern und bindet unter ungiinstigen Umstanden das Leben des Patienten an eine Beatmungseinrichtung. Die sogenannte »Eiserne Lunge« ermoglichte es, Poliomyelitis-Patienten mit Lahmung der Atemmuskulatur zu behandeln. Mit Ausnahme des Kopfes und des RaIses befanden sich die Patienten in der Kammer. In ihr herrschte wechselweise ein Uber- und Unterdruck, mit dem eine rhythmische Kompression bzw. Dekompression des Brustkorbes erreicht wurde.
Narkose und Schmerztherapie im Wandel der Zeit
D er Kampf gegen den Schmerz ist so alt wie die Menschheit. Unzahlig sind die Versuche Schmerzen zu lindern. Der Durchbruch auf dem operativen Sektor wurde 1846 durch W. T. G. MORTON erreicht. Mit seiner Anwendung von Ather zur Narkose bei zahnarztlichen Eingriffen ist er als der Begriinder der schmerzfreien Chirurgie anzusehen.
J. F. DIEFFENBACH begriiBt 1847 diese neue Errungenschaft der Medizin mit den Worten: »Der schone Traum, daj3 der Schmerz von uns genommen, ist zur Wzrklichkeit geworden. Der Schmerz, dies hochste
Abb. 53. Pharmazieflasche fiir Ather pro narcosi. Apothekenmuseum Bad Schwalbach
W.T. C. MOllTON Zah narzt, 1819- 186
J. F. DJEH:E BACH
Chirurg, 1792-1 47
64 Narkose und Schmerztherapie im Wandel der Zeit
F. \ . V. ESMI\HClI
Chirurg. 1823-1908
r.. SCH IMMEI.B SCII
Chirurg.1860- 1895
A. BIEH
Chirurg. 1861-1949
Lokalaniisthesie: Lokale Schmerzausschaltung
Spinalaniisthesie: Riickenmarknarkose
Intubationsnarkose: Narkose unter
Verwendung eines Rohres (Tubus) zur
Beatmung iiber Mund oder Nase
Bewuj3tsein un serer irdischen Existenz, diese deutlichste Empfindung der Unvollkommenheit unseres Korpers, hat sich beugen miissen vor der Macht des menschlichen Geistes, vor der Macht des Aetherdunstes. . .. Durch sie ist die halbe Todesbahn zuriickgelegt, der Tod hat nur noch sein halbes Grauen.«
Die Geruchsbelastigung und Bronchialirritation durch Ather fiihrte zur Weiterentwicklung der Narkotika (Chloroformnarkose). Aus dieser Zeit stammen erste Hilfsmittel zur Verbesserung der Ather- u. Chloroformnarkose (ESMARcH-Maske 1877, Schimmelbusch-Maske 1890). 1898 wurde neben der bereits bekannten Lokalanasthesie mit Kokain oder Morphin die Spinalanasthesie durch A. BIER eingefiihrt. Die Intubationsnarkose begann urn 1905, die intravenose Anasthesie konnte sich erst mit dem Vorhandensein neuer Medikamente (Barbiturate) etablieren.
Abb. 54. Ombn1-danne-Apparat zur Athernarkose mit Regelmoglichkeit der Riickatmung und Riickatembeutel aus Rinderdarm urn 1908
Narkose und Schmerztherapie im Wandel der Zeit 65
Einige orthopadische Chirurgen f6rderten die Entwicklung der Anasthesie. So ist mit dem Namen F. ThENDELENBURG nicht nur die Schwache der Hiiftmuskulatur bei Veranderungen am Gelenk verbunden, sondern auch der 1870 entwickelte Trachealtubus mit Manschette zur Verhinderung der Aspiration nach Tracheotomie. OMBREDANNE beschrieb 1908 neb en einer Linie im R6ntgenbild zur Diagnostik der Hiiftverrenkung auch den Ombredanne-Inhaler zur verbesserten Athernarkose. G. PERTHES pragte das gleichnamige Krankheitsbild Morbus Legg-CalvePerthes, eine Hiiftkopfnekrose des Kindes, er erfand zudem eine Absaugvorrichtung bei Inhalationsnarkosen zum Schutz des Personals.
F. THEI DELE B HG Chirurg. 1844- 1924
Aspiration: Eindringen von festen oder fliissigen Stoffen in die Luftrohre
Tracheotomie: Luftrohrenschnitt
L. OMBRlil)AJ E Orthopiidischer Chirurg. 1871- ]956
G. C. PEIITIIES Orilioplide, 1869- 1927
I. S EMM ElWEI GyniikoJoge, 1818- 1865
J. LI TER Chirurg, 1827- 191 2
Okklusivverband: Dicht abschlieBender
Verband als Schutz vor schiidlichen Einfliissen
Antisepsis und Asepsis
O perative Eingriffe sind eng verbunden mit der Entwicklung der Anasthesie und der Asepsis. Beide Verfahren nahmen ab Mitte des 19. Jahrhunderts Einzug in die Medizin.
Antisepsis und Asepsis
Der Zusammenhang von Wundinfektion und Desinfektion ist mit dem Namen I. SEMMELWEIS eng verbunden. Der Frauenarzt erkannte die Gefahr der Kontaktinfektion und ordnete deshalb strengste Sauberkeit, Kleidungswechsel und vor aHem das Waschen der Hande in Chlorkalk an. Der Englander 1. LISTER fiihrte zunachst den Okklusivverband und spater die antiseptisch wirkende Karbolsaure in der Chirurgie ein. Sein Ziel war die Vernichtung der Eitererreger in der Wundumgebung und an den Randen des Chirurgen, den Instrumenten, den Verbandsmitteln und in der Wunde selbst. Seiner Auffassung nach war es die Aufgabe des Operateurs, die Eiterung einer Wunde zu verhindern und eine Primarheilung anzustreben. Er erfand einen Zerstauber, mit dem wahrend
~",:~~.--:-.
-. . ~ ... . ~-: .~. ..... ,.
)"~Hi \ I .... ~
---.:::: :.-i -' .:... --- - Abb. 55. Karbolzerstiiuber
nach J. LISTER, urn 1867
Antisepsis und Asepsis 67
Abb. 56. Aseptischer Operationsraum urn 1898
des operativen Eingriffes Karbolsaure versprtiht wurde. Schon bald wurde das Prinzip der Antisepsis durch das der Asepsis, des keimfreien Operierens, ersetzt. Die Entwicklung fiihrte tiber die mechanische Handereinigung, die von E. VON BERGMANN prop a- E. VON B ERG~t'\ l N
gierte Sublimat-Desinfektion, die Dampfsterilisation r.h irul'g, 1836- 1907
(c. SCHIMMELBUSCH) bis zur Verwendung von sterilen Gummihandschuhen (W. H. HALSTED, 1890), dem Mundschutz (P. BERGER, 1897) und der Einrichtung \\'. 11 . H ,\t.STED
separater Operationsraumlichkeiten. Wichtige Auf- Chirllrg. 1852-1922
schliisse zur Entstehung der Wundinfektionen liefer- P. BEIICEH
ten die Forschungsarbeiten von R. KOCH. Chirlll'g. 1845-1908
Rontgen
»D ie orthopiidische Chirurgie gehort sicherlich zu den Spezialgebieten der iirztlichen Wzssenschaft, die den groftten Nutzen von der Anwendung der Rontgenstrahlen gehabt haben. Sie erleichtern die Diagnosenstellung, sie zeigen den richtigen Weg fur das therapeutische Handeln, uberzeugen auch den Patienten von der Notwendigkeit eines Eingriffes, und gestatten, den Erfolg eines solchen zu uberwachen«. Diese Worte schrieb A. HOFFA in einem RadiologieAtlas elf Jahre nachdem die Rontgenstrahlen am 8.
