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 Oskar Lafontaine  Das Herz schlägt links ECON

Oskar Lafontaine - Das Herz schlägt links

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Oskar Lafontaine 

Das Herz 

schlägt links

ECON

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 Der Econ Verlag ist ein Unternehmen der Verlagshaus Goethestraße GmbH & Co. KG  ISBN 3-430-15947-4 

& 7999 Verlagshaus Goethestraße GmbH & Co. KG München  Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany  

Gesetzt bei Franzis print & media GmbH, München  Druck und Bindung: Graphischer Großbetrieb Pößneck 

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Inhalt

Vorwort 

Die Nachfolge Willy Brandts 

Neuorientierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik 

Steuersenkungswettlauf  

Die Wahlkampagne 

Rote Socken - Rote Hände 

Wer wird Kanzlerkandidat? 

Die Männerfreundschaft mit Gerhard Schröder 

Die Erarbeitung des Regierungsprogramms 

Aufstellung der Regierungsmannschaft 

Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung 

Die rot-grüne Koalition 

Überflüssiger Fehlstart 

Die Hessen-Wahl 

Deutschland und Frankreich 

Internationale Finanzpolitik 

Der Rücktritt 

Der Kosovo-Krieg 

Die Mediengesellschaft 

Der flexible Mensch 

Der dritte Weg ist ein Holzweg 

Ausblick 

Personenregister 

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Vorwort

Unmittelbar nach meinem Rücktritt hatte ich nicht die Absicht, die Gründe darzulegen, die zu diesemEntschluss geführt haben. Die Verpflichtung zur Solidarität mit der eigenen Partei und ihremFührungspersonal schien mir wichtiger als Klarstellungen. Sie werden allzu oft vom politischenGegner missbraucht. Ich dachte an die Europa-, die Landtags- und Kommunalwahlen und wolltekeinen Streit, der die Partei belastet hätte. Daher gab ich einige Tage nach meinem Rücktritt nur einkurzes Interview, in dem ich im wesentlichen auf das schlechte Mannschaftsspiel der Regie runghinwies. Ich war der Auffassung, dass der Hinweis deutlich genug sei und die eigene Partei und dieAnhänger der SPD sich durchaus ihren Reim darauf machen könnten. Hierin sollte ich mich täuschen. Auch als der Rücktritt von einigen mir weniger wohlgesonnenen Zeitgenossen so dargestellt wurde,als hätte ein pflichtvergessener Mensch einfach die Arbeit niedergelegt, änderte ich meine Auffassungnicht. Der Ministerrücktritt als politische Entscheidung ist ein fester Bestandteil demokratischerKultur. Ein Minister sollte nicht nur dann zurücktreten, wenn die Medien ihn aufgrund eigenenFehlverhaltens dazu drängen, sondern insbesondere dann, wenn er mit der Politik seinesRegierungschefs oder seiner Regierung nicht mehr einverstanden ist. Doch dies scheinen Teile der

deutschen Öffentlichkeit völlig vergessen zu haben. Der Rücktritt Gustav Heinemanns beispielsweise vom Amt des Innenministers wegen derWiederbewaffnung der Bundeswehr und des autoritären Führungsstils Adenauers - der Kanzler denktin Form autoritärer Willensbildung - war in diesem Sinne klassisch. Damals war die Diskussion umdie demokratische Verfassung unserer Republik in den Köpfen der Menschen offensichtlich noch solebendig, dass niemand auf den Gedanken der Pflichtvergessenheit gekommen wäre. Auch dergleichzeitige Rücktritt vom Amt des Parteivorsitzenden war unvermeidlich. Ein ständiger Streitzwischen Bundeskanzler und Parteivorsitzendem hätte der Regierung und der SPD sehr geschadet. Nach meinem Rücktritt hat die Politik der rot-grünen Koalition eine Entwicklung genommen, die ichnicht für möglich gehalten hätte und die mich mit großer Sorge erfüllte. Dass ausgerechnet unter einersozialdemokratisch geführten Bundesregierung die Bundesrepublik Deutschland sich zum ersten Malan einem Krieg beteiligte, der das Völkerrecht missachtete und mit dem Grundgesetz nicht vereinbar

war, ist schwer zu verkraften. Der Kosovo-Krieg rührt an den Nerv des sozialdemokratischenPolitikverständnisses. Spätestens als am 8. Juni 1999 kurz vor der Europawahl in London dasSchröder-Blair-Papier vorgestellt wurde und Hans Eichel sein Zukunftsprogramm 2000 vorlegte,fühlte ich mich herausgefordert. Wir hatten mit dem Versprechen einer anderen Politik, mit demVersprechen, mehr soziale Gerechtigkeit in unserem Land zu verwirklichen, die Wahl gewonnen. Gerhard Schröder distanzierte sich vier Monate nach meinem Rücktritt von meiner Finanzpolitik: »Ichdenke schon, dass es sehr richtig gewesen wäre, Eichels Finanzpolitik von Anfang an zu machen.«Und: »Wenn das als Kritik verstanden wird, dann ist das auch so gemeint«. Diese Äußerungenoffenbaren einen Mangel an Fairness und Wahrhaftigkeit. Der Kanzler bestimmt die Richtlinien derPolitik. Das Kabinett beschließt mit der Stimme des Bundeskanzlers den Haushaltsentwurf, und derBundestag verabschiedet den Haushalt endgültig. Schröder, Fischer und Eichel hatten michausdrücklich gebeten, vor der Hessen-Wahl keine unpopulären Entscheidungen zu treffen. Als ich den

Bundeskanzler etwas später vor den Bauern den eisernen Sparkanzler spielen sah, musste ich darandenken, dass er mich wenige Monate vorher aufgefordert hatte, diesen keine Steuersubventionen zustreichen. Der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Karl-Heinz Funke, wäresonst gar nicht nach Bonn gekommen. Dem Bundeshaushalt fehlten dadurch jährlich 1,7 MilliardenDM. Auch die nachgeschobene Feststellung Schröders: »Ich habe die Auseinandersetzung mit derBundesbank immer für unsinnig gehalten... Doch ich habe nichts gesagt«, ist falsch. Kurz nach seinerWahl zum Bundeskanzler hatte er auf einem Gewerkschaftskongress gesagt: »Bei allem Respekt, denich vor der Bundesbank habe; sie sollte jetzt nicht nur allein auf die Geldwertstabilität achten, sondernversuchen, auch ihrer Verantwortung für das wirtschaftliche Wachstum in Deutschland gerecht zuwerden.« Über mangelnde Fairness und Wahrhaftigkeit mir gegenüber könnte ich hinwegsehen,schweigen kann ich aber nicht, wenn das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler durch einen

politischen Richtungswechsel missbraucht wird. Mein Buch wendet sich daher gegen den radikalen Kurswechsel der rot-grünen Koalition zumNeoliberalismus und gegen das Vom-Tisch-Nehmen der Wahlversprechen. Das Regierungsprogramm,das wir den Wählerinnen und Wählern versprochen haben, ist von mir mit erarbeitet worden und ich

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fühle mich weiter im Wort. Sozialdemokraten haben nur dann eine Chance, politische Mehrheiten inder Bundesrepublik Deutschland zu erreichen, wenn sie die Interessen der Arbeitnehmer, Arbeitslosenund Rentner vertreten. Im Unternehmensbereich müssen sie sich vor allem um kleinere und mittlereBetriebe kümmern. Wenn sie auf das Gerede einer Minderheit hereinfallen, die seit Jahren nach demMotto verfährt, Reformen und Verzicht stets bei den sozial Schwächeren einzufordern und selbst beihohem Einkommen und Vermögen möglichst wenig Steuern zu zahlen oder möglichst viel Geld insAusland zu schaffen, dann werden sie ihren Auftrag verfehlen. Die letzten Jahre stehen für dieAuseinandersetzung zwischen diesen beiden politischen Welten. Da ich mittendrin stand, will ich dieAuseinandersetzungen noch einmal schildern. Dabei hoffe ich, dazu beitragen zu können, dass sichDeutschland nicht noch weiter auf den Irrweg des Neoliberalismus begibt. Vor allem darf die SPD ihreSeele nicht verkaufen. Die folgenden Seiten sind daher auch nicht meine Memoiren. Es geht mir um den fundamentalenRichtungsstreit in der SPD. Bei der Schilderung unserer Diskussionen und Entscheidungen werde ichdie Fehler, die ich gemacht habe, benennen. Ich habe die Fehler anderer oft kritisiert, manchmal mitbeißendem Spott. Am meisten geärgert aber habe ich mich immer über die eigenen. In meinem Haushängt für die Besucher sichtbar eine Karikatur von Peter Gaymann: Auf der Hühnerleiter sitzen bravdie Hühner, nur ganz oben sitzt ein Schwein. Und ein Huhn fragt das andere: »Ich möchte einmal

wissen, wie man ganz nach oben kommt, ohne zum Schwein zu werden.« Mit ironischer Distanzwollte ich der Gefahr vorbeugen, bei der Verfolgung eigener Ziele die Wünsche und Interessenanderer zu wenig zu beachten.  

Oskar Lafontaine Herbst 1999 

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Die Nachfolge Willy Brandts  

DER VÄTERLICHE FREUND 

Willy Brandt sah ich zum ersten Mal 1966. Er war zu jener Zeit noch Regierender Bürgermeister vonBerlin und hielt in der ATSV-Turnhalle in Saarbrücken eine Rede, in der er einer großen Koalitioneine klare Absage erteilte. Wenige Tage später wurde die große Koalition geschlossen, und WillyBrandt Außenminister. So erlebte ich bereits als junger Student, dass in der Politik das gesprocheneWort nicht immer für bare Münze zu nehmen ist. Als Außenminister gewann Brandt schnell Vertrauen in der Welt. Er setzte die Entspannungspolitikder kleinen Schritte fort, die er in Berlin erfolgreich auf den Weg gebracht hatte. Maßgeblichunterstützt wurde er dabei von Egon Bahr. Für uns Studenten wurde Brandt bald zur Leitfigur, hatte erdoch, im Gegensatz zu vielen anderen Politikern, aktiv Widerstand gegen die Nazis geleistet. Als jun-ger Mann war er 1933 nach Norwegen emigriert und nach dem Krieg nach Berlin zurückgekehrt. Vonvielen Mitläufern wurde er diffamiert, weil er Nazideutschland verlassen hatte, und Adenauer griff ihn

an, weil er ein uneheliches Kind war.Seine erste Regierungserklärung als Bundeskanzler 1969 stand unter dem Motto »Wir wollen mehrDemokratie wagen«. Damit hatte er die Hoffnungen der jungen Generation auf den Punkt gehracht.Und tatsächlich: Der sozialliberalen Koalition gelang es, eine Reihe wichtiger Reformendurchzusetzen. Willy Brandts Regierungserklärung war kein leeres Versprechen geblieben. 1979 wurde ich in den Parteivorstand der SPD gewählt und kam dadurch mit Brandt näher in Kontakt.Die Notwendigkeit weiterer atomarer Aufrüstung lehnte er ab. Er glaubte nicht, dass es aus Gründendes militärischen Gleichgewichts notwendig sei, gegen die sowjetische SS zo in Deutschland undWesteuropa Cruisemissiles und Pershing-II-Raketen zu stationieren. Damit stand er in spürbaremWiderspruch zu seinem Nachfolger Helmut Schmidt. Ich erinnere mich an einen Besuch in einemBonner Wirtshaus, bei dem er spontan sagte: »Ein größerer Industriestaat müsste sich einmal ausdieser ewigen Spirale des Vor- und Nachrüstens verabschieden.« Aufrüstung im Zeitalter desatomaren Overkills widersprach seinen politischen Vorstellungen. In den Weihnachtsferien 1981 lud mich Willy Brandt ein, mit ihm Urlaub auf Zypern zu machen. Hiererfuhr ich, welch große Achtung, ja Verehrung ihm international entgegengebracht wurde. Derzypriotische Präsident Spyros Kyprianou hatte die Hoffnung, Willy Brandt könnte in der Zypern-Frage vermitteln. Basil Mathiopoulos, ein griechischer Journalist, der zur Zeit der Obristen politischverfolgt wurde, hatte die Organisation der Reise übernommen. Er hatte durch Vermittlung Brandtswieder nach Deutschland ausreisen können, als die Obristen ihn während eines Aufenthalts in Atheneinsperren wollten. In Zypern lernte ich den Menschen Willy Brandt besser kennen. Er war verschlossen und gab nurselten seine Empfindungen und Gefühle preis. Persönliche Nähe herzustellen fiel ihm schwer. Wirschwammen gemeinsam im Meer und bereisten die Insel. Willy Brandt führte politische Gespräche,

ich saß als Lehr junge daneben. Wie so oft bei solchen Auslandsreisen war das Programm soüberfrachtet, dass es Willy Brandt zuviel wurde. Als nach vielen offiziellen Terminen ein Mitglied derzypriotischen Friedensbewegung um ein Gespräch bat, setzte er sein bekanntes Lächeln auf und sagte:»Oskar, das ist jetzt dein Bier.« So konnte ich stolz eine erste diplomatische Mission erfüllen und imAuftrag Willy Brandts dieses Gespräch führen.  In jenen Tagen rief der polnische Ministerpräsident Jaruzelski den Ausnahmezustand aus, da er einerussische Invasion befürchtete. Im Hotel erfuhren wir über eine Tickermeldung, dass Bettino Craxi,der damals stellvertretender Vorsitzender der Sozialistischen Internationale war, diese EntscheidungJaruzelskis verurteilte. Er hatte diese Aussage gemacht, ohne Brandt, der Vorsitzender der Sozialisti-schen Internationale war, vorher zu konsultieren. Brandt hielt Jaruzelski für einen Patrioten und wolltein keinem Fall die Entscheidung Jaruzelskis vorschnell verdammen. Als wir gemeinsam am Strandspazieren gingen, konnte er sich nicht beruhigen. Mit Blick auf Craxi entfuhr ihm die Bemerkung:

»Ausgerechnet dieser Strolch!« Später konnte ich in Mitterrands Memoiren nachlesen, dass auch er die damalige Situation ähnlich wieBrandt einschätzte. Über seine Begegnung mit Jaruzelski am 9. März 1990 schrieb der französische

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Staatspräsident: »Ich hatte nicht mehr den Mann des Kriegszustands vor mir, der mir damals dasDilemma schilderte, in dem er steckte. Sollte er den Ruhm der Verweigerung wählen um den Preis derVernichtung seines Vaterlands oder davon retten, was zu retten war, indem er sich Moskaus Befehlenunterordnete. Held oder Verräter? Verräter vielleicht für seine Zeitgenossen. Sicher Held für dieGeschichte. Er wusste, dass er gegen den Widerstand seiner Mitbürger hart vorgehen musste und dasser die Bürde des Hasses und der Verachtung zu tragen hatte. Er nahm sie auf sich. Das war, so sagte ermir, seine Pflicht. Statt die Sowjetarmee erneut besetzen und nach Willkür agieren zu lassen, diktierteihm sein Pflichtgefühl, dem zuvorzukommen, um wenigstens das Schlimmste zu verhüten.«  Ich lernte, dass bei der Beurteilung internationaler Fragen ein vorsichtiges Abwägen besser ist als einvorschnelles Urteil. Heute bin ich sicher, dass Willy Brandt mit seiner Einschätzung Jaruzelskisrichtiger lag als viele andere Politiker und Journalisten im Westen, die sofort das übliche Protest-geschrei angestimmt hatten.  Nach dem Urlaub auf Zypern waren wir uns menschlich nähergekommen. Willy Brandt lud mich mitFamilie im Sommer 1984 in sein Sommerhaus in die Cevennen ein. Als besonderes Zeichen seinerZuneigung werte ich, dass die Brandts uns ihr großes Bett zur Verfügung stellten, da wir unserenzweijährigen Sohn Frederic dabeihatten und für uns drei das Gästebett zu klein war, in dem WillyBrandt und seine Frau Brigitte für die Dauer unseres Besuchs schliefen. Ich kaufte jeden Morgen

frisches Baguette, Wurst und Käse ein und bereitete das Frühstück. Darüber hinaus gaben wir unsMühe, die Brandts gut zu bekochen. Das rief allerdings den Missmut von Brigitte hervor. Sie achtetestets auf die Figur Willy Brandts und war der saarländischen Neigung, gut zu essen und zu trinken,weniger gewogen als ihr Mann. Als wir einmal ohne vorherige Absprache eine Lammkeule bratenwollten, wäre es beinahe zum Streit gekommen. Das war aber nicht der Anlass dafür, dass es später zueiner Entfremdung zwischen Brandt und mir kam. 

DIE ENKEL

Brandt hatte sich vorgenommen, einen Generationenwechsel in der Partei durchzusetzen. Er wolltemich 1987 zu seinem Nachfolger im Amt des Parteivorsitzenden vorschla gen und sprach in diesem

Zusammenhang von seinen »Enkeln« - eine damals sicherlich listige Formulierung, mit der ergeschickt die Generation der Söhne übersprang. Später sollte dieses Wort für uns alle - gemeint warenunter anderem Fierta Däubler-Gmelin, Hans Eichel, Björn Engholm, Karl-Heinz Hiersemann, KlausMatthiesen, Uli Maurer, Rudolf Scharping, Gerhard Schröder, Heide Simonis, Heidemarie Wieczorek-Zeul und ich - zu einer Belastung werden. Obwohl wir uns dem Alter von Großmüttern oderGroßvätern näherten, wurden wir in der Presse immer noch »die Enkel Willy Brandts« genannt. Willy Brandts Plänen stand ich selbst skeptisch gegenüber. Zu jener Zeit traute ich mir den SPD-Vorsitz schlicht und einfach nicht zu. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Brandt selbst und EgonBahr, Horst Ehmke, Erhard Eppler, Peter von Oertzen, Johannes Rau, Hans-Jochen Vogel, Hans-Jürgen Wischnewski und die anderen Politiker dieser Generation einen SPD-Vorsitzenden Lafontaineakzeptieren würden. Das Jahr 1990 sollte mir zeigen, dass ich mit dieser Einschätzung richtig lag. Ichspürte damals instinktiv, dass nur derjenige die Partei führen kann, der aufgrund seiner Erfahrungenund Leistungen von der Mehrheit des Führungspersonals akzeptiert wird. Jedenfalls war es Mitte derachtziger Jahre nicht vorstellbar, dass einer aus meiner Generation den Parteivorsitz übernehmenwürde. 1987 kam es dann zum überraschenden Rücktritt Willy Brandts, als viele in der Partei sichweigerten, die parteilose Griechin Margarita Mathiopoulos zur Pressesprecherin der SPD zu machen.Am Abend vor seinem Rücktritt hatte Willy Brandt die »Enkel« in Norderstedt in Schleswig-Holsteinversammelt, um über seine Nachfolge zu beraten. Bei diesem Treffen warb er mehr oder weniger offendafür, dass ich seine Nachfolge antreten sollte. Ich lehnte damals aus den genannten Gründen ab, wasihn wohl tief enttäuschte. Seit dieser Zeit spürte ich eine wachsende Distanz zwischen uns, die sich1990, im Jahr der Deutschen Einheit, noch vergrößern sollte. Auch die Enkel waren verstimmt. Als ich1990 zum zweiten Mal den Parteivorsitz ausschlug, wandten sich einige von mir ab und entzogen mirihre Unterstützung. 

1987 wurde Hans-Jochen Vogel zum Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlandsgewählt. Johannes Rau und ich wurden seine Stellvertreter. Ich übernahm darüber hinaus den Postendes Geschäftsführenden Vorsitzenden der Programmkommission. Sekretärin dieser Kommission warChrista Müller. Die neue Aufgabe bereitete mir trotz mancher Mühen auch viel Freude. Ich lernte vor

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allem sehr viel. Das neue Grundsatzprogramm, das wir erarbeiteten und das auf dem Berliner Parteitag1989 verabschiedet wurde, verpflichtete die Partei auf internationale Zusammenarbeit, auf dieGleichstellung der Frau in Beruf und Gesellschaft, auf die ökologische Modernisierung der Wirtschaftund auf die Strukturreform der Arbeitsverhältnisse und der sozialen Sicherungssysteme. DieAuseinandersetzungen um Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich, längereMaschinenlaufzeiten und um Wochenendarbeit brachten mir in der Öffentlichkeit den Ruf des»Reformers« und »Modernisierers« ein. In der Partei bekam ich den Widerstand der Gewerkschaftenzu spüren. Die Regelung der Wochenendarbeit und Maschinenlaufzeiten sollte nach unserenVorstellungen aber stets einvernehmlich mit Betriebsrat und Belegschaft getroffen werden. Das heuteweitverbreitete »einheitliche Denken«, das nur noch die Gesetze des Marktes gelten lässt, hatte sichnoch nicht in dem Maße durchgesetzt, dass das Recht auf Mitbestimmung und Mitbeteiligung einfachvernachlässigt wurde. Meine Arbeit als Geschäftsführender Vorsitzender der Programmkommission führte dazu, dass ich alsAnwärter auf die Kanzlerkandidatur der SPD im Jahre 1990 gehandelt wurde. Klugerweise ließ Hans-Jochen Vogel diese Frage lange Zeit offen. Das war auch in meinem Sinne, denn ich hatte bei derAusrufung von Johannes Rau zum Kanzlerkandidaten im Jahr 1986 die Erfahrung gemacht, dass esfalsch ist, den Kanzlerkandidaten zu früh zu benennen: Irgendwann gewöhnt sich die auf Neuigkeit

und Sensation getrimmte Öffentlichkeit an den Namen, und ab einer gewissen Zeit wird der Kandidat,wenn er zu lange Kandidat ist, eher kritisiert als unterstützt. Der Wahlsieg der SPD an der Saar im Jahr 1990 mit einem Wahlergebnis von 54,4 Prozent hatte dannzur Folge, dass ich am Z9. Januar 1990 vom Parteivorstand zum Kanzlerkandidaten der SPD für dasJahr 1990 ausgerufen wurde. Nach der Landtagswahl 1990 reiste ich mit Christa nach Granada. Im berühmten Parador derAlhambra beschäftigten wir uns intensiv mit den wirtschaftlichen, sozialen und finanziellenKonsequenzen der deutsch-deutschen Währungsunion, die von einigen aus der SPD zur Lösung derwirtschaftlichen Probleme in den neuen Ländern vorgeschlagen worden war. Egon Bahr faxte uns insHotel ein Papier von Kurt Biedenkopf, in dem dieser den schnellen industriellen Aufschwung in denneuen Bundesländern voraussagte. Christa und ich hatten erhebliche Zweifel an dieser Prognose. Wirwaren der Meinung, dass in der Einheitseuphorie simple wirtschaftliche Überlegungen in den Wind

geschlagen wurden. Ich telefonierte aus Granada mit Helmut Schmidt, Karl Otto Pöhl, Jacques Delors,Franz Steinkühler und vielen anderen, um mir ein fundiertes Urteil bilden zu können. Fast alle meineGesprächspartner standen dem Projekt einer Währungsunion zum Kurs von 1 : 1 ablehnendgegenüber, insbesondere die Gesprächspartner aus den europäischen Partnerländern. Aber öffentlichwurde die Kritik weniger deutlich geäußert. Mich wunderte, dass Bundesbankpräsident Pöhl nach derEntscheidung Kohls, die Währungsunion zum Kurs von 1 : 1 auszurufen, nicht sofort zurücktrat.Bundeskanzler Kohl hatte ihn nicht nur nicht konsultiert, sondern regelrecht überfahren. Mir war klar,dass diese Entscheidung schlagartig die Wirtschaft in den neuen Ländern konkurrenzunfähig machteund Millionen Arbeitslose in Ostdeutschland zur Folge hätte. Ebenso stand für mich fest, dass es zuSteuer- und Abgabenerhöhungen kommen müsste und dass der Westen gezwungen sein würde, überJahre viele Milliarden zu zahlen, um den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Ländern zufinanzieren. 

Ich begann nach dem Aufenthalt in Granada die Partei behutsam auf meine abweichende Meinungvorzubereiten, bis das Attentat vom 25. April alles völlig veränderte. In einer Zeit, in der dieWeichenstellung für den Wahlkampf 1990 erfolgte, wurde ich daran gehindert, die politischenEntscheidungen mitzubestimmen. Als ich das Krankenhaus verlassen konnte, war die Festlegung derBundestagsfraktion auf das Ja zur Währungsunion zum Kurs von 1 : 1 nicht mehr umkehrbar. Ineinem Spiegel-Gespräch mit Dirk Koch und Klaus Wirtgen trug ich noch einmal meine Bedenken vor.Aber die Bundestagsfraktion war fest entschlossen zuzustimmen. So war ich nicht nur durch dasAttentat seelisch und körperlich schwer angeschlagen, sondern musste mich auch damit abfinden, dassdie Partei mir in den entscheidenden Fragen der deutsch-deutschen Wirtschafts- und Währungsunionnicht folgte. Ich entschloss mich daher, meine Kanzlerkandidatur zurückzuziehen, und setztefolgenden Brief auf: »An die Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands! 

Im Vorfeld der Entscheidung über die Kanzlerkandidatur habe ich an Hans-Jochen Vogel, JohannesRau, Björn Engholm und Walter Momper die Frage gerichtet, ob sie bereit wären, diese Aufgabe zuübernehmen. Jeder hatte gute Gründe abzulehnen.  

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In der Endphase des saarländischen Landtagswahlkampfs haben Hans-Jochen Vogel, Herta Däubler-Gmelin und Johannes Rau mich öffentlich zum Kanzlerkandidaten vorgeschlagen. Nach derLandtagswahl hatte ich während eines Kurzurlaubs Zeit, darüber nachzudenken, ob ich diese Aufgabeübernehmen könnte. Aufgrund der starken Belastung der letzten Jahre hätte es meinen Interessenentsprochen, weniger in die Pflicht genommen zu werden. Ich habe mich gegen meine Interessen undfür unsere gemeinsame Sache entschieden. Nach dieser Entscheidung hielt ich es für wichtig, auf demParteitag der SPD in Leipzig und in den letzten Tagen des Wahlkampfs zur Volkskammerwahl in derDDR meine Bedenken gegen die schnelle Einführung der DM in der DDR vorzutragen. Ich wusste,dass dies unpopulär war. Es ging mir aber um die persönliche Glaubwürdigkeit, die Grundlagelängerfristiger Wahlerfolge ist. Ich dachte an die Fragen, die die Menschen im Herbst dieses Jahres inder DDR und der Bundesrepublik stellen werden, und an die finanziellen, ökonomischen und sozialenProbleme der dann folgenden Jahre. Die Alternative zur abrupten Einführung der DM in der DDR wardie Herstellung der Konvertibilität der Ostmark und das Anpeilen eines festen Wechselkurses. Nach der Volkskammerwahl hat mich der Parteivorstand einstimmig zum Kanzlerkandidatenvorgeschlagen. Ich hatte vor meiner Nominierung darum gebeten, dass die Mehrheit der Partei und derKanzlerkandidat in wichtigen politischen Fragen zusammenbleiben, weil dies die Voraussetzung füreine erfolgreiche Wahlkampagne ist. Dabei hatte ich meine ablehnende Haltung gegenüber der

schnellen Einführung der DM zum i. Juli in der DDR deutlich gemacht. Am 27. März 1990, auf derParteiratssitzung in Hannover, habe ich vor meiner einstimmigen Nominierung noch einmal meineArgumente gegen die überstürzte Einführung der DM in der DDR vorgetragen. Auch hier hatte ichdarauf hingewiesen, dass die Voraussetzung für einen erfolgreichen Wahlkampf ist, dass die Mehrheitder Partei und der Kanzlerkandidat in wichtigen politischen Fragen zusammenbleiben.  Am 25. April wurde ich Opfer eines Attentats auf einer Wahlkampfveranstaltung in Köln. DiesesAttentat war für niemanden vorhersehbar, hatte aber für mich zwangsläufig zur Folge, dass ich nocheinmal darüber entscheiden musste, ob meine Kräfte ausreichen würden, die Kanzlerkandidaturaufrechtzuerhalten. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, die Partei zu bitten, diese Aufgabe eineranderen oder einem anderen aus unseren Reihen zu übertragen.  Erleichtert, nicht herbeigeführt wurde diese Entscheidung durch die Haltung der SPD-Bundestagsfraktion zur Einführung der DM zum i. Juli in der DDR. Die Fraktion ist, wie mir alle

Gesprächspartner versichert haben, mit großer Mehrheit entschlossen, der Einführung der DM zum i.Juli in der DDR - das ist der Kernpunkt des Staatsvertrags - zuzustimmen. Dabei beanspruchen dieKolleginnen und Kollegen der Bundestagsfraktion das von mir respektierte Recht, nicht gegen ihreÜberzeugung im Bundestag zu stimmen. Daraus ergibt sich, dass die Kolleginnen und Kollegen derBundestagsfraktion auch zustimmen werden, wenn der Spitzenkandidat der Partei das Recht für sich inAnspruch nimmt, nicht gegen seine Überzeugung einen Wahlkampf zu führen.  In den nächsten Monaten und Jahren wird deutlich werden, dass die Entscheidung derBundesregierung zur Einführung der DM zum i. Juli zu einer Verschärfung der sozia len Spannungenund damit zu einer Vertiefung der sozialen Spaltung in der Gesellschaft der Bundesrepublik und derDDR führen wird.  Auf dem Berliner Parteitag hatte ich deutlich gemacht, dass die Idee des Nationalstaats nicht mehr dieGrundlage für eine zukunftsweisende Politik im ausgehenden 20. Jahrhundert sein kann. Vielmehr ist

heute eine Politik gefordert, die an die Tradition des sozialdemokratischen Internationalismusanknüpft und die die sozialen und ökologischen Fragen der nationalen Frage überordnet. So steht es inunserem Grundsatzprogramm. Viele Mitglieder in unserer Partei haben mir in den letzten Wochen geschrieben und mir ihreUnterstützung angeboten. Ich bin dankbar dafür. Viele haben mich gebeten weiterzumachen, abereingeräumt, dass ich nach dem Attentat von Köln die für mein weiteres Leben wichtige Entscheidungselbst treffen muss.« Den Brief schickte ich nicht ab, weil Hans-Jochen Vogel zu diesem Zeitpunkt auf Auslandsreise warund ich nicht wollte, dass er dort davon erfuhr. In der Zwischenzeit hatten meine Freunde in BonnWind von meinen Überlegungen bekommen. Viele besuchten mich mit dem Ziel, mich umzustimmen.So tauchten an einem Abend fast alle »Enkel« in meiner Wohnung auf. Selbst Willy Brandt reiste an.Er zürnte mir schon, da er ebenfalls die Währungsunion befürwortete und sich mit Ibrahim Böhme füreine Einführung im Juli 1990 stark gemacht hatte, damit die ostdeutschen Landsleute mit der DM inUrlaub fahren könnten. Auch sein Anliegen war, mich von meinem Schritt abzuhalten. Ich wiederumbat ihn, die Kanzlerkandidatur der SPD selbst zu übernehmen, da er ja bei den Ostdeutschen in hohem

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Ansehen stand. Auf diese Idee hatte mich nicht zuletzt ein Brief des Kölner Künstlers GeorgMeistermann gebracht, der mir nach dem Attentat schriftlich vorgeschlagen hatte, doch in dieseraußerordentlichen Situation Brandt die Kanzlerkandidatur anzutragen.  Willy Brandt lehnte ab und war genauso wenig wie Hans-Jochen Vogel oder Mitglieder derEnkelriege, bei denen ich noch einmal vorgefühlt hatte, bereit, die Kanzlerkandidatur zu übernehmen.In seinen Memoiren Nachsichten schreibt Hans-Jochen Vogel über die damalige Situation: »Vielehaben mich danach gefragt, warum ich so weit gegangen bin und es nicht auf einen Rücktritt von[Lafontaines] Kandidatur habe ankommen lassen. Aber ich hatte manchmal den Eindruck, mich an derGrenze meiner Selbstachtung zu bewegen. Dennoch glaube ich unverändert, richtig gehandelt zuhaben. Und das aus einer ganzen Reihe von Gründen. Zuerst und vor allem hatte Oskar Lafontainenach dem Trauma seiner lebensgefährlichen Verletzungen Anspruch auf einen Umgang, der demRechnung trug. Deshalb war es für mich selbstverständlich, dass ich nach Saarbrücken fuhr und dieGespräche dort stattfanden. Dass in den Medien von Wallfahrten die Rede war, störte mich nicht.Dann hätte Lafontaines Rücktritt die Partei in eine schwere Krise gestürzt. Er besaß in der Partei - undauch darüber hinaus - eine sehr motivierte Anhängerschaft, die einen solchen Schritt nicht kampfloshingenommen hätte. Der neue Kandidat - und das hätte nach den Umständen nur ich sein können -hätte folglich einen Zweifrontenkrieg führen müssen und die Partei in der Auseinandersetzung mit

Helmut Kohl nur zu einem Teil hinter sich gehabt.« 

Nachdem niemand aus der SPD-Führung bereit war, die Kanzlerkandidatur zu übernehmen, wussteich, dass ich jetzt einen schweren Gang zu gehen hatte, denn ich war ein Feldherr ohne Truppen.Meine Vorbehalte gegenüber der überstürzten Währungsunion zum Kurs von i: i wurden mir alsGegnerschaft zur Deutschen Einheit ausgelegt. Dabei hatte ich immer so argumentiert: Das Wichtigstesei nicht, dass die Menschen in einem Staat zusammenlebten, sondern dass sie in einer Demokratie inFreiheit leben könnten, die gleichen Lebensverhältnisse hätten, nicht arbeitslos würden und dassdadurch im besten Sinne des Wortes der Fall der Mauer zu einer deutlichen Verbesserung ihrerLebensmöglichkeiten führen würde. Ich erinnerte mich in jenen Tagen öfter daran, dass KonradAdenauer schon 1958 vor dem Bundestag eine Österreich-Lösung für die DDR ins Gespräch gebrachthatte. 1962 hatte er erklärt, die Bundesregierung sei bereit, über vieles mit sich reden zu lassen, wenn»unsere Brüder in der Zone« ihr Leben so einrichten könnten, wie sie es wollten. »Überlegungen der

Menschlichkeit spielen hier für uns eine noch größere Rolle als nationale Überlegungen.« Mirschwebte ein ähnlicher Weg vor wie 1955 im Saarland: Die Wirtschafts- und Währungsunion wurdedort mit einer Verzögerung von vier Jahren vollzogen, um der Saarwirtschaft die notwendige Zeit zurUmstellung einzuräumen. Doch was die ehemalige DDR betraf, so war die große Mehrheit andererMeinung und wollte es anders. Für Helmut Kohl war der Umtausch der Ostmark in DM zürn Kurs 1 :1 der Wahlkampfknüller. Als sich später herausstellte, dass die euphorischen wirtschaftlichenErwartungen alle auf Sand gebaut waren, griff man zu der Entschuldigung, zu der man immer greift,wenn die Dinge so fürchterlich schief gehen: »Wir hatten keine andere Wahl.«  

DAS ATTENTAT

Nach meinem Rücktritt von allen politischen Ämtern im März 1999 schrieb der PsychoanalytikerWolfgang Schmidbauer im Spiegel: »Der Rücktritt Oskar Lafontaines kam für fast alle aus heiterem Himmel und war in seiner Radikalitätso unverständlich wie dem Nichtjapaner ein Harakiri. Einen Weg, diesen Entschluss nachzuvollziehen,eröffnet die Trauma - Psychologie... Solange es darum ging, die SPD in Bewegung zu setzen und zuhalten, ihre unterschiedlichen Strömungen zu integrieren und den Machtwechsel in Bonn voranzutrei-ben, hat Lafontaine Qualitäten entwickelt, die zu seinem jüngsten Schritt nicht zu passen scheinen...Die häufigste Spätfolge einer seelischen Traumatisierung scheint eine gesteigerte seelischeVerwundbarkeit, verbunden mit einem Anspruch, sich niemals mit weniger als Perfektion zufrie -denzugeben... Lafontaine wurde mitten in seiner Karriere als Politiker, subjektiv auf dem Weg zumeinflussreichsten Amt in Deutschland, aus einer jubelnden Masse heraus schwer verletzt. Wir haben

nichts vom Wesen der psychischen Traumatisierung verstanden, wenn wir annehmen, nach dererfolgreichen Behandlung der Stichwunde sei ein solches Erlebnis erledigt. Es drückt aus, wie wenigverlässlich Macht, Anerkennung, politischer Erfolg sind;... Damals hat er in übermenschlicherAnstrengung die seelische Verletzung verdrängt, so gut und rasch es eben gehen wollte. Er tat es wohl,

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um seine Freunde nicht zu enttäuschen... Es ist zu vermuten, dass der Schwung, den Lafontaine nachseiner Wahlniederlage in die Partei brachte, mit einer kompensatorischen Anstrengungzusammenhängt... Der subjektiv vom Attentat aus dem Rennen geworfene Kanzlerkandidat von 1990hatte taktisch richtig und ohne Rücksicht auf die eigenen Emotionen einem anderen Kanz-lerkandidaten Platz gemacht. Seit dem Wahlsieg war Lafontaine nicht mehr Teil einer Bewegung,sondern Gekreuzigter eines Machtsystems, das seine Visionen geringschätzte und seine praktischenBemühungen entwertete.« Ich bin oft gefragt worden, wie ich das Attentat verarbeitet habe, und glaube, mit gebührendemAbstand heute dazu etwas sagen zu können. Den Anschlag habe ich sehr bewusst erlebt. Mir war auchim Moment des Attentats völlig klar, was passierte. Noch eine Zeitlang war ich bei Bewusstsein. Ichbat die sich über mich beugenden Helfer und Sicherheitsbeamten, den Notarzt zu rufen. Angesichtsdes starken Blutverlusts konnte mein Leben schnell zu Ende sein. Ich dachte an Christa, meinen SohnFrederic, meine Mutter, meinen Bruder und an Menschen, die mir wichtig sind; Stationen meinesLebens schössen mir durch den Kopf, bevor ich das Bewusstsein verlor. Dieses einschneidendeErlebnis sollte mich fortan nicht mehr loslassen. Als ich in der Klinik aufwachte und die Ärzte ihreArbeit erledigt hatten, wusste ich, dass ich davongekommen war. Den Sicherheitsbeamten, diekreidebleich an der Wand standen und mich beobachteten, zwinkerte ich aufmunternd mit dem rechten

Auge zu. Ich konnte bald Besuch empfangen. Es kamen als erste Christa und Reinhard Klimmt unddann viele andere. Gut in Erinnerung ist mir, wie am Abend nach der Operation der kompetente und sympathischeOberarzt Prof. Müller mir sagte: »Damit Sie besser einschlafen können, kann ich Ihnen eine Tablettegeben, oder Sie können ein Glas Rotwein trinken.« Die Wahl fiel mir nicht schwer. Ich erzähle dieseGeschichte, um zu verdeutlichen, dass sich bei mir, neben der Freude, davongekommen zu sein, dasBedürfnis einstellte, das neugewonnene Leben noch intensiver zu leben. In den darauffolgenden Tagenkam mir der ganze Alltagskram völlig unwichtig vor, auch die täglichen Nachrichten bedeuteten mirnichts. Ich fühlte mich wie ein Wanderer, der das Meer erreicht hat und nichts sieht als die unendlicheWeite des Wassers und das Blau des Horizonts. Ich hatte erfahren, wie wenig verlässlich Macht,Anerkennung und politischer Erfolg sind. Nach sieben Tagen wurde ich aus dem Krankenhausentlassen. Sehr schnell stellte ich fest, dass die körperlichen Folgen des Attentats leicht zu überwinden

waren, es aber viel schwerer sein würde, die seelischen Folgen zu bewältigen.  Das Attentat hatte mich verändert: Konkret hatte ich erfahren, dass das Leben von der einen zuranderen Minute zu Ende sein kann. Ich hatte mein bisheriges Leben Revue passieren lassen und Bilanzgezogen: Von nun an wollte ich nur noch das machen, was ich mit gutem Gewissen vor mirvereinbaren konnte. Auch wollte ich mir in keinem Fall vorwerfen, Frau und Kinder zu stark zuvernachlässigen. Tatsächlich habe ich das durchgehalten. Selbst in Zeiten schwerer beruflicherBelastung fand ich immer wieder Wege, die Familie nicht zu kurz kommen zu lassen. Auch die end-lose Routine von Wahlkämpfen, Sitzungen, Pressekonferenzen und Interviews habe ich immer wiedervon neuem hinterfragt und geprüft, ob ein solcher Einsatz, sich lohnt. Allein meine starke politischeMotivation war Grundlage dafür, die vielen Entbehrungen auf mich zu nehmen, die mit den Aufgabeneines Spitzenpolitikers verbunden sind. Der Wunsch, einen Beitrag zur Bewahrung des Friedens, zurErhaltung der Umwelt, zur gleichberechtigten Teilnahme der Menschen am gesellschaftlichen Leben

und zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit leisten zu können, trieb mich an.  Nach dem Attentat schielte ich sicherlich öfter als Gleichaltrige bei den Todesanzeigen auch auf dasGeburtsdatum der Verstorbenen. Und immer wieder stellte ich fest, dass natürlich darunter Leutewaren, die nach mir geboren waren. Auch den frühen Tod von Karl-Heinz Hiersemann und KlausMatthiesen habe ich wohl anders wahrgenommen als viele meiner gleichaltrigen Kolleginnen undKollegen in der Politik. Bei öffentlichen Veranstaltungen fühlte ich mich weitaus weniger sicher als inden Jahren zuvor. Wenn sich Unbekannte mir näherten, war ich stets in Alarmbereitschaft. Denn mirwar klar, dass ich bei größerer Wachsamkeit den Messerstich der Attentäterin hätte abwehren können.  Die Grenzerfahrung des Attentats und seine Verarbeitung sind auch eine Erklärung dafür, dass ich vordem Mannheimer Parteitag 1995 wenig Neigung spürte, den Vorsitz der SPD zu übernehmen. Wernicht über meinen Erfahrungshintergrund verfügt, für den mag dies unglaubwürdig klingen. Auchunter der Bonner Käseglocke fühlte ich mich in dieser Angelegenheit immer missverstanden. MeineGesprächspartner unterstellten mir, dass mein Verweis auf die veränderte Lebenseinstellung nach demAttentat eine 

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Schutzbehauptung sei, um meinen überbordenden Ehrgeiz zu kaschieren. Zu Christa hatte ich in denersten Monaten nach Mannheim immer wieder gesagt, sobald wir bei Meinungsumfragen 40 Prozenterreicht haben, werde ich den Stab weitergeben. Als wir uns dann ein gutes Jahr vor derBundestagswahl in den Meinungsumfragen bei 40 bis 42 Prozent einpendelten, setzte ich diesesVorhaben nicht in die Tat um, obwohl durch die Geburt von Carl Maurice im Februar 1997 eineVeränderung in meinem Leben eingetreten war, die einen solchen Schritt zusätzlich gerechtfertigthätte. Beflügelt durch die Umfrageergebnisse hatte ich mir vorgenommen, die Scharte, die dieWahlniederlage des Jahres 1990 für mich und die SPD bedeutet hatte, wieder auszuwetzen. Ich wolltemeinen Anteil dazu beitragen, dass wir den Regierungswechsel endlich schafften. Zudem hatte ich einneues Projekt. Ich war davon überzeugt, dass die sozialdemokratischen Parteien eine Antwort auf dieAnarchie der Finanzmärkte finden mussten. Die aus dem Ruder gelaufene weltweiteWährungsspekulation stürzte ganze Volkswirtschaften in die Krise und brachte vielen MenschenElend und Massenarbeitslosigkeit. Der Kampf gegen diesen Kapitalismus pur musste das großeThema der europäischen Sozialdemokratie und der Sozialistischen Internationale werden. Um eineneuropäischen Beschäftigungspakt zu verwirklichen, war ich mittlerweile auch bereit, eine Aufgabe inder Regierung zu übernehmen. Ich hatte meinen engeren Freunden in der Parteiführung aber immergesagt, und das machte meine Stärke aus, dass ich, falls meine politischen Vorstellungen in der Partei

nicht mehrheitsfähig wären, jederzeit bereit wäre, einem anderen den Vorsitz zu überlassen. DerGedanke, mein Leben so einzurichten, dass ich mir bei einem plötzlichen Ende keine zu starkenVorwürfe machen müsste, ließ mich nicht mehr los. So gesehen war mein Rücktritt von allenpolitischen Ämtern auch eine Spätfolge des Attentats aus dem Jahre 1990.

POLITIK UND FAMILIE

Wer in der Politik Verantwortung übernimmt, der kann diese Aufgabe nur sehr schwer mit demFamilienleben in Einklang bringen. Schließlich finden an Samstagen und Sonntagen wichtigeVeranstaltungen statt, die besucht werden müssen. Dass die Abende werktags auch mit Terminver-pflichtungen verplant sind, ist ohnehin selbstverständlich. Wo die Familie da noch Platz haben soll,

darüber macht sich keiner Gedanken.  1998 war ein schweres Wahlkampfjahr, das mich als Parteivorsitzenden völlig in Anspruch nahm. AnUrlaub war nicht zu denken. Nach den anstrengenden Koalitionsverhandlungen und den Wochen derRegierungsbildung hatten Christa und ich beschlossen, mit Carl Maurice wenigstens vierzehn TageWeihnachtsurlaub in Mexiko zu machen. Wie immer hatten wir uns für ein Hotel mit wenig Touristenentschieden, um uns in Ruhe erholen zu können. Europäische Hotels kamen für uns nicht in Frage, daich dort so häufig angesprochen wurde, dass kaum Urlaubsstimmung aufkam. Als die Reise schongebucht war, hatte der damalige Vorsitzende der europäischen Finanzministerkonferenz, derösterreichische Finanzminister Rudolf Edlinger, die Idee, eine Art Silvesterball in Wien zuorganisieren. Die europäischen Finanzminister sollten dorthin eingeladen werden, um zumJahreswechsel symbolisch den Euro aus der Taufe zu heben. Da dieser Silvesterball in Wienstattfinden sollte, musste ich zwangsläufig an den Wiener Opernball und die damit verbundeneBerichterstattung denken. Ich riet daher von einer solchen Veranstaltung ab. Das Thema war zunächstdamit erledigt. Kurze Zeit später aber setzte mein Freund Dominique Strauss-Kahn durch, dass sichdie Finanzminister in Brüssel treffen sollten, um das Glas Champagner auf den Euro zu heben. Sollteich nun meinen Urlaub unterbrechen und zu Lasten der Steuerzahler von Mexiko nach Brüssel undwieder zurück fliegen, nur um mit meinen Kollegen auf den Euro anzustoßen? Ich hielt es für ver-nünftiger, meinen Vertreter in der Bundesregierung, Bundeswirtschaftsminister Werner Müller, zubitten, mich zu vertreten, und unterbrach meinen Urlaub nicht. Obwohl der Euro schon bei vielen Gelegenheiten staatstragend gefeiert worden war, wurde meinFernbleiben scharf verurteilt. Oppositionspolitiker bezeichneten es als Schande für Deutschland. SogarParteifreunde empörten sich hinter vorgehaltener Hand. Aufrechte Kommentatoren, dieselbstverständlich nie daran dachten, auf Urlaub zu verzichten, taten ihr Missfallen kund. Zu fragen,

was es gebracht hätte, wenn auf dem Foto zu dieser Feier statt des Bundeswirtschaftsministers derBundesfinanzminister abgebildet worden wäre, auf die Idee kam so gut wie niemand. Wäre ich vonMexiko angeflogen, hätte sicherlich zumindest eines der einschlägig bekannten Nachrichtenmagazinesein Unverständnis darüber geäußert, dass der Finanzminister für ein Glas Champagner so viel

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Steuergeld verschleudert. Auch ein Spitzenpolitiker sollte das Recht haben, ungestört ein paar Tagemit seiner Familie verbringen zu können.  Und selbst in Mexiko war ich nicht nur als Privatmann. Der mexikanische Präsident Ernesto Zedillohatte nämlich von meinem Aufenthalt erfahren und mich für einen Tag nach Mexico City geladen. Erwar ein liebenswürdiger Gastgeber, und wir unterhielten uns über die Krise des internationalenFinanzsystems. Die Erfahrungen mit der Peso - Krise konnte er mir aus erster Hand schildern. Ich warerstaunt, wie groß unsere Übereinstimmung bei der Beurteilung des internationalen Finanzsystemswar. Am darauffolgenden Tag ließ mir der Präsident ein Buch an meinen Urlaubsort bringen: Es warThe acddental theorist von Paul Krugman. Ich freute mich darüber. So wie zum Jahreswechsel 1998/99 habe ich im Laufe meiner jahrzehntelangen politischen Tätigkeitleider immer wieder erfahren müssen, dass unser heutiger Politikbetrieb ein normales Familienlebennicht zulässt. Hermann Hesse empfiehlt uns, »suchen Sie mit allen Kräften eine Ihnen gemäßeLebensform, auch wenn Sie alle Pflichten dafür versäumen. Die Pflichten beziehen einen großen Teilihrer Heiligkeit, wenn nicht die ganze, aus einem Mangel an Mut im Kampf um ein Privatleben.«Viele Kollegen haben mir erzählt, sie hätten zuwenig Zeit für ihre Kinder gehabt. Ich wollte dasanders machen. Während ich Bundesfinanzminister war, setzte ich mich manchmal gegen 20 Uhr insAuto und ließ mich noch nach Saarbrücken fahren, um Christa, Carl Maurice und Frederic zu sehen.

Während der zweistündigen Fahrt hatte ich selbstverständlich noch Zeit, zu arbeiten, zu lesen und zutelefonieren. Oft erreichte ich Saarbrücken erst nach 2.3 Uhr. In der Presse konnte ich dann sogehässige Bemerkungen lesen wie: »Waigel saß aber länger im Ministerium!« Bei Geburtstagen und Jubiläen wird nach der ausdrücklichen Würdigung des Geburtstagskinds oderJubilars üblicherweise auch seiner Gattin gedankt, weil ohne ihre Unterstützung der Gelobte seinebedeutenden Leistungen wohl niemals vollbracht hätte. In der Regel wird ihr ein Blumenstraußüberreicht, und die Anwesenden applaudieren gerührt. Häufig weilt aber bei solchen Feierlichkeitendie Zweitfrau des so pflichtbewussten Menschen, seine Büroliebe, unter den Gästen, denn derGepriesene muss ja in irgendeiner Form mit seinen emotionalen Entzugserscheinungen fertig werden.Die ganze Veranstaltung wirkt dann eher peinlich. Ich bin seit langem zu der Einsicht gekommen - dazu bedurfte es nicht der Erfahrung des Attentats -,dass in allen Berufen, auch in der Politik, keine gute Arbeit geleistet werden kann, wenn nicht

genügend Raum für Familienleben, Partnerschaft und Kinder vorhanden ist. Bei der gegenwärtigenOrganisation des Politikbetriebs ist es auch kein Wunder, dass Politiker, wenn sie öffentlich überPartnerschaft, Kinder oder Familienleben reden, eher unglaubwürdig wirken. Ich habe mich oftgefragt, ob Politik so organisiert sein muss, wie sie heutzutage organisiert ist. Ist es nicht lächerlich,wenn im Wahlkampf nach amerikanischem Stil die Familienmitglieder aufs Foto gedrängt werden?Unsere Mediengesellschaft verlangt nach solchen Bildern, heißt es. Aber wird da nicht allzu oft eineFamilienidylle vorgegaukelt? Mir fiel es immer sehr schwer, aus dem Haus zu gehen, wenn Carl Maurice weinend die Anne nachmir streckte und mich nicht gehen lassen wollte. Dieses Bild hatte ich manchmal vor Augen, wenn ichmich in den wichtigen Sitzungen in Bonn zu langweilen begann. Auch die Vorstellung, dass wir beieinem Umzug nach Berlin meine 84jährige Mutter nicht mehr, wie bisher, hätten betreuen können,bedrückte mich. Christa bekocht sie und organisiert den fahrenden Mittagstisch. Vieles hätten wir

sicherlich über Dienstleistungen organisieren können, aber Dienstleistungen können die Familie nichtersetzen.

DIE BUNDESTAGSWAHLKÄMPFE 

Im Lauf des Bundestagswahlkampfs 1990 entfremdete ich mich immer mehr von Willy Brandt.Empört war ich, als er am 30. September mit Helmut Kohl in der ARD auftrat und für die Politik desKanzlers warb. Als Kohl sagte: »...die ökonomisch-wirtschaftlichen Fragen werden viel schnellergelöst, als viele glauben... in drei bis fünf Jahren werden wir dort wirklich Landschaften vor unssehen, die dem Gesamtstatus der Gesamtrepublik entsprechen...«, erwiderte Brandt: »Ich glaube, dassin der Tat in einem halben Jahrzehnt ein wesentlicher Teil der heutigen DDR das modernere

Deutschland sein wird, weil unsere Firmen, wenn sie investieren, nicht altes Zeug dorthin schleppen,sondern moderne Technologie ...« Der Abnabelungsprozess, der schon seit einiger Zeit bei mireingesetzt hatte, wurde durch Willy Brandts Verhalten im Wahlkampf beschleunigt. Nie vergessen

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werde ich auch den 3. Oktober, als wir vor dem Reichstag standen und den ersten Jahrestag der Deut-schen Einheit begingen. Als die Nationalhymne verklungen war, gab Willy Brandt allenUmstehenden, dem Bundespräsidenten Weizsäcker, Bundeskanzler Kohl, Stoltenberg, Blüm und auchHeiner Geißler die Hand, um zur Einheit zu gratulieren. Demonstrativ verweigerte er mir als einzigemden Handschlag. Zwar ließ ich mir an jenem Abend wenig anmerken, und wir suchten nochgemeinsam einen reservierten Raum im Reichstag auf, um, wie geplant, ein Glas zu trinken, aberdanach redeten wir nicht mehr miteinander. Willy Brandt war zu einer offenen Aussprache unter vierAugen nicht bereit, vielleicht auch nicht fähig. Er setzte auf subtile Andeutungen und Gesten undvertraute darauf, dass sein Gegenüber ihn schon verstehen würde. Aber es gibt Situationen, in deneneine klärende Aussprache notwendig ist. Nach der verlorenen Wahl im Jahr 1990 kam der Parteivorstand in Bonn zusammen. Hans-JochenVogel schlug mich dort für den Parteivorsitz vor - worüber er mich schon in Saarbrücken bei derAbschlusskundgebung informiert hatte. Aber die herbe Wahlniederlage sowie die Tatsache, dass sichdie Partei in Teilen von mir abgewandt hatte, konnte ich nur schwer verwinden. Als sei das noch nichtgenug, kritisierte Willy Brandt in dieser Vorstandssitzung meinen Wahlkampf in ungewöhnlichheftiger Form. Erschöpft und seelisch zermürbt, teilte ich dem Parteivorstand der SPD mit, dass ich fürdas Amt des Vorsitzenden nicht zur Verfügung stünde. Björn Engholm wurde nach meinem Verzicht

zum Vorsitzenden der SPD gewählt. 

Die Verstimmung zwischen Willy Brandt und mir belastete mich. Als er im Oktober 1991 erkrankte,schrieb ich ihm einen Brief und schickte ihm eine Kiste Rotwein. Ein Jahr später, am 24. September1992., ließ ich dem Todkranken nur einen Satz zukommen: »Lieber Willy, ich denke oft an Dich undbin mit meinem Herzen bei Dir.« Ich hatte mir in der Folgezeit die politische Arbeit gut eingerichtet. Im Saarland hatte ich eine satteMehrheit. Die Aufgabe des stellvertretenden Parteivorsitzenden genügte mir, um auf Bundesebenemitzusprechen, ohne in der ersten Reihe stehen zu müssen. Aber die Dinge kamen anders. In der Folge der Barschel-Affäre entschloss sich 1993 Björn Engholm, vom Amt desParteivorsitzenden zurückzutreten. Da die Nachfolge auf niemanden eindeutig zulief, wurden dieMitglieder aufgerufen, den Parteivorsitzenden der SPD per Urwahl zu bestimmen. Zur Wahl standenHeidemarie Wieczorek-Zeul, Rudolf Scharping und Gerhard Schröder. Gerhard Schröder erklärte,

dass er nicht nur das Amt des Parteivorsitzenden, sondern auch das Amt des Kanzlerkandidatenanstrebe. Ich geriet während einer Parteivorstandssitzung heftig mit ihm aneinander und sagte, dassich mit ihm nicht zusammenarbeiten könnte. Über die Tatsache, dass er schon vor dem erklärtenRücktritt Björn Engholms Anspruch auf seine Nachfolge erhoben hatte, war ich empört. Zudem warich enttäuscht darüber, dass er, den ich lange Jahre gegen den Widerstand vieler unterstützt hatte, sichimmer mehr von mir abwandte. Die Saar - SPD unterstützte Scharping, weil es schien, dass er bereit war, mir erneut dieKanzlerkandidatur der SPD anzutragen. Peter Glotz erinnert sich in seinem Buch Die Jahre der Verdrossenheit an den Abend des 17. Mai 1993: »Am Abend sitzen wir bei dem Saarländer zusammenund trinken, acht oder neun Vorstandsmitglieder. Das Ziel ist klar: Wir wollen Scharping dazubringen, Lafontaine als Kanzlerkandidaten zu akzeptieren. Ein Tandem. Schröder bleibtausgeklammert. Er ist berauscht von der Idee, dass der Moschusgeruch der Macht die Leute betäube.

Deswegen wiederholt er täglich sechsmal die Formel >Ich will alles*. - Also muss man dafür sorgen,dass er gar nichts bekommt. Heidi Wieczorek-Zeul, die natürlich genau begreift, was gespielt wird,bleibt ein wenig säuerlich. Es geht hin und her, her und hin. Nach ein paar Stunden sind wir alle ange-trunken, Scharping ausgenommen. Klaus Matthiesen bedrängt ihn mit immer neuen Attacken. Er siehtaus wie ein Oberbootsmannsmaat auf großer Fahrt. Gleich, denke ich mir, wird er singen: >Wir lagenvor Madagaskar und hatten die Pest an Bord.< Er singt aber nicht, er brüllt. Scharping bleibt kalt,vorsichtig. Da weiß ich: der will auch alles, er sagt es nur nicht.« Heidemarie Wieczorek-Zeul wurde insbesondere in den eher linken Landesverbänden und Bezirkenund von den Frauen unterstützt. Aus der Wahl ging Rudolf Scharping mir 40,3 Prozent als Siegerhervor. Gerhard Schröder erreichte 33,2 Prozent und Heidemarie Wieczorek-Zeul erreichte 26,5Prozent. Nach der Wahl erklärte Rudolf Scharping: »Tandem bin ich noch nie gefahren.« Dieser Satzist ein Beleg dafür, warum Rudolf Scharping im Parteivorsitz an sich selbst gescheitert ist. Er suchtezuwenig das Gespräch und die Zusammenarbeit. Ich erinnere mich noch, dass ich Johannes Raueinmal anrief und sagte: »Johannes, kannst du mir helfen? Der Rudolf redet zuwenig mit mir.Vielleicht kannst du herausfinden, was die Ursache ist, und dazu beitragen, dass wir besser

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miteinander ins Gespräch kommen.« Johannes Rau lachte am anderen Ende der Leitung und sagte auf seine unnachahmliche Art: »Da musst du dir nichts draus machen, der redet mit mir auch nicht.«  Rudolf Scharping war als Parteivorsitzender gut gestartet und wurde von der Presse mit sehr vielVorschußlorbeeren bedacht. Es war klar, dass ihm niemand die Kanzlerkandidatur verwehren konnte,wenn er sie wünschte. Er wurde auf dem Parteitag in Halle am 22. Juni 1994 mit 95 Prozent derStimmen zum Kanzlerkandidaten der SPD gewählt. Nach den Erfahrungen des Jahres 1990 hatte ich mir vorgenommen, meinen Anteil bei derUnterstützung des Kanzlerkandidaten durch die Partei beizusteuern. Die mangelnde Unterstützung vonTeilen der Partei hatte mir im Wahlkampfjahr 1990 arg zugesetzt. Gunter Hofmann, Leiter des Berliner Büros der Zeit, urteilt über diese Jahre: »Lafontaine blieb imHintergrund. Kein geringschätziges oder unfaires Wort aus seinem Mund hat man im Ohr, mit dem erzu Engholm oder Scharping, den jeweiligen Vorsitzenden, auf Distanz gegangen wäre. Oft feilte erKompromisse mit (Asylgesetz), gelegentlich blockierte er eine Kehrtwendung der Politik (denAusstieg aus der Kernenergie wollte er nicht aufgeben, und gegen Kampfeinsätze der Bundeswehr amBalkan sträubte er sich) ... Manchmal konnte man fast meinen, er habe die Lust an der Politik verloren.Als stellvertretender Parteivorsitzender und als Ministerpräsident wirkte er zwar im Hintergrund mit,aber Ambitionen schien er nicht mehr zu haben. In dieser Zeit avancierte Gerhard Schröder zum

heimlichen, später dann sogar offenen Rivalen Rudolf Scharpings - und zum neuen >Helden< derSPD, der ganz offensichtlich Kanzler werden wollte. Manchmal entstand der Eindruck, Schröderverachte geradezu seine eigene Partei, er galt jetzt unversehens als der kleine Franz Josef Strauß derSPD, nicht mehr Lafontaine. Er schien der destruktive Charakter zu sein, der Unfrieden stiftet,während Lafontaine in die Rolle des stillen Moderators geriet.« Ich unterstützte Rudolf Scharping nach Kräften. Im Wahlkampf 1994 hatte ich nach einem Bericht der Bild am Sonntag von allen Politikern das größte Pensum im Parlament und im Fernsehen auf michgenommen. Leider zeigte sich auch bei diesem Wahlkampf, wie schon bei den Bundestagswahlendavor, dass es ein Fehler der SPD war, den Kanzlerkandidaten zu früh zu bestimmen und auszurufen.Auf einer Pressekonferenz war Rudolf Scharping nach dem Steuerkonzept der SPD gefragt worden. Ersollte auch beantworten, ab welchem Einkommen die SPD eine Ergänzungsabgabe einführen wolle.Da wir diese Grenze noch nicht festgelegt hatten, geriet Rudolf Scharping ms Schleudern. Dies wurde

ihm dann ungerechterweise so ausgelegt, als hätte er brutto und netto verwechselt. Danach wandeltesich das öffentliche Meinungsbild. Diejenigen, die vorher seine Eigenschaften - eine gewisseLangsamkeit, Beständigkeit und Verlässlichkeit - gut beurteilt hatten, kamen jetzt zu dem Ergebnis, ersei langweilig, ideenlos und hätte wenig Temperament. Zudem machte Rudolf Scharping im Verlauf der Wahlkampagne eine Reihe von Fehlern. Am Z3- Mai 1994 schafften wir es nicht, dass Johannes Rau zum Bundespräsidenten gewählt wurde.Roman Herzog setzte sich durch. In der Rau-Biographie von Rolf Kleine und Matthias Struck heißt esdazu: »Unter dem Eindruck der Herzog-Wahl begeht die SPD gleich am nächsten Tag einen schwerentaktischen Fehler. Enttäuscht, dass seine Rechnung nicht aufgegangen ist, rückt Parteichef Rudolf Scharping das Ergebnis der Wahl vor der Bundespressekonferenz in die Nähe eines Aktes vonzweifelhafter politischer Legitimität. Nicht von dem Bemühen, den Besten zu wählen, sei die Mehrheitgetragen worden, >sondern lediglich von machtpolitischem Kalkül von Helmut Kohl<. Nach dem

Verhalten der Liberalen, im entscheidenden Durchgang mehrheitlich für den Unions-Kandidaten zuvotieren, stelle sich die Frage, >wer denn die FDP eigentlich noch braucht«. Das Medienecho auf Scharpings Auftritt ist verheerend. Von >bösem Nachtreten« ist die Rede, von schlechten Verlierern«,die nicht begreifen wollten, dass sie von vornherein keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätten. Selbst inder SPD löst der Auftritt des Vorsitzenden Kopfschütteln aus. Man solle jetzt >nicht nachkarten«,warnt Fraktionschef Hans-Ulrich Klose, >unser politischer Gegner heißt Helmut Kohl und nichtRoman Herzog«. Intern fällt die Kritik sogar noch heftiger aus. >Wie ein trotziges Kind< habe derParteichef reagiert und damit ohne Not politisches Porzellan zerschmissen«, rügenPräsidiumsmitglieder. Die SPD und ihr Kanzlerkandidat Scharping sind aus dem Tritt geraten.«  Was auch schief ging, alles wurde nun Scharping zur East gelegt. Im Gegenzug hatte es GerhardSchröder verstanden, sich durch Kritik an der Politik der Partei und der Person Rudolf Scharpings alsneuer Hoffnungsträger der SPD zu empfehlen. Insbesondere die Hamburger Presse war ihmwohlgesonnen. Als wir sahen, dass die Umfrageergebnisse für die SPD immer schlechter wurden, kammir die Idee, Gerhard Schröder für die Regierungsmannschaft zu gewinnen. Rudolf Scharping stimmtenach einigem Zögern zu und nahm das Gespräch mit Gerhard Schröder auf. So entstand die Troika.

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Der Eintritt Gerhard Schröders in die Wahlkampfmannschaft verhinderte ein weiteres Absinken derSPD in den Umfragen, sicherlich auch, weil jetzt das von der Presse gewünschte neue Gesicht imWahlkampf auftauchte. »Das ist ein genialer Coup von Rudolf Scharping«, kommentierte die  Hamburger Morgenpost. Undunter der Überschrift »Scharpings bester Schachzug« schrieb Martin E. Süskind in der Süddeutschen Zeitung: »Dies alles kann nur bedeuten, dass jetzt, da der Liebling der Nation eingreift, derWahlkampf einen kräftigen neuen Anstrich bekommen wird.« Vier Tage vor dem Wahltag sorgteSchröder noch einmal für Aufregung. In einem Interview erklärte er sich bereit, auch im Falle einergroßen Koalition unter Kanzler Kohl als Wirtschaftsminister nach Bonn zu kommen, und fügte hinzu,Kohl sei für ihn »nie eine Unperson« gewesen, sondern »ein Mann, dessen politische Lebensleistungich nie in Abrede gestellt habe«. Einen Tag später sagte Theo Waigel zu mir im Bundesrat: »SchönenGruß vom Kohl: Den Schröder nimmt er nicht.« Das saß! Das Wahlergebnis aber reichte nicht aus, um die Regierung Kohl abzulösen. Zwar hatte GerhardSchröder nach den ersten Hochrechnungen die Bildung einer großen Koalition angeregt und gesagt:»Es steht doch fest, dass man Deutschland mit einer so lächerlichen Mehrheit nicht regieren kann.«Aber die Koalition aus CDU/CSU und FDP war auf Weitermachen festgelegt. Die Enttäuschung warentsprechend groß. Defätismus machte sich breit. Die SPD, so meinten einige, sei strukturell nicht

mehrheitsfähig und könne in Deutschland keine Wahlen mehr gewinnen. Helmut Kohl, so meintenwiederum andere, sei ein unschlagbarer politischer Profi, und insbesondere in der Endphase desWahlkampfs würde er immer wieder das Rennen machen. Damals kam das Wort von der Kohl-Kurveauf: Zu Beginn eines Wahlkampfs lag Kohl immer zurück, um dann während des Wahlkampfsmächtig aufzuholen und am Ende die Nase vorn zu haben. Kohl gewann 1994 nicht, weil er so gutwar, sondern weil wir so viele Fehler gemacht hatten. Nach der Bundestagswahl ließ uns vor allen Dingen Gerhard Schröder wissen: »Ich hätte es gepackt.«In den darauffolgenden Monaten kam es zu einem regelrechten Dauerkrieg zwischen Rudolf Scharping und Gerhard Schröder, der die Partei stark beschädigte. Ich hatte Rudolf Scharping immerwieder nahegelegt, auf die Angriffe Gerhard Schröders nicht zu reagieren, da er bei diesem Spiel nurverlieren könne. Rudolf Scharping sah das anders. Höhepunkt der Auseinandersetzung war dieEntlassung Gerhard Schröders als wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD, obwohl Johannes Rau und

ich davon abgeraten hatten. Die Partei hatte zwischenzeitlich bei Meinungsumfragen sehr schlechteErgebnisse. Dazu kam, dass ich mich beim Thema Auslandseinsätze der Bundeswehr außerhalb desNato-Vertragsgebiets genötigt sah, Rudolf Scharping öffentlich zu widersprechen. Die Partei hatte auf dem Parteitag in Bremen 1991 einem Antrag zugestimmt, den Björn Engholm und ich zusammen mitden Außen- und Sicherheitspolitikern ausgearbeitet hatten. In diesen Beschluss wurde die Beteiligungder Bundeswehr an Blauhelmmissionen der UNO befürwortet. Ausdrücklich abgelehnt hatte die ParteiKriegseinsätze der Bundeswehr außerhalb des Nato-Vertragsgebiets. Diese Festlegung wollte Rudolf Scharping verändern. In einem Brief an die Mitglieder des Parteivorstandes und derBundestagsfraktion schrieb er im Dezember 1994: »Eine deutsche Beteiligung an Nato-Maßnahmenzum Schutz eines eventuellen Abzugs der UN-Blauhelme ist nicht nur eine Verpflichtung gegenüberden Entsendestaaten, sondern unzweifelhaft auch eine Bündnisverpflichtung, wenn die Nato einenentsprechenden UN-Auftrag erhält.« 

In einem Aufsatz im Spiegel trat ich dieser Auffassung entgegen. Ich spielte über die Bande undkritisierte nicht Scharping, sondern die Bundesregierung: »Jetzt bietet die Bundesregierung Tornadosan, um Hilfsflüge zu schützen und, falls nötig, beim Abzug von Blauhelmen serbische Stellungen zubombardieren. Als verhängnisvoll für die zukünftige Außenpolitik erweist sich, dass dieBundesregierung ihr absurdes Angebot mit unserer Verpflichtung zur Bündnissolidarität begründet,obwohl die Nato in ihren vertraglichen Verpflichtungen gar nicht gefordert ist.« Ich konnte mich dabeiauch auf Helmut Schmidt berufen, der bei einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung gemahnthatte, darauf zu achten, dass weder die Europäische Union noch die Nato zum Spielball kurzfristigerEntscheidungen des UNO-Sicherheitsrats gemacht würden. Man könne die Nato dadurch sehr schnelldemontieren. Ganz auf dieser Linie schrieb er einige Jahre später: »Gegenüber den Weltproblemen desnächsten halben Jahrhunderts ist der von Washington betriebene Ausbau der Nato zu einer weltweitoperationsfähigen Interventionsstreitmacht wenig hilfreich. Sie könnte weder die zukünftigen Krisenin Asien, noch in Afrika noch in Lateinamerika bewältigen. Auch im Kosovo und auf der Balkan-Halbinsel insgesamt kann sie Konflikte zwar gewaltsam unterdrücken, aber nicht dauerhaft lösen. Diewestliche militärische Allianz kann mit einer Lebensversicherung auf Gegenseitigkeit verglichen

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werden, keiner der Partner möchte sie aufs Spiel setzen. Dennoch ist sie kein Instrument zur Lösungaller Probleme außerhalb der Territorien der Partnerstaaten. Eine öffentliche Debatte über einegenerelle Ausweitung der Aufgaben der Nato (Out of Area) hat es bisher kaum gegeben. Dennochmuss ein Demokrat eine tiefschürfende öffentliche Debatte dringend wünschen.« In der Bundestagsfraktion kam es 1995 zu heftigen Diskussionen um die Frage des Einsatzes vonBundeswehrtornados zur Zerstörung serbischer Stellungen. Ein Teil der Bundestagsfraktion stimmtemit der Regierung Kohl für den Einsatz. Die SPD blieb bei der bis dahin vertretenen Linie. DieBombardements der Nato in der Krajina hatten schlimme Folgen. Die Kroaten nutzten sie, um etwa2oo ooo Serben aus der Krajina zu vertreiben.  Horst Grabert, ehemaliger Kanzleramtschef bei Willy Brandt, schreibt: »Die Idee, das Kosovo vonAlbanern zu säubern, stammt vom früheren Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien Cosic undwar seine Antwort auf die Vertreibung der Serben in der Krajina. Damit sollte Platz zur Ansiedlungder vertriebenen Serben geschaffen werden. Das hat einen durchaus realen Hintergrund, denn Serbienist das Land mit den meisten Vertriebenen. Überall gibt es Flüchtlingscamps, in denen auch vieleSerben leben, die aus dem Kosovo vertrieben wurden. Milosevic hat sich ungefähr fünf Jahre gegendiesen Vertreibungsplan gewehrt. Aber im Zusammenhang mit der Hereinnahme des Ultranatio-nalisten Seselj in die Regierung hat er seinen Widerstand aufgegeben. Als die Bombardierungen der

Nato begannen, stand er vor der Frage, wie lange die auszuhalten sind. Und er ist zu dem Schlussgekommen, dass die Vertreibungen in dieser Zeit erledigt sein müssen.« 

Wegen des Nato-Bombardements im Jahr 1995 und der brutalen Vertreibung der Serben aus derKrajina kam ich zu der Überzeugung, dass es falsch ist, als Kriegspartei in einen Bürgerkriegeinzugreifen. Das ist auch heute noch meine Meinung.  