we. R ONT(;EN November 1895 durch W.e. RONTGEN entdeckt worPhysiker. 1845-1923 den waren. Innerhalb kurzer Zeit breitete sich das
Rontgenverfahren auf der ganzen Welt aus. RONT-
Abb. 57. Rontgenaufnahme der Hand von Frau BERTA RONTGEN
II 1'1111'1'01.11 \1'1111-::-'
HOXrl'l LX·sTIL\ II LhX
\.1."0' -l .!
Abb. 58. Oben: Titelseite eines Atlas tiber Rontgenstrahlen des Physikalischen Vereins zu Frankfurt am Main, 1896; Unten: Rontgenbild einer Mumie des Senckenberg-Museums FrankfurtlMain aus dem Atlas
Rontgen 69
70 Rontgen
Tomographie: Schichtaufnahmeverfahren zur
Darstellung von Strukturen in einer
definierten Ebene des Korpers
Computertomographie: Computergestiitztes
rontgendiagnostisches Verfahren zur
Herstellung von Schnittbildern des
Korpers
A. G. . Hou SFiELD
Ingenieur. geb. 1919 (Nobelpreistdiger im Fach Mcdizin. 1979)
Sonographie: Ultraschallverfahren zur
Erstellung von Schnittbildern, vornehmlich
von Weichteilen (Sehne, Muskulatur)
Szintigraphie: Nuklearmedizinische Untersu
chungsmethode
Kernspintomographie: Bildgebendes Verfah
ren, mit dem sich Korperstrukturen unter
Anlage eines starken Magnetfeldes abbilden
lassen
GEN wurde schon im Jahre 1901 mit dem ersten Nobelpreis im Fach Physik geehrt.
Aus orthopadischer Sicht waren die konventionelle Tomographie (1930) und die von A. G. N. HOUNSFIELD entwickelte Computertomographie (CT) weitere Meilensteine in der bildgebenden Diagnostik mit Rontgenstrahlen. Insbesondere die CT erlaubt die Darstellung von Weichteilen ohne Verwendung von Kontrastmitteln und ermoglicht eine exakte Lokalisation und Grofienbestimmung von pathologischen Befunden.
Heute kommen, neb en den Rontgenstrahlen, die Sonographie, Szintigraphie und Kernspintomographie als bildgebende Methoden zum Einsatz. Fur absehbare Zeit wird keines der genannten Verfahren die Rontgendiagnostik ersetzen konnen.
R6ntgenganzaufnahme
ie Darstellung des Menschen auf einem Rontgenbild reduziert die dreidimensionale Gestalt auf eine zweidimensionale Ebene. In der Routineradiologie wird nur ein Ausschnitt des Korpers gerontgt. Der Bezug zum Gesamtorganismus geht damit verloren.
Lange Zeit war es aufgrund technischer Schwierigkeiten nicht moglich, ein Rontgenbild des gesamten Menschen herzustellen. Man begniigte sich zunachst mit dem Zusammensetzen von Einzelbildern. Erst 1927 gelang die Ganzaufnahme mit einer einzigen Belichtung. Insbesondere zur wissenschaftlichen Forschung in der Anthropologie, Biologie und in der Medizin wurde dieses Verfahren weiterentwickelt. Es konnte sich wegen der hohen Strahlenbelastung im Klinikalltag nicht durchsetzen und geriet in Vergessenheit.
Rontgenganzaufnahmen bieten folgende diagnostische Moglichkeiten: - Vermessung des menschlichen Skelettes und Ver
gleichsmoglichkeiten mit den Normalproportionen. - Abweichungen von den Normalproportionen als
Krankheitssymptom. - Funktionelle Aspekte des Skeletts bei bestimmten
Haltungen. - Systemerkrankungen des Skeletts bzw. multiloku
!are Veranderungen (multiple kartilaginare Exostosen, fibrose Dysplasie).
Fibrose Dysplasie synonym Osteofibrosis deformans juvenilis, Morbus JaffeLichtenstein. Ersatz des Knochens durch faserreiches Bindegewebe
72 Rontgenganzaufnahme
Abb. 59. Rontgenganzaufnahme einer Frau vor 1930
Heilgymnastik, Massage und physikalische Therapie
Yom Wettkampf zur medizinischen Therapie
D ie Behandlung orthopadischer Erkrankungen mit Hilfe physikalischer Verfahren ist so alt wie die Medizin. Licht, Luft und Sonne wurden ebenso wie Bewegung, Massage und Einreibungen in allen Kulturen als Heilmittel geschatzt. Gymnastik, Wettkampfe und Bewegungsspiele dienten dariiber hinaus der Vervollkommnung des Korpers, dem Erhalt seiner Schonheit und der Vorbeugung von Erkrankungen. Korperliche Leistungsfahigkeit und Einsatzbereitschaft waren zudem schon immer Voraussetzung militarischer Eroberungen.
Urn 100 v. Chr. empfahl R. VON EPHESUS gymnastische Ubungen gegen Gelenkkrankheiten. GALEN lieB eine gezielte Rumpf- und Atemgymnastik ausfiihren, urn jugendliche Brustkorbdeformitaten zu beseitigen. Gelahmte behandelte C. AURELIANUS mit Massage, Warmeanwendungen, passiver sowie aktiver Gymnastik und sogar mit Geraten, die die Bewegung erleichterten. In der Renaissance erhielten die Kenntnisse der Antike erneut groBeres Gewicht und begiinstigten ihre Ausbreitung. 1569 verOffentlichte G. MERCURIALI sein Werk »De arte gymnastica«, in dem er die Bedeutung der regelmaBigen korperlichen Ubung mit Gesundheit und militarischer Starke in Zusammenhang brachte. Der franzosische Chirurg A. PARE und der englische Arzt T. SYDENHAM griffen die aktive Bewegungstherapie und die Massage als Behandlungsprinzipien auf.
Die aktive Bewegung hatte neben der Schienenbehandlung zur Vorbeugung und Behandlung orthopadischer Leiden bei N. ANDRY einen besonderen Stellenwert. 1780 publizierte J. C. 'nSSOT eine »Gymna-
H. vo ' EPHES S
griechisther Chirurg. lebte urn 100 v. Cllr.
C. A REUAN S
grierhischcr Arzt. lebte im 5. Jahrhundcrt v. Chr.
G. MEHCURIALI Arzt. 1530--1606. Verrasscr ciner fruhen VeriiITenUichung zur geslindheiUichen Bedeutung del' Gymnastik
T. 5VDE HAM J\rzt.1624-]689. Begrundcr der modernen Mcdizin in England
74 Heilgymnastik, Massage und physikalische Therapie
J. C. T rSSOT Franzosische l' I'zl,
1750-1826. Bctonte die B'wegllng aIs
mcd izin isC'h thcl'apclI t isrh('s
Vel'fahrCIl
F. L. Ji\H N
Lehrer. 1778- 1852
P. II. LlG Gymnastiklch l'cl'.
1776-1839
Abb.60. »De arte gymnastica« (G. MERCURIALI,
1601)
stique medicale et chirurgicale«. Der Zuwachs orthopiidischer VerOffentlichungen iiber die Bewegungstherapie reflektiert deren groBe Bedeutung im 19. Jahrhundert. J. DELPECH ergiinzte die aktive eigenstiindige Therapie mit korrigierenden Apparaten, die einen dauernden Zug ausiibten.
»Deutsches« Turnen und »schwedische« Heilgymnastik
Zur groBen Akzeptanz der Bewegungstherapie trug der als »Turnvater« bekannte F. L. JAHN bei, der das »deutsche Turnen« wiihrend der napoleonischen Herrschaft zur physischen und moralischen Stiirkung der BevOlkerung propagierte. Die geistige Freiheit so11te sich in der turnerischen Bewegung widerspiegeln. Begriinder der »schwedischen« Heilgymnastik war P. H. LING. Sein System setzte sich aus vier Teilen, einer priiventiven, militiirischen, iisthetischen
Heilgymnastik, Massage und physikalische Therapie 75
und medizinischen Gymnastik zusammen. Er behandelte seine Patienten durch aktive und passive Ubungen und setzte ihren Bewegungen muskuHiren Widerstand entgegen.
LING gewann in ganz Europa viele Anhiinger. In Deutschland setzten sich vor aHem H. ROTHSTEIN und A. C. NEUMANN fiir das neue Verfahren ein. ROTHSTEIN wurde 1848 Leiter der militiirischen Zentral-Turnanstalt in Berlin. Die schwedische Heilgymnastik war personeH aufwendig, fiir einige Ubungen wurden zwei oder sogar drei Gymnasten benotigt.
»Gesundheit maschinell herstellen«
Der schwedische Arzt G. J. W. ZANDER kam auf den Gedanken, die Heilgymnastik einer Maschine zu iibertragen. Er ersetzte den Gymnasten durch ein Geriit und hatte damit einen bahnbrechenden Erfolg. Schon bald war es »moderner«, sich von einer - nach wissenschaftlichen Kriterien konstruierten -Maschine als von einem Menschen behandeln zu lassen. Die Technikbegeisterung und ein zunehmender Bewegungsmangel in den hoheren Schichten begiinstigte die Verbreitung der Zanderschen Therapie.
Abb. 61. Widerstandsapparat nach G. ZANDER zur KriiJtigung der Riickenmuskulatur (Anwendung in Abb. 62)
I I. HOTH TEl N
Otnzicr, 1810- L863
A. . C. NEUi\'IANN
Orthopide. 1803- 1876
G. J. \ . %A DEli
Ar zL u nd Physioth rrape ut. 1835-1920
76 Heilgymnastik, Massage und physikalische Therapie
II. KHUKENBEHG Orthopade, 1863-1935
(Krukenbergplastik und -arm)
I-I. EDEL Orthopade, 1853-1930.
Mitherausgeber der Zcitschrift fUr
Orthopadische Chirurgie
Teure und aufwendig gestaltete medikomechanische Institute entstanden in vielen europaischen GroBstadten und Heilbadern. Dariiber hinaus iiberwiesen die Berufsgenossenschaften Verletzte zur maschinellen Heilbehandlung, da sie sich hierdurch eine bestmogliche Wiederherstellung und damit niedrige UnfaHrenten versprachen. In Deutschland unterstiitzten unter anderem A. HOFFA, H. KRUKENBERG und der Frankfurter Orthopade H. NEBEL die Zandertherapie. Eine spate Wiedergeburt erlebte dieses Behandlungsverfahren mit der »passive motion« zur postoperativen Mobilisierung und Kontrakturbehandlung.
Die Professionalisierung der Heilgymnastik
Die Zandertherapie geriet mit dem 1. Weltkrieg wegen ihrer hohen Kosten und fehlender Mobilitat schlagartig in Vergessenheit. Die groBe Zahl der Verwundeten steHte neue Anforderungen an die orthopadischen Chirurgen. Innerhalb der Physiotherapie gewann die Krankengymnastik an Bedeutung. Vor aHem machte sich ein Mangel an ausgebildeten Therapeuten bemerkbar. Bisher gab es nur die urn 1900
Abb. 62. Widerstandsapparat nach ZANDER in Anwendung (A. LUNING und W. SCHULTHESS, 1901)
Heilgymnastik, Massage und physikalische Therapie 77
Abb. 63. Aktive Widerstandsiibung bei Skoliosebehandlung (LUBINUS, 1933)
von J. H. LUBINUS in Kiel gegriindete »Bildungsanstalt fUr Heilgymnastinnen«, die eine zweijahrige Ausbildung anbot. 1920 wurden in der von W. SMITT in Dresden begriindeten sachsischen Staatsanstalt fUr Krankengymnastik und Massage die ersten Schiiler aufgenommen. Bis 1939 entstanden in Deutschland insgesamt neun Krankengymnastikschulen, 1958 wurde die Berufsbezeichnung KrankengymnastiniKrankengymnast in der Bundesrepublik geschiitzt, 1960 eine neue Ausbildungs- und Priifungsordnung verabschiedet.
J.I-I . L B I N
Orthopade lind Klinikleiter.1865- 1937
78 Heilgymnastik. Massage und physikalische Therapie
J. Zt\J3LUDOWSKI
Arzt.1851- 1906. Professor an der niversitat Berlin
Abb. 64. Druckmassage der Nervenabgange aus der Wirbelsaule bei Schwindsucht (ZABLUDOWSKI. 1903)
Die Massage stand in der jiingeren Vergangenheit im Schatten der Krankengymnastik. Das war nicht immer so. Seit 1875 galt die Massage als ein schulmedizinisch anerkanntes Behandlungsverfahren. sie wurde haufig als Sammelbegriff fiir die Bewegungstherapie genannt. Die Berliner Universitat besaB sogar eine »Massage-Anstalt« die von J. ZABLUDOWSKI geleitet wurde. 1m Laufe der folgenden lahrzehnte bildeten sich unterschiedliche Indikationen fiir Krankengymnastik und Massage heraus. ohne daB ihr innerer Zusammenhang verloren gegangen ware.