DER PARTEITAG VON MANNHEIM

Im Lauf der ersten Hälfte des Jahres 1995 hatte ich immer stärker das Gefühl, dass sich Rudolf Scharping in den von ihm beanspruchten Funktionen des Parteivorsitzenden, Fraktionsvorsitzendenund Kanzlerkandidaten zuviel vorgenommen hatte. Ich drängte also in vielen Gesprächen darauf,

gemeinsam eine Neuverteilung der Aufgaben zu suchen. Dabei dachte ich daran, Johannes Rau nocheinmal zu bitten, den Parteivorsitz zu übernehmen. Zwar wusste ich, dass er da oder dort auf Vorbehalte stieß, aber immer noch war es so, dass die große Mehrheit sein ausgleichendes Wesen unddie Fähigkeit, Menschen zusammenzuführen, sehr schätzte und dass er über ein gehöriges Maß anAutorität verfügte. Gerhard Schröder wollte ich den Parteivorsitz nicht antragen. Er hatte mir einmalgesagt, er sei nicht geeignet, diese Aufgabe zu übernehmen. Eine Zeitlang spielte er damals mit demGedanken, sich um das Amt eines EU-Kommissars zu bewerben. Ich lud Rudolf Scharping und Johan-nes Rau zu mir nach Hause ein, um sie dafür zu gewinnen, die Führungsspitze der SPD neu zu bilden.Das Abendessen brachte aber nicht den gewünschten Erfolg. Johannes Rau und Rudolf Scharpingblockten ab. Sie wollten nichts verändern. Am folgenden Tag fragte ich Christa, ob ich mich nichtdeutlich genug ausgedrückt hätte. Sie sagte mir, ich sei überdeutlich gewesen, aber die Bereitschaftvon Johannes Rau und Rudolf Scharping, auf meine Gesprächsangebote einzugehen, sei nichtvorhanden gewesen. So beschloss der Vorstand mit großer Mehrheit, Rudolf Scharping erneut zumParteivorsitzenden vorzuschlagen. Nach den Meinungsumfragen hätten zu diesem Zeitpunkt nur nochrund 30 Prozent der Wähler bei einer Bundestagswahl der SPD die Stimme gegeben. Christa und ich fuhren nach Mannheim in der festen Gewissheit, dass sich nichts ändern würde. Aberes kam anders. Rudolf Scharping hatte bei seiner Rede einen schlechten Tag erwischt. Wer auchimmer ihn beraten hatte, er stand allein auf der Bühne, wie von aller Welt verlassen, und trug eine nurmäßige Rede vor. Anschließend machte sich so etwas wie Ratlosigkeit unter den Delegierten breit.Am darauffolgenden Tag sollten in Diskussionsrunden mit Gästen wirtschafts- und sozialpolitischeFragen erörtert werden. Eingeladen waren unter anderem Jacques Delors, Dieter Schulte, KlausZwickel und Hans-Peter Stihl. Ursprünglich war geplant, die Gäste nach der Rede von Jacques Delorsauf verschiedenen Foren zu den wichtigsten politischen Themen diskutieren zu lassen. Danach sollte

die Antragsberatung beginnen. Als ich sah, dass sich der Saal immer mehr leerte und dieAufmerksamkeit immer geringer wurde, schlug ich Ulrich Maurer, der im Präsidium war, vor, mitmeinem Bericht aus der Antragskommission früher zu beginnen. Ich hatte die Hoffnung, dass sich dasPlenum wieder füllen würde, da in der Regel meine Beiträge auf den Parteitagen auf größere

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Aufmerksamkeit stießen. Mein Bericht der Antragskommission wurde zur mittlerweile bekanntenRede von Mannheim, die ich mit dem Satz schloss: »Es gibt noch Politikentwürfe, für die wir unsbegeistern können. Wenn wir selbst begeistert sind, können wir auch andere begeistern. In diesemSinne: Glückauf.« Das Protokoll vermerkt: »Lebhafter, langanhaltender Beifall, die  Delegierten erheben sich.« Erst während der Rede war mir klargeworden, dass ich etwas in Ganggesetzt hatte. Die hinter vorgehaltener Hand geführte Diskussion darüber, ob Rudolf Scharping derrichtige Vorsitzende sei oder nicht, war nun offen ausgebrochen. Mehrere Delegierte forderten micham selben Tag auf, für den Parteivorsitz zu kandidieren. Ich selbst zögerte. Zwar hatte Christa beiunseren Diskussionen zu Hause immer auf mich eingeredet, ich könne doch nicht tatenlos zusehen,wie die Partei immer weiter in den Meinungsumfragen abrutsche. Ich hatte entgegnet, dass dieÜbernahme des Parteivorsitzes unser Familienleben erschweren werde. Da die Aufgabe desParteivorsitzenden viel Zeit in Anspruch nähme, müsste ich häufiger unterwegs sein. Außerdem hatteich nicht damit gerechnet, dass es zu einem Wechsel im Parteivorsitz kommen könnte. Abends saß ichmit Gerhard Schröder an der Bar des Hotels, und er redete ebenfalls auf mich ein zu kandidieren. Auchbei dieser Unterredung, die von vielen so gesehen wurde, als hätten sich die Putschisten zum letztenMal verschworen, hatte ich mich nicht entschließen können. Noch bis in die späte Nacht erreichtenmich in meinem Zimmer Anrufe, die zum Ziel hatten, mich zur Kandidatur zu bewegen. Ich ver-

brachte eine unruhige Nacht. Am anderen Morgen bat Rudolf Scharping um ein Gespräch. Er hattesich mit Freunden beraten und war zu dem Ergebnis gekommen, mich ultimativ zur Kandidaturaufzufordern. Ich wollte nicht mehr ausweichen und sagte zu, ebenfalls zu kandidieren. Über denAusgang machte ich mir weniger Gedanken. Eine Niederlage wäre kein Beinbruch gewesen. Vor demParteitag sagte Scharping später laut Protokoll: »Wir haben jetzt eine Situation, in der man etwasklären muss. Ich habe deshalb heute morgen Oskar gefragt, ob er bereit sei, für das Amt desParteivorsitzenden zu kandidieren ... Oskar hat auf meine Frage hin gesagt, dass er kandidieren wird.«Er war zu diesem Zeitpunkt fest davon überzeugt, auf dem Parteitag eine Mehrheit zu erhalten. Richtigwar seine Einschätzung, dass eine solche Mehrheit, wenn sie auch knapp gewesen wäre, seine Positioneher gestärkt als geschwächt hätte. Das Ergebnis war mit 32,1 zu 190 Stimmen unerwartet deutlich. Zum ersten Mal in der Geschichte derSPD war ein amtierender Vorsitzender abgewählt und ein neuer gewählt worden. Ich empfand eine

große Verantwortung und sah in dem neuen Amt eine schwere Bürde. Schließlich musste die Parteiaus einer Talfahrt herausgeholt werden, und die Zusammenarbeit der Führung ließ viele Wünscheoffen. Ich sagte am Schluss des Parteitags an die Adresse der anderen Mitstreiter im demokratischenWettbewerb: »Zieht euch warm an, wir kommen wieder! << Obwohl Rudolf Scharping mich ultimativ aufgefordert hatte zu kandidieren, gelang es ihm, sich in derFolgezeit als Märtyrer darzustellen. Die Medien stürzen sich auf solche Geschichten. Wenn einaufrechter Parteivorsitzender von bösen Buben, an der Spitze Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine,durch gezielte Intrigen und Absprachen weggeputscht wird, so ist das viel spannender als eineGeschichte, deren Pointe lautet: Rudolf Scharping wurde abgewählt, weil die Partei in einem Tief warund weil er den Parteitag falsch eingeschätzt hatte. Auch 1998 sollte Rudolf Scharping noch einmal indie Märtyrerrolle schlüpfen. Doch davon später. Da Personalentscheidungen stets den höchsten Aufmerksamkeitswert in der Öffentlichkeit haben,

wurde die Debatte nach dem Mannheimer Parteitag davon zunächst völlig überlagert. Die schöneStory vom gelungenen Putsch sollte noch lange in der Partei nachwirken. Als ich später im Seniorenratüber die Vorgänge in Mannheim berichtete, war der aufrechte Schorsch Leber völlig überrascht, als ererfuhr, dass Rudolf Scharping mich zur Kandidatur aufgefordert hatte. Mir war es aber zu billig,immer wieder zu versuchen, den wahren Sachverhalt darzustellen. Viele Dinge erle digen sich im Lauf der Zeit von selbst. Traurig war ich allerdings darüber, dass ich nach meiner Wahl zum SPD-Parteivorsitzenden Bebelsgoldene Uhr nicht bekam. Willy Brandt schreibt in seiner Autobiographie Links und frei: »SchweizerFreunde brachten mir eine goldene Uhr, die Bebel hinterlassen hatte. Sie ging noch gut. Meine Parteihat sie mir zu treuen Händen überlassen. Sie wird an die nächsten Vorsitzenden der deutschenSozialdemokraten weitergegeben.« Ich konnte Bebels goldene Uhr daher auch meinem Nachfolger imParteivorsitz nicht übergeben.

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Neuorientierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik

Die Personalentscheidung lenkte davon ab, dass ich in meiner Rede in Mannheim eine Wende in derunklar gewordenen Wirtschafts- und Finanzpolitik der SPD eingeleitet hatte. Die neoliberaleWirtschaftslehre und der Monetarismus hatten auch die wirtschaftspolitischen Vorstellungen vonSozialdemokraten und Gewerkschaftern immer stärker beeinflusst. So wie Richard Nixon alsamerikanischer Präsident einmal sagte, wir sind alle Keynesianer, so hätten viele in Deutschland oderEuropa sagen können, wir sind alle Neoliberale und Angebotspolitiker. Die SPD-Politiker undGewerkschafter, die Anhänger der neoliberalen Ideen und angebotspolitischen Vorstellungen waren,wurden in der Presse »Modernisierer« genannt. Im Vorfeld des Mannheimer Parteitags hatte ich in der Saarvertretung zur Vorbereitung deswirtschaftspolitischen Antrags führende Parteifreunde versammelt. Zu den »Modernisierern« gehörtenGerhard Schröder, Henning Voscherau, Wolfgang Clement, Dieter Spöri, Siegmar Mosdorf und

andere. Der ursprüngliche Entwurf unseres wirtschaftspolitischen Leitantrags gab das weitverbreiteteStandort - Gejammer wieder. Es hieß darin: Deutschland sei ein schlechter Standort und nicht mehrwettbewerbsfähig. Wir müssten alles tun, um den Anschluss an die führenden Industrienationenwieder zu erreichen, und wir seien insbesondere gegenüber den asiatischen Tigerstaaten hoffnungsloszurückgefallen.  Ich lehnte mich auf dieser Sitzung weit aus dem Fenster, denn ich hatte zusammen mit meinemspäteren Staatssekretär Heiner Flassbeck, der damals Leiter der Konjunkturabteilung des DIW war,das Papier völlig umformuliert: »Objektive Fakten zeigen, dass Deutschland nach wie vor ein erstklassiger Wirtschaftsstandort ist: DerHandelsbilanzüberschuss wird sowohl 1995 als auch 1996 rund 100 Milliarden DM betragen; einÜberschuss wird sogar mit den Billiglohnländern Osteuropas erzielt, und der Handel mit denasiatischen Tigern ist ausgeglichen. Pro Kopf der Bevölkerung ist Deutschland Exportweltmeister. Die

anhaltende Aufwertung der D-Mark ist ebenfalls ein Zeichen für die Stärke des Standorts Deutschland.Das Beispiel Japan zeigt auch, dass hohe Auslandsinvestitionen einer Volkswirtschaft kein Beweis fürden Verlust an Wettbewerbsfähigkeit, sondern Ausdruck der Stärke der Unternehmen dieses Landessind. Deshalb sagen wir: Wenn wir uns auf die Stärken unseres Landes besinnen, wird Deutschland dieneuen Herausforderungen bestehen. Wir müssen darauf setzen, was unsere Wirtschaft stark undleistungsfähig gemacht hat: auf die Qualifikation und Motivation der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer, auf den Erfindergeist unserer Techniker und Ingenieure, auf die Flexibilität undInnovationsfähigkeit des Mittelstands, auf die Entscheidungskraft und Risikobereitschaft derUnternehmer und Manager, auf die hohe Produktivität der Unternehmen, auf eine leistungsfähigeInfrastruktur, auf soziale Stabilität und auf die Lernfähigkeit der Gesellschaft...Wir setzen auf eine Doppelstrategie aus Angebots- und Nachfragepolitik.«

Ich wies die SPD-Führung darauf hin, dass diese Neuorientierung der Wirtschafts- und Finanzpolitikfür mich das wichtigste Anliegen des Mannheimer Parteitags sei. Die Standortdebatte war von denWirtschaftsverbänden polemisch und einseitig zugespitzt und von allen Wirtschaftsredaktionen, indenen die Jünger der Angebotspolitik in der Mehrheit waren, täglich millionenfach verbreitet worden.Dies hatte zur Folge, dass immer mehr Leute glaubten, Deutschland sei nicht mehr wettbewerbsfähig.Es war also Zeit dagegenzuhalten. Das Programm der Standortpropheten - Lohnzurückhaltung, Kürzung der sozialen Leistungen,Senkung der Unternehmenssteuern, Abbau von Arbeitnehmerrechten -, das zum Projekt derModernisierung verklärt wurde, taugte nach meiner Einschätzung niemals dazu, die Sozialdemo-kratische Partei auf Bundesebene mehrheitsfähig zu machen. Wenn es darum ging,Arbeitnehmerrechte abzubauen, Lohnzurückhaltung zu predigen und soziale Leistungen zu kürzen,

waren die Liberalen und die CDU/CSU immer »besser«, als die Sozialdemokraten es je sein konnten.Zudem hatte mich die Lektüre von Schriften so renommierter Ökonomen wie der NobelpreisträgerPaul Samuelson, James Tobin, Franco Modigliani, Bob Solow und des nobelpreisverdächtigen PaulKrugman, alle vom berühmten Massachusetts Institute of Technology (MIT), in meiner Auffassung

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bestärkt, dass die wirtschaftspolitische Debatte in Deutschland völlig neben der Sache lag. Natürlichbefallen einen in der Minderheitenposition immer Selbstzweifel. Zunächst konnte ich mir nichtvorstellen, dass eine wirtschaftspolitische Mode so weit ging, Daten und Fakten einfach zu ignorieren.Ich suchte bei mir selbst immer wieder nach Fehlschlüssen, weil ich nicht verstehen konnte, warumich so stark von der Mehrheitsauffassung abwich. Aber von der Naturwissenschaft hatte ich gelernt:Über Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Theorie entscheiden Zahlen und Experimente. Zwar ist dieVolkswirtschaftslehre keine exakte Wissenschaft, aber auch sie kommt durch die genaue Beobachtungder Wirklichkeit und das Aufschreiben verschiedenster Messdaten zu Schlussfolgerungen. Wie dieNaturwissenschaftler können also auch Ökonomen an Zahlenreihen und Daten ihre Auffassungüberprüfen. Dass sich Wirtschaftsverbände als Interessenverbände einseitig äußern, ist üblich undverständlich. Dass aber Wissenschaftler und viele Publizisten und Politiker dieses modische Geredeübernehmen, ist erstaunlich.  In Amerika hatte vor allem Paul Krugman die einheimischen Standortpropheten angegriffen. Er hattefolgendes erkannt: »Die Geschichte der Wirtschaftsdoktrinen zeigt nämlich, dass jene Denkweise, dieich als Ideologie der internationalen Wettbewerbsfähigkeit bezeichnet habe, stets von neuemwiederkehrt. Die Ökonomen können noch so oft darauf hinweisen, wie irrig die Vorstellung vomWelthandel als einer Art von Krieg ist (den die Exportländer angeblich gewinnen und die Importländer

verlieren); sie mögen noch so oft erklären, dass sich der wirtschaftliche Erfolg eines Landes nicht vonder Handelsbilanz ablesen lässt; sie können noch so oft hervorheben, dass das Wohlergehen andererLänder in den allerseltensten Fällen den Wohlstand des eigenen Landes schmälert - die Versuchung,zu einer primitiven Sicht des Welthandels zurückzukehren und ihn als Nullsummenspiel um Märkte zubetrachten, scheint einfach unausrottbar zu sein... Außerdem spielen heute die Medien einebeträchtliche Rolle. Viele Zeitungs- und Zeitschriftenherausgeber stützen sich lieber auf die Meinungder Flachgeister der populärwissenschaftlichen Fraktion, als sich mit den leider komplexenGedankengängen derer auseinander zusetzen, die von der volkswirtschaftlichen Gesamtrechung etwasverstehen und wissen, dass die Handelsbilanz auch etwas mit der Differenz zwischen Sparen undInvestieren zu tun hat...Beim Studium der sehr umfangreichen Literatur zum Thema Wettbewerbsfähigkeit erstaunt michimmer wieder, wie sehr von hochintelligenten Autoren das Einmaleins der Ökonomie missachtet und

wie sorglos mit den Fakten umgegangen wird. Es werden Behauptungen aufgestellt, die den Anscheinquantifizierbarer Aussagen über messbare Größen erwecken, doch die Autoren halten es nicht fürnötig, diese mit entsprechenden empirischen Daten zu belegen. So entgeht ihnen wohl, dass die Faktenin Wirklichkeit eine andere Sprache sprechen.« Das gleiche Urteil lässt sich auch über die wirtschaftspolitische Debatte in Deutschland fällen. Es warschon beeindruckend, dass die exportstärkste Industrienation der Welt am lautesten darüber jammerte,dass sie nicht mehr wettbewerbsfähig sei. Nachdem die Kurskorrektur vom Mannheimer Parteitag beschlossen worden war, machte ich michdaran, den neuen wirtschafts- und finanzpolitischen Ansatz in der Partei zu verbreiten. Dabei hatte icheine interessante Begegnung. Der Vorstand der Jusos hatte mich zu einem Gespräch gebeten, um überdie zukünftige Politik der SPD zu diskutieren. Ich stellte den Kern meiner wirtschafts- undfinanzpolitischen Auffassung vor und musste zu meiner Überraschung feststellen, dass sich die Jusos

wie ein Publikum verhielten, dem man altbekannte Hüte präsentiert. Was ich nicht wusste, war, dasssich bei den Jusos Leute durchgesetzt hatten, die zur gleichen Zeit wie ich zu der Ansicht gekommenwaren, dass es zwei Wörter gibt, die der Volkswirt kennen muss: nämlich Angebot und Nachfrage.Manch älterer Genösse hätte diese Tatsache vielleicht zürn Anlass genommen, die eigenenVorstellungen kritisch zu hinterfragen. Ich hatte aber schon früher die Erfahrung gemacht, dass dieJüngeren oft eher zukünftige Entwicklungen erfassen und aufnehmen als die Älteren. Insofern war icherfreut, ja die inhaltliche Übereinstimmung bestärkte mich sogar eher in  meiner Auffassung, als dasssie mich zweifeln ließ. Und trotzdem war es natürlich sehr schwierig, diese Wende überall in der SPDpopulär zu machen. Die damalige Situation schilderten Richard Meng und Helmut Lölhöffel in der Frankfurter  Rundschau: »Die aktuelle politische Grundlinie der SPD, die die neue Konfrontationsstrategie derRegierung Kohl nun voll annehmen will, ist in der Fraktion breit akzeptiert. Lafontaines Umorien-tierung in der Standort-Diskussion, mit der der Parteichef vom begonnenen sozialpolitischenDumpingwettbewerb der Nationalstaaten wegführen will, wird bei Parteilinken als die zentraleKonsequenz des Führungswechsels von Scharping zu Lafontaine gefeiert. Die SPD will sich jetzt

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stärker von den neoliberalen Denkansätzen abgrenzen und damit auch wieder Identität schaffen.Allerdings: Das programmatische Kunststück, der Bonner Koalition dabei nicht in eine andere Falle zugehen und als unmodern vorgeführt zu werden, steht erst noch bevor.« Die Medien spielten immer noch eine andere Melodie. Über den Weltwirtschaftskrieg zu schreibenund Stories darüber zu verfassen, wer diesen Krieg wie gewinnen würde, das war viel spannender, alssich mit nüchternen Zahlen auseinander zusetzen und zu der Einsicht zu kommen, dass vielewirtschaftliche Fehlentwicklungen wirklich hausgemacht waren. Lustigerweise warfen uns dieangebotspolitisch orientierten Teilnehmer an der öffentlichen Diskussion vor, die verstaubten Rezepteder siebziger Jahre zu propagieren. Ging doch ihr Credo, jedes Angebot schaffe auch seine Nachfrage,auf den französischen Theoretiker Jean Baptiste Say zurück. Er wurde am 5. Januar 1767 in Lyongeboren und ist am 15. November 1832 in Paris gestorben. Da ich auf empirische Fakten und weniger auf Glaubensbekenntnisse setze, hielt ich denselbsternannten »Modernisierern« immer entgegen, sie könnten sich glücklich preisen, wenn wir heutedie Arbeitslosenzahlen der siebziger Jahre hätten. Arbeitslosenzahlen sagen nämlich viel über dieWirtschafts- und Finanzpolitik aus. Wenn die Arbeitslosenzahlen immer weiter ansteigen, ist die Wirt-schafts- und Finanzpolitik falsch. Alles andere ist ideologisches Geschwätz, das nur noch denen leichtüber die Lippen geht, die von der Arbeitslosigkeit nicht betroffen sind oder sich in einem bestehenden

Wirtschaftssystem mit Unterbeschäftigung gut eingerichtet haben. 

Wer wie ich der Ansicht ist, dass die Nachfrage eine entscheidende wirtschaftliche Größe sei, wurdeals Keynesianer abgetan. Aber viele, die über Keynes urteilen, haben keine Zeile des britischenNationalökonomen gelesen. Zu Juso-Zeiten spotteten wir über den einen oder anderen, der Marxallenfalls von Klappentexten oder aus der Sekundärliteratur kannte. Auch John Maynard Keyneserfährt eine ähnliche Rezeption. Seine Lehre wird in der öffentlichen Debatte auf die These reduziert,der Staat müsse Schulden machen, um die Wirtschaft anzukurbeln, nach dem Motto »Wir buddeln einLoch und graben es anschließend wieder zu«. Dieses »deficit spending« ist nach Meinung der meistendie Quintessenz bei Keynes. Dabei hätte schon ein Blick auf den Titel seines Hauptwerks zu derErkenntnis führen müssen, dass Keynes nicht über die Theorie der Beschäftigung und »deficitspending« geschrieben hatte, sondern über »Die allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses unddes Geldes«. Das heißt, Keynes wies der Geldpolitik eine zentrale Bedeutung bei der Bekämpfung der

Arbeitslosigkeit zu - eine Auffassung, die von einigen amerikanischen Nobelpreisträgern derÖkonomie und P. Krugman geteilt wird.  Krugman schreibt: »Ungefähr alle sechs Wochen tritt der Offenmarktausschuss zusammen, um überden Zielkorridor für die US-Zinssätze zu beschließen. Diese Entscheidungen besitzen eine viel größereAuswirkung auf die Arbeitslosenquote als jede Außenhandelspolitik. Außerdem stellen sie eineReaktion auf die wirtschaftlichen Gegebenheiten dar. Die Entscheidung zur Erhöhung oderAbsenkung der Zinssätze beruht auf einer Abwägung zwischen dem Wunsch, die Beschäftigungslagezu verbessern (Gas zu geben, um möglichst rasch zum Ziel zu kommen), und der Angst, dadurch dieInflation anzuheizen (Gefahr eines Strafzettels). Die Fed verkalkuliert sich dabei häufig, so dass amEnde mehr Inflation oder weniger Beschäftigung als vorgesehen herauskommt. Doch so oder so - obrichtig oder falsch - zählen die Maßnahmen der Fed zu den wichtigsten Einflussfaktoren im Hinblickauf das Beschäftigungswachstum in den USA.« 

Die Auflassung, dass die Entscheidungen der Zentralbank /u den wichtigsten Einflussfaktoren imHinblick auf das Beschäftigungswachstum zählen, ist das genaue Gegenteil der momentanvorherrschenden europäischen Ideologie. Diese basiert auf folgendem, völlig veraltetemSchubladendenken: Die Geldpolitik sei für die Preisstabilität zuständig, die Lohnpolitik für denBeschäftigtenstand und der Staat für Rahmenbedingungen, die die Wirtschaft nicht behindern sollten.Diese Sichtweise ist einfach und gefällig, und zu ihrer Verbreitung trugen im wesentlichenZentralbanker bei. Wer ärgert sich nicht schon mal über den Staat, und wem gefällt dann nicht diePlattitüde, der Staat solle sich möglichst aus der Wirtschaft heraushalten? In einer Zeit aber, m dervernetztes Denken und Handeln als unverzichtbar gelten, um die Herausforderungen der Zukunft zubewältigen, ist merkwürdigerweise in der Wirtschaftspolitik noch Schubladendenken angesagt. DieBundesbank pries ihre Stabilitätskultur und war stolz darauf, dass sie sich im Vertrag von Maastrichtniederschlug. Übersehen wurde und wird aber, dass diese Stabilitätskultur der Bundesbank dieHauptursache für die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland und Europa ist. Es ist noch nicht klar, obdie europäischen Zentralbanker diese falsche Ideologie weiterhin zur Grundlage ihrer Entscheidungenmachen. Auf jeden Fall aber möchte sich der Zentralbankrat weiterhin in alle öffentlichen Ange-

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legenheiten einmischen, in die Haushaltspolitik, die Steuerpolitik, die Sozialpolitik, die Tarifpolitikusw. Aber wehe, es wagt einer, sich in die Angelegenheiten des Zentralbankrats einzumischen. Diesesvordemokratische Verständnis der Geldpolitik in Europa erschwert eine rationale Wirtschaftspolitik.Wird an diesem Privileg gekratzt, so ruft dies auch noch pubertäre Trotzreaktionen der Zentralbankerund ihrer gläubigen Anhängerschaft hervor. Dabei wurde der ideologische Beton doch schon imMaastricht-Vertrag aufgeweicht: Der Geldpolitik wird hier auch die Aufgabe zugewiesen, Wachstumund Beschäftigung zu fördern, sofern keine Inflationsgefahr besteht. In Artikel 105 des Maastricht-Vertrags heißt es: »Das vorrangige Ziel des ESZB ist es, diePreisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilitätmöglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft, um zur Ver-wirklichung der in Artikel 2 festgelegten Ziele der Gemeinschaft beizutragen.« Aufgabe derGemeinschaft ist es nach Artikel 2 »... ein hohes Beschäftigungsniveau und ein hohes Maß ansozialem Schutz, die Gleichstellung von Männern und Frauen, ein beständiges, nichtinflationäresWachstum, einen hohen Grad von Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz der Wirtschaftsleistungen,ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität, die Hebung derLebenshaltung und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und dieSolidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern«. 

Aber die vorherrschende Meinung der Zentralbanker ist nach wie vor: Wir sind für dieGeldwertstabilität zuständig, basta! Da der Abbau der Arbeitslosigkeit zentrales Anliegen einersozialdemokratischen Bundesregierung ist, musste ich dieser ideologischen Borniertheit den Kampf ansagen. Dass dabei die »Glaubensgemeinde« über mich herfallen würde, hatte ich einkalkuliert. Sohabe ich unmittelbar nach meinem Amtsantritt als Finanzminister die Forderung nach Zinssenkungenwiederholt, um Wachstum und Beschäftigung in Europa in Gang zu bringen. Dabei wurde ich voneiner Reihe von europäischen Finanzministern unterstützt. Auf einem Gipfeltreffen in Pörtschach imHerbst 1998 waren sogar die europäischen Regierungschefs mutig geworden. Sie erklärten den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zu ihrem Hauptanliegen. Für dieses Ziel, so meldete die Nachrichtenagentur Reuters, scheuten sie sich nicht, bei den Zentralbanken um eine Senkung der Zinsen anzuklopfen auchwenn ihnen dies, wie sie selbst einräumten, gar nicht zustünde. Schwedens Ministerpräsident GoranPersson schwärmte, Europa sei nach links gedriftet. Und Reuters meldete, auch Gerhard Schröder

habe die Parteikollegen nicht enttäuscht. In einer Rede vor einer dichtgedrängten Menge vonJournalisten machte er sich für gemeinsame Anstrengungen der Europäischen Union gegen dieArbeitslosigkeit stark und wetterte gegen überzogenes Spekulantentum auf den internationalenFinanzmärkten. Dass damit ganze Volkswirtschaften zerstört würden, sei nicht zu akzeptieren. TonyBlair sagte, die Risiken der internationalen Finanzkrisen sollten mit einer gemeinsamen Strategie be-grenzt werden. Die Europäische Union müsste auch in den internationalen Finanzorganisationengeeignete Maßnahmen ergreifen. Das Risiko sei derzeit nicht die Inflation, sondern die schwacheNachfrage. Darüber müsse mit den nationalen Notenbanken und der Zentralbank geredet werden.Auch Massimo d'Alema forderte massiv eine Zinssenkung. Ich konnte also zu dieser Zeit davonausgehen, dass meine Appelle an die Notenbanken und die europäische Zentralbank, die Zinsen zusenken, von der Mehrheit der europäischen Regierungschefs unterstützt wurden.Claus Noe hatte, als er noch nicht Staatssekretär war, einen polemischen Aufsatz geschrieben, der in

der Zeit veröffentlicht wurde, als er bereits Staatssekretär war. Darin hieß es: »Nun behauptetTietmeyer, der Euro sei entpolitisiertes Geld<, denn die Europäische Zentralbank werde >bewusstunabhängig von politischen Einflüssen der Regierungen, der Parlamente und europäischenInstitutionen operieren<... Selbstverständlich gehört Geldpolitik in den öffentlichen Raum. Jeder magsich dort äußern - der eine besser leise, der andere forscher. Es dient dem Ansehen derWährungsbehörden nicht, wenn manche zum Schweigen raten: Öffentliche Aufforderungen, Zinsen zusenken oder zu erhöhen, würden die Zentralbanker mit Nichtstun beantworten - um zu zeigen, wieeigenmächtig sie seien. Das schmeckt nach Trotz und der Bereitschaft, Sachgerechtes nicht zu tun,weil andere es öffentlich verlangt haben. Autonom handeln heißt, die als richtig erkannteSachentscheidung zu treffen. Niemand kann Notenbanker absetzen. Das ist ihr Privileg. Dafür haben sie, bitte schön, öffentlichRede und Antwort zu stehen. Nur wer sich für unfehlbar hält, kann glauben, dass der öffentlicheDiskurs nicht der Erkenntnis diene.« Das war eine Polemik, die Tietmeyer und seine Kollegen alsBeweis dafür ansahen, dass ihre Unabhängigkeit bedroht sei.  

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Und dann passierte etwas, was das deutsche Gemüt so richtig in Wallung brachte. Meine Frauplädierte in einer Talk-Show ebenfalls für Zinssenkungen und wies darauf hin, dass die Kehrseite derUnabhängigkeit der Notenbank ein Mangel an demokratischer Kontrolle und Rechenschaftspflicht sei.Nun gab es kein Halten mehr. Was fiel der Frau des Finanzministers ein, sic h in die Angelegenheitender Geldpolitik einzumischen? Unausgesprochen lag vielen kritischen Kommentaren das Vorurteilzugrunde, Ehefrauen von Ministern hätten sich aus öffentlichen Angelegenheiten gefälligstherauszuhalten - auch dann, wenn sie jahrelang auf dem Gebiet, für das ihr Mann ministerielleVerantwortung trägt, gearbeitet haben. Mein Charakterbild schwankte nun mächtig in derveröffentlichten Meinung: War ich vor dem Wahlsieg der große Integrator und während derKoalitionsverhandlungen der große Diktator, so war ich jetzt der große Pantoffelheld.  Der öffentliche Chor, der dem Bundesfinanzminister vorwarf, sich in inkompetenter Weise in dieGeldpolitik einzumischen, wurde immer lauter. Sacheinwände waren nicht zu hören, aber dreiMeinungen, besser Vorurteile, dominierten: 

1. Die Politik hat gefälligst keine Aussagen zur Geldpolitik /u machen und sich nicht einzumischen.Vergessen waren die Zeiten, in denen Ludwig Erhard und Karl Schiller als Wirtschaftsminister ihrVeto gegen die Leitzinserhöhung der Bundesbank eingelegt hatten. Ein solches Veto hat

aufschiebende Wirkung. 

2. Jetzt werden es die Zentralbanker dem Lafontaine einmal zeigen, denn sie lassen sich in ihreAngelegenheiten nicht hineinreden. Wer diese Meinung vertrat, behandelte die Zentralbanker wieKleinkinder, nach dem Motto: Wenn jemand eine richtige Forderung stellt, wird dieser Forderungnicht nachgegeben, um ja nicht als abhängig /u gelten.  3. Politik des »lockeren Geldes« kann ohnehin nicht dazu beitragen, Wachstum und Beschäftigunganzukurbeln. Diese Meinung steht im krassen Gegensatz zur amerikanischen Auffassung.

Auch in Deutschland ging der wirtschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft 1983noch davon aus, - dass die Geldpolitik einen wichtigen beschäftigungspolitischen Beitrag leisten kannund leisten muss«. Zur Lösung der Arbeitsmarktprobleme plädierte er für eine Konsenslösungzwischen den gesellschaftlichen Gruppen. Aber während sich die USA - nach der negativen Erfahrung

mit Hochzinspolitik und hartem Dollar Ende der achtziger Jahre - von der monetaristischenGeldpolitik verabschiedeten, hielten die europäischen Zentralbanken daran fest. Dementsprechendsanken die Arbeitslosenzahlen in den USA, während sie in Europa immer weiter anstiegen. GeorgeSoros schreibt: »In der Praxis hat der Monetarismus relativ gut funktioniert, aber vor allem deshalb,weil man die Theorie ignorierte.... Die Bundesbank hegt jedoch nach wie vor die Illusion, es genüge,sich ausschließlich an monetären Kernzielen zu orientieren. Im Gegensatz dazu ist die amerikanischeZentralbank eher agnostisch und gesteht offen ein, dass Geldpolitik eine Sache des Urteilsvermögenssei.« 

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 Steuersenkungswettlauf

Neben dem Standortgerede und der ideologisch verhärteten Geldpolitik stand die Steuerpolitik imZentrum der wirtschaftlichen Debatte. Die Steuerpolitik sollte zu einer Auseinandersetzung zwischender Regierung Kohl und der SPD führen, die große Bedeutung für den Gewinn der Regie -rungsmehrheit im Jahre 1998 hatte. Der populäre Politiker verspricht dem Volk mannhaftSteuersenkungen, da jeder eine solche Botschaft gern hört. Oft steht die Wirklichkeit solchenVersprechungen aber entgegen. So erfuhren beispielsweise George Bush, John Major, Jacques Chiracund Helmut Kohl, dass leichtfertige Steuersenkungsversprechen vor der Wahl in Steuererhöhungennach den Wahlen endeten - was ihre Glaubwürdigkeit bei der Wählerschaft untergrub. Die FDPvermittelte den Eindruck, als fiele ihr außer Steuersenkungen nichts mehr ein. Auch das Leiden vielerJournalisten an ihren Steuersätzen führte dazu, dass die Forderung nach Steuersenkungen täglichwiederholt wurde. Dabei werden vor allem die USA immer als Vorbild hingestellt. Aber auch dasstimmt nicht. Im Juli 1999 offenbarte uns die FAZ: Der Gehaltsvergleich zweier Ingenieure zeige, dassdie Abgabenbelastung in den USA höher sei. Dem amerikanischen Ingenieur bliebe nach allenAbzügen weniger als die Hälfte seines Bruttoeinkommens. Der deutsche Ingenieur behielte nachAbzügen und Zulagen zwei Drittel seines Einkommens für sich. Wer hätte das gedacht? Hinzu kamder Wunsch, das Steuerrecht zu vereinfachen. Das Motto war: Steuervergünstigungen streichen,Steuersätze runter, um mehr Steuergerechtigkeit zu erreichen. Eine Kommission unter der Leitung vonProf. Bareis hatte im Jahr 1994 den Vorschlag gemacht, die Steuersätze zu senken und Steu-ersubventionen zu streichen. Immer wieder trieben wir die Koalition aus CDU/CSU und FDP mit derForderung vor uns her, auf das Bareis - Gutachten zurückzugreifen und ein entsprechendesSteuergesetz vorzulegen. Ich wusste um die Schwierigkeiten, die mit einem solchen Steuergesetz ver-bunden waren. Es machte mir aber Vergnügen, die Regierungsparteien mit ihren eigenen Parolen und

Versprechungen in Verlegenheit zu bringen. Theo Waigel hatte die Fallstricke erkannt, die mit demVorschlag der Bareis - Kommission verbunden waren, und wollte eine solche Steuerreform nicht inAngriff nehmen. Innerhalb der CDU/CSU setzte sich aber vor allem Wolfgang Schäuble durch, derzusammen mit der FDP das »Petersberger Modell« vorlegte. Dieses Modell war unseriös, da es eineLücke, je nach Schätzung, von 30 bis 50 Mrd. DM aufwies. Das »Petersberger Modell« sah auch eineMehrwertsteuererhöhung vor. Dieser Sachverhalt war den Koalitionsparteien vor der Bundestagswahlunangenehm. Also bestritten sie während des Wahlkampfs ihre wahren Absichten. Zu allem Unglückverplapperte sich die Familienministerin, Claudia Nolte, kurz vor der Wahl und erinnerte noch einmalan die geplante Mehrwertsteuererhöhung. Durch ihre Wahrheitsliebe zur falschen Zeit zog sie sich denZorn ihrer Parteifreunde zu.  Die Petersberger Steuerreformer hatten uns zwei wunderbare Vorlagen geliefert. Sie hatten keineEinzelfallberechnung gemacht. Daher war es ihnen entgangen, dass eine  ganze Reihe von

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern - insbesondere Schicht - und Facharbeiter, Busfahrer undKrankenschwestern - bei diesem Steuerreformvorschlag zu den Verlierern gehörten. Und sie wollteneine Reihe von sehr populären Steuersubventionen streichen. Darunter die Kilometer-Pauschale, dieArbeitnehmer-Pauschale und die Steuerfreiheit der Nacht-, Schicht- und Wochenendarbeit. Ebensobeabsichtigten sie, die Versicherungen und die höheren Renten zu besteuern. Das Petersberger Modellbot uns eine hervorragende Möglichkeit, bei unserer Stammwählerschaft die Regierung Kohlvorzuführen. Die Koalitionsparteien gerieten sichtbar in die Defensive. Intelligenterweise konterten siemit der Aufforderung an die SPD, ein eigenes Steuerkonzept vorzulegen, eine Forderung, die sich dieÖffentlichkeit sehr schnell zu eigen machte. Wir reagierten: Ich gab die Devise aus, dass sich unserVorschlag an den Petersberger Konzepten orientieren solle. Gleichzeitig nahmen wir dieGrausamkeiten gegenüber den Arbeitnehmern .ins unserem Steuerkonzept heraus und achteten darauf,dass die Finanzierung unseres Steuerkonzepts seriöser war als die der Koalitionsparteien. 

Im nachhinein sehe ich es als einen Fehler an, dass wir uns an dem Petersberger Modell orientierthatten. Das deutsche Steuerrecht war auf eine solch unglaubliche Art und Weise verkompliziertworden, dass von Steuergerechtigkeit wirklich nicht mehr die Rede sein konnte. Wir brauchten eine

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Steuerreform, die das Steuerrecht so radikal vereinfacht, dass es jeder versteht. Aber die öffentlicheDebatte ließ es ratsam erscheinen, dem Petersberger Konzept der Regierung Kohl ein SPD-Konzeptgegenüberzustellen, das ähnliche Strukturen aufwies, aber gleichwohl, für jeden überprüfbar, deutlichvom Konzept der Koalition abwich. Am 14. Februar 1997 wurde mein Sohn Carl Maurice geboren. Da ich hochgradig erkältet war, konnteich nicht im Krankenhaus sein. Ich hatte Angst, Kind und Mutter anzustecken. Gerade hatte ich diefreudige Nachricht aus dem Krankenhaus erfahren, da klingelte das Telefon. Helmut Kohl war amApparat. Er wurde unfreiwillig zum ersten Gratulanten zur Geburt meines Sohnes. Er lud zu Parteien-gesprächen über das Steuerreformgesetz ein, da er wusste, dass die SPD-geführten Landesregierungenim Bundesrat einem wie auch immer gearteten Steuergesetz zustimmen mussten. Es war aber einunentschuldbarer Fehler der Regierung Kohl gewesen, diese Abstimmung nicht im Vorfeld, auf demüblichen vertraulichen Weg, versucht zu haben. Die Bereitschaft bei uns, ein Steueränderungsgesetzzu verabschieden, war sehr groß. Insbesondere die »Modernisierer« in der SPD waren gewillt,Steuervorschläge der Wirtschaftsverbände zu übernehmen. Durch die Veröffentlichung desPetersberger Konzepts aber, ohne Abstimmung mit dem Bundesrat, hatte sich die Regierung Kohl ineine schwierige Lage manövriert. Wir konnten publikumswirksam unser Konzept dagegen halten. Eswar, angefangen von der Erhöhung des Kindergelds über die Absenkung des Eingangssteuersatzes und

die Vermeidung der vielen Grausamkeiten gegenüber der Arbeitnehmerschaft, weitaus populärer alsdas Konzept der Koalition. Ich war fest entschlossen, nur dann einem Steuerkompromisszuzustimmen, wenn wesentliche Forderungen der SPD nach mehr Steuergerechtigkeit erfüllt würden.Bei den Verhandlungen musste ich ständig aufpassen, dass unsere Verhandlungskommission, daswaren Rudolf Scharping, Heinz Schleußer und Henning Voscherau, der anderen Seite nicht zu weitentgegenkam. Ich legte, um sicherzugehen, den Parteivorstand auf unser Steuerkonzept fest. ImStreitfall hätte ich den Parteitag einberufen, um ein starkes Abweichen von diesem Konzept zuverhindern. Insbesondere der Fraktionsvorsitzende Scharping war immer wieder versucht, der CDUsteuerpolitisch sehr weit entgegenzukommen. Von der Presse und den Koalitionsparteien wurde erdafür gelobt. Ich setzte aber darauf, dass sich unser steuerpolitisches Profil der sozialen Gerechtigkeitdurchsetzen würde, und war nicht bereit, einem Steuerkonzept zuzustimmen, das in wesentlichen Tei-len auch noch die Handschrift der FDP trug.  

Meine Rechnung ging auf. Die CDU/CSU konnte sich aus der Umklammerung der FDP nichtbefreien. Meinungsbefragungen zeigten, dass unsere Steuerpolitik deutlich populärer war. DieAuseinandersetzungen hatten für die Regierung Kohl eine unangenehme Begleiterscheinung. Siewollte sich vor den Wahlen als Regierung der inneren Reformen profilieren. Die Bürgerinnen undBürger erfuhren aber über die Auseinandersetzungen um die Steuerpolitik, dass diese Regierung eine»lame dug« war - eine lahme Ente. Unabhängig vom Scheitern der Steuerreform herrschte in der Steuerpolitik der letzten Jahre hektischeBetriebsamkeit, in der wir Sozialdemokraten teilweise mitgewirkt hatten. Eine der Ursachen für diesehektische Betriebsamkeit war der internationale Steuersenkungswettlauf. Nach jedem Zug einesvermeintlichen Wettbewerbers sahen sich die anderen Staaten Forderungen ausgesetzt, ähnlicheSteuersenkungsbeschlüsse herbeizuführen. So habe ich im Zug der innerparteilichen Diskussion auf Drängen der »Modernisierer« zugestimmt, die Gewerbekapitalsteuer und die betriebliche

Vermögensteuer abzuschaffen, obwohl diese Maßnahme für Klein- und Mittelbetriebe nicht greifenkonnte, da sie aufgrund der hohen Freibeträge kaum zu solchen Steuern herangezogen wurden. Nachder gewonnenen Bundestagswahl machten wir den Fehler, die Hektik in der Steuerpolitik durch denengen Zeitplan fortzusetzen. Nach meinem Rücktritt war es dann wieder wie in den schlimmstenZeiten der Regierung Kohl. Fast täglich versuchten Steuerpolitiker aller Parteien mit neuenVorschlägen auf sich aufmerksam zu machen.  Neben der großen Steuerreform war die ökologische Steuer und Abgabenreform ein zentrales Projektsozialdemokratischer Politik. Hier ging es nicht, wie bei der großen Steuerreform, um mehrSteuergerechtigkeit, sondern darum, ein Steuerrecht, das sich über viele Jahrzehnte so entwickelt hatte,wie es war, dem Erfordernis des Umweltschutzes anzupassen. Dabei war zu beachten, dass derBenzinpreis -relativ zu vielen anderen Preisen - gefallen war. Auf der anderen Seite aber war derBenzinpreis, wie Gerhard Schröder es immer wieder formulierte, so etwas wie der Brotpreis desVolkes. An der Benzinsteuer herumzufummeln war immer unpopulär. Um die Arbeitnehmerschaft füreine solche Änderung des Steuersystems zu gewinnen, suchten wir nach einem Weg, die Vorteile einersolchen Veränderung deutlich zu machen. Es gab zwei Möglichkeiten: einmal gleichzeitig

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Steuersenkungen bei der Lohn- und Einkommensteuer, die den Arbeitnehmern zugute kamen, zumändern gab es die Möglichkeit, die ärgerlich hohen Sozialbeiträge herabzusetzen. Nachdem wir uns1990 noch für direkte Steuersenkungen entschieden hatten, nahmen wir nun ins Programm auf, dieSozialversicherungsbeiträge gleichzeitig mit der Einführung der Öko-Steuer zu senken. Das Projektwar dennoch unpopulär, und insbesondere unsere »Modernisierer« taten sich immer wieder hervor, inInterviews den Nutzen der Steuer- und Abgabenreform in Frage zu stellen.  Überhaupt ist das Wort »Modernisierung« oder »Moderne« zu einem Modebegriff verkommen, unterdem sich jeder alles vorstellen kann. Versucht man herauszufiltern, was diejenigen, die heute als»Modernisierer« gelten, unter »Moderne« verstehen, so ist das nichts anderes als die ökonomische undgesellschaftliche Anpassung an die vermeintlichen Zwänge der Globalisierung. Der Begriff der»Moderne« wird auf ökonomische Kategorien verkürzt. Die Angelsachsen haben keinenKündigungsschutz, also sind wir modern und bauen den Kündigungsschutz ab. In vielen Ländernwerden soziale Leistungen gekürzt, also sind wir modern und kürzen auch soziale Leistungen. Invielen Ländern werden Unternehmenssteuern gesenkt, weil sonst die Unternehmer weglaufen undirgendwo anders hingehen, Also sind wir modern und senken die Unternehmenssteuern. DieAmerikaner haben kaum eine Beschränkung bei der Gentechnik, also sind wir modern, übersehen dieRisiken und heben Beschränkungen beim Einsatz der Gentechnik auf. Diese Beispiele ließen sich

beliebig fortsetzen. Modernität ist zur schlichten Anpassung an wirtschaftliche Zwänge verkommen.Die Frage, wie wir zusammenleben wollen, welche Gesellschaft wir wollen, ist schon unmodern undwird gar nicht mehr gestellt. Der Begriff der »Moderne« ist für die Sozialdemokraten aber ein ganz anderer. Er hat nichts zu tunmit bloßer Anpassung an wirtschaftliche Zwänge. Er steht in der Tradition der Aufklärung und stelltauf die Freiheit des einzelnen ab. Modern im Sinne des sozialdemokratischen Begriffs ist jedeStrukturreform, die die Freiheit des einzelnen fördert, das heißt Abhängigkeiten abbaut undEntscheidungsspielräume neu eröffnet. Würde die SPD einen Modernitätsbegriff übernehmen, derletztendlich Anpassung und damit Verzicht auf politische Gestaltung meint, dann würde sie sich selbstaufgeben.

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Die Wahlkampagne

Als wir uns im kleinen Kreis - der Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering und ich mit unserenMitarbeiterinnen und Mitarbeitern - darüber unterhielten, wie wir die Wahlkampagne anlegen sollten,befanden wir uns in einer denkbar ungünstigen Situation: Die Partei war bei Meinungsumfragen in denKeller gerutscht, galt als veraltet und reformunwillig. Kurzum, wir hatten ein ziemlich graues Image.Neben der inhaltlichen Erneuerung, die notwendig war, weil die Partei mehr und mehr ihrsozialdemokratisches Profil verloren hatte, musste das Erscheinungsbild der alten Tante SPDaufgefrischt werden. Ein wichtiges Anliegen war es mir, die Jungsozialisten und die jungen Leute fürunsere Wahlkampagne zu gewinnen. Die SPD hatte in den Jahren zuvor den Fehler gemacht, dieJungsozialisten allzu sehr zu vernachlässigen. Die Parteivorsitzenden waren gar nicht erst auf derenKongressen erschienen. Ein wirklicher Dialog mit ihnen fand nicht statt. Das war erstaunlich, weilsich die platte Einsicht, dass ohne die Jugend die Zukunft nicht zu gewinnen sei, auch in denFührungsgremien der großen Volksparteien herumgesprochen haben sollte. 

Unmittelbar nach meinem Amtsantritt nahm ich also das Gespräch mit den Jungsozialisten auf. Es warein Glücksfall, dass mit Andrea Nahles eine junge Frau an die Spitze der Jungsozialisten gerückt war,die ein starkes politisches Engagement auszeichnet. Darüber hinaus war sie ein neues Gesicht, dasfrischen Wind in die SPD brachte. Natürlich beschäftigten sich die Jungsozialisten schwerpunktmäßig mit dem Thema derJugendarbeitslosigkeit. Sie hatten Vorschläge entwickelt, wie der Mangel an Ausbildungsplätzenabgebaut werden könnte. Von Betrieben, die nicht ausbilden, forderten sie eine Umlage, um damit jene Betriebe zu unterstützen, die der gesellschaftlichen Aufgabe der Ausbildung junger Menschennachkommen. »Wer nicht ausbildet, wird umgelegt«, hieß ihre Parole. Zusätzlich warben sie, ebensowie die Bundestagsfraktion, dafür, ein Hunderttausend - Arbeitsplätze - Programm für Auszubildendeund jugendliche Arbeitslose direkt nach der Bundestagswahl aufzulegen. Um der Öffentlichkeitbewusst zu machen, dass die Mitarbeit junger Leute in unserer Partei erwünscht und die Beteiligung

an ihren Entscheidungen kein Lippenbekenntnis ist, veranstalteten wir am 25. November 1996 in Kölneinen Jugendparteitag. Bei den Vorbereitungen zu dieser Veranstaltung standen sich »Traditionalisten« und »Modernisierer«gegenüber, aber die Rollen waren vertauscht. Es bereitete mir Vergnügen, in doppelter Weise alsModernisierer tätig zu werden, Franz Müntefering hatte für den Ablauf des Parteitags einen ziemlichbraven Vorschlag gemacht. Als Hauptredner waren neben mir Johannes Rau und Franz Münteferingvorgesehen. Ich widersprach ihm und argumentierte, dass wir drei sicherlich noch jugendfrischdaherkämen, dass sich der Durchschnittsbürger aber unter »Jugend« etwas anderes vorstelle. MeineIdee war, die Juso-Vorsitzende Andrea Nahles sollte gleichberechtigt mit dem Parteivorsitzenden einHauptreferat auf dem Parteitag halten, und zwar gleich zur Eröffnung. Das hatte es nun tatsächlich inder SPD noch nicht gegeben. Ich erntete zunächst Stirnrunzeln bis hin zu offener Ablehnung. Nacheiniger Zeit wurde mein Vorschlag dann doch akzeptiert. 

Franz Müntefering und ich hatten uns darüber hinaus verständigt, das äußere Erscheinungsbild desParteitags zu erneuern. Franz Müntefering hatte die gute Idee, Studentinnen und Studenten desFachbereichs für Design der Fachhochschule Köln zu engagieren. Den für einen SPD-Parteitag völligneuen Rahmen fand ich sehr gelungen.  Am Vorabend ließ ich es mir nicht nehmen, mit einer Gruppe junger Leute auf einer Bühne einenTechno-Tanz aufs Parkett zu legen. Dieser Auftritt war ein gefundenes Fressen für die Fotografen,wirkte ich doch mit meinen grauen Haaren und meiner Leibesfülle leicht deplaziert. Die spöttischenKommentare, die die Selbstironie meiner Verrenkungen geflissentlich übersahen und mir noch nichteinmal positiv anrechneten, dass ich versucht hatte, mich rhythmisch zu bewegen, waren dazu angetan,mein Selbstbewusstsein zu beschädigen.  Es freute mich sehr, dass auch die anreisenden Delegierten am neuen Parteitagsdekor Gefallen fanden.Der Parteitag verlief nach unseren Vorstellungen. Andrea Nahles, in schwarzer Lederjacke, hielt einekämpferische Rede, die mit viel Beifall aufgenommen wurde. Ihr Gesicht war am anderen Tag in allendeutschen Zeitungen. Der Parteitag debattierte heftig über die Ausbildungsplatzabgabe. InsbesondereGerhard Schröder und Wolfgang Clement, die »Modernisierer« und Freunde der Wirtschaft, waren

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gegen diese Abgabe. Ich akzeptierte die mangelnde Bereitschaft vieler Betriebe, ihrergesellschaftlichen Verpflichtung nachzukommen, nicht und befürwortete deshalb eine Abgabe. Ichwar auch der Meinung, dass es sich hier um eine strategische Weichenstellung für denBundestagswahlkampf handelte. Die aktiven Jugendlichen, insbesondere die Jugend in denGewerkschaften und die Jugend der Kirchen und der Verbände, mussten für unsere Kampagnegewonnen werden. Das ging nur über Inhalte, das heißt über die Entscheidung, dieAusbildungsplatzabgabe ins Regierungsprogramm der SI'D zu übernehmen. Dabei stellten wir klar,dass diese Abgabe nur im Fall des Ausbildungsplatzmangels erhoben werden sollte. Andersausgedrückt: Die Wirtschaft hatte die Chance, durch die Bereitstellung von genügend Ausbil-dungsplätzen die Abgabe obsolet zu machen. Der Parteitag summte mit überwältigender Mehrheitdiesem Programmpunkt zu. Die Jungsozialisten hatten sich durchgesetzt. Nach dem Beschluss gingen erstmals La-Ola-Wellendurch den Parteitag, an denen sich zunächst die jugendlichen Delegierten, dann aber mehr und mehrdie älteren Parteifreunde beteiligten. Ich selbst war mit diesem Ergebnis sehr zufrieden. Es war vonentscheidender Bedeutung, dass die Parteijugend die Politik mitgestaltet hatte. Einmal in Fahrt gekommen, begannen wir, das öffentliche Erscheinungsbild der Partei weiteraufzupolieren. Dafür musste eine gute Werbeagentur gefunden werden. Die SPD hatte über eine Reihe

von Jahren die Agentur RSCG, Butter und Rang als Hausagentur verpflichtet. Natürlich nutzen sichdie Bilder, die die Agenturen für die Parteien entwickeln, im Lauf der Zeit ab. Mit Franz Münteferingwar ich daher EINig, eine neue Agentur zu beauftragen. Wir forderten mehrere Agenturen auf, einAngebot zu unterbreiten. Eine Agentur hatte ihr Werbekonzept deutlich auf meine Person zuge-schnitten. In der Werbekampagne dominierten soziale und ökologische Motive. Mir selbst war diesesKonzept sehr sympathisch. Aber ich hatte schon längst entschieden, meine eigenen Interessen imInteresse des Wahlerfolgs zurückzustellen. Die erfolgreiche Agentur KNSK BBDO, Hamburg stellte ein Werbekonzept vor, das deutlich auf denKandidaten Gerhard Schröder zugeschnitten war. Im Mittelpunkt stand der Kandidat, der bei derVorstellung des Konzepts durch den Schauspieler Michael Douglas dargestellt wurde. Ich bin nichtsicher, ob Franz Müntefering das bemerkte. Auf jeden Fall plädierten wir gemeinsam für dieseAgentur, da wir beide den Ablauf der Wahlkampagne schon im Hinterkopf hatten. Der Agentur gelang

es, durch eine Anzahl witziger Plakate, die teilweise an bekannte Kinoplakate anknüpften, schnell dieAufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen. Neben frischen Werbeanzeigen kam es vor allemdarauf an, während der Wahlkampagne über die Fernsehbildschirme das neue Gesicht der SPD zuzeigen. Wir wandten für diese Präsentation erheblich mehr Geld auf als die konkurrierendeCDU/CSU. So wie der Wahlkampf angelegt war, war Gerhard Schröder der ideale Kandidat. SeinAuftreten passte nahtlos zur Kampagne und wurde von der Öffentlichkeit mit großer Zustimmungaufgenommen. Mit Helmut Kohl sah die Konkurrenz bei der Präsentation ihrer Veranstaltungenwesentlich schlechter aus. Ich bin zwar nicht der Meinung, dass eine Wahlkampagne durch ihr Design die Wahl entscheidenkann. Ohne die Bereitschaft zum Wechsel nützt die beste Kampagne nichts. Doch wenn dieBereitschaft zum Wechsel vorhanden ist, kann die Art der Kampagne den Wunsch, eine neue Regie-rung zu wählen, verstärken. Das war unser Ziel, und rückblickend kann gesagt werden, dass wir dieses

Ziel erreicht haben.  Unser Wahlkampf stand unter dem Motto »Die neue Mitte«, ein Begriff, den Willy Brandt im Oktober1972 eingeführt hatte: »Dort, wo die Einsicht in die Notwendigkeit ... vom Bewahren durchVeränderung verstanden worden ist, dort ist die neue politische Mitte.« Gerhard Schröder und ichhatten gemeinsam dafür plädiert, bevor die Kandidatenfrage entschieden war. Gerhard Schröderbefand sich sowieso nach Meinung der Öffentlichkeit in der »neuen Mitte«, und im Fall meinerNominierung hätte der Slogan mitgeholfen, mein Image dort aufzubessern, wo es in der öl (entliehenWahrnehmung Schwachstellen hatte. Zuvor hatten wir in Hannover schon den Slogan »Die neueKraft« getestet. Wir mussten aber feststellen, dass dies auch ein Werbespruch der Firma Siemens war.»Die neue Kraft« wurde Sinnens überlassen, und wir blieben bei »Die neue Mitte«. Franz Müntefering hatte vorgeschlagen, die SPD solle den Begriff »Innovation« besetzen, und dieWerbefachleute hatten ausgetestet, dass dieser Begriff bei der Bevölkerung sehr gut ankam. Mit demBegriff »soziale Gerechtigkeit« wurde die SPD ohnehin identifiziert. So kam es, dass wir sehr früh alsBegriffspaar Innovation und Gerechtigkeit in den Vordergrund unserer Darstellung rückten. Nach derKandidatenentscheidung schrieb die Presse Gerhard Schröder den Begriff der Innovation zu, mir den

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Begriff der Gerechtigkeit. Das Klischee, hier der Modernisierer, dort der Traditionalist, wurde durchdiese beiden Begriffe gefestigt. Zur Vorbereitung des Wahlkampfs hatte Franz Müntefering mit seinen Mitarbeitern in Amerika denWahlkampf Clintons studiert. Dabei war er zu der Auffassung gekommen, dass es richtig wäre, nachamerikanischem Vorbild eine neue Wahlkampfzentrale der SPD aufzubauen. Er plädierte dafür, sieräumlich vom Erich-Ollenhauer-Haus zu trennen. Die neue Wahlkampfzentrale, kurz Kampa genannt,war in der Partei umstritten. Insbesondere, und dafür hatten wir Verständnis, die Stammbelegschaft imOllenhauer-Haus fühlte sich übergangen. Franz Müntefering und ich waren aber überzeugt von diesemKonzept und setzten es durch. Im April 1998 war die Kampa eingerichtet und die Werbekampagneangelaufen. Die Kampa arbeitete gut, und Franz Müntefering spielte hervorragend auf diesem Klavier.Da die Arbeit der Kampa häufig Gegenstand der Berichterstattung war, waren wir der politischenKonkurrenz stets eine Nasenlänge voraus. Insbesondere hatte es sich bewährt, junge Leute undStudenten zu engagieren, die frischen Wind in die Arbeit brachten. Die Kampa war so erfolgreich,dass ohne große Diskussion zur Vorbereitung des Europawahlkampfs eine solche wieder eingerichtetwurde. Dass der Europawahlkampf nicht zum gewünschten Wahlergebnis führte, hatte mit der Kampaallerdings nichts zu tun. 

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Rote Socken - Rote Hände

Zu einem Wahlkampf gehört es, Strategie und Taktik des Gegners zu beobachten. In der Regel ist esnicht ratsam, alle vier Jahre Wahlkämpfe nach dem gleichen Muster zu führen. 1994 hatte dieCDU/CSU Teile der SPD-Anhänger-Schaft mit der Roten-Socken-Kampagne stark verunsichert. Die-SPD reagierte nicht gerade geschickt. Obwohl in Ostdeutschland auf kommunaler Ebene alle Parteien,insbesondere die früheren Blockparteien CDU und FDP, mit der IM zusammenarbeiteten, meinte vorallem der Parteivorsitzende Scharping, er müsse nun jeden Tag erklären, dass eine Zusammenarbeitmit der PDS nicht in Frage käme. In ihrer Vorstandssitzung fuhr ich ihn deshalb einmal an: Hast dusonst wirklich kein anderes Thema mehr?« Ich habe nicht geglaubt und glaube auch heute nicht, dass diese Roten-Socken-Kampagne der CDUviel gebracht hat. Im Osten wirkte sie eher abstoßend. Wenn überhaupt, dann war es ein Erfolg, dasses der CDU gelungen war, die Diskussion in die Reihen der SPD zu tragen. Erfreut war ich allerdings,als die CDU auch 1998 die Roten-Socken-Kampagne in Gestalt der Roten Hände wiederbeleben

wollte. Die Zeit war über solche Versuche, die PDS zu stigmatisieren, hinweggegangen. Von alldenen, die immer wieder von sich sagten, die Einheit des Vaterlands sei eines ihrer wichtigstenPolitikziele, musste man erwarten, dass sie eine Antwort auf die Frage suchten, wie mit den Wählernund Mitgliedern der PDS umgegangen werden sollte. Als erster hatte Gerhard Schröder dafür plädiert, die PDS an einer Länderregierung zu beteiligen. Erwies richtigerweise darauf hin, dass in einer Länderregierung die PDS in der Verantwortung sehrschnell ihren handgestrickten Populismus aufgeben müsste. Die PDS-Minister würden Fehler machen,und die PDS würde auch im Osten Deutschlands bald wie eine normale Partei betrachtet werden. Esmussten aber noch einige Jahre vergehen, bis Ende 1998 in Mecklenburg-Vorpommern die ersteLandesregierung mit der PDS gebildet wurde. Der zweite, der dafür plädiert hatte, die PDS in die Verantwortung zu nehmen, war Richard vonWeizsäcker. Auch er warb dafür, mit den Wählerinnen und Wählern der PDS anders umzugehen. Er

schrieb: »Wenn es aber um eine Kommunal- oder Landtagswahl in den östlichen Bundesländerneinschließlich Berlin geht, dann dient die PDS als Wahlkampfkeule in der Hand der einen westlichenPartei, um mit ihr auf das Haupt der anderen westlichen Partei einzuschlagen. Ohne Zweifel hat diesdem einen dieser beiden Lager kurzfristig Erfolge gebracht, zumal es das andere Lager tief verunsichert und in die Defensive gebracht hat. Am meisten aber hat es der PDS selbst genutzt... Aberhaben wir denn nicht alle gemeinsam die Aufgabe und die Kraft, jedermann für die Demokratie zugewinnen... Aber was heißt da postkommunistisch, wenn ein junger Brandenburger oder Berlinereinen Weg zum Sozialismus auf den demokratischen Prüfstand stellen will? Es wird vielleicht schwerfür ihn sein, sich damit zu bewähren, aber soll er es nicht als Demokrat versuchen dürfen? Und musssich ein junger Ostbürger, der am 9. November 1989 noch unmündig war, zuerst für die schrecklichenMauerschüsse entschuldigen, bevor man ihn zum demokratischen Wettbewerb zulassen will?... DieWirklichkeit sieht anders aus: Die größere der demokratischen Volksparteien bekämpft die kleinereVolkspartei hinsichtlich des Themas PDS mit dem Erfolg, dass die kleinere demokratische Volksparteigeschwächt und die PDS gestärkt wird. Das kann doch nicht reiner Zufall sein.« Weizsäcker hatte,klarer als viele meiner Parteifreunde, die Strategie der CDU durchschaut. Dass er sie auch noch öffent-lich entlarvte, verdient Respekt und Anerkennung. Als SPD-Vorsitzender verfolgte ich konsequent das Ziel, die plumpe Stigmatisierung der PDS durchdie CDU/CSU aufzubrechen. Wie Richard von Weizsäcker richtig feststellt, lag die Stigmatisierungder PDS im parteipolitischen und machtpolitischen Interesse der CDU. Da die kleinen Parteien FDPund Bündnis 9o/Die Grünen im Osten kaum eine Rolle spielten, hatte die CDU dort keinenKoalitionspartner außer der SPD. Die SPD aber war nach meiner Auffassung gut beraten, den Versuchzu unternehmen, die PDS schrittweise an Länderregierungen zu beteiligen, und so dazu beizutragen,dass die PDS die Rolle einer normalen Partei in der Demokratie finden würde.  

Mit Gregor Gysi führte ich ab und zu Gespräche. Sie stießen am Anfang auf großes Medieninteresse.Ich fragte ihn immer wieder, was eigentlich das längerfristige Ziel seiner Politik sei. Einesozialdemokratische Politik gäbe es bereits, so argumentierte ich, eine kommunistische Politik wolleer nicht mehr machen. Ich warf auch die Frage auf, ob nicht die Geschichte dieses Jahrhunderts die

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Lehre bereithielte, dass die Linke um so schwächer sei, je mehr sie sich von verschiedene Parteienaufspalte. Meine Auffassung war immer, dass eine starke große linke Volkspartei eine entscheidendeVoraussetzung dafür sei, um Arbeitnehmerinteressen in einer Demokratie durchzusetzen. Im Zuge derGlobalisierungsdebatte und des Vordringens der neoliberalen Philosophie waren die Gewerkschaftenüberall auf der Welt, auch in Deutschland, geschwächt worden. Es war kein Zufall, dass in den USAInvestoren mit dem Hinweis angelockt wurden, dass es sich um gewerkschaftsfreie Zonen handelnwürde. Gysi widersprach dieser Überlegung nicht grundsätzlich. Er wies aber darauf hin, dass die PDSnoch einige Jahre brauche, um ihre Rolle zu finden. Längerfristig, so hatte ich den Eindruck, war aucher der Meinung, dass es nicht sinnvoll sei, im Osten Deutschlands zwei Parteien zu haben, die mehroder weniger sozialdemokratische Ziele verfolgten. Die Koalition in Mecklenburg-Vorpommern, die nach der Bundestagswahl gebildet wurde, war daherdurch eine lange Debatte vorbereitet und somit eine logische Konsequenz der Absicht, die PDS undihre Wähler im Osten in die Verantwortung einzubinden. Obwohl Deutschland und Frankreich nichtvergleichbar sind, hatte ich stets in Erinnerung, wie Mitterrand mit der kommunistischen ParteiFrankreichs umgegangen war. Er hatte sie in die Regierung aufgenommen und dadurch nicht etwagestärkt, sondern deutlich geschwächt. Auch in der Parti Socialiste Frankreichs führte das damals zuheftigen Debatten. Mitglieder der Parti Socialiste befürchteten, dass ihre Partei im Bündnis mit den

Kommunisten Schaden nehmen würde. Aber Mitterrand setzte sich durch, und die Entwicklung gabihm recht. Auch Lionel Jospin führt heute eine Regierung, an der die vom Stalinismus geläutertenfranzösischen Kommunisten beteiligt sind. Als in Sachsen-Anhalt im Juni 1998 erneut die Tolerierung der Regierung Höppner durch die PDSanstand, wären wir beinahe wieder ins Straucheln gekommen. Schröder und ich waren der Meinung,dass wir in Sachsen-Anhalt mit einer großen Koalition der CDU jede Möglichkeit genommen hätten,die PDS im Bundestagswahlkampf noch einmal zu instrumentalisieren. Sehr schnell aber stellten wirfest, dass vor Ort die Bereitschaft zu einer großen Koalition nicht bestand. Im nachhinein tut es mirleid, dass ich diese Entwicklung nicht früher erkannt habe. Die Sozialdemokraten in Sachsen-Anhalt jedenfalls sagten, dass es im Osten nicht verstanden würde, wenn sie von der Parteiführungverpflichtet würden, mit dem großen Wahlverlierer CDU eine Regierung zu bilden.  Bei den Wahlen in Sachsen-Anhalt zeigte sich auch wieder, dass die Wähler im Osten, wenn sich

soziale Unzufriedenheit breit machte, aus Protest rechtsradikalen Parteien, in diesem Fall der DVU,die Stimme gaben. Die Beobachtung französischer Kommentatoren, dass die PDS im Osten auch einzu starkes Aufkommen rechtsradikaler Parteien verhindere, halte ich für richtig. Als ich dieWiderstände im Westen sah und die Argumente meiner Freunde aus Sachsen-Anhalt hörte, riet ich derParteiführung, zu der alten Linie zurückzukehren. Wir sagten, im Osten wird vor Ort entschieden,welche Koalitionen gebildet werden. Ein Beharren der Parteiführung auf einer großen Koalition inSachsen-Anhalt hatte uns in der Bundestagswahl wirklich Schwierigkeiten gemacht und wäre imOsten nicht verstanden worden. Reinhard Höppner bildete erneut eine Regierung, die von der PDStoleriert wurde, und in Mecklenburg-Vorpommern wurde nach der Bundestagswahl die erste, voneiner SPD/PDS-Koalition gebildete Landesregierung installiert. Ich bin der Überzeugung, dass die CDU durch ihre Rote – Hände - Kampagne mit dazu beigetragenhat, dass die SPD bei den Bundestagswahlen im Osten gut abschnitt. Die Kampagne wurde von

Mitgliedern der Ost-CDU auch deutlich kritisiert. Das konnte uns nur recht sein, denn aus eigenerErfahrung wussten wir, dass Parteien, die während einer Wahlkampagne über die Richtigkeit ihrerStrategie streiten, in der Regel ein schlechtes Ergebnis haben. Es sollte sich herausstellen, dass dieseVermutung zutraf. Während des Wahl kämpf s hatte ich darauf zu achten, dass die bekannten Kräfte des SeeheimerKreises der CDU/CSU nicht wieder auf den Leim gingen. Es war in früheren Jahren für die CDU/CSUein leichtes gewesen, mit dem Thema PDS heftige Diskussionen in der SPD hervorzurufen. Es gelang1998, nach der Regierungsbildung in Sachsen-Anhalt, solche Diskussionen weitgehend zu vermeiden.Zudem wiesen wir immer wieder darauf hin, dass gerade CDU/CSU und FDP nicht den geringstenAnlass hatten, die Zusammenarbeit der SPD mit der PDS zu kritisieren. Sie arbeiteten selbst, was jederwusste, mit der PDS in den Gemeinden, Landkreisen und mehr und mehr auch in den Landtagenzusammen, und sie hatten sich die ehemaligen Blockparteien einverleibt. Immer noch waren in denLandtagen und Kommunalparlamenten Aktive vertreten, die schon zu DDR-Zeiten in denBlockparteien Mandate ausgeübt hatten. Auch Ost-CDU und Ost - FDP hatten zu DDR-Zeiten Mauerund Stacheldraht gerechtfertigt. Die Kampagne der CDU/CSU und der FDP war also verlogen. Die

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Älteren hatten darüber hinaus noch in Erinnerung, dass die CDU/CSU bei der Abgrenzung gegen dieNazis nicht so sorgfältig war: Hans Globke, den Kommentator der Judengesetze, hatte Adenauer insKanzleramt geholt. Auch Kurt Georg Kiesinger und Karl Carstens waren NSDAP-Mitglieder, vonHans Filbinger ganz zu schweigen. Vor diesem Hintergrund waren die ständigen Diffamierungen derPDS wenig glaubwürdig. Zudem gab es in der PDS nicht nur die Altkader, sondern, wie jeder sehenkonnte, neue Mitglieder, die beim Fall der Mauer noch Kinder waren.  

Interessant war auch, dass bei der Bundespräsidentschaftswahl die Kandidatin der Union, DagmarSchipanski, nur dann eine Chance gehabt hätte, wenn auch die PDS für sie gestimmt hätte. Sie sprachdas offen an, und es ist kein Geheimnis, dass das auch die CDU-Führung gerne gesehen hätte. Aber andieser Stelle wird in Deutschland kräftig geheuchelt und gelogen. Auch Teile der veröffentlichtenMeinung machten dieses Spiel mit. Sie akzeptierten schlicht und einfach, dass die CDU, obwohl siemit der PDS in vielen Kommunalparlamenten zusammenarbeitete, stets erklärte, sie würde mit derPDS nicht zusammenarbeiten. Ich halte angesichts der immer noch hohen Zustimmung, ihr die PDS in Ostdeutschland erfährt, nichtnur eine Beteiligung dieser Partei an Landesregierungen für richtig, sondern ich hätte auch keineProbleme, die PDS an der Bundesregierung zu beteiligen, wenn man sich mit ihr auf eine gemeinsamePolitik verständigen könnte. Die Absage an eine Beteiligung der PDS auf Bundesebene begründete ich

im Wahlkampf 1998 daher inhaltlich. Die PDS lehnte den Euro ab. Die Befürwortung der Wirtschafts-und Währungsunion oder des Euro war aber wesentlicher Bestandteil unserer Europapolitik. Die PDShatte eine kritische Einstellung zur Nato. Das Ja zur Nato war aber zentraler Bestandteil unsererSicherheitspolitik. Die wirtschafts- und sozialpolitischen Forderungen der PDS waren schlicht undeinfach nicht finanzierbar. Die Konsolidierung der Staatsfinanzen war aber Ziel unseresRegierungsprogramms. Wir wollten uns mit der PDS in der Sache auseinandersetzen. Da ich immer versucht habe, Politik in langen Zeiträumen zu denken, will ich an dieser Stelle voneinem Vorhaben berichten, das ich im Jahr 1990 leider nicht durchsetzen konnte. Entgegen denWünschen von Brandt und Vogel halle ich es für klüger gehalten, noch für lange Zeit eine eigene Ost-SPD als Schwesterpartei zu haben. Sie hätte dann noch besser, als unsere Freunde es derzeit tun, dieInteressen der Ostdeutschen vertreten können. Ihre Aufgabe wäre es auch gewesen, sich mit der PDShart, aber fair auseinander zusetzen. Ein Bündnis der Ost - SPD mit der PDS wäre im Westen anders

aufgenommen worden als ein Bündnis der SPD mit der PDS.  Natürlich hatte ich bei diesen Überlegungen langfristig .null immer im Kopf, das Nebeneinanderzweier Parteien, dir sich zu sozialdemokratischen Zielen bekennen, zu überwinden. Richard vonWeizsäcker hat schon recht: »Was heißt >postkommunistisch<, wenn ein junger Brandenburger oderBerliner einen Weg zum Sozialismus auf den demokratischen Prüfstand stellen will?« Und Parteienverändern sich hinsichtlich der Zusammensetzung ihrer Mitgliedschaft im Lauf der Jahre undJahrzehnte. Einen willkommenen Nebeneffekt hätte das Beibehalten der Ost - SPD gehabt: BeiFernsehdiskussionen wäre die SPD mit zwei Vertretern präsent gewesen - wie die CDU/CSU. Dieungerechtfertigte Bevorzugung der CSU in den Medien wäre durch die Ost - SPD ausgeglichenworden.  

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 Wer wird Kanzlerkandidat?

Da die menschliche Natur so ist, dass Personalentscheidungen weitaus interessanter sind alsSachentscheidungen, stand die Frage, wer Kanzlerkandidat der SPD werden würde, natürlich imMittelpunkt des öffentlichen Interesses. Nach meiner Wahl zum Parteivorsitzenden der SPD wurdesofort die Frage gestellt: Ist damit auch die Frage der Kanzlerkandidatur entschieden? Ich hatte in der Partei dafür geworben, diese Frage nicht vorzeitig zu klären, und dachte nicht daran,mir von der Öffentlichkeit die Entscheidung allzu früh aufdrücken zu lassen. Zudem wollte ich inkeinem Fall den Eindruck erwecken, dass persönlicher Ehrgeiz das Motiv meiner Arbeit alsParteivorsitzender sei. Nach Attentat und Nie derlage im Jahr 1990 hatte ich zu solchen Fragen eineandere Einstellung gewonnen. Bei meinem Vorgänger Rudolf Scharping konnte ich beobachten, dasssein ständiges Beharren darauf, dass er der beste Kanzlerkandidat sei, ihm eher ihr Arbeit als

Parteivorsitzender erschwert hatte. Als langjähriger Stellvertreter im Parteivorsitz hatte ich die  Erfahrung gemacht, dass sich aus der zweiten Reihe manchmal besser etwas bewegen ließ als vomersten Platz aus. Eine zu frühe Festlegung hätte zudem diejenigen vergrätzt, die sich zutrauten, ebenfalls das Amt desKanzlerkandidaten zu übernehmen. Da war nicht nur Rudolf Scharping, der seine Niederlage vonMannheim nicht verwunden hatte. Da war vor allem Gerhard Schröder, der Scharping in keinem Fallnoch einmal den Vortritt gelassen hätte und der mir signalisiert hatte, dass er immer noch an derKanzlerkandidatur interessiert sei. Zwar hatten alle die Erklärung abgegeben, dass derParteivorsitzende das Recht des ersten Zugriffs habe, aber solche Erklärungen hatten nur geringenWert. Nicht nur Rudolf Scharping und Gerhard Schröder hielten sich für die Aufgabe des Kanzlerkandidatengeeignet. Auch der eine oder andere Ministerpräsident und die schleswig-holsteinische Kollegin Heide

Simonis wurden von der Presse ins Gespräch gebracht. Ich war also gut beraten, die Frage offenzuhalten. Das Bonner Pressekorps wettete, dass mir das nicht gelingen würde. Zeitweilig war deröffentliche Druck, die Entscheidung frühzeitig zu treffen, sehr stark. Ich war aber nicht zubeeindrucken und hielt an dem Plan fest: Zuerst die programmatische Erneuerung und dann diePersonalentscheidung, hieß meine Formel. Im nachhinein war dieses Vorgehen für den Wahlsieg der SPD von strategischer Bedeutung. Solangedie spannende Personalentscheidung offen war, blieben wir interessant. Im Lauf der Zeit stellte sichimmer deutlicher heraus, dass die Entscheidung nur zwischen Gerhard Schröder und mir getroffenwerden konnte. Gerhard Schröder hatte in den Meinungsbefragungen eine hohe Zustimmung bei derBevölkerung erreicht. Er hatte die Unterstützung der Presse. Insbesondere Spiegel, Focus, Stern, Bild am Sonntag, Die Woche und mit Einschränkungen auch Bild wetteiferten darin, ihn als den idealenKandidaten der SPD darzustellen. In persönlichen Gesprächen versuchten mich Chefredakteure davonzu überzeugen, dass die Entscheidung für Gerhard Schröder die einzige Möglichkeit sei, die Wahl zugewinnen. Ärgerlich für mich war, dass in dem Maß, in dem Gerhard Schröder hochgeschrieben wurde, ich inverletzender Weise herabgesetzt wurde. Ein Chefredakteur brüstete sich damit, dass er persönlichFotos aussuche, die für mich besonders nachteilig seien. Auch das Meinungsforschungsinstitut Forsastellte sich in den Dienst dieser Kampagne und veröffentlichte wöchentlich hohe Sympathiewerte fürGerhard Schröder und schlechte für mich. Ich stand vor einer schwierigen Entscheidung.  Es war kein Zweifel, dass Gerhard Schröder, was bei einer Wahlkampagne von hoher Bedeutung ist,im Fernsehen die bessere Figur machte. Es war kein Zweifel, dass mit Unterstützung der HamburgerPresse die Wahl eher zu gewinnen war als gegen sie. Auf der anderen Seite hatte ich die inhaltlicheArbeit der SPD der letzten Jahre wesentlich bestimmt und verfügte über größere Erfahrung in der

Führung der Regierungsgeschäfte. Im Gegensatz zu meinen Kollegen war ich seit 1985Ministerpräsident und vorher fast zehn Jahre lang Oberbürgermeister von Saarbrücken. Meine Arbeitals Oberbürgermeister und Ministerpräsident war von den Wählerinnen und Wählern immer mitabsoluten Mehrheiten honoriert worden. Die eigentliche Schwierigkeit aber bestand darin, dass ich,

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wenn ich zustimmte, dass Gerhard Schröder Kanzlerkandidat der SPD werden würde, in doppelterWeise über meinen Schatten springen musste. Einmal war ich der Meinung, dass der Kanzlerkandidat der SPD von den aktiven Mitgliedern derPartei getragen Werden müsste. Diejenigen, die tagaus, tagein die Arbeit vor Ort machen, müssen sichin der Person und der Politik des Kanzlerkandidaten wiederfinden. Diese Voraussetzungen botGerhard Schröder nicht, da er sich die Zustimmung der Medien dadurch erworben hatte, dass er sichimmer wieder abfällig über die Partei und ihr Programm äußerte. Das war zwar mediengerecht, aberkonnte von der Partei nicht auch noch belohnt werden. Meine Sorge war, dieses Beispiel würde Schulemachen. Der Zusammenhalt der Partei musste auf Dauer beschädigt werden, wenn einzelne sich dasRecht nahmen, ihre Popularität auf Kosten der Partei zu steigern. Zudem stellte sich mir eine Frage von demokratischer Qualität. Ist es zulässig, dass die Medien denAusschlag darüber geben, wer eine Partei in den Bundestagswahlkampf führen soll? Gab die SPD,wenn sie diese Frage bejahte, nicht zuviel an eigener Zuständigkeit auf? Waren wir dann nicht auf dembesten Weg, die deutsche Politik zu amerikanisieren? In Amerika sind die Parteien weniger wichtig.Die Kandidaten müssen fernsehgerecht sein und das notwendige Geld im Rücken haben, um dieKampagne erfolgreich durchführen zu können.  Erschwerend kam hinzu, dass der Vormann des potentiellen Koalitionspartners Bündnis 9o/Die

Grünen, Joschka Fischer, ein ähnliches Verhältnis zu seiner Partei hat wie Gerhard Schröder zur SPD. 

Charlotte Wiedemann schrieb in der Woche: »Der Aufstieg des Medienlieblings Fischer folgte überdie Jahre einem schlichten Modell: Die Partei verachtend, die ihn auf den Karrierepfad schob,profilierte er sich durch die öffentliche Kritik am eigenen Laden. Die Grünen ließen es zu und began-nen die Unterwerfung zu lieben.« Waren wir nicht schon lange auf dem Weg von einer Parteiendemokratie hin zur Mediendemokratie?Die Entscheidung war nicht leicht. Ausschlaggebend für mich, Gerhard Schröder dieKanzlerkandidatur anzubieten, waren letztlich drei Überlegungen: Einmal wollte ich mich in keinemFall dem Vorwurf aussetzen, dass mein persönlicher Ehrgeiz einem Wahlsieg der SPD im Weggestanden hätte. Zum zweiten war ich sicher, dass die Entscheidung, Lafontaine bleibtParteivorsitzender und Schröder ist Kanzlerkandidat, zur Folge hatte, dass die SPD im Wahlkampf geschlossen auftreten würde. Ich traute mir aufgrund der großen Zustimmung, die mir meine Arbeit

mittlerweile eingebracht hatte, zu, die Partei auch hinter Gerhard Schröder zu versammeln, zum drittenwar ich davon überzeugt, dass eine Entscheidung gegen Schröder dazu geführt hätte, dass wir imWahlkampf nicht geschlossen aufgetreten wären. Der Kanzlerkandidat der SPD braucht Freunde, diewährend der Kampagne Solidarität und Unterstützung für ihn organisierten. Gerhard Schröder wäre imFalle meiner Kandidatur nicht in der Lage und auch nicht bereit gewesen, diese Aufgabe zuübernehmen. Rudolf Scharping ebenfalls nicht, und Johannes Rau, der es gewollt hätte, scheute nachmeinen Beobachtungen - und in persönlichen Gesprächen räumte er dies auch ein - die Konflikte, dieman eingehen musste, um die Disziplin in den eigenen Reihen sicherzustellen.  Alles m allem hatte ich praktisch keine andere Wahl, als Gerhard Schröder die Kanzlerkandidaturanzubieten. Die große Unterstützung, die er in den Medien hatte, war ein nicht zu unterschätzenderVorteil. Meinen Mitarbeitern sagte ich oft: Sie haben ihn jetzt so hochgeschrieben, dass es unmöglichist, ihn während des Wahlkampfs wieder runterzuschreiben. Schröder warnte ich: »Diejenigen, die

dich jetzt hochjubeln, werden die ersten sein, die nach der Wahl über dich herfallen.« Neben der Frage »Parteiendemokratie oder Mediendemokratie stellte sich mir im Zusammenhang mitder Kandidatenentscheidung auch die Frage: »Macht, aber wozu?« Da ich schon viele Jahre politischeÄmter bekleidete, hatte ich mir auch immer darüber Gedanken gemacht, ob all diese Anstrengungen,die Wahlkämpfe, ja politische Arbeit überhaupt einen Sinn und Zweck hätten. Zwar wird denPolitikern oft unterstellt, das eigentliche Antriebsmoment ihrer politischen Arbeit sei die Befriedigungpersönlicher Eitelkeit und Machtgelüste. Dem will ich nicht widersprechen, aber ich nehme für michin Anspruch, im Lauf der Jahre mehr und mehr der inhaltlichen Arbeit den Vorrang eingeräumt zuhaben. Ich wiederholte daher immer wieder, dass wir nicht nur einen Regierungswechsel, sonderneinen Politikwechsel anstreben würden. Diese Formel brachte mich in Schwierigkeiten, da es offenkundig war, dass Gerhard Schröder derProgrammarbeit wenig Bedeutung beimaß. Er hatte Freude an der Ausübung des Regierungsamts, sahsich selbst als Pragmatiker und konnte der Programmarbeit kaum etwas abgewinnen. Sein Ziel wareher die Zustimmung der veröffentlichten Meinung, weniger die Entwicklung neuer Programme zurVerbesserung der Lebensbedingungen der Bürgerinnen und Bürger. Im übrigen gibt es Beispiele

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dafür, dass diejenigen, die Politik mit programmatischen Ansprüchen verbinden, anfangs oft gegen dieÖffentlichkeit entscheiden müssen. Zwei will ich nennen: Willy Brandt setzte seine Ost-Politik durch,obwohl sie am Anfang nicht populär war. Helmut Kohl hat die Europäische Wirtschafts- undWährungsunion und damit die Einführung des Euro durchgesetzt, obwohl diese Entscheidung auch inder Wählerschaft der CDU/CSU auf große Widerstände stieß. Ich setzte darauf, dass Gerhard Schröder im Fall des Wahlsiegs zu einer Zusammenarbeit findenwürde, die mir als Parteivorsitzendem die Möglichkeit gab, unbeschadet der Richtlinienkompetenz desBundeskanzlers die politischen Entscheidungen der Regierung und der Koalition wesentlichmitzubestimmen. Ich wollte eine Arbeitsteilung, in der jeder seine Fähigkeiten voll einbrachte. Dabeiwusste ich auch, dass die von mir für richtig gehaltene Wirtschafts- und Finanzpolitik einenwirklichen Politikwechsel darstellen würde und dass sie auf erhebliche Widerstände treffen würde. Imgeheimen stellte ich mir daher oft die Frage, ob Gerhard Schröder als Bundeskanzler bereit wäre,einem solchen Druck standzuhalten.  Ohne es zu wissen, wirkte auch Helmut Kohl bei der Entscheidung um die Kanzlerkandidatenfrage derSPD mit. Ich fühlte mich von ihm im sportlichen Sinn nach der verlorenen Wahl im Jahr 1990schlecht behandelt. Immer wieder brüstete er sich damit, wie viele Enkel Willy Brandts er im Laufeder Zeit schon ausgesessen und besiegt hätte. Dabei erwähnte er Engholm, Scharping und mich. Mich

kränkte, dass er nicht die sportliche Geste aufbrachte, seinen Wahlsieg über mich im Jahr 1990 zurelativieren. Einmal, und das konnte ihm nicht entgangen sein, war ich durch das Attentat schwer

angeschlagen und konnte nur noch mit halber Kraft fahren. Zum anderen war wohl kein Wahlkämpfervor ihm so vom Glück begünstigt gewesen wie er. Er war Kanzler der Deutschen Einheit und brachteden Ostdeutschen die heißbegehrte DM. Ich dachte mir während des Bundestagswahlkampfs 1990manchmal, er habe eigentlich die optimale Voraussetzung, um eine absolute Mehrheit zu erreichen.  Darüber hinaus hatte das Bonner Pressekorps seine Einstellung gegenüber Kohl geändert. Galt er biszur Deutschen Einheit noch als Tölpel oder Bauernbub, der nicht ernst zu nehmen war, so wurde ernach der Deutschen Einheit zum allseits bewunderten Kanzler. Der Nimbus der Unschlagbarkeitwurde ihm zugeschrieben. Beim fünften Bier sagte ich daher Freunden immer wieder, mein Ziel sei es,den Dicken jetzt endlich auf die Matte zu bringen. Ich konnte seine zur Schau getrageneSelbstgewissheit und seine hochmütigen Äußerungen über die Enkel Willy Brandts oft schwer

ertragen. Zudem hatte ich den Spruch Henning Vorscheraus im Ohr: »Unsere Generation mussaufpassen, dass sie nicht zur Fußnote der SPD-Geschichte wird.«  Also ging ich auf Nummer Sicher und entschied mich, Gerhard Schröder den Vortritt bei derKanzlerkandidatur zu überlassen. Vorher musste aber noch die Niedersachsen-Wahl gewonnenwerden, und es durfte ihm selbst nicht zu deutlich werden, dass ich bereits verzichtet hatte. Hätte ergewusst dass ich mich für seine Kanzlerkandidatur entschieden hatte, dann hätte er größereSchwierigkeiten beider Koordination der Arbeit im Bundesrat gemacht. Eine handlungsfähige SPD im Bundesrat aber warnach den Querelen der Zeiten Engholms und Scharpings Voraussetzung für den Wahlerfolg der Partei.In der Steuer- und Sozialpolitik oder bei Gesetzen zur Inneren Sicherheit wie etwa beim Lauschangriff bedurfte es immer wieder großer Anstrengungen, sicherzustellen, dass Gerhard Schröder mit den übri-gen sozialdemokratisch geführten Ländern stimmte. 

Dass ich es für richtig hielt, dass Gerhard Schröder vorher die Hürde des Wahlsiegs in Niedersachsennehmen musste, hatte mehrere Gründe. Einmal brauchte ich gegenüber einer starken Gruppe in derPartei, die es lieber gesehen hätte, wenn ich die Kanzlerkandidatur übernommen hätte, einüberzeugendes Argument. Ein solches war ein deutlicher Wahlsieg in Niedersachsen. Zum zweitenwollte ich sichergehen, dass sich die Popularität Gerhard Schröders auch in Wählerstimmen für dieSPD niederschlagen würde. Das ist nicht selbstverständlich. Schon oft haben wir auf Bundes-, Landes-und kommunaler Ebene beobachtet, dass sich die Popularität des Spitzenmanns nicht unbedingt inguten Wahlergebnissen der Partei niederschlägt. Schröder selbst hatte sich die Meßlatte niedrig gelegt. Er wollte die Kanzlerkandidatur nicht antreten,wenn er mehr als 2 Prozent in Niedersachsen verlieren würde. Für besonders klug hielt ich das nicht.Einmal ließ diese Festlegung vermuten, dass es nicht darum ging dazuzugewinnen, sondern darum,möglichst wenig zu verlieren. Nicht gerade ein motivierendes Wahlkampfziel! Wenn Schröder inNiedersachsen mehr als zwei Prozent verloren hätte, sah es zum anderen dann so aus, als sei derKanzlerkandidat der SPD, im Zweifel der Parteivorsitzende, nur ein Ersatzkandidat. 

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Zudem hatte Gerhard Schröder seine Nominierung durch eine unsinnige Verdächtigung zusätzlicherschwert. Im Januar wurde bekannt, dass die Düsseldorfer Preussag AG die Preussag Stahl an dieösterreichische Voest Alpine Stahl AG verkaufen wollte. Schröder reagierte schnell und verhinderteden Verkauf, indem er durch Telefax Dr. Frenzel von der Preussag mitteilte, dass das LandNiedersachsen anstelle des Voest - Konzerns das Stahlunternehmen kaufen werde. Das war zwar nichtunbedingt die Handlungsweise eines „Modernisierers“, aber eine richtige Entscheidung im Hinblickauf den niedersächsischen Wahlkampf, die ihm die Zustimmung der Belegschaft der Preussag StahlAG sicherte. Außerdem gewann er durch dieses Vorgehen die Unterstützung der IG Metall, die ihmbis dahin eher skeptisch gegenüberstand. Empört war ich aber darüber, dass Schröder die Sache sodarstellte, als sei die Absicht der Düsseldorfer Preussag AG, ihren Stahlbereich zu verkaufen, eineIntrige von Johannes Rau, um ihm die Kanzlerkandidatur zu vermasseln. Diese Vorstellung war soabsurd, dass man sie nur als Folge der hohen Nervosität interpretieren kann, die oft einen Spitzenmannim Wahlkampf befällt. An solchen Tagen erwog ich, eine überraschende Wendung vorzuschlagen, die ich mir für den Fallausgedacht hatte, dass Gerhard Schröder von der Partei nicht akzeptiert worden wäre oder die Wahl inNiedersachsen verloren hätte. Ich wollte dann eine Frau vorschlagen, um im Wahlkampf mit einerFrau als Kanzlerkandidatin der Union und Helmut Kohl in einer schwer angreifbaren Aufstellung

gegenüberzutreten. Ich führte in absoluter Diskretion Gespräche und sondierte diese Möglichkeit.Später sollte die Nominierung der völlig unbekannten Thüringer Professorin Dagmar Schipanski durchdie Union zeigen, dass Frauen auch dann sehr schnell Zustimmung finden, wenn sie eigentlich für dieÖffentlichkeit noch ein unbeschriebenes Matt sind. Aber während des niedersächsischen Wahlkampfeshatte ich die Gewissheit gewonnen, dass Gerhard Schröder einen deutlichen Wahlsieg erringen würde,und verfolgte die Absicht, ebenfalls eine Frau vorzuschlagen, nicht weiter.Am Donnerstag vor der Landtagswahl traf ich mich nach einer gemeinsamen Wahlkundgebung inBraunschweig mit Gerhard Schröder im Restaurant »Ritter St. Georg«. Ich hatte das Gefühl, dass ichihm nun Gewissheit geben musste und die Entscheidung nicht mehr länger aufschieben konnte. Sein z-Prozent-Kriterium schob ich beiseite. Ich sagte ihm: »Wenn du das Wahlergebnis der letztenNiedersachsen-Wahl erreichst oder zulegst, bist du der Kandidat, wenn nicht, entscheidet die Partei.«Das hätte bedeutet, dass ich Kanzlerkandidat geworden wäre. Mir war aber an diesem Abend klar,

dass ich ihm die Kanzlerkandidatur überlassen hatte. Bundesweit wurde die SPD seit Monaten in denMeinungsumfragen zwischen 40 und 42 Prozent gehandelt. Niedersachsen wählte immer über demBundesdurchschnitt, und Gerhard Schröder hatte sicherlich einen persönlichen Bonus. Wir besiegeltendie Absprache mit einem Schnaps und versprachen uns in die Hand, alle wichtigen Entscheidungenkünftig gemeinsam zu treffen.  Am frühen Nachmittag des Wahlsonntags in Hannover erfuhr ich, dass die Umfragen vor denWahllokalen ein Ergebnis in der Nähe von 48 Prozent für Gerhard Schröder signalisierten. Ich rief ihnan und sagte: »Na, Kandidat?« Gerhard Schröder war immer noch misstrauisch, aber das Wahler-gebnis war eindeutig. Schröder hatte bewiesen, dass sich seine hohe Popularität auch inWählerstimmen für die SPD auszahlt. Am Abend des Wahlsiegs ärgerte mein Freund Gerd michschon wieder. Mein kameradschaftliches »Na, Kandidat« stellte er im Fernsehen so dar, als hätte ichihn gebeten, die Kanzlerkandidatur zu übernehmen und als sei er dieser Bitte gerne nachgekommen.

Ich saß vor dem Fernseher und trank gemütlich ein Glas Rotwein. Davon, dass ich ihn gebeten hätte,konnte nun wirklich keine Rede sein. Aber häufig hatte ich beobachtet, dass diejenigen, die ammeisten drängeln, Wert darauf legen, sie seien gebeten worden. Die Entscheidung war gefallen, jetzthalf nur noch beten.  Der Abend gab mir aber auch Gelegenheit, für ein typisch saarländisches Produkt, den Mispel-Schnaps, zu werben. Er heißt im Volksmund »Hundsärsch«. Die Journalisten hatten, wie häufiger inden Jahren zuvor, mein Haus belagert. Sie wollten live eine Stellungnahme des SPD-Vorsitzenden zurNiedersachsen-Wahl bekommen. Da es kalt war, taten sie mir leid. So ging ich brav vor mein Hausund servierte den frierenden Belagerern die saarländische Spezialität. In ganz Deutschland stiegdanach die Nachfrage nach dem saarländischen »Hundsärsch«.

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Die Männerfreundschaft mit Gerhard Schröder

Mein Verhältnis zu Gerhard Schröder beschäftigte natürlich im Vorfeld der Entscheidung über denKanzlerkandidaten in vielfältiger Form die Presse. Wilde Spekulationen wurden angestellt, manerwartete, dass über die Entscheidung zur Kanzlerkandidatenfrage die Männerfreundschaft in dieBrüche gehen werde. Dabei war die Basis für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit stark genug.Wann ich Gerhard Schröder zum ersten Mal gesehen hatte, vermag ich heute nicht mehr zu sagen. ImRahmen der Treffen der Enkel Willy Brandts und auf Parteitagen lernten wir uns kennen. Sehr baldgehörten wir beide, wie die anderen Enkel auch, zu den Hoffnungsträgern der Partei. Schon imniedersächsischen Wahlkampf 1986 waren wir häufig zusammen, da ich die Kampagne GerhardSchröders nach besten Kräften unterstützte. Ich lernte in dieser Zeit auch seine Frau Hillu kennen und bewunderte, wie sie ihrem Mann imWahlkampf zur Seite stand. Während einer Wahlveranstaltung in Niedersachsen machte ich eineBeobachtung, die mir später öfter in den Sinn kam. Zum Schluss der Veranstaltung, auf der GerhardSchröder und ich gesprochen hatten, wurde nach sozialdemokratischer Tradition ein Lied gesungen.Ich erinnere mich nicht mehr genau, ob es das Lied »Brüder zur Sonne, zur Freiheit« oder das Lied»Wann wir schreiten Seit an Seit« war. Zu meiner großen Überraschung stellte ich fest, dass der vormir stehende Sänger Gerhard Schröder in keiner Weise in der Lage war, richtig zu singen. Er standauch noch direkt vor dem Mikrophon, so dass ich ihm zuflüsterte: »Geh etwas vom Mikrophon weg,du singst ja fürchterlich!« Später, beim Bier, räumte er ein, unmusikalisch zu sein. Ich sagte ihm,wenn wir in Zukunft politisch zusammenarbeiten wollten, müsste die Harmonie aber größer sein. Dasblieb jedoch ein frommer Wunsch. Häufig gab es kräftige Dissonanzen. Mehr und mehr hatte ich denEindruck, dass Gerhard Schröder harte Auseinandersetzungen lieber waren als die oft quälende Suche

nach Kompromissen. Kompromisse aber sind die Grundlage jeder verlässlichen Zusammenarbeit.Seinen Erzählungen zufolge musste er sich als Kind armer Leute durchs Leben schlagen und wurde sozum typischen Einzelkämpfer. Diese Haltung hat er bis heute beibehalten. In persönlichenBegegnungen kann er aber ein richtiger Kumpel sein und Charme versprühen. Diese Begabung setzt erimmer wieder mit Erfolg ein. 1986 ging die Wahl in Niedersachsen verloren. Gerhard Schröder wurde Oppositionsführer inNiedersachsen. Ich amtierte als Ministerpräsident in Saarbrücken. Während desBundestagswahlkampfs 1987, in dem Johannes Rau unser Kanzlerkandidat war, hatte sich GerhardSchröder für lange Zeit die Sympathien von Johannes Rau verscherzt, weil er damals öffentlichdarüber räsonierte, ob nicht Oskar Lafontaine der bessere Kanzlerkandidat sei.  Im Jahr 1990 sollten wir enger zusammenrücken. Ich hatte fest vor, diesmal als Kanzlerkandidat derSPD meinen Beitrag zu leisten, dass Gerhard Schröder die Niedersachsen-Wahl beim zweiten Anlauf 

gewann. Als die CDU zur Verbesserung ihrer Wahlchancen Ernst Albrecht und Rita Süssmuth alsSpitzenkandidaten in Niedersachsen aufbot, war er ziemlich deprimiert. Ich erinnere mich deshalb gutdaran, weil ich Gerhard Schröder am 14. März zu einem Besuch bei Präsident Mitterrandmitgenommen hatte. Er war sehr verunsichert. Selbst am Abend, im berühmten Pariser Drei-Sterne-Restaurant »Lucas Carton«, taute er nur langsam auf. Ihn belastete sicher auch, dass er in Teilen derPartei wenig Unterstützung hatte. Zudem trauten viele ihm den Wahlsieg nicht zu. Ich erinnere michnoch, wie ich mit Richard von Weizsäcker fast aneinander geriet, weil er in einem Gespräch sagte,dass Gerhard Schröder keine Chance habe, Ernst Albrecht zu besiegen.  Nach dem Attentat hatte ich Besuch von Hans-Jürgen Wischnewski, der auch auf der Veranstaltungwar, in der die Attentäterin mich als Opfer ausgesucht hatte. Ich glaube, ich habe mir die AchtungWischnewskis bei dieser Begegnung dadurch erworben, dass ich, so kurz nach dem Attentat, nachdem gemeinsamen Genuss einer Flasche Condrieux, eines Weißweins aus dem Rhone-Gebiet, die derKoch der Saar-Vertretung, Heinz-Peter Koop, mir gebracht hatte, in seinen Augen beachtlichesStehvermögen bewies. Während der Unterhaltung äußerte er die Gewissheit, dass Gerhard Schröder

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die Wahl nicht gewinnen würde. Er hatte ihm gegenüber große Vorbehalte. Ich widersprach ihm, undes wäre beinahe zu einer Verstimmung gekommen. Am 13. Mai gewann Gerhard Schröder die Niedersachsenwahl mit einem Ergebnis von 44,2 Prozent.Ich freute mich sehr. Wir telefonierten am Wahlabend miteinander. In seinem unnachahmlichenCharme sagte er mir: »Der Stich in den Hals hat zwei Prozent gebracht.« Nach dem Attentat versuchte Gerhard Schröder mir in kameradschaftlicher Weise zu helfen und michzu unterstützen. Er reiste mit Hillu an, und wir verbrachten ein gemeinsames Wochenende inSaarbrücken und in Lothringen. Ich habe diese Tage in guter Erinnerung, und sie trugen sicherlichauch dazu bei, dass ich später von meinem Vorhaben abließ, die Kanzlerkandidatur zurückzuziehen.Bei der Abstimmung zur deutschen Währungsunion stimmte Gerhard Schröder als einzigersozialdemokratischer Ministerpräsident mit mir. Das habe ich ihm immer hoch angerechnet. MeineArgumente gegen die übereilte Einführung der DM hatten auch ihn überzeugt. Genau wie ich mussteer später mit dem Vorwurf leben, er habe die Deutsche Einheit nicht gewollt beziehungsweise denOstdeutschen die DM nicht gegönnt. Nach der verlorenen Bundestagswahl 1990 gehörte Gerhard Schröder zu denjenigen, die mich massivbedrängten, den Parteivorsitz der SPD zu übernehmen. In der entscheidenden Sitzung desParteivorstands machte er aber den Fehler, die Sitzung vorzeitig zu verlassen. Ich selbst war ver-

stimmt, denn gerade in dieser Sitzung, in der nicht zuletzt Willy Brandt massiv meinen Wahlkampf kritisierte, hätte ich seine Unterstützung gebraucht. Nach meiner zweiten Absage, den Parteivorsitz zuübernehmen, war auch Gerhard Schröder enttäuscht. Ich spürte, wie die freundschaftliche Beziehung Risse bekam. Als der Spiegel einen Beamtenrechtlerfand, der der Auffassung war, dass meine Bezüge als Ministerpräsident und der aufgrund meinerAnsprüche aus meiner Oberbürgermeisterzeit gefundene Verrechnungsmodus nicht in Ordnung seien,hatte ich, unbeschadet der Tatsache, dass andere Juristen gegenteiliger Auffassung waren, meinePensionsaffäre. In der Zeitung las ich damals, dass Gerhard Schröder gesagt hatte: »Soll ich meinesBruders Hüter sein?« Als der Spiegel einige Zeit später herausfand, dass ich mich in den siebzigerJahren öfter in Saarbrücker Nachtlokalen herumgetrieben hatte, beschäftigte dies als Rotlichtaffäre dirdeutsche Presse und führte zu den absurdesten Spekulationen und Verdächtigungen. In der Enkelriege,so auch hei Gerhard Schröder, setzte sich damals wohl die Einsicht durch, dass jetzt andere an der

Reihe seien.Das Verhältnis zu ihm blieb durch die Auseinandersetzung um die Engholm-Nachfolge belastet undgespannt. Der Niedergang der Partei in der Zeit Rudolf Scharpings brachte uns wieder näherzusammen. Als die SPD in den Meinungsumfragen immer weiter abstürzte, sprach auch er mich öfteran und sagte, wir könnten diesem Treiben nicht weiter zusehen. Wenn die Partei nach den Umfragennur noch die Unterstützung von ungefähr 30 Prozent der Wähler habe, sei Feierabend. Als frisch gewählter Parteivorsitzender suchte ich eine enge Zusammenarbeit mit ihm. Das LandNiedersachsen war im Bundesrat wichtig, und die Bundestagswahl war nur zu gewinnen, wennGerhard Schröder mitmachte. Unsere Zusammenarbeit wurde wieder besser. Am Abend des 3. März1996 rief Gerhard Schröder an und informierte mich über die bevorstehende Trennung von Hillu. Fürmich war das ein Zeichen des Vertrauens. Am anderen Tag war die Presse voll davon. Diebevorstehende Trennung von Hillu und die neue Liebe zu Doris Köpf waren der Stoff, den

Journalisten lieben. Doris Köpf kannte ich aus ihrer Zeit als Journalistin in Bonn. Im August 1997 kamen die beiden zueinem Besuch ins Saarland. Es entstanden die bekannten Fotos an der Saarschleife. Wir versprachenuns noch einmal in die Hand, die Kanzlerkandidatur bis zur Niedersachsen-Wahl offen zuhalten. Wirgingen gemeinsam im Saargau spazieren, und Doris Köpf erwies sich als eine charmante und klugeFrau, die auch später immer wieder eine positive Rolle spielen sollte. Die Abfälligkeit, mit der sich daoder dort die Presse über sie ausließ, steckte sie souverän weg. Meiner Beobachtung nach hat sie mehrpolitischen Verstand als mancher ihrer ehemaligen Kollegen. Wenn es einmal schwierig wird, hat siedie Gabe, die richtigen Worte zu finden. Christa und Doris verstanden sich gut. Die besteMännerfreundschaft nimmt Schaden, wenn die Frauen sich nicht mögen.  Die Voraussetzungen, die Bundestagswahlen durch eine gemeinsame Wahlkampagne zu gewinnen,waren also auch von der menschlichen Seite gegeben. Dabei war mir sehr früh klar, dass ich GerhardSchröder angesichts seiner Persönlichkeitsstruktur bei der Kanzlerkandidatur den Vortritt hissenmusste, wenn die Sache funktionieren sollte. Während des Wahlkampfs arbeiteten wir reibungsloszusammen. Noch heute glaube ich zu spüren, wie ich schwitzte, als Gerhard Schröder seinen letzten

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entscheidenden Auftritt in der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestags hatte. Ich hatte am Vortageinen guten Tag erwischt und die Debatte für uns gewonnen. Alles kam jetzt auf Gerhard Schröder an.Wir saßen einträchtig auf der Bundesratsbank. Kohl griff an, und Schröder konterte hervorragend. Wirhatten diese entscheidende Runde gemeinsam gewonnen. Solche Erfahrungen schweißen zusammen,und ich hoffte, dass auch nach der gewonnenen Bundestagswahl die Zusammenarbeit Bestand habenwürde.

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Die Erarbeitung des Regierungsprogramms

Es ist üblich, dass Parteien vor Wahlen ein Regierungsprogramm erarbeiten. Darin soll festgelegtwerden, welche Maßnahmen im Fall eines Wahlsiegs in den kommenden vier Jahren durchgeführtwerden. Natürlich stehen solche Programme immer unter gewissen Vorbehalten. So ist es klug,einen Finanzierungsvorbehalt zu machen, weil die besten Absichten nicht weiterführen, wenn esnicht gelingt, die Vorhaben zu finanzieren. Außerdem ist es notwendig, Verlässlichkeitanzustreben. Wir wollten einigermaßen sichergehen, dass wir unsere Wahlversprechen auch nachden Wahlen einhalten konnten. In der Situation, in der sich die SPD befand, gab es aber darüber hinaus eine Besonderheit. DasProgramm sollte künftige Auseinandersetzungen von vornherein mildern beziehungsweiseunterbinden. Mit anderen Worten: Es war unsere Absicht, im Programm relativ klar festzulegen,

wie die Regierungsarbeit in den nächsten Jahren aussehen sollte. Daher beauftragten wir dieBüroleiterin Gerhard Schröders, Sigrid Krampitz, und meinen Büroleiter, Joachim Schwarzer,sowie weitere Mitarbeiter, das Material zu sichten und zu sammeln und den Programmentwurf zuerarbeiten. Ich legte Wert darauf, dass in dem Programmentwurf das sozialdemokratische Profil deutlichwurde. Wir hatten, so war meine feste Überzeugung, deshalb an Zustimmung in der Wählerschaftgewonnen, weil die Zeit der Konturlosigkeit vorüber war. Wir hatten seit dem MannheimerParteitag systematisch daran gearbeitet, unser Profil zu schärfen. Zentrale Bedeutung hatten dabeidie Sozialpolitik und die Steuerpolitik. In der Steuerpolitik standen wir für mehr Gerechtigkeitund für die Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen sowie der kleinen und mittlerenUnternehmen. In der Sozialpolitik standen wir für den Erhalt des Sozialstaats. Nachdem Norbert

Blüm bereits stolz vorgerechnet hatte, dass er bei Rentnern und Arbeitslosen aufs Jahr gerechnet98 Milliarden DM eingespart hatte, waren weitere Kürzungen bei Rentnern und Arbeitslosen nichtmehr hinnehmbar. Wir schrieben ins Programm: »Die SPD-geführte Bundesregierung wird dafür sorgen, dass derGenerationenvertrag zwischen Alt und Jung erhalten bleibt. Die von CDU, CSU und FDPbeschlossene Kürzung des Rentenniveaus macht viele Rentnerinnen und Rentner zuSozialhilfeempfängern. So darf man mit Menschen, die ein Leben lang hart gearbeitet haben,nicht umgehen. Die SPD-geführte Bundesregierung wird das Rentengesetz von CDU, CSU undFDP umgehend korrigieren. Wir werden für die dauerhafte Stabilität der gesetzlichenRentenversicherung sorgen, damit die Menschen im Alter einen angemessenen Lebensstandardhaben. Wir werden auch Voraussetzungen dafür schaffen, dass die gesetzliche Rente durch private

Vorsorge, Betriebsrenten und durch eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer amProduktivkapital ergänzt wird. Wir wollen, dass alte Menschen nicht auf Sozialhilfe angewiesensind: Wir werden eine soziale Grundsicherung einführen, die im Bedarfsfall die Rente so erhöht,dass Armut im Alter verhindert und die Inanspruchnahme von Sozialhilfe vermieden wird.«Interessanterweise beschloss die CDU/CSU vor der bayerischen Landtagswahl am 13. September1998, dass die Rentenkürzung nicht für Langzeitversicherte gelte. Sie war von vielen Leuten, die seitüber 45 Jahren Versicherungsbeiträge zahlen und nicht bereit waren, die Kürzungen hinzunehmen, zudieser Entscheidung gedrängt worden. Das war zwar im Hinblick auf die Anerkennung derLebensleistung dieser Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer begründbar, zeigte aber auch auf, inwelchem Ausmaß der CDU/CSU das Gespür für soziale Gerechtigkeit verlorengegangen war. Denndiese Festlegung hieß: Bei den höheren Renten setzen wir die Kürzung aus, bei den kleineren Rentenwollen wir sie aber anwenden. Ich war wirklich empört. Das Ganze ging im Wahlkampfgetümmel

unter. Die CDU/CSU wurde von der konservativen Presse dafür kaum gescholten. Dabei war selbstden hartgesottensten konservativen Kreisen in Deutschland klar, dass man nicht nur bei den niedrigenRenten kürzen konnte. 

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Diese Wende führte aber dazu, dass auch wir unsere Zusagen an die Rentnerinnen und Rentnerpräzisieren mussten. Die etwas weiche Formulierung, »wir werden das Rentengesetz korrigieren«, dieuns mehrere Optionen offen ließ, wurde in der Folgezeit ersetzt durch »wir werden die Rentenkürzungrückgängig machen«. Wir konnten ja im bayerischen Landtagswahlkampf nicht sagen, dass wir dieRentnerinnen und Rentner, die lange gearbeitet hatten und viele Versicherungsjahre nachweisenkonnten, schlechter behandeln wollten, als es die CDU/CSU vorhatte. Im übrigen hatten wir bei denRenten immer wieder versucht, nicht zuletzt auf Verlangen unseres Experten Rudolf Dressler, einenKonsens der großen Parteien zustande zu bringen.  Dieser Konsens wurde immer schwieriger, weil sich die CDU/CSU in der babylonischenGefangenschaft der FDP nicht auf einen Konsens mit der SPD einlassen wollte. Am Ende stellte sichaber heraus, dass es ohne uns doch nicht ging, denn der Rentenkasse fehlten wieder Milliarden. Sowaren wir es, die über den Bundesrat die Finanzierung der Rentenkasse dadurch ermöglichten, dasswir der Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Punkt zustimmten und ebenfalls zustimmten, dassdiese Mehreinnahmen voll der Rentenkasse zugute kamen. Damit widerlegten wir den oft gegen unsgerichteten Vorwurf der Blockade im Bundesrat. Heute frage ich mich, ob bei anders verteilten Rollenkurz vor der Wahl CDU/CSU und FDP einer Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Sanierung derRentenkasse zugestimmt hätten. Für uns auf jeden Fall war es selbstverständlich, dass wir an dieser

Stelle wahltaktische Argumente zurückstellen und der Finanzierung der Renten den Vorzug gebenmussten.  Nach der Bundestagswahl stellte sich heraus, dass das Institut Allensbach die besten Prognosen zurBundestagswahl vorgelegt hatte. Allensbach hatte aber auch ermittelt, dass die soziale Gerechtigkeitdas entscheidende Thema dieser Wahl war. Nach Meinung des Instituts wurde die Regierung Kohldeshalb abgewählt, weil sie beim Volk den Eindruck erweckte, es ginge in Deutschland nicht mehrgerecht zu. Es kam für uns darauf an, im Regierungsprogramm Vorstellungen festzuschreiben, derenVerwirklichung nach unserer Überzeugung von der großen Mehrzahl der Wählerinnen und Wählererwartet wurde: eine gerechte Steuerpolitik, das Absenken des Eingangssteuersatzes, die Erhöhung desKindergelds, Entlastungen für den Mittelstand und das Absenken der Sozialversicherungsbeiträge.Diese steuerpolitischen Vorstellungen waren verbindlich, nachdem die Auseinandersetzungen um dasSteueränderungsgesetz durch Mehrheitsbeschlüsse der Parteigremien beendet worden waren.  

Wir versprachen auch, die gröbsten Fehlentscheidungen in der Regierung Kohl zu korrigieren. Einedieser Fehlentscheidungen war die Aussetzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Ich glaube,dass die Regierung Kohl einen entscheidenden Fehler machte, als sie das Bündnis für Arbeit nicht zumErfolg führte. Jede konservative Regierung hätte gut dagestanden, wenn es ihr gelungen wäre,zusammen mit den Gewerkschaften ein Bündnis für Arbeit zu verabreden, in dem die Schaffung vonArbeitsplätzen durch Strukturmaßnahmen, auf die sich Regierung, Unternehmer und Gewerkschaftenverständigten, erleichtert worden wäre. Insoweit war der Ansatz des Bündnisses für Arbeit richtig.Aber die Regierung Kohl verließ irgendwann die Rolle des Schiedsrichters zwischenUnternehmensverbänden und Gewerkschaften und vereinbarte einseitig mit denUnternehmensverbänden den Abbau der Lohnfortzahlung. Folgerichtig stiegen die Gewerkschaftenaus dem Bündnis für Arbeit aus. Wir nutzten diese Situation und nahmen die Wiederherstellung derLohnfortzahlung als zentralen Programmpunkt auf. Zwar waren die »Modernisierer« unter uns von

dieser Vorstellung nicht so sehr begeistert. Für die Mehrheit des Parteivorstands aber war klar, dassdie Wiederherstellung der Lohnfortzahlung zu einem zentralen Bestandteil des Regierungsprogrammswerden musste. Dasselbe galt für die Wiederherstellung des Kündigungsschutzes in kleineren Betrieben. Obwohl inganz Europa und auch in der Bundesrepublik im Zuge der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte dieMöglichkeit sehr stark ausgeweitet worden war, Zeitarbeitsverträge an die Arbeitnehmer zu vergeben,meinte die Regierung Kohl, sie müsste die Forderung der Unternehmensverbände aufgreifen und denKündigungsschutz in kleineren Betrieben einschränken. Dabei wurde immer wieder auf die Praxis von»hire and fire« in Amerika verwiesen. Der Kündigungsschutz aber berührt einen zentralen Bestandteildes Gesellschaftsvertrags, der in Europa über viele Jahre entwickelt worden ist. Europa ist an dieserStelle nicht mit Amerika vergleichbar. In einem Land wie den Vereinigten Staaten, in demZuwanderer und Siedler die soziale Kultur entwickelt haben, sind andere Regelungen imArbeitsschutz möglich. Europa hat eine gewachsene gesellschaftliche Tradition. DerKündigungsschutz ist cm fester Bestandteil der europäischen Sozialkultur. 

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Im übrigen würde auch keiner der Unternehmensleiter, die sich in Verbandsvorständen für den Abbaudes Kündigungsschutzes stark machen, selbst bereit sein, unter solchen Bedingungen zu arbeiten. Inder Regel sind die Verträge dieser Herren auf fünf Jahre angelegt und vorzeitige Kündigungen mithohen Ablösesummen verbunden. Hier zeigt sich wieder, dass in unserer Gesellschaft der Satz »Wasdu nicht willst, dass man dir tu', das füg' auch keinem ändern zu« in der Diskussion über die Reformenim Wirtschaftsleben nicht berücksichtigt wird. Ich habe in meinen Wahlkampfreden dieses Sprichwortimmer wieder verwendet und fand damit große Zustimmung beim Publikum. Es traf genau dasEmpfinden der Bevölkerung. Mangelnde Sensibilität gegenüber dem Kündigungsschutz, die sich nicht zuletzt auf das Betreiben derFDP in der Regierung Kohl durchsetzte, zeigten andere konservative europäische Parteien nicht. Sosagte der christsoziale Premierminister von Luxemburg, Jean-Claude Juncker, immer wieder, inEuropa dürfe es keinen Wettbewerb darüber geben, wer die schlechtestenKündigungsschutzbestimmungen habe. Eine wohltuende Erklärung, die sich von dem abhob, was auf konservativer Seite in Deutschland zum Allgemeingut geworden war: Der Standortwettbewerb ver-pflichte uns, überflüssige soziale Regeln abzubauen und bei diesem Abbau in einen Wettbewerb mitanderen Ländern einzutreten. Erst relativ spät erkannte die Regierung Kohl, dass die SPD mit ihremHinweis auf gemeinsame soziale Standards in Europa die Stimmung des Volkes weitaus eher

getroffen hatte als die neoliberalen Standortpropheten. Diese konnten vor allem die Frage nichtbeantworten, wo dieser Wettbewerb um den Sozialabbau eigentlich aufhören solle. DieWiederherstellung des Kündigungsschutzes in Kleinbetrieben war also eine zweite wichtige Forderungunseres Regierungsprogramms. Der dritte Punkt war die Wiedereinführung des Schlechtwettergelds. Hier sprachen wir den Teil derArbeitnehmerschaft an, der in besonderem Maß Opfer der Öffnung der Grenzen geworden war,nämlich die Bauarbeiter. Was sich alles bei der illegalen Beschäftigung in Deutschland abspielt, istunvorstellbar. So gingen Meldungen durch die Zeitungen, dass ukrainische Bauarbeiter in Zeltennächtigten und für Stundenlöhne beschäftigt wurden, die unter einer Mark lagen. Wenn dasmarxistische Wort von der schamlosen Ausbeutung eine Bedeutung hat, dann gilt es für die Praktikenim Baugewerbe. Hier war die Sozialdemokratische Partei gefordert. Wir sahen in den Bauarbeiternunsere Ansprechpartner. Wir wollten das Schlechtwettergeld, eine Errungenschaft, die die Bauarbeiter

über viele Jahre erkämpft hatten, nicht preisgeben. Wir unterstützten daher die Baugewerkschaft undnahmen ihre Forderung nach Wiederherstellung des Schlechtwettergelds in unser Regie-rungsprogramm auf. In diesem Zusammenhang gelang es uns, den Vorsitzenden der Gewerkschaft IGBauen, Agrar, Umwelt, Klaus Wiesehügel, für eine Bundestagskandidatur zu gewinnen. Wir wollteneinen profilierten Gewerkschafter in der neuen Bundestagsfraktion haben. In unserem Regierungsprogramm formulierten wir: »Sozialdumping, Lohndumping, illegaleBeschäftigung und systematische Schwarzarbeit untergraben die sozialen Sicherungssysteme, höhlendie Tarifordnung aus und bedrohen die Existenz legal arbeitender Unternehmen. Wir wollen neueBeschäftigungsformen auf dem Arbeitsmarkt, aber wir werden weder einen unfairen Wettbewerb nochdie Flucht aus der Sozialversicherung zulassen. Wir werden Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarktwiederherstellen. Wir werden mit einem Aktionsprogramm illegale Beschäftigung und Schwarzarbeitwirksamer als bisher bekämpfen. Zur Verhinderung von Sozialdumping muss das Prinzip >gleicher

lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort< durch nationale und europäische Regelungen durchgesetztwerden.« Denjenigen, insbesondere aus der FDP, die gegen diese politischen Vorstellungen zu Felde zogen,hielt ich immer entgegen, der Mensch sei keine Ware. Zwar könne man beim Bananenimport oderbeim Import von irgendwelchen Industriegütern sehr wohl das Prinzip des Wettbewerbs hochhalten.Aber die Löhne und Arbeitsbedingungen der Menschen seien nicht in erster Linie unter dem Gesichts-punkt des Wettbewerbs zu betrachten. Das entspräche nicht dem sozialdemokratischenGrundverständnis von Politik. Ich war auch zornig auf Politiker in Deutschland, die sich trotz der miserablen Arbeitsbedingungenund Stundenlöhne gegen das Entsendegesetz wandten. Das Entsendegesetz sollte sicherstellen, dassauf deutschen Baustellen keine Arbeitslöhne gezahlt werden, die weit unter dem Existenzminimumlagen. Politikern von FDP, CDU, aber auch „Modernisierern“ in den eigenen Reihen hielt ichentgegen, dass der eine oder andere von ihnen erst wach würde, wenn auch im Deutschen Bundestagpolnische oder portugiesische Parlamentarier sitzen könnten, die für ein Zehntel der Diäten bereitwären, die Parlamentsarbeit zu machen. Mit diesem Hinweis hatte ich jedenfalls auf 

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Wahlversammlungen immer die Lacher auf meiner Seite. Auch hier wurde wieder deutlich, dass die»Modernisierer« Reformen für »den kleinen Mann« vorschlugen, die sie für sich selbst nie akzeptierthätten. Neben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Rentnerinnen und Rentnern wollten wir auch dieJugendlichen direkt ansprechen. Wir nahmen in das Regierungsprogramm ein Sofortprogramm zumAbbau der Jugendarbeitslosigkeit auf. Es hieß: »Mit einem Sofortprogramm zur Bekämpfung derJugendarbeitslosigkeit werden wir dafür sorgen, dass 100000 jugendliche Arbeitslose so schnellwie möglich in Ausbildung und Beruf kommen. Wir wollen, dass alle Jugendlichen, die länger alssechs Monate arbeitslos sind, einen Ausbildungsplatz oder einen Arbeitsplatz erhalten. Für dieFinanzierung des Programms werden die Mittel eingesetzt, die sonst für die Bezahlung derJugendarbeitslosigkeit ausgegeben werden müssten. Unser Grundsatz heißt: Ausbildung undArbeit statt Jugendarbeitslosigkeit.« Diese Verpflichtung war wichtig, weil sie insbesondere fürdie Jugendorganisationen eine Möglichkeit bot, bei den jungen Menschen für einenRegierungswechsel zu werben. Dazu kam, dass die Ausbildungsplatzabgabe in das Regie-rungsprogramm aufgenommen wurde. Ich legte Wert darauf, dass sie Bestandteil unseresRegierungsprogramms war. Es hieß: »Wirtschaft und Öffentlicher Dienst müssen in eigenerVerantwortung für ein ausreichendes Lehrstellenangebot sorgen. Anderenfalls wird auf 

gesetzlicher Grundlage ein fairer bundesweiter Leistungsausgleich zwischen ausbildenden undnicht ausbildenden Betrieben notwendig.« 

Hier musste eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung Flagge zeigen. Eine Gesellschaft,in der sich ein Privatvermögen von 14,5 Billionen Mark angehäuft hatte, musste in der Lage sein, jedem Jugendlichen, der es wollte, einen Ausbildungsplatz anzubieten. Das war nicht eine Frageökonomischer Rationalität, sondern eine Frage gesellschaftlicher Natur. Wie wollen wirzusammen leben und arbeiten? Ist es zulässig, jungen Menschen den Einstieg ins Berufsleben zuverwehren? Unsere Antwort war eindeutig. Wir wollten es nicht bei unverbindlichenFormulierungen lassen, sondern klare, überprüfbare Zusagen machen. Auch in der Gesundheitspolitik bestand Korrekturbedarf. Jeder weiß, dass der volkstümliche Satz»Ich wünsche dir Glück, vor allem aber Gesundheit« nicht einfach dahergesagt ist. Alles wird

belanglos und alles wird unwichtig, wenn plötzlich ein Familienmitglied oder ein Freund voneiner schweren Krankheit heimgesucht wird. In diesen Zeiten lernt man die Bedeutung einesguten Gesundheitswesens schätzen. Auf jeden Fall kann eine sozialdemokratische Partei nichteiner Entwicklung tatenlos zusehen, die darauf hinaus läuft, dass bestimmte medizinischeLeistungen nur noch von denen in Anspruch genommen werden können, die ein hohesEinkommen haben. Daher haben wir die Absichtserklärung in das Regierungsprogrammaufgenommen, die gesetzlich festgelegte Steigerung der Zuzahlungen bei den Arzneimittelnwieder zurückzunehmen. Wir nahmen ebenfalls ins Programm auf, dass Jugendlichen wieder dieFinanzierung des Zahnersatzes zustehen sollte. Auch diese beiden Versprechen spielten imWahlkampf eine wichtige Rolle. Ich war erleichtert darüber, dass wir es geschafft hatten, ein klar sozialdemokratisch profiliertes

Regierungsprogramm aufzuschreiben und dass dieses Programm die Unterschrift desKanzlerkandidaten und des Parteivorsitzenden trug. Es sollte nach der Wahl keinen Streit darübergeben, welche Politik zu machen war. Es war interessant zu beobachten, dass im Wahlkampf genau diese Programmpunkte eine entscheidende Rolle spielten und von der sozialdemokratischenAnhängerschaft als das Markenzeichen der SPD angesehen wurden. Natürlich fehlte es nicht an Kommentaren, dass diese Versprechen dem »Modernisierer« Schrödervon dem »Traditionalisten« Lafontaine und seinem Anhang aufgezwungen wurden seien. Es warfür mich aber erfreulich, dass sich alle sozialdemokratischen Wahlkämpfer einschließlich desKanzlerkandidaten in ihren Reden auf diese Programmpunkte bezogen, weil ihnen dann eineentsprechende Resonanz beim Publikum gewiss war. Mit Sprüchen wie: Die sozialen Leistungensind zu hoch, die Löhne sind zu hoch, die Arbeitsbedingungen müssen noch flexibler werden, unddie Arbeitnehmerrechte müssen weiter abgebaut werden, kann kein Sozialdemokrat Wahlkämpfebestehen. Man kann mit solchen Parolen vielleicht bei Versammlungen von Unternehmern undGewerbetreibenden punkten. Diese ärgern sich oft über Kündigungsschutzbestimmungen oder überdie sozialen Ansprüche der Arbeitnehmerschaft. Das ist menschlich alles verständlich. Man findet mit

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solchen Sprüchen auch Beifall in der Presse. Aber eine sozialdemokratische Wahlkampagne kann nurmit sozialdemokratischer Politik geführt werden. Und wenn es eines Beweises bedarf, dann erbrachteihn der Bundestagswahlkampf des Jahres 1998.  Für mich war es wichtig, dass das Regierungsprogramm auch zur ökologischen Erneuerung derIndustriegesellschaft klare Aussagen machte. In Deutschland hatte sich die falsche Meinungdurchgesetzt, Modernisierung und ökologische Erneuerung seien ein Widerspruch. Da der Begriff der»Modernisierung« auf Sozialabbau, auf den Abbau von Arbeitnehmerrechten und auf eine falschverstandene Flexibilisierung des Arbeitsmarkts ausgerichtet war, schien alles Ökologische demModernisierungsgedanken zu widersprechen.  Interessanterweise übersahen diejenigen, die sich in Deutschland auf Tony Blair und seineModernisierung beriefen, dass der Vordenker Tony Blairs, Anthony Giddens, die ökologischeErneuerung der Industriegesellschaft zum zentralen Projekt der Moderne erklärt. In seinem Euch Jenseits von rechts und links nennt er die Umweltbewegung die bedeutsamste Bewegung der letztenJahre. In seinem Buch Der dritte Weg schreibt er: »Modernisierung ist grundlegend für die neuePolitik. Ökologische Modernisierung ist ein Bestandteil von ihr neben anderen. Tony Blairs Redenetwa sind mit dem Wort nur so gespickt. Was soll man darunter verstehen? Zum einen natürlich dieModernisierung der Sozialdemokratie selbst. Das Abrücken von klassischen sozialdemokratischen

Positionen.[ Giddens zielt hier auf die Verstaatlichungsideen der Labour-Party, die die SPD schon imGodesberger Programm aufgegeben hatte.] Eine allgemeine Modernisierungsstrategie kann jedoch nur

Erfolg haben, wenn die Sozialdemokraten ein anspruchsvolles Verständnis des Konzepts haben. Eineökologisch sensibilisierte Modernisierung kann nicht nach dem Motto mehr und immer mehrModernität verfahren. Es gilt vielmehr, die Brüche und Grenzen des Modernisierungsprozesses selbstin Rechnung zu stellen. Modernisierung hat angesichts des unberechenbaren Wandels, der von derprinzipiell unvorhersehbaren Dynamik der wissenschaftlichen und technologischen Innovation geprägtist, die Aufgabe, für ein gewisses Maß an Kontinuität zu sorgen und den gesellschaftlichenZusammenhalt zu stärken.« Anthony Giddens käme es nicht in den Sinn, ökologische Forderungen als unmodern oderwirtschaftsfeindlich abzutun. Es käme ihm noch weniger in den Sinn, den Abbau vonArbeitnehmerrechten ins Zentrum der Modernisierung zu rücken, denn dies würde den

»gesellschaftlichen Zusammenhalt« nicht gerade stärken.  Das Regierungsprogramm enthielt daher eindeutige Forderungen zur ökologischen Modernisierung.Wir versprachen die ökologische Erneuerung des Steuer- und Abgabensystems. Die Arbeit war inDeutschland zu teuer geworden. Der Umweltverbrauch war relativ billig. Da das Steuer- undAbgabensystem die wichtigen Rahmendaten beinhaltet, die der Staat festsetzt, um die soziale Markt-wirtschaft zu ermöglichen, ist die ökologische Modernisierung dieses Steuer- und Abgabensystems einwesentliches Projekt der Modernisierung. Wir forderten die Energiewende und den Ausstieg aus derAtomkraft. Einen Zeitplan legten wir nicht fest. Viele praktische Argumente sprachen dagegen. Eshieß in unserem Programm, dass wir die Nutzung der Atomkraft so schnell wie möglich beendenwollen. Die Energiewende überschrieben wir mit: »Wir wollen die Brücke ins Solarzeitalter bauen.Das ist unsere Vision für das 21. Jahrhundert. Die erneuerbaren Energien sollen ein Eckpfeiler derEnergieversorgung werden. Der Anteil der regenerativen Energien an der gesamten Energieversorgung

soll schrittweise erhöht werden. Dazu gehören faire Einspeiseregelungen für Strom aus erneuerbarenEnergiequellen, das gilt sowohl national als auch europaweit. Die industrielle Massenfertigung fürmoderne Solartechnologien muss ausgebaut werden. Wir werden ein Hunderttausend-Dächer-Programm initiieren und den Export der Solartechnologie in Entwicklungsländer besondersunterstützen.« Die beiden Worte »Innovation« und »Gerechtigkeit« waren keine leeren Worthülsen. Wir hatten unsim Regierungsprogramm klar festgelegt, und zwar so, dass auch die einfachen Mitglieder diewesentlichen Punkte des Programms vermitteln konnten. Es nützt nichts, langatmige Programme zuschreiben, die nur die Autoren verstehen. Es ist wichtig, im Dialog mit den Wählerinnen und Wählernein allgemeinverständliches Programm zu formulieren, das den Wünschen der Mehrheit Rechnungträgt und finanzierbar ist.

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Aufstellung der Regierungsmannschaft

Die Aufstellung der Regierungsmannschaft ist immer eine heikle Angelegenheit. Diejenigen, dieberufen werden, sind zufrieden. Diejenigen, die nicht berufen werden, sind enttäuscht. Daher geht keinKandidat gerne an die Aufstellung einer Regierungsmannschaft. Gerhard Schröder und ich hattendeshalb vereinbart, eine Kernmannschaft vorzustellen, um uns offen zulassen, im Fall derRegierungsbildung zusätzliche Kolleginnen und Kollegen für Regierungsämter vorzuschlagen. Somussten wir uns nicht exakt darauf festlegen wer im Fall eines Wahlsiegs einen Anspruch auf einRegierungsamt haben würde und wer nicht. Dies diente der Befriedigung der Partei und wurdeletztendlich auch so angenommen. Natürlich versteht es sich, dass der Kanzlerkandidat und der Parteivorsitzende derRegierungsmannschaft angehören. Ich erklärte mich bereit, die Verantwortung für die BereicheFinanzpolitik und Europapolitik zu übernehmen, ohne dass das eine endgültige Festlegung war. Schondamals war darüber gesprochen worden, dass ich auch das Amt des Fraktionsvorsitzendenübernehmen könnte, um dem zukünftigen Bundeskanzler die notwendige Rückendeckung zu geben.Vor allem ehemalige Bundesminister wie Horst Ehmke und Herbert Ehrenberg rieten zu dieserLösung. Wir waren uns klar darüber, dass die Regierungsarbeit nur erfolgreich sein könnte, wennParteivorsitzender und Bundeskanzler eng zusammenarbeiteten. Überlegungen, die vielerortsangestellt wurden, ob die zusätzliche Übernahme des Amtes des Fraktionsvorsitzenden durch michnicht eine unzulässige Verschiebung der Machtbalance gewesen wäre, waren im Prinzip richtig. Sieänderten aber nichts an meiner Sicht der Dinge, dass nur auf der Grundlage einer fairen undkameradschaftlichen Zusammenarbeit die Regierungsarbeit funktionieren konnte. Rudolf Scharping übernahm die Bereiche Außenpolitik und Sicherheitspolitik. Auch das war keineendgültige Festlegung, da Rudolf Scharping weiterhin interessiert war, Fraktionsvorsitzender zu sein.

Er war sogar oft gekränkt, wenn Gerhard Schröder oder andere öffentlich darüber redeten, dass derParteivorsitzende auch Fraktionsvorsitzender werden könne, wenn er es denn wolle. Gerhard Schröder hatte mir in einem der vielen Gespräche, die wir führten, für den Fall derRegierungsbildung auch die Position des Außenministers angeboten. In diesem Amt hatte sich WillyBrandt einst internationales Ansehen erworben. Doch nicht nur mich hätte dieses Amt gereizt - auchScharping wollte Außenminister werden, und Fischer war auf dieses Amt geradezu fixiert. DerFinanzminister hat dagegen eine Aufgabe, bei der man eigentlich nur verlieren kann. Theo Waigelrangierte, von mir nicht unbemerkt, am unteren Ende der Popularitätsskala. Aber ich hatte mir nun ein-mal vorgenommen, meinen Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu leisten. Es war seit vielenJahren jedem, der sich näher mit der Sache befasste, aufgefallen, dass der Finanzminister für denAbbau der Arbeitslosigkeit weitaus mehr tun konnte als der Wirtschaftsminister. Helmut Schmidtwollte das Wirtschaftsministerium ganz auflösen, weil es nur noch für Messeeröffnungen und

Subventionen zuständig sei. Ich hatte im übrigen als finanzpolitischer Koordinator der SPD im Bundesrat lange Zeit dieFinanzpolitik der SPD geprägt. Darüber hinaus war es nur ehrlich, wenn derjenige, der die Wende inder Partei zu einer neuen Wirtschafts- und Finanzpolitik durchgesetzt hatte, auch in derRegierungsarbeit dafür gerade stehen würde. »Unsere Antwort auf die Globalisierung der Wirtschaftist eine Politik der inneren Reformen und der internationalen Zusammenarbeit«, schrieben wir, undweiter: »Einen Kostensenkungswettlauf gegen die Billiglohnländer dieser Welt kann Deutschlandnicht gewinnen. Wenn wir im internationalen Wettbewerb bestehen wollen, dann müssen wir einfachproduktiver und besser sein als unsere Konkurrenten. Spitzenprodukte und Spitzenqualität zuwettbewerbsfähigen Preisen, darin liegt die Zukunft der deutschen Wirtschaft. Wir wollen auch einenLeistungswettbewerb um das weltweit beste Bildungssystem, die leistungsfähigste Forschung, dieneuesten Technologien und die modernste Infrastruktur. Die globalisierten Märkte brauchen eine neue

und faire Weltwirtschaftsordnung, die sich an den Grundsätzen der sozialen und ökologischenMarktwirtschaft orientiert. Mit einer klugen und pragmatischen Kombination von Angebots- undNachfragepolitik wollen wir für mehr Wachs tum und neue Arbeitsplätze sorgen.« Dazu versprachen

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wir steuerliche Entlastung, vor allem für Arbeitnehmer und Familien, eine konjunkturgerechteFinanzpolitik mit einer Verstetigung öffentlicher Zukunftsinvestitionen auf möglichst hohem Niveauund einer Verdoppelung der Zukunftsinvestitionen für Bildung, Forschung und Wissenschaft. Das war in wenigen Worten der Gegenentwurf zur Angebotspolitik, die auf Unternehmensteuersenkung, Lohnzurückhaltung, Kürzung sozialer Leistungen und den Abbau vonArbeitnehmerrechten setzte. Die Angebotspolitik beruht auf dem Konzept des Standortwettbewerbs,das Volkswirtschaften mit Betrieben gleichsetzt und Kostensenkung, Steuerwettbewerb und denAbbau sozialer Leistungen zur Voraussetzung für neue Investitionen und Arbeitsplätze erklärt. UnserRegierungsprogramm war eine Absage an die herrschende angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, diedas Arbeitslosendesaster herbeigeführt hatte. Es bot sich daher an, dass ich selbst die Verantwortungfür diese Aufgabe in der Regierung übernehmen würde. So berief ich später mit Heiner Flassbeck und Claus Noe zwei Männer zu Staatssekretären, die fürdiese neue wirtschafts- und finanzpolitische Konzeption standen. Dass sie dabei anecken würden, warvorauszusehen. Sich brav in die herrschende Meinung einzuordnen ist in der Regel leichter und vonmehr öffentlichem Beifall begleitet. Dass Hans Eichel später über die beiden herzog mit den Worten,der eine hat das Ministerium, der andere die Welt gegen sich aufgebracht, war nicht gerade fair, zumaler es in Rekordzeit fertiggebracht hatte, Arbeitnehmer, Arbeitslose und Rentner gegen sich

aufzubringen. 

Heiner Flassbeck hatte bei seinen Vorstößen meist die Unterstützung der Franzosen und Japaner. Dassdie Angelsachsen und Tietmeyer nicht mit ihm übereinstimmten, sprach nicht unbedingt gegen ihn.Claus Noe ist ebenfalls ein konsequenter Befürworter einer Wirtschaftspolitik, die Angebot undNachfrage in gleicher Weise berücksichtigt. Auch er traf daher auf Widerstände. Die Kontinuität desFinanzministeriums stellte der langgediente Staatssekretär Manfred Overhaus sicher. Mit BarbaraHendricks und Karl Diller als Parlamentarische Staatssekretäre hatten wir eine gute Mannschaftzusammen. Die Kritik, dass in den ersten Monaten das Ministerium nicht perfekt funktionierte, istnicht falsch, fällt aber auf die Kritiker zurück. Leute, die von sich behaupten, sie bekämen ein großesMinisterium innerhalb kürzester Zeit in den Griff, offenbaren nur ihre Ahnungslosigkeit. Es gibt aberMinister, die das Ministerium innerhalb kürzester Zeit im Griff hat. Sie übernehmen meist, ohne es zumerken, die Politik ihrer Vorgänger, die das Ministerium ebenfalls fest im Griff hatte. 