Naturheilkunde und Orthopadie
R eine Luft, Licht und Sonne werden seit Jahrtausenden als Heilfaktoren geschatzt. ANDRY riet den Eltern, ihre Kinder der frischen Luft auszusetzen. Die Industrialisierung und Verstadterung, lange Arbeitszeiten und einseitige Ernahrung begiinstigten Tuberkulose und Rachitis. Dem Leipziger D. G. M. SCHREBER fiel der Zusammenhang zwischen den sozialen Verhaltnissen und der Haufigkeit von Krankheiten auf. Auf seinen Namen gehen die »SchreberGarten« zuriick, Kleingarten, mit denen armeren Bev6lkerungsschichten die M6glichkeit geboten wurde, Zeit in der Natur zu verbringen und sich k6rperlich zu betatigen. Der Schweizer A. RIKLI erhob Luft und Lichtbader zu zentralen Elementen einer Lebensanschauung, er wurde Vorreiter der Heliotherapie in der Naturheilkunde. Die medizinische Wirksamkeit der Behandlung mit elektrischem Licht bewies 1895 N. FINSEN, der damit Kranke, die an einer Hauttuberkulose, dem Lupus vulgaris, litten, heilen konnte. 1903 erhielt er hierfUr den Nobelpreis fUr Medizin. Auch die his zur Jahrhundertwende als weitgehend unheilbar angesehene Knochen- und Gelenktuberkulose verlor dank der Heliotherapie ihren Schrecken. Die Schweizer O. BERNHARD und A. ROLLIER heilten auch Schwerstkranke durch intensive Sonnenbestrahlung. Urn die giinstigen Wirkungen der Sonne auszunutzen, wurden die orthopadischen und chirurgischen Kliniken bis in die 40er Jahre mit groBen Balkonen versehen, auf die die Patienten tagsiiber geschoben wurden. Ab 1920 gelang es, mit kiinstlichem UV-Licht die Rachitis wirksam zu heilen.
D. G. M. ClIllEBEH
Ol'thOptid('. 1808-IR()1
A. . B IKLI Fiir bl'J' 'ibesitzc r und Na lurhei lkundl('r. 1823-1906
N. Fl SE '
Arzl, 1860-1904 (Nobelpreis il11 Farh Mrd izin, 1903)
O. BEll !l AII D
Chiru rg. 1861-1939
. RO Ll .IEIl
Chirllr!!. 1874-1954
80 Naturheilkunde und Orthopiidie
Abb. 65. Links: 4jiihriger Patient mit fortgeschrittener Tuberkulose der beiden FiiBe und der rechten Hand vor der Heliotherapie (A. ROLLIER, 1913); Rechts: Derselbe Junge nach einjiihriger Behandlung, die Fisteln sind vernarbt, die Muskulatur hat sich wieder aufgebaut, der Allgemeinzustand ist sehr gut (A. ROLLIER, 1913)
N aturheilkunde und Orthopiidie 81
Von der Elektrotherapie zum Ultraschall
Die Elektrotherapie konnte zwar niemals die gleiche Bedeutung wie die Krankengymnastik oder Massage erlangen, als erganzendes Behandlungsverfahren bereicherte sie jedoch das Spektrum der konservativen Therapie, zum Beispiel bei Lahmungen. Bereits 1744 veroffentlichte C. H. KRATZENSTEIN eine Abhandlung von dem Nutzen der Electrizitiit in der ArtzneywissenschaJt. J. JALLABERT erbrachte nur vier Jahre spater den Nachweis, daB sich Muskeln mit Hilfe des elektrischen Stromes stimulieren lassen. G. DUCHENNE verOffentlichte seine Erfahrungen und illustrierte sie 1857 mit Photographien. In Deutschland setzte R. REMAK die Galvanotherapie zur Behandlung von Nerven- und Muskelkrankheiten ein.
Die Kurzwelle fand durch E. SCHUEPHAKE 1930 Eingang in die Physiotherapie und verbreitete sich rasch. Die Ultraschallbehandiung wurde erstmals 1939 von R. POHLMANN zur Behandlung radikularer Syndrome empfohlen. Sie wird noch heute bei Weichteilerkrankungen und zur Beeinflussung der Knochenbruchheilung eingesetzt.
Erst wenige Jahre alt ist die StoBwelIentherapie, die Heilungsvorgange an Weichteilen beschleunigen und Gewebeverkalkungen auflosen solI.
c:. G. KHATZE, STEI :"l
Arzl, ] 723- 1795
J. JALLI\ BEHT
Arzl. 1712- 1768
B. G. DUCII Ei\i\ E
Physio logc . 1806-1875
H. lkmak Physiologe, 1815- 1865
E. CIILlEPIl AKlo
Arzl, 1894-1995
H. PO II DIA:"IN
PhysLker, 1907-197
82 Naturheilkunde und Orthopiidie
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Abb. 66. Oben: Schrift tiber die elektrische Medizin (J. G. SCHAFER, 1766); Unten: Abbildung aus der Schrift
Korsettversorgung
K orsette werden vor aHem bei unphysiologischen Kriimmungen der Wirbelsaule (Skoliose, Kyphose), Infektionen (Spondylitis) und Knochenbriichen (Frakturen) der Wirbelkorper eingesetzt.
Die Korsettversorgung der vergangenen Jahrhunderte war einerseits von den unterschiedlichen biomechanischen Vorstellungen und dem Wissen iiber die pathologischen Veranderungen der Wirbelsaule und andererseits von den zur Verfiigung stehenden Materialien gepragt.
Mit den zunehmend besseren Operationstechniken hat sich die Indikation zur aHeinigen Korsettbehandlung wesentlich gewandelt. War das Korsett vor 150 Jahren die einzige Moglichkeit der Versorgung, so
Abb. 67. F. HESSING
wiihrend einer Korsettanprobe
r. HESS I 'G
Orgelbauer und GroBunlcrnehmer, 1838-1918. Erneuerer def Orlhopadietcchnik. GrUnder del' orthopHdischen Ilcilanstalt in Goggingcn. heute »Hessingschc SUl"tungcn«
84 Korsettversorgung
L.A. SWllE
Ol'thopadischer Chirurg, 1820- 1900
K. LINDEMAN '
Ol'thopiidi cher Chirurg. 1901-1966
wird es heute wesentlich haufiger als begleitende MaBnahme zum operativen Eingriff angewandt. Bei den Skoliosen bestimmt das AusmaB der Krummung, ob nur das Korsett oder eine Kombinationstherapie in Frage kommt.
Von besonders groBer Bedeutung war die EinfUhrung der Gipsbinde, die von L.A. SAYRE in der Skoliosebehandlung inauguriert und spater auch fUr andere Indikationen (Wirbelkorperbruche, Spondylitis) eingesetzt wurde. So stabilisierte L. BOHLER Wirbelkorperbruche mit einem Gipskorsett.
Neben den starren Korsetten haben sich insbesondere fUr die degenerativen Leiden halbelastische Orthesen nach G. HOHMANN (1941) und K. LINDEMANN (1946) etabliert, die noch heute ihren Stellenwert besitzen. Kontrovers diskutiert wird die Auswirkung auf die Ruckenmuskulatur.
Abb. 68. Diverse Korsettkonstruktionen (R. PASCHEN, 1902)
Abb. 69. Friihes StUtzkorsett, »Blechpanzer« (A. PARE, 1579)
Jah,.
1579 1592 FADIlI I
1700 1762 .R x 1768 F. G. L, A liEn
1789 J. E EL
24 J. SILA
2 J. DEl. PECIi
1 77 L. . SA RE
79 F. liE I G
19B E.G. 1l01,
1931 J.e. HI En
1945 W. P. BLO
1957 Y. COTREL
1970 P. TAG AlIA
1977 II. . \N "IT
1979 J. CIIE ' \
Thcrapi
Abb. 70. Friihes Redressionskorsett »Heistersches Kreuz« (L. HEISTER, urn 1700)
»BI chpanzcr«
»11) pomorhlion« » II eisl rsell(' Kreuz«
Kors Ll mit \3rckenab tiitzung K,. tt und Ext n ion
K r tl mil Korrekturmogli hkeit del' Tor ion Kor eltanlag in • t nsion "inftihrung der akLiven
Therapi im Ko,. U
u pension und Gipsanlag
Rahmen tiitzko,.setl
Gipskorsctt
mkrummung qUl'ngclgips
lih auker-Kors II
E.D.F.-Gip kor tt
Lyon r-Kors Lt
Boston-Kor eU
Abb. 71. Die Korsettentwicklung vom Mittelalter bis in die Neuzeit
Korsettversorgung 85
»Antoniusfeuer« synonym Ergotismus:
Erkrankung die durch den Befall des Roggens
mit Mutterkornpilzen auftritt
Ersatz der unteren Extremitaten
Die Amputation
Unfiille mit komplizierten Knochenbriichen, Verletzungen bei kriegerischen Auseinandersetzungen und Erfrierungen konnen Hiinde und FiiBe, Beine und Arme so schwer schiidigen, daB eine Amputation notwendig wird. 1m Altertum endeten schwere offene Knochenbriiche wegen der nachfolgenden Infektion meist todlich. Am ehesten diirften die Verwundeten iiberlebt haben, bei denen die traumatische Amputation mit einer glatten Schnittfliiche verbunden war. Auch der »Brand«, die trockene Nekrose einer Extremitiit als Folge einer DurchblutungsstOrung, konnte iiberlebt werden. Die hiiufigste Ursache war das »Antoniusfeuer«. Mit der Entwicklung der Chirurgie, insbesondere der Einfiihrung der GefiiBunterbindung, stieg die Wahrscheinlichkeit, eine Amputation zu iiberleben. Die Amputation wurde nun sogar zur Lebensrettung bei schweren Erkrankungen, zum Beispiel bei unheilbaren Infektionen, eingesetzt.
Bein- und Fuj3prothesen
Die einfachste Prothese fiir den Unterschenkel ist der StelzfuB. Bekannt ist die Abbildung eines Satyrs auf einer etruskischen Vase aus dem 2. Jahrhundert v. Chr.
1m allgemeinen winkelt der Amputierte das Knie ab und belastet damit die Stelze im Sinne eines Knieruhebeines, auf der sich eine gepolsterte Plattform befand. Bei aller Primitivitiit ermoglichte diese
H. BOSCH Konstruktion ein sicheres Gehen. Eine Grafik von H. urn 1450-1560 BOSCH liiBt erkennen, daB auch andere Prothesen,
sei es im Eigenbau oder von Handwerkern konstru-
Abb. 72. Nachbau des »Kleinen Lotharingers«, einer Oberschenkelprothese (A. PARE, 1545)
Abb. 73. Prothesenversorgung einer FuBwurzelarnputation nach N. PIROGOFF urn 1920
Ersatz der unteren Extrernitaten 87
88 Ersatz der unteren Extremitiiten
II. RAVATON
Chirurg, Mitte 18. Jahrhundert
.IL'\BERMAN
Orthopadiemechaniker 1 91- 1963
H. PITZY
Orthopide, 1872-1956. Leitete wiihrend des
1. Weltkrieges cin Lazaretl mit 4000
Bellen
iert, in Gebrauch waren. Der Chirurg A. PARE erwahnte im 16. Jahrhundert neben dem Stelzbein eine Oberschenkelprothese, die von einem Kunsthandwerker, dem »kleinen Lotharinger«, hergestellt worden sei. Es bestand aus Eisenblech und konnte im Knie abgeknickt werden. Auch der Oberschenkelamputierte konnte mit einer Stelze versorgt werden, wenn der Kocher an den Stumpf angepaBt und Abstiitzungspunkte am Korper gefunden wurden. Das Stelzbein wurde durch einen Becken- oder Schultergurt gesichert. Da es sich besonders bei schweren und schmutzigen Arbeiten bewahrte, war es in Deutschland bis nach dem 1. Weltkrieg verbreitet, in der dritten Welt findet man sie noch heute.
1m 18. und 19. Jahrhundert nahm der Kunstbeinbau einen raschen Aufschwung. Man entwickelte Prothesen fUr die verschiedenen Amputationshohen. Knie- und FuBgelenk wurden beweglich gearbeitet. 1755 konstruierte H. RAVATON einen Unterschenkelapparat aus Leder fUr einen FuBamputierten. 1m Laufe der Jahrzehnte verbesserte man PaBform, Befestigung und Sicherheit der Prothesen. Als Material kamen Holz, Leder, Blech, Kupfer und Tierfell zur Anwendung.
Der Orgelbauer und Unternehmer F. HESSING brachte neue Ideen in die Orthopadietechnik. Er modellierte die Orthesen und Prothesen anatomisch korrekt an den Korper an. Seine Oberschenkelprothesen nutzten schon das Sitzbein zur Lastiibertragung auf die Prothese.
Wichtige technische Neuerungen kamen den Kriegsbeschadigten nach dem 1. Weltkrieg zugute. Der Orthopade F. SCHEDE und der Orthopadiemechaniker A. HABERMANN konstruierten ein polyzentrisches Kniegelenk, das dem Sicherheitsbediirfnis des oberschenkelamputierten Patienten gerecht wurde. Urn die Zeit bis zu einer endgiiltigen Versorgung nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, wurde Amputierten ein Kocher aus Gips als Interimsprothese nach H. SPITZY anmodelliert. Doppelt Oberschenkelamputierte wurden direkt nach dem Eingriff mit Kurzprothesen (Stubbi) versorgt. In beiden Fallen
Abb. 74. InterimsOberschenkelschaftprothese nach H. SPITZY, 1920
Abb. 75. Modell einer Oberschenkelprothese mit polyzentrischem Kniegelenk nach SCHEDE-HABER
MANN,1920
Ersatz der unteren Extremitiiten 89
90 Ersatz der unteren Extremitiiten
ging es darum, die Verwundeten schnell zu mobilisieren.