Für den Bereich der Justiz schlug Gerhard Schröder Däubler-Gmelin vor, die im Präsidium die einzigewar, dir ihn mehr oder weniger offen bei der Kanzlerkandidatur unterstützt hatte. Für den BereichForschung, Bildung und Umwelt verständigten wir uns auf Edelgard Bulmahn. Ursprünglich wollteich in Abstimmung mit Manfred Stolpe Matthias Platzeck für die Kernmannschaft vorschlagen. Er 

hatte sich bei der Oder-Flut weit über Brandenburg hinaus einen Namen gemacht und sollte für denBereich Umwelt zuständig sein. Seine Kandidatur für das Amt des Oberbürgermeisters von Potsdamführte jedoch dazu, dass wir dieses Vorhaben aufgaben. Gesetzt für die Regierungsmannschaft warChristine Bergmann aus Berlin, die mehrere Vorzüge in sich vereinigte. Sie repräsentierte den Osten,war eine attraktive Frau und hatte sich als Berliner Senatorin Fachkompetenz erworben, so dass sie fürden Bereich Jugend und Familie in die Wahlkampfmannschaft aufgenommen wurde. Rolf Schwanitzwar im Wahlkampfteam für den Aufbau Ost zuständig. Er hatte sich in der Bundestagsfraktion alsAnwalt der Ostdeutschen einen Namen gemacht. Auf dem Leipziger Parteitag hatte ich mich mit

Gerhard Schröder verständigt, Walter Riester in die Regierungsmannschaft zu nehmen. Er war als einals reformfreudig bekannter Gewerkschafter eine gute Besetzung für das Amt des Arbeitsministers.Willy Brandt hatte die Tradition begründet, führende Gewerkschafter in die Regierung zu berufen. Ichwar und bin der Überzeugung, dass erfolgreiche sozialdemokratische Politik nur in engemSchulterschluss zwischen Sozialdemokraten und Gewerkschaftern möglich ist. Im den Bereich der Innenpolitik einigten wir uns auf Otto Schily. Otto Schily hatte sich meineWertschätzung dadurch erworben, dass er die schwierigen Verhandlungen über den großenLauschangriff gut geführt hatte. Er musste dabei auch viel Kritik aus der eigenen Partei einstecken.Letztendlich erwies er sich aber als jemand, der klare Vorstellungen hatte und in der Lage war, sieStück für Stück umzusetzen. Er hatte ein Gespür dafür, welcher Kompromiss für die jeweilsBeteiligten vertretbar war. Auch Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering gehörte dem Wahlkampf-team an. Wir hatten vor, ihn zum Chef des Bundeskanzleramts zu machen.  

Als besonders schwierig stellte sich die Suche nach dem Kandidaten für das Amt desWirtschaftsministers dar. Gerhard Schröder hatte in einem seiner Interviews angekündigt, einenunabhängigen Fachmann zu berufen. 

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Ich selbst stand dieser Absicht skeptisch gegenüber. Die in der Öffentlichkeit stets positivaufgenommene Formel von einem Fachmann von außen unterstellt, dass es in den Parteien zu wenigFachleute gäbe. Meine Erfahrung war aber die, dass weder wissenschaftliche noch unternehmerischeQualifikation ausreicht, um in der Politik für Wirtschafts- und Finanzpolitik verantwortlich zu sein.Die Führung eines Lehrstuhls ist eine Sache. Die Führung eines Unternehmens verlangt ebenfalls einebesondere Begabung. Ganz anders sind aber die Anforderungen, die an die Führung einesMinisteriums gestellt werden. So erwerben sich die Wirtschafts- und Finanzpolitiker der jeweiligenParteien nicht nur im Laufe der Jahre die notwendigen Fachkenntnisse, sondern auch die notwendigenpolitischen Kenntnisse, um in einer parlamentarischen Demokratie ein Ministerium führen zu können.Auch in den vergangenen Jahren hatte man mit der Berufung unabhängiger Fachleute - auch hier warWilly Brandt in der SPD Vorreiter - nicht unbedingt die besten Erfahrungen gemacht.  Schröder war aber im Wort, und weil sich die Suche lange hinzog, wurde er in der Öffentlichkeitimmer wieder mit der Frage konfrontiert, wann endlich der unabhängige Fachmann oder dererfolgreiche Unternehmer präsentiert würde. Was einen unabhängigen Unternehmer oder Manageranging so standen der Berufung auch Eigeninteressen entgegen. Einmal ist die Annahme einesRegierungsamts in der Regel mit einem drastischen Rückgang des persönlichen Einkommensverbunden. Zum anderen läuft die Kandidatin oder der Kandidat Gefahr, im Fall einer Wahlniederlage

In den eigenen Kreisen an Ansehen zu verlieren und für die misslungene Bewerbung auch noch mitSpott und Häme konfrontiert zu werden. Im Juni aber war es dann soweit. Schröder rief mich an Und sagte mir, er habe jetzt den richtigenMann. Einen jungen erfolgreichen Unternehmer aus der Computerbranche. Wir vereinbarten eingemeinsames Treffen, und am Freitag, dem 19. Juni, lernte ich Jost Stollmann in der BonnerSaarvertretung kennen. Er machte einen guten Eindruck und schilderte seine berufliche Karriere. Erwar mit seiner Kerpener Firma CompuNet zum Umsatzmilliardär aufgestiegen und 1990 zumEuromanager des Jahres gewählt worden. Er hatte an der Bostoner Harvard Business School studiert.Sein Unternehmen, das er an den US-Konzern General Electric verkauft hatte, machte zum Schlusseinen Umsatz Von 1,9 Milliarden DM und hatte 1800 Mitarbeiter. Das Unternehmen galt als arm anHierarchien, schnell, beweglich und dynamisch. Stollmann, der Vater von fünf Kindern ist, war alsoaufgrund seines bisherigen Lebenslaufs ein idealer Kandidat für Gerhard Schröders Politik der neuen

Mitte, die sich ja vor allem an junge Aufsteiger wenden wollte.  Ich hatte gleichwohl ein ungutes Gefühl, denn ich merkte schnell, dass der Politikbetrieb JostStollmann sehr fremd war. Ich bat daher Gerhard Schröder, die Entscheidung nicht vorzeitig bekanntzugeben, da ich noch das Präsidium für diesen Plan gewinnen wollte. Ich hatte es alsParteivorsitzender zu meinem Prinzip gemacht, in schwierigen Fragen das Präsidium entscheiden zulassen. Es war aber bereits zu spät. Am nächsten Tag stand der Name Jost Stollmann in allenZeitungen. In den darauffolgenden Wochen ging die Freude erst richtig los. Jost Stollmann gab eineReihe von Interviews. Er lobte Helmut Kohl für seine phantastischen Leistungen. Er hatte eine sehrkritische Einstellung gegenüber der Mitbestimmung und dem Sozialstaat. Pfarrer Hintze feixte: »Prost,Jost!« Und Helmut Kohls Kanzleramt spottete: »Das ist unser Mann im Ollenhauer-Haus.« Wir warenerleichtert, als Jost Stollmann seinen Urlaub nahm.  Mitte August berief Helmut Kohl als Antwort auf Jost Stollmann seinen alten Widersacher, Lothar

Späth, zum Vorsitzenden eines Beraterkreises für Zukunft und Innovation. Das sah aus wie der Griff nach dem letzten Strohhalm. Ein Regierungschef, der kurz vor der Wahl einen Beraterkreis fürZukunft und Innovation braucht, stellt sich selbst das denkbar schlechteste Zeugnis aus. Der Wahlsiegrückte immer näher. Wir stellten in dieser Zeit auch Überlegungen an, wie wir Gerhard Schröders Ansehen in Frankreichverbessern könnten. Die Franzosen hatten den Eindruck, er sympathisiere eher mit derangelsächsischen Kultur. Zudem hatte er die Regierung Jospin mit der schnodderigen Bemerkungbrüskiert, die Einführung der 35-Stunden-Woche in Frankreich sei gut für Deutschland. Wir reistenzusammen nach Paris und machten auf »gut Wetter«. Meine Beziehungen zur Parti Socialiste sindsehr eng und sehr freundschaftlich. Ich hatte eine Zeitlang erwogen, für das Amt des Beauftragten derBundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien in der Regierung Schröder, dasspäter Michael Naumann übernehmen sollte, Jack Lang vorzuschlagen. Ich bin sicher, dass Jack Langeine solche Aufgabe, wenn man ihn nur nachdrücklich darum gebeten hätte, auch übernommen hätte.Es wäre ein in Europa einmaliges Experiment gewesen und hätte sicherlich neue Impulse für diedeutsch-französischen Beziehungen gebracht. 

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Eines Tages überraschte mich Gerhard Schröder mit dem Vorschlag, Brigitte Sauzay, die mir alsDolmetscherin Mitterrands begegnet war, zu einer Art Frankreichbeauftragten im Kanzleramt zumachen. Mir ist bis zum heutigen Tage nicht klargeworden, was sich Gerhard Schröder von dieserBerufung versprach. Da die Angelegenheit auch nicht mit dem französischen Außenministeriumbesprochen war, kam es zu einer zusätzlichen Versammlung. Schon bald war ich gezwungeneinzugreifen. Brigitte Sauzay hatte für Gerhard Schröder ein Treffen mit Partnern der bürgerlichenOpposition in Paris organisiert. An eine gleichzeitige Begegnung mit unseren Freunden in der PartiSocialiste, um Missverständnisse auszuschließen, hatte sie nicht gedacht. Als ich davon Wind bekam,unternahm ich große Anstrengungen, dass Gerhard Schröder auch Jospin im Matignon aufsuchte. Auf meine Bitte hin strich Jospin kurzfristig einige Termine, und ein Eklat war vermieden. Schrödersgutgemeinter Vorschlag, die Briten sollten künftig stärker an der deutsch-französischenZusammenarbeit teilhaben, führte in Paris nicht gerade zu freundlichen Reaktionen. Ich hätte mir fürdie Festigung der deutsch-französischen Zusammenarbeit eine andere Vorgehensweise vorstellenkönnen.

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Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung

Die Kenner der Bonner Szene wissen, dass schon vor der Bundestagswahl ein heftiges Gerangelum Posten und Positionen einsetzte, obwohl wir es anders vereinbart hatten. Das ist menschlichnur verständlich. Der Wahlsieg ist das Ergebnis der Arbeit vieler, die sich in den unterschiedlich-sten Funktionen für die Partei engagiert und ihre Beiträge geleistet haben. Vor derBundestagswahl nahm ich das noch mit Humor und schickte alle zu Peter Struck. Ich sagte: »Peternimmt die Bewerbungen entgegen und vergibt die Posten.« Die bereits vorher getroffenenAbsprachen wurden aber direkt nach dem Wahlsieg zum Problem.  Ich hatte die Parole ausgegeben, dass wir zuerst die Koalitionsvereinbarung zustande bringen unddann die endgültige Verteilung der Ämter und Funktionen vornehmen sollten. Aber dieBundestagsfraktion hielt sich nicht daran. Wolfgang Thierse hatte schon lange sein Interesse fürdas Amt des Bundestagspräsidenten bekundet. Dagegen war nichts einzuwenden, denn er hatte in jedem Fall die persönlichen Voraussetzungen für dieses Amt. Er ist nach meinem Eindruck

mittlerweile auch zu einem allseits geschätzten Bundestagspräsidenten geworden. Als Partei-vorsitzender hatte ich aber stets das Gesamte im Auge zu behalten und zu bedenken, dass wir fürdas Amt des Bundespräsidenten Johannes Rau vorschlagen wollten. Johannes Rau ist einer der beliebtesten und erfahrensten Politiker der BundesrepublikDeutschland. Die Verfassung weist dem Bundespräsidenten neben der Repräsentation inschwierigen Situationen der parlamentarischen Demokratie durchaus beachtlicheEntscheidungskompetenzen zu. Gerhard Schröder hatte zugestimmt, Johannes Rau für das Amtdes Bundespräsidenten vorzuschlagen. Daher plädierte ich für eine Frau alsBundestagspräsidentin.  Es wären mehrere Sozialdemokratinnen in Frage gekommen, so unter anderen auch Anke Fuchs.Die ehemalige Ministerin für Arbeit und Soziales im Kabinett Schmidt war

Bundesgeschäftsführerin zur Zeit Hans-Jochen Vogels und lange Zeit stellvertretende Vorsitzendeder Bundestagsfraktion. Es ist also keine Frage, dass sie in der Lage gewesen wäre, nachAnnemarie Renger die zweite sozialdemokratische Bundestagspräsidentin zu werden. Anke Fuchshatte sich aber, sicherlich aus guten Gründen, dafür entschieden, Vizepräsidentin des DeutschenBundestags zu werden. Auch Christel Hanewinckel aus Halle wäre geeignet gewesen. Sie hieltvor der Bundestagsfraktion eine überzeugende Vorstellungsrede. Aber die Entscheidung standfest, da es Vorabsprachen gab.  Dazu kam, dass Rudolf Scharping entgegen unseren Vereinbarungen schon vor derBundestagswahl daranging, bei den Abgeordneten und bei der Presse dafür zu werben, dass er dasAmt des Fraktionsvorsitzenden behielte. In der Endphase des Wahlkampfs schrieb er an dieMitglieder der SPD-Bundestagsfraktion und an die Kandidatinnen und Kandidaten der SPD für

die Bundestagswahl: >> Ich habe im Einvernehmen mit den Fraktionsgremien unsere Planungsgruppe beauftragt,gemeinsam mit den anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fraktion und auf derGrundlage unseres Wahlprogramms sowie der bisherigen Arbeit der Fraktion und im Vergleichmit den Absichten der anderen Parteien die Grundlagen für Koalitionsverhandlungen präzisevorzubereiten, damit wir sofort nach dem Wahltag am 27. September unsere Arbeit beginnenkönnen. Nach dem Abschluss von Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung können wirdann auch die notwendigen Entscheidungen innerhalb der Fraktion treffen.  Für die letzten Tage des Wahlkampfs wünsche ich Euch eine weiterhin so sachliche undengagierte Arbeit wie bisher sowie uns allen die Mehrheit für ein zukunftsfähiges und gerechtesDeutschland. Ich freue mich auf die Fortsetzung unserer gemeinsamen Arbeit und sende Euchallen einen herzlichen Gruß, Rudolf Scharping.« 

Der Brief wurde so verstanden, wie er gemeint war. Als rechtzeitige Bewerbung Rudolf Scharpings für den Fraktionsvorsitz. Mir blieb nichts anderes übrig, als diese illoyaleVorgehensweise in der Endphase des Wahlkampfs zu ignorieren.  

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Auch für den Fraktionsvorsitz wäre es denkbar gewesen, eine Frau vorzuschlagen. Herta Däubler-Gmelin hatte sich um dieses Amt schon früher beworben. Anke Fuchs oder Ingrid Matthäus-Maier wären ebenfalls in Frage gekommen. Ingrid Matthäus-Maier, die ich im Lauf derZusammenarbeit immer mehr schätzen gelernt hatte, war eine hervorragende Finanzpolitikerinund eine unserer besten Rednerinnen im Parlament. Sie kann aber mit Gerhard Schröder nicht, der

sie in Hintergrundgesprächen »Ingrid Matthäus-Müller« nannte. Sie hatte daher weder das Amtdes Finanzministers angestrebt, noch sah sie es als sinnvoll an, für den Fraktionsvorsitz zukandidieren. In beiden Funktionen war eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit demBundeskanzler gefordert. Sie suchte daher eine andere Aufgabe. Heute ist sie Vorstandsmitgliedbei der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Scharping dagegen war es während der Koalitionsverhandlungen, die uns sehr in Anspruchnahmen, gelungen, durch intensive Gespräche mit Abgeordneten und Journalisten seineKandidatur für den Fraktionsvorsitz weiter voranzutreiben. Ich hatte daran gedacht, für den Fall,dass die Bundestagsfraktion eine Frau als Bundestagspräsidentin akzeptiert hätte, FranzMüntefering für das Amt des Fraktionsvorsitzenden vorzuschlagen. Er hat Parlamentserfahrung,war schon einmal Parlamentarischer Geschäftsführer und hatte sich als Parteimanager ein hohesAnsehen in Partei und Fraktion erworben. Als wir uns zum ersten Mal der neuenBundestagsfraktion vorstellten, wurde er mit sehr viel Beifall begrüßt. Er galt zudem als einMann, der weder Schröder noch mir besonders verbunden war. Er pflegte in einer für mich fastprovozierenden Weise zu sagen, ich bin nicht der Geschäftsführer des Vorsitzenden, sondern derGeschäftsführer der Partei. Die Hartnäckigkeit Rudolf Scharpings machte diese Pläne zunichte. Immer wieder kündigte erohne Rücksprache mit Gerhard Schröder und mir an, dass er darauf bestehen würde,Fraktionsvorsitzender zu bleiben. Hier war die Autorität des Parteivorsitzenden gefordert. Ich batRudolf Scharping zu einem Gespräch und teilte ihm mit, dass ich seine Vorgehensweise als Bruchunserer Absprachen ansehen müsse. Abgesehen davon sei ich nicht der Auffassung, dass er in der jetzigen Konstellation der geeignete Fraktionsvorsitzende sei. Ich erinnerte an die verletzendenAuseinandersetzungen, die er im Jahr 1995 mit Gerhard Schröder hatte. Ich erinnerte daran, dass

er gegen den Rat von Johannes Rau und mir Gerhard Schröder als wirtschaftspolitischen Sprecherder Partei abberufen hatte. Ich wusste, dass solche Verletzungen tief sitzen und dass inSituationen, in denen es einmal schwieriger würde, der Fraktionsvorsitzende unbedingt loyal zumKanzler und zum Parteivorsitzenden stehen musste. Aufgrund der Tatsache, dass Rudolf Scharping die von ihm selbst provozierte Abwahl in Mannheim nicht verwunden hatte, war seinVerhältnis zu mir stets gespannt. Darüber konnte die parteiintern gepflegte Höflichkeit nichthinwegtäuschen.  

Wie zu meiner Bestätigung schrieb die Süddeutsche Zeitung nach meinem Rücktritt dazu: »SeinUrteil über den eigentlichen Meuchelmörder von Mannheim hatte er längst gefällt. Schon vor demGerangel mit Lafontaine um den Fraktionsvorsitz. Frühzeitig lud er so viel Schuld und so vielpersönliche Abneigung wie möglich auf die Schultern seines Nachfolgers als SPD-Chef, um auch

psychologisch Raum für eine Zusammenarbeit mit Schröder in einer SPD und einer Regierungohne Lafontaine zu haben.« Der psychologische Raum war im Sommer 1999 schon wieder sogroß geworden, dass Minister Scharping jeden wissen ließ, dass er sich für geeignet hielt,Bundeskanzler zu werden. Meine Argumente beeindruckten Rudolf Scharping nicht. Er blieb dabei, dass er alsFraktionsvorsitzender kandidieren werde. So war ich gezwungen, zum letzten Mittel zu greifenund anzukündigen, dass ich in diesem Fall mich ebenfalls um dieses Amt bewerben würde.Gleichzeitig lud ich den Parteivorstand der SPD ein, um eine Empfehlung in dieser Frageeinzuholen. Scharping zog zurück, und es wurde die gesichtswahrende Formel gefunden, dassGerhard Schröder den Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine und den Fraktionsvorsitzenden Rudolf Scharping gebeten habe, ins Kabinett einzutreten. Rudolf Scharping, der die Absprachen

gebrochen hatte, war es gelungen, diesen Vorgang so hinzustellen, als sei er zum zweiten Malvom Parteivorsitzenden gedemütigt worden. Die Bundestagsabgeordneten, die nicht informiertwaren, übernahmen teilweise diese Lesart. Die Berliner Zeitung hatte dagegen für jeden, der eswissen wollte, die Vorgehensweise Rudolf Scharpings genau beschrieben: »Scharping hat

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vorgebaut. Vom Wahlabend an verfolgte er eine konsequente Strategie, um sich mit allen Mittelnauf dem Stuhl des Fraktionschefs zu halten. Den hält er für einflussreicher als einen Posten imKabinett. Mit Hilfe offensiver, wenngleich diskreter Pressepolitik ließ Scharping in Bonn seinenWillen durchsickern, dass er keinesfalls nachzugeben gedenke. Zugleich alarmierte Scharping alleverfügbaren Truppen in der Fraktion, die ihm öffentlich zu Hilfe eilten. Scharpings Strippenzieher

und Pressesprecher aktivierten alle Drähte. So stand bald in den Zeitungen zu lesen, Scharpinghabe die Mehrheit der SPD-Abgeordneten hinter sich. Scharping und Lafontaine, da stehen sich zwei Menschen gegenüber, die ihre wechselseitigenEmotionen seit dem Mannheimer Parteitag nicht mehr in den Griff bekommen. Hinter allem, wasder jeweils andere erklärt, vermuten sie finstere Absichten, häufig zu Recht. Deshalb glaubteScharping den Versicherungen Lafontaines, er diene der Partei besser als Verteidigungsminister,keine Sekunde. Schon weil Lafontaine das Angebot aussprach, musste Scharping es als Versuchansehen, ihn ins politische Abseits befördern zu wollen.  

Nur sah Scharping sich diesmal, anders als in Mannheim, bestens vorbereitet. Zunächst hatte ersich mit dem Kanzlerkandidaten und künftigen Kanzler Gerhard Schröder versöhnt. Nachzahlreichen Wahlkampfterminen in Niedersachsen besuchte Scharping Ende Februar seineneinstigen Rivalen in dessen Wohnung in Hannover. Schröder entschuldigte sich für vielerleiVerletzungen, seither gilt ihr Verhältnis als bereinigt. Ähnlich verfuhr Scharping im Bundes-tagswahlkampf. Um sich Rückhalt in der Fraktion zu sichern, absolvierte Scharping inWahlkampftermine allein in den letzten fünf Wochen vor dem 27. September bei seinenAbgeordneten vor Ort. Er hofft, dass sich das auszahlt bei seiner Wahl zum Fraktionschef. Auchsoll es Verabredungen für bestimmte Posten geben, falls Scharping bleibt... Darum reagierteScharping auch ungerührt, als Lafontaine ihm am vergangenen Mittwoch wie 1995 in Mannheim mitseiner Gegenkandidatur drohte. Anders als damals ist Scharping überzeugt, beim Zählappell der Wahl-berechtigten vorn zu liegen. Darum spitzte Scharping den Konflikt mit öffentlichem Druck auch andiesem Wochenende weiter zu.« Aber wie in Mannheim hatte er die Lage wieder einmal falscheingeschätzt. Ich stellte fest, dass nach der gewonnenen Bundestagswahl die Dinge anders waren. Ich hatte mich

hinsichtlich meiner Möglichkeiten, die Weichen richtig zu stellen, getäuscht. Zudem hatte sichGerhard Schröder in der Frage des Bundestagspräsidenten, er selbst lehnte Wolfgang Thierse ab, undin der Frage des Fraktionsvorsitzenden nicht engagiert. Die Berliner Zeitung schrieb dazu: »Ansonsten achtet der künftige Kanzler genau darauf, in denKonflikt der Kampfhähne nicht hineingezogen zu werden. Zwar unterstützt er Lafontaines Wunsch,Scharping möge Verteidigungsminister werden. Aber er äußerte dies erst spät und ohne Leidenschaft.Die Personalfragen, sagt Schröder gelassen, die solle ruhig der Parteivorsitzende regeln.« Das warnicht gerade eine kameradschaftliche und vertrauensvolle Zusammenarbeit, auf die ich nach dergewonnenen Wahlschlacht gesetzt hatte. Als ich auch bei der Parlamentarischen Linken spürte, dass sie den Erzählungen Rudolf Scharpingsauf den Leim gegangen war, musste ich einsehen, dass meine Vertrauensbasis als Parteivorsitzendergeringer war, als ich es mir nach den drei Jahren der Zusammenarbeit und der Integration vorgestellt

hatte. Die Entscheidung um den Vorsitz der Bundestagsfraktion war auch mit der Frage verbunden, wer alsKanzleramtschef das Kanzleramt leiten sollte. Gerhard Schröder hatte mich während des Wahlkampfsdarüber informiert, dass er daran denke, Gerd Andres, den Sprecher des Seeheimer Kreises, zumKanzleramtschef zu machen. Ich konnte ihm dieses Vorhaben ausreden. Gerd Andres tat sich zwarbeim fraktionsinternen Intrigen- und Ränkespiel hervor, war aber ansonsten nicht positiv aufgefallen.  Ich hatte während des Wahlkampfs die Zustimmung Gerhard Schröders, dass Franz Müntefering Chef des Bundeskanzleramts werden sollte. Nach einer gemeinsamen Sitzung, in der es um die Festlegungder Plakate ging, die wir im Endspurt des Wahlkampfs kleben wollten, waren Gerhard Schröder undFranz Müntefering aber heftig aneinandergeraten. Am darauffolgenden Tag erklärte mir FranzMüntefering: »Mit dem mache ich das nicht.« Ich schlug Gerhard Schröder daraufhin vor, Peter Struck anzutragen, Chef des Bundeskanzleramts zuwerden. Peter Struck hatte sich für diese Aufgabe interessiert und verfügt über hervorragendeparlamentarische Erfahrung. Als Fraktionsmanager hatte er insbesondere in den Zeiten den Betrieb amLaufen gehalten, als die Fraktion mit ihrem Vorsitzenden Rudolf Scharping äußerst unzufrieden war.

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Obwohl Gerhard Schröder zunächst maulte, »der quatscht mir zuviel«, und obwohl beide kein gutesVerhältnis zueinander hatten - Schröder hatte sich immer über das Mittelmaß in der Fraktion lustiggemacht und die Abgeordneten kritisiert, die noch nicht einmal in der Lage wären, einen Wahlkreis zugewinnen -, stimmte er schließlich zu. Anschließend informierte ich Peter Struck. Unbeschadet dieser Zusage überraschte mich Gerhard Schröder eines Tages mit der Mitteilung, dassBodo Hombach Chef des Kanzleramts werden solle. Ich war verärgert darüber, dass eine Zusage, dieich, auch in seinem Namen, Peter Struck gegeben hatte, jetzt wieder rückgängig gemacht werdensollte. Zudem brach Schröder die entscheidende Absprache, die wir im »Ritter St. Georg« inBraunschweig mit einem Schnaps besiegelt hatten. Wichtige Personalentscheidungen wollten wirkünftig gemeinsam treffen. Der Chef des Bundeskanzleramtes musste, wenn die neue RegierungErfolg haben wollte, das Vertrauen des Bundeskanzlers und des Parteivorsitzenden haben. Ichkonnte nicht erkennen, welche besonderen Fähigkeiten Bodo Hombach für das Amt des Chefs desBundeskanzleramts qualifizierten. Er ist sicherlich ein fähiger Wahlkampfmanager. Aber er hattegerade erst das Düsseldorfer Wirtschaftsministerium übernommen. In den letzten Jahren hatte erin der Bundespolitik keine Rolle gespielt. Die fachlichen Diskussionen bei Steuer- oderSozialgesetzen und im Bereich der Inneren Sicherheit waren an ihm vorbeigegangen. Ein Chef des Bundeskanzleramts aber, der die Arbeit der Regierung koordinieren soll, braucht dringend

einen tiefer gehenden, auch fachlichen Überblick über die verschiedenen Politikbereiche. DieseVoraussetzungen waren bei Bodo Hombach nicht gegeben.  

Unglücklicherweise kam hinzu, dass Frank Steinmeier, der Chef der Staatskanzlei in Hannover,auch davon ausging, dass er Chef des Bundeskanzleramts würde. Als Administrator ist FrankSteinmeier ein hervorragender Mann. Wir schätzten seine Arbeit, insbesondere die geräuschloseArt, mit der er auch schwierigere Probleme meisterte. Bei den Koalitionsverhandlungen war ichdankbar, dass er für den zukünftigen Bundeskanzler die administrative Seite übernahm. Er ist eingründlicher Mensch und hatte stets den Überblick über die getroffenen Vereinbarungen.  Aufgrund der unterschiedlichen Temperamente, hier der Verkäufer und Überflieger Hombach,dort der seriöse Arbeiter Steinmeier, konnte die Arbeit im Kanzleramt nicht funktionieren. DaHombach sich als ein Peter Mandelsohn der deutschen Politik verstand, sah er sich als Ideengeber

und Spindoctor. Er stellte eine Reihe von Leuten ein, die ihm dabei behilflich waren. Bei demehemaligen amerikanischen Außenminister James A. Baker las ich einmal, dass Reagansaußenpolitischer Apparat oft die reinste Hexenküche aus  Intrigen, Ellbogengerangel, Egotrips undder Jagd nach persönlichen Zielen war. An diese Beschreibung musste ich oft denken, wenn ichdie Arbeit der Entourage des Kanzleramtsministers in der Presse verfolgte. Die Arbeit dieserTruppe, ganz nach dem angelsächsischen Vorbild der Spindoctors, bestand aus Indiskretionen undDesinformationen. Selbstverständlich traute sich niemand, den Parteivorsitzenden offenanzugreifen. Aber es war mir immer klar, woher die Sticheleien in der Presse kamen.  Ich hatte Bodo Hombach bei einem Gespräch in der Saarvertretung gesagt, dass ich ihm eine faireChance geben wolle. Er hatte zugesagt, sich ebenfalls um eine korrekte Zusammenarbeit zubemühen. Nach zwei Monaten jedoch sagte ich Gerhard Schröder, dass ich diesem Treiben nichtmehr lange zusehen würde, er möge es unterbinden. Natürlich versicherte Bodo Hombach immerwieder, dass er sich korrekt verhalte und mit diesen Intrigen nichts zu tun habe. Ich wies GerhardSchröder mehrfach daraufhin, dass Hombach bei der Koordinierung der Regierungsarbeit versage.Gerhard Schröder änderte aber nichts. Es wäre Bodo Hombach aber zuviel Ehre angetan, wennman ihn, wie eine Reihe von Sozialdemokraten nach meinem Rücktritt vermuteten, als denHauptschuldigen für meinen Rücktritt ansehen würde. Verantwortlich dafür, wenn dieRegierungszentrale nicht funktioniert, ist nicht der Chef des Bundeskanzleramts, sondern letztlichder Bundeskanzler. Wenn er sieht, dass der Amtschef seine Aufgaben nicht richtig erfüllt, muss erihn auswechseln. Am 2,5. Juni 1999 titelte Bild: »Hombach auf den Balkan.« Er solle nach dem Willen desBundeskanzlers Koordinator des Balkan-Stabilitätspakts werden. Schröder hatte viel zu spätbegriffen, dass angesichts des Widerstands, der sich gegen seinen Kanzleramtsminister gebildet

hatte, die Entscheidung unvermeidlich war. Natürlich wurde versichert, dass Hombach einepolitische und unternehmerische Traumaufgabe übernehme und Schröder seinen wichtigsten Mannfür diese Aufgabe abstelle. Am Rande des Kölner G-8-Gipfels hatte Schröder mit Bill Clinton über die

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Besetzung des Postens geredet. »Da habe ich eine Vibration in mir gespürt und gedacht, das ist jadoll«, vertraute Bodo Hombach der Bild-Zeitung an.  Am härtesten fiel der Nachruf auf Bodo Hombach im Schröder nahestehenden Blatt  Die Woche aus:»Das System Hombach war freilich schon nach einem halben Jahr gescheitert: an seiner Sucht nachPublizität, seiner Leidenschaft für Intrigen und seiner Unfähigkeit zu diskreter, vorausschauenderPlanung. Die Bilanz: Das Verhältnis zu SPD-Fraktion, Grünen und wichtigen Kabinettsmitgliedernunrettbar zerrüttet, die Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter in den Sand gesetzt, das Bündnis fürArbeit durch Eigenprofilierung fast blockiert. Einzig Hombachs Medienarbeit funktionierte wiegeschmiert; doch seine persönlichen Kontakte zu wichtigen Journalisten in noch wichtigeren Blätternwurden so eng, dass die Fäden im politischen Puppentheater schließlich für jedermann sichtbar waren.Am Ende wurde Bodo Poppenspäler selbst vom Faden geschnitten.« Im nachhinein muss ich schonanerkennend sagen: Die Art und Weise, in der Hombach es verstand, Journalisten, auchChefredakteure, einzuwickeln, war meisterhaft. Als er ging, erklärte Hans-Olaf Henkel, die deutsche Wirtschaft verliere im Kabinett »eine verlässlicheStütze und den Minister mit der höchsten Wirtschaftskompetenz. Hombach habe Entscheidendes zurKehrtwende der Bundesregierung in der Finanz- und Sozialpolitik beigetragen.« Als ich das las,kamen mir die Tränen. 

Wie schwer sich Gerhard Schröder tat, durch Personalentscheidungen sicherzustellen, dass dieZusammenarbeit zwischen dem Parteivorsitzenden und dem Bundeskanzler reibungslos funktionierte,zeigt folgendes: Kenner der Bonner Szene wussten, dass ich mich im Bundesrat stets auf den Bevollmächtigten des Saarlands beim Bund, Pitt Weber, stützte. Er war einer der Männer imHintergrund, die vieles bewirken, das Eicht der Öffentlichkeit aber meiden. Durch geschicktesVerhandeln brachte er es immer wieder fertig, dass die sozialdemokratischen Länder im Bundesrateinheitlich agierten. Er bot an, für Gerhard Schröder im Kanzleramt, wie Anton Pfeifer für HelmutKohl, die Koordination im Bundesrat zu übernehmen. Obwohl Gerhard Schröder diesem Angebotzunächst positiv gegenüberstand, führte die Presseberichterstattung über die Koalitionsverhandlungenund meine angebliche Dominanz in diesen Verhandlungen dazu, dass Schröder davon nichts mehrwissen wollte. Ein Lafontaine-Mann im Kanzleramt, das hätte nach seiner Meinung bei dieserPresselage zu weiteren Missverständnissen geführt. 

Zum besonderen Problem wurde erwartungsgemäß Jost Stollmann. Er beteiligte sich an denKoalitionsverhandlungen, obwohl er, da er nicht Mitglied in der Partei und nicht im Präsidium war,nicht zu unserer Verhandlungsdelegation gehörte. Wir hatten aber, um die Koordination der Arbeitauch in dieser Phase sicherzustellen, von Fall zu Fall die Ministerkandidaten hinzugebeten. Es warihm auch nicht vorzuwerfen, dass er das Parteiprogramm der SPD und die Details der Steuer- undSozialpolitik nicht kannte. Schließlich konnte er sich einarbeiten. Zum Problem aber wurde dieAufgabenverteilung zwischen Wirtschafts- und Finanzministerium. Nicht zuletzt die Auftritte Jost Stollmanns während des Wahlkampfs hatten mich dazu veranlasst, vonGerhard Schröder zu verlangen, dass das Finanzministerium, wenn ich es leiten sollte, zu einer ArtTreasury nach angelsächsischem Vorbild ausgebaut werden müsste. Ich verwies auf die Ministeriendes amerikanischen Finanzministers Bob Rubin, des englischen Schatzkanzlers Gordon Brown unddes französischen Finanzministers Dominique Strauss-Kahn. Mit der Vorstellung, zusammen mit Jost

Stollmann, nach dem Vorbild Waigels und Rexrodts, im Ecofin - Rat zu sitzen, konnte ich michschlecht anfreunden. Ebenso wenig behagte mir der Gedanke, dass ich eine Neuorientierung der Wirt-schafts- und Finanzpolitik im Finanzministerium einleiten und Jost Stollmann gleichzeitig imJahreswirtschaftsbericht alle neoliberalen und angebotspolitischen Klischees herunterbeten würde. Ichbestand also darauf, dass die zuständigen Referate und Abteilungen in das Finanzministeriumintegriert werden sollten. Gerhard Schröder wollte dieser Entscheidung eine Zeitlang ausweichen.  Jost Stollmann war ständig mit Journalisten im Gespräch, und in den Zeitungen war nachzulesen, dasser sich gegen Lafontaine durchgesetzt habe. Mit dem mir eigenen Humor sagte ich ihm, er solle nichtalles glauben, was in den Zeitungen stünde. Wie ich später feststellen konnte, hat er diese Ironie nichtverstanden. Vor die Wahl gestellt, Jost Stollmann zu verlieren oder ein Kabinett zu bilden, dem derParteivorsitzende nicht angehörte, rang Gerhard Schröder sich schließlich dazu durch, denRessortzuschnitt nach meinen Wünschen vorzunehmen. Jost Stollmann warf das Handtuch, die Parteiatmete auf, und der parteilose Werner Müller, der Gerhard Schröder schon bei den Energiekon-sensgesprächen als ehemaliger VEBA- Manager beraten hatte, übernahm nach einem kurzen Telefonatmit Gerhard Schröder das Wirtschaftsministerium. 

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Zum entscheidenden Eklat zwischen Gerhard Schröder und mir kam es aber, als es nach all diesemGerangel um die Frage ging, wer jetzt Fraktionsvorsitzender werden solle. Peter Struck hatterechtzeitig sein Interesse angemeldet. Aber auch der Saarländer Ottmar Schreiner, ein profilierterSozialpolitiker der Fraktion, zeigte Interesse. Schreiner hatte in der Fraktion hohes Ansehen underreichte bei den Wahlen zürn Fraktionsvorstand immer eines der besten Ergebnisse. Als dieseBewerbung in der Presse berichtet wurde, kamen wir morgens zum üblichen Vorgespräch vor denKoalitionsverhandlungen in der nordrhein-westfälischen Landesvertretung zusammen. Gerhard Schröder kam später und machte ein Gesicht, als wolle er die ganze Welt vergiften. Er setztesich grußlos hin. Nachdem ich das Wort weitergegeben hatte, flüsterte ich ihm zu: »Was ist denn los?«Er antwortete: »Du willst mir den Schreiner als Fraktionsvorsitzenden unterjubeln.« Ich erwiderte ihm,das sei Quatsch und wir müssten sofort darüber reden. Er fauchte mich an, er habe jetzt keine Lust, mitmir zu reden, und ging wortlos aus dem Raum, wie er es immer tut, wenn er zornig ist oder dieEinsamkeit des großen Staatsmanns demonstrieren will. Erst mittags gelang es mir, ihn zur Rede zustellen. Ich sagte ihm, ein zweites Mal würde ich mir eine solche Behandlung nicht gefallen lassen.Unsere Zusammenarbeit könne nur funktionieren, wenn Kameradschaft und Vertrauen die Grundlagenseien. Ich wisse nicht, wer ihm die fixe Idee eingeredet habe, ich wolle ihm Ottmar Schreinerunterjubeln. Ich könne daraus aber nur entnehmen, dass er das Vertrauen mir gegenüber nicht

aufbrächte, das notwendig sei, um erfolgreich in Regierung und Partei zusammenzuarbeiten. 

Am Nachmittag jenes Tages war ich zu dem Ergebnis gekommen, nicht in die Regierung einzutreten,da Gerhard Schröder die Vermutungen derjenigen bestätigt hatte, die mir immer vorausgesagt hatten:Gerhard Schröder sei nach der gewonnenen Wahl nicht zu einer partnerschaftlichen Zusammenarbeitfähig. Ich war tief enttäuscht, hatte ich doch, unter Zurückstellung eigener Interessen, ihm den Vortrittbei der Kanzlerkandidatur gelassen und die Partei im Wahlkampf mit großer Geschlossenheit hinterihm versammelt. Nach Saarbrücken zurückgekehrt, teilte ich Christa meinen Entschluss mit.Am späten Abend klingelte das Telefon, und Doris Schröder-Kopf war am Apparat. Sie fragte mich,was los sei. Ihr Mann sei bereits übel gelaunt zu Bett gegangen. Ich erzählte ihr von dem Streit undmeiner Absicht, gar nicht erst in die Regierung einzutreten. Dann überließ ich Christa den Hörer. DieFrauen redeten lange miteinander, Gerhard Schröder wurde aus dem Bett geholt und murmelte mirgegenüber eine Entschuldigung. Schließlich gab ich das Vorhaben auf, die Bundespressekonferenz

einzuberufen, um mitzuteilen, dass ich dem Kabinett Schröder nicht angehören wolle. Ich rechtfertigtediese Entscheidung vor mir damit, dass ich in der Doppelfunktion als Parteivorsitzender undFinanzminister sicherstellen konnte, dass die im Regierungsprogramm gegebenen Versprechungenauch umgesetzt würden. Vielleicht spürte ich schon damals, dass Schröder, wenn ich einmal nichtmehr präsent wäre, sehr schnell von diesen Versprechungen abrücken würde. Ich wollte aus derPosition des deutschen Finanzministers auf eine Neuordnung der Weltfinanzmärkte hinwirken, um dieWährungsspekulation zu bekämpfen. Ich fühlte mich als ehemaliger Ministerpräsident des Saarlandsverpflichtet, wichtige regionalpolitische Weichenstellungen wie die Einrichtung einer deutsch-französischen Hochschule in Saarbrücken, den Anschluss des Saarlands an dasHochgeschwindigkeitsnetz der Bahn, die Teilentschuldung in Höhe von 5 Milliarden Mark und dieEinhaltung des Kohlekompromisses durchzusetzen. Also biss ich noch einmal die Zähne zusammen.  Während dieser turbulenten Tage trat etwas ein, was ich schon Jahre vorher erwartet hatte und was zu

meiner eigenen Verwunderung bis dahin ausgeblieben war. Ich träumte in mehreren Nächten dasAttentat von Köln nach. Immerhin acht Jahre später. Ich erzählte nur Christa und Gerhard Schröderdavon. Letzterem in der Absicht, ihm deutlich zu machen, dass die Anstrengungen des Wahlkampfsund die  Personalentscheidungen auch bei mir Spuren hinterlassen hatten.  Die Koalitionsverhandlungen liefen reibungslos. Sowohl die Sozialdemokraten als auch die Grünenwollten schnell zu einem Ergebnis kommen. Diskussionen gab es bei der Steuerreform. Die Grünenwollten einen niedrigeren Spitzensteuersatz. Bezahlen sollten diese Wohltat die Arbeitnehmer. Daskonnten wir nicht mitmachen. Die Vereinbarungen zum Atomausstieg wurden von Gerhard Schröder,Jürgen Trittin und ihren Mitarbeitern ausgehandelt. Gerhard Schröder hatte sich über Jahre mit derEnergiepolitik befasst und eine Reihe von Sachverständigen der Energie branche konsultiert. Ichunterstützte ihn nachdrücklich in dem Bemühen, keine unrealistischen Zielvorgaben hinsichtlich derAusstiegsfristen zu machen. Wir schrieben in die Koalitionsvereinbarung: »Der Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie wirdinnerhalb dieser Legislaturperiode umfassend und unumkehrbar gesetzlich geregelt... Die neueBundesregierung wird die Energieversorgungsunternehmen zu Gesprächen einladen, um eine neue

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Energiepolitik, Schritte zur Beendigung der Atomenergie und Entsorgungsfragen möglichst imKonsens zu vereinbaren. Die neue Bundesregierung setzt sich hierfür einen zeitlichen Rahmen voneinem Jahr nach Amtsantritt. Die Koalition wird nach Ablauf dieser Frist ein Gesetz einbringen, indem der Ausstieg aus der Kernenergienutzung entschädigungsfrei geregelt wird; dazu werden dieBetriebsgenehmigungen zeitlich befristet. Der Entsorgungsnachweis wird angepasst.« Ein weiterer Streitpunkt war das neue Staatsbürgerschaftsrecht. Otto Schily gelang es, zusammen mitden Grünen einen Kompromiss zu vereinbaren, der von uns mitgetragen werden konnte. Aber wieschon bei der Steuerreform hatten wir uns auch hier zuwenig Zeit genommen. Wir hätten darüberreden müssen, ob es sinnvoll ist, einen solchen Kompromiss nur mit der Mehrheit der rot-grünenKoalition im Bundestag und Bundesrat durchzusetzen.  Über das außenpolitische Kapitel des Koalitionsvertrags wurde ebenfalls heftig diskutiert. Die SPDmusste zu weit gehende Forderungen des pazifistischen Flügels der Grünen, der während derKoalitionsverhandlungen noch vehement seine Interessen vertrat, abwehren. Wie sich Wochen späterherausstellte, hätten wir uns diese Diskussionen sparen können. Zu einem großen Problem wurde die Berichterstattung der Presse. Der Tenor war einheitlich.Lafontaine dominiert die Koalitionsverhandlungen und setzt sich durch. Der Spiegel machte einenTitel »Der Kanzler und sein Schatten«. Unter der Überschrift »Sieger und Souffleur« stellte er fest,

dass Oskar Lafontaine »die Konturen von Schröders großangelegter Steuerreform verwischt habe«.Auch der Spiegel hätte wissen können, dass das Steuerreformkonzept von allen Steuerexperten ausBund und Ländern erarbeitet und vom Parteivorstand mit der Stimme Gerhard Schröders und meinerStimme verabschiedet worden war. »Schuld am halbherzigen, verwässerten Konzept«, schrieb derSpiegel, »da sind sich fast alle einig, ist der Mann hinter - neben, vor? - dem Kanzler: der SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine, Schröders roter Schatten. Selbst in der neuen Koalition machenmanche den heimlichen Rivalen für den Fehlstart verantwortlich. Der >Umverteiler< Lafontaine,ärgert sich der grüne Haushaltsexperte Oswald Metzger, treibe das Land mit seinem>Vulgärkeynesianismus< ins Unglück. Sein Kollege Fritz Kühn klagt, die Grünen hätten mit einer>strukturkonservativen Partei< verhandelt. Gegen Lafontaine >waren die reformerischen Kräfte in derSPD zu schwach<... Der neue Kanzler nimmt es schwerer. Denn die Enttäuschung über dieSteuerreform, das Gezänk um den Ausbau von Lafontaines Finanzressort zu einem Schatzamt, der

öffentliche Streit mit Ex-Fraktionschef Rudolf Scharping und der Abgang des designiertenWirtschaftsministers Jost Stollmann, an dessen Stelle Werner Müller tritt, haben ihm den Amtsantrittverdorben. >Der Start<, sagt Schröder mit gebremstem Unmut, >hätte besser sein können.< Der strah-lende Sieger sieht sich plötzlich einem schwelenden Verdacht ausgesetzt: Schröder stehe als Kanzlerauf der Bühne, sein Souffleur aber sei Lafontaine. Mit seiner Regierungserklärung in der übernächstenWoche will sich Kanzler Nummer sieben deshalb noch einmal als Schröder pur präsentieren: einer, derdie >Leistungsträger im High-Tech-Bereich< anspricht, die sich zuvor noch nie nach einem Soziumgedreht haben; einer, der eine neue >Gründermentalität< in die verschlafen-verknöcherte Republikbläst.« Gerhard Schröder litt sichtlich unter der Berichterstattung der Presse. Wir haben jetzt einDarstellungsproblem, pflegte er immer wieder zu sagen. Dabei war das von ihm und mirunterschriebene Wahlprogramm Grundlage der Koalitionsverhandlungen. An zwei Stellen war ich

Gerhard Schröder entgegengekommen. Ich hatte auf seine Bitte hin nicht darauf bestanden, dass dieWiedereinführung der privaten Vermögensteuer in die Koalitionsvereinbarungen geschrieben wird.Ich hatte auch davon Abstand genommen, zu verlangen, dass die Ausbildungsplatzabgabe in denKoalitionsvertrag geschrieben wurde. Man hätte durchaus auch da oder dort schreiben können,Lafontaine ist Schröder bei Vermögenssteuern und Ausbildungsplatzabgabe entgegengekommen.Aber die Story, Lafontaine setzt sich durch, war wohl angesichts der Tatsache, dass der Bundeskanzlerdie Richtlinien der Politik bestimmt, für die Medien schöner. Dieses Erklärungsmuster, wer sich wo durchgesetzt hatte, Lafontaine oder Schröder, lebte auch nachmeinem Rücktritt weiter. Bei mehreren Entscheidungen, die die Bundesregierung nach dem n. Märztraf, wurde darüber spekuliert, ob Oskar Lafontaine diese Entscheidung mitgetragen hätte oder nicht.Beim Zukunftsprogramm 2ooo war oft zu lesen, das wäre mit Oskar Lafontaine nicht zu machengewesen. Zwar war das von vielen Wirtschaftsjournalisten kritisch gemeint, aber ich fühlte michgeschmeichelt und von der Presse mal wieder so richtig gewürdigt. Ja, das wäre mit mir nicht zumachen gewesen.  

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Die Wahl des Fraktionsvorsitzenden verlief ziemlich problemlos. Peter Struck und Ottmar Schreinerhatten kameradschaftlich miteinander gesprochen. Der Fraktionsvorstand schlug Peter Struck vor, under wurde dann auch mit deutlicher Mehrheit gewählt. Diese Entscheidung erwies sich während der vierMonate, in denen ich der Regierung angehörte, als eine gute Entscheidung. Peter Struck war stets zumKompromiss bereit, suchte auszugleichen und erlag nicht der Versuchung, die Fraktion gegen denKanzler oder einzelne Regierungsmitglieder in Stellung zu bringen. Franz Müntefering regte an,Ottmar Schreiner zum Bundesgeschäftsführer zu machen. Ich griff den Vorschlag gerne auf. Die Personalentscheidungen fielen dann so, wie wir es bei der Vorstellung unsererRegierungsmannschaft angekündigt hatten. Heidemarie Wieczorek-Zeul übernahm das Bundes-ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Franz Müntefering das Bundesministerium fürVerkehr, Bau- und Wohnungswesen. Für die Grünen waren Joschka Fischer als Außenminister undJürgen Trittin als Umweltminister gesetzt. Eine längere Diskussion gab es um das Gesundheitsministerium. Rudolf Dressler, der lange Jahre fürdie Fraktion federführend die Sozialpolitik gemacht hatte, war sehr interessiert, dasGesundheitsministerium zu übernehmen. Die Grünen schlugen Andrea Fischer vor. Gerhard Schröderhatte keine sonderlichen Sympathien für Rudolf Dressler. Persönliche Sympathien oder Antipathiensollten aber nicht allein Grundlage von Personalentscheidungen sein. Rudolf Dressler stand als

Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen für einen wichtigen Teil der SPD und 

hat, da er viele Jahre die Sozialpolitik beackert hat, einen hohen Sachverstand. Nach seinem tragischenVerkehrsunfall wirkte er auf mich manchmal etwas depressiv. Ich hätte es daher gerne gesehen, wennwir ihm das Gesundheitsministerium übertragen hätten. Die neue Aufgabe hätte ihn sicherlichbeflügelt. Aber da ich sowieso schon täglich lesen konnte, dass ich die Sach- undPersonalentscheidungen dominierte, gab ich schließlich nach. Auch heute noch bin ich darüber nichtglücklich. Andrea Fischer wurde Gesundheitsministerin.  Nun stand noch die Wahl des Bundeskanzlers bevor. Gerhard Schröder hatte trotz allem Bammel vordieser Wahl. Er wusste, dass er sich in der Bundestagsfraktion in einer Reihe von Jahren viele Gegnergemacht hatte. Auch war er nicht sicher, ob alle Grünen den Automann Gerhard Schröder unterstützenwürden. Ich war relativ gelassen. Nicht nur deshalb, weil die Mehrheit ausreichen musste, sondernweil auch davon auszugehen war, dass wir ein paar Stimmen von der FDP und von der PDS

dazubekämen.  Tatsächlich hatte Gerhard Schröder mindestens sieben Stimmen von der Opposition bekommen. Erwurde mit 351 Ja-Stimmen von insgesamt 666 Abgeordneten gewählt. Die rot-grüne Koalition hat imBundestag 344 Abgeordnete. Ich fiel ihm um den Hals. Es war eine spontane Geste. Nichts war darankünstlich. Gleichzeitig schob ich ihm eine Kiste Cohiba-Zigarren, die mit einer roten Rose verziertwar, hin. In diesem Moment vergisst man alles Trennende. Jeder Sozialdemokrat ist Mitglied einer großenFamilie. Diese große Familie hatte einen großen Tag. Den Tag der Wahl des drittensozialdemokratischen Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland. Darauf hatten wir viele Jahrehingearbeitet. Es war der Tag, an dem manifestiert wurde, dass die Enkel nicht zur Fußnote derGeschichte geworden waren, wie Henning Voscherau einmal vor Jahren befürchtet hatte. Auch derWahlsieg war ja nicht von Pappe. Die SPD war nicht nur zum zweiten Mal stärkste Partei im Deut-

schen Bundestag, sondern »die Enkel« hatten es geschafft, die CDU deutlich auf den zweiten Platz zuverweisen. Die SPD erreichte 40,9 Prozent, die CDU/CSU 35,1 Prozent. Wir hatten die CDU um 5,8Prozent überrundet. Das hätten unsere Altvorderen nicht für möglich gehalten. Insofern fühlten wir uns berechtigt, diesenWahlsieg mit dein großen Wahlsieg Willy Brandts im Jahr 1972 zu vergleichen. In der Reihe derer,die dem neuen Bundeskanzler gratulierten, fehlten auch nicht die Wahlverlierer Helmut Kohl,Wolfgang Schäuble, Theo Waigel, Klaus Kinkel und andere Politiker der Opposition. NachdemHeiner Geißler Gerhard Schröder gratuliert hatte, gratulierte er auch mir. Auf meinen erstaunten Blicksagte er: »Das war Ihr Sieg« und ging. Zwar haben andere Politiker der heutigen Opposition mirähnliche Komplimente gemacht, aber das Wort des Strategen Heiner Geißler zählt. Schließlich hatte ersehr früh erkannt, dass die CDU das Thema der sozialen Gerechtigkeit preisgegeben hatte, was füreine Volkspartei tödlich ist. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht ahnen, dass nach meinemRücktritt die rot-grüne Koalition alle Fehler wiederholte, die zur Abwahl der Koalition von CDU/CSUund FDP geführt hatten.  

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Jetzt blieb noch die Aufgabe, nach Gustav Heinemann zum zweiten Mal einen sozialdemokratischenBundespräsidenten zu wählen. Für mich als Parteivorsitzenden der SPD hatte dieses Ziel eine hoheBedeutung. Ich war der Meinung, dass die Sozialdemokratische Partei Deutschlands bei der Besetzungdes höchsten Staatsamts nicht ausreichend berücksichtigt worden war. Ich war ebenso der Meinung,dass gerade dieses Amt aus dem Parteienstreit herausgehalten werden sollte. Daher bemühte ich michsehr früh, auch die Zustimmung von CDU/CSU und FDP für Johannes Rau zu erhalten. Ich sprachauch mit Gregor Gysi. Es ist bedauerlich, dass CDU/CSU und Teile der FDP nach Heuss, Lübke,Heinemann, Scheel, Carstens, von Weizsäcker und Herzog nicht bereit waren, einen Sozialdemokratenzu unterstützen. Die Idee der CDU/CSU, mit Dagmar Schipanski eine ostdeutsche Frau ins Gespräch zu bringen, hatteihren Reiz. Nachdem das Amt des Bundespräsidenten bisher nur von Männern wahrgenommen wurde,ist es an der Zeit, dass einmal eine Frau in dieses Amt berufen wird. Aber in der SPD hatten wir dieWeichen schon anders gestellt. Schließlich hatte Johannes Rau auch gegen Roman Herzog kandidiert.Als einige Sozialdemokratinnen sich dafür stark machten, jetzt eine Frau für das Amt desBundespräsidenten vorzuschlagen, war es zu spät. Eine solche Entscheidung will gründlich vorbereitetsein. Der Vorschlag, Jutta Limbach zur Bundespräsidentin zu wählen, war allein schon deshalb nichtdie Lösung, weil es gut war, dass auch an der Spitze des Bundesverfassungsgerichts einmal eine Frau

stand. 

In Teilen der Presse gab es eine massive Kampagne gegen Johannes Rau. Man versuchte auch mitunlauteren Mitteln und durch persönliche Herabsetzung die Kandidatur des langjährigen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten zu hintertreiben. Ich ließ mich nicht beirren. Die Gremien der Parteientschieden mit großer Mehrheit, Johannes Rau erneut als Kandidaten für das Amt desBundespräsidenten vorzuschlagen. Am 23. Mai 1999 wurde Johannes Rau zum achten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschlandgewählt. Ich verfolgte die Wahl im Fernsehen und bedauerte, nicht dabei sein zu können. MitJohannes Rau verbindet mich seit dem Attentat mehr, als es gemeinhin unter Politikern üblich ist. Wirstanden Seit an Seit, und die Attentäterin hatte zunächst vor, statt meiner Johannes Rau zu töten. Ichhabe noch sein Gesicht in Erinnerung, als ich bereits am Boden lag und die Sicherheitskräfte ihn vonder Bühne drängten.

Johannes Rau betrachtet das Amt des Bundespräsidenten als die Krönung seiner politischen Laufbahn.Der Predigersohn aus Wuppertal, aufgestiegen vom Oberbürgermeister seiner Heimatstadt über denFraktionsvorsitzenden der SPD-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag zum Ministerpräsidentendes größten Bundeslandes, ist für diese Aufgabe geradezu prädestiniert. Seine politische Arbeit hat erimmer unter das Motto »Versöhnen statt spalten« gestellt. Freunde und Gegner nennen ihn »BruderJohannes«. Er hatte als erster von der SPD als Schutzmacht der kleinen Leute gesprochen. In seinerAntrittsrede als Bundespräsident sagte er: »Die wichtigste gesellschaftliche Aufgabe bleibt nachmeiner Überzeugung, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist in erster Linie Aufgabe derUnternehmen. Die Politik muss für Angebot und Nachfrage den richtigen Rahmen setzen und dierichtigen Impulse geben ... Für unsere Zukunft wird entscheidend sein, dass wir die Arbeit soorganisieren und fortentwickeln, dass die Bedürfnisse der Menschen mit den Erfordernissen desWirtschaftens in Übereinstimmung gebracht werden. Die Arbeit dient dem Lebensunterhalt. Das gibt

ihr unmittelbar einen Wert. In ihr - das gibt ihr einen weiteren Wert - entfalten sich aber auchmenschliche Fähigkeiten. Darum hat Hans Küng recht, wenn er sagt >Ohne sinnvolle Arbeit geht einStück Menschenwürde verloren<... Darum ist es alles andere als eine akademische Betrachtung, auf den Wert der Arbeit für das Selbstwertgefühl von Menschen und für den Zusammenhalt von Staat undGesellschaft hinzuweisen. Wer in der Arbeit nur einen reinen Kostenfaktor sieht, dessen Preis soweitwie möglich gedrückt werden muss - so wichtig der Anteil der Löhne am wirtschaftlichen Prozessauch ist -, der handelt mit sozialem Sprengstoff und rüttelt an den Grundfesten unserer westlichenZivilisation - ob ihm das bewusst ist oder nicht.« Ich war Johannes Rau dankbar für diese Worte. Der Neoliberalismus, der den Arbeitnehmer auf eineKostenstelle reduziert, hantiert mit sozialem Sprengstoff und rüttelt an den Grundfesten unsererwestlichen Zivilisation. Teneo, quia teneor. Ich halte stand, weil ich gehalten werde, lautet eine Lebensweisheit, die JohannesRau für sich immer wieder in Anspruch nimmt. An diese Lebensweisheit musste ich denken, als ichnach meinem Rücktritt sagte: »Mannschaftsspiel verlangt, dass man Rücksicht aufeinander nimmt und

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dass man auch zueinander steht - auch in der Öffentlichkeit - und dass Teamgeist die Regierungsarbeitbestimmt.« Wochen vor meinem Rücktritt war ich fest entschlossen, direkt nach der Wahl des zweitensozialdemokratischen Bundespräsidenten zurückzutreten. Das Maß dessen, was ich mit meinerSelbstachtung vereinbaren konnte, war längst überschritten. Absprachen wurden nicht gehalten, dieRegierungsarbeit wurde nicht koordiniert, der für eine erfolgreiche Regierungsarbeit notwendigeTeamgeist war nicht vorhanden. Ich wollte keinen Streit und meiner Partei nur erklären, dass meinAuftrag als Parteivorsitzender nach Mannheim jetzt erfüllt sei. Nach vielen Jahren war einSozialdemokrat Bundespräsident und ein Sozialdemokrat Bundeskanzler. Aber es kam bekanntlichanders.

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Die rot-grüne Koalition

Die rot-grüne Koalition ist das Ergebnis eines langen Meinungsbildungsprozesses in der SPD. ZuBeginn war die Mehrheit der Sozialdemokraten der Auffassung, dass die Grünen nur einevorübergehende Erscheinung im Parteien-Spektrum der Bundesrepublik sein würden. Natürlich verbotes sich, mit dieser Partei eine Koalition einzugehen. Die Grünen selbst hatten heftigeAuseinandersetzungen über die Frage, ob sie außerparlamentarische Opposition bleiben oderparlamentarische Opposition mit der erklärten Absicht, sich nicht an der Regierung zu beteiligen,werden sollten. In meinem 1985 veröffentlichten Buch  Der andere Fortschritt setzte ich mich mitdieser Haltung auseinander und schrieb unter der Überschrift »Verantwortung statt Verweigerung«,dass die Verweigerungshaltung der Grünen eine apolitische Einstellung sei, dass derjenige, der sich indie politische Debatte einmische, sich nicht auf diese Verweigerungshaltung zurückziehen dürfe,sondern notfalls auch bereit sein müsse, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Im Jahr 1985 erklärten die Grünen an der Saar, dass sie nicht bereit seien, im Fall einer rot-grünenMehrheit Regierungsverantwortung zu übernehmen. Das Ergebnis war, dass die Saar- SPD eineabsolute Mehrheit erreichte und die Grünen, obwohl sie vorher in andere Parlamente eingezogenwaren, an der Saar nicht im Landtag vertreten waren.  Im Dezember 1985 wurde Joschka Fischer als hessischer Minister für Umwelt und Energie vereidigt.Führende Mitglieder der Grünen waren ehemalige Mitglieder der SPD. Die Auseinandersetzungeninnerhalb unserer Partei um die Nachrüstung und um die Kernenergie führten zur Abspaltung und zurGründung der Partei der Grünen. Erhard Eppler vor allem hatte für die SPD Positionen formuliert, die auch im Programm der Grünenstanden. Wir wollten eine Energieversorgung ohne die Risiken der Stromerzeugung aus Kernenergie.Wir wollten das ewige Vor- und Nachrüsten, vor allem im atomaren Bereich, beenden. Wir wollten

den umweltgerechten Umbau der Industriegesellschaft. Schon auf dem Kongress der IG MetallAnfang der siebziger Jahre war der Umweltschutz das Thema. Willy Brandt hatte bereits in densechziger Jahren einen Wahlkampf geführt, in dem er verlangte, dass der Himmel über der Ruhrwieder blau werden solle. Aber ein starker Teil der Partei sah allzu lange im Umweltschutz eineGefährdung der Arbeitsplätze. Daher kam die SPD bei der ökologischen Modernisierung ihresProgramms viel zu langsam voran. Im Gegenzug entstand die Partei der Grünen. Sie hatte vier Grundsätze. Ihre Politik sollte ökologisch,gewaltfrei, sozial und basisdemokratisch sein. Nach der Gründung der Partei nahm ich sehr schnellGespräche mit den Grünen auf. Auf den großen Friedensdemonstrationen begegnete ich Petra Kellyund Gerd Bastian. Ich habe beide sehr geschätzt. Der tragische Tod der beiden machte mich tief betroffen. Früh lernte ich auch Joschka Fischer kennen. Ich bewunderte seine politische Begabung undsein rhetorisches Talent. Als es in der rot-grünen Koalition in Hessen kriselte, nahm er Kontakt mit

mir auf. Er wurde zu meinem wichtigsten Ansprechpartner. Otto Schily hatte die Grünen 1989 ver-lassen und war in die SPD eingetreten.  Eine regelrechte Freundschaft verbindet mich über die Jahre mit Antje Vollmer, der Vizepräsidentindes Deutschen Bundestags. Ich lernte sie und ihren Sohn Johann auf einer großenFriedensdemonstration in Bonn kennen. Nach dem Kölner Attentat 1990 besuchte sie mich inSaarbrücken. Sie war eine der wenigen, die sich in einfühlender Weise mit den körperlichen undseelischen Folgen des Attentats auseinandergesetzt hatte. Im schwierigen Wahlkampf 1990, vor allemin den Bundestagsdebatten, spürte ich ihre Zuneigung und Unterstützung. Dass die SPD-Bundestagsfraktion bei ihrer Wahl zur Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags so ungeschicktoperierte, bedauere ich sehr. Auch nach meinem Rücktritt von den politischen Ämtern ist sie mir eineverlässliche Freundin. Programmatisch hatte sich unter dem Einfluss Fischers der sogenannte Realo-Flügel durchgesetzt. DieRealos waren bereit, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Die SPD hatte bei derBundestagswahl 1987 auf Vorschlag von Johannes Rau eine Koalition mit der Partei der Grünen aus-geschlossen. Johannes Rau war der Auffassung, dass sich nach seinem grandiosen Wahlsieg in

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Nordrhein-Westfalen - er erreichte die absolute Mehrheit - ein solcher Wahlsieg auch auf Bundesebene wiederholen lasse. Die Wahlkampfstrategie ging nicht auf, und nach der verlorenenWahl 1987 war in der SPD eine Koalition mit der Partei der Grünen auf Länderebene kein Themamehr. Je nach örtlicher Situation und Einstellung der Sozialdemokraten zu der Partei der Grünenwurden lokale Koalitionen geschlossen. Es besteht kein Zweifel, dass die Partei der Grünen auch die Programmatik der anderen Parteienverändert hat. Immer wenn eine neue Partei entsteht, die - sofern sie nicht eine rechtsradikale oderlinksradikale Partei ist - Wählerinnen und Wähler zu sich herüberzieht, fragen sich die Volksparteien,was sie falsch gemacht haben. Dann werden Programmpunkte der neuen Partei übernommen. DieWählerkonkurrenz treibt sie dazu, ein möglichst breites Spektrum der Wählerschaft anzusprechen.Natürlich ist nicht nur das Sammeln von Wählerstimmen Motiv für programmatische Veränderungen.Neue Ideen breiten sich aus, gewinnen Anhänger, und die ökologische Idee gewann mehr und mehrAnhänger in allen Parteien.  Den Grünen gelang es, auf Länderebene die FDP als dritte Kraft abzulösen. Immer häufiger wurdenrot-grüne Koalitionen auf Länderebene geschlossen. Dass auch 1995 in Nordrhein-Westfalen eine rot-grüne Koalition vereinbart und Johannes Rau der Regierungschef wurde, zeigt, was sich seit 1987alles verändert hatte. Es war daher fast programmiert, dass im Fall eines Wahlsiegs in Bonn ebenfalls

eine rot-grüne Koalition die Regierung bilden würde. Da CDU und FDP sich täglich versicherten, dasssie auch nach der Bundestagswahl zusammenbleiben wollten und dass sie nicht daran dächten, eineZusammenarbeit mit der SPD einzugehen, musste die rot-grüne Koalition eine glaubwürdige Optionfür Bonn bleiben. Kritisch wurde es, als in Nordrhein-Westfalen die rot-grüne Koalition auseinander zubrechen drohte.Sie war wegen des Braunkohleabbaus - Garzweiler II - heftig in Streit geraten. Der inzwischenverstorbene sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende im nordrhein-westfälischen Landtag, KlausMatthiesen, hatte keine Einstellung zu den Grünen gefunden. Er lastete ihnen an, dass er im April1979 in Schleswig-Holstein nicht Ministerpräsident geworden war. Ihm fehlten 1287 Stimmen, weildie Partei der Grünen in Schleswig-Holstein kandidiert und 2,4 Prozent der Stimmen gewonnen hatte.Zudem setzte in meiner Partei ein Gerangel um die Nachfolge von Johannes Rau als Ministerpräsidentdes Landes Nordrhein-Westfalen ein.

Es begann das übliche Spiel von Indiskretionen und Intrigen. Die rot-grüne Koalition durfte aber vorder Bundestagswahl nicht auseinanderbrechen. Das hätte unsere Wahlchancen deutlich geschwächt.Daher redete ich immer wieder mit allen Beteiligten, um ein Auseinanderbrechen der DüsseldorferKoalition zu verhindern. Im Weihnachtsurlaub 1997/1998 war ich auf Madeira. Auch hier war ich mitdem Düsseldorfer Krisenmanagement beschäftigt. Dabei stimmte ich mich immer mit Joschka Fischerab. Ich erreichte ihn während dieser Tage in Paris, und wir besprachen unser weiteres Vorgehen. Esgelang uns, die rot-grüne Koalition wieder zu stabilisieren.  An einem Samstagnachmittag im März 1998 besuchte mich Johannes Rau in Saarbrücken. GerhardSchröder hatte inzwischen die niedersächsische Wahl gewonnen. Johannes Rau informierte michdarüber, dass er seinen Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten ankündigen wolle. Ich hattewährend dieses Gesprächs Johannes Rau gesagt, dass ich, unabhängig von seiner Entscheidung inNordrhein-Westfalen, an meiner Absicht festhalte, ihn erneut in der Partei für das Amt des

Bundespräsidenten vorzuschlagen. Ich informierte Gerhard Schröder, der einverstanden war. Nach der Stabilisierung der Koalition in Düsseldorf wurde die Ablösungsperspektive einer rot-grünenKoalition für Bonn immer glaubhafter. Joschka Fischer hatte mich mehrfach darum gebeten, GerhardSchröder zum Kanzlerkandidaten der SPD vorzuschlagen. Er sagte mir, er wisse zwar, dass ich derAlpha-Wolf in der SPD sei, aber so wie die Medienlandschaft einmal sei, wäre eserfolgversprechender, den Mann der Medien, Gerhard Schröder, zum Kanzlerkandidatenvorzuschlagen. Vorher hatte ich durch die übliche Indiskretion der Medien erfahren, dass JoschkaFischer in Hintergrundgesprächen verbreitete, ich hätte den bösen Blick und sei daher nicht in derLage, Bundestagswahlen zu gewinnen.  Am meisten geärgert hatte mich Fischer, als er eines Tages, natürlich öffentlich, feststellte, die Enkelkönnten es nicht. Kr rief mich damals an und meinte, wir sollten nach dem Modell des Olivenbaums inItalien einen deutschen »Prodi« als Kanzlerkandidaten nominieren. Er schlug mir ernsthaft vor, einmalbei Helmut Werner, dem ehemaligen Mercedes-Vorstand, vorzufühlen, der gerade bei Mercedesausgeschieden war. Ich begann an Fischers politischem Urteilsvermögen zu zweifeln. Ich giftete, dass

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»Pflaumenbaum« sicherlich eine attraktivere Bezeichnung wäre. Wir müssten nur noch dieOberpflaume suchen. Im übrigen: einen Automann hätten wir auch.  Es war die Zeit, in der die Grünen bei Wahlen - relativ gesehen - besser abschnitten als die SPD. Nichtnur Fischer äußerte sich damals abfällig über uns, sondern auch andere führende Politiker der Grünen.Ich verzichtete später darauf, als es umgekehrt lief, sie daran zu erinnern. Ich war fest entschlossen, imFall einer ausreichenden Mehrheit aus politisch-inhaltlichen Gründen die rot-grüne Koalition nach dergewonnenen Bundestagswahl zu vereinbaren. Vor allen Dingen in der Steuerpolitik, aber mehr noch inder Sozialpolitik - ich denke an die Verbesserung beim Kündigungsschutz und der Lohnfortzahlung -,in der Gesundheitspolitik und bei der Rentengesetzgebung waren die Grünen uns näher als CDU/CSUoder die FDP. Aber es gab immer wieder Querschüsse. Die Grünen hatten auf ihrem MagdeburgerParteitag im März 1998 vorgeschlagen, in zehn Jahren den Benzinpreis auf 5,- DM zu erhöhen.Darüber hinaus hatte eine Grüne vorgeschlagen, Ferienflüge nach Mallorca zu regulieren. Es hagelteKritik aus den Reihen der Sozialdemokraten. Gerhard Schröder erklärte die Grünen schlicht für nichtregierungsfähig. Ich bat ihn in mehreren Gesprächen, die Worte etwas sorgfältiger zu wählen, weil ichüberzeugt war, dass es nach der Bundestagswahl zu einer rot-grünen Koalition kommen würde.Im März war auch die deutsche Wirtschaft zu der Auffassung gekommen, dass eine rot-grüneKoalition immer wahrscheinlicher wurde. Der Präsident des DIHT, Stihl, gab jetzt Interviews unter

der Überschrift: »Mit Rot-Grün in die Steinzeit«. Bei einem Treffen in München stellten sich Henkel,Hundt, Philipp und Stihl auf die Seite von Kohl. Sie versprachen 500000 neue Arbeitsplätze undlobten auf einmal die Politik der Bonner Koalition. Plumper ging es nun wirklich nicht mehr.  Ich wollte die Grünen als Partner, weil ich in ihnen im Bereich der Energiepolitik, der Verkehrspolitikund vor allen Dingen in der Friedenspolitik die Gewähr dafür sah, sozialökologische Reformpolitikmachen zu können. In meiner Partei gab es Kräfte, die eher neoliberalen Gedanken anhingen, sich demvordergründigen Modernisierungsgerede angeschlossen hatten und beispielsweise der ökologischenSteuerreform ablehnend gegenüberstanden. Dieser Teil der Partei hielt auch den Einsatz derKernenergie zur Stromerzeugung für richtig und befürwortete militärische Kampfeinsätze der Natoaußerhalb des Nato-Vertragsgebiets. Mein Kalkül, dass die Grünen mich in dem Versuch unterstützenwürden, die Koalition auf sozialökologischem Reformkurs zu halten, ging nicht auf. Die Grünen waren kaum an der Regierung, da waren sie bereit, wichtige Positionen aus Gründen des

Machterhalts preiszugeben. Ich hatte Fischer praktisch eine Garantie gegeben, dass es zu einer rot-grünen Koalition kommen würde, wenn eine ausreichende Mehrheit da sei. An seinem fünfzigstenGeburtstag, am 12. April 1998, war ich als einziger führender Sozialdemokrat zu seiner Fete inFrankfurt eingeladen. Ich sagte ihm zu vorgerückter Stunde in einer kurzen Ansprache: »Joschka,wenn die Mehrheit da ist, dann machen wir es.« Mein Ausscheiden aus der Bundesregierung ist auch dadurch verursacht worden, dass ich im Lauf derRegierungsarbeit sehr schnell feststellen musste, dass die Grünen den aufrechten Gang verloren haben.Dass wir bei der Neufassung des Staatsbürgerschaftsrechts aufgelaufen waren, weil in Hessen CDUund FDP die neue Regierung stellten, lässt sich noch verstehen. Und dass hier die Grünen eingelenktund einem Kompromiss mit der FDP zugestimmt hatten, war schlüssig. In keinem Fall aber war fürmich akzeptabel, wie sich die Grünen beim Kernenergieausstieg behandeln ließen und wie Fischer,kaum Außenminister geworden, an den Lippen von Madeleine Albright hing und geradezu von ihr

schwärmte. Ich beobachtete mit einem gewissen Erstaunen, wie er mannhaft Militäreinsätzebefürwortete und die Bündnistreue zur Grundlage der deutschen Außenpolitik erhob. Ich hätte vonihm erwartet, dass er bei aller Bündnistreue die geplanten Maßnahmen des Bündnisses kritischhinterfragen würde, insbesondere die amerikanische Position.  Im Bundeskabinett wäre Helmut Schmidt nach den Vorträgen Fischers und Scharpings unangenehmaufgefallen und hätte als Störenfried gewirkt. Helmut Schmidt hatte, wie er schrieb »Mühe, Zweifel ander Urteilskraft der heutigen außenpolitischen Führungspersonen in Washington zu unterdrücken...Denn die zumeist innenpolitisch motivierte Rücksichtslosigkeit, mit der Washington seine aktuellenInteressen und seine Präponderanz durchsetzt, wird vielen Europäern zunehmend auf die Nervenfallen... Die illusionäre Vorstellung von der Weltmacht Amerika, die als globaler Friedensrichter undFriedensmacher mit Hilfe der Nato die Welt in Ordnung hält, darf die Erinnerungen an Korea oderVietnam, an >Desert Storm< und andere mit Waffeneinsatz und Waffendrohung gespickte>Friedensprozesse< nicht verdrängen.« Den Atomausstieg hatte Gerhard Schröder zur Chefsache gemacht. Ich war an den Verhandlungennicht beteiligt. Auch dieses Vorgehen widersprach unseren Verabredungen.