In den letzten Jahrzehnten haben Kunststoffe zunehmend an Bedeutung gewonnen. Neben der Gewichtsersparnis spielen fertigungstechnische Vorteile eine Rolle. Dies gilt auch fiir die Modularprothesen, die aus einem Baukastensystem zusammengesetzt werden und einfache Justierungen wahrend der Anprobe ermoglichen.
Geandert hat sich nicht nur die Technik, sondern auch die Indikation zur Amputation, heute miissen sich vorwiegend altere Menschen mit DurchblutungsstOrungen oder Stoffwechselerkrankungen diesem Eingriff unterziehen.
Ersatz der oberen Extremitaten
D er Ersatz von Hand und Arm ist weitaus schwieriger als der des Beines. Die Beine dienen der Fortbewegung, sie iibertragen die Last des K6rpers auf den Boden. Eine gute Prothese erfiillt diese Anforderungen. Dagegen nehmen wir mit den Winden Kontakt zu unserer Umwelt auf, wir »begreifen« sie. Die Funktion der Hand ist unmittelbar mit dem Gefiihl verbunden. Diese kann niemals durch eine Prothese ersetzt werden. Der einseitig Amputierte benutzt die Prothese als Beihand, der doppelseitig Amputierte muB die Greiffunktion beider Kunsthiinde intellek-
Abb. 76. Gebrauchshand: Fischer-Hand, Zedernholz, 1917
92 Ersatz der oberen Extrernitiiten
tuell kontrollierten. Das GefUhl fUr den Gegenstand fehlt ihm.
Trotz dieser Schwierigkeiten sind seit dem Altertum eine Vielzahl von beweglichen Hiinden erwahnt oder erhalten. So solI der r6mische General MARCUS SERGIUS, der urn 200 v. Chr. seine rechte Hand in einer Schlacht verlor, mit einer Prothese viele Kampfe siegreich bestritten haben.
Abb. 77. Gebrauchshand: Hiifner-Hand, Metall, 1917
Abb. 78. Keller Arbeitshand, urn 1920
Ersatz der oberen Extrernitaten 93
1504 wurde GOTZ VON BERLICHINGEN in einem Gefecht eine Hand abgeschlagen. Er lieB sich eine Kunsthand mit beweglichem Daumen und Langfingern aus Eisen anfertigen. Diese und viele andere Prothesen aus dem 16. bis 18. lahrhundert verfiigen tiber einen Mechanismus, mit dem Gegenstiinde fixiert und nach Aufuebung einer Sperre losgelassen werden k6nnen. Ein aktives Greifen war damit nicht
Abb. 79. Prothesenversorgung einer Unterarrn-Sauerbruch-Kineplastik. urn 1916
Abb. 80. Prothesenversorgung einer Krukenberg-Plastik. urn 1925
94 Ersatz der oberen Extremitiiten
P. B. BALLIF
Zahnarzt, 1775-1831
moglich. Die erste Prothese mit willkiirlich beweglichen Fingern geht auf den Berliner Zahnarzt und Techniker BALLIF im Jahre 1812 zuriick. Streckte der Trager den Ellenbogen, so Offneten sich die Finger. Seit diesem Zeitpunkt baute man Seilziige in die Prothesen ein, mit denen die Finger iiber einer Bewegung der gegenseitigen Schulter oder des Rumpfes geoffnet und geschlossen werden konnten.
Der erste Weltkrieg gab den Orthopaden den AnstoB, die Prothesenversorgung der oberen Extremitat weiter zu entwickeln. Der Greifmechanismus wurde verbessert. Bei vielen Prothesen lieB sich die
Abb. 81. KrukenbergPlastik beidseits bei Zustand nach traumatischer distaler Unterarmamputation (H. GOCHT, 1925)
Abb. 82. Praktischer Gebrauch der Greifarme nach Krukenberg-Plastik (M. LANGE, 1956)
Ersatz der oberen ExtremWiten 95
bewegliche Hand gegen Arbeitsgerate auswechseln, die besser fUr spezielle Tatigkeiten geeignet waren. H. KRUKENBERG widmete sich den Ohnhandern. Bei dem nach ihm benannten Operationsverfahren werden Elle und Speiche getrennt, sie werden wie eine Zange zum Greifen benutzt und konnen auch in Verbindung mit einer Prothese Greiffunktion steuern. Der Chirurg F. SAUERBRUCH nutzte die Kraft der noch vorhandenen Muskeln, urn die Funktion der Kunsthand zu verbessern. Er bildete Kanale in der Beugeund Steckmuskulatur und verb and diese Muskeln uber Zuge mit der Hand. 1m Gegensatz zu anderen Versorgungen ermoglichten die beiden letztgenannten Operationsmethoden bei der nachfolgenden Prothesenversorgung eine Ruckmeldung der Greifkraft.
1949 wurde die »Vaduzer Hand«, eine elektromotorisch betriebene Prothese von dem Schweizer E. WILMS patentiert. Seit 1955 nutzt man elektrische Muskelimpulse, urn die Funktion der Hand zu steuern. Hiermit lieBen sich gute Ergebnisse erzielen.
E. F. s,\ EIlIlIlUCIl
Chil'urg. 1875- 1951
E. WIL IS Arzl. 1911-1996
Krepitation: Knochenreiben
F. STE I MA ' N
Chil'ul'g, 1872- 1932
M. K IRSC H NER
Ch irurg, 1879-1942
Knochenbruchbehandlung
K nochenbriiche sind so alt wie die Menschheit. Schon sehr friih bildeten sich praktische Richtlinien zur Diagnostik und Therapie von Briichen heraus. Fehlstellung, Krepitation und abnorme Beweglichkeit wurden bereits in der Antike als sichere Zeichen eines Knochenbruches angesehen. Das Prinzip der Ruhigstellung der verletzten ExtremWit war von jeher unbestritten. 1m Laufe der Jahrhunderte anderten sich die dazu verwendeten Materialien (Starke, Gips) und Gerate (z. B. Schienenapparate). Friiher wie heute ist eine m6glichst optimale Reposition die Voraussetzung fUr ein gutes Ergebnis. Der Stellungskorrektur wurde gr6Bte Aufmerksamkeit geschenkt. Die EinfUhrung der R6ntgenstrahlen und verbesserte Methoden der Extension (Steinmann-Nagel, Kirschner-Draht) erleichterten eine anatomisch korrekte Einrichtung.
Abb. 83. Trockenpraparat einer in Fehlstellung verheilten Oberschenkelschaftfraktur. Institut fUr Pathologie »Georg Schmorl«, Klinikum Dresden Friedrichsstadt, Dresden
Knochenbruchbehandlung 97
LORENZ BOHLER systematisierte die Therapie der Knochenbriiche wahrend und nach dem 1. Weltkrieg. Er propagierte die absolute Ruhigstellung der verletzten Region bei gleichzeitiger aktiver Bewegung aller nicht verletzten Gelenke. Seine Richtlinien haben bis heute in der konservativen Frakturbehandlung Bedeutung.
Manche Knochenbriiche heilen trotz Ruhigstellung nicht aus. Ein typisches Beispiel ist der Querbruch der Kniescheibe, bei dem die Oberschenkelmuskulatur die Bruchfragmente auseinander zieht. J. MALGAIGNE beschrieb 1848 ein klammerartiges Instrument, mit dem die beiden Bruchstiicke der Kniescheibe zusammengefUhrt werden konnten. Die oft unheilbare Schenkelhalsfraktur wurde 1858 von B. V. LANGENBECK mit einer Bolzung stabilisiert. J. LISTER »nahte« die gebrochene Kniescheibe und 1886 setzte LANGENBECK vor LAMBoTTE (1902) erstmals einen Monofixateur externe ein.
T. GLUCK nahm schon 1891 wichtige Prinzipien der operativen Knochenbruchbehandlung vorweg (Marknagel, Platten), ohne sie zur Praxisreife zu fiihren. Die Verwendung von Schrauben und Platten zur Stabilisierung von Frakturen geht auf W. LANE und A. LAMBOTTE (Zugschraubenprinzip, 1907) zuriick.
Die Entwicklung rostfreier Stahle (V2A, 1912) war fUr die innere Knochenbruchschienung von entscheidender Bedeutung, da die Korrosion der Implantate Metallosen verursachte. E. W. H. GROVES stabilisierte 1916 einen Ellenschaftbruch mit einer in den Mark-
Abb. 84. »Malgaigne Klammer«: Friiher Fixateur externe zur Behandlung der Kniescheibenbriiche (A. EULENBURG, 1887)
L. HOIILEH Chirurg, 1885- 1973
J. MALGAIGNE
Chirurg. 1806-1865
B. VON !..IINGENBECK Chirurg.1810-1887 (Langcnbeck-Wundhakcn)
Fixateur externe: AuBere Verspannung eines Knochenbruches mittels SteinmannNageln und Verbindungsstiicken
W. I.ANE
Orthopadiscllf'1' Chirurg, ! 56-1938
A. LAMBorn.; OrthopadisGhcr Chinll'g. 1865-1955 (LamboLtcMciBcl)
E. w.1!. GROVES
Orlhopadischcr Chirurg, 1872-1944
98 Knochenbruchbehandlung
L. V. R SH
Orthopiidische Chirurgin. gpb. 1905
II. L.RulI Orthopiidischer Chirurg.
1897-1965
G. KUNTSCHEH
Chirurg. 1900-1973
R. DANIS
Orthopiidischcr Chirurg. 1880-1962
kanal eingebrachten Metallstange. Dieses Verfahren wurde von L. V. und H. L. RUSH 1927 in Amerika verbreitet (Rush-Pin). G. KUNTSCHER griff den Gedanken auf und entwickelte hieraus die stabile Marknagelung der langen Rohrenknochen. R. DANIS konzipierte 1930 eine Platte, die Fragmente nach korrekter Reposition unter Druck brachte.
Die operative Knochenbruchbehandlung konnte sich erst mit der Griindung der Arbeitsgemeinschaft fUr Osteosynthesefragen (AO) international durchsetzen. Diese Vereinigung, die in der Schweiz 1958 ins Leben gerufen wurde, stellte allgemein giiltige Richtlinien zur operativen Knochenbruchbehandlung auf. Die Osteosyntheseverfahren wurden kontinuierlich weiterentwickelt. Auch zukiinftig werden neue Techniken (z. B. resorbierbare Klebstoffe) Eingang in die Praxis tinden.
Abb. 85. Trockenpraparat eines Oberschenkels mit Zustand nach Schaftfraktur und Kiintscher-N agel-Versorgung. Medizinhistorisches Museum an der Charite, »Virchowche Sammlung«, Berlin
Knochenbruchbehandlung 99
Abb. 86. Transparentes Kunststoffskelett zur Demonstration des kiinstlichen Gelenkersatzes (rechte Korperhiilfte) und der operativen Knochenbruchbehandlung (linke Korperhiilfte)
Endoprothetik: Spezialgebiet der
Orthopiidie, das sich mit dem Ersatz eines
Gelenkes aus Fremdmaterial
beschiiftigt.
BIIEA BARTO
Chirurg. 1797-1871
Resektionsarthroplastik: Entfernung eines
Gelenkes mit dem Ziel der Schmerzlinderung und der Verbesserung
der Beweglichkeit
II. "ELFERICII Chirurg. 1851-1945
Faszie: Bindegewebige Hiille der
Skelettmuskulatur
Arthroplastik: Gelenkneubildung und
Interposition von Haut-, Fett- oder Bindegewebe
zur Verbesserung der Gleitflache
Endoprothetik
H eute ist der kiinstliche Gelenkersatz bei Arthrosen ein Routineeingriff. Noch vor einigen Jahrzehnten stellten Gelenkerkrankungen die orthopadischen Chirurgen vor fast uniiberwindliche Problerne. Gelenkversteifungen und Fehlstellungen waren haufige Folge von Infektionskrankheiten wie der Tuberkulose, Knochenbriichen und rheurnatischen Leiden. Operative Korrekturen blieben bis zur Einfiihrung der Anti- und Asepsis seltene Ausnahrnen, die sich nur bei vitaler Indikation rechtfertigen lieBen.
1826 durchtrennte J. R. BARTON ein versteiftes Hiiftgelenk, urn eine storende Fehlstellung zu beseitigen. Die Resektionsarthroplastik wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts haufiger an Stelle der Amputation zur Behandlung tuberkulOser Erkrankungen angewendet. Die dauerhafte Rernobilisierung verknocherter Gelenke gelang erstrnals H. HELFERICH durch die Interposition von Muskel und Faszie zwischen die durchtrennten Knochenfragmente. Er legte darnit die Grundlagen der Arthroplastik, die durch
Abb. 87. Knie-Endoprothesen aus Elfenbein (T. GLUCK, 1891)
die Operationsverfahren von E. PAYR bis nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland mitbestimmt wurden.
Von anfanglichen MiBerfolgen gepragt war der Einsatz von Fremdmaterialien und Gelenktransplantationen. 1891 implantierte T. GLUCK Scharnierprothesen aus Elfenbein in tuberkul6se Kniegelenke. E. LEXER transplantierte 1907 vollstandige Leichenknie. Da die Implantate abgestoBen wurden, standen die Chirurgen der Verwendung von Fremdmaterial in den folgenden Jahrzehnten ablehnend gegeniiber. Eine Anderung deutete sich erst 1923 an, als M. N. SMITH-PETERSEN Kappen unter anderem aus Metall in deformierte Hiiftgelenke einbrachte und damit die Funktion verbesserte. 1940 ersetzten A. T. MOORE und H. R. BOHLMANN einen tumor6sen Hiiftkopf durch eine Stielprothese und antizipierten damit die moderne Hiiftendoprothetik. Die Gebriider J. UND R. JUDET resezierten den Hiiftkopf und setzten eine gestielte Kappe aus Kunststoff auf den Schenkelhals. Zwischen 1946 und 1950 fiihrten sie mehr als 600 Eingriffe aus. Die Hiiftpfanne wurde 1951 erstmals durch G. K. McKEE ersetzt. Der engli-
Abb. 88. Smith-Petersen-Kappe auf einem Hiiftkopf aufgesetzt, urn 1923
. 1<.4.