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Gerhard Schröder hatte gute Kontakte zur Energiewirtschaft und war anfangs sicherlich entschlossen,zu einem Kompromiss zu kommen. Es traten aber sehr schnell Reibungsverluste auf. In denKabinettssitzungen schoben sich die Beteiligten gegenseitig die Schuld zu. Trittin machte dasKanzleramt für Pannen verantwortlich und umgekehrt das Kanzleramt Trittin und sein Ministerium.  Der auch wegen der Energiekonsensgespräche zum Wirtschaftsminister berufene Werner Müllerbeschwerte sich mehrfach bei mir als Parteivorsitzendem der SPD, dass er an den Verhandlungennicht ausreichend beteiligt sei. Er könne nicht erkennen, in welche Richtung die Verhandlungengingen und wer sie koordiniere. Er habe seinen Rücktritt erwogen, um gegen diese Handlungsweise zuprotestieren. Ich riet ihm, den Bundeskanzler direkt anzusprechen und auf einer Verfahrensweise zubestehen, die er für zielführend halte. Mit Erstaunen nahm ich zur Kenntnis, mit welcher Geduld die Grünen es ertrugen, wie Jürgen Trittinin der Öffentlichkeit zum Buhmann gemacht wurde. Die Spindoctors des Kanzleramts leisteten ihrenBeitrag, und Gerhard Schröder selbst griff Trittin mehrfach öffentlich an. Ich habe Gerhard Schrödergesagt, dass der Regierungschef sich immer vor die Minister stellen müsse und dass er es auch danntun müsse, wenn er in verschiedenen Punkten ihre Vorgehensweise missbillige oder andererAuffassung sei. So verstehe ich die Rolle eines Regierungschefs. In keinem Fall aber halte ich es fürvertretbar, dass derjenige, der unter massivem öffentlichem Beschuss steht, vom Regierungschef auch

noch öffentlich verprügelt wird. 

Die Karnevalisten registrierten das natürlich und nannten Jürgen Trittin in ihren Reden »Tritt - ihn«.Diese Verballhornung seines Namens traf den Sachverhalt ziemlich genau. Ich hatte immer Sorge,dass Jürgen Trittin die Konsequenzen ziehen würde, und versuchte, einen guten Gesprächskontakt zuihm aufrechtzuerhalten. Ich hatte kein Verständnis dafür, dass weder Joschka Fischer noch andere ausder Partei und der Fraktion der Grünen größere Anstrengungen unternahmen, um ihrem bedrängtenParteifreund zur Seite zu stehen. Als ich zur Begründung meines Rücktritts ausführte: »Ohne ein gutesMannschaftsspiel kann man nicht erfolgreich arbeiten. Mannschaftsspiel verlangt, dass man Rücksichtaufeinander nimmt und dass man auch zueinander steht - auch in der Öffentlichkeit - und dassTeamgeist die Regierungsarbeit bestimmt«, fiel Joschka Fischer dazu nur ein, dass er von einemschlechten Mannschaftsspiel nichts bemerkt habe. Fischer spürt Demütigungen wohl nur, wenn sieihm selbst widerfahren. Wenn andere gedemütigt werden, nimmt er das offensichtlich kaum zur

Kenntnis. Als Jürgen Trittin Ende Juni 1999 auf Geheiß des Bundeskanzlers gegen seine eigene Überzeugungdie Altautoverordnung der Europäischen Union kippte, habe ich ihn nicht mehr verstanden. Einigeseiner Parteifreunde fragten ihn, ob er noch in den Spiegel gucken könne, weil er so vorgeführt wurde.Andere gingen so weit, seinen Rücktritt zu fordern.  Noch enttäuschender war die Haltung Fischers und der Partei der Grünen im Kosovo-Konflikt. DiePartei der Grünen, die einmal angetreten war, um zu demokratischeren Entscheidungsfindungen zukommen, und deswegen das Rotationsprinzip erfunden hatte, beteiligte sich an der Debatte so gut wienicht. Sie überließ alles Joschka Fischer. Er aber hatte sich sehr früh dazu entschieden, Bündnissoli-darität mit der Konsequenz militärischen Eingreifens zur Grundlage seiner Politik in Jugoslawien zumachen. Der Krieg im Kosovo wurde von ihm moralisch begründet. Wer Realpolitik zur Grundlageseiner Entscheidungen macht, weiß, dass moralische Normen nicht allein das politische Handeln

bestimmen können. Wer aber moralische Prinzipien zur Grundlage seiner Entscheidungen macht,verliert sehr schnell den notwendigen Abstand und gerät politisch auf Abwege. Ich habe mich während der ganzen Monate, auch nach meinem Rücktritt, gefragt, was in derAußenpolitik anders gelaufen wäre, wenn Helmut Kohl und Klaus Kinkel noch die Außenpolitik zuverantworten hätten. Ich muss der Wahrheit die Ehre geben und sagen, dass mir wenig dazu einfällt.Ich hatte gehofft, insbesondere in der Frage von Krieg und Frieden, einen Bündnispartner bei denGrünen zu haben, der mithelfen würde, eine Minderheit in meiner Partei in Schach zu halten, dieschon immer militärische Interventionen auch außerhalb des Nato-Vertragsgebiets befürwortet hatte.Allerdings hatten auch diese Teile der SPD stets auf einem UNO-Mandat bestanden. Dass es einmal soweit kommen würde, dass bei der Befürwortung solcher militärischer Einsätze auch ohne UNO-Mandat Joschka Fischer sogar Rudolf Scharping übertreffen würde, habe ich nicht vorausgesehen.  Eine andere Frage wird in den nächsten Jahren zu beantworten sein. Die Frage nämlich, wo sich imParteienspektrum die Partei der Grünen positionieren wird. Jochen Buchsteiner schrieb in der Zeit:»Die Grünen von einst gibt es nicht mehr. Was aber ist es dann für eine Gruppierung, die unter dem

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grünen Label Politik macht? Die Partei von heute ist entwurzelt, rückständig, gespalten und erstarrt.Die Macht ist vielleicht ihr letztes Projekt.« Die ökologische Frage wird zwar auch die zentrale Frage des nächsten Jahrhunderts sein, findet aberderzeit in der Wählerschaft ein geringes Interesse. Dem Pazifismus hatten die Grünen spätestens auf ihrem Bielefelder Sonderparteitag zum Kosovo-Krieg im Mai 1998 adieu gesagt. Fischer und der Realo-Flügel erreichten zum ersten Mal in der Geschichte der Partei eine knappeMehrheit. Jürgen Trittin, Ludger Volmer und Angelika Beer hatten sich staatstragend auf ihre Seitegeschlagen. Charlotte Wiedemann schrieb dazu in der Woche: »Die Grünen sind umständehalberKriegspartei. Wäre die Bundestagswahl um ein paar Haaresbreiten anders ausgegangen, dann säßenauf den Podien der Republik spätestens in dieser achten Kriegswoche kundige, eloquente Kritiker derNato. Sie hießen Angelika Beer, Ludger Vollmer, Kerstin Müller, wahrscheinlich auch Fischer. Underst Trittin!« In der Wirtschafts- und Finanzpolitik gewannen Vorschläge an Zustimmung, die auch von der FDPbefürwortet wurden. So plädierte eine ganze Reihe von Grünen für einen niedrigeren Spitzensteuersatzbei der Einkommensteuer und machten dies zum Thema der Koalitionsverhandlungen. Da sie dabeizur Gegenfinanzierung Vorschläge machten, die gegen die Arbeitnehmerschaft gerichtet waren,mussten wir sie auflaufen lassen. Dass selbst die USA Anfang der neunziger Jahre die

»Besserverdienenden« zur Kasse gebeten hatten, weil so der Konsum nicht gedämpft wurde, hattendie Grünen nicht mitbekommen. Darüber hinaus gab es schwäbische Grüne, die Finanzpolitik auf dasWort »sparen« reduzierten. Es war nicht zu übersehen, dass die Neuorientierung der Wirtschafts- undFinanzpolitik, die ich in der SPD mehrheitsfähig gemacht hatte und die auch kreislaufwirtschaftlicheZusammenhänge in Rechnung stellte, bei den Grünen kaum diskutiert worden war. Auch nach derRegierungsbildung gab es in dieser Partei niemanden, der für diese Fragestellungen größeres Interessezeigte. Natürlich werden die Vertreter der Grünen, die mit braven Sparappellen an die Öffentlichkeittreten, in der Presse gelobt, da in Deutschland jeder gelobt wird, der bei den öffentlichen HaushaltenZum Sparen mahnt. Diskussionen darüber, wie das Kürzen öffentlicher Leistungen sich auf dieInvestitionsbereitschaft der Unternehmen oder auf die Gesamtnachfrage auswirken würde, führten dieGrünen nicht. Deutlicher noch wurde diese Neuorientierung der Grünen nach den verlorenen Wahlen in Hessen. Ich

hatte ein längeres Gespräch mit Joschka Fischer im Finanzministerium. Angesichts der dramatischenEinbrüche der Grünen in Hessen fragte ich ihn, wie die Partei sich zukünftig programmatischprofilieren wolle, um ihre Position im Parteienspektrum zu behaupten. Zu meiner Überraschung sagteJoschka Fischer, dass die Partei sich mit wirtschaftsliberalen Positionen profilieren müsse. Als erwieder gegangen war, musste ich tief durchatmen. Im Wirtschaftsliberalismus sollte die Partei, die ausder Ökologiebewegung hervorgegangen war und auf die Grenzen des Wachstums hingewiesen hatte,ihre Zukunft finden? Es war ohnehin in vielen Debatten vor der Bundestagswahl, aber auch danach,erkennbar, dass FDP und Grüne in besonderer Rivalität zueinander standen. Offensichtlich glaubtensie, um deckungsgleiche Teile der Wählerschaft buhlen zu müssen.  Das Liebäugeln der Grünen mit dem Liberalismus wurde nach meinem Rücktritt noch deutlicher. EineReihe von Grünen sprachen davon, dass nunmehr die Koalition die Chance eines zweiten Neuanfangshätte. Im Juni forderten junge Politiker der Grünen eine radikale Entrümpelung des Programms der

Partei. Sie schrieben: »Das Grüne- Programm gleiche mittlerweile einem Dachboden: Alles, waseinem früher gut gefallen habe, aber längst ausrangiert sei, lande dort, da man nie wisse, wozu es nochgebraucht wird ... Die Zeit des Burgfriedens und der Formelkompromisse ist vorbei - es bedarf einerklaren Entscheidung über den richtigen Weg der Partei in der Zukunft. Wir treten dabei ein für eineklare, machtbewusste, pragmatische Positionierung, aber auch für eine teilweise Auswechslung derMitgliedschaft... Es geht um eine Neudefinition der sozia len Marktwirtschaft im Zeitalter derGlobalisierung. Individuelle Freiheit und soziale Sicherheit müssen in ein neues Verhältnis gesetzt, dieKräfte des Marktes und gesellschaftliche Anforderungen in Einklang gebracht und die Rechtekommender Generationen ökologisch wie ökonomisch berücksichtigt werden ... Wir wollen dasbrachliegende geistige Erbe des verantwortungsvollen Liberalismus aufnehmen und mit dem Eintretenfür Ökologie und Generationengerechtigkeit verbinden.« Eine andere Gruppe jüngerer Politiker der Grünen antwortete in einer vierseitigen Schrift mit demTitel »Raus aus der neuen Mitte«: Sie schreiben, »die Zukunft der Grünen ist die einer pragmatischenLinkspartei«. Die Partei habe in neun Monaten Regierungsverantwortung bei der Befriedigunggesellschaftlicher Bedürfnisse versagt. Umweltpolitik müsse wieder ein Markenzeichen der Partei

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werden. Die Grünen müssten sich stärker auf soziale Gerechtigkeit und auf die Hoffnungen der Jugendkonzentrieren. Das Papier der jungen Realos wurde als der wahrscheinlich längste FDP-Aufnahmeantrag, den die Welt je gesehen hat, bezeichnet. Eine der Sprecherinnen der Grünen, Antje Radcke, sagte: »Unsere Identität ist uns flötengegangen.«Niemand wisse mehr, wofür die Grünen eigentlich stehen. Zu jedem halbwegs wichtigen Thema gäbees in der Öffentlichkeit unterschiedliche Meinungen. Das sei verheerend und könne so nichtweitergehen. Die Diskussion um das Erbe des Liberalismus mutet in einer Zeit, in der die FDP beiLandtagswahlen keine 5 Prozent erreicht, merkwürdig an. Es sah so aus, als hätten SPD und Grünesich vorgenommen, möglichst viele ihrer Wählerinnen und Wähler zu vertreiben. Das war nunwirklich ein Neuanfang. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Partei der Grünen weiterentwickeln wird. Wenn Fischer mit seinemAnsatz durchkommt, die Grünen dadurch »zu modernisieren«, dass sie wirtschaftsliberale Positionenübernehmen, dann wird die Partei an Bedeutung verlieren. Das zur Identität der Grünen gehörendeEintreten für mehr Umweltschutz ist im Regierungsalltag kaum sichtbar. In der Außenpolitikbeschwören die Grünen die Bündnisloyalität. Aus Bündnis 90/Die Grünen wurde: »Bündnis-Treue/Die Grünen«. Zur Rechtfertigung der rot-grünen Koalition diente mir, dass die Grünen in der Sozialpolitik ähnliche

Wahlversprechen gemacht hatten wie die SPD. Wenn dieses Bindeglied wegbricht, dann ist es schwerzu begründen, warum die Partei der Grünen für die SPD ein besserer Koalitionspartner sein solle alsdie CDU/CSU oder die FDP. Immerhin hatten mich die Altvordern der FDP dadurch beeindruckt, dasssie in der Frage des großen Lauschangriffs Standfestigkeit bewiesen. Männer wie Genscher undLambsdorff hatten deutlich gemacht, dass sie dem Lauschangriff auf besonders sensible Gruppen wieJournalisten, Ärzte, Drogenberater und andere nicht zustimmen würden. Um sie zum Schwur zubringen, verwiesen wir das Gesetz über den großen Lauschangriff aus dem Bundesrat wieder in denBundestag zurück. Da die Gruppe um Genscher und Lambsdorff standhaft blieb, gelang es uns, derRegierung Kohl unmittelbar nach der Niedersachsen-Wahl eine schwere parlamentarische Niederlagebeizubringen. Die Koalition hatte im Bundestag keine Mehrheit mehr. Der Deutsche Journalistenverband sprach von einem großen Sieg der Pressefreiheit. Das war für micheine Genugtuung, galt ich doch nach der Novellierung des Saarländischen Pressegesetzes, in dem wir

das Gegendarstellungsrecht verbessert hatten, als Gegner der Pressefreiheit. Es hatte mich großeAnstrengungen gekostet, Gerhard Schröder, den Medienliebling, für diese Freistellung derJournalisten vom Lauschangriff zu gewinnen. Nach dem fulminanten Sieg in Niedersachsen wog dieseAbstimmungsniederlage der Regierungskoalition schwer. Die Stimmung in der Union drohte zukippen. Jetzt diskutierte die Union darüber, ob mit Helmut Kohl noch die Wahl zu gewinnen sei. Und,kein Wunder, die FDP ging erkennbar auf Distanz zu Kohl. Darauf hatte ich hingearbeitet. Es galt,Kohls Nimbus der Unschlagbarkeit zu zerstören. Dieser Nimbus saß tief im Herzen manchesSozialdemokraten, und das Bonner Pressekorps glaubte immer noch an die Kohl-Kurve, das heißt:Kohl liegt zwar am Anfang des Wahlkampfs zurück, hat am Ende aber doch die Nase vorn.  Als Johannes Rau dann erklärte, den Stab an Wolfgang Clement weiterzugeben, verstärkte sich derDruck auf Helmut Kohl. Die Diskussion, ob Kohl der richtige Kanzlerkandidat der Union sei, hielt biszum Wahltag an. Noch neun Tage vor der Wahl sagte Wolfgang Schäuble im Playboy, es sei politisch

ungeschickt gewesen, ihn nach dem Leipziger Parteitag zum Nachfolger auszurufen. Dass es unsgelungen war, in der Union die Zweifel am Kanzlerkandidaten Kohl zu schüren, trug zu unseremspäteren Wahlerfolg bei.

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Überflüssiger Fehlstart

Mit Aufnahme der Regierungsarbeit stellte sich immer deutlicher heraus, dass wir einstrukturelles Problem hatten. Gab es vorher ein klares Entscheidungszentrum, nämlich dasPräsidium der Partei, so hatten wir jetzt vier Zentren: das Präsidium der Partei, dasBundeskanzleramt, die Bundestagsfraktion und den Bundesrat. Von Anfang an hätte also eineenge Koordination dieser Entscheidungszentren sichergestellt werden müssen. Das wäre nurdurch eine konsequente Zusammenarbeit zwischen Gerhard Schröder und mir möglich gewesen.Davon konnte aber keine Rede sein. Das ging schon bei der Regierungserklärung los. Sie wurdevon engen Mitarbeitern Gerhard Schröders wohl unter der Federführung Bodo Hombachsgeschrieben. Eine Abstimmung mit dem Parteivorsitzenden gab es nicht. Gleichwohl schaffte iches, mir die Regierungserklärung am Vorabend zu besorgen und kurz zu überfliegen. Ich bemän-gelte daran, dass sie nicht mit dem Entwurf der neuen Politik Gerhard Schröders begann. Der

richtige Auftakt zum Start der neuen Regierung wäre doch gewesen, gleich zu Anfang zu sagen,das und das wollen wir für unser Land in den nächsten Jahren erreichen. Statt dessen wurde schonauf Seite zwei über die zu hohe Schuldenlast gejammert, welche die Regierung Kohl hinterlassenhatte. Ich sagte den Mitarbeitern von Gerhard Schröder meine Bedenken, aber geändert wurdenichts. Als Gerhard Schröder dann folgende Passage der Regierungserklärung vortrug, sträubten sichmir die Haare: "Auch deshalb werden wir die sogenannten 63o-Mark-Jobs nicht einfachabschaffen. Aber wir werden sie angemessen m die Sozialversicherungspflicht einbeziehen. DieGrenze werden wir auf 300 DM festlegen. Da wir gleichzeitig die Pauschalbesteuerung aufheben,werden diese Tätigkeiten nicht unzumutbar verteuert. Man sieht daran: Die Bundesregierungerkennt ausdrücklich die Notwendigkeit und Berechtigung solcher Beschäftigungsverhältnisse

an: sowohl für die Arbeitgeber als auch für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerund für die Verbraucher. Aber wir wollen gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften denMissbrauch, der mit dieser Regelung betrieben worden ist, ernsthaft bekämpfen.« Es ist mir bis heute nicht gelungen herauszufinden, wer dem Kanzler das ausgeschrieben hatte.Diese Passage war ein glatter Bruch der Versprechungen, die Gerhard Schröder und ich imWahlkampf gemacht hatten. Insbesondere mit Blick auf die Arbeitnehmerfrauen, die sich, wenndie Kinder aus dem Haus sind, ein kleines Zubrot verdienen, hatten wir immer wieder betont: Wirwollten die 630-Mark-Jobs sozialversicherungspflichtig machen, aber so, dass diejenigen, die auf das Geld angewiesen sind, keine finanziellen Einbußen erleiden würden. Dabei waren wir uns derTatsache bewusst, dass für Besserverdienende im Steuer- und Abgabenrecht ungleich größereBegünstigungen verankert waren. Die 630-Mark-Jobs hießen nicht umsonst»die Steueroase des

kleinen Mannes«. In der Bundestagsfraktion erinnerte ich mit Nachdruck an dieses Wahlkampfversprechen undsagte, dass die zwischen den Sozialpolitikern der Fraktion, dem Arbeitsministerium und demKanzleramt ausgehandelte Lösung von mir nicht mitgetragen werden könne. Am nächsten Tag las ichin einigen Zeitungen, Gerhard Schröder habe mich bei den 63o-Mark-Jobs gestoppt. Während ich inder Fraktion für die Besserstellung der Leute kämpfte, die auf die 63o-Mark-Jobs angewiesen sind,hatten die Spindoctors die Presse wieder einmal falsch informiert. Es kam zu einem Krisengespräch im Kanzleramt. Wir vereinbarten, die Grenze nicht, wie vomKanzler in der Regierungserklärung gesagt, auf 300 Mark, sondern auf 630 Mark festzulegen, umzumindest die Frauen aus Arbeitnehmerhaushalten nicht schlechter als bisher zu stellen. Am nächstenMorgen trug Gerhard Schröder im Parlament selbst die neue Regelung vor. Das Problem war aber,dass darüber nicht ausreichend diskutiert worden war und die Überprüfung durch die Fachministerien

noch nicht vorlag. Ich war sehr verärgert über diese Fehler, hatten wir doch in der Partei schon weitergehende Konzepteerarbeitet. Es lag eine Reihe von Vorschlägen vor, die auch auf Vorarbeiten von Fritz Scharpf,

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Joachim Mitschke und der Friedrich-Ebert-Stiftung zurückgingen. Der Staat sollte beispielsweiseEinkommen unter 1500 Mark als Niedriglohneinkommen ganz oder teilweise von Sozialabgabenbefreien, um einfache Arbeiten attraktiver zu machen. Diese Vorschläge hätten auch das Problem der63o-Mark-Jobs gelöst. Sie wären dann unter die Regeln des größer gewordenen Niedriglohnsektorsgefallen. Zum Ausgleich für die ausgefallenen Sozialversicherungsbeiträge hätte man die Ökosteuerheranziehen können. Anders ausgedrückt: Die Ökosteuer wäre nicht dazu verwandt worden, generelldie Sozialversicherungsbeiträge zu senken, sondern sie hätte dazu gedient, den Niedriglohnsektor zuöffnen und finanziell attraktiv zu machen. Dem Verkaufsgenie Bodo Hombach gelang es, im Mai 1999 diese Vorstellungen als »neu« zuverkaufen. Unter der Überschrift »Aus Schröders Schublade der Plan - Radikalkur gegen dieArbeitslosigkeit« berichtete der Spiegel von einem umfassenden Umbauplan: »Ziel ist die Einführungeines generellen Freibetrags für Sozialabgaben bei niedrigen (Stunden-)Verdiensten, mit degressiverBeitragsentlastung bis zu einer Schwelle, jenseits derer die vollen Beiträge fällig sind. Eine solcheLösung wäre weder befristet noch ziel-gruppenorientiert; insoweit wäre sie einer allgemeinen Steu-ersenkung ähnlich. Erlassene Beiträge und Beitragsanteile der Arbeitnehmer und Arbeitgeber werdender Sozialversicherung vom Staat ersetzt. Damit bleiben die begünstigten Arbeitnehmer vollsozialversichert.« So wurde die Arbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bodo Hombach sei Dank, wenn

auch etwas verspätet, durch einen Spiegel-Titel gewürdigt. 

Der Wegfall der Pauschalsteuer, den der Kanzler ohne Absprache in der Regierungserklärungfestgelegt hatte, stellte nicht nur den Bundesfinanzminister vor Probleme. Da auch die Länder andieser Steuer beteiligt sind, gab es einen über mehrere Monate andauernden Krach mit denLänderfinanzministern. Es gelang mir nur mit Mühe, diesen beizulegen, wobei ich insbesondere vonmeinem alten Freund Heinz Schleußer, dem nordrhein-westfälischen Finanzminister, unterstütztwurde. Bei der Neuordnung der nicht sozialversicherten Beschäftigungsverhältnisse und dem Öffnen einesneuen Niedriglohnsektors ging es um eine grundsätzliche Frage: Sollen wir es zulassen, dass immermehr Menschen scheinselbständig sind, schwarzarbeiten oder Billigjobs annehmen und damit nichtszur Finanzierung des Sozialstaats beitragen, gleichwohl aber Anspruch auf Sozialhilfe haben? Um dieZustimmung der Bevölkerung zu den Reformen zu erlangen, war sorgfältige Arbeit gefragt.  

Da nichts richtig koordiniert wurde, kamen weitere schwere Fehler hinzu. Gerhard Schröder hattenoch vor der Regierungsbildung am 4. Oktober 1998 ein Interview in  Bild am Sonntag gegeben. DerAufmacher war: »Schröder: Erstes Machtwort! Benzin nicht mehr als 6 Pfennige teurer!« DieFestlegung auf sechs Pfennige war unter keinem Gesichtspunkt vertretbar. Die Benzinpreise wareninnerhalb eines Jahres um über zehn Pfennige gefallen. Unter ökologischen Gesichtspunkten machtenwir uns geradezu lächerlich.  Ich wunderte mich darüber, dass die Opposition nicht in diese Kerbe hieb, sollte man den Gegner dochimmer auf dem eigenen Terrain stellen. Die Oppositionsparteien, die selbst Konzepte zur ökologischenSteuer- und Abgabenreform vorgelegt hatten, glaubten vielmehr, beim Wähler gut anzukommen, wennsie diesen bescheidenen Schritt als billiges Abkassieren diffamierten. Schäuble, Repnik, Sohns undandere wollten sich an ihre eigenen Vorschläge zur ökologischen Steuer- und Abgabenreform nichtmehr erinnern. Glaubwürdig war das nicht. 

Die sechs Pfennige wurden aber auch für die Regierung ein Problem, weil wir nun eine neue Steuer,die Stromsteuer, einführen mussten. Die ökologische Steuerreform wurde durch diesesKanzlermachtwort zu einem Torso. Fritz Scharpf meldete sich und fragte, warum die ursprünglicheAbsicht aufgegeben worden wäre, die ökologische Steuer zur Finanzierung des Niedriglohnsektorsheranzuziehen. Er machte einen schriftlichen Vermerk, den ich sowohl Mitgliedern derBundestagsfraktion als auch dem Kanzleramt zur Kenntnis brachte. Aber wegen der vielenFestlegungen, Machtworte und Koordinatoren fiel dieser vernünftige Vorschlag zunächst einmal unterden Tisch. Erschwert wurde unsere Arbeit auch dadurch, dass die Wirtschaft erwartungsgemäß sofortgegen beide Reformen Sturm lief. Durch das zu hohe Tempo und die mangelnde Koordination waren bedauerlicherweise gleich zweizentrale Reformprojekte der rot-grünen Koalition in Misskredit geraten: die ökologische Steuer- undAbgabenreform und die  Neuordnung des Niedriglohnsektors. Erschwerend für dieÖffentlichkeitsarbeit der Regierung kam hinzu, dass unsere „Modernisierer“ nicht zu diesen Projektenstanden. Gegen die ökologische Steuer- und Abgabenreform wetterten sie im Hintergrund ebenso wiegegen die Neuordnung der nicht Sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse. Es ist

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aber nicht möglich, für Reformprojekte in der Bevölkerung Zustimmung zu finden, wenn immerwieder »Modernisierer« aus den eigenen Reihen als Kronzeugen gegen diese Reformprojekteauftreten. Am 8. November i 998 gab Gerhard Schröder wieder ein Interview in  Bild am Sonntag. Wirlasen dort: »Schröder: Volle Rente schon mit 60«. Das war wieder aus der Hüfte geschossen, hattenwir doch im Hinblick auf die demographische Entwicklung in unserem Rentenpapier empfohlen, dasRenteneintrittsalter anzuheben, sobald die Arbeitslosigkeit zurückgegangen sei. Zudem war auf denersten Blick erkennbar, dass ein solches Vorhaben nicht finanzierbar war. Bei der Schnelllebigkeit undVergesslichkeit der veröffentlichten Meinung gelang es, diesen Vorschlag Walter Riesterzuzuschieben. Er wurde dann in den darauffolgenden Wochen ausgiebig dafür gescholten. Natürlichmusste irgendwann eingeräumt werden, dass ein solcher Vorschlag nicht finanzierbar war. Aber auchhier fragte ich mich, wer die Interviews des Bundeskanzlers gegenlas und überprüfte. DieRentendiskussion der SPD jedenfalls war an diesen Mitarbeitern spurlos vorübergegangen. Durch die Fehler bei den 63o-Mark-Jobs, bei der ökologischen Steuer- und Abgabenreform und beimAtomausstieg, die alle bei besserer Koordination und Fachkenntnis im Kanzleramt hätten vermiedenwerden können, wurde die gute Aufbruchsstimmung, die der Regierungswechsel ausgelöst hatte,spürbar beschädigt. Diese Fehler überlagerten auch die Reformentscheidungen, die wir bewusst an denAnfang der Regierungsarbeit stellten, um der Arbeitnehmerschaft deutlich zu machen, dass eine neue

arbeitnehmerfreundliche Regierung die Arbeit aufgenommen hatte. Das waren die Wiederherstellungder Lohnfortzahlung und des Kündigungsschutzes, die Rücknahme der Rentenkürzung und dieVerbesserungen im Gesundheitswesen. Das schwierigste Reformprojekt aber war die Steuerreform. Hier ist mir während derKoalitionsverhandlungen ein schwerer Fehler unterlaufen. Ich hatte zugelassen, dass die Steuerreformunter unnötigem Zeitdruck über die parlamentarische Bühne gebracht wurde und dass die Finanz-politiker der Koalition aus Bund und Ländern während der Koalitionsverhandlungen eine Reihe vonVorschlägen gemacht hatten, die vom ursprünglichen SPD-Konzept abwichen und uns sehr viel Ärgerbereiten sollten. Vor allem gegen die Einschränkung der Teilwertabschreibung, die Besteuerung derVeräußerungsgewinne und die Einschränkung des Verlustvortrags lief die Lobby Sturm. Von allenSeiten wurden wir unter Druck gesetzt, das Steuerreformgesetz nicht zu verabschieden. Die HerrenHenkel, Stihl und Hundt sahen, wie immer, den Untergang des Abendlands und das Ende des

Standorts Deutschland nahen.  Mir bereitete diese Auseinandersetzung durchaus sportliches Vergnügen, da das Steuergesetz einwirklich sozialdemokratisches Gesetz war. Es entlastete die Arbeitnehmer und Familien mit über 20Milliarden Mark. Es entlastete den Mittelstand nach vielen Korrekturen um 5 Milliarden Mark, esbelastete die Großwirtschaft, die sich in den vergangenen Jahren gebrüstet hatte, kaum oder keineSteuern zu zahlen, mit über 10 Milliarden Mark.  Besondere Verdienste um die Realisierung des Steuergesetzes erwarb sich meine ParlamentarischeStaatssekretärin Barbara Hendricks. Sie hatte sich als ehemalige Pressesprecherin von HeinzSchleußer ein entsprechendes Fachwissen angeeignet und genoss in der Bundestagsfraktion Vertrauen.In einem regelrechten Sitzungsmarathon brachte sie das Gesetz durch die Ausschüsse. Da dieStreichung jeder Steuersubvention, es waren insgesamt über siebzig, auf Widerstände stößt, kann mansich vorstellen, welche Arbeit zu leisten war. 

Bei der Bundespressekonferenz referierte ich am 10. Februar 1999 zum damaligen Stand derSteuergesetzgebung, während gleichzeitig Barbara Hendricks im Finanzausschuss einigeVeränderungen durchsetzte. Ich war in der schwierigen Lage, nicht zu wissen, wie die Beratungen desFinanzausschusses ausgehen würden, und hatte daher auch kein Papier dabei, das zu jeder einzelnenPosition den aktuellsten Stand wiedergab. Ich eierte daher an einigen Stellen herum, da ich keineexakte Auskunft geben konnte. Diese Panne nutzten meine Gegner dazu aus, in Hintergrundge-sprächen zu streuen, ich sei offensichtlich mit dem Amt des Finanzministers überfordert. DasSteuerreformgesetz konnte sich am Schluss durchaus sehen lassen, weil es mehr Steuergerechtigkeitherstellte, Arbeitnehmerfamilien und Mittelstand entlastete und eine Reihe von Steuersubventionenabschaffte. Der viel zu enge Zeitplan wurde zum Vorteil. Trotz der verlorenen Wahl in Hessenerreichte das Steuergesetz die notwendigen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat, denn HansEichel vertrat bei der Schlussabstimmung noch das Land Hessen. Zu einer besonderen Geschichte des Steueränderungsgesetzes wurde die Belastung derEnergiewirtschaft und der Versicherungswirtschaft. Erwartungsgemäß wehrten sich dieSpitzenverbände dieser beiden Wirtschaftsbereiche und rechneten die zu erwartenden

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Mehrbelastungen künstlich hoch. Der Bundeskanzler wurde nervös. Er glaubte, dass eine zu starkeBelastung der Energiewirtschaft seine Chefgespräche zum Atomausstieg gefährdeten. Wir kamensowohl der Versicherungswirtschaft als auch der Energiewirtschaft entgegen. Durch diese Korrekturenam Steueränderungsgesetz war aber leider der Eindruck entstanden, man müsse nur energisch genugim Kanzleramt vorstellig werden, und schon würden bestimmte Dinge wieder zurückgenommen.Zusätzliche Verwirrung stiftete, dass die Belastung der Energiewirtschaft einmal für einen Zehn-Jahres-Zeitraum, zum anderen für einen Vier-Jahres-Zeitraum ausgerechnet wurde. Das bemerktennatürlich nur die Fachleute. Für die Unkundigen ergab sich eine weitere Möglichkeit, zu stänkern undzu behaupten, das Finanzministerium kenne seine eigenen Zahlen nicht. Das Ende vom Lied war, dassnach meinem Rücktritt, o Wunder, die Energiewirtschaft zu dem Ergebnis kam, dass die Zahlen, diedas Bundesfinanzministerium in Abstimmung mit der nordrhein-westfälischen Finanzverwaltungvorgelegt hatte, richtig waren.  Die Regierungserklärung hielt für mich eine weitere Überraschung bereit. Der Bundeskanzler sagte,»wir werden auch die Unternehmensbesteuerung grundlegend reformieren, Unternehmenseinkünftesollen mit höchstens 35 Prozent besteuert werden«. Davon stand nichts in unseremRegierungsprogramm. Im Steueränderungsgesetz, das schon in Arbeit war, hatten wir vorgesehen, denKörperschaftsteuersatz für einbehaltene Gewinne von 45 auf 40 Prozent ab dem i. Januar 1999 und

den Spitzensteuersatz für gewerbliche Einkünfte von 47 auf 43 Prozent ab dem i. Januar 2000 zusenken. Die aus dem Hut gezauberte Zahl von 3 5 Prozent stellte natürlich die im Steueränderungsge-setz vorgeschlagenen Unternehmensteuersätze sofort wieder in Frage. Zu Recht wiesen Kritiker darauf hin, was es eigentlich solle, im Steueränderungsgesetz denKörperschaftsteuersatz für einbehaltene Gewinne auf 40 Prozent und für gewerbliche Einkünfte auf 43Prozent zu senken, wenn der Kanzler in seiner Regierungserklärung versprochen habe, dieUnternehmenseinkünfte mit höchstens 35 Prozent zu besteuern. Wiederum war nichts abgestimmt. Alsdann im Handelsblatt der Druck dadurch verstärkt werden sollte, dass erneut die Zahl von 35 Prozentauftauchte, während wir doch gerade für andere Zahlen im Steuergesetz kämpften, rastete ich in derBundestagsfraktion aus. Ich ließ meinem Unmut freien Lauf und sagte, so könne man nicht regieren.Dies wurde dann in der Presse ausführlich berichtet. Spätestens hier hätten bei all denjenigen dieAlarmsirenen schrillen müssen, die sich zwei Wochen später von meinem Rücktritt völlig überrascht

zeigten. Die erste Steuerreform war noch nicht in trockenen Tüchern, da wurde die nächste Steuerreformangekündigt. Im Zukunftsprogramm 2000 sollen Rentner und Arbeitslose das Absenken derUnternehmenssteuern finanzieren. Dabei wäre es richtig gewesen, nach dem Steueränderungsgesetz,das ein wirklicher Durchbruch war, zunächst keine weiteren Steueränderungsgesetze ins Auge zufassen. Allenfalls hätte man sich vornehmen können, für das Ende der Legislaturperiode noch einmaleine größere Kraftanstrengung zu unternehmen. Was immer an Argumenten zur Steuerpolitikvorgetragen wird, es gilt die Regel: Man kann nicht ununterbrochen Steueränderungsgesetzeeinbringen. Das schafft kein Vertrauen bei Investoren und Verbrauchern und schadet derkonjunkturellen Entwicklung. Insbesondere die Investoren sind auf länger festgelegte klare Rahmen-bedingungen angewiesen. Ein weiteres Argument ist, dass die Steuerharmonisierungsversuche auf europäischer Ebene laufen. Je nach Ausgang müsste dann wieder ein Steueränderungsgesetz aufgelegt

werden. Offensichtlich sind manche Fehler so attraktiv, dass sie immer wiederholt werden. Hans Eichel erklärte bei der Vorlage des Zukunftsprogramms 2000, dass die Vermögensteuer nichtwieder eingeführt werde. Dabei hatten wir im Regierungsprogramm die Wiedereinführung derprivaten Vermögensteuer aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit versprochen. Hier muss icherwähnen, dass derselbe Hans Eichel mich während der Koalitionsverhandlungen immer wiedergebeten hatte, darauf zu bestehen, dass die private Vermögensteuer sofort wieder eingeführt werdensolle. Da die Vermögensteuer den Ländern zugeht, wollte Eichel mit diesem Geld Bildungs- undForschungsausgaben in Hessen aufstocken und diese im Wahlkampf den Wählerinnen und Wählernversprechen. Da Gerhard Schröder dagegen war, setzte ich Hans Eichels Forderung nicht durch. Ironieder Geschichte: Nach der für die rot-grüne Koalition verlorenen Landtagswahl gab der neueMinisterpräsident von Hessen, Koch, eine Pressekonferenz, um nach hundert Tagen Bilanz zu ziehen.  Die FAZ berichtete: »In den Mittelpunkt ihrer Hundert-Tage-Bilanz stellten Koch und Frau Wagnerdie Bildungspolitik. Sowohl mit dem Nachtragshaushalt als auch mit dem neuen Schulgesetz und demHochschulgesetz seien >ganz schnell erste Voraussetzungen geschaffen worden, um Hessen zumBildungsland Nummer eins zu machen<. Zum neuen Schuljahr nach den Sommerferien würden so

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viele Lehrer neu ihren Dienst in den hessischen Schulen antreten wie seit zwanzig Jahren nicht mehr.Durch 1400 neue Lehrer, durch Personalumschichtungen und durch Finanzmittel fürVertretungsunterricht in der Größenordnung von jeweils 300 Stellen verbessere sich die schulischeGrundversorgung um rechnerisch insgesamt 2000 Stellen. Hinzu komme noch eine Ausweitung derReferendarstellen.« Während Hans Eichel in Bonn »sparen, sparen, sparen« rief, machte seinNachfolger in Hessen Angebotspolitik von links.

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Die Hessen-Wahl

Die Hessen-Wahl ist für die SPD immer etwas Besonderes. Wir haben bei diesen Wahlen schonmanches Mal eine Überraschung erlebt. Ich denke an den Wahlsieg Walter Wallmanns, den viele vonuns nicht erwartet hatten. Wir waren also für den 7. Februar 1999 vorgewarnt. Im nachhinein muss ichmilde lächeln, wenn ich daran denke, dass Hans Eichel mich immer wieder gebeten hatte, vor denHessen-Wahlen keine Grausamkeiten zu begehen, das heißt kein Sparpaket aufzulegen. Ich hänselteihn und sagte: »Hans, dir ist doch bekannt, dass ich Machiavellist bin. Grausamkeiten begeht man amAnfang.« Als ich ihn nach der Auflage seines Sparprogramms auf seinen Gesinnungswechsel ansprach,erwiderte er verlegen, er habe mich ja nur gebeten, im Januar 1999 keine Grausamkeiten zu begehen.Das war kläglich. Der Haushalt 1999 wurde, wie auch Hans Eichel weiß, im Januar vom Kabinettbeschlossen. Die Spargesetze, die ich im November oder Dezember eingebracht hätte, wären imparlamentarischen Verfahren gewesen und hätten den Wahlkampf in Hessen bestimmt. Warum hatHans Eichel als Finanzminister in Bonn nicht bedacht, dass Richard Dewes, Reinhard Klimmt, Karl-Heinz Kunkel, Walter Momper und Manfred Stolpe genauso wie er von der sozialdemokratischenBundesregierung erwarten könnten, dass ihr Wahlkampf nicht unnötig belastet wird?  Aus Bonn jedenfalls kam bei der Hessen-Wahl von der Wirtschafts- und Finanzpolitik keinGegenwind. Der Gegenwind blies plötzlich aus einer anderen Richtung. Otto Schily hatte den Auftrag,ein neues Staatsbürgerschaftsrecht zu entwickeln. In der Koalitions-Vereinbarung stand dazu: »Im Zentrum unserer Integrationspolitik wird die Schaffung eines modernenStaatsangehörigkeitsrechts stehen. Dabei sind insbesondere zwei Erleichterungen umzusetzen:

• Kinder ausländischer Eltern erhalten mit Geburt in Deutschland die deutsche Staatsangehörigkeit,wenn ein Elternteil bereits hier geboren wurde oder als Minderjähriger bis zum 14. Lebensjahr nachDeutschland eingereist ist und über eine Aufenthaltserlaubnis verfügt. • Unter den Voraussetzungen von Unterhaltsfähigkeit und Straflosigkeit erhalten einenEinbürgerungsanspruch - Ausländerrinnen und Ausländer mit achtjährigem rechtmäßigem Inlandsaufenthalt, - minderjährige Ausländerrinnen und Ausländer, von denen wenigstens ein Elternteil zumindest übereine unbefristete Aufenthaltserlaubnis verfügt und die seit fünf Jahren mit diesem Elternteil infamiliärer Gemeinschaft in Deutschland leben, - ausländische Ehegatten Deutscher nach dreijährigem rechtmäßigem Inlandsaufenthalt, wenn die ehe-liche Lebensgemeinschaft seit mindestens zwei Jahren besteht. In beiden Fällen ist der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nicht von der Aufgabe der

bisherigen Staatsangehörigkeit abhängig. Wir werden Einbürgerungen auch dadurch erleichtern undbeschleunigen, dass wir auf überflüssige Verfahren verzichten.«

Otto Schily hatte gerade mit der Ausarbeitung der Gesetzesentwürfe begonnen, als die CDU einWahlkampfthema unter dem Stichwort »Doppelpass« witterte. Schon der Begriff war unglücklichgewählt, weil einige darunter verstanden, dass Ausländer mehr Rechte bekämen als Deutsche. Eswurde sehr emotionsgeladen diskutiert. Jeder müsse sich zu seinem Staat bekennen. Es könne nichtsein, dass sich ausländische Mitbürger aus den jeweiligen Rechten und Pflichten zweier Staaten dieRosinen herauspickten. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und ständiger sozialer Kürzungen ist die Akzeptanz ausländischerMitbürgerinnen und Mitbürger ohnehin geringer. Diese latente Abwehrhaltung gegenüber Fremdenkann in unserer Gesellschaft auch in aggressive Ausländerfeindlichkeit umschlagen. Die Brände in den

Asylbewerber- und Aussiedlerheimen und die Tatsache, dass Ausländer von Jugendlichen gejagt undtotgeschlagen wurden, sind Zeugnis dafür. Diejenigen, die keine Arbeit finden, sehen in denausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern Konkurrenten, die ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen,

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und das noch zu sehr niedrigen Löhnen. Das unverantwortliche Lohndumping vieler Firmen schürtdiese Stimmung zusätzlich. Ich habe immer dafür geworben, dass man selbst einmal versuchen sollte nachzuempfinden, was esheißt, wenn ein deutscher Bauarbeiter von einem ausländischen Kollegen verdrängt wird, der für einDrittel seines Lohnes oder weniger arbeitet.Während meiner Zeit als Bürgermeister kamen Familien zu mir, die jahrelang auf die Zuweisung einerstaatlich geförderten Wohnung gehofft hatten und dann erlebten, dass Asylbewerber in dieseWohnungen eingewiesen wurden. Durch solche Entscheidungen der Gemeinden, die aus der Notgeboren sind, entsteht Ausländerfeindlichkeit. Da viele ausländische Familien in der Regel mehrKinder haben als deutsche Familien, rechnen insbesondere ältere Menschen bei jederKindergelderhöhung vor, was das für ihnen bekannte Ausländerfamilien bedeutet. Wenn solche Ent-scheidungen noch mit Rentenkürzungen verbunden sind, kann sich jeder ausmalen, wie ältereMitbürger reagieren. Ich habe stets genau hingehört, wenn sich meine mittlerweile 84Jährige Muttermit ihren gleichaltrigen Freundinnen unterhielt, um zu erfahren, wie diese Generation bei solchensozialpolitischen Entscheidungen denkt. Ich gehöre daher zu denen, die viele Jahre lang in der SPDdarauf hingearbeitet haben, dass es in der Asylfrage zu einem Kompromiss zwischen den großenParteien kam. 

Wolfgang Schäuble hatte die sogenannte Drittstaaten-Regelung vorgeschlagen, die Grundlage desgefundenen Kompromisses war. Ich halte mein Eintreten für diesen Kompromiss auch im nachhineinfür gerechtfertigt. Eine zu starke Zuwanderung macht eine Integration der ausländischenMitbürgerinnen und Mitbürger fast unmöglich. Es war für mich schmerzhaft, dass viele meinerFreunde anders dachten. Ich nenne beispielsweise Günter Grass. Auch die Linke in der SPD konntediesem Kompromiss wenig abgewinnen. Mein Einwand war neben dem Integrationsargument, dassdie Hauptbetroffenen der Zuwanderung die sozial Schwächeren sind. Reiche haben unter derZuwanderung nicht zu leiden. Sie sind eher Nutznießer, denn sie können billigere Arbeitskräfteeinstellen. Ich bin darüber hinaus der Überzeugung, dass ohne den Asylkompromiss die SPD ihreMehrheitsfähigkeit in der Bundesrepublik verloren hätte. Obwohl der Kompromiss Anfang derneunziger Jahre zustande kam, war er auch Grundlage unseres Wahlerfolgs im Jahre 1998. Vor diesem

Hintergrund hielt ich es nicht für klug, das Staatsbürgerschaftsrecht mit der rot-grünen Mehrheit imBundestag durchzuziehen. Schon von der Sache her ist es einsehbar, dass das Staatsbürgerschaftsrechtin seinen wesentlichen Elementen von einer großen Mehrheit des Volkes getragen werden muss. Ichplädierte zunächst leise und dann lauter dafür, mit der anderen großen Volkspartei, der CDU/CSU,Gespräche aufzunehmen. Aber im Gefühl des großen Wahlsiegs vom September waren einige meiner Freunde nicht bereit,darauf einzugehen. Ich sprach mehrfach darüber mit Gerhard Schröder und Otto Schily. Beide warender Meinung, dass die Grünen eine solche gemeinsame Lösung mit der CDU/CSU nicht mitmachenwürden. Die CDU/CSU hatte bereits im Januar mit ihrer Unterschriftenkampagne begonnen, dienatürlich an die ausländerfeindlichen Instinkte der Bevölkerung appellierte. Noch soviel Rabulistikund frommes Reden der CDU/CSU konnten von diesem Sachverhalt nicht ablenken. Und sie hatteErfolg. Zu den Ständen der CDU/CSU kamen Menschen, auch Wähler von uns, und fragten, wo man

hier gegen die Ausländer unterschreiben könne. Andere fragten, wo man hier gegen die Türkenunterschreiben könne. Beunruhigt trug ich auch Hans Eichel meine Idee vor, eine gemeinsame Lösungmit der CDU/CSU zu suchen. Aber auch er ging nicht darauf ein. Die Parteifreunde, die jetzt für dievon der Koalition geplante Lösung an den Wahlkampfständen um Zustimmung warben, würden einensolchen Schwenk nicht verstehen. Ich schlug dem Präsidium daher vor, die beiden großen Kirchengewissermaßen als Moderatoren zwischen den beiden großen Parteien für das neueStaatsbürgerschaftsrecht zu gewinnen. Die Idee gefiel zwar einigen, aber letztlich setzten sichdiejenigen durch, die der Meinung waren, wir sollten mit den Grünen allein das neueStaatsbürgerschaftsrecht verabschieden. Vor der Hessen-Wahl hatte ich ein ungutes Gefühl. Ich wusste, was es bedeuten würde, wenn wir kurznach der siegreichen Bundestagswahl in einem Vorzeigeland verlieren würden. Hessen hatte nochbessere Wirtschaftsdaten als Baden-Württemberg und Bayern. Hans Eichel und seine Mannschafthatten gute Arbeit geleistet. Da in Hessen eine rot-grüne Koalition regierte, waren dieWirtschaftsdaten Hessens auch ein Gegenargument gegen das in bürgerlichen Kreisen durchaus

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gepflegte Vorurteil, Rot-Grün könne keine erfolgreiche Wirtschaftspolitik machen. Während deshessischen Wahlkampfs aber spürte ich, wie verunsichert die eigenen Parteifreunde waren.  Entscheidend war, dass die CDU-Wähler weitaus stärker motiviert waren als unsere Wähler. DieKampagne der CDU/CSU war ein voller Erfolg, obwohl es darüber innerhalb der CDU/CSU zuheftigen Diskussionen gekommen war. Sie wurde auch von vielen braven Mitgliedern der CDU/CSUals ausländerfeindlich und daher unanständig empfunden. Einzelne Landesverbände und Ortsvereinelehnten es ab, sich daran zu beteiligen. Aber wie so oft in der Politik, heiligt der Erfolg die Mittel.  Die CDU/CSU war rundum zufrieden, und wir hatten in Hessen verloren. Wir gaben im Vergleich zurBundestagswahl etwas nach. Wir hatten in Hessen bei der Bundestagswahl 41,6 Prozent erreicht underreichten bei der Landtagswahl 39,4 Prozent. Da die Grünen aber einbrachen, reichte es nicht mehrzur Bildung einer rot-grünen Landesregierung. Dass wir im Vergleich zur Bundestagswahl nur wenigverloren hatten, ist auch ein Beweis dafür, dass trotz der vom Kanzleramt zu verantwortenden Fehlerunsere Politik bis dahin im Volk akzeptiert wurde. Hätten die Sozialdemokraten bei denLandtagswahlen in Brandenburg, im Saarland, in Sachsen und in Thüringen im Vergleich zu ihren Bundestagswahlergebnissen nur 2,2. Prozent abgegeben, dann stünden sie heute blendend da. Aber inder Zwischenzeit hatte die Regierung Schröder den Kurswechsel eingeleitet, und die Wählerinnen undWähler kehrten uns den Rücken.  

Sofort nach der Hessen-Wahl machte ich die notwendige Kurskorrektur, diesmal bewusst ohneAbsprache mit Gerhard Schröder. Unser Arbeitsverhältnis war schon belastet, und ich hatte michdarüber geärgert, dass er einige Wochen vor der Wahl eine viel zu geringe Bereitschaft gezeigt hatte,auf meine Vorschläge einzugehen. Ich wollte auch vermeiden, dass innerhalb der rot-grünen Koalitioneine endlose Diskussion nach dem Motto »jetzt erst recht« einsetzte. Die Grünen knickten sehr schnellein, schneller als ich erwartet hatte. Es kam zu der Kompromisslösung, die die Landesregierung vonRheinland-Pfalz, eine sozialliberale Koalition, vorgelegt hatte. Der Rückschlag in Hessen machte mirzu schaffen, da ich mich dafür als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlandsverantwortlich fühlte. Die Tatsache, dass ich rechtzeitig Vorschläge gemacht hatte, wie eine solcheWahlniederlage zu verhindern gewesen wäre, war für mich keine Entschuldigung dafür, dass ich michnicht durchgesetzt hatte. Auch die Parteilinke hatte, wie schon beim Asylkompromiss, an dieser Stellewenig Verständnis für meine Vorgehensweise. Obwohl die Mehrheiten im Bundesrat sich geändert

hatten, war sie ebenfalls zornig auf mich, weil ich so schnell die Reißleine gezogen hatte.

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Deutschland und Frankreich

Als Saarländer habe ich aus der Geschichte gelernt, dass die Aussöhnung zwischen Frankreich undDeutschland auch die Grundlage der europäischen Einigung ist. Eine Konstante der französischenPolitik war es, dass sie das Aufkommen einer starken Zentralmacht in Europa verhindern wollte.Berühmt ist das Wort von Francois Mauriac: »Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich zufrieden bin,dass es zwei gibt.« Als ich Francois Mitterrand zum letzten Mal anlässlich der Verleihung desMedienpreises in Baden-Baden sprach, stellte ich ihm die Frage, welche der historischen FigurenFrankreichs ihm am meisten imponiert hätten. Ich versprach mir davon eine Auskunft über dielängerfristige Grundlage der Mitterrandschen Deutschland- und Europapolitik. Wie aus der Pistolegeschossen kam die Antwort: »Mazarin.« Sofort erinnerte ich mich daran, dass er seiner Tochter denNamen »Mazarine« gegeben hatte. Mazarin stand ganz in der Tradition seines Lehrmeisters Richelieu,der das Aufkommen einer starken Zentralmacht in Europa fürchtete. Aber in Frankreich hieß es 1635

auch, »Riche-lieu-la-Guerre, Mazarin-la-Paix«. Richelieu war zu wütendem Hass fähig, Mazarin warunfähig zu hassen. Durch seine außenpolitischen Erfolge im Westfälischen Frieden 1648  und imPyrenäen-Frieden 1659 sicherte er Frankreichs Hegemonie über Europa. In seinem Buch De l'Allemagne, de la France, das in Deutschland bezeichnenderweise unter dem TitelÜber Deutschland veröffentlicht wurde, schreibt Francois Mitterrand: »Ich träume von derVorherbestimmung Deutschlands und Frankreichs, dass sie durch die geographische Lage und ihrealte Rivalität dazu auserwählt sind, das Signal für Europa zu geben. Haben beide Länder in sich dasBeste von (.lern bewahrt, was ich, ohne zu zögern, ihren Instinkt für Größe nenne, werden siebegreifen, dass es sich dabei um ein Projekt handelt, dessen sie würdig sind.  Sie werden sich zunächst einmal selbst überzeugen müssen. Frankreich, stets der Versuchungausgesetzt, sich auf sich selbst zurückzuziehen, der epischen Illusion von der Größe in Einsamkeit;Deutschland, stets zwischen seinen Bestimmungen schwankend, einer in der Einheit Europas

verankerten Nation oder einer uneingestandenen Erbin imperialer Ambitionen. Man wird mir entgegenhalten: Das ist eine Utopie! Doch was ist eine Utopie? Entweder eineAbsurdität, und dann wird die Zeit sich darum kümmern, uns zu antworten. Oder aber nur dieAntizipation eines neuen möglichen Zustands. Wenn sich in diesem Augenblick, da alles in Europamöglich ist, ein Sprung des Willens vollzieht, dann wird die Utopie zur Realität werden. Und vieleunter Ihnen werden sie kennen lernen.« Den Imperativ der klassischen französischen Außenpolitik, das Aufkommen einer zentralen Macht inEuropa zu verhindern, setzte Mitterrand um, indem er den Vertrag von Amsterdam und dieWirtschafts- und Währungsunion forcierte. Ich hatte in den Sitzungen der Führungsgremien der SPDimmer wieder auf diese Zusammenhänge hingewiesen und darauf aufmerksam gemacht, dass dieDeutsche Bundesbank zur starken europäischen Zentralmacht geworden war. »La BUBA«, wie dieBundesbank in Frankreich genannt wurde, war zur Europäischen Zentralbank geworden, und die

europäischen Staaten, auch Frankreich, waren gezwungen, den Entscheidungen der DeutschenBundesbank zu folgen. Dies führte insbesondere nach der Deutschen Einheit zu großen Problemen,weil die Bundesbank den Diskontsatz auf den Rekord von 8 3/4 Prozent hochschraubte, um imEinigungsboom Preisstabilität zu erzwingen. Durch diese harte Vollbremsung steigerte sie dieMassenarbeitslosigkeit und brachte die Wirtschaft in eine Rezession nicht nur in Deutschland, sondernin ganz Europa. Mit anderen Worten: Die Bundesbank war längst zu einer mächtigen europäischenInstitution in deutscher Alleinzuständigkeit geworden. Da das nationalstaatliche Gegeneinander keineZukunft mehr hatte, war die Politik Mitterrands sinnvoller als die Politik Maggie Thatchers, die dieDeutsche Einheit verhindern wollte. In ihren Memoiren schreibt sie: »Ebenso bewusst nahm ich eine andere Strömung in der europäischenGemeinschaft wahr, die sich bereits von Anfang an abgezeichnet hatte, ihre Entwicklung prägte undGroßbritanniens Einflussmöglichkeiten drastisch einschränkte - die enge Beziehung zwischenDeutschland und Frankreich. Obwohl es den Anschein hatte, dass diese Beziehung durch einbesonderes persönliches Verhältnis zwischen Präsident Giscard d'Estaing und Kanzler Schmidt bzw.Präsident Mitterrand und Kanzler Kohl bedingt war, so dürften letztendlich doch eher historische

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Tatsachen und langfristige Interessen entscheidend gewesen sein. Schon seit langem fürchteteFrankreich die Macht der Deutschen und hoffte, diese Macht mit Hilfe des überlegenen gallischenIntellekts in einer Weise kanalisieren zu können, die für die Franzosen von Vorteil war.« An andererStelle schreibt sie im Hinblick auf ein föderales Europa: »Es ist doch wahrscheinlich, dassDeutschland in einem solchen Gefüge die Führungsrolle einnehmen würde, denn ein wiedervereinigtesDeutschland ist schlichtweg viel zu groß und zu mächtig, als dass es nur einer von vielen Mitstreiternauf dem europäischen Spielfeld wäre.« Konsequenterweise wollte Margaret Thatcher die deutsche Wiedervereinigung verhindern, da es ihr inder Tradition der englischen Außenpolitik um ein Gleichgewicht auf dem europäischen Kontinentging. Die von Maggie Thatcher geäußerten Befürchtungen wurden auch außerhalb Europas geteilt. So hat George F. Kennan, der 95 Jahre alte amerikanische Diplomat, immer wieder daran gezweifelt,ob ein vereintes Deutschland in der Mitte Europas eigentlich wünschenswert sei. Noch im Mai 1999schrieb er: »Die Gründe meiner Befürwortung einer deutschen Teilung lagen daher nicht vorrangigdarin, dass ich uns Nichtdeutsche in irgendeiner Weise als moralisch höherstehend empfunden hätte.Sie entsprachen eher dem Zweifel, ob die übrige europäische Gemeinschaft sich jemals mühelos undvollständig mit dem Schauspiel würde abfinden können, dass Deutschland als Großmacht... deseuropäischen Festlands auftritt. Solange sich die anderen Europäer in ihrem Verhältnis zu Deutschland

nicht wohl fühlen, so lange werden umgekehrt sich die Deutschen sich in ihren Beziehungen zu denanderen kaum wirklich wohl fühlen.  Indem sie versuchen, die Nato der EU als Brennpunkt der europäischen Einigung überzuordnen, undindem sie zugleich Deutschland dazu ausersehen, zusammen mit den Vereinigten Staaten als diegrößte Militärmacht auf dem europäischen Kontinent zu fungieren, begehen die Nato-Führer meinerAuffassung nach einen Fehler von historischen Ausmaßen. Sie versuchen, all die verstörenden Geisteraus der Vergangenheit des modernen Europa wiederzubeleben. Und wenn der Preis für dieVermeidung dieses Fehlers darin bestünde, die deutsche Einheit zu opfern, wäre ich auch heute dafür.«Ich bin der festen Überzeugung, dass Mitterrand und Kohl auf diese Befürchtungen und auf diehistorische Frage die richtige Antwort gegeben haben. Sie trieben die europäische Einigung weitervoran und vertieften die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich.  Wenn die deutsche Außenpolitik diese Lehre missachtet, wird es in Europa zu großen Problemen

kommen. Nicht zuletzt deshalb beobachte ich mit Sorge, dass sich Außenminister Joschka Fischereher an Madeleine Albright anlehnt und Bundeskanzler Gerhard Schröder immer wieder seineSympathie für Tony Blair bekundet. Das deutschfranzösische Verhältnis hatte sich in den letztenJahren deutlich verschlechtert. Man denke an die nicht abgestimmte Entscheidung Chiracs, dieAtomwaffenversuche wiederaufzunehmen, aus der Wehrpflichtarmee eine Berufsarmee zu machenund an den Streit um den Präsidenten der Europäischen Zentralbank. Es war daher unsere Aufgabe,Voraussetzungen für eine erneute Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich zu schaffen.Dazu trug ich bei, indem ich mit Dominique Strauss-Kahn, dem französischen Wirtschafts- undFinanzminister, eine äußerst enge Zusammenarbeit pflegte. Dominique Strauss-Kahn ist der Sohn eines elsässischen Juden und einer Tunesierin. Er ist in Agadiraufgewachsen, und da er eine deutsche Amme hatte, spricht er gut Deutsch. Ich hatte ihn im Rahmender Treffen mit der Parti Socialiste schon öfter gesehen, lernte ihn aber auf saarländischem Boden

näher kennen. Sein »chef du cabinet« ist Frangois Villeroy, der aus der saarländischenKeramikdynastie Villeroy & Boch stammt. Die Villeroys haben in Wallerfangen an der Saar ihrenFamiliensitz. Der Familienchef Claude Villeroy lud in das Schloss zu einem Diner mit DominiqueStrauss-Kahn und seiner charmanten Frau Anne Sinclair, der bekannten französischen Moderatorin,ein. Dominique Strauss-Kahn und ich stellten sehr schnell fest, dass wir in  ökonomischen Fragenähnlich dachten. Strauss-Kahn bezeichnete mich nach meinem Rücktritt in einem Interview mit derSüddeutschen Zeitung als seinen Freund und hob sich damit wohltuend von denen ab, die politischeFreundschaften an das Innehaben eines Regierungsamts binden. Ich telefonierte öfter mit Lionel Jospin. Ich hatte ihn bereits als ersten Sekretär der Parti Socialistekennen- und schätzen gelernt. Über meinen alten Freund Andre Bord, den ehemaligen Generalsekretärder gaullistischen Sammlungsbewegung, hielt ich auch Kontakt zu Jacques Chirac. Gerhard Schröderhatte erkennbar Schwierigkeiten, dazu beizutragen, dass sich das deutsch-französische Verhältnisverbesserte. Ich nahm es ihm übel, dass er der Einladung des französischen Staatspräsidenten zur Feieranlässlich des Endes des Ersten Weltkriegs nicht folgte. Aus meiner Sicht war das eineInstinktlosigkeit. Zwar gockelten auf dem Gipfel in Potsdam Jacques Chirac und Gerhard Schröder

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noch mit »eher Gerard« und »lieber Jacques« wie zwei frisch Vermählte, aber Schröder hatteübersehen, dass in der Kohabitation sowohl der gaullistische Staatspräsident als auch der sozialistischePremier in gleichem Maß von dem deutschen Bundeskanzler hofiert werden mussten. Nach dem Potsdamer Gipfel sprach ich mit Gerhard Schröder darüber. Er lud Lionel Jospin und seineFrau daraufhin nach Quedlinburg ein, um die Dinge wieder etwas auszubügeln. In jenen Tagen stellteich mir öfter die Frage, was Willy Brandt zu alldem gesagt hätte, und hatte immer Brandts Urteil überSchumacher im Kopf: »Hinreichendes Verständnis für Europa und die Welt hat er nicht.« Im Vorfeld der Beratungen zur Agenda 2.000 gerieten die Freunde Jacques Chirac und GerhardSchröder aneinander. Gerhard Schröder hatte sich in Saarbrücken weit aus dem Fenster gehängt undüber das viele Geld gewettert, das in Europa verbraten würde. Er hatte, treu auf den Spuren EdmundStoibers wandelnd, die zu hohen Beiträge der Deutsehen zur europäischen Kasse lautstark moniert.Auf der anderen Seite hatte er es versäumt, mit Frankreich rechtzeitig einen Kompromiss zu finden,der auf europäischer Ebene mehrheitsfähig gewesen wäre. Da ich über die besten Kontakte nach Frankreich verfügte, konnte ich nur staunen, wie wenigkoordiniert das Kanzleramt auch in der Frage der Agenda 2ooo vorging. Die Quittung kam: Dasausgehandelte Ergebnis war im Blick auf die wortgewaltigen Ankündigungen eher mager. Es war einFehlschlag. Die Vorbereitung des Berliner Gipfels ist ein Lehrbeispiel dafür, wie man es in Europa

nicht machen soll. Der Schröder wohlgesonnene Spiegel schrieb: »Die EU-Ratspräsidentschaft vonGerhard Schröder endet, wie sie begonnen hat: mit großen Sprüchen. Die angekündigten Erfolgeblieben aus. Aus dem Streit um die Agenda 2ooo des Berliner Gipfels im März ging Frankreich alsgroßer Gewinner bei den Agrarsubventionen hervor, Blair verteidigte erfolgreich seinenMilliardenrabatt, Spanier, Finnen und Iren holten mehr als erwartet bei den Förderfonds heraus.« Die Veröffentlichung des gemeinsamen Papiers von Tony Blair und Gerhard Schröder vor derEuropawahl war im Hinblick auf Frankreich ein schwerer Fehler. Das Papier war von Hombach hintermeinem Rücken im Auftrag Schröders unter Missachtung der Zuständigkeit des Parteivorsitzendenvorbereitet worden. Ich hatte vor der französischen Wahl und dem Wahlsieg Jospins ein gemeinsamesPapier mit Lionel Jospin in  Le Monde veröffentlicht. Weil wir vor dem Wahlsieg Jospinsfreundschaftlich zusammengearbeitet hatten, war es für Jospin selbstverständlich, auch nach seinemWahlsieg diese Zusammenarbeit fortzuführen. Unsere französischen Freunde hatten daher große

Hoffnungen, als wir in Bonn an die Regierung kamen. Ein sozialistischer Premier im Matignon undein deutscher Sozialdemokrat im Kanzleramt, das schien vielen Mitgliedern der Parti Socialiste diebeste Voraussetzung dafür, das soziale Europa endlich voranzubringen. Doch auf die Aufbruchsstimmung folgte die große Enttäuschung. Das gemeinsame Papier vonSchröder und Blair wurde in Paris mit viel Misstrauen aufgenommen. Es war ein Sammelsurium vonAllgemeinplätzen und eine schlechte Wiedergabe der in Europa seit langem bekannten Thesen vonAnthony Giddens. Es beschäftigte sich im wesentlichen mit der Wirtschaftspolitik und erhob denAnspruch, eine neue angebotsorientierte politische Agenda für die Linke vorzulegen. Jeder konnte ausdem Papier herauslesen, was er wollte. Das Papier wurde in Deutschland als Absage an die Politikverstanden, mit der die SPD die Wahlen gewonnen hatte. Der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach schrieb: »Die Sozialdemokraten Europas sollen offensichtlichin einen Taumel des Neuen, Modernen, der Anpassung und der Fle xibilität hineingetrieben werden.

Neu gegenüber wem? Modern, wie? Angepasst, an was? Flexibel, warum? Solche Fragen werdengebetsmühlenartig mit dem Hinweis auf objektiv veränderte Bedingungen, wirtschaftliche und sozia leVeränderung, den immer rascheren ökonomischen Wandel, neue Technologien und immer raschereGlobalisierung beantwortet. Wie Naturereignisse oder Schicksalsschläge registriert man sie. Dass sieFolge fehlgeleiteter Politik oder Gegenstand politischer Umsteuerung sein könnten, kommt denAutoren nicht in den Sinn.« Wieder einmal wurde die künstliche Debatte von -Modernisierern« und »Traditionalisten« inDeutschland hochgekocht - wobei die Hauptakteure in Politik und Medien durch totale Unkenntnis derFakten glänzten. Blair hat viele neoliberal klingende Reden gehalten, aber keine neo-liberale Politikgemacht. Vielmehr hat er zunächst die größeren Unternehmen höher besteuert so wie wir in Deutsch-land zu Beginn der Regierungsarbeit. Er hat ein staatlich finanziertes Programm zur Bekämpfung derJugendarbeitslosigkeit aufgelegt. Bildung, Gesundheit und Infrastruktur gehörten zu den Prioritätenbei Tony Blair und Gordon Brown. Die Schulklassen waren viel zu groß, die Wartelisten fürOperationen wurden immer länger, und die marode Londoner U-Bahn war zum öffentlichen

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Sicherheitsrisiko verkommen. Das Finanzministerium sprach von einer Tradition der Unterinvestitionim Staat. Die Modernisierung des Schul- und Gesundheitswesens und der öffentlichen Infrastruktur war daherdas erklärte Ziel der Labour-Regierung. Blair hat die Ausgaben für Gesundheit und Bildung erhöht. Erhat die Rechte der Gewerkschaften in den Betrieben wieder leicht verbessert, einen proeuropäischenKurs eingeschlagen und sich für die europäische Sozialcharta ausgesprochen. Ein Gesetz derRegierung Major hat er übernommen. Darin ist geregelt, dass Jahr für Jahr der Benzinpreis angehobenwird, um andere Steuern und Abgaben zu senken. Die Benzinpreise in England sind die höchsten inder Europäischen Gemeinschaft, und sie würden in Deutschland ein großes Geschreiheraufbeschwören. Die selbsterklärten »Modernisierer« Deutschlands würden sagen, der Untergangdes Wirtschaftsstandorts Deutschland stehe unmittelbar bevor. Trotz dieser Abkehr von der Politik Maggie Thatchers und John Majors mehren sich mittlerweile dieStimmen, die nach den Ergebnissen der Politik von New Labour fragen. Unter der Überschrift »DerLeichtfuß aus der Downing Street gerät kräftig ins Stolpern« schreibt das Handelsblatt am 20. Juli1999: »Mit der Ablieferung der Ergebnisse hapert es jedoch. Die Modernisierung des staatlichen Ge-sundheitswesens kommt nicht recht voran, die Warteschlangen vor den Krankenhäusern sind kaumkürzer geworden. Überall fehlen Ärzte und Schwestern. Das demoralisierte Personal klagt über

schlechte Bezahlung und hohe Arbeitsbelastung. Ähnlich trist sieht es in den Schulen aus. /warversucht die Regierung entschlossen, höhere Lehrstandards durchzusetzen, scheitert damit jedoch oft

an der Lethargie der Lehrer oder an den zu großen Klassen. Völlig desolat ist die Lage im öffentlichenPersonenverkehr. Die privatisierte Eisenbahn ist nach Aussage des zuständigen TransportministersJohn Prescott eine „nationale Schande“ Veraltete Züge und Gleisanlagen, überfüllte Wagen und großeVerspätungen bestimmen nach wie vor das Bild. Die Londoner U-Bahn steht aus ähnlichen Gründenvor dem Zusammenbruch. Wer dem Chaos entfliehen will, muss sich ebenfalls anstellen: Das vonSiemens installierte Computersystem der nationalen Passstelle war dem Ansturm der Urlauber nichtgewachsen - ein Fiasko für die von Blair propagierte >public private partnership<.« Sollen wir nachdiesem Bild das »moderne Deutschland« schaffen? Inzwischen warnt Ärztepräsident Prof. Jörg-Dietrich Hoppe im Streit um die Gesundheitsreform vor englischen Verhältnissen.  Das Schröder-Blair-Papier wurde zudem von Leuten verfasst, die Giddens' Modernisierungsvorschläge nur unzurei-

chend verarbeitet hatten. Vier Vorschläge der Modernisie rung kennzeichnen seine Arbeit. Erstens, die Globalisierung verlangt eine stärkere internationale Zusammenarbeit der Nationalstaaten.Davon war im Schröder-Blair-Papier so gut wie nicht die Rede. Dabei hatte Anthony Giddens inseinem in Deutschland 1999 erschienenen Buch  Der dritte Weg ausdrücklich gegen den weltweitenMarktfundamentalismus gewettert und erklärt: •• Die Regulierung der Finanzmärkte ist seit derMexiko-Krise und den darauf folgenden Schwierigkeiten in Südostasien zum allerdringendstenProblem geworden. Auch hier ist Reregulierung nicht gleichbedeutend mit Freiheit. Und einweltweiter freier Handel bedarf eher der Regulierung als des Verzichts auf Regulierung.« Er analysiertrichtig, dass von den täglichen Devisengeschäften im Wert von 1 Billion Dollar nur 5 Prozent mitHandel zusammenhängen. Die anderen 95 Prozent, so schreibt er, sind Spekulationen und Arbitrage-Geschäfte, weil Händler, die große Summen bewegen, schnelle Profite im Gefolge von Wechselkurs-schwankungen und Zinsgefälle machen wollen. Diese Aktivitäten verzerren die Signale, die Märkte

den langfristigen Finanzierungsinstrumenten und dem Handel vermitteln. Es wäre gut gewesen, wenninsbesondere Blair, der einige Monate vorher die Reform der Bretton-Woods-Institutionen geforderthatte, in diesem Papier daraufgedrängt hätte, diese wichtige Frage zumindest zu erwähnen. Problemloshätte hier der in Le Monde und in der Zeit veröffentlichte Aufsatz von Strauss-Kahn und mirherangezogen werden können.  Neben der internationalen Zusammenarbeit sieht Giddens die Gleichstellung der Frauen in Beruf undGesellschaft als eine große Aufgabe der Modernisierung an. Die Mitarbeiter von Blair und Schröderformulierten dazu in ihrem Papier Belangloses. Das dritte große Projekt der Modernisierung ist nach Giddens die ökologische Erneuerung derIndustriegesellschaft. In dem Schröder-Blair-Papier steht nur Dürftiges wie: »Wir müssenVerantwortung für die Umwelt mit einem modernen marktwirtschaftlichen Ansatz verbinden. Was denUmweltschutz anbelangt, so verbrauchen die neuesten Technologien weniger Ressourcen, eröffnenneue Märkte und schaffen Arbeitsplätze.« Das vierte Projekt von Giddens ist die Modernisierung des Sozialstaats, wobei er die skandinavischenAnsätze einer aktiven Arbeitsmarktpolitik übernommen hat. »Back to work« heißt die englische

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Formel, was bedeutet, Weiterbildungs- und Umschulungsmaßnahmen bereitzustellen, um Arbeitslosenneue Beschäftigungsmöglichkeiten zu geben. Das Papier wäre im Grunde genommen nicht der Rede wert, wenn es nicht der modischen Debatteentgegengekommen wäre, die die deutsche Öffentlichkeit schon seit fahren beschäftigt. Zu Recht sagteder Vorsitzende der Jungsozialisten, Benny Mikfeld, das Papier sei eine Aneinanderreihung vonsoziologischen Banalitäten und gemäßigt neoliberaler Polemik. Und für den DGB erklärte HeinzPutzhammer, dass die Autoren die erforderliche Modernisie rungsdebatte mit einer historisch blindenDiffamierung des Sozialstaats begonnen hätten.  Ralf Dahrendorf sprach von einem inhaltsleeren Dogmatismus voller glänzender, aber hohler Wörter,die nicht mehr erkennen ließen als den Willen zur Macht. Blair und Schröder mussten bei der Europawahl große Verluste hinnehmen, während der»Traditionalist« Jospin gewann. Roger De Weck höhnte in der Zeit: »Der Franzose schafft Vertrauen,während der Deutsche und der Brite inzwischen ein glamourös entzaubertes Medienpaar bilden, wieClaudia Schiffer und David Copperfield. Sie treten immer mal gemeinsam auf, aber wo ist dieSubstanz?« DieZeit machte sich lustig, indem sie Teile des Godesberger Programms unter derÜberschrift »Geheimpapier der SPD« abdruckte: »Ein wesentliches Kennzeichen der modernenWirtschaft ist der ständig sich verstärkende Konzentrationsprozess (Stichwort: Fusionen!). Die

Großunternehmen bestimmen nicht nur entscheidend die Entwicklung der Wirtschaft und desLebensstandards, sie verändern auch die Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft. Wer in den Groß-organisationen der Wirtschaft die Verfügung über Millionen werte und über Zehntausende vonArbeitnehmern hat, der wirtschaftet nicht nur, der übt Herrschaftsmacht über Menschen aus; dieAbhängigkeit der Arbeiter und Angestellten geht weit über das Ökonomisch-Materielle hinaus... Mitihrer durch Kartelle und Verbände noch gesteigerten Macht gewinnen die führenden Männer derGroßwirtschaft einen Einfluss auf Staat und Politik, der mit demokratischen Grundsätzen nichtvereinbar ist. Sie usurpieren Staatsgewalt. Wirtschaftliche Macht wird zu politischer Macht. DieseEntwicklung ist eine Herausforderung an alle, für die Freiheit und Menschenwürde, Gerechtigkeit undsoziale Sicherheit die Grundlagen der menschlichen Gesellschaft sind. Die Bändigung der Macht derGroßwirtschaft ist darum zentrale Aufgabe einer freiheitlichen Wirtschaftspolitik. Staat undGesellschaft dürfen nicht zur Beute mächtiger Interessengruppen werden ... Gemeineigentum ist eine

legitime Form der öffentlichen Kontrolle, auf die kein moderner Staat verzichtet. Sie dient derBewahrung der Freiheit vor der Übermacht großer Wirtschaftsgebilde. In der Großwirtschaft ist dieVerfügungsgewalt überwiegend Managern zugefallen, die ihrerseits anonymen Mächten dienen. Damithat das Privateigentum an den Produktionsmitteln hier weitgehend seine Verfügungsgewalt verloren.Das zentrale Problem heißt heute: wirtschaftliche Macht.« Das war die richtige Antwort auf dieses dünne Papier, das im Grunde genommen normalerweise untermodischem Schnickschnack abgetan worden und im Papierkorb gelandet wäre. Ausgerechnet in einer Zeit, in der ein neuer sozialdemokratischer Politikentwurf, eineWeltinnenpolitik notwendig wäre, wird die Selbstbeschränkung der Politik gefordert. Giddens hattegerade erklärt, die Globalisierung erfordere nicht weniger, sondern mehr Politik.  Jospin distanzierte sich von dem Papier. Unter dem Jubel seiner Parteifreunde sagte er: »Wir sindanders, weil wir uns selbst treu sind. Wir gehen als moderne Linkspartei unseren eigenen Weg.« Dabei

konnte er es sich nicht verkneifen, auf die besseren Wirtschaftsdaten in Frankreich hinzuweisen. ImJuli 1999 schrieb das sozialistischer Umtriebe unverdächtige Manager-Magazin: »Es scheint, alskönne der deutsche Kanzler von den Rezepten der Pariser Genossen manches lernen. Alsvorübergehenden Ausreißer lässt sich der Höhenflug kaum mehr klein reden ... Vergangenes Jahrwuchs Frankreichs Wirtschaft so kräftig wie seit 1989 nicht; 1999 dürfte die Rate zum zweiten Mal inFolge um einen hinkt höher liegen als in Deutschland. Besonders beeindruckend fällt die Bilanz auf dem Arbeitsmarkt aus. Hierzulande sind derzeit gut 300000 Menschen weniger beschäftigt als 1994.Beim Nachbarn hingegen kamen in diesen fünf Jahren 750 000 Jobs hinzu... Im Prinzip setzt Jospin,ähnlich wie Rot-Grün in Bonn, auf soziale Gerechtigkeit oder eine stärkere Nachfrage. Gestiegen sindseit i 997 neben dem Mindestlohn auch die Beamtenpensionen und das Schulgeld. Um die staatlicheSchuldenaufnahme zu senken, hob die Regierung Unternehmenssteuern an; für einen Teil derSozialabgaben müssen seit 1997 auch Selbständige und Anleger aufkommen ... Bei derKonsolidierung des Staatshaushalts verzichteten sie auf allzu harte Einschnitte. Gerade in diesembedächtigeren Kurs sehen Beobachter allerdings auch ein Erfolgsgeheimnis.« 

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Wem müssen da nicht die Ohren klingen? Nach meinem Ausscheiden aus der Regierung ließ auch dieZusammenarbeit zwischen Dominique Strauss-Kahn und Hans Eichel zu wünschen übrig. DieFranzosen gewannen den Eindruck, dass wieder kritiklos neoliberale angebotspolitische Positionenübernommen wurden und Hans Tietmeyer wieder das Sagen hatte. Zum deutsch-französischen Verhältnis schrieb das Handelsblatt: »Der Europawahlkampf treibtseltsame Blüten. Ende Mai versammelten sich die sozialdemokratischen Regierungschefs in Paris, umfür ein soziales Europa<< zu werben. Gastgeber Jospin, Kanzler Schröder und Premier Blair machtenin Harmonie. Eine Woche später der erste Paukenschlag: Beim EU-Gipfel in Köln fiel das sozialeEuropa unter den Tisch - der Beschäftigungspakt wurde ausgehöhlt. Und nun der dritte Akt: Schröderund Blair outen sich als radikale Liberale, die die Wirtschaft von staatlichen Fesseln befreien wollen.Beschäftigung ist kein Thema mehr, Europa wird liberal und erst danach - vielleicht - sozial.  Eine derart rasante und waghalsige ideologische Wende hat es wohl noch nie gegeben. Die Sache hatnur einen kleinen Haken: Der Kanzler macht sich bei Wählern und Partnern im In- und Auslandunglaubwürdig. Es ist einfach nicht seriös, im Herbst 1998 gegen >soziale Kälte< zu Felde zu ziehen,um im Frühjahr 1999 die Sozialdemokratie zu verabschieden. Eine erste Konsequenz dieserunseriösen, auf Showeffekte reduzierten Politik dürfte eine empfindliche Abkühlung des deutsch-französischen Verhältnisses sein.« 

Auch die Grünen-Minister in der Regierung Schröder agierten im Hinblick auf Frankreich nicht geradeglücklich. Fischers berechtigte Forderung nach einem Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffenwurde von der Nuklearmacht Frankreich ungnädig aufgenommen. Und Trittins undiplomatischerAuftritt Mitte Januar 1999 in Paris provozierte einen Aufschrei der Empörung. Seine Ankündigung,Deutschland wolle die Verträge von La Hague unter Berufung auf höhere Gewalt kündigen, ohneeinen Franc Entschädigung zu zahlen, brachte das Fass beinahe zum Überlaufen.  Zu den Verstimmungen, die die Politik hervorrief, kamen Verstimmungen, die durch Entscheidungenbewirkt wurden, die nicht direkt in ihrem Einflussbereich liegen. Ich denke an das Hin und Her beiden Verhandlungen zwischen der DASA und der Aerospatiale, an die Vereinbarung zwischen denFinanzplätzen Frankfurt und London und an die Verhandlungen zwischen der Deutschen Telekom undder France Telecom. Selbst bei der Fusion von Hoechst mit dem französischen Pharmakonzern Rhöne-Poulenc war von Quasi-Annexion die Rede. Die Franzosen beschwerten sich, dass für einen

gemeinsamen Aufklärungssatelliten von Bonn kein Geld zur Verfügung gestellt werde. Umgekehrtmeinte Fischer während der Verhandlungen von Rambouillet, dass er von den Franzosen und Britenausgetrickst werde. Wie auch immer man die einzelnen Vorgänge bewertet: Die Verschlechterung derdeutsch-französischen Beziehungen ist mit schweren Nachteilen für Europa verbunden. Ob man derangelsächsischen oder der französischen Kultur den Vorzug gibt, ist uninteressant. In der Außenpolitikzählen nüchterne Abwägung und die klare Definition des eigenen Interesses. Kein Land ist so auf denFortschritt der europäischen Einigung angewiesen wie Deutschland. Wir können die europäischeEinigung nur im Zusammenwirken mit Frankreich vorantreiben. Großbritannien wird auf absehbareZeit noch eine Sonderrolle spielen.  Dabei hatte es so gut angefangen. Dominique Strauss-Kahn und ich hatten uns klar zur Notwendigkeiteiner europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik geäußert. »Europa hat sich nun auf eine der ehrgeizigsten Unternehmungen seiner Geschichte eingelassen, die

Schaffung des Euro als einheitliche Währung. Er verschafft uns neue Möglichkeiten,Wirtschaftswachstum und Beschäftigung zu fördern, den Herausforderungen der Globalisierung zubegegnen und zur finanziellen Stabilität und Entwicklung in der Welt beizutragen... Wir lassen dieStabilität aber nicht als Entschuldigung dafür gelten, dass die Regierungen und die Notenbanken ihreRolle bei der Konjunktursteuerung und ihre Verantwortung für Beschäftigung übersehen ... DerArbeitslosigkeit muss • auf europäischer Ebene begegnet werden durch die Schaffung eines wachstumsorientiertenmakroökonomischen Umfelds und durch bestmögliche Umsetzung der beschäftigungspolitischenLeitlinien; • auf internationaler Ebene, indem wir, auf der Einführung des Euro aufbauend, zusammen mitunseren G-7-Partnern die Weltwirtschaft bei nachteiligen Schockeinwirkungen stabilisieren. Inantiquierten Debatten werden die Verfechter von Strukturreformen immer noch in Gegensatz zu denBefürwortern makroökonomischer Steuerung gesetzt. Dies lenkt lediglich von den vor uns liegendenpolitischen Aufgaben ab, da eine erfolgreiche Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eine Doppelstrategieerfordert:

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• Wir brauchen einen geeigneteren makroökonomischen  policy mix, um ein nichtinflationäresWirtschaftswachstum zu unterstützen und ein Klima des sozialen Friedens aufrechtzuerhalten. Diesverlangt eine optimale Kombination aus Lohn- und Einkommensentwicklung, Geldpolitik undHaushaltskonsolidierung. Das zwanghafte neoliberale Beharren auf der Deregulierung des Arbeitsmarkts hat mehr zurBlockierung der Reformen beigetragen als zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Wir sind überzeugt, dassdas soziale Modell Europas ein Plus und kein Minus darstellt ... Des weiteren ist ein neuertransatlantischer Dialog erforderlich. Der Euro und der Dollar werden zusammen den Großteil derweltweiten Finanztransaktionen abdecken. Das bedeutet, dass die Wechselkursentwicklungenzwischen Dollar und Euro die Weltwirtschaft bestimmen werden ... Wir müssen innerhalb der Euro-11-Gruppe die Wechselkursentwicklungen überwachen und eine kohärente Haltung formulieren. Wirsollten auch in der Lage sein, diese Haltung den Märkten gegenüber gemeinsam zu vertreten underforderlichenfalls von den vertraglichen Bestimmungen Gebrauch machen, die die Möglichkeitvorsehen, allgemeine Leitlinien für die Wechselkurse herauszugeben. Dies ist im Rahmen derEinführung des Euro von besonderer Bedeutung: Marktteilnehmer sollten wissen, dass wir eineübermäßige Aufwertung des Euro nicht begrüßen... Wir sollten uns gemeinsam für Wechsel-kurssysteme mit den Schwellenländern in Asien, Lateinamerika sowie Mittel- und Osteuropa

einsetzen, die sich durch eine ausgewogene Mischung aus Flexibilität und Disziplin auszeichnen, wiesie für ihre Entwicklung notwendig ist. Die Europäische Union sollte die Zusammenarbeit mit neuenBeitrittskandidaten im Währungsbereich ausbauen.« Wir, das waren Carlo Ciampi, Dominique Strauss-Kahn und ich, waren wie Helmut Schmidt derMeinung, »dass der Internationale Währungsfonds (IWF) allzu stark unter den Einfluss desamerikanischen Finanzministeriums und der Wall Street geraten war«. Daher schmiedeten wir Pläne,das Abstimmungsverhalten unserer Länder in den Bretton-Woods-Institutionen, insbesondere imInternationalen Währungsfonds, zu bündeln. Das wäre eine große Veränderung. So könnten dieEuropäer verhindern, dass der Währungsfonds dazu eingesetzt wird, um vor allem die Risikenamerikanischer Anleger mit öffentlichen Mitteln abzudecken.  Wie richtig wir mit dieser Idee lagen, bestätigte Werner Meyer-Larsen im Juli 1999 im  Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt, als er den neuen amerikanischen Finanzminister Larry Summers

porträtierte: »In ihrem wirtschaftspolitischen Credo unterscheiden sich die beiden, Rubin undSummers, nicht einmal nuancenhaft: offene Grenzen für den Kapital- und Güterverkehr,Deregulierung und Abbau nationaler Bürokratien, jedoch leistungsfähige internationale Institutionen.Weltbank und Weltwährungsfonds betrachten sie unisono als Organe amerikanischer Globalpolitik, jedenfalls solange sie ein europäisches Management dieser Art weder sehen noch ernst nehmenkönnen. Einer wie Lafontaine hatte ihnen gerade noch gefehlt.« Rubin und Summers hatten sehr wohlerkannt, dass Dominique Strauss-Kahn und ich dabei waren, ihrer einseitig die amerikanischenInteressen berücksichtigenden Politik ein Gewicht entgegenzusetzen.Wir hatten unter Hinzuziehung Gordon Browns vereinbart, unsere Fiskalpolitik besser zukoordinieren. Zumindest Ciampi, Strauss-Kahn und ich hielten von der Weisheit des von denkonservativen Regierungen durchgesetzten Stabilitätspakts wenig. Auch der italienische PremierMassimo d'Alema hatte sich dahingehend geäußert. Konsolidieren kann man nur im Wachstum. Wer

bei zurückgehender Konjunktur konsolidiert, wird scheitern. Es gibt weltweit kein Beispiel dafür, dasses gelungen wäre, bei zurückgehender Konjunktur die Haushalte durch verschärfte Sparprogramme zukonsolidieren. Auf einem deutsch-französischen Kolloquium in Saarbrücken hatte ich nach meinem Ausscheiden ausdem Amt darauf hingewiesen, dass es ein Unding ist, dass sich auf einem deutsch-französischenGipfel die Teilnehmer nicht in der jeweils anderen Sprache verständigen können. Entweder benötigensie einen Dolmetscher, oder sie unterhalten sich in gebrochenem Englisch. Zwar gibt es Ausnahmenwie Roland Dumas, Pierre Chevenement und Dominique Strauss-Kahn, die sehr gut Deutsch sprechen.Aber auf unserer Seite sieht es eher noch dürftiger aus. Nichts erschließt einem nach meinenErfahrungen die Kultur eines Landes so sehr wie die Sprache. Es wäre daher notwendig, gemeinsame deutsch-französische Institutionen zu schaffen, umFührungseliten auszubilden, die besser für die deutsch-französische Zusammenarbeit gerüstet sind.Eine wirkliche deutsch-französische Universität oder Forschungsinstitute, die hälftig von Deutschenund Franzosen bestückt sind, würden helfen. Ich würde sogar so weit gehen, eine deutsch-französischeEcole Nationale d'Administration zu gründen, in der nach dem Muster der ENA administratives und

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politisches Führungspersonal beider Länder ausgebildet wird. Ein Neubeginn der deutsch-französischen Zusammenarbeit, wie er in Potsdam noch euphorisch auf dem Papier gefordert wurde,ist dringend erforderlich, um die Dinge in Europa voranzubringen. Zum vieldiskutierten Schröder-Blair-Papier schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung: »WasSchröder wohl mehr als Blair zu fürchten hat, ist der Sozialdemokratismus des Volkes. Dieweitverbreitete Wut über die Beschneidung der kleinen Freiheit der 630-Mark-Jobs sollte nicht zu demFehlschluss verleiten, dass die Deutschen in ihrer Mehrheit wild seien auf die große Freiheit despostsozialstaatlichen Zeitalters. Die wird kommen. Dass Sozialdemokratie das nicht verhindern kannund klugerweise auch den Versuch dazu unterlassen sollte, haben Blair und Schröder ausgesprochen.Die mächtigsten Führer der europäischen Sozialdemokratie haben das Ende des sozialdemokratischenZeitalters ausgerufen. Das Zeitalter aber lässt sich Zeit, diesem Ruf zu folgen.«  Die Wahlen in Bremen und die Europawahlen haben gezeigt, dass Schröder und Blair denSozialdemokratismus des Volkes zu fürchten haben. Schon bei den Wahlen in Bremen verlor die SPD,gemessen an der Bundestagswahl, 7,6 Prozent. Weil sie vorher aufgrund einer Abspaltung nochschlechter abgeschnitten hatte, war die öffentliche Reaktion erstaunlich. Die SPD wurde als großeSiegerin in Bremen gefeiert, und ich las in mehreren Zeitungskommentaren, dass die SPD wiedersiegen könne. Bei dem Verlust von 7,6 Prozent - im Vergleich zur Bundestagswahl - in Bremen war

aber vorauszusehen, dass die SPD bei der Europawahl, bei der die Mobilisierung der SPD-Wählerschaft traditionell schwach ist, um die 10 Prozent verlieren würde. Genauso ist es gekommen.  Nach der verlorenen Europawahl las ich in den Zeitungen, Gerhard Schröder sei zu der Einsichtgekommen, dass wir durch die Erfüllung unserer Wahlversprechen bei Steuern, Kindergeld, Renten,Gesundheit, Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung ökonomische Kompetenz verloren hätten.Gleichzeitig hatte der gewiefte Taktiker Wolfgang Schäuble in der Globalisierungsdebatte desBundestags vom 16. Juni 1999 den Finger in die Wunde gelegt und darauf hingewiesen, dass GerhardSchröder gegenüber Rentnern und Arbeitslosen Wahlversprechen brechen wolle. Die Frankfurter  Allgemeine Zeitung jammerte: »Das Gefecht, das sich daraus entwickelte, muss allerdings jeden, deman einer durchgreifenden Modernisierung Deutschlands gelegen ist, in schiere Verzweiflung stürzen.Wenn Sozialdemokraten regieren, spielen die Bürgerlichen in der Opposition Sozialdemokratie: DieUnion als Schutzmacht der kleinen Leute, Hüterin der heiligen Rente. Schäuble jedenfalls war am

Mittwoch Lafontaine rhetorisch näher, als Schröder es war.« Die Wahlergebnisse und Meinungsbefragungen geben Wolfgang Schäuble recht. DerSozialdemokratismus ist dem Volk einfach nicht auszutreiben.  

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 Internationale Finanzpolitik 

Die in den achtziger Jahren durchgeführte Liberalisierung der weltweiten Kapitalmärkte war einepolitische Entscheidung. Es ist wichtig, das festzustellen, weil oft so getan wird, als sei dieseEntwicklung gottgegeben. Es wurde immer mehr /ur Mode, Entscheidungen gegen die Mehrheit derBevölkerung mit dem Satz zu begründen: »Wer nicht so handelt, den bestrafen die Märkte.« Gemeintsind die internationalen Finanzmärkte. Eine Revolution hatte sich vollzogen: Das (leid wurdeinternational nicht mehr umgetauscht, um den Warenverkehr oder die Investitionen zu finanzieren,sondern um kurzfristig spekulative Gewinne zu machen. Ein weltweites Spielcasino war eröffnet. Indiesem Casino verspielten die Leute aber nicht, wie im normalen Spielcasino, ihr eigenes Geld,vielmehr hatten sich insbesondere die Hedge- Fonds Geld von den Banken geliehen und setzten esinternational zu Zwecken der Spekulation ein. Wenn etwas schief ging, waren nicht nur die Hedge-Fonds dran, sondern auch die Banken, die das Geld gegeben hatten.  

Hedge- Fonds sind hochspekulative, auf makroökonomische Entwicklungen setzendeInvestmentfirmen, die in der Lage sind, kurzfristig mit Summen zu operieren, die weit über dasEinlagekapital hinausgehen.Longterm Capital Management (LTCM), der Star unter den Hedge- Fonds, hätte im September 1998beinahe das Weltfinanzsystem zum Einsturz gebracht. Im Spielcasino hatte LTCM besonders hochgewettet. Auf der Basis einiger Milliarden US-Dollar Eigenkapital stand die Wette zeitweise bei 100Milliarden US-Dollar. Als Russland im August 1998 zahlungsunfähig wurde, verloren seineStaatspapiere drastisch an Wert. LTCM und andere wurden zum Verkauf von sogenannten Long-Positionen gezwungen, deren Preise in den Keller rutschten. Es entstand ein Teufelskreis sinkenderPreise und kollabierender Bankenbilanzen. Praktisch alle großen Hedge- Fonds und alle großenBanken waren beteiligt. Es drohte ein Gau des internationalen Finanz- und Kreditsystems. Retter in

der Not war die Amerikanische Zentralbank, die eine Reihe von Großbanken zwang, LTCM überWasser zu halten. Rasche deutliche Zinssenkungen in den USA taten ein übriges.  Als ich las, dass sich Alan Greenspan und Bob Rubin um die Bankenaufsicht stritten, hatte ich schnelleine Erklärung. Beide hatten erkannt, dass sich die amerikanische Bankenaufsicht nicht gerade mitRuhm bekleckert hatte. Noch toller trieben es die Hedge- Fonds in Hongkong. Sie hatten sichorganisiert und gegen den Hongkong-Dollar spekuliert. Die Branche spricht von organisierterSpekulation. Angesichts der Folgen dieses unverantwortlichen Handelns wäre es allerdingszutreffender, von organisierter Kriminalität zu sprechen.  Die Krisen in Mexiko, Asien und anschließend Brasilien und Südamerika führten dazu, dass immermehr Staatsmänner versicherten, sie wollten eine neue Weltfinanzarchitektur schaffen, in der solcheFehlentwicklungen vermieden werden sollten. Alan Greenspan, nicht so marktgläubig wie seineeuropäischen Kollegen, warnte schon vor Jahren vor einem irrationalen Überschwang der Märkte. 

Die meisten Anhänger der deregulierten weltweiten Finanzmärkte übersehen, dass auf diesen Märktendie Preisbildung nicht den Gesetzmäßigkeiten von Angebot und Nachfrage folgt. Vielmehr richtet siesich nach Zukunftserwartungen und psychologischen Faktoren. Sie ist daher oft irrrational und führtzu großen wirtschaftlichen Verwerfungen. Seit auch das Prinzip des »Shareholder Value« die Vor-stände der Banken vereinnahmt hat, vernachlässigen sie ihr klassisches Geschäft. Wer Renditen von15 Prozent oder mehr anstrebt, kommt mit dem klassischen Bankgeschäft nicht aus. Er muss sich derWährungsspekulation zuwenden, um das schnelle Geld zu machen.  Zu meinem Erstaunen beschäftigten sich die sozialdemokratischen Parteien wenig damit, was dieDeregulierung der internationalen Finanzmärkte für die Politik bedeutete. Auch ich hatte lange Jahre von dem Treiben auf den internationalen Finanzmärkten nicht denblassesten Schimmer, erst im Rahmen der Standort- und Globalisierungsdebatte begann ich michgenauer mit den Auswirkungen zu beschäftigen. Sozialdemokratische Politik wird in Zukunft nur noch

möglich sein, erkannte ich, wenn sich die Funktionsweise der Weltfinanzmärkte ändert. Schon dieGründungsväter der sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien wussten, dass eine Gesellschaftdann nicht gerecht ist, wenn die Gewinne privatisiert, die Verluste aber sozialisiert werden.  

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Genau das geschieht aber auf den internationalen Finanzmärkten. Ganz deutlich wurde das in derMexiko-Krise. Insbesondere amerikanische Anleger hatten spekuliert, um hohe Renditen zuerwirtschaften. Als der Peso unter Druck geriet, wurden die mexikanischen Steuerzahler zur Kassegebeten und der Internationale Währungsfonds zu Hilfe gerufen. Die Europäer, die ebenfalls Mitgliedim Internationalen Währungsfonds sind, mussten mehr oder weniger abnicken, was die Amerikanervorschlugen. Der Internationale Währungsfonds verwaltet aber nicht das Geld der Anleger, sonderndas Geld der internationalen Völkergemeinschaft, das heißt das Geld der Steuerzahler. Mit ihrem Geldwurden die finanziellen Risiken der amerikanischen Anleger abgesichert und dramatischeKonsequenzen für das amerikanische und internationale Bankensystem vermieden. Oder andersausgedrückt: Die unverantwortliche Spekulation und die fahrlässige Kreditvergabe der Banken wurdenmit Steuergeldern risikofrei gestellt. Hier wird deutlich, dass die zum Selbstzweck erhobeneDeregulierung in der Aufhebung der Marktwirtschaft, das heißt in der Verstaatlichung des Risikos derMarktteilnehmer, endet. Ähnliches wie in Mexiko sollte sich in Asien wiederholen. Das hinter diesenEntwicklungen liegende politische Problem musste aber jeden Sozialdemokraten auf den Plan rufen.Es kann nicht angehen, dass international die Verluste der Geldanleger sozialisiert werden, währendihre Gewinne privatisiert bleiben. Diese Forderung kam interessanterweise auch von konservativen Privatbankern und Notenbankern,

die schlicht und einfach erkannten, dass solche Entwicklungen nicht weiter hingenommen werdenkönnen. Der Chairman einer Londoner Bank schrieb mir dieser Tage: »Ich möchte Ihnen sagen, dassich in meinem bisherigen beruflichen Leben immer Liberalisierung und Deregulierung derFinanzmärkte unterstützt habe. Ich habe alles getan, um dieses Konzept auf dem internationalenFinanzmarkt durchzusetzen. Auf der anderen Seite bin ich aber schockiert, wenn ich in den letztenfünf Jahren sehe, wie sehr dieses System durch rücksichtslose Spekulation missbraucht wurde, durchMarktteilnehmer, die nicht zögern, ganze Volkswirtschaften, Länder und deren Bevölkerung in dieKrise zu stürzen. Gutmeinende Politiker, die Deregulierung und Liberalisierung unterstützen,unterschätzen total manche Auswirkungen des deregulierten weltweiten Finanzsystems. Obwohl ichüberzeugt bin, dass die Allokation des Kapitals zu großen Teilen dem Markt überlassen werden muss,weiß ich, dass die sogenannte unsichtbare Hand ergänzt werden muss durch eine sehr sichtbare Handder Regierung, um die Märkte wieder ms Gleichgewicht zu bringen.«  

Es wird schon seit längerem gefordert, die privaten Geldgeber an den Risiken zu beteiligen, aber dieseForderung wurde bis heute in der Praxis nicht umgesetzt. Die jüngsten Krisen in Asien, Lateinamerikaund Russland haben nach Einschätzung der sieben Staats- und Regierungschefs und ihrerFinanzminister deutlich gemacht, dass die internationale Staatengemeinschaft ihre Verfahren zurKrisenvermeidung und -bewältigung verbessern und sie stärker an die Rahmenbedingungen offenerKapitalmärkte anpassen muss. Sie erklärten auf dem G-7-Gipfel 1999 auch: Die finanziellen Lastenschwerer Krisen wie in Südostasien und in Lateinamerika dürften nicht mehr länger nur vonöffentlichen Finanzinstitutionen wie dem Währungsfonds oder der Weltbank und damit letztlich ausSteuermitteln bezahlt werden. Deshalb müsse die Erwartungshaltung privater Gläubiger dahingehendbeeinflusst werden, dass sich diese mehr der eigenen Verantwortung ihrer Investitionsentscheidungenbewusst würden. Private Kreditvergabeentscheidungen müssten wieder stärker auf einer Einschätzungder potentiellen Risiken und Renditen einer Anlage beruhen und nicht auf der Erwartung, dass die

öffentliche Hand im Zweifelsfall die Gläubiger vor nachteiligen Entwicklungen schützen werde.Geändert hat sich bisher aber so gut wie nichts. Eine Möglichkeit, die internationale Spekulation einzudämmen, besteht auch darin, den kurzfristigenKapitalverkehr zu verlangsamen. Nicht Deregulierung ist das Gebot der Stunde, sondern Regulierung.  Der Nobelpreisträger James Tobin hat daher vorgeschlagen, eine Steuer auf den kurzfristigenKapitalverkehr zu erheben, um ihn einzudämmen. Chile beispielsweise reguliert den kurzfristigenKapitalverkehr und hat damit gute Erfahrungen gemacht. In einer Reihe vonDiskussionsveranstaltungen und Vorträgen betonte ich immer wieder, dass in der Regulierung deskurzfristigen Kapitalverkehrs der Schlüssel läge, um der weitweiten Finanzspekulation Herr zuwerden. Wurde ich anfänglich deshalb insbesondere von der angebotspolitischen Glaubensgemeindenoch heftig angefeindet, so konnte ich im Mai 1999 lesen, dass auch der amerikanische FinanzministerBob Rubin und der Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer für eine Kontrolle des kurzfristigenKapitalverkehrs plädieren. Die Kritik, die meine Vorstellungen in Deutschland erfuhren, ließenObjektivität und Sachlichkeit vermissen. Nirgendwo wurde das angebotspolitische Credo derDeregulierung so inbrünstig nachgebetet wie in Deutschland. 

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Die Frankfurter Allgemeine giftete, wir würden uns allmählich lächerlich machen. Richtig los gingendie Schmähungen erst, als wir zur Stabilisierung der Wechselkurse vorschlugen, Bänder- oderZielzonen durch internationale Absprachen, insbesondere zwischen Dollar, Euro und Yen,einzurichten. Es schien fast so, als hätte es das europäische Währungssystem nie gegeben, in dem mitErfolg Bänder- oder Zielzonen für die europäischen Währungen vereinbart worden waren. Dabeiwurde die Herkunft dieses Vorschlags trickreich verschwiegen. Eine Kommission unter demehemaligen amerikanischen Notenbankpräsidenten Paul Volcker hatte 1994 Wechselkurszielzonenvorgeschlagen. In der Kommission saßen renommierte Finanzfachleute aus aller Welt, ausDeutschland beispielsweise der ehemalige Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl. Natürlich hatte dieKommission auch darauf hingewiesen, dass eine Annäherung der jeweiligen Wirtschaftspolitiken dieVoraussetzung für stabilere Wechselkurse sei. Sie empfahl, auf nationaler Ebene durch abgestimmteGeld- und Finanzpolitik für nachhaltiges Wachstum, Preisstabilität und stabile Wechselkurse zu sor-gen. Insbesondere eine keynesianische Finanzpolitik würde zu mehr Stabilität beitragen. DieZusammenarbeit der Industriestaaten sollte auf internationaler Ebene verstärkt werden mit dem Ziel,eine größere makroökonomische Konvergenz zu erreichen. Mittelfristig müssten gemeinsameWachstums- und Stabilitätsziele festgelegt werden. Dazu gehöre auch, die Asynchronität derKonjunkturzyklen zu beseitigen. 

Weil Bob Rubin und Alan Greenspan den Plänen der Volcker-Kommission skeptischgegenüberstanden, berief man sich in Deutschland gerne auf die beiden, wenn man meine Vorschlägekritisierte. Interessant für mich war aber, dass auch auf dem G-7-Gipfel in Bonn im Februar 1999 dieAmerikaner die Einführung von Zielzonen bei den Wechselkursen nicht so heftig ablehnten, wie dasin Deutschland behauptet wurde. Schließlich hatten sie noch das Plaza- und das Eouvre-Abkommenim Kopf, die in eine ähnliche Richtung gingen und nicht zuletzt auf Wunsch Amerikas zustandegekommen waren. Greenspan und Rubin sprachen sich während der interessanten Diskussion eher füreine engere Zusammenarbeit der Notenbanken aus. Man solle sich aber vor öffentlichen Festlegungenhüten. Falls die Notenbanken intervenierten, müsste das überraschend geschehen. ÖffentlicheFestlegungen würden nur die Spekulationen anheizen. Diese Argumentation war für mich aufgrundder weltweit gemachten Erfahrungen überzeugend.  Irritationen gab es, als im Jahreswirtschaftsbericht zu lesen war, die Bundesregierung strebe die

Einführung von Wechselkurszielzonen nicht an. Ich konnte diese Textstelle nicht mehr korrigieren,weil der Jahreswirtschaftsbericht bereits gedruckt und veröffentlicht war. Der Bericht rief nach denErklärungen der vorangegangenen Wochen Verwirrung hervor. Als ich die Fachleute aus demMinisterium darauf ansprach, erklärten sie, dass unter Wechselkurszielzonen zu sehr ein Konzept deramerikanischen Ökonomen Fred Bergsten und John Williamson verstanden würde. Dieseskomplizierte Konzept sollten wir uns aber ausdrücklich nicht zu eigen machen. Die Begründung warzwar fachlich nachvollziehbar, öffentlich aber schwer vermittelbar, so dass wir an dieser Stelle unnötigin die Defensive gerieten. Etwas besser sah es dann wieder aus, als sich der japanische FinanzministerKiichi Miyazawa und sein Stellvertreter Eisuke Sakakibara zu unserem Konzept bekannten. Die Sta-bilisierung der Wechselkurse ist im übrigen auch ein Anliegen der kleineren aufstrebendenVolkswirtschaften. Diese sind wirtschaftlich und politisch von den Entscheidungen der Finanzmärkteimmer abhängiger. 

Im Juli 1999 war unter der Überschrift »Argentinischer Präsidentschaftskandidat verdirbt Stimmung -Wall Street reagiert auf Diskussion über Schulden-Moratorium negativ« in der FAZ zu lesen: »Dashohe Niveau der amerikanischen Aktienkurse macht die Finanzmärkte derzeit selbst für kleinsteAnzeichen schlechter Nachrichten sehr anfällig. So bedarf es nur einer einzigen wirtschaftspolitischenÄußerung des argentinischen Präsidentschaftskandidaten der Peronisten, Eduardo Duhalde, um diedurch die guten Quartalsergebnisse amerikanischer Untenehmen eigentlich positive Grundstimmungan der Börse wieder zu verschlechtern. Wenn er die Wahl gewinne, wolle er zusammen mit dem Papstein einjähriges Schuldenmoratorium für Argentinien durchsetzen, hatte der Kandidat gesagt. WallStreet erinnerte sich daraufhin daran, dass die Vereinigten Staaten ein Fünftel ihres Außenhandels mitLateinamerika abwickeln und Argentinien die drittgrößte Volkswirtschaft in der Region ist. In einerersten Reaktion wurden vor allem die Aktien der Banken, die viele Geschäfte in Lateinamerika täti-gen, mit einem Risikoabschlag versehen.« 

Gleichzeitig meldeten die Agenturen, dass Goldman-Sachs die beiden argentinischenPräsidentschaftskandidaten und ihre voraussichtlichen Wirtschaftsminister nach New York eingeladenhatte, um die Investoren zu beruhigen. Aber ist es wirklich die Aufgabe einer Wall-Street-Firma, die

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argentinischen Präsidentschaftskandidaten in New York zu präsentieren und ihnen klarzumachen, dassder zukünftige Präsident Argentiniens gut daran täte, auf die Meinung der Wall Street Rücksicht zunehmen? Ich konnte mir nicht helfen. Als ich diese Nachricht las, tauchte vor meinein geistigen Augedas Gesicht von Bob Rubin auf, der, cool wie immer, lächelte. Er war Chairman von Goldman-Sachs,bevor er amerikanischer Finanzminister wurde. Der eigentliche Grund für die von Bob Rubin geförderten Bemühungen der Wall Street ist dieTatsache, dass der Boom der Konsumnachfrage in den USA wesentlich auf die zu hoch bewertetenAktien zurückzuführen ist. Es besteht daher in den Vereinigten Staaten ein breiter Konsens zwischenRegierung, Zentralbank und politischen Parteien, alles zu unterlassen, was den Höhenflug des DowJones abrupt beenden konnte. Interessant ist, dass nicht nur die Demokraten, die schon immer von derWall Street finanziert wurden, diese Politik unterstützen, sondern auch die Republikaner. Diesewurden traditionell von der Industrie finanziert. Seit aber das Shareholder-Value-Denken in derIndustrie dominiert und die Gehälter der amerikanischen Industriebosse an den Shareholder Valuegekoppelt sind, müssen auch die Republikaner auf die Interessen der Wall Street Rücksicht nehmen.Die Süddeutsche Zeitung schreibt unter der Überschrift •Der gekaufte Präsident«: »Es wäre naiv zuglauben, dass ein Kandidat oder eine Partei Millionen sammelt, um anschließend nur die eigenenIdeale und Programme zu verfechten ... Ein Wahlkampf, der auf Dollar gebaut ist, lässt dem

zukünftigen Präsidenten der USA gar keine andere Wahl, als sich später erkenntlich zu zeigen. DenPreis zahlen letztlich die Bürger, und er wird immer höher.« Hinzuzufügen ist, dass den höchsten Preisdie Bürger der Länder zahlen, die die Hauptleidtragenden der internationalen Finanzkrisen sind: dieBürger Südostasiens, Russlands und Südamerikas.Die Diskussion über die Wechselkurse zwischen Dollar, Euro und Yen sollte wenige Wochen nachmeinem Rücktritt wieder aktuell werden. Die deutsche Glaubensgemeinde jammerte gerade darüber,dass der Euro zu schwach werde, obwohl unsere Exportwirtschaft von dieser Entwicklung erheblichprofitierte, da lasen wir, dass die japanische Notenbank am Devisenmarkt intervenierte. Der Schrittwurde von Eisuke Sakakibara damit begründet, dass ein zu starker Yen die konjunkturelle ErholungJapans erheblich gefährde. Die Japaner, so schien es, hatten sich ein Wechselkursziel vorgegeben. DerYen-Kurs sollte gegenüber dem Dollar bei 120 Yen gehalten werden. Im September stieg der Kurs desYen zum Dollar weiter, da die Anleger auf eine Erholung der japanischen Wirtschaft setzten. Die

 japanische Zentralbank intervenierte erneut. Mit klammheimlicher Freude beobachtete ich, wie die Mitglieder der Europäischen Zentralbank sichin Widersprüche verwickelten, als sie gefragt wurden, ob sie bei ihrer Geldpolitik auch einWechselkursziel verfolgten. Denn gerade die Europäische Zentralbank hatte besonders heftig dieÜberlegungen des deutschen Finanzministers zu Wechselkurszielzonen kritisiert. Natürlich ist esrichtig, wenn gesagt wird, die Notenbank müsse in erster Linie die Preisstabilität im Inneren sichern.Aber genauso klar ist, dass sie überschießenden Reaktionen der Finanzmärkte, die negativewirtschaftliche Folgen haben, nicht tatenlos zusehen kann. Insofern war es nur eine Frage der Zeit, bisauch die Europäische Zentralbank einräumen musste, dass ihr der Wechselkurs nicht völliggleichgültig sein kann. Im Juni 1999 wurde das dann auch deutlich. Die Europäische Zentralbank bestätigte, dass sie auf Bitten der japanischen Zentralbank in das Marktgeschehen eingegriffen hatte. Sie hatte Euro gekauft

und Yen verkauft, so dass sich der Kurs des Yen von 123 auf 12.5 Yen für einen Euro abschwächte.Am 21. Juli intervenierte die japanische Zentralbank erneut, um einen Kursgewinn des Yen zumDollar /u verhindern. Auch die amerikanische Zentralbank griff ein und kaufte in Absprache mit der japanischen Zentralbank Dollar gegen Yen. Während der Pulverdampf der verbalen Schlachten überdie Stabilisierung der Wechselkurse noch nicht verzogen ist, arbeiten die wichtigsten Zentralbankenvernünftigerweise zusammen, um die Wechselkurse zu stabilisieren. Nichts anderes hatten wirgefordert. Den größten Zorn der schreibenden Jünger des Neoliberalismus zog ich mir aber zu, als ich an einTabu rührte. Ich wagte es, Zinssenkungen der europäischen Notenbanken zu befürworten.  Zwar hatten zuerst einige Chefvolkswirte deutscher Geschäftsbanken Zinssenkungen gefordert.Nachdem ich ähnlich argumentiert hatte, rückten sie davon ab und behaupteten, ich würde den Euroschwach reden. Dabei hatten sie richtig erkannt, dass bei der einbrechenden Exportnachfrage einstarker Euro nicht im europäischen Interesse liegen konnte, und sie hatten ebenfalls richtig erkannt,dass Zinssenkungen in der Regel nicht dazu führen, dass eine Währung stärker wird. Aber da ich derBuhmann der Orthodoxie geworden war, waren sich nun alle in dem Urteil einig: Oskar Lafontaine ist

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schuld an der Schwäche des Euro. Dabei war der Euro-Kurs schlicht Ausdruck der realwirt-schaftlichen Entwicklung in Amerika und in Europa. In Amerika brummte die Konjunktur, in Europalahmte sie. In Amerika waren folglich die Zinsen höher und die zu erzielenden Renditen damitattraktiver. Also gingen die Anleger lieber in Dollar als in Euro. Ein zusätzliches Argument lieferte kürzlich die Investmentbank Lehman Brothers: Die steigende Zahlvon grenzüberschreitenden Unternehmensübernahmen und -Zusammenschlüssen beeinflussezunehmend die Devisenkurse. Der Wechselkurs des Euro zum Dollar sei davon am stärksten betroffenund könne teilweise die derzeitige Schwäche des Euro erklären. Denn europäische Unternehmenerwerben mehr amerikanische Gesellschaften als umgekehrt. Erfolgt der Kauf in bar, so löse dies einezusätzliche Nachfrage nach Dollar aus. Auch bei einem Erwerb durch Aktientausch werde dieWährung beeinflusst. Denn durch die Ankündigung einer Übernahme wird das gekaufte Unternehmenfür die Anleger meist attraktiver. Das zusätzliche Interesse an Aktien dieses Unternehmens löseweitere Kapitalströme aus, die die Devisenkurse veränderten.  Nach meinem Rücktritt wurde der Euro kurzfristig etwas höher bewertet und fiel dann immer weiter.Als ich in Frankfurt Horst Ehmkes Buch Der Euro-Coup vorstellte, spottete ich über meine Gegner.Ich teilte dem Auditorium mit, ich sei nun völlig frustriert, dass der Euro trotz meines Rücktritts weiterfalle. Mein Selbstwertgefühl sei schwer beschädigt. Ich hätte mich, ebenso wie meine Gegner, völlig

überschätzt. 

Auf dem G-7-Gipfel im Februar 1999 in Bonn kam es zu zwei lustigen Episoden. Zunächst verstiegsich Hans Tietmeyer zu der Behauptung, nicht nur die Nominalzinsen, sondern auch die Realzinsenseien auf einem Rekordtiefstand. Der Leitzins lag damals bei 3,3 Prozent. Ich widersprach ihm und botihm eine Wette an, denn ich hatte die Zinskurven sehr wohl im Kopf. Wir hatten in früheren Jahrenniedrigere Realzinsen. Unter dem Feixen und Grinsen der übrigen G-7-Teilnehmer sah sich HansTietmeyer nicht in der Lage, meine Wette anzunehmen.  Es kam aber noch schöner. Wim Duisenberg hatte auf die Frage der Amerikaner, was in Europa getanwerden könne, um die Binnenkonjunktur anzukurbeln, die übliche Antwort gegeben. Die Geldpolitikhabe das Ihre getan, die Haushalte müssten konsolidiert werden, und die Arbeitsmärkte brauchtenStrukturreformen. Da platzte dem kanadischen Finanzminister Paul Martin der Kragen. Er sagte, erhöre hier immer wieder dieselbe Platte. Die Finanzminister würden sagen, wegen des europäischen

Stabilitätspakts hätten sie keinen Spielraum, und die Geldpolitik würde sagen, sie habe alles getan, nurStrukturreformen auf den Arbeitsmärkten könnten weiterhelfen. Da die Amerikaner mit einerexpansiven Finanz- und Geldpolitik ihre Konjunktur angekurbelt hatten, konnte sie die Argumentationvon Tietmeyer und Duisenberg nicht überzeugen. Beide waren sichtlich in der Defensive. Kiichi Miyazawa, Dominique Strauss-Kahn und ich genossen die Situation. Auf der anschließendenPressekonferenz deutete ich an, dass meine Position und die der Amerikaner nicht allzu weitauseinander lägen und dass insbesondere mein ständiges Plädoyer für eine Stärkung derBinnennachfrage in Europa von den Amerikanern ohne Einschränkung geteilt würde. Als HansTietmeyer dann aber die Weisheit von sich gab, dass die Erwartungshaltung der Investoren dasEntscheidende sei, lächelten die Wirtschaftsjournalisten wieder glücklich, weil sie sich in ihremVorurteil bestätigt sahen und Tietmeyer es mir mal wieder so richtig gegeben hatte. Die Weisheit, dassderjenige, der irgendwo eine Kneipe oder einen Laden aufmacht, sich erst fragt, ob er genug

kaufkräftige Kunden hat, ist der angebotspolitischen Glaubensgemeinde nicht zu vermitteln. Sie istfest davon überzeugt, dass die Investoren Vertrauen schöpfen, wenn soziale Leistungen gekürztwerden, in den öffentlichen Haushalten gespart und Lohnzurückhaltung geübt wird.  Auf europäischer Ebene ergab sich ein anderes Bild. Durch die Zusammenarbeit von DominiqueStrauss-Kahn und mir hatten sich die beiden wirtschaftlich wichtigsten Länder der Euro-Zone von derOrthodoxie gelöst. Häufig berieten wir darüber, wie wir die Europäische Notenbank dazu bewegenkönnten, nach dem Vorbild der amerikanischen Zentralbank eine expansive Geldpolitik zu machen.Wir versprachen brav, den Stabilitätspakt einzuhalten, um den Notenbankern kein Argument zu geben,die Zinsen nicht zu senken. Ende 1998 sprachen alle ökonomischen Daten für eine Zinssenkung.Nachdem meine Forderung nach Zinssenkung heftigst gescholten worden war, einigten sich dieeuropäischen Notenbanken Ende Dezember auf einen Leitzins von 3,0.  Ich hatte am selben Tag eine Reise nach Ottawa und Washington angetreten, um mit dem kanadischenFinanzminister Paul Martin und dem amerikanischen Finanzminister Bob Rubin erste Gespräche zuführen. Im Flugzeug sagte ich dann den mitreisenden Journalisten in Anlehnung an die idiotischeDiskussion zum Stabilitätspakt: »3,0 ist 3,0 auch beim Leitzins.« Die Tatsache aber, dass entgegen den

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lautstarken Bekundungen die Zinsen gesenkt worden waren und damit meine ökonomisch begründeteForderung bestätigt wurde, brachte mir, wie so oft, keine Freunde. Die Vertreter der Wirtschaftspresse,die vorher mit ihrem selbstbehaupteten höheren Sachverstand meine Zinssenkungsforderung alsunbegründet zurückgewiesen hatten, teilten jetzt mit, dass sie schon immer dieser Meinung gewesenseien. Gleichzeitig lauerten sie auf die nächste Gelegenheit, ihre Vorurteile und Abneigungen mirgegenüber zu pflegen.  Obwohl mir die kindische Forderung, Finanzminister dürften sich zur Geldpolitik nicht äußern, um dieUnabhängigkeit der Notenbank nicht zu gefährden, nicht im mindesten einleuchtete, suchte ich jetztdas Gespräch unter vier Augen. Wirn Duisenberg sagte ich, dass nach meiner Auffassung dieNotenbank mehr tun müsse. In Amerika habe der kurzfristige Realzins im Konjunkturtief o betragenund nicht 2,3, wie die Europäische Zentralbank in ihrem Geschäftsbericht im März 1999 festgestellthatte. Er sagte, dass die Notenbank, wenn die Konjunktur zurückginge und wenn für die Preisstabilitätkeine Gefahr bestünde, sicherlich etwas tun würde. Er hat sich mit der Entscheidung vom 8. April1999, den Leitzins auf 2,5 Prozent zu senken, an diese Aussage gehalten.  Die Europäische Notenbank wurde sofort von der deutschen Glaubensgemeinde kritisiert. Diesebefürchtete, einen geldpolitischen Paradigmenwechsel nach dem Muster der amerikanischenZentralbank. Dabei ist ein solcher geldpolnischer Paradigmenwechsel die Voraussetzung dafür, um in

Europa die Arbeitslosigkeit abzubauen. Er müsste also nicht befürchtet, sondern herbeigesehntwerden. Mein Vorgänger Theo Waigel griff sofort zur Feder und schrieb: »Die EZB hat ihr Pulververschossen. Der Geldpolitik könne nicht länger der Vorwurf einer konjunkturellen Bremse gemachtwerden.« Es bleibt aber festzuhalten, dass auch ein realer Kurzfristzins von 1,6 Prozent immer noch nichtvergleichbar ist mit einem von o Prozent. Diesen hat die amerikanische Zentralbank zur Stimulierungvon Wachstum und Beschäftigung in den Jahren 1992 und 1993 festgelegt. Zu dieser Zeit war dieArbeitslosigkeit in den USA und in Deutschland noch gleich hoch. Danach fiel sie in den USA,während sie in Deutschland immer weiter anstieg.  Meine massive Kritik an der verfehlten Geldpolitik der Europäischen Zentralbanken unter der Führungder Deutschen Bundesbank wurde und wird in Deutschland immer noch als isolierte Meinung einesEinzelgängers dargestellt. Daher zitiere ich neben Paul Krugman einen Mann der Praxis, den

Chefökonomen der amerikanischen Investmentbank Goldman-Sachs in London, Gavyn Davies. »Die Fed, die Europäische Zentralbank und wohl auch die Bank von Japan müssen sich ihrer globalenVerantwortung bewusst werden. Bisher sehen alle drei Notenbanken das nicht ein. Statt dessenkonzentrieren sie sich lieber auf die Entwicklung zu Hause. Wenn die globalen monetärenBedingungen falsch gesetzt sind, kann es sein, dass die Fed zum Handeln gezwungen ist, obwohl siedas nicht möchte.Ich bin überzeugt, dass die globale Geldpolitik in den vergangenen drei Jahren zu restriktiv war... DieBundesbank hat in den vergangenen zwei Jahren eine Geldpolitik gemacht, die viel zu restriktiv war.Sie hat sich nicht rechtzeitig auf die fallenden Inflationsraten eingestellt. Statt dessen hat sie denKampf der siebziger und achtziger Jahre weitergeführt. Die Fed hat diesen Fehler nicht gemacht... DieEZB hat mich noch in einem anderen Punkt enttäuscht: Es mangelt ihr offenbar an Transparenz. Einemoderne Zentralbank sollte kein Geheimnis aus ihrer Politik machen. Genau das tut die EZB aber. Sie

macht es uns daher schwer, sie in unsere Demokratien einzubetten.«  Aber solange Wim Duisenberg für Aussagen wie: »Es ist ganz normal, dass Politiker hin und wiederihre Auffassung über die Zinspolitik der Währungshüter äußern. Aber es ist ebenso normal, dass wirnicht darauf hören«, gefeiert wird, ist Hopfen und Malz verloren. Obwohl Wim Duisenberg von derMeinung der Politiker über die Geldpolitik nichts hält, bleibe ich dabei: Wim Duisenberg war alsholländischer Finanzminister nicht dümmer als heute. Wo der Geldwert vor der Beschäftigungrangiert, ist die Notenbank wichtiger als die demokratisch gewählten Regierungen. Unter dieser»Stabilitätskultur« werden die europäischen Arbeitslosen noch lange zu leiden haben.  Dass der ökonomische Verstand sich nicht völlig aus Deutschland verabschiedet hat, zeigt das IFO-Institut in seinem Bericht im Juli 1999. Es weist darauf hin, dass Impulse zur Festigung derKonjunktur in erster Linie von der Geldpolitik kommen, der niedrige Euro-Kurs den Export begünstigtund der Anstieg der Reallöhne die Binnenkonjunktur stärkt. Genau diese ökonomische Entwicklunghaben wir in den ersten Monaten angestrebt. Im März 1999 schrieb das Handelsblatt: »Der Optimismus hat sich verfestigt... Getragen wird dieserpositive  Stimmungstrend der Konsumenten von der Erwartung, dass sich ihre Einkommenssituation in

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den nächsten zwölf Monaten weiter verbessern wird... Sollte sich dieses im Augenblick guteKonsumklima in den nächsten Monaten fortsetzen, wird der deutsche Einzelhandel mit Sicherheitdavon profitieren, denn in der Vergangenheit gab es immer einen statistisch abgesichertenZusammenhang zwischen Konsumneigung und dem tatsächlichen Kaufverhalten der Bundesbürger.«Aber dann hieß es wieder: Nullrunden bei Renten und Löhnen und sparen, sparen, sparen bei denöffentlichen Haushalten. Neben der Geldpolitik war die Steuerpolitik zentrales Thema der Diskussion auf europäischer Ebene.Insbesondere Frankreich und Deutschland stimmten darin überein, dass eine weitereSteuerharmonisierung notwendig sei. Wir hatten einen für die europäischen Arbeitnehmer unhaltbarenZustand erreicht. Die Steuern auf Geld, also auf Zinsen, auf Vermögen und auf Unternehmensgewinnetendierten im europäischen Steuersenkungswettlauf immer weiter nach unten. Die Lohnsteuern,Verbrauchssteuern und die Sozialabgaben hingegen gingen immer weiter in die Höhe. DieArbeitnehmer waren die Verlierer des Steuersenkungswettlaufs in Europa, und die steuerlicheFehlentwicklung wirkte sich auch nachteilig auf die Konjunktur aus. Das steuerliche Durcheinander in Europa ist Anreiz zu massiver Steuerhinterziehung. Die deutschenGeschäftsbanken waren dabei zum Teil behilflich. Die Ermittler wurden fündig. Vorstandsmitgliederwurden verurteilt, und Banken mussten Geldbußen zahlen. Der Vertrag von Amsterdam war nicht weit

genug gegangen. Man hätte die Steuerharmonisierung verbindlicher festschreiben müssen.Insbesondere die Nutznießer des Steuerdumpings, beispielsweise Luxemburg oder Irland, versuchenimmer wieder, die Steuerharmonisierung zu verzögern. Am schlimmsten führten sich die Briten auf.Als ich die ökonomisch begründete Forderung nach Steuerharmonisierung vortrug, ernannte mich dieSUN zum gefährlichsten Mann Europas. Etwas später wurden Dominique Strauss-Kahn und ichzusammen mit Joschka Fischer und dem belgischen Finanzminister Jean-Jacques Viseur als»Gauleiter« bezeichnet. Auf dieses Geschrei reagierte New Labour ziemlich hasenfüßig. DieEntwicklung wird zeigen, dass die englische Wirtschaft auf Dauer Schaden nimmt, wennGroßbritannien der Euro-Zone nicht beitritt. Entgegen der deutschen Diskussion bleibt auch fest-zuhalten, dass die englische Wirtschaft nach den Thatcher-Reformen zu den schwächsten dereuropäischen Gemeinschaft gehört. Im Kreis der europäischen Finanzminister wurden Dominique Strauss-Kahn und ich vor allem von

Carlo Ciampi unterstützt, der als langjähriger Chef der italienischen Notenbank unserewirtschaftspolitischen Überlegungen weitgehend teilte. Dieser Mann ist mir auch deshalb schnellsympathisch geworden, weil er charmant und humorvoll ist und menschliche Wärme verbreitet. Nichtskennzeichnet die liebenswürdige Persönlichkeit des neuen italienischen Staatspräsidenten mehr alsfolgende kleine Episode, die in Europa erzählt wird: Als der französische Präsident Chirac mit denübrigen Regierungschefs stundenlang darüber stritt, wie lange die Amtszeit Wim Duisenbergs dauernund wann sein Favorit Claude Trichet Nachfolger Duisenbergs als Präsident der EuropäischenZentralbank werden solle, meldete sich Carlo Ciampi zu Wort. Alle blickten erstaunt auf ihn, was erdenn jetzt zu diesem Konflikt Erhellendes beitragen könne. Und Ciampi entspannte die Diskussion,indem er sagte: »Nehmt doch mich, ich bin bereits 77.« Es war das Ziel von Dominique Strauss-Kahn, Carlo Ciampi und mir, die straffen Regeln desStabilitätspakts nach den Gesetzen der ökonomischen Vernunft zu interpretieren. Der Stabilitätspakt

war eine Kopfgeburt der angebotsorientierten Orthodoxie. Der mittlerweile ausgeschiedeneBundesbankpräsident Hans Tietmeyer hat eine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung desStabilitätspakts gespielt. Niemand ist ihm so sehr in die Parade gefahren wie Helmut Schmidt. Ererinnerte Tietmeyer daran, dass er Jas sogenannte Lambsdorff- Papier entworfen hatte, um dieökonomische Wende einzuleiten. Tatsächlich sei aber die öffentliche Gesamtverschuldung auf dasVierfache gestiegen, die Steuer- und Abgabenlast so hoch wie niemals zuvor, und die Arbeitslosigkeithabe ein unerhörtes Maß erreicht. Tietmeyer habe 1990 als persönlicher Berater des Kanzlers Kohl fürFragen der deutsch-deutschen Währungsunion Mitverantwortung für schwere Fehler und utopischeVersprechungen. Helmut Schmidt erinnerte Hans Tietmeyer daran, dass er an der Zinserhöhung derBundesbank nach i 990 führend beteiligt war, die die Arbeitslosigkeit in ganz Europa erhöht hatte.Und er war mitverantwortlich an der regelwidrigen Verweigerung der durch die Zinserhöhungnotwendig gewordenen Anpassung der DM-Wechselkurse innerhalb des europäischenWährungssystems. Die Bundesbank habe die Formulierung der Maastrichter Konvergenzkriteriendurchgedrückt, ohne dass jemals öffentlich begründet worden sei, warum die Gesamtschuld eines Teil-nehmerstaats nicht höher sein soll als 60 Prozent seines laufenden Sozialprodukts. 

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Ebenso sei das andere schuldenrelevante Kriterium ökonomisch nicht begründet worden, dem zufolgedie jährliche Kreditaufnahme eines Teilnehmerstaats nicht höher sein soll als 3 Prozent seinesSozialprodukts. Wenn ein Staatsvolk viel spart, dann kann der Staat durchaus höhere Krediteaufnehmen, ohne damit die Finanzierung privatwirtschaftlicher Investitionen zu behindern. HelmutSchmidt fährt fort: »Wenn aber ein Volk wenig oder gar überhaupt nichts spart, dann sind 3 Prozentals Grenze für staatliche Kreditaufnahme viel zu hoch! Die amerikanische private Sparquote liegt bei 4Prozent, die deutsche bei n Prozent, die japanische bei über 16 Prozent - trotzdem kann sogar Japanheute wegen des 3-Prozent-Kriteriums theoretisch nicht als Teilnehmerstaat für den Euro in Betrachtkommen. Das 3-Prozent-Kriterium kann bei guter Konjunktur leicht unterschritten werden, in einerRezession dagegen liegt die Schwelle zu hoch. Die Flexibilität des Artikels 104 c ist also notwendig.«  Helmut Schmidts Diskussionsbeitrag aus dem Jahre 1996 ist heute immer noch höchst aktuell. Dieamerikanische Sparquote ist mittlerweile negativ. Das heißt die Amerikaner geben mehr Geld aus, alssie sparen! Da sie Budgetüberschüsse haben, finanzieren die Ausländer den privaten Sektor. InDeutschland wurden 1998 von den privaten Haushalten 266 Milliarden DM auf die hohe Kante gelegt.Das Vermögen der privaten Haushalte betrug 14,5 Billionen DM, das reine Geldvermögen 5,7Billionen DM. Dieses »riesige Vermögen« wird an die Kinder vererbt. Wer erklärt den neuen BerlinerSparaposteln, dass die hohen Ersparnisse der privaten Haushalte und der Unternehmen wirtschaftlich

genutzt werden müssen und dass derjenige, der das, was in der Vergangenheit gespart wurde, in Formvon Krediten nutzt, nicht auf Kosten der Zukunft unserer Kinder lebt? Das Problem der öffentlichenHaushalte ist der zu hohe Anteil der Zinsausgaben, der die Handlungsfähigkeit des Staateseinschränkt. Daher muss im Aufschwung konsolidiert werden, um die Handlungsfähigkeit des Staateszurückzugewinnen. Das Problem für die Sozialdemokraten ist die ungleiche Verteilung der Vermögen.Denn mit der Staatsschuld verhält es sich so: Die Arbeitnehmer und ihre Kinder zahlen die Steuern,während die Vermögenden und ihre Kinder die Zinsen bekommen, die oft nicht versteuert werden. An dieser Stelle ein längst fälliges Wort zu Helmut Schmidt: Hatte die Linke ihre ökonomischen odersozialen Konzepte in den vergangenen Jahrzehnten im nationalstaatlichen Rahmen entwickelt, soverlangt das Zeitalter der Globalisierung, dass sie jetzt ihre Konzepte anpassen muss. Es geht um diepolitische Antwort auf die Herausforderungen der postnationalen Konstellation, wie Jürgen Habermasschreibt. Nicht die »Märkte«, sondern demokratisch gewählte Regierungen und Parlamente müssen

die Entscheidungen treffen, die die Zukunft unserer Gesellschaft bestimmen. Schritt für Schritt musseine auf internationaler Zusammenarbeit aufbauende Weltinnenpolitik die Antworten auf dieGlobalisierung geben. Vor dieser historischen Aufgabe muss die Rolle Helmut Schmidts auch ausSicht der Linken neu bewertet werden. Akzeptiert man den Markt als Ordnungsprinzip, so war er dererste, der die Herausforderung der postnationalen Konstellation erkannte. Zusammen mit Giscardd'Estaing initiierte er 1975 in Rambouillet den ersten Wirtschaftsgipfel der großen Industrienationen.Beide waren sich dann einig, dass entscheidende wirtschaftliche Fragen nur noch durch internationaleZusammenarbeit gelöst werden konnten. Nach dem Zusammenbruch des Systems von Bretton-Woodsschufen sie das europäische Währungssystem. Während die europäische Linke noch mit Vietnam,Nicaragua und der Dritten Welt beschäftigt war, gab Helmut Schmidt erste sozialdemokratischeAntworten auf die neue Situation, die durch die Deregulierung der Weltfinanzmärkte entstanden war.  In seinem Buch Globalisierung schreibt er: »So wie im internationalen Seeverkehr sich langsam, aber

sicher auf der ganzen Welt gemeinsam akzeptierte Verkehrsregeln und Sicherheitsvorschriftendurchgesetzt haben, so wie noch viel umfassender im Luftverkehr, so braucht auch der internationaleGeld- und Kapitalverkehr Regeln. Er braucht Aufsicht und Kontrolle.« Gegenwärtig fehle es noch an Einsicht, er würde sich aber nicht wundern, wenn man versuchte, zumSystem fester Wechselkurse, jedenfalls zwischen Dollar, Euro und Yen, zurückzukehren. Die Aktienin den USA sind nach Meinung Helmut Schmidts total überbewertet. Es seien Psychopathen, die dieKurse nach oben trieben, dreißigjährige Händler und vierzigjährige Fondsmanager. Diesen fehle derGesamtüberblick über die Welt und die Weltwirtschaft und auch die Verantwortung, die sich darausergebe. Zusammen mit den Vermögensverwaltern der Handelsund Investmentbanken bestimmen dieFondsmanager die Entwicklung der Weltwirtschaft in größerem Umfang als Regierungen undParlamente. Im ersten Schritt muss der organisierten Spekulation die koordinierte Intervention derNotenbanken gegenübergestellt werden. Die kurzfristigen Kapitalströme müssen reguliert werden. DerZufluss bleibt offen, aber der Abfluss muss durch Ventile geregelt werden.  

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 Der Rücktritt 

Auf der Kabinettssitzung am 10. März 1999 kam es zum ersten Mal zu einer Aussprache über dieVorhaben der einzelnen Ressorts. Ich hatte Gerhard Schröder immer wieder gebeten, nicht nur die inder Tagesordnung vorgesehenen Punkte anzusprechen. Bei diesem Verfahren war die Kabinettssitzungstets sehr schnell zu Ende. Viel wichtiger erschien es mir, dass aufgrund der laufenden Koordinations-mängel und Pannen die Minister im vorhinein über ihre Planungen und ihr Vorgehen berichten sollten.Nach Möglichkeit sollten die Vorhaben im Kabinett vorgestellt werden, bevor die Presse sie untersVolk brachte. So konnte nach meinen Erfahrungen als Ministerpräsident rechtzeitig die Koordinationmit den anderen Ressorts und der Fraktion sichergestellt werden. Gerhard Schröder nahm gleich am Anfang das Wort und wandte sich an Jürgen Trittin. In der Pressewaren Berichte erschienen, dass Jürgen Trittin eine neue Smog-Verordnung vorbereite. Dies nahmGerhard Schröder zum Anlass, Jürgen Trittin noch einmal nachdrücklich zu ermahnen, keine weiterenwirtschaftsfeindlichen Projekte zu verfolgen. Der von ihm schon öfter öffentlich Gedemütigte wehrtesich nur schwach und versprach, vor einer endgültigen Veröffentlichung die Abstimmung mit denübrigen Ressorts herbeizuführen.  Danach wandte sich Gerhard Schröder an Christine Bergmann, von der in der Presse zu lesen war,dass sie den Erziehungsurlaub flexibler gestalten wolle. Auch hier sah der Bundeskanzler die Gefahr,dass die Wirtschaft die Kritik an seiner Regierung verstärken würde. Sein Beitrag schloss mit demSatz, dass man das Land nicht gegen die Wirtschaft regieren könne und dass eine Politik gegen dieWirtschaft mit ihm nicht zu machen sei.  Ich versuchte, in der anschließenden Diskussion dem Ganzen die Spitze zu nehmen, indem ichbestätigte, dass durch die massive Kritik der Wirtschaftsverbände die Stimmung in der Wirtschaftauch bei Handwerkern und Selbständigen schlecht sei. Schröder habe daher recht mit seinerAuffassung, dass man nicht übertreiben dürfe. Für mich bestand zwar kein Zweifel, dass eine

sozialdemokratisch geführte Bundesregierung Entscheidungen treffen musste, die den Herren Henkel,Stihl und Hundt missfielen. Aber es war selbstverständlich, dass man mit den Wirtschaftsverbändenim Gespräch bleiben und bei den notwendigen Reformen das richtige Tempo einschlagen musste. Ichwies darauf hin, dass die Wirtschaft von der Senkung der Lohnnebenkosten profitiere und dass dieSteuerreform den Mittelstand um etwa fünf Milliarden entlaste. Erwartungsgemäß konnte man überdiese Kabinettssitzung am nächsten Tag in den Zeitungen lesen, vor allem in der Bild-Zeitung. Der Informant der Bild, wer immer es war, hatte wahrheitswidrig weitergegeben, dass diese Kritik desBundeskanzlers auch an mich gerichtet war. Auf der ersten Seite der  Bild war in den bekannten großenBuchstaben zu lesen: »Schröder droht mit Rücktritt.« Darunter etwas kleiner gedruckt: »Ich lasse mitmir keine Politik gegen die Wirtschaft machen. Es wird einen Punkt geben, wo ich die Verantwortungfür eine solche Politik nicht mehr übernehmen kann.« Und weiter wurde berichtet, dass die Kritik desKanzlers dem Finanzminister und Parteivorsitzenden galt. Schröder hatte aber in der Kabinettssitzung

kein kritisches Wort an mich gerichtet. Sicherlich hatte er seit längerem bemerkt, dass meine Distanzzu ihm weiter gewachsen war. Zudem haben Menschen wie er ein feines Gespür dafür, wann sieangreifen können. Meine Stimmung war seit längerem so, dass ich jeden Angriff Schröders imKabinett sofort mit einer harten Erwiderung pariert hätte. Im übrigen hatte ich mir ausgebeten, dassKritik aneinander stets unter vier Augen erfolgen sollte. Nach der Kabinettssitzung traf ich im Finanzministerium die Sprecher der Parlamentarischen Linken,Gernot Erler, Detlef von Larcher, Michael Müller und Andrea Nahles. Auch Ottmar Schreiner wardazugestoßen. Während wir die politischen Entscheidungen der nächsten Monate diskutierten, wurdemir der Artikel der Bild-Zeitung über die angeblichen Rücktrittsdrohungen Gerhard Schrödershereingereicht. Ich bat meine ebenfalls anwesende Pressesprecherin Dagmar Wiebusch, Uwe-KarstenHeye anzurufen. Der Kanzler müsse dementieren. Sie kam zurück mit der Antwort, Heye dementierebereits auf allen Kanälen. 

Auf die Idee, dass hier der Kanzler gefordert war, kam Gerhard Schröder nicht. Ein laues Dementi desRegierungssprechers Uwe-Karsten Heye genügte nicht mehr. Es war ja schließlich nicht alltäglich,dass in den Zeitungen stand, dass ein Kanzler mit Rücktritt gedroht habe, weil ihm die

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wirtschaftsfeindliche Politik des Parteivorsitzenden und Finanzministers nicht gefiele. Am nächstenMorgen beschloss ich, den für den Tag der Bundespräsidentenwahl fest geplanten Rücktrittvorzuziehen. Ich wollte nicht länger einem Kabinett angehören, das nicht zur notwendigenZusammenarbeit fand und in dem der Regierungschef den Grundsatz missachtete, seine Minister vorallem in der Öffentlichkeit zu stützen.Der amerikanische Sozialwissenschaftler Norman Birnbaum bewertete die ersten vier Monate unsererRegierung wie folgt: »Niemand jedoch hatte die anfängliche Courage der neuen Regierung mehrerschreckt als das Kanzleramt selbst. Unkritisch gegenüber Tony Blairs lauter Propaganda einesinhaltslosen dritten Weges, ungeachtet der ökonomischen und sozialen Kosten von ClintonsArbeitsplatz-Maschinerie, ließ sich das Kanzleramt von dem einzigen Sozialdemokraten in Panikversetzen, der seine Legitimation vom Wählerwillen ableitete statt von den Herrschern über diedeutsche und internationale Wirtschaft. Die internationale Elite der multinationalen Konzernebeherrscht nicht nur die Produktionsmittel, sondern inzwischen auch die Mittel zur politischenWillensbildung. Selten wurde in einer Demokratie ein hoher Politiker zum Objekt eines so feinabgestimmten Angriffs wie Lafontaine. Seine Kollegen reagierten mit größter Illoyalität.« Den kritischeren Journalisten war aber schon seit längerem aufgefallen, dass das Ganze Methode hatte.Immer wenn durch falsche Vorgaben des Kanzlers, wie bei den 630-Mark-Jobs, bei der Ökosteuer, bei

den Renten oder bei der Unternehmensteuerreform, etwas schief lief, sprach der Kanzler einMachtwort oder Klartext mit dem Tenor, dass andere für diese Fehlentscheidungen verantwortlichseien.  Der Stern, der viel dafür getan hatte, dass Schröder Kanzlerkandidat der SPD wurde, schrieb: »EinigeMedien machen die >Bremser< (Bild) oder die >Sozialmafia< (Der Spiegel) in der SPD-Fraktion undden Gewerkschaften dafür verantwortlich, dass die rot-grüne Reformpolitik nicht auf Touren kommtund die Arbeitslosigkeit, bereinigt um Saisoneinflüsse, sogar leicht steigt. Alle sind schuld - nur nichtder strahlende Held. >Kanzler im Chaos< titelt Die Woche, obwohl die richtige Zeile längst >DerChaos-Kanzler< heißen müsste. Denn in der Sozialpolitik, dem Schlüsselbereich für die Erneuerungdes Landes, hat Schröder nicht nur kein Konzept, er hat oft einfach zuwenig Ahnung. Kaum ein Tagvergeht, an dem der Möchtegern-Modernisierer nicht die Fakten durcheinander wirft.« In den folgenden Monaten konnte man beobachten, wie Walter Riester regelrecht gemobbt wurde.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Innerhalb eines Kabinetts muss es ölt auch heftigeDiskussionen geben, und selbstverständlich ist der Regierungschef aufgefordert, dort Kritik anzubrin-gen, wo er sie für notwendig hält. Aber das systematische Durchstechen an die Presse mit der Folge,dass alle Schaden nahmen, auch diejenigen, die meinten, sie glänzten besonders, wenn andereherabgesetzt würden, war nicht hinnehmbar. Die nächste Kabinettssitzung hätte notwendigerweise zuheftigen Auseinandersetzungen zwischen Gerhard Schröder und mir führen müssen. Diese wärenselbstverständlich mit der notwendigen Garnierung wieder an die Presse weitergegeben worden. Der Fairness halber muss ich anführen, dass Gerhard Schröder mir Wochen vorher vorgeschlagenhatte, den Fraktionsvorsitz zu übernehmen. Er war, wie ich, zu der Auflassung gekommen, dass meinePflichten als Finanzminister mir zunehmend Schwierigkeiten bereiteten, meine Aufgaben alsParteivorsitzender so wahrzunehmen, wie es gerade in dieser Zeit notwendig war. Peter Struck wareingeweiht und hatte auch zugestimmt. 

Es ist also falsch, wenn nach meinem Rücktritt Kommentatoren zu dem Urteil kamen, meinAusscheiden aus der Politik sei das Ziel von Gerhard Schröder gewesen. Einmal war es meine eigeneEntscheidung, ob ich Parteivorsitzender bleiben würde oder nicht und ob ich das Parlamentsmandatbehalten würde oder nicht. Zum anderen hätte die Übernahme des Fraktionsvorsitzes durch mich zudem von vielen gewünschten Ergebnis geführt, dass ich in der Doppelfunktion als Partei- undFraktionsvorsitzender die Politik der Regierungskoalition noch stärker bestimmt hätte.Ich war aber schon seit Wochen zu dem Ergebnis gekommen, dass es aufgrund der unterschiedlichenpolitischen Auffassungen und unterschiedlichen Arbeitsmethoden eine Lösung nur geben konnte,wenn einer von uns beiden seine Ämter aufgab. Das konnte nach Lage der Dinge nur ich sein. GerhardSchröder war unser Spitzenkandidat im Wahlkampf, und unsere Verfassung sagt, der Bundeskanzler,nicht der Parteivorsitzende, bestimmt die Richtlinien der Politik. Ich war mir sicher, dass GerhardSchröder nach meinem Rücktritt auch nach dem Amt des Parteivorsitzenden greifen würde. Darin sahich wirklich die Chance eines Neuanfangs. Als Parteivorsitzender, so hoffte ich, würde er auf diePartei zugehen und seine bisherige Gewohnheit aufgeben, sich auf Kosten der Partei zu profilieren.Nur so konnte nach meiner Einschätzung eine sozialdemokratische Politik aus einem Guss entstehen.  

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Ich diktierte meiner langjährigen Mitarbeiterin Hilde Lauer drei kurze Briefe mit folgendem Wortlaut: An Gerhard Schröder: »Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, hiermit trete ich von meinem Amt als Bundesminister derFinanzen zurück. Mit freundlichen Grüßen«  An Wolfgang Thierse: »Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, hiermit lege ich mein Amt als Mitglied des DeutschenBundestags nieder. Mit freundlichen Grüßen« (Die Mandatsniederlegung wurde anschließend nochnotariell vollzogen.) An die Mitglieder des Vorstands der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands: »Liebe Parteifreundinnen und Parteifreunde, hiermit erkläre ich meinen Rücktritt vom Amt desVorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Ich danke Euch und den Mitgliedern derSozialdemokratischen Partei Deutschlands für die freundschaftliche Zusammenarbeit und dasVertrauen. Ich wünsche Euch für die Zukunft eine erfolgreiche Arbeit für Freiheit, Gerechtigkeit undSolidarität. Euer Oskar Lafontaine« Der letzte Brief fiel mir am schwersten. Schließlich ist es nicht alltäglich, dass ein Parteivorsitzenderder SPD zurücktritt. Schumacher und Ollenhauer starben als Parteivorsitzende der SPD. Brandt tratzurück, weil er sich am Ende seiner Amtszeit zuwenig von der Partei unterstützt fühlte und weil die

Partei der Berufung von Margarita Mathiopoulos zur Pressesprecherin nicht zustimmen wollte. 

Hans-Jochen Vogel nannte in seinem Buch Nachsichten mehrere Gründe dafür, dass er 1991 nichterneut kandidierte: »Einmal erschien mir der Generationswechsel an der Spitze jetzt geboten. Im Fallemeiner erneuten Kandidatur wäre meine Ablösung wohl erst wieder nach der dann folgendenBundestagswahl in Frage gekommen; dann wäre ich aber schon über siebzig gewesen und die fürmeine Nachfolge in Betracht kommenden Jüngeren auch schon wieder ein Stück älter. Ich hielt auchmeine Kraft nicht für unerschöpflich, und mir war kein Gedanke mehr zuwider als die Vorstellung,andere würden ein Nachlassen meiner Präsenz, Konzentration und Leistungsfähigkeit konstatierenkönnen. Schließlich brauchte die Partei nach drei aufeinanderfolgenden Niederlagen beiBundestagswahlen einen sichtbaren personellen Neuanfang. Programmatisch war sie mit dem BerlinerGrundsatzprogramm auf der Höhe der Zeit. Jetzt musste auch eine neue Person an der Spitze der Parteideutlich machen, dass die Phase des Übergangs beendet und die deutsche Sozialdemokratie bereit war,

die Konservativen mit langem Atem herauszufordern und abzulösen. Eine solche Entscheidung würdegerade nach der neuerlichen Niederlage auch die Handlungsfähigkeit der Partei unter Beweis stellen.«  Björn Engholm trat zurück, weil er im Untersuchungsausschuss falsche Angaben über den Zeitpunktgemacht hatte, zu dem er von den Machenschaften Barscheis erfahren hatte. Rudolf Scharping wurdeauf dem Mannheimer Parteitag abgewählt. Meine Entscheidung, vom Amt des Parteivorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlandszurückzutreten, war mit innerem Schmerz verbunden. Ich bin 1966 der SPD beigetreten. Dass ich 29Jahre später einmal ihr Vorsitzender sein würde, hätte ich mir nicht träumen lassen. Viele Jahre warenseitdem ins Land gegangen, und mein Leben hatte sich untrennbar mit der SPD verbunden. Für mich,wie für die anderen Mitglieder, ist die Partei auch Heimat und Familie. Die Menschen suchen auch inder heutigen Zeit Wärme und Geborgenheit. Gerade die SPD, die von Bismarck unterdrückt und vonden Nazis verfolgt wurde, hat die Tradition, ihren Mitgliedern das Gefühl zu geben, dass sie in einer

Gemeinschaft von Menschen angekommen sind, die füreinander einstehen wollen. Aus dieserTradition heraus erklärt sich die Anrede Genossinnen und Genossen. Solidarität undMitmenschlichkeit müssen das Innenleben der SPD bestimmen. Wie oft versagen wir dabei durchGleichgültigkeit oder Selbstsucht. Meine Zeit als SPD-Vorsitzender ist danach zu beurteilen, ob wir in dieser Zeit ein Mehr anMiteinander erreicht haben. Es ist uns gelungen, die Partei personell und inhaltlich geschlossen in dieBundestagswahl 1998 zu führen. Das Regierungsprogramm wurde mit großer Mehrheit verabschiedet.Die Personalentscheidungen zum Kanzlerkandidaten und zur Mannschaft erfolgten ohne Streit. Wirerreichten einen auch in der Höhe historischen Wahlsieg. Voller Hoffnung hatte ich darauf gesetzt,nach diesem glänzenden Wahlsieg zusammen mit Gerhard Schröder eine Reformpolitik gegen denvorherrschenden Neoliberalismus auf den Weg zu bringen. Als die Hoffnung zerbrach und ich zu derEinsicht kam, dass ich gehen musste, weil die Wählerinnen und Wähler Gerhard Schröder dasVertrauen gegeben hatten, fiel ich in ein tiefes Loch.  Gegen 16 Uhr setzte ich mich ins Auto und fuhr nach Saarbrücken. Auf der Autobahn erreichte michein Anruf von Marianne Duden, der Sekretärin des Bundeskanzlers, die mir sagte, der Bundeskanzler

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wolle mich sprechen. Ich antwortete ihr, dass die Entscheidungen getroffen seien und daran nichtsmehr zu ändern sei. Sie möge Gerhard Schröder herzlich grüßen.  Als die Nachrichtenagenturen die Meldung von meinem Rücktritt verbreiteten, machten sich vieleFernsehteams auf, um mein Haus am Hügel zu belagern. Die Belagerung dauerte fünf bis sechs Tage.Ich hatte meinen Rücktritt nicht begründet. Ich wollte Abstand gewinnen und wollte die Begründungso abgeben, dass möglichst wenig Schaden für die SPD entstand. Nach einer schmerzhaften Trennungist der Mensch im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Er will nicht sprechen, will zu sich selbstkommen und Abstand gewinnen. Unsere Mediengesellschaft aber hat für solche Sprachlosigkeit nicht das mindeste Verständnis.Unisono tönte es aus den Medien, dass die Öffentlichkeit ein Anrecht darauf habe zu erfahren, was dieGründe für meinen Rücktritt waren. Meine naive Vermutung, dass die Öffentlichkeit vor meinemRücktritt die Fernsehsendungen und Zeitungsberichte verfolgt hatte und dass ihr nicht entgangen seinkonnte, wie sich Kanzler und Parteivorsitzender immer mehr auseinander lebten, war falsch. Auch derreißerische Aufmacher der Bild-Zeitung über die vorausgegangene Kabinettssitzung und dieRücktrittsdrohung des Kanzlers haftete wohl nicht im Gedächtnis. Die Fernsehteams belagertenrücksichtslos mein Haus. Gerüchte, ich hätte mit Euro oder Aktien spekuliert oder sei Stasi-Spitzelgewesen, kursierten und wurden genüsslich verbreitet. 

Entnervt rief ich am Sonntag, dem 14. März, den Korrespondenten der ARD und saarländischenJournalisten Norbert Klein an, den ich seit vielen Jahren kannte, und sagte ihm, ich würde eine kurzeStellungnahme abgeben. Der ARD gab ich dann folgendes Interview: Frage: Herr Lafontaine, was ist denn das Hauptmotiv für Ihren Rücktritt gewesen. Auf die Antwort auf diese Frage wartet ja jeder. Antwort: Ich habe natürlich einen gewissen Abstand zu meiner Entscheidung gebraucht. Ich glaube,das wird jeder verstehen, der nachvollziehen kann, was eine solche Entscheidung bedeutet. Ich möchtezunächst sagen, dass die Entscheidung nichts zu tun hat mit der Richtung der Politik, die wir in denletzten Monaten gemacht haben. Wir sind stolz darauf, dass wir viele Versprechungen gehalten haben,das ist etwas Neues in der Politik. Denn allzu oft waren die Wählerinnen und Wähler enttäuscht, weildie Versprechungen nicht eingehalten wurden. Wir wollten sozia le Gerechtigkeit, wir wollten Politikfür Arbeitnehmer und Familien machen. Diese Politik haben wir in Gang gesetzt, und wir finden auch

sehr viel Zustimmung dafür. Der Grund meines Rücktritts ist das schlechte Mannschaftsspiel, das wirin den letzten Monaten geboten haben. Ohne ein gutes Mannschaftsspiel kann man nicht erfolgreicharbeiten. Mannschaftsspiel verlangt, dass man Rücksicht aufeinander nimmt und dass man auchzueinander steht - auch in der Öffentlichkeit - und dass Teamgeist die Regierungsarbeit bestimmt. EinBeispiel: Während wir die Mittelständler um fünf Milliarden entlasten, diskutiert die Mannschaftdarüber, ob wir eine wirtschaftsfeindliche Politik machen. Das verstehe, wer will. Wenn dieMannschaft nicht mehr gut zusammenspielt, muss man eine neue Mannschaftsaufstellung suchen.Dazu ist mein Schritt die Voraussetzung gewesen. Die neue Mannschaftsaufstellung ist bekannt. Ichwünsche der neuen Mannschaft mit Gerhard Schröder Erfolg bei der Arbeit. Frage: Was hat das mit dem Kapitän dieser Mannschaft zu tun?  Ich wich aus und antwortete: Die Frage, die sicherlich angesprochen werden wird, ist, warum ich mich jetzt erst äußere. Ich sagte,

ich brauchte etwas Abstand. Und vor allen Dingen wollte ich vermeiden, dass aus der Erklärung eineSelbstrechtfertigung wird. Ich wollte auch ein Beispiel dafür geben, dass man auch nach dem Rückzugsich nicht dadurch entlastet, dass man andere belastet. Ich sage also noch einmal: Die Fehler, diegemacht wurden, haben wir alle gemacht, und ich glaube, das ist eine Herangehensweise, die jederakzeptieren kann. Ich hatte mich schon als Parteivorsitzender über diejenigen Freunde geärgert, diezurückgetreten waren oder nicht mehr im Amt waren und ab und zu durch Erklärungen die Parteibelastet haben. Denn solche Erklärungen sind bekanntlich besonders erwünscht. Nun noch eineErklärung für die Partei selbst. Der Schritt ist mir natürlich nicht leichtgefallen. Ich bin 33 Jahre indieser Partei. Seit dreißig Jahren habe ich Führungsämter inne. Das ist eine längere Zeit, als vieleandere Politiker sie begleitet haben. Das heißt, die Partei ist ein Stück meines Lebens. Ich habe mirseit dem Attentat von Köln natürlich immer wieder die Frage gestellt, inwieweit ich diese großeBelastung auch mit meiner Familie verbinden kann, mit meinem Privatleben. Und ich habe mich jetzteben nach vielen Jahren für das Privatleben entschieden, mit all den Gründen, die ich vorgetragenhabe. Ich hoffe, dass die Partei dafür Verständnis hat. Ich möchte auch heute noch einmal für vielVertrauen danken, das mir entgegengebracht worden ist, für viel Zuneigung sogar. Das hat mich über

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viele Jahre motiviert, diese schwierige Arbeit zu machen. Ich wünsche der Partei weiterhin einenguten Weg. Ich werde ihn aufmerksam mitverfolgen, ich gehöre zu dieser Partei. Und eines soll sienicht vergessen: Das Herz wird noch nicht an der Börse gehandelt, aber es hat einen Standort. Esschlägt links. Ich danke Ihnen. Natürlich war diese Erklärung, die mit der Passage über das Mannschaftsspiel deutlich genug war,nicht das, was die sensationslüsterne Presse erwartet hatte. Im Interesse der Medien wäre es gewesen,wenn ich sofort den Bruderkrieg mit Gerhard Schröder begonnen und heftige Kritik an der rotgrünenKoalition geübt hätte. Aber noch hatte der Kosovo-Krieg nicht begonnen, und noch gab es keinSchröder-Blair-Papier und kein Zukunftsprogramm 2ooo. Darüber hinaus ärgerte manche Journalisten,dass ein Politiker aus freien Stücken zurückgetreten war, ohne dass die Presse ihn dazu gezwungenhatte. Man darf den Jagdtrieb der Medien nicht unterschätzen.  Journalisten hatten sich bei mir schon oft gebrüstet, den oder den zu Fall gebracht zu haben. Immerwieder gibt es unter den Journalisten solche, die es sich zum Ziel setzen, Politiker zum Rücktritt zuzwingen. Die Quittung wollten sie mir dadurch geben, dass sie den Rücktritt, der in einer Demokratieselbstverständlich sein sollte, wenn Politiker zu der Auffassung kommen, dass sie unter dengegebenen Umständen ihre Arbeit nicht mehr erfolgreich machen können, zur Fahnenflucht erklärten.Nicht genug damit, verstiegen sich einige dazu, mir auch jedes Recht abzusprechen, nach dem

Rücktritt mich zu politischen Themen zu äußern. 

Ich litt darunter, dass viele Parteifreunde meinen Rücktritt nicht verstanden. Vor allem die Parteilinkewarf mir vor, sie im Stich gelassen zu haben. Seltener wurde ich gefragt, ob ich mich nichtausreichend unterstützt gefühlt hätte. Die viele bewegende Frage, wie es mit der Linken weitergehenwerde, thematisierte Claus Koch in der Süddeutschen Zeitung wie folgt: »Die Wut, die viele Freundedes Parteivorsitzenden nach dessen Befreiungsschlag erfüllt, kann man verstehen. An diesem Rücktrittwerden sich alle kommenden Rücktritte, die bald folgen werden, messen lassen müssen. WasLafontaine sich geleistet hat, lässt sich nur unterbieten. Dass ein Sozialdemokrat so virtuos seine Parteivorführt und die Peinlichkeit ihrer Situation demonstriert, gilt unter Genossen als unanständig. Dieganze Partei muss sich von ihrem Einiger als dequalifiziert betrachten. Und wenn Klaus Zwickel vonder Feigheit dieses Fahnenflüchtigen spricht, so ist es vielmehr dieser, der die Feigheit derSozialdemokratie einschließlich ihrer Linken bloßstellt. Lafontaine erklärt mit dem Rücktritt ja nichts

anderes, als dass auf absehbare Zeit eine Alternative zum politischen Einheitsdenken und -handelnnicht verfügbar ist, dass sich die bewusste A-Politik Blairs und Schröders durchgesetzt hat. Er gibtalso die moralische Konkurserklärung für die SPD ab. Wenn ein Links von der Mitte vor einem Jahrvielleicht noch konstruiert werden konnte, so herrscht mit Schröder nun eindeutig die Rechte. Denndie Mitte ist immer rechts. Wer jetzt mit linken Lebenslügen noch weitermacht, so muss OskarLafontaine verstanden werden, ist zum bloßen Karrierismus unter dem bekennenden KarrieristenSchröder verurteilt. Die Parteilinken haben einzusehen, dass sie, nachdem sie vom Politik-ImitatorSchröder missbraucht worden waren, nun auch von Lafontaine abgeschrieben sind. Es blieb ihm, dadies ein sehr politischer Rücktritt war, nichts anderes übrig.« Die Konkurserklärung der Linken wollteich nicht abgeben. Sehr wohl aber wollte ich durch den Rücktritt auch darauf hinwirken, dass diePartei erneut über ihren Kurs entscheidet. Das Schröder-Blair-Papier und das Zukunftsprogramm 2000zeigen, dass eine erneute Kursbestimmung unumgänglich ist. 

In jenen Tagen erinnerte ich mich oft an den Rücktritt Willy Brandts vom Amt des Parteivorsitzenden.Der äußere Anlass war sein Vorschlag, die parteilose Griechin Margarita Mathiopoulos zurParteisprecherin zu machen. In Wirklichkeit hatte insbesondere die Parteirechte seit längerem seineAblösung betrieben. Der Spiegel berichtete, dass der ehemalige SPD-Finanzminister Hans Apel denGenossen eine Automarke empfahl: »BMW, Brandt muss weg« und fragte: »Willy Gaga?«  Bild, wiekonnte es anders sein, sah in Willy Brandts Vorschlag einen Beweis für seine Liebe zu Frauen.»Immer diese Frauen«, hieß es wörtlich, und die Boulevard-Presse bildete Willy Brandt mitverschiedenen Frauen ab, die angeblich sein Schicksal bestimmt hatten. Margarita Mathiopouloswurde zu »Brandts schöner Griechin«. Selbst dieFrankfurter Rundschau schrieb über »Brandts Sirtakimit der Griechin«. In seiner Abschiedsrede hatte Brandt noch einmal auf die Diskussion in der eigenenPartei Bezug genommen. »Manches, was ich bei der Gelegenheit zu hören und zu lesen bekam, war soerschreckend, dass sich in mir alles gegen eine Wiedergabe sträubt. Mit sozialdemokratischemStallgeruch hatte das nichts zu tun. Und ich muss dringend darum bitten, nicht nur abstrakt, sondernBedürftige auch ganz konkret daran zu erinnern, dass die SPD eine europäische Partei ist und unterdem Gesetz der Völkerverständigung zu wirken begann. Fremdenfeindlichkeit dürfen wir nie

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unwidersprochen lassen. Wir müssen ihr so entgegentreten, dass auch Banausen merken, woran sie beiuns sind.« Zwar schreibt Willy Brandt in seinen Erinnerungen über seinen Rücktritt unter der Überschrift »Einfröhlicher Abschied«: »Die formelle Verabschiedung ging auf einem außerordentlichen ParteitagMitte Juni 1987 in der Bonner Beethovenhalle vor sich. Die Versammelten sparten nicht mit Blumen,auch nicht im übertragenen Sinne des Wortes... Ich blickte nicht im Zorn zurück, sondern dankbar fürviele schöne Jahre, und ich blickte guten Mutes und fröhlichen Herzens voraus. Der Abschied war mirleichtgefallen.« Diese Darstellung Willy Brandts habe ich nie geglaubt. Dafür kannte ich den Altendann doch zu gut. Der Abschied vom Parteivorsitz der SPD ist ihm, dem größten Vorsitzenden dieserPartei in diesem Jahrhundert, in Wirklichkeit sehr schwer gefallen.  Verglichen mit Willy Brandt, dem viel widerwärtiger Dreck hinterhergeworfen wurde, war ich nochrelativ gut davongekommen. Christa und ich hatten beschlossen, in den ersten Tagen nicht mehr ansTelefon zu gehen. Der Anrufbeantworter war überlastet. Viele Freunde aus der Partei meldeten sicham Telefon und wollten Erklärungen. Einfache Mitglieder, Abgeordnete und Funktionsträgerschrieben mir rührende Briefe. Egon Bahr schrieb: »Du musst schreckliche Stunden hinter Dir haben.Ich wünsche Dir Genesung von den Verwundungen und Abstand, um Kraft für Neues /u gewinnen.«Ich war ihm dankbar für diese Worte. Auch führende Politiker anderer Parteien riefen an oder

schrieben mir Briefe. Von der CDU Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und Norbert Blüm, von derFDP Hans Dietrich Genscher und Günter Rexrodt, von den Grünen Antje Vollmer. Auf einem unsererAnrufbeantworter teilte uns ein Mitarbeiter von Joschka Fischer mit, dass dieser mich sprechen wolle.Zu einem Gespräch ist es nicht gekommen. Auch Gregor Gysi meldete sich. Ebenso Hans Modrow,den ich in der Zeit der DDR als Bezirksvorsitzenden der SED von Dresden kennen- und schätzengelernt hatte. Von den Vertretern der europäischen Mitgliedsparteien rief als erster mein langjähriger FreundAlfonso Guerra aus Spanien an. Alfonso Guerra war lange Zeit Stellvertretender Ministerpräsident inder Regierung von Felipe Gonzalez gewesen. Er hatte seit 1974 zusammen mit ihm die PSOE inSpanien aufgebaut. In der Franco-Zeit war er Buchhändler in seiner Heimatstadt Sevilla, die auch dieHeimatstadt von Felipe Gonzalez ist. Die noch heute existierende Buchhandlung heißt AntonioMachado. Sie ist nach einem spanischen Dichter und Schriftsteller benannt, der 1939 am Ende des

Spanischen Bürgerkriegs in Frankreich elend ums Leben kam. Mein saarländischer LandsmannGustav Regler hat in seiner Autobiographie Das Ohr des Malchus darüber berichtet. Antonio Machadoist der Lieblingsschriftsteller Alfonso Guerras. Guerra pflegt zu Weihnachten und Neujahr seinenFreunden anspruchsvolle literarische Texte zuzuschicken. Ich habe im Lauf der Jahre zu AlfonsoGuerra eine wirkliche Freundschaft entwickelt. Als mein Sohn Carl Maurice zur Welt kam, schrieb erihm den ersten Brief. Guerra hatte sich nach vielen Jahren mit Gonzalez in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, aber auch inideologischen Grundsatzfragen überwerfen und war im Januar 1991 ausgeschieden. Er war tief enttäuscht darüber, dass ich zurückgetreten war, zumal Christa und ich wenige Wochen vorher inMadrid unser Buch Keine Angst vor der Globalisierung vorgestellt hatten, das auch ins Spanischeübersetzt wurde. Die Buchvorstellung, die von meinem langjährigen Freund Dieter Koniecki, demLeiter des Friedrich-Ebert-Büros in Madrid organisiert worden war, war ein großer Erfolg. Mehr als

900 Zuhörer waren gekommen, die in ihrer großen Mehrheit Hoffnung schöpften, weil ein deutscherFinanzminister mit seiner Frau dem neoliberalen Einheitsdenken eine solch schnörkellose Absageerteilte. Dominique Strauss-Kahn meldete sich aus Paris, bestellte Grüße von Lionel Jospin und wollte dieGründe für meinen Rücktritt wissen. Ich sagte ihm, was ohnehin bekannt war, dass ein Schiff nichtzwei Steuermänner haben könne, die in unterschiedliche Richtungen wollten. Dominique Strauss-Kahn lud meine Frau und mich nach Paris ein. Auch Jack Lang, der langjährige KultusministerFrankreichs, der uns im Bundestagswahlkampf unterstützt hatte, rief an. Er fragte mich, ob ich nichtdoch Präsident der Europäischen Kommission werden wolle, nachdem ich nun durch kein Amt an derÜbernahme dieser Aufgabe gehindert sei. Ich sagte ihm, dass ich mich gerade dafür entschieden hätte,mehr Zeit für meine Familie zu haben. Ich konnte mir aber die Bemerkung nicht verkneifen, dass derdeutsche Bundeskanzler über seinen Vorschlag sicherlich hellauf begeistert wäre.  Ende 1998 waren in der Presse Berichte aufgetaucht, nach denen ich das Amt des EuropäischenKommissionspräsidenten anstreben würde. Nichts davon war wahr. Ich konnte mich nur retten, indemich erklärte, ich wolle Papst werden. Nachdem die Geschichte einmal in der Welt war, sprach mich

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tatsächlich Dominique Strauss-Kahn in Berlin an und sagte, Frankreich würde es unterstützen, wennich Kommissionspräsident werden wolle. Ich sagte ihm, er solle es selbst machen. Da wir in dereuropäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik an einem Strick zogen, wäre er für mich einehervorragende Besetzung gewesen. In jenen Tagen sagte auch Gerhard Schröder zu mir, wenn ichwolle, würde er mich zum Kommissionspräsidenten vorschlagen. Aus den Vereinigten Staaten schrieb mir Bob Rubin. Er würdigte meine Bemühungen, in EuropaWachstum und Beschäftigung zu unterstützen, und dankte mir für die Zusammenarbeit. Das wargentlemanlike. Von den vielen Zeichen der Freundschaft, die ich von den europäischen Sozialdemokraten erhielt,möchte ich noch einen Brief meines langjährigen Freundes Heinz Fischer erwähnen, der Präsident desösterreichischen Nationalrats ist: »Die Tatsache, dass Du Dich zu einem so radikalen Schrittentschlossen hast, deutet für mich darauf hin, dass Du es mit sehr schwierigen Abwägungen undgrundsätzlichen Entscheidungen zu tun hattest. Nicht einmal im nachhinein kann man beurteilen, obdie Entscheidung richtig (vielleicht sogar unvermeidbar) war, wenn man Deine Motive nicht ganzgenau kennt und auch die Rahmenbedingungen nicht kennt, unter denen diese Entscheidung getroffenwurde. Ich bin aber sicher, dass Du Dir alles sorgfältig überlegt hast. Obwohl ich mir vorstellen kann,dass nicht nur die Entscheidung selbst schwierig war, sondern auch die nachfolgende gigantische

Umstellung schwierig war und immer noch ist.« 

Besonders erfrischend war ein Telefongespräch mit Helmut Kohl, das ich dem Leser nichtvorenthalten möchte. Der ehemalige Bundeskanzler versicherte mir zunächst seinen Respekt und seineSympathie. Dann erkundigte er sich, ob wir tatsächlich einen Bauernhof gekauft hätten. Ich sagte ihm,dass wir in Verhandlungen stünden und diese noch nicht zum Abschluss gekommen wären. HelmutKohl versprach mir für den Fall des Erwerbs eines Bauernhofs, einen jungen Stier zu stiften. Dannfragte er weiter, oder wollen Sie lieber einen Löwen oder einen Tiger. Nachdem ich etwas verlegen dieFrage stellte, was ich damit anstellen solle, fasste er nach und wollte wissen, ob ich die Preise kenne,zu denen junge Löwen und Tiger angeboten werden. Auch hier musste ich passen. Ich erfuhr von ihm,dass die Preise bei 250 DM liegen und dass die Tiere deshalb so günstig angeboten werden, weilimmer mehr Zoologische Gärten in Deutschland den Nachwuchs der Raubkatzen ohne Proble megroßziehen können. Meine Unkenntnis der Preise für Tiger- und Löwenjungen quittierte Helmut Kohl

mit der Bemerkung: »Ich wusste schon immer, dass Sie vom wirklichen Leben keine Ahnung haben!«Anschließend vereinbarten wir, bei Gelegenheit ein Glas Wein zu trinken.  Ich schildere dieses Gespräch, weil es den weniger Eingeweihten zeigt, auf welch schlitzohrige ArtHelmut Kohl seine jeweiligen Gesprächspartner einzuwickeln versucht. Kohl war, was nachher vonniemandem mehr bestritten wurde, allgemein unterschätzt worden. Die Fähigkeit, mit der er dieanfänglichen Demütigungen der Presse wegsteckte, hat stets meine Bewunderung hervorgerufen, undimmer wenn die Presse über mich herfiel, erinnerte ich mich daran, dass Helmut Kohl über viele Jahrenoch übler mitgespielt worden war. Gerhard Schröder demonstrierte nach meinem Rücktritt Handlungsfähigkeit. Er sagte sinngemäß, dassdie Arbeit nun weitergehe und er zügig einen Nachfolger vorschlagen werde. Gleichzeitig erklärte erin internen Gesprächen seine Bereitschaft, den Parteivorsitz zu übernehmen. Seine Zwiespältigkeit gegenüber diesem Amt kam in seinem Satz zum Ausdruck: »Ich habe an den Gittern des Kanzleramts

gerüttelt, nicht aber an der Tür des Ollenhauer-Hauses.«

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Der Kosovo-Krieg 

Zwölf Tage nach meinem Rücktritt, am 2.3. März 1999, beschloss die Nato, Serbien anzugreifen, umMilosevic zu zwingen, Mord und Vertreibung im Kosovo zu beenden. Gerhard Schröder gab eineErklärung im Fernsehen ab. Er sagte: »Heute Abend hat die Nato mit Luftschlägen gegen militärischeZiele in Jugoslawien begonnen. Damit will das Bündnis weitere schwere und systematischeVerletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovoverhindern ... Die Militäraktion richtet sich nicht gegen das serbische Volk. Dies möchte ich geradeauch unseren jugoslawischen Mitbürgern sagen. Wir werden alles tun, um Verluste unter derZivilbevölkerung zu vermeiden.« Wie wir heute wissen, ist keines dieser Ziele erreicht worden. Weder gelang es der Nato, diehumanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhindern, noch konnte sie Verluste unter der

Zivilbevölkerung Serbiens vermeiden. Selbstverständlich richtete sich der Krieg, bei dem dieserbische Wirtschaft und Infrastruktur zerstört wurde, auch gegen das serbische Volk. Während desKrieges kamen mir Zweifel, ob es richtig war, gleichzeitig mit dem Rücktritt vom Amt desBundesfinanzministers auch den Vorsitz der SPD abzugeben. Die Friedens- und Entspannungspolitik Willy Brandts war für mich, wie für viele andere, einer derwesentlichsten Gründe gewesen, der SPD beizutreten. Die Zustimmung zur Kosovo-Politik GerhardSchröders war mir von Anfang an schwergefallen. Nach dem Wahlsieg der rot-grünen Koalition lud uns die Regierung Kohl ein, um unsere Zustimmungzu einer Entscheidung des alten Deutschen Bundestags zu erreichen: Sie wollte beschließen, für dieAlarmbereitschaft von Nato-Verbänden auch deutsche Truppenteile zur Verfügung zu stellen. AlsVorsitzender der Sozialdemokratischen Partei warf ich bei diesem Gespräch die Frage auf, ob einsolcher Beschluss des Deutschen Bundestags und der Bundesregierung eine Automatik in Gang setze,

die keine politische Konsultation mehr zuließe, bevor es zu einem militärischen Angriff komme. DieAntworten der beteiligten Minister, des Verteidigungsministers Volker Ruhe und des AußenministersKlaus Kinkel, waren unterschiedlich. Während Ruhe sagte, es bestehe keine politische Möglichkeitmehr, nach dieser Entscheidung einen Angriff der Nato zu verhindern, erklärte Kinkel das Gegenteil.Wolfgang Schäuble blickte peinlich berührt in den Garten des Kanzleramts. Ich verlangte eine klareAntwort. Ich ließ mir am selben Tag vom Außenministerium schriftlich bestätigen, dass eine solcheEntscheidung des Deutschen Bundestags keine Automatik in Gang setze. Es war also möglich, bevores zu einem Angriff kam, noch einmal politisch zu beraten und zu entscheiden, ob, nachdem die Trup-pen in Alarmbereitschaft waren, ein Angriffsbefehl gegeben würde. Nach dieser Zusicherung habe ichals Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands dem Bundestagsbeschluss zugestimmt. Es wäre nicht richtig gewesen, nach all den Vorbereitungen und nach all dem, was vorher von den

Regierungen Europas und den Vereinigten Staaten auf den Weg gebracht wurde, zu diesem Zeitpunktbereits ein Veto einzulegen zumal die Regierung Kohl noch im Amt war. Ich habe dann während derVerhandlungen von Rambouillet darauf bestanden, dass es, bevor es zu einer Zustimmung Deutsch-lands zu einem militärischen Angriff käme, zu einer ausführlichen Erörterung der militärischenPlanungen im Kabinett kommen müsse. Ich war der Auffassung, dass es nicht möglich sei,Militäreinsätzen zuzustimmen, ohne die Planungen und deren Auswirkungen zu kennen. Während derVerhandlungen von Rambouillet sagte Fischer im Kabinett, dass die Nato entschlossen sei, im Fall desScheiterns mit den Luftschlägen zu beginnen. In Erinnerung an den Vermerk des Auswärtigen Amteswar mir sofort klar, dass jetzt erneut politisch entschieden werden musste. Nachdem Fischer seinen Vortrag beendet hatte, sagte Gerhard Schröder, an Fischer und Scharpinggewandt: »Wenn es soweit ist, telefonieren wir miteinander.« Ich meldete mich zu Wort und sagte,dass das so nicht gehen könne. Wenn Deutschland zum ersten Mal in einen Krieg eintrete, müssezumindest eine Kabinettsberatung stattfinden, die zu einem Kabinettsbeschluss führen müsse.Kriegseintritt per Telefon, das sei wohl nicht das richtige Verfahren. Ich sagte, zu Gerhard Schrödergewandt, es müsse doch auch in seinem Interesse sein, wenn das Verfassungsorgan »Bun-

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desregierung« die Entscheidung mittrage. Joschka Fischer unterstützte mich, und Gerhard Schröderwar schnell überzeugt. Es wurde vorsorglich das Datum für diese Kabinettssitzung festgelegt. Zu ihrkam es aber nicht, weil die Nato direkt nach den Verhandlungen von Rambouillet doch nichteingreifen wollte. Vor meinem Rücktritt vorn Amt des Finanzministers wurden also die militärischen Überlegungen undPlanungen der Nato nicht mehr erörtert. Daher kann ich nur im nachhinein urteilen. Die militärischeVorgehensweise der Nato war überhaupt nur zu rechtfertigen, wenn man darauf setzte, dass Milosevicnach kurzer Zeit unterschreiben würde. Wenn damit aber nicht zu rechnen war, und es sprach einigesdafür, dann war die Vorgehen s weise der Nato unverantwortlich.  Bei den langjährigen Debatten in der SPD über die Zulässigkeit solcher Militäraktionen hatteChristoph Zöpel einmal argumentiert, Militäreinsätze, die die Verletzung von Menschenrechtenverhindern sollen, seien eher als Polizeieinsätze zu betrachten. So kann man das sehen. Was würdeman aber von einer Polizei halten, die, wenn sie erführe, dass Verbrecher von A nach B zögen, um inB zu plündern und zu morden, Polizeikräfte nach A schicken würde, um dort die Infrastruktur zuzerstören? Die Verantwortlichen würden sofort zum Teufel gejagt. Aber bei grenzüberschreitendenPolizeieinsätzen ist das offensichtlich anders. Ein unverzeihliches Versäumnis muss ich mir selbst anlasten. Ich habe mich nicht um den

Vertragstext, der in Rambouillet vorgelegt wurde, gekümmert. Ich verließ mich auf denAußenminister. Vom Annex B dieses Abkommens, das die Stationierung von Nato-Streitkräften mitunbeschränkten Durchmarsch- und Bewegungsrechten in ganz Jugoslawien vorsah, erfuhr ich erstspäter aus der Presse. Die völkerrechtliche Frage, ob jemand mit der Androhung militärischer Gewaltzum Abschluss eines Vertrags gezwungen werden darf, wurde im Kabinett nicht erörtert. Zu Rechturteilte Rudolf Augstein: »Die USA hatten in Rambouillet militärische Bedingungen gestellt, die keinSerbe mit Schulbildung hätte unterschreiben können.« Als der Angriff begann, war ich erleichtert, dass ich der Regierung nicht mehr angehörte. Es ist zwarproblematisch, im nachhinein zu sagen, wie man sich im Fall des Falles entschieden hätte. Aberangesichts der Tatsache, dass ich ohnehin fest entschlossen war zurückzutreten, wird man es mirabnehmen, dass ich den Kriegseintritt unter diesen Bedingungen ebenfalls zum Anlass eines Rücktrittsgenommen hätte. Selbst wenn man den Militäreinsatz als unvermeidbar ansah, war die politische und

militärische Vorgehensweise der Nato fahrlässig und verantwortungslos. Ich machte mir in den ersten Tagen des Krieges Vorwürfe, dass ich aus falsch verstandener Loyalitätden drohenden Kosovo-Krieg in der SPD nicht früher thematisiert hatte. Zu lange hatte ich darauf gesetzt, dass die Nato ihre Drohungen nicht wahr machen würde. Nur mit einem eindeutigenBeschluss der Partei im Rücken hätte ich den Gang der Dinge vielleicht noch beeinflussen können. Ichhabe allerdings Zweifel, ob ein solcher Parteitagsbeschluß ausgereicht hätte. Wahrscheinlich hätte ichnur als Bundeskanzler den Beginn des Krieges aufhalten können. Ich hätte darauf bestanden, denUNO-Sicherheitsrat, Russland und China einzubinden und militärische Planungen nicht zu akzeptie-ren, die, statt Mord und Vertreibung zu beenden, das Gegenteil bewirken.  Die deutsche Öffentlichkeit hätte diesen deutschen Sonderweg am Anfang sicherlich heftigst kritisiert.Aber einen solchen Gegenwind muss ein Politiker, der zu seinen Überzeugungen steht, aushaken.Schließlich steht in unserem Regierungsprogramm: »Die Nato ist und bleibt ein Verteidigungsbündnis.

Das globale Gewaltmonopol zur Sicherung des Weltfriedens liegt ausschließlich bei den VereintenNationen. Einsätze der Nato, die über ihren kollektiven Verteidigungsauftrag hinausgehen, bedürfeneines Mandats der Vereinten Nationen oder der OSZE; (Organisation für Sicherheit undZusammenarbeit in Europa).« Die Koalitionsvereinbarung war noch eindeutiger. In ihr heißt es: »DieBeteiligung deutscher Streitkräfte an Maßnahmen zur Wahrung des Weltfriedens und derinternationalen Sicherheit ist an die Beachtung des Völkerrechts und des deutschen Verfassungsrechtsgebunden. Die neue Bundesregierung wird sich aktiv dafür einsetzen, das Gewaltmonopol derVereinten Nationen zu bewahren und die Rolle des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zustärken.« Nie hätte ich geglaubt, dass nach einigen Monaten nichts von alledem mehr Gültigkeit hatte.  Am 1. Mai 1999 sprach ich auf einer Maikundgebung des DGB Saar in Saarbrücken. DieVeranstaltung fand große Aufmerksamkeit. Die Presse erwartete eine Abrechnung mit der RegierungSchröder. Viele meiner Parteifreunde und Kollegen in den Gewerkschaften interessierten sich dafür,was ich zum Kosovo-Krieg zu sagen hatte. Ich wollte in keinem Fall den Eindruck erwecken, als hätteich eine Patentantwort, aber ich wollte deutlich machen, dass ich die Vorgehensweise der Natoverurteilte. 

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Ich sagte: »Wenn ich zum Krieg in Jugoslawien heute Stellung nehme, dann möchte ich daranerinnern, dass dies nicht der einzige Krieg auf dieser Erde ist, dass Not und Elend, Tod undVertreibung leider in vielen Ländern dieser Erde den Alltag bestimmen. Ich denke an Afrika, ichdenke an Algerien, ich denke an Äthiopien, ich denke an den Sudan, ich denke an Ruanda, ich denkean das Kongo-Gebiet, ich denke an Asien, ich denke auch an die verfolgten Kurden. Die Türkei ist einMitgliedsstaat der Nato. Ich denke an Tibet, an die Verfolgten dort, ich denke an Afghanistan, an vieleandere Länder dieser Erde, in denen großes Unrecht geschieht und in denen die Menschen leiden.  Heute möchte ich mich mit Jugoslawien beschäftigen. Ich möchte das differenziert tun, weil niemandvon uns einfache, fertige Antworten haben kann. Was aber im Vordergrund aller Überlegungen stehensollte, ist nach meiner Auffassung, wie kann das Leid der Menschen dort möglichst schnell gelindertwerden. Wie kann dort möglichst schnell Frieden hergestellt werden. Dabei geht es nicht um Gesichts-wahrung, wie ich das da oder dort lesen muss. Es geht immer und allein um das Leid der Menschen,um die Bewahrung menschlichen Lebens. Natürlich denken wir alle an die Menschen im Kosovo, dieVertreibung erleiden, die getötet wurden. Aber wir denken auch an die Menschen in Serbien, die sichängstigen, die darunter leiden, dass bombardiert wird. Wir denken an die Menschen in Serbien, dieOpfer der Bombardements geworden sind. Und ich denke auch an die Deserteure der Armeen, dieverfolgt werden, weil sie sich nicht am Krieg beteiligen wollen... 

Dass Fehler gemacht worden sind in Jugoslawien, wissen wir mittlerweile. Die Fehler liegen teilweiseJahre zurück. Ich höre so oft, dass die Deutschen keinen Sonderweg beschreiten sollten, aber ich mussdann daran erinnern, dass sie zu Beginn einen Sonderweg beschriften haben, als sie gegen dieWiderstände in Paris, in London und in Washington die Anerkennung der Teilstaaten durchgesetzthaben, weil man die Begriffe von Freiheit und Selbstbestimmung falsch verstanden hat. Freiheit undSelbstbestimmung vertragen sich nicht mit ethnischer Ausgrenzung. Das ist das Missverständnisdieser Politik. Freiheit und Selbstbestimmung sind überhaupt nur vorstellbar, sind überhaupt nurerfahrbar und erlebbar, wenn sie mit Solidarität und Mitmenschlichkeit verbunden sind. Deshalb wares falsch, dieser Kleinstaaterei, die auf völkischer Ausgrenzung beruhte, auch noch Anerkennung zugeben. Ein Fehler war es auch, dass durch das Bombardement der Nato vor einigen Jahren in derKrajina ermöglicht wurde, dass die Kroaten die Serben vertrieben haben. Auch daran möchte ich heuteerinnern, wenn wir über den Krieg in Jugoslawien sprechen. Es wäre falsch, wenn man zu der

Auffassung käme, dass nur ein Volksteil des Vielvölkerstaats in Jugoslawien Vertreibung erlitten hat.Auch die Serben haben Vertreibung erlitten ... Ich höre jetzt oft den Satz: Die Nato müsse ihr Gesichtwahren, sie könne jetzt nicht anders, sie müsse jetzt siegen. Nietzsche schrieb in  Also sprach Zarathustra: >Euer Friede sei ein Sieg.< Ich frage aber, wessen Sieg wäre dieser Sieg eigentlich? Wasbedeutet eigentlich Gesichtswahrung gegenüber dem Elend der Menschen, die unter diesem Kriegleiden.« Ich forderte einen sofortigen Stopp der Bombardierung und die Aufnahme politischerVerhandlungen. 78 Tage und Nächte hat die Nato Jugoslawien bombardiert. Die Luftwaffe flog 36000 Einsätze.Zurückgeblieben ist ein zerstörtes Land. Niedergebrannte Ortschaften im Kosovo, zerstörte Schulen,Krankenhäuser, Fabriken, zerstörte Straßen, Brücken, Energie- und Wasserversorgungsanlagen inSerbien sind neben Tod und Vertreibung die Bilanz des Krieges. Das peinliche Feilschen um dieVerteilung der Wiederaufbaulasten hat begonnen. Die Europäische Kommission schätzt, dass 60

Milliarden DM notwendig sind, um das zerstörte Jugoslawien wiederaufzubauen. Die Amerikaner, diedie Hauptlast des Krieges getragen haben, sagen, dass jetzt die Europäer dran sind. Hans Eichel hatsofort erklärt, dass wegen des Kosovo-Krieges keine Steuererhöhungen in Frage kämen. Theo Waigelwar da weniger zimperlich. Als ihm nach dem Golf-Krieg die Rechnung von 13 Milliarden DM ausWashington präsentiert wurde, erhöhte er die Mehrwertsteuer. Unmittelbar nach dem Einstellen der Kriegshandlungen zeigte sich, dass Waffenstillstand nichtgleichzusetzen ist mit Frieden. In früheren Reden hatte ich immer den Satz eingeflochten: »UnterBombenteppichen wächst kein Friede.« Die Serben werden jetzt aus dem Kosovo vertrieben. Nato-Oberbefehlshaber Wesley Clark musste den Serben Schutz vor albanischen Racheakten zusichern. Ersagte: »Die Nato ist bereit, zur Verhinderung schwerer Menschenrechtsverletzungen erneut inJugoslawien militärisch einzugreifen.« Für uns Unbeteiligte ist es wahrscheinlich nicht vorstellbar, was es nach all den Grausamkeiten fürAlbaner und Serben bedeutet, nun wieder zusammenleben zu müssen.  Dieser Krieg hat Deutschland verändert, und ich hoffe, dass wir jetzt die richtigen Lehren ziehen. Esist schon bezeichnend, dass es so gut wie keine Friedensdemonstrationen gab.  Zwar organisierte die

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PDS einige Veranstaltungen, vor allem in Berlin, aber größere Demonstrationen blieben aus. Das istauch kein Wunder, wenn die beiden Großorganisationen, die durch ihr Programm und ihre Traditiongehalten sind, für den Frieden und gegen den Krieg einzutreten, nämlich die SPD und dieGewerkschaften, der Regierung Schröder nicht in den Rücken fallen wollten. Zornig war ich auch über die Rolle der Grünen. Ich hatte die rot-grüne Koalition gewollt, weil ichhoffte, für eine auf friedliche Lösung setzende Außenpolitik die Unterstützung der Grünen zu erhalten.Aber die Grünen hatten, wie Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung schrieb, den Pazifismus ausihrem Souffleurkasten vertrieben. Fragen mit pazifistischem Grundansatz galten in denFraktionssitzungen der Grünen als degoutant. In der Debatte um den Kosovo-Krieg tauchte dasProblem der Konvertiten auf, das ich aus Katholizismus und Protestantismus kannte. Der Konvertitwird vom Saulus zum Paulus. Er tauscht seinen Glauben, seine Weltanschauung gegen eine neue ausund vertritt diese mit noch größerer Überzeugung. Aus dem Slogan »Frieden schaffen ohne Waffen«wird »Frieden schaffen mit aller Gewalt«. Joschka Fischer beispielsweise hatte einmal gesagt: »Ich wünsche mir, dass unsere Partei die Krafthat, dass dort genügend Pazifisten sitzen, um eine andere friedensbezogene Außenpolitik ohne Militärmachen zu können.« Während des Kosovo-Krieges sagte er: »Ich habe nicht nur gelernt, nie wiederKrieg, sondern auch, nie wieder Auschwitz. Die Bomben sind nötig, um die >serbische SS< zu

stoppen.« Rudolf Scharping sprach vom »Blick in die Fratze der deutschen Vergangenheit, vonVölkermord, Selektierung, Konzentrationslagern«. Und weiter: »Wer dem Grauen keinen Ausdruckgibt, macht die davon betroffenen Menschen klein und austauschbar.« Und er zeigte täglich imFernsehen die Bilder des Grauens. Immer neue Gräuelfotos von ermordeten Albanern. Während die Bundesregierung, wie dargestellt, argumentierte, sagte der Schriftsteller Peter Handke:»Wir wollen ein neues Auschwitz verhindern. Gut, jetzt hat die Nato ein neues Auschwitz erreicht...Damals waren es Gashähne und Genickschusskammern; heute sind es Computer-Killer aus 5000Meter Höhe.« Ich empfand es als wohltuend, dass CDU-Politiker vor der moralischen Überhöhung des deutschenKriegsbeitrags warnten. Denn politisch ist die übermoralisierende Begründung des Krieges im Kosovoein Sprengsatz. Wer so argumentiert wie Fischer und Scharping, kann nicht mehr begründen, warumer Mord und Vertreibung in vielen anderen Teilen der Welt nicht militärisch bekämpft. Nüchtern

abwägende Politiker können begründen, warum das nicht geht. Moralisch argumentierende Politikerhaben auf die Frage, warum sie in anderen Teilen der Welt nicht eingreifen, keine Antwort. Wenn wirMenschenrechtsverletzungen wie im Kosovo ahnden wollten, müssten wir die halbe Weltbombardieren. Es steht jedem selbstverständlich frei, seine Meinung zu ändern, aber ein radikaler Kurswechsel birgtimmer die Gefahr der Übertreibung. Die Gleichsetzung der schrecklichen Vorgänge im Kosovo mitAuschwitz, das Umwandeln von »Nie wieder Krieg« in »Nie wieder Auschwitz« war eine solchunzulässige Übertreibung. Die Kriegspropaganda machte die Serben zu den Bösen und die Albaner zuden Guten. Heißt aber »Nie wieder Auschwitz« nicht auch, dass nie wieder ein ganzes Volk als diealleinige Ursache des Bösen dargestellt werden darf? Auch wenn Fischer später zurückruderte, so kann ich seine Rolle im Kosovo-Konflikt im nachhineinnicht gut heißen. Zwar hatte er frühzeitig die Kehrtwende vollzogen und auf dem Bielefelder Parteitag

der Grünen den Beschluss durchgesetzt, dass auch militärische Gewalt zum Erzwingen des Friedensnotwendig sei. Er hatte aber die Koalitionsvereinbarung unterschrieben und versprochen, sich dafüreinzusetzen, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu bewahren. Musste er all die schlimmenFehler mitmachen, obwohl er als Außenminister die Gelegenheit hatte, massiv dagegenzuhalten? Eswar unverzeihlich, den Amerikanern zu folgen und die UNO zur Seite zu schieben. Wer Frie -denspolitik machen will, muss das internationale Recht stärken. Er darf es nicht schwächen. Genau dasaber ist im Kosovo-Krieg geschehen. Es war unverzeihlich, nicht darauf zu bestehen, dass Russlandeingebunden wird. Wie Gerhard Schröder Primakow behandelt hat, war völlig unangemessen. Erst alsdas Kind schon im Brunnen lag, erkannten Schröder und Fischer, dass ohne Russland keineeuropäische Friedensordnung möglich ist. Wir brauchen in der Außen- und Sicherheitspolitik ein koordiniertes europäisches Handeln. ZumindestDeutschland und Frankreich müssen wie zu den besten Zeiten Giscards und Schmidts oder Mitterrandsund Kohls an einem Strang ziehen. Aber Gerhard Schröder findet keine richtige Einstellung zurfranzösischen Politik. Zudem kann man nicht behaupten, dass die »Kohabitation« zwischen Chiracund Jospin die Handlungsfähigkeit der französischen Politik verbessert. Der britische Premierminister

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Tony Blair kann wenig zur europäischen Handlungsfähigkeit beitragen. Er kämpft mit dertraditionellen britischen Europafeindlichkeit und setzt auf Events und Infotainment. Bezeichnend warauch, dass China zuwenig einbezogen wurde, obwohl China als Atommacht ein Vetorecht im UN-Sicherheitsrat hat. Die, soweit man heute weiß, unbeabsichtigte Bombardierung der chinesischenBotschaft in Belgrad verschärfte die Situation. Anerkannt werden muss, dass Gerhard Schröder beiseinem Besuch in Peking den richtigen Ton traf und erreichte, dass sich die Dinge im Verhältnis zuChina wieder zum Besseren wendeten.  Der so unglücklich verlaufene Kosovo-Krieg gibt jetzt die Möglichkeit, die Out-of-Area-Einsatzplanungen der Nato neu zu überdenken. Zu viele Fragen bleiben unbeantwortet, wenn man derNato diese neue Aufgabe geben will. Dass Soldaten zur Verteidigung ihres Landes und ihrer Familienihr Leben einsetzen, braucht nicht begründet zu werden. Dass sie diese Verpflichtung auch für einanderes Land im Rahmen eines gegenseitigen Beistandspakts übernehmen, kann ebenfalls begründetwerden. Warum aber sollen sie ihr Leben einsetzen, um als Schlichter oder Polizisten in einemBürgerkrieg für Ruhe und Ordnung zu sorgen? Einen richtigen Hass, wie man ihn vielleicht spüre,wenn das eigene Land angegriffen werde, hätten sie nicht gefühlt, sagten Bundeswehrsoldaten nachihrem Einsatz im Kosovo. Die Zweifel führten zu der Strategie der Luftschläge. Man wolltevermeiden, dass Nato-Soldaten ihr Leben ließen. Der Luftkrieg minimierte zwar das Risiko für die

eigenen Soldaten, steigerte aber das Risiko der Albaner und der Serben. Ein Menschenrechts-Interventionismus, der aus verständlichen Gründen das Leben der eigenen Soldaten schont, aber dasLeben anderer Menschen um so mehr gefährdet, stößt auf Skepsis und Ablehnung. Kürzer formuliert,im Namen der Menschenrechte unschuldige Menschen umzubringen, ist auch dann nicht begründbar,wenn solch tragisches Geschehen als Kollateralschaden bezeichnet wird. Hier zeigt sich wiedereinmal, dass im Krieg nichts so verräterisch ist wie die Sprache und dass das erste, was auf der Streckebleibt, die Wahrheit ist. Kann sich irgend jemand vorstellen, dass der Nato-Sprecher Jamie Shea, dermich allein schon deshalb erschreckte, weil er oft so heiter und locker wirkte, den Tod der eigenenFrau oder der eigenen Kinder als Kollateralschaden bezeichnen würde?Ulrich Beck schrieb dazu: »Aus alledem geht hervor, wie groß die Verwirrung ist, die das globaleZeitalter im Felde der Gesellschaft und der Politik stiftet. Die grenzenlose Selbstermächtigung einesmilitärischen Humanismus der Menschenrechte ist äußerst gefährlich. Die Befugnis, mit moralischem

Anspruch in anderen Staaten einzufallen, kann zur Quelle eines neuen Kreuzrittertums derMenschenrechte werden. Es ist in einer Welt voller Diktatoren die Einladung zum unendlichen Krieg,ein Freibrief zum Missbrauch. Und dies im Zeitalter einer technizistischen Militär-Chirurgie, welchedie operative Kontrollierbarkeit des Krieges in der Weltrisikogesellschaft vorgaukelt.« Den gegenteiligen Standpunkt formulierte Vaclav Havel. Er schrieb in einem Essay mit dem Titel»Das Kosovo und das Ende des Nationalstaats«: Die Bombardierung Jugoslawiens, für die es keinUN-Mandat gab, habe »die Menschenrechte über die Rechte des Staates gestellt. ... Dies geschah jedoch nicht in unverantwortlicher Weise, als aggressiver Akt oder in Missachtung des internationalenRechts. Im Gegenteil. Es geschah aus Achtung vor dem Recht, einem Recht, das höher steht als jenes,das die Souveränität der Staaten schützt. Die Allianz hat aus der Achtung vor den Menschenrechtengehandelt, wie es sowohl das Gewissen als auch internationale Rechtsdokumente gebieten.« Dieses»höhere Recht« habe seine »tiefsten Wurzeln außerhalb der wahrnehmbaren Welt«. »Während der

Staat ein Werk des Menschen ist, ist der Mensch ein Werk Gottes.« Anders gesagt: Die Nato durfteinternationales Recht verletzen, weil sie als unmittelbares Werkzeug des >höheren Rechts< Gotteshandelte. Es bedarf keiner großen Phantasie um sich auszumalen, was in Asien, Afrika oderSüdamerika alles möglich wird, wenn sich dort Interventionsstreitkräfte auf das höhere Recht Gottesberufen. Während des Kosovo-Krieges beging die Nato den 50. Jahrestag der Unterzeichnung desNordatlantik-Vertrags. Die Atlantische Allianz hatte sich nicht nur als militärisches Bündnisverstanden. Sie hielt sich immer auch für eine Wertegemeinschaft. Das kann man im Nato-Vertragnachlesen. Hier bekennen sich die Partner zu den Grundwerten der Freiheit in der Demokratie und desRechtes. Sie verpflichten sich, • in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen zu handeln, • jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Weg zu regeln, • den Frieden, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht zu gefährden und • sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung und Gewaltanwendung zuenthalten. 

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Im Kosovo-Krieg hat die Nato alle Verpflichtungen über Bord geworfen. Sie handelte gewaltsam,ohne ein erforderliches Mandat der UNO. Die Militäreinsätze erfolgten unter Bruch des Völkerrechtsund standen im Gegensatz zu den Verpflichtungen des Nato-Vertrags. Das moderne Kriegsvölkerrecht hat seine Grundlagen in den Genfer Abkommen von 1949 und denZusatzprotokollen von 1977, die ebenfalls im wesentlichen gewohnheitsrechtlich von den Völkernanerkannt sind. Das erste Zusatzprotokoll bestimmt, dass weder die Zivilbevölkerung als solche nocheinzelne Zivilpersonen Ziele von Angriffen sein dürfen. Gewaltanwendung mit dem »hauptsächlichenZiel«, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, ist verboten. Genau das aber war das Zielder Bombardierung durch die Nato. Konnte sich die Bundesregierung anfangs noch auf eine hohe Zustimmung der Bevölkerung zu denBundeswehreinsätzen im Kosovo stützen, so änderte sich mit jedem Tag des Krieges dasMeinungsbild. Die Anzeichen verdichteten sich, dass der Krieg die Zahl der Menschenrechtsverletzun-gen nicht verringert, sondern gesteigert hatte. Im Europawahlkampf war die Stimmung schon eine andere geworden. Die Mehrheit der deutschenBevölkerung lehnte die Vorgehensweise der Nato ab. Zu einer Zeit, in der schon wieder überRentenkürzungen und Kürzungen von Arbeitslosengeld geredet wurde, klang es in den Ohren derBürgerinnen und Bürger merkwürdig, dass wir in Jugoslawien Straßen, Brücken, Schienenwege,

Energieversorgungs- und Wasserversorgungsanlagen bombardierten und zerstörten, um sie direkt,wenn die Waffen schwiegen, mit dem Geld der ohnehin gebeutelten Steuerzahler wiederaufzubauen.Die Zerstörung der jugoslawischen Wirtschaft und Infrastruktur war auch eine Folge derKriegführungsstrategie der Nato. Rückblickend müssen wir uns fragen, wo wir hinkommen, wenninternationales Recht missachtet wird und das Grundgesetz bis zur Verbiegung interpretiert wird, weilman sich, ob ausgesprochen oder nicht, auf ein archaisches Recht stützt: das Recht des Stärkeren.Niemand kann in einer Welt des Rechts zugleich Ankläger, Richter und Henker sein. Wer so handelt,darf sich nicht wundern, wenn das international Schule macht. Der Kosovo-Krieg war für dieinternationale Staatengemeinschaft ein Rückschritt. Wenn man diese Politik fortsetzen wollte, dann wäre die erste Konsequenz, dieVerteidigungsministerien wieder so zu benennen, wie sie früher einmal hießen: Kriegsministerium.Ein Verteidigungskrieg war der Kosovo-Krieg sicher nicht. Das Argument, wir müssen die

Menschenrechte verteidigen, trägt allein deshalb schon nicht, weil man Menschenrechte nicht dadurchverteidigt, indem man unschuldige Menschen umbringt. In seinem Buch Die einzige Weltmacht schreibt der ehemalige amerikanische SicherheitsberaterZbigniew Brzezinski: »Tatsache ist schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auchMitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallenund Tributpflichtige von einst erinnern. Das ist kein gesunder Zustand, weder für Amerika noch fürdie europäischen Nationen.« Die Weltpolitik braucht neben der einzigen Weltmacht ein starkes und geeintes Europa. Die einzigeWeltmacht ist so leicht in Gefahr, wie Helmut Schmidt schreibt, »mit innenpolitisch motivierterRücksichtslosigkeit ihre aktuellen Interessen durchzusetzen«. Eine gemeinsame europäischeVerteidigungs- und Sicherheitspolitik, das hat auch der Kosovo-Krieg gezeigt, ist notwendiger denn je.

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Die Mediengesellschaft 

Dass sich die Bedingungen der Politik im Lauf der Zeit deutlich verändert haben, ist heute ein

Allgemeinplatz. Unsere Gesellschaft ist eine Mediengesellschaft geworden. Es ist daher an der Zeit,über die Folgen, die die Mediengesellschaft für die Politik hat, nachzudenken. Meiner Auffassungnach sind es sehr nachteilige Folgen. Damit dieses Urteil nicht als eine persönliche Marotte desmedienkritischen Oskar Lafontaine abgetan werden kann, zitiere ich Wolfgang Schäuble: »Politik im Medienzeitalter... steht unter permanenter Beobachtung und damit unter dauerndemErfolgszwang. Das hat nichts mit dem Herstellen notwendiger demokratischer Transparenz zu tun,sondern es handelt sich um das Umfunktionieren normaler politischer Prozesse in eine Abfolge vonscheinwerferbeleuchteten Ereignissen. Gerade bei Verhandlungen über schwierige Fragen, die einNachdenken über komplexe Zusammenhänge und diskursives Herantasten an sachgerechte Lösungenerfordern, also meistens zeitaufwendig sind, ist eine künstlich dramatisierte Ereignisöffentlichkeit dererste Schritt zur Negativsaldierung des Geschehens in der öffentlichen Wahrnehmung. Denn meldendie beteiligten Politiker nach einem derart aufgeladenen Treffen nicht unmittelbar Vollzug, so gilt das

Gespräch als gescheitert, oder die Nachricht lautet, man habe sich ergebnislos vertagt, was sozusagenein halbes Scheitern ist. Die moderne Infotainment-Kultur huldigt lieber der fetzigen Überschrift, der flotten Schlagzeile undbestenfalls noch Fünf-Zeilen-Meldungen, in denen die komplizierte Wirklichkeit kaum eine Chancehat... Die Inszenierung von Politik wird als ihr Erfolg verkauft, die Substanz bleibt dann entbehrlich.Gerade das Fernsehen hat tiefe Spuren in unserer politischen Kultur hinterlassen, die nicht alle positivsind: die Personalisierung und Skandalisierung der politischen Berichterstattung, was zuentsprechender Wahrnehmung und Bewertung des politischen Geschehens führt; die Distanzlosigkeitdes Mediums gegenüber der Privatsphäre des einzelnen und des sich in die Öffentlichkeit Begebenden,was oft mit einem Verlust jeglicher Würde einhergeht.« Entscheidend ist, dass die Medien, vor allem das Fernsehen, unsere Wahrnehmung verändern unddamit uns verändern. Der Einwand, es komme immer darauf an, was wir aus den Medien machen, ist

bekannt. Aber dieser Einwand ist mehr als zweifelhaft. Er unterstellt, dass wir frei über die Technikverfügen können. Das ist aber eine Illusion. Natürlich können wir über das Fernsehen an einem Gottesdienst teilnehmen. Wir konsumieren dannallerdings nur dessen Bild. Dieser Bilderbuch-Effekt ist aber das Gegenteil von dem, was wirbezwecken, nämlich beim Gottesdienst dabei zu sein. Hinzu kommt, dass solche Bilder, solange es nurdas Medium Film gab, in der Gemeinschaft konsumiert wurden. Heute schauen wir Fernsehsendungenim Kreise der Familie oder mit Freunden an, noch öfter aber allein. Je einsamer die Menschen sind,um so länger sitzen sie vor dem Fernseher. Günther Anders schreibt, dass der Typ des Massen-Eremiten entstanden sei: »In Millionen von Exemplaren sitzen sie nun, jeder vom anderenabgeschnitten, dennoch jeder dem arideren gleich, einsiedlerisch im Gehäus' nur eben nicht, um derWelt zu entsagen, sondern um um Gottes willen keinen Brocken Welt zu versäumen... KeineEntprägung, keine Entmachtung des Menschen als Mensch ist erfolgreicher als diejenige, die dieFreiheit der Persönlichkeit und das Recht der Individualität scheinbar wahrt.« Was bedeutet es, dass wir heute auch den Krieg live im Fernsehen erleben können? Charles Simic, der jugoslawische Lyriker schreibt: »Die Bombardierung von Städten gehört zu den großen Spektakelndes späten 20. Jahrhunderts. Das trifft heute im Fernsehzeitalter in noch viel höherem Maße zu als inden Tagen des Rundfunks und der Tageszeitungen, als vieles noch der Phantasie überlassen bleibenmusste. Jetzt können wir uns mit einem kühlen Bier, einer Tüte Kartoffelchips auf dasWohnzimmersofa setzen und die nächtlichen Bombardements auf Bagdad oder Belgrad verfolgen. Ichbin sicher, dass die Bombardierung von Hiroshima oder Dresden live im Fernsehen übertragen wordenwäre, wenn es die entsprechende Technologie bereits gegeben hätte. Heute sitzen wir in unserenHausschuhen da und schauen uns solche Entsetzlichkeiten an.« Auch hier entsteht, wie bei der Übertragung eines Gottesdiensts die Illusion dabei zu sein. Aber wir

sind eben nicht dabei, sondern trinken Bier oder essen Kartoffelchips. Unsere Wahrnehmung von denschrecklichen Geschehnissen wird verändert und daher auch unser Urteil. Schon den Krieg gegen denIrak erlebten die Fernsehzuschauer als »war game« aus der Computerwelt. Diese Veränderung derWahrnehmung macht auch vor Staatsmännern nicht halt. Der französische Philosoph Paul Virilio

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schreibt: »Heute ist die amerikanische Technologie für Clinton zu einer Art >Wonderland< geworden.Wie ein Kind auf dem Spielplatz, das nicht als schwach abgeschrieben werden möchte, will der Präsident alle seine wunderbaren Instrumente ausprobieren und vorzeigen. Was im Irak bereitsdurchgespielt wurde, wiederholt sich im Kosovo: Die große Supermacht muss einerseits auf demRegister des humanitären Mitleids spielen, andererseits ihrer globalen Vorherrschaft Geltungverschaffen. Also präsentiert sie ihr martialisches Arsenal: nicht nur die Marschflugkörper und die F-107 die bereits im Irak eingesetzt wurden, sondern auch den B-2-Bomber - dessen Preis ungefähr demBruttosozialprodukt von Albanien entspricht.« Viel schlimmer aber noch ist, dass die perfekten Fernsehbilder den Anschein vermitteln, als sei derKrieg kontrollierbar. Fernsehkriegsteilnehmer müssen eine Einstellung zum Krieg haben, dieelementar verschieden ist von der unserer Eltern. Sie haben die Schrecknisse des Krieges auf demSchlachtfeld oder im Luftschutzbunker erlebt. Die Fernsehbilder verändern aber nicht nur unsere Wahrnehmung und unsere Erfahrung. Mehr undmehr bestimmen die Medien auch durch die Auswahl dessen, was sie zeigen, die politischenEntscheidungen. In Amerika nennt sich das »foreign policy by NBC«. Das Fernsehen bestimmt dieAußenpolitik. Horst Grabert, ehemaliger Chef des Kanzleramts bei Willy Brandt und 1984 Botschafter der

Bundesrepublik in Jugoslawien, schrieb, als der Kosovo-Krieg mit der Formel »nie wiederAuschwitz« begründet wurde: »Die Krajina liegt noch näher an Zentraleuropa als der Kosovo. Aberkaum jemand, der sich heute moralisch empört, hat bei der Vertreibung von immerhin rund 220000Serben, die dort seit Maria-Theresia siedelten, nach den Menschenrechten gerufen. Was also ist eineMoral wert, die einen solchen Vorgang nicht registriert, den jetzigen aber dazu nutzt, militärischanzugreifen? Diesen Vorwurf richte ich an die politisch Verantwortlichen und ausdrücklich nicht andie Menschen. Sie sind heute moralisch von der Vertreibung im Kosovo berührt, weil sie über dieMedien persönlich damit konfrontiert wurden. Sie konnten es während der Krajina-Vertreibung nichtsein, weil die Medien nicht oder nur sehr wenig darüber berichtet haben.« Muss es uns nicht nachdenklich stimmen, dass die Entscheidung, ob ein Krieg begonnen wird, durchdie Berichterstattung der Medien bestimmt wird? Henry Kissinger urteilt im Hinblick auf die im Kosovo-Krieg verantwortlichen Staatsmänner

folgendermaßen: »So geschieht es, dass diese Politiker die Außenpolitik eher als einen mitideologischen Zielen verbundenen Aspekt der Innenpolitik betrachten. Die Verfolgung strategischerLangzeitziele rückt dagegen in den Hintergrund. Sie wagten den Kosovo-Einsatz zumindest teilweiseals Reaktion auf das öffentliche Entsetzen und die Fernsehbilder der Flüchtlinge. Doch eine ähnlicheFurcht vor den Bildern alliierter Kriegstoter brachte sie andererseits dazu, eine militärische Strategiezu wählen, die auf perverse Weise die Leiden der Bevölkerung verstärkte, in deren Namen der Kriegangeblich geführt wurde.« Während Rudolf Scharping die täglichen Bilder des Grauens von ermordeten Albanern im Fernsehenzeigte, dachte ich an die Arbeit meiner Frau. Sie hat einen Verein (I)NTACT (Internationale Aktiongegen die Beschneidung von Mädchen und Frauen) gegründet. Weltweit sind 130 bis 150 MillionenFrauen beschnitten. Das Wort »Beschneidung« klingt harmlos. Doch weibliche Beschneidungbedeutet Folter. Denn die Geschlechtsorgane der Mädchen und Frauen werden auf schlimmste Art

verstümmelt. Und sie bleiben es ein Leben lang, da der Eingriff nicht rückgängig zu machen ist. DasMenschenrecht auf körperliche Unversehrtheit wird verletzt. Die Operationen werden nur inAusnahmefällen in medizinischen Einrichtungen von geschultem Personal durchgeführt. Meist findensie in einfachen Hütten unter katastrophalen hygienischen Bedingungen statt. Die Operateure sindtraditionelle Heilerinnen, Hebammen und Barbiere. Der Eingriff, der oft eine halbe Stunde dauert,wird ohne Narkose durchgeführt. Mehrere Frauen halten das Mädchen während der Operation mitGewalt fest. Zwei Millionen Mädchen werden jährlich neu beschnitten. An den unmittelbaren Folgensterben 5 bis 10 Prozent der Kinder. Das sind 100000 bis 200000 junge Mädchen jährlich. Ich stelltemir vor, was wohl passieren würde, wenn diese Bilder des Grauens täglich im Fernsehen gezeigtwürden.  Die Medien verändern aber nicht nur unsere Wahrnehmung, sie beeinflussen nicht nur unsereEntscheidungen, sondern sie formen auch die Akteure, die in den Medien auftreten.  

Die ständige Medienpräsenz führt zu narzisstischen Verhaltensweisen. Als Narzissmus bezeichnet derPsychotherapeut Alexander Löwen sowohl einen psychischen als auch einen kulturellen Zustand:»Auf der individuellen Ebene ist er eine Persönlichkeitsstörung, die gekennzeichnet ist durch eine

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übertriebene Pflege des eigenen Image auf Kosten des Selbst. Narzisstische Menschen sind mehrdaran interessiert, wie sie anderen erscheinen, als an dem, was sie fühlen. Tatsächlich leugnen sieGefühle, die dem von ihnen angestrebten Image widersprechen. Da sie ohne Gefühl handeln, neigensie zu verführerischem und manipulativem Verhalten und streben nach Macht und Herrschaft. Sie sindEgoisten, auf ihre eigenen Interessen ausgerichtet, aber ihnen fehlen die wahren Werte des Selbst -nämlich Selbstausdruck, Gelassenheit, Würde und Integrität. Auf der kulturellen Ebene kann man denNarzissmus an einem Verlust menschlicher Werte erkennen - an einem Fehlen des Interesses an derUmwelt, an der Lebensqualität, an den Mitmenschen. Eine Gesellschaft, die die natürliche Umweltdem Profit und der Macht opfert, verrät, dass sie für menschliche Bedürfnisse unempfindlich ist.Wenn Reichtum einen höheren Rang einnimmt als Weisheit, wenn Bekanntheit mehr bewundert wirdals Würde, wenn Erfolg wichtiger ist als Selbstachtung, überbewertet die Kultur selber das >Image<,und man muss sie als narzisstisch ansehen.« Sehr früh hatte mich die Frage beschäftigt, warum ein Mann wie Ronald Reagan, der keinintellektueller Überflieger ist, amerikanischer Präsident werden konnte. Die Antwort: Er war einPolitiker, der im Medienzeitalter Politik als Infotainment verkaufte. Das konnte er hervorragend. AlsFilmschauspieler wusste er sich im Fernsehen bestens in Szene zu setzen. Ja, er verstand es imFernsehen eine Rede so vorzutragen, dass ich selbst, wie viele Fernsehzuschauer auch, auf den Trick

hereinfiel. Da ich kein Manuskript sah, glaubte ich, Präsident Reagen hielte einen freien Vortrag, undwar beeindruckt. Bis mir ein Medienfachmann erzählte, dass es einen auf dem Bildschirm nichtsichtbaren Teleprompter gebe, auf dem er die Rede ablesen konnte, und zwar so, dass der Zuschauerden Eindruck hatte, der Präsident spreche frei.  Der Zuschauer wird also getäuscht. Und das scheint mir nicht unwesentlich zu sein. Ich selbst habe alsRedner in kleinen oder größeren Versammlungen sehr schnell Kontakt zum Publikum gefunden, undmir gelang es oft, das Publikum zu begeistern. Das sah aber dann im Fernsehen, je nachdem, welcherRedeausschnitt gezeigt wurde, ganz anders, ja oft nachteilig aus. Ein Redner, der das Publikumerreichen will, muss ganz nahe bei dem sein, was er sagt. Er muss auch seine Leidenschaft äußern undversuchen, sein Publikum mitzunehmen. Im Fernsehen, insbesondere bei kurzen Ausschnitten, und nursolche werden in der Regel gesendet, kommt das ganz anders rüber. In seinem berühmten Aufsatz überdie Reproduzierbarkeit des Kunstwerks schreibt Walter Benjamin: 

»Noch bei der höchst vollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks;sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet. Das Hier und Jetzt des Originals machtden Begriff seiner Echtheit aus... Der gesamte Bereich der Echtheit entzieht sich der technischen undnatürlich nicht nur der technischen Reproduzierbarkeit.« Vielleicht stört sich der eine oder andere bei diesen Sätzen an dem Begriff »Kunstwerk«. Doch schonim klassischen Altertum sprach man von der Kunst der Rhetorik. Ich kann verstehen, dass es heuteschwer fällt, von der Kunst des Redens zu sprechen. Aber die Kunst des Redens ist eine Fähigkeit, dieauch dann noch geschätzt werden sollte, wenn die Medien nur noch Halbsätze oder ein, zwei ganzeSätze in den Nachrichten übermitteln.  Dass musikalische Erlebnisse nur unvollkommen durch Videos vermittelt werden können, ist mir beimandalusischen Flamenco aufgefallen. Während mich die Zeitungen in der Toskana wähnten, war ichüber viele Jahre in Spanien, sehr oft in Andalusien. Ich war nicht nur von der Alhambra, der großen

Moschee von Cordoba, von Sevilla oder Ronda begeistert, sondern vor allem vom Flamenco. DerFlamenco ist die ständige Suche nach einem gemeinschaftlichen Gefühl, dem der Interpretstellvertretend für seine Zuhörer Ausdruck verleiht. Er hat weniger den tosenden Applaus zum Ziel alsvielmehr die direkte Kommunikation mit einem kleinen Publikum, in dem jeder sich angesprochenfühlt. Der Flamenco ist über viele Jahrhunderte eine reine Gesangskunst gewesen, doch er istunvollständig ohne die Zurufe und das Händeklatschen der Zuhörer. Als Höhepunkt des Flamencogilt, wenn das, was der Sänger in seinem Innern spürt, mit dem Gesungenen übereinstimmt.  Der bereits von Benjamin beobachtete Verlust an Echtheit machte mir und sicherlich vielen meinerKolleginnen und Kollegen in der Politik zu schaffen. Es entstand die Fensterrede, weil es ja nicht mehrdarum geht, im Parlament in den Debatten die Abgeordneten zu überzeugen. Vielmehr geht es darum,möglichst gut auszusehen und bei den Fernsehzuschauern, die man nicht kennt und die man nichtsieht, gut anzukommen. Diesen Anforderungen entsprach Präsident Reagan in hervorragender Weise.Auch Bill Clinton verkörpert diesen Politikertyp. Er wirkt, wie Ronald Reagan, stets gut gelaunt undhat, wie in der Fernsehwerbung, immer ein aufmunterndes optimistisches Lächeln auf den Lippen.Reagan und Clinton haben viele Nachahmer in der Politik.  Zwar gelingt das ständige Lächeln bei

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weitem nicht jedem, aber einigen ist es doch zur zweiten Natur geworden. Peinlich wird es, wenn dasLächeln so zur Gewohnheit geworden ist, dass es auch dann noch gezeigt wird, wenn der Anlass eintrauriger, gar ein todtrauriger ist. So irritierte mich während des Kosovo-Krieges stets das Lächeln desNato-Sprechers Jamie Shea. Ein Beobachter nannte seine Pressekonferenzen ein »virtuosesVerkaufsgespräch«. Mit Tony Blair betrat auch in Europa ein Politiker die Bühne, der fernsehgerecht war. Tony Blair siehtgut aus, lächelt stets fröhlich und optimistisch und verfügt über die Rhetorik eines guten Predigers.Die Frankfurter Allgemeine Zeitung meint, Blair repräsentiere eher ein Marketingkonzept als einpolitisches Konzept. Jean Baudrillard bescheinigt der politischen Klasse, dass sie keinen »spezifischen Charakter« mehrhabe. »Ihr Ele ment ist nicht mehr Entscheidung und Handlung, sondern das Videospiel.« IhreIntervention beschränke sich mehr und mehr auf »die Berechnung von Spezialeffekten«. Die Politikerverlören ihre »politische Aura« - und »könnten im Mediendenken der Massen durch Vertreter desShowgeschäfts oder des Sports ersetzt werden, das heißt durch echte Profis«.  Das ist eine vernichtende Kritik an der Arbeit der Politiker unserer Zeit. Aber führen die heutigenStrukturen der Öffentlichkeit nicht notwendigerweise dazu, dass Politik nach den Gesetzen desFernsehens und der Fernsehwerbung gemacht wird? Und was sind die Konsequenzen? Politik wird

dann sehr kurzatmig, weil Bilder und Themen schnell wechseln. Es kommt darauf an, in denFernsehnachrichten desselben Tages gut auszusehen. Es kommt darauf an, in den Schlagzeilen desfolgenden Tages, insbesondere in denen der Boulevardpresse, gut wegzukommen. Politik wird da-durch zum Mediengeschäft und löst sich von längerfristigen Konzepten. So war Bill Clinton mit dem Vorhaben angetreten, sozialpolitische Reformen im Gesundheitsbereich,in der Sozialpolitik und im Bildungsbereich durchzuführen. Gelandet ist er bei einer Politik, die denneoliberalen Ansätzen der Republikaner entspricht. Auch seine Außenpolitik lässt ein strategischesKonzept vermissen. Erratisch wirkende Luftangriffe auf den Irak, auf den Sudan, auf Afghanistan undseine Entscheidung, im Kosovo-Krieg ähnlich vorzugehen, belegen das. Es versteht sich, dass Tony Blair derjenige war, der dem amerikanischen Präsidenten immer sofort zurSeite sprang. Charles de Gaulle nannte Großbritannien den Brückenkopf der Vereinigten Staaten inEuropa. Tony Blair wiederum ist es gelungen, mit seinen Spindoctors in Europa den Eindruck zu

vermitteln, als mache er eine ganz neue, nicht traditionell sozialdemokratische Politik. Inwieweit dasInteresse der deutschen Wirtschaftsverbände, England als Musterbeispiel für neoliberale Politikhinzustellen, bei der Entstehung dieses Image geholfen hat, lasse ich einmal dahingestellt. Tatsacheist, dass die wirklichen Entscheidungen der Regierung Blair in der englischen Innenpolitik dasGegenteil von dem sind, was in unverbindlichen marktgerechten Kampagnen vorgegaukelt wird. Wasauch immer die Regierung Blair macht, es wird mit den Etiketten »modern« und »neu« versehen, undschon ist es verkaufbar. »New Labour, New Europe, New everything«, lästert man selbst in derDowning Street.Vielleicht ist ein solcher Politikstil in unserer Mediengesellschaft unvermeidlich. Aber ich kann undwill einem solchen Politikstil nichts abgewinnen. Nachhaltigkeit wäre heute nötig, nichtKurzfristigkeit oder Kurzatmigkeit. Es ist sicherlich unvermeidbar, in Wahlkämpfen die Gesetze derWerbung zu beachten. Aber muss es so sein, dass in den Wahlkämpfen Versprechen gemacht werden,

die nach den Wahlen wieder zurückgenommen werden? In der Steuerpolitik beispielsweise haben wirerlebt, wie Bush, Chirac oder Kohl in diese Falle tappten. Deshalb bestand ich darauf, dass die SPDsolche Fehler nicht machen dürfe. Politischer Erfolg besteht nicht aus hohen Einschaltquoten oder hohen Popularitätswerten. PolitischerErfolg besteht für mich darin, in manchmal zäher und harter Arbeit Verbesserungen für dieLebensbedingungen der Menschen durchzusetzen.  

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Der flexible Mensch 

Immer wenn Mitglieder einer nationalen Zentralbank gefragt werden, warum die Arbeitslosigkeit in

Europa nicht abgebaut werden könne, antworten sie: »Die Geldpolitik hat ihre Aufgabe erfüllt, nurStrukturreformen auf den Arbeitsmärkten werden zu mehr Wachstum und Beschäftigung führen.« Auf diese Standardformel lässt sich auch die Antwort der Europäischen Zentralbank reduzieren, wenn siegefragt wird, warum die Arbeitslosigkeit in Europa so hoch ist. Kein Wort kennzeichnet besser dieFehlentwicklungen der Politik des zu Ende gehenden Jahrhunderts wie das Wort von der Flexibilitätder Arbeitsmärkte. Schon das Wort »Arbeitsmarkt« verleitet zu der Vermutung, dass sich Arbeitskräfte, also Menschen,auf einem Markt feilbieten, auf dem dann irgendwelche Kaufwilligen, also Unternehmer, dieseMenschen beschäftigen. Aber der Mensch ist keine Ware. Im Zusammenhang mit Menschen Wörterzu benutzen, die eigentlich nur auf Dinge anwendbar sind, zeigt den Verlust an Menschlichkeit in derPolitik. Schon lange stört es mich, wenn auch Gewerkschaftskolle gen, die das nicht böse meinen, von»Arbeitsmarkt« sprechen. Und wenn ich selbst einmal im Eifer des Gefechts dieses Wort benutze,

ärgere ich mich nachher darüber. Die menschliche Würde verträgt sich nicht mit einer solchenSprache. Noch problematischer wird es, wenn das Wort «Arbeitsmarkt« ergänzt wird um das Wort»flexibel«. Gemeint ist, dass das Arbeitsrecht - die Bedingungen also, unter denen Menschen Arbeitfinden - so verändert wird, dass mit Menschen disponiert werden kann wie mit Warenbeständen odermit Geldbeträgen. An dieser Stelle wird die Auswirkung der Globalisierungsdebatte am deutlichsten. Die Globalisierungwird als Waffe gegen die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft, des Sozialstaats, eingesetzt.Den europäischen Arbeitern wird erzählt, sie müssten sich dem Wettbewerb mit den Arbeitern auf derganzen Welt stellen. Man verweist auf Länder, in denen es keinen Mindestlohn gibt, in denen rund umdie Uhr gearbeitet wird, und das für einen Lohn, der nur ein Bruchteil des europäischen Lohnes ist. Indiesen Ländern gibt es keine Gewerkschaften, und Kinder müssen ebenfalls arbeiten. Daher müssenwir auch in Europa flexibel sein, sagen die Neoliberalen. Sie vermeiden es, mehr Nachtarbeit, mehr

Wochenendarbeit, mehr Überstunden und niedrigere Löhne zu fordern. Das Wort flexibel klingt somodern und hat eine verschleiernde Wirkung. Dabei ist es bezeichnend, dass die Vorschläge zur Flexibilität in der Regel von Berufsgruppenkommen, die nicht im Traum daran denken, für sich selbst flexible Arbeitsverhältnisse wie 630-Mark-Jobs oder Zeitarbeitsverträge auch nur zu erwägen, wie etwa von Mitgliedern der Zentralbankräte oderProfessoren, die auf Lebenszeit Beamte sind. Das Normalarbeitsverhältnis, das dem Arbeitenden einesoziale Sicherung und einen Zeitrahmen gibt, in dem er sein Leben planen kann, ist eine wichtigekulturelle Errungenschaft der modernen Gesellschaft. Wie das Arbeitsverhältnis in der Zukunftaussehen soll, das ist eine zentrale Frage der Politik. An dieser Stelle entscheidet sich, obMenschlichkeit und Humanität Grundlagen einer modernen Gesellschaft bleiben. Wenn dasNormalarbeitsverhältnis immer weiter ersetzt wird durch flexible Beschäftigungsverhältnisse, danngeht der Gesellschaft etwas verloren.  Schon Max Weber sprach davon, dass der Mensch ein Gehäuse brauche, um seine Zeit auszulegen.Der amerikanische Soziologe Richard Sennett sagt, dass Normalarbeitsverhältnisse derCharakterbildung dienen. Sie vermitteln Werte wie Treue und gegenseitige Verpflichtung. Sie befähi-gen, langfristige Ziele zu verfolgen. Umgekehrt führen flexible Arbeitsverhältnisse, wenn kein andererAusgleich gegeben ist, nach seiner Meinung zur Zerstörung des Charakters und zum Verlust derSelbstachtung. Der Abbau der sozialen Sicherheit und des Kündigungsschutzes erzeugt bei denMenschen Angst, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren. Flexibilität und Mobilität führen dazu,dass Freundschaften flüchtig bleiben und die Eingebundenheit der einzelnen in die örtlicheGemeinschaft immer brüchiger wird. Auch auf die Familien wirken sich Flexibilität und Mobilität aus.Während die Familie Bindung fordert, fordern Fle xibilität und Mobilität, in Bewegung zu bleiben undkeine Bindungen einzugehen. 

Das Wort »Beruf« hat etwas mit Berufung zu tun. Der Verlust der beruflichen Identität ist für dieMenschen oft mit Schmerzen verbunden. Bei der Wiedervereinigung war zu beobachten, dass nichtnur materielle Wünsche der Ostdeutschen unerfüllt blieben. Vielmehr war oft zu hören, dass der Bruchin der Arbeitswelt und der Verlust des erlernten Berufs zu einem Gefühl der Wertlosigkeit geführt

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haben. Von der Entwertung der menschlichen Fähigkeit war die Rede, und diese kann eben nicht inbetriebswirtschaftlichen oder ökonomischen Kategorien ausgedrückt werden. Daher ist die Frage,unter welchen Bedingungen die Menschen arbeiten, heute eine Kernfrage der Gesellschaft. Und dieseKernfrage muss die Linke anders beantworten als die neoliberalen »Modernisierer«. Dieser Kernfragekann man nicht ausweichen, indem man darauf verweist, dass ein Rentner mit einem 63o-Mark-Jobseine Rente etwas aufbessern kann oder dass eine Hausfrau, nachdem sie die Kinder großgezogen hat,sich ein Taschengeld dazuverdienen kann. Um solche Fälle geht es nicht. Der Rentner hatte in derRegel ein identitätsstiftendes Normalarbeitsverhältnis, und für die Hausfrau war die Erziehung derKinder und die Familienarbeit identitätsstiftend. Es geht vielmehr um die Auflösung desNormalarbeitsverhältnisses durch geringfügige Beschäftigungsverhältnisse und befristeteArbeitsverträge.  Noch arbeiten in Deutschland 27,7 Millionen Menschen in Vollzeitarbeitsverhältnissen. Doch dieStammbelegschaften schrumpfen. 3,9 Millionen Arbeitnehmer haben bereits einen befristeten Vertrag.Auch die Zeitarbeit boomt. 1998 waren 575ooo Menschen als Leiharbeiter im Einsatz. Fünf Jahrezuvor waren es noch 266000. Viele hoffen, auf diesem Weg den Sprung in eine feste Anstellung zuschaffen. Die 63o-Mark-Jobs, deren Zahl auf 3 bis 6 Millionen geschätzt wird, repräsentieren inDeutschland einen breiten Niedriglohnsektor, der durchaus mit dem der viel gelobten Vereinigten

Staaten vergleichbar ist. Dazu kommen die Scheinselbständigen. Wenn sie ihre Arbeit verlieren,bekommen sie weder Arbeitslosengeld noch eine gesetzliche Rente. Ein Kündigungsschutz bestehtebenfalls nicht. Wer entlassen wird, weil er krank oder zu alt ist, dem bleibt nur noch die Sozialhilfe.Bei der Scheinselbständigkeit herrscht das Gesetz des Marktes. Seltene Spezialisten, wie Informatiker, sind gefragt. Sie verdienen sehr viel und haben natürlich dieMöglichkeit, sich privat gegen Risiken zu versichern. Diejenigen unter den neuen Scheinselbständigenaber, die Niedriglöhne erhalten, müssen jeden Arbeiter oder Angestellten um sein sicheres Gehaltbeneiden. Die klassischen Selbständigen wie Ärzte und Anwälte, Handwerker und Architekten stehennicht allein da. Sie haben sich in Kammern, Innungen und Berufsverbänden organisiert. DieseEinrichtungen helfen ihnen, wenn sie Probleme haben. Die neuen Selbständigen aber, insbesonderediejenigen, die zu sehr niedrigen Löhnen arbeiten, haben niemanden, der sich für sie zuständig fühlt.Es ist gut, dass Gewerkschaften sich jetzt um diese Leute kümmern. Die Rechnung,

Sozialversicherungsbeiträge zu sparen, geht gesamtgesellschaftlich nicht auf. Was die Firmen sparen,zahlt die Gesellschaft, sobald ein Scheinselbständiger seine Arbeit verliert, als Sozialhilfe.  Es war daher richtig, dass die rot-grüne Bundesregierung unmittelbar nach dein Machtwechseldaranging, die Auswüchse der Flexibilität in der Arbeitswelt zu begrenzen. Es war ebenso richtig,einen Trend zu stoppen, der darauf hinauslief, dass sich immer mehr Mitbürger der Pflicht, Beiträge andie sozialen Sicherungssysteme zu zahlen, entziehen wollten. Die sozialen Sicherungssysteme dienendem Zusammenhalt der Gesellschaft. Sie sollen auch denjenigen zugute kommen, die unverschuldet inNot geraten sind. Diesen zu helfen ist aber nicht nur Aufgabe eines Teiles der Gesellschaft. EinSozialstaat definiert sich gerade dadurch, dass alle Staatsangehörigen über die Sicherungssysteme ein-ander Solidarität und Hilfe gewähren. Die neoliberale Auffassung, dass eine private Versicherung der Lebensrisiken einer sozialstaatlichenvorzuziehen sei, ist ein Rückfall in das Denken des 19. Jahrhunderts. Dieser Meinung sind in der

Regel die Mitbürger, die nach menschlichem Ermessen nicht in die Situation existentieller undmaterieller Not geraten. Auffallend war nur, dass beim Frontalangriff auf die Neuregelung dergeringfügigen Beschäftigungsverhältnisse und der Scheinselbständigkeit nur der Arbeitsminister undeinige Abgeordnete der Bundestagsfraktion dagegen hielten. Es gelang der Regierung nicht, deutlichzu machen, dass es im Kern um den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft geht. Auch einemoderne Gesellschaft kann das, was in vielen Jahren an verlässlichen Beziehungen in der Arbeitsweltaufgebaut wurde, nicht preisgeben. Letztlich sind verlässliche Beziehungen Grundlage einesdemokratischen Staates. Ohne verlässliche Bindungen kommt auch eine moderne, demokratischeGesellschaft nicht aus. Eine Job-Hopper-Gesellschaft, in der viele Menschen ohne sozialeAbsicherung zu ständiger räumlicher und beruflicher Mobilität verpflichtet sind, ist keine humaneGesellschaft. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass ungesicherte Arbeitsverhältnisse im Medienbereich dazuführen, dass die Mitarbeiter die Schere schon im Kopf ansetzen und die Beschränkungen einereventuellen Zensur vorwegnehmen. Schließlich möchten sie ihren Arbeitsplatz behalten. Europaweitist ein ähnlicher Effekt im Bildungsbereich zu beobachten. Die jungen Nachwuchskräfte werden zu

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unsicheren Bedingungen eingestellt und erhalten ungenau definierte Arbeitsgebiete. Sie sind dadurchzu einer bestimmten Art von Konformismus verurteilt. Ähnliches wird auch für die Forschungbeobachtet. Wenn der Trend zu ungesicherten Arbeitsverhältnissen weitergeht, wird die Gesellschafteines Tages feststellen, dass die ökonomische Zensur schlimmer sein kann als eine politische Zensur.Sie hat weitreichende soziale Auswirkungen.  Die Soziologen sprechen bereits von einer Mentalität der Unsicheren. Die Organisation desArbeitsmarkts hat auch etwas mit Freiheit und Demokratie zu tun. Um frei zu sein, braucht man einefeste Arbeit. Der zeitlich befristet Beschäftigte muss bei allem, was er tut, daran denken, was die- jenigen dazu sagen, die über seine Weiterbeschäftigung entscheiden. Es entsteht eine ArtUnterordnung. Die Zensurmechanismen sind auf den ersten Blick nicht erkennbar. Claus Koch hat in der Süddeutschen Zeitung auf den mit der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisseeinhergehenden Verlust an Verantwortlichkeit hingewiesen: »Ein deutscher Männertyp, dem manimmer seltener begegnet, der hagere Arbeiter ... Ein Mensch der Maschinenwelt und ihrer Ar-beitsorganisation, daher autoritär im Dienst der Maschinen und Organisationsvernunft, aber auch zähim Rebellieren. Ein Typ der Verantwortlichkeit ... Die Dienstleistungsgesellschaft kann mit einerVerantwortlichkeitsmoral dieser Art nichts anfangen, weil diese Autorität auch Erfahrung voraussetzt,somit auf Dauerhaftigkeit gestellt ist. Das ist den windschlüpfrigen Selbstvermarktern unbequem.«  

In einem Thesenpapier des wirtschaftspolitischen Diskussionskreises von Gerhard Schröder, das imSeptember 1997 veröffentlicht wurde, wurden diese Zusammenhänge noch gesehen. Es hieß dort:»Die Menschen bei uns lehnen den Irrweg der konservativen Ideologien ab, also demAnpassungszwang einer globalisierten Ökonomie durch Abbau der Arbeits- und der sozialenBeziehungen zu genügen. Denn die Phänomene sozialer Erosion in den USA und zunehmend auch inGroßbritannien sind unübersehbar. Die angestrebte Synthese von hochmoderner Ökonomie undsozialer Integration ist dort nirgends in Sicht.« Und weiter heißt es: »Deshalb müssen wir dieRahmenbedingungen für einen effizienten Einsatz des Faktors Arbeit in Deutschland neu justieren.Angesichts des hohen Veränderungsdrucks von außen, angesichts des Verlusts traditionellerSicherheiten werden die Menschen aber die von ihnen gewünschte, nie geforderte Mobilität undFlexibilität nur nachvollziehen, wenn sie sicher sein können, dass ihre existentielle Lebensgrundlagenicht bedroht ist. Nur in einem >Korridor der Verlässlichkeit< werden alte Positionen geräumt,

werden neue Wagnisse eingegangen.« Die Verfasser dieses Schröder-Papiers waren Hombach undMandelsohn weit voraus.

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Der dritte Weg ist ein Holzweg

Nach meinem Rücktritt war die Reaktion der Presse fast einheitlich. Nun habe Gerhard Schröder dieChance, die »Modernisierung« endlich in Angriff zu nehmen. Allzu lange habe er Lafontaine und demParteiapparat nachgegeben. Der Spiegel schrieb: »Nun strebt Schröder eine schnelle Stimmungswendean. Mit neuem Elan wollen die SPD-Modernisierer ihre Projekte vorantreiben, unterstützt durch dieGrünen, die am vergangenen Freitag rasant auf einen wirtschaftsliberalen Kurs einschwenkten: • Die Steuerreform, Teil eins, wird zwar durchgezogen. Aber schon zum i. Januar 2000 soll dieIndustrie kräftig von einer Reform der Unternehmenssteuern profitieren. Den Familien soll dasKarlsruher Urteil zugute kommen. • Neuen Schwung versprechen sich die Schröder-Leute für das Bündnis für Arbeit und denEnergiekonsens: ohne Buhmann Lafontaine kann Schröder mit wohlgesinnten Unternehmern rechnen.  • Handwerklich saubere Arbeit fordert der Kanzler für die weiteren Reformvorhaben, die die

Wirtschaft treffen: Gesundheit, Rente, Niedriglohn. Endlich soll ver- wirklicht werden, was der Kanzler nach dem Chaos der ersten 100 Tage versprochen hat: Genauigkeitvor Schnelligkeit. Lobbyisten und Wirtschaftsverbände triumphierten über Lafontaines Abgang, als gelte es, den zweitenSieg des Kapitalismus über die Planwirtschaft zu feiern. >Das ist einer der schönsten Tage meinesberuflichen Lebens<, jubelte Hans Schreiber, Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes der Ver-sicherungsunternehmen: Lafontaine war ein Kapital- und Arbeitsplatzvernichter.< Blendend gelauntkommentierte auch Hans-Olaf Henkel die Nachricht. >Jetzt hat sich der Kanzler von einer Fußfesselbefreit<, frohlockte der Industriepräsident, >nun hat er nur noch eine - und die heißt Trittin.< DieBörsen erlebten ein Kursfeuerwerk wie schon lange nicht mehr: Binnen sieben Minuten legte dieeuropäische Währung gegenüber dem Dollar um zwei Cent zu; der Deutsche Aktienindex Daxkletterte am Freitag in der ersten Viertelstunde im Vergleich zum Vortag um über 300 Punkte, mithin

um 6 Prozent - Vorschußlorbeeren für Schröder.« Die albernen Jungs des britischen Boulevardblattes Sun  jubelten ebenfalls und taten so, als seien ihredämlichen Überschriften der Anlass für meinen Rücktritt. Unter unseren Gegnern gibt es bekanntlich solche und solche. Fjodor M. Dostojewski, einer meinerLieblingsautoren, schreibt: »Zudem gibt es ja verschiedene Opponenten: nicht mit jedem kann man sich in ein Gesprächeinlassen. Ich will hierzu eine Fabel erzählen, die ich vor ein paar Tagen hörte. Man sagte mir, es seieine uralte Fabel, womöglich indischen Ursprungs, was überaus beruhigend ist. >Einmal geriet einSchwein mit einem Löwen in Streit und forderte ihn zum Duell. Nach Hause zurückgekehrt, besann essich und bekam Angst. Die ganze Herde versammelte sich, man dachte nach und beschloss also:,Siehst du, Schwein, hier in der Nähe ist eine Jauchegrube; geh hin, wälze dich in ihr herum, underscheine dann so auf dem Kampfplatz. Dann wirst du schon sehen.' Das Schwein tat, wie ihmgeheißen. Der Löwe kam, schnupperte, zog die Nase kraus und ging weg. Noch lange nachher rühmtesich das Schwein, dass der Löwe Angst bekommen hätte und vom Kampfplatz weggelaufen sei.<«  Wäre es nur der Geruch der Jauchegrube gewesen, um in der uralten Fabel zu bleiben, so wäre ichnicht vom Kampfplatz gegangen. Ich war über dreißig Jahre auf dem Kampfplatz und habe denGeruch oft in der Nase gehabt. Widerstand hat mich nicht zur Resignation gebracht, sondern eher zugrößeren Anstrengungen angespornt. Während des Bündnisses für Arbeit musste ich mich oftverstellen, um ein spöttisches Grinsen zu unterdrücken. Die ökonomischen Auffassungen derVerbandssprecher der Arbeitgeber halte ich, wie man mittlerweile weiß, für töricht. Es bereitete mirVergnügen, ihnen ökonomische Daten entgegenzuhalten, die zumindest kurzfristig für Irritationensorgten. Bei meiner Analyse der gesellschaftlichen Zusammenhänge und meinem Plädoyer für dieAbkehr vom Neoliberalismus müsste ich an mir zweifeln, wenn meine Politik nicht auf Widerstände

stoßen würde. Ausschlaggebend für meinen Rückzug war, dass Gerhard Schröder das Mandat der Wählerinnen undWähler hat und dass ein sozialdemokratischer Parteivorsitzender nicht die grundsätzlicheAuseinandersetzung mit dem sozialdemokratischen Bundeskanzler suchen kann.  

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Mit Verwunderung und Zorn verfolgte ich, wie nach meinem Rücktritt Gerhard Schröder versuchte,die SPD auf den Holzweg des sogenannten dritten Weges zu führen. Ich bin zu der Einsichtgekommen, dass Teile der SPD-Führung, allen voran der neue Parteivorsitzende, nicht verstandenhaben, womit und warum wir die Bundestagswahlen gewonnen haben.  Besorgt schrieb der Vorsitzende der ÖTV, Herbert Mai, den Mitgliedern seiner Gewerkschaft, zudenen ich auch gehöre, am zz. März 1999 einen Brief: »Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Entwicklungen und Ereignisse der vergangenen Wochen habeneine Debatte darüber ausgelöst, ob die neue Bundesregierung einen Politikwechsel einleiten und dabeidie Interessen der Wirtschaft stärker als bisher berücksichtigen solle. Dazu beigetragen haben massiveInterventionen der Wirtschaftsverbände und bestimmter Branchen sowie deren einseitigepublizistische Unterstützung durch konservative Medien. In dieser Situation in einen Wettbewerbzwischen SPD und Bündnisgrünen einzutreten und den Unternehmen in kurzen Abständen immerniedrigere Steuersätze sowie weitere Deregulierungen des staatlichen Ordnungsrechts anzubieten birgtdas Risiko einer wachsenden Abhängigkeit der Regierungstätigkeit von Entscheidungen, die inWirtschafts- und Arbeitgeberverbänden sowie einzelnen Konzernzentralen getroffen werden. DasErgebnis der Bundestagswahl vom 27. September 1998 war eine deutliche Absage an die vonCDU/CSU und FDP angekündigte Fortsetzung einer vornehmlich angebotsorientierten Wirtschafts-,

Steuer-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. SPD und Bündnis 90/Die Grünen errangen die parlamen-tarische Mehrheit, weil beide Parteien versprochen haben, die Beschäftigungspolitik in denMittelpunkt ihres Regierungshandelns zu stellen, die materielle Umverteilung von unten nach oben zubeenden und für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen.« Damit man das Urteil von Eierbert Mai nicht als Vorurteil eines »Traditionalisten« zur Seite legenkann, zitiere ich das Institut für Demoskopie Aliensbach. Es kam im Juni 1999 in der Frankfurter  Allgemeinen Sonntagszeitung unter der Überschrift »Verlieren die sozialdemokratischen Konzepte anGlanz?« zu dem Ergebnis: nicht die Leitidee, sondern die Regierungspolitik wird abgelehnt:»Angesichts der Wahlergebnisse, die die SPD-geführte Regierung in diesem Jahr hinnehmen musste,stellt die Bevölkerung heute der SPD, nur wenige Monate nach dem triumphalen Ergebnis bei derBundestagswahl, eine negative Prognose. Immer mehr erwarten, dass die SPD künftig weiter anRückhalt verliert. Nimmt man die offene Distanzierung des Bundeskanzlers in dem gemeinsamen

Papier mit Tony Blair von dem bisherigen SPD-Programm wie von der eigenen Politik der ersten neunMonate hinzu, drängt sich der Eindruck auf, dass sozialdemokratische Konzepte in der Gesellschaftheute nur noch so geringe Anziehungskraft ausüben, dass selbst der SPD-Vorsitzende sich damitkeinen Erfolg mehr verspricht. Dabei kann keine Rede davon sein, dass klassische sozial-demokratische Leitideen in der Bevölkerung aus der Mode gekommen sind. Ein starker fürsorglicherStaat, ein weit ausgebautes soziales Netz und Gleichheitsideale haben in der Bevölkerung einen hohenStellenwert. Der Ausgang der Bundestagswahl war ein Plebiszit für die Erhaltung des Sozialstaats,gegen die Reformpolitik der alten Regierung. Es ging den Wählern keineswegs, wie häufigangenommen, primär um neue Gesichter... Mehr Eigenverantwortung, weniger Staat - damit verbindetdie Bevölkerung in erster Linie die Erwartung einer zunehmenden sozialen Differenzierung, mehrKälte und Egoismus, wachsende Arbeitslosigkeit, Unsicherheit und weniger Schutz für Benachteiligteund Minderheiten... Nicht nur ein starker Staat und ein möglichst umfassendes soziales Netz, sondern

auch die Gleichheitsideale, die ein fester Bestandteil sozialdemokratischer Programmatik sind, findendurchaus nach wie vor breite Resonanz. Eine relative Mehrheit ist überzeugt, dass sich ein Land besserentwickelt, in dem nicht nur Chancengleichheit gewahrt wird, sondern das auch nach Gleichheit imErgebnis strebt. Die wachsende Kritik an der Regierung ist daher nicht darauf zurückzuführen, dassdie klassischen sozialdemokratischen Konzepte in der Bevölkerung an Anziehungskraft verlorenhätten.« Im Sommer 1999 wurden wieder Nullrunden bei den Löhnen oder eine Anhebung der Löhne nur imRahmen des Inflationsausgleichs gefordert, um die Arbeitslosigkeit abzubauen. Dabei wurdeübersehen, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland in genau der Zeit verstärkt anstie g, in der dieLohnquote am stärksten zurückging, nämlich in den letzten zwanzig Jahren. Dem DGB-VorsitzendenDieter Schulte blieb nur noch eine grobe Antwort. Er sagte, es gebe gute und weniger guteVorschläge, und es gebe blöde Vorschläge. Der Vorschlag, die Löhne nur im Rahmen des Inflati-onsausgleichs zu erhöhen, gehöre sicher zu den blöderen Vorschlägen. Der Juso-Landesvorsitzende von Mecklenburg-Vorpommern, Matthias Brodkorb, macht deutlich, dassdie Diskussionsbeiträge der »Modernisierer« sich allmählich der Lächerlichkeit preisgeben. Er

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spottete: »Wir fordern Solidarität von den Unternehmern. Ihre Gewinne sind alleine 1998 um 30,5Prozent gestiegen. Wir schlagen vor, auch die Gewinnentwicklung an die Inflationsrate zu koppeln.« Er sprach mir aus dem Herzen. Es ist nicht zu fassen. Die Aktienkurse stiegen nach der DeutschenEinheit Jahr für Jahr, und der Dax steht auf historisch hohem Niveau. Die Gewinne der Unternehmensind explodiert. Die Zahl der Milliardäre hat zugenommen. Große Vermögen werden jährlich vererbt.Die Deutsche Steuergewerkschaft sagt, dass mehr als 800 Milliarden Mark von den Deutschen amStaat vorbei in Steueroasen verschoben wurden. Der Internationale Währungsfonds schätzt solcheFluchtgelder in Steueroasen international auf sieben Billionen Dollar. Die Reallöhne der Arbeitnehmerstagnieren oder sinken, und da schwafeln sie schon wieder über Nullrunden. Leistung, das heißtArbeit, lohnt sich immer weniger, Geldbesitz lohnt sich immer mehr. Welche Entwicklung hat zudieser geistigen Verwirrung geführt, die uns täglich mit solch abenteuerlichen Vorschlägenkonfrontiert? Erinnern müssen wir uns daran, dass schon die Regierung Kohl im Jahre 1982 gemerkt hat, dass etwasin unserer Gesellschaft nicht stimmte. Sie versprach eine geistig-moralische Wende. Sie versprachmehr Anstand, mehr Gemeinsinn, mehr Zusammenhalt. Und sie versprach selbstverständlich einestärkere Orientierung der Gesellschaft an den konservativen Werten. Am Ende ihrer Regierungszeitwaren die Dinge aber nicht besser geworden. Im Gegenteil: Heute sprechen viele von der

Ellbogengesellschaft. Mobbing ist zum neuen Modewort geworden. Unter dem Deckmantel vonLiberalität und Individualismus triumphieren Ichsucht und Selbstbezogenheit. Gesellschaftskritikerbeklagen den fortschreitenden Verfall der Werte. Wer wie die Regierung Kohl die Politik auf Marktradikalismus und Deregulierung ausrichtete, musste den sozialen Konsens aufs Spiel setzen.  Zu Recht sprachen wir vor der Bundestagswahl von der Entsolidarisierung der Gesellschaft. Dabeiwussten wir, dass nicht die Politik allein die Ursache des gesellschaftlichen Wertewandels ist. Wennsich aufgrund des gestiegenen Wohlstandes die Bindungen einzelner an herkömmliche Institutionenwie Familie, Kirche oder Gewerkschaften lockern, dann relativieren sich Normen und Werte. DieHomogenität früherer Gesellschaftsklassen und -schichten hat sich in eine Vielzahl sozialer Milieusaufgelöst. Entsprechend unterschiedlich sind Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen. Die Medien, voran die visuellen, helfen kräftig mit, aus Relativität Unverbindlichkeit, aus PluralismusBeliebigkeit zu machen. Unter Liberalität wird verstanden, dass im Prinzip fast alles gleichermaßen

gilt, fast alles gleichermaßen erlaubt ist. Gewertet wird in erster Linie nach dem Maßstab derZuschauerquote. Was bewegt viele Menschen, die für ein paar Groschen ohne Anzeichen von Schamin Talk-Shows ihr Intimstes vor einer voyeuristischen Öffentlichkeit entblößen? Worin liegt der Reizder vielen Filme, in denen Gewalt ästhetisiert oder verherrlicht wird? Und wie viel hat Politik dabei zuverantworten? Der individualistische Freiheitsbegriff des Neoliberalismus gefährdet ironischerweisesich selber. Er verkennt, dass individuelle Freiheit nur so lange gedeiht, wie sie in gesellschaftlicheSolidarität eingebettet ist. Durch eine Auffassung von Freiheit, die die Individualität überbetont, aberdie gesellschaftliche Solidarität vernachlässigt, werden die Menschen voneinander getrennt. Schon Alexis de Tocqueville, selbst ein Liberaler, hat eine solche Entwicklung vorausgesehen. »Ichwill mir vorstellen«, schreibt er, »unter welchen neuen Merkmalen der Despotismus in der Weltauftreten könnte: Ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sichrastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr

Gemüt ausfüllen. Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller anderen fremd gegenüber:Seine Kinder und seine persönlichen Freunde verkörpern für ihn das ganze Menschengeschlecht; wasdie übrigen Mitbürger angeht, so steht er neben ihnen, aber er sieht sie nicht; er berührt sie, und erfühlt sie nicht; er ist nur in sich und für sich allein vorhanden.« Über diese Masse von Vereinzelten, meint Tocqueville, könne man leicht eine absolute Herrschaftstülpen. Sie müsse nur Sicherheit, Ordnung und billige Vergnügungen garantieren und für die Einsichtsorgen, dass dies auch zum Glücklichsein ausreiche. »Der Despotismus«, schreibt er, »kann sichseines Fortbestands nie sicherer sein, als wenn es ihm gelingt, die Menschen voneinanderabzusondern.« Nun ist die Gefahr eines wie auch immer gearteten neuen Totalitarismus keineswegs gebannt. Wennheute zum Beispiel kritische Geister angesichts bestimmter Entwicklungen derInformationsgesellschaft vor einem möglichen Totalitarismus warnen, dann ähneln ihre Befürchtungendenjenigen Tocquevilles: In dem Maß, wie die isolierten und entsolidarisierten Individuen oderGrüppchen über die Bildschirme durch eine Flut seichter Unterhaltung und gefärbter Informationenzufrieden - oder zumindestens ruhiggestellt werden, könne die absolute politische Herrschaft in diesel-

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ben Hände fallen, in denen die demokratisch unkontrollierte Verfügungsmacht über die Medien liegt.Die Wahl des Medienmoguls Berlusconi zum italienischen Ministerpräsidenten ist ein Signal.  Am Ende des 20. Jahrhunderts entspricht die politische Ideologie des Neoliberalismus vordergründigeinem Zeitgeist, der die Individualisierung der Gesellschaft verklärt. Die FDP beispielsweise gefälltsich deshalb in der Vorstellung, ihr gehöre die Zukunft. Verständlich ist diese politische Fata Morgana ja: Jede Partei, die über Jahre am Abgrund des politischen Existenzverlusts steht, braucht zum Erhaltdes Selbstbewusstseins die Illusion einer verheißungsvolleren Zukunft. Der blinde Eifer aber, mit demsich Neoliberale und »Modernisierer« ans Stutzen der Sozialleistungen machten, behinderteoffensichtlich das Nachdenken über die Probleme, die in einer entsolidarisierten Ellbogengesellschaftentstehen. Denn wenn es richtig ist, und dafür spricht vieles, dass eine entsolidarisierte Gesellschaftfür autoritärere Formen von Gemeinschaft anfälliger wird - man denke nur an die Erfolge derRechtsradikalen bei den Landtagswahlen -, dann untergräbt letztlich ein sozialstaatlich ungebremsterWirtschaftsliberalismus das gesellschaftliche Fundament der individuellen Freiheit. Vor diesem Hintergrund sind die Debatten beim Nachwuchs der SPD und der Grünen mehr alsverwunderlich. Gerade hat die FDP in allen Wahlen erfahren, wie »begeistert« die Menschen vonihren Vorstellungen sind. Und die  soziale Wirklichkeit in den liberaleren angelsächsischenDemokratien sollte dem politischen Nachwuchs der SPD und der Grünen eigentlich bekannt sein.  

Auch wenn heute die demokratischen Strukturen der westeuropäischen Gesellschaft denjenigen dernordamerikanischen weitgehend gleichen, haben doch die europäischen Länder andere geschichtlicheEntwicklungen hinter sich. Sie haben andere Traditionen und eine andere politische Kultur. Dieindividualistisch-freiheitliche Tradition in den Vereinigten Staaten wird in der Welt bewundert.Gleichwohl hat sie ihre Schattenseiten. Ein Blick in die Geschichte der Emigration aus der »Alten« in die »Neue Welt« im 19. Jahrhundertgenügt, um festzustellen, wie stark zum Beispiel die Anziehungskraft der Vereinigten Staaten auf denanarchistischen Flügel der europäischen Arbeiterbewegung war. Es gehört zur Ironie der Geschichte,dass diese ursprünglich anarchische Veranlagung der nordamerikanischen Gesellschaft ausgerechnetdasjenige Gebiet am nachhaltigsten geprägt hat, auf dem die anarchistischen Emigranten sie noch amehesten hätten missen wollen: den Bereich der Ökonomie. Neuerdings haben amerikanischeKommunitaristen ihren Landsleuten wieder bewusst gemacht, wie sehr die anarchische Veranlagung

der angloamerikanischen Marktwirtschaft die Herausbildung von Gemeinsinn und gesellschaftlicherSolidarität behindert. In einem schon klassischen Plädoyer für eine »starke Demokratie« schreibtBenjamin Barben »Die anarchistische Disposition hat zwar ein ausgeprägtes Gespür für öffentlicheZwangsgewalten - für den Staat, die Mehrheit, ja selbst für die gebieterische Erhabenheit des Rechts -,bleibt aber gegenüber privaten Zwangsgewalten blind, gleichgültig ob sie Aktiengesellschaften oderdem anarchischen Geist entspringen.« Den Europäern bekäme es sicherlich nicht schlecht, wenn sie in manchen Bereichen der Gesellschaftweniger auf den Staat fixiert wären. Und es bekäme auch ihren politischen Vertretern nicht schlecht,wenn sie einiges von ihrer Zuständigkeit in die Hände der Gesellschaft legten. Dass die politischenRepräsentanten von den Bürgerinnen und Bürgern für alles, was schlecht läuft, verantwortlichgemacht werden, ist die Antwort darauf, dass sich diese Repräsentanten ihrerseits für alles, was gutläuft, verantwortlich erklären. Eine Kultur der demokratischen Beteiligung setzt voraus, dass die zivile

Gesellschaft einen Teil der Verantwortung übernimmt. Die Staatsfixierung der europäischen Gesell-schaft steht der Herausbildung jenes innovativen Pioniergeists, von dem die nordamerikanischeGesellschaft so starke Impulse erhält, im Weg. Aber genauso wenig fördert es den Zusammenhalt unddas allgemeine Wohlbefinden der Gesellschaft, wenn dafür im Wirtschaftsleben ein fundamentalerAnti-Etatismus herrscht und die politische Handlungsfähigkeit lahm legt. Kein anderer Bereich des gesellschaftlichen Lebens wird stärker vom individuellen Gewinnstrebengeprägt als die Ökonomie. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass selbst diejenigen, die ansonsten jedem Hauch von libertärem Geist in der Gesellschaft abgeneigt sind und nur allzu schnell nach »lawand order« rufen, bedenkenlos die anarchische Disposition der Marktwirtschaft verteidigen. Was aber,wenn der Gewinn ausbleibt? Dann gilt eben eine andere Wahrheit. Denn allem Anschein nach hältman es in der Unternehmerschaft in Sachen Marktwirtschaft mit zwei Wahrheiten, eine für die gutenund eine für die schlechten Zeiten. Schreibt ein Unternehmen schwarze Zahlen, dann lautet seinemarktwirtschaftliche Wahrheit: keine Einmischung des Staates in die Wirtschaft, keine Subventionenan mögliche Konkurrenten und keine sozialen und ökologischen Auflagen. Aber wenn der Gewinn

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ausbleibt, ändert sich das Bild. Subventionen werden gefordert. Für die durch einen Konkurs arbeitslosGewordenen hat der Staat zu sorgen.  Immerhin herrscht Einigkeit darüber, dass ein »freier« Markt erst durch einen Ordnungsrahmenkonstituiert wird, der den Warenverkehr und die wirtschaftlichen Abläufe regelt. Strittig ist, wieumfassend dieses Regelwerk sein soll. Die Politik wird mit einer anderen Elle gemessen als dieWirtschaft. Ihr Ziel ist das Allgemeinwohl und nicht der private Gewinn. Zwar fordert die hoheArbeitslosigkeit imperativ ein politisches Gegensteuern. Solange aber die geeigneten Regelungen derMarktwirtschaft dafür fehlen, wird jede Wirtschaftspolitik an dem Problem scheitern. Diese-Feststellung ist keineswegs als Rechtfertigung einer bürokratischen Regelungswut gemeint. Es wärenicht sinnvoll, die Marktwirtschaft grundsätzlich in ein straffes Korsett von Regelungen zu zwängenund ihre dynamischen Kräfte zu fesseln. Aber überall dort, wo durch die Marktwirtschaft sozialeVerwerfungen entstehen, ist es Aufgabe der Politik, Abhilfe zu schaffen. Nicht die Gesellschaft hatdem Wohl der Wirtschaft zu dienen, sondern die Wirtschaft dem Wohl der Gesellschaft - dieseBinsenweisheit wird mitunter vergessen. Und wer sie in Erinnerung ruft, wird als »Gestriger«,»Traditionalist« oder »Betonkopf« abgestempelt. Denn der gesellschaftliche Diskurs über diewirtschaftliche Entwicklung und die Zukunft der Gesellschaft, der in Deutschland unter derBezeichnung »Standortdebatte« geführt wird, ist einseitig durch die neoliberal-konservative

Sichtweise der Unternehmerverbände geprägt. 

In ihrem 1996 erschienenen, vielgelesenen Essay mit dem Titel »Der Terror der Ökonomie« beklagtViviane Forrester, dass den Menschen die Fähigkeit genommen wird, die vorherrschende Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung anders als in den von ihren Vertretern angebotenen, reduzierten Kategorienwahrzunehmen. Diese Kritik an der eindimensionalen marktwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung desausgehenden 20. Jahrhunderts liest sich wie eine Bestätigung der visionären Weitsicht Tocquevilles.»Um die Menschen besser unterwerfen zu können«, so schreibt Viviane Forrester, »lenkt die jeweiligeMacht den menschlichen Organismus von der schwierigen, gefährlichen Übung des Denkens ab, sievermeidet die Genauigkeit, die so selten ist, ja schon die Suche nach der Genauigkeit, um die Massenbesser dirigieren zu können.« Und in der Tat: Bestimmte weniger das materielle Interesse einergesellschaftlichen Gruppe als vielmehr die Schärfe des Denkens oder die Richtigkeit der Fakten undArgumente die Standortdebatte, dann wäre eine solche ideologische Einseitigkeit unmöglich. Mag

sein, dass die Wirklichkeit von Viviane Forrester bisweilen mit spitzer Feder überzeichnet wird. In derTendenz trifft ihre Kritik aber ins Schwarze. Zugegeben, die Unternehmerverbände haben die Gunst der Stunde für eine ideologische Offensive gutgenutzt. Nie zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg war dafür eine Zeit besser geeignet als die letztenJahre. Mit dem Eisernen Vorhang zwischen Ost und West ging zugleich eine Schranke auf demWeltmarkt hoch. Der wirtschaftlichen Globalisierung stand kein Hindernis mehr im Weg.Selbstverständlich ist die Globalisierung für die westeuropäische und vor allem für die vom Exportlebende deutsche Wirtschaft eine starke Herausforderung. Die Unternehmer müssen unter den neuenUmständen eines schärferen globalen Wettbewerbs auf eine Anpassung der heimischenRahmenfaktoren und auf eine Verbesserung ihrer Produktionsbedingungen drängen. Aber die deutsche Exportwirtschaft ist die wettbewerbsfähigste der großen Industrienationen. Umdiesen Vorsprung zu halten, müssen wir investieren. Wir brauchen gute Schulen und Hochschulen,

hervorragend ausgestattete Forschungseinrichtungen und eine gute Infrastruktur bei Straßen, Schienenund Telekommunikationswegen. Derjenigen Wirtschaft wird die Zukunft gehören, die über diehöchste Energieproduktivität und die umweltverträglichste Technologie verfügt. Die im europäischenVergleich kränkelnde englische Wirtschaft zahlt jetzt für die »Tradition der Unterinvestition im Staat«,wie Gordon Browns Ministerium festgestellt hat. Rolls-Royce und Rover wurden von deutschenAutomobilherstellern gekauft. Man stelle sich vor, was in Deutschland los wäre, wenn Mercedes,BMW oder Volkswagen von englischen Automobilfirmen gekauft worden wären. Auch dieangelsächsische Tradition des Sozialabbaus ist wirtschaftlich unvernünftig.  In ihrem Papier schreiben sogar Schröder und Blair: »Für uns ist öffentliche Verschuldung nichtgenerell abzulehnen - während eines zyklischen Abschwungs kann es Sinn machen, die automatischenStabilisatoren arbeiten zu lassen. Und Verschuldung mit dem Ziel höherer öffentlicher Investitionen,in strikter Beachtung der »goldenen Regel«, kann eine wichtige Rolle in der Stärkung derAngebotsseite der Ökonomie spielen.« Wer den Sozialstaat abschafft, hat aber keine automatischen Stabilisatoren mehr zur Verfügung. »DieTradition der Unterinvestition« greift jetzt auch auf den Unternehmensbereich über. Der deregulierte

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Weltfinanzmarkt bietet im Finanzanlagen- und Spekulationsbereich Profitraten, die höher sind als dieder nationalen Produktionsbetriebe. Daher sind Finanzinvestitionen viel schneller gewachsen als dieproduktiven Investitionen. Der seit Mitte der siebziger Jahre in der Europäischen Gemeinschaftfestgestellte Rückgang der Investitionsquote ist darauf zurückzuführen. Der Weltfinanzmarkt hatallerdings nicht nur Auswirkungen auf die Investitionsquoten, sondern führt zu einem spürbarenWandel der Unternehmenskulturen. Immer mehr Unternehmen beschaffen sich das Kapital durch denGang zur Börse. Dadurch sind sie immer stärker den kurzfristigen Interessen der Aktionäre (derShareholder) verpflichtet. Das führt dazu, dass die Entscheidungen durch das Denken in kurzenFristen und variablen Kosten bestimmt werden. Zu den variablen Kosten gehören besonders dieLohnkosten.War viele Jahrzehnte der Arbeitnehmer noch Mitarbeiter und daher auch zur Mitverantwortung undMitbestimmung aufgerufen, so wird er jetzt auf eine Kostenstelle reduziert. Das ist der springende Punkt - und er lässt sich kaum besser veranschaulichen als mit jenerBegebenheit, an der sich auch Viviane Forresters »heiliger Zorn« entzündet hat. Erinnern wir uns: In allen Nachrichten wurde der 8. März 1996 als »Schwarzer Freitag« für dieinternationalen Finanzmärkte vermeldet. An der Wall Street war der Dow Jones abgestürzt,europäische und andere Börsenkurse fielen ebenfalls. Ausgelöst worden war diese Panik durch die

Veröffentlichung, dass in den USA die Arbeitslosigkeit in einem unerwartet hohen Ausmaßzurückginge. Die amerikanische Regierung hatte bekannt gegeben, dass im vorangegangenen MonatFebruar 705 000 neue Arbeitsplätze entstanden seien. Die französische Tageszeitung Le Mondebemerkte zu diesem Kurssturz am 12. März 1996 lapidar, die Börse reagiere eben empfindlich auf jede»schlechte Nachricht«. Damit ist schon alles gesagt. Daniel Goeudevert meinte: »Es ist ein geradezu perverses Signal, wenneine Firma ankündigt, dass sie Arbeitsplätze abbauen will, und dann steigen die Aktienkurse.«Steigende Aktienkurse, das allein ist es, was die meisten Aktionäre von den verantwortlichenManagern ihres Unternehmens erwarten. Dass große Aktiengesellschaften gerade in diesen Zeitenhoher Arbeitslosigkeit Riesengewinne an der Börse erzielen, ist nicht verwunderlich. So angebracht es ist, eine Logik in Frage zu stellen, die Unternehmen zu Entlassungen zwingt, um denKurs ihrer Aktien hochzuhalten, so absurd wäre es, einem privaten Unternehmer das Streben nach

Gewinn vorzuwerfen. Der Gewinn ist der Zweck seines wirtschaftlichen Handelns. Auch kann es nichtdarum gehen, Rationalisierungen zu verteufeln. Sie dienen der Produktivitätssteigerung. Produktivitätist ein wesentlicher Faktor der wirtschaftlichen Leistungskraft. Sie ist Voraussetzung für kurzeArbeitszeiten und gute Löhne. Rationalisierung und Konzentration der Produktion sind für mancheUnternehmen die einzige Chance, sich im harten globalen Wettbewerb zu behaupten. AndereUnternehmen, die schon blendend im Geschäft sind, versuchen auf diese Weise, mittels preisgünstigerAngebote ihre Marktanteile zu vergrößern. Wiederum andere wollen nur ihren Gewinn erhöhen. Nachden Regeln der »freien« Marktwirtschaft ist selbst daran nichts verwerflich: Warum auch sollte einprivater Unternehmer Arbeitskräfte beschäftigen, die er nicht braucht? Es ist Aufgabe der Politiker, dafür zu sorgen, dass das private marktwirtschaftliche Handeln innerhalb eines Ordnungsrahmensabläuft, der die Handelnden dazu zwingt, soziale und ökologische Gesichtspunkte zu berücksichtigen.  In Deutschland herrscht derzeit immer noch ein ideologisches Klima, in welchem jeder, der eine

solche Aufgabe angeht, sofort zu hören und zu lesen bekommt, ihm fehle es an Modernität. DieUnternehmerverbände tun das Ihrige dazu. Sie erzeugen mit ihren Kampagnen »Deutschland ist nichtwettbewerbsfähig, wir verlagern Arbeitsplätze ins Ausland« ein Klima, das die Durchsetzung der amGemeinwohl orientierten Entscheidungen erschwert. Die Art und Weise, wie dabei die Öffentlichkeitdurch die Verbreitung falscher Tatsachen und unstimmiger Argumente häufig hinters Licht geführtwird, grenzt an Volksverdummung. Der Neoliberalismus hätte die ideologische Lufthoheit über Deutschland nicht so leicht errungen,wenn er sich nicht mit dem Pathos der Gemeinnützigkeit verkauft hätte. Lange Zeit war der Glaube andie Segnungen eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums Kern dieser Ideologie. Die ökologischenKritiker eines ungezügelten Wachstums wurden mit der Behauptung mundtot gemacht, Wachstumgarantiere mehr Arbeit. Nachdem dann offenkundig geworden war, dass die Wirtschaft auch»beschäftigungslos« wächst, musste ein neues Prinzip her, um die Gemeinnützigkeit der Unterneh-merinteressen zu betonen: Je größer der unternehmerische Gewinn ist, um so geringer ist dieArbeitslosigkeit. In der Tat, die Arbeitslosigkeit korreliert mit dem Gewinn, eine Korrelation freilichmit zwei entgegengesetzten Vorzeichen. Ein Unternehmen wird nicht expandieren und mehr Arbeits-

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kräfte einstellen, wenn es keinen Gewinn erzielt. Das ist die eine Wahrheit. Die andere Wahrheit ist:Ein Unternehmen kann seinen Gewinn steigern, indem es Beschäftigte entlässt. In einer Wirtschaftohne die entsprechenden sozialen Auflagen ist der Gewinn per se noch längst kein Garant für Arbeit.Warum also die Öffentlichkeit mit Halbwahrheiten irreführen? Es bestreitet doch kein ernst zunehmender Mensch, dass auch Arbeitgeber zum Gemeinwohl beitragen, indem sie ihre Interessenverfolgen. Aber nicht immer ist das, was der Wirtschaft nützt, gut für alle Menschen.  

Welch großes Gewicht die Wirtschaft auf eine systematische Beeinflussung der öffentlichen Meinungim Sinn der eigenen Interessen legt, lässt sich gut an dem Aufschwung ermessen, den der Lobbyismusgenommen hat. Consulting- Firmen verdienen heute gutes Geld damit, dass sie für die Zwecke ihrerAuftraggeber Meinungen manipulieren, Stimmungen machen, politische Entscheidungsträger»bearbeiten«. Gegen die ausgeklügelten Überzeugungstechniken solch professionellerMeinungsmacher im Dienst partikularer Interessen geraten die echten Argumente für das Gemeinwohloft ins Hintertreffen. Der Politik kann man vieles nachsagen, Berechtigtes und weniger Berechtigtes -aber eines wird man ihr nicht absprechen können: Für eine demokratische Politik ist das Gemeinwohlder letzte Zweck. Dieser Zweck bestimmt das Handeln der Akteure so stark, dass selbst derKorrupteste sich ihm nicht völlig entziehen könnte. Die Globalisierung - ihre Anforderungen und mutmaßlichen Folgen - erzeugt Verunsicherung, in der

Wirtschaft und in der Gesellschaft. Darauf baut die ideologische Offensive des Neoliberalismus auf.Die Globalisierung wird zum Popanz aufgebauscht, damit der Schreck die Öffentlichkeitkonzessionswilliger macht. Der Standort Deutschland, einer der besten der Welt, wird dabei in Verruf gebracht - um die Senkung der Unternehmensteuer, Sozialabbau und Lohnmäßigung durchzusetzen.  Neben der Globalisierung hat der Untergang des Kommunismus das ideologische Auftrumpfen desNeoliberalismus begünstigt. Die bedingungslose Kapitulation der »realsozialistischen« Wirtschafts-und Gesellschaftsordnungen beendete den Ost-West-Konflikt. Demokratie und Marktwirtschaft hattengesiegt. Zyniker könnten nostalgisch werden, wenn sie an den Kalten Krieg zurückdenken. Wie bequem fürden Westen war doch die bipolare Weltordnung, die klare Trennung in eine westlich-kapitalistischeund eine östlich-kommunistische Macht- und Einflusssphäre! Schon der Vergleich mit demabschreckenden östlichen Gegenmodell verlieh den westlichen Demokratien eine ausreichende

Legitimation. In Zukunft müssen sich diese Demokratien an ihren inneren Ansprüchen messen lassenund aus ihren eigenen Zielen rechtfertigen. Ein »eiserner Vorhang« hielt den westlichenArbeitsmärkten die Konkurrenz der östlichen »man power« vom Leibe. Und im globalen Wettbewerbder Wirtschaftssysteme war die soziale Marktwirtschaft den staatlichen Planwirtschaften überlegen.Den Menschen im Westen erschien das stetige Wachstum ihres Wohlstands wie ein Naturgesetz. Zwarhatte der Wohlstand seinen Preis: die l ortschreitende Zerstörung der Natur und die Rohstoffaus-beutung der Dritten Welt. Aber diesen Preis der Verschwendung kostbarer Ressourcen musste derWesten ja nur zum Teil bezahlen. Sein Einsatz gegen den Hunger und das Elend in den armenLändern, die die Rohstoffe liefern, blieb bescheiden.  Der Fall der Berliner Mauer traf den Westen unvorbereitet. Er war so schnell nicht erwartet worden.Erst heute wird deutlich, was sich damit alles verändert hat. Der Kalte Krieg war gekennzeichnetdurch den mit großem technologischem und finanziellem Aufwand betriebenen Rüstungswettlauf. Er

war gekennzeichnet durch eine harte, ideologische Auseinandersetzung sowie durch denKonkurrenzkampf der ökonomischen Systeme. Der hoffnungslos unterlegene Ostblock wäre schonfrüher zum Offenbarungseid gezwungen worden, hätte er sich nicht hinter Stacheldraht verschanzenkönnen. Erst nachdem die Mauer niedergerissen worden war, zeigte sich das volle Ausmaß desBankrotts. Seither herrscht, von Ausnahmen abgesehen, weltweit die Marktwirtschaft. Gemäß ihrenGesetzen organisiert sich die Weltgesellschaft. Stellt man den vergangenen Ost-West-Konflikt der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen auf einergrafischen Achse dar, dann bildet den rechten Pol ein Kapitalismus angloamerikanischer Prägung undden linken ein Kommunismus mit stalinistischen Strukturen. Dazwischen aber liegt eine breite Mitte,in der sich Elemente aus den beiden Polsystemen ergänzen. Die »Konvergenztheoretiker« der fünf-ziger Jahre hatten gehofft, der Ost-West-Konflikt würde in dem Maße abflauen, in dem dieWirtschaftssysteme sich annäherten. Genährt wurden solche Illusionen auch durch die Suche derdemokratischen Sozialisten nach einem »dritten« Weg - einem Weg, der die Vorteile der Polsystemevereinen und die Nachteile ausschließen wollte. Freie Marktwirtschaft und demokratischeGesellschaftsordnung sollten mit sozialer Sicherheit verbunden werden. Nun, da der Ost-West-

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Konflikt Geschichte ist, zeigt sich, dass mit dem Wegfall des alten linken Polsystems nicht zugleichauch der globale Wettbewerb der Systeme ein Ende fand. Er geht weiter, friedfertiger, demokratischer,ungefährlicher als zuvor, aber kaum weniger hart oder weniger ideologisch. Und er hat sein Gewichtverlagert. Nach dem Untergang des Kommunismus steht jetzt die soziale Marktwirtschaft auf der lin-ken Polposition. Die angloamerikanische Auffassung von Marktwirtschaft steht der europäischenVersion der sozialen Marktwirtschaft gegenüber. Solange die soziale Marktwirtschaft auf der Achse des globalen Wettbewerbs der Systeme denMittelplatz eingenommen hatte, war sie relativ unangefochten. Die Hauptstoßkräfte derAuseinandersetzung zwischen den beiden Polen waren gewissermaßen über ihren Kopf hinwegge-gangen. Die Existenz des Kommunismus brachte eine Schonzeit für die soziale Marktwirtschaft. Diesetrug in erheblichem Umfang zum »Sieg« des Kapitalismus bei. Im Vergleich mit dem in Westeuropaerreichten Niveau des Wohlstands und der sozialen Sicherheit büßte der »realexistierende«Sozialismus den Rest an Attraktivität ein.  Die Schonzeit der sozialen Marktwirtschaft ist jetzt vorbei. Die Neoliberalen aller Länder haben sichvereinigt und zum Angriff geblasen. Wer beim Sozialabbau nicht mitmacht, wird von denFinanzmärkten bestraft. Bei Renditenerwartungen von 15 Prozent ist für Lohnerhöhungen kein Platz.Alle Schamgrenzen sind bei der Einkommensverteilung gefallen. Die Wall Street staunt, dass die

Deutsche Bank fünf Bankmanagern in fünf Jahren 335 Millionen DM an Gehältern und Boni zahlt.Der Arbeitnehmer ist im Zeitalter des Shareholder Value kein Mitarbeiter mehr, der mitverantwortenund mitbestimmen soll, sondern ein Kostenfaktor. Daher gilt es heute, die soziale Marktwirtschaft offensiv zu vertreten. Es gilt, sie weiterzuentwickeln,damit sie den Anforderungen der Zukunft gerecht wird - auch in ökologischer Hinsicht. Es gilt, eineuropäisches Sozialstaatsmodell zu entwerfen und durchzusetzen, das im globalen Wettbewerb derSysteme dem angelsächsischen Kapitalismus überlegen ist. Dass in der durch den Neoliberalismus ideologisch aufgeheizten Atmosphäre von»Marktradikalismus« eine sozialdemokratische Reformpolitik auf Widerstände stößt, versteht sich vonselbst. Nicht nur im Kleinen, auch im Großen fehlt heute die Alternative. Aus dem Untergang desKommunismus zogen die Ideologen des Neoliberalismus den Schluss, jede Alternative zur heutigen

Form der Marktwirtschaft müsste untauglich sein. Genau das wollte uns der amerikanische ÖkonomFrancis Fukuyama mit der Behauptung einreden, der Zusammenbruch des Ostblocks