Endoprothetik 101
E. P,WH
Chi r llrg. 1871-1946
T. (;L CK Ch irurg.1853- 1942
Enlcl! LExiin Chinll·g.l 67- 19:37
\ U\. S'"I1I-PI" I Ell '" Orthopiidisrhrr Chirllrg. 1886- 1953
.\ . T. t-.l00Hk Orlhoptidisehcr Chil'ul'g. 1899- 1963
II. R. BO II L\I .\:'-:>I Orthopiid is('hrr Chirurg. 1893-1979
J . .It:DET Orlhopiidiseher Cl1irurg. grb. 1905
n. J 11FT Ortl1opadisdwr Chirurg. 1909-1980
G. K. I\ Ic:KEE Urthopiidis{'\wl' Chil'ul'g. geb. 1905
102 Endoprothetik
JOliN CIIAHNLEY
OrthupadiS 'her Chirurg, 1911-1982
Abb. 89. SrnithPetersen -Kappe aus Plexiglas, urn 1939
Abb. 90. Hiiftkopf-Stiftprothese nach JUDET, 1946
sche Chirurg J. CHARNLEY erneuerte Htiftkopf und Pfanne und verwendete 1960 Knochenzement zur Verankerung der Prothesenteile. Der von ihm entwickelte Prothesentyp bestimmte tiber Jahrzehnte die Endoprothetik.
Weitere Verbesserungen sind neuen Werkstoffen, einem geanderten Prothesendesign, der Austauschbarkeit von Prothesenteilen und nicht zuletzt der Art der Verankerung im Knochenlager zu verdanken.
Endoprothetik 103
Abb. 91. Sivash-Prothese, urn 1959
Abb. 92. Hiiftendoprothese nach J. CHARNLEY (A. HUGGLER, 1968)
104 Endoprothetik
Zur Zeit befinden sich iiber 500 verschiedene Hiiftprothesen auf dem Markt. Diese groBe Zahl deutet an, daB noch keine einheitliche Meinung iiber Werkstoffe, Prothesendesign und Implantattechnik erzielt werden konnte.
Allein in Deutschland werden jahrlich mehr als 200 000 kiinstliche Hiiftgelenke eingesetzt. Eine parallele Entwicklung zeichnet sich bei der Knieendoprothetik abo Neben diesen haufigen Eingriffen ist unter anderem ein kiinstlicher Ersatz von Schulter-, Ellenbogen- und Handgelenk moglich. Selbst die Endoprothetik der Fingergelenke gewinnt zunehmend an Bedeutung.
Minimalinvasive Chirurgie der Gelenke
D ie aseptische Gelenkchirurgie entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts. Zur Arthrotomie entschloB man sich erst nach Aussch6pfung aller konservativer MaBnahmen. Die Operation des Kniegelenkes blieb ein schwieriger Eingriff, da insbesondere die »Bandscheiben des Kniegelenkes« nur teilweise zur Darstellung kamen. Mit Zunahme der degenerativen Leiden und der besseren Kenntnis tiber die Atiologie von Knieschmerzen kam der Diagnostik der Menisken eine zunehmend gr6Bere Bedeutung zu. Diese war mit den vorhandenen M6glichkeiten jedoch nicht zu erzielen.
Die Inspektion von Hohlraumen innerer Organe stellte auch andere Fachrichtungen vor groBe Probleme. Die erste Voraussetzung, Strukturen sichtbar zu machen, die unter gew6hnlichen Bedingungen nicht zu sehen sind, war die Ausleuchtung von K6rperh6hlen. Dies gelang dem Frankfurter P. BOZZINI im Jahre 1806 mit seinem »Lichtleiter«. Diese Entwicklung gipfelte in der Erfindung des Zystoskopes von J. LEITER und M. NITZE (1886). Der Schweizer E. BIRCHER machte sich diese bisherigen Kenntnisse und Instrumente zu Nutzen und setzte ein Laparoskop zur Meniskusdiagnostik ein. 1921 berichtete er erstmals in einer Publikation tiber seine Erfahrungen. BIRCHER etablierte bereits Techniken, die heute noch zum Standard der Kniegelenkspiegelung zahlen. Die Arthro-Endoskopie fand nicht sofort allgemeine Anerkennung, so wurde die Methode kontrovers diskutiert und teilweise als »schlichtweg unm6glich« abgetan.
Trotz des Widerstandes konventioneller Chirurgen setzte sich das Verfahren mit der Verbesserung der technischen M6glichkeiten weiter durch. Den rein
Arthrotomie: Operative ErOffnung eines Gelenkes
Atiologie: Krankheitsursache
P. BozZI I J\rzt. 1773- 1R09
Zystoskopie: Spiegelung der Harnblase
.l. LEITEH
1 nstrumenlcll baurr. 1830- 1892
M. IT%E
I\n~t. 1848-1906
Ii. Bmell EB Chirurg, ] 882-1956
Laparoskopie: Spiegelung des Bauchraumes
Arthroskopie: Gelenkspiegelung
106 Minimalinvasive Chirurgie der Gelenke
M. WATANABE
Arzt. I lcrnusgober ines rthroskopieatlas 1957
... .............
Abb. 93. Endoskopische Instrumente von NIETZE-LEITER, 1883
diagnostischen Ma8nahmen folgte die arthroskopische Chirurgie. 1962 wurde in Japan von M. WATA
NABE eine arthroskopische Meniskusoperation durchgefiihrt.
In den folgenden Jahrzehnten wurde die Technik weiter ausgebaut. Eine wesentliche Verbesserung kann in der Ubertragung des Bildes mit einer Videokamera auf einen Bildschirm angesehen werden. Neben der optimierten Bildiibertragung wurden die Instrumente konsequent weiterentwickelt. Motorisierte Systeme tragen heute zu der schnellen und vollstandigen Entfernung freier Gelenkpartikel beL Zur Gelenkauffiillung haben sich Fliissigkeiten (Glukose- o. Ringerlosung) im Gegensatz zu Sauerstoff, Stickstoff oder CO2-Insufflation durchgesetzt. Dank der modernen Technik ist es moglich, neben den Meniskusoperationen auch Kreuzbandrekonstruktionen durchzufiihren, welche noch vor einem Jahrzehnt in der offenen Technik erfolgen muBten.
Minimalinvasive Chirurgie der Gelenke 107
Neben dem Kniegelenk werden eine Reihe weiterer Gelenke der oberen und unteren ExtremWit arthroskopisch untersucht und behandelt (Schulter-, Ellenbogen-, Hand- und Sprunggelenk). Die Entwicklung der minimalinvasiven Gelenkchirurgie ist noch nicht abgeschlossen. Flexible Arthroskope, dreidimensionale Wiedergabe, neue Lasertechniken und die Kombination mit modernen Navigationssystemen bieten weitere Verbesserungen der bestehenden diagnostischen und therapeutischen M6glichkeiten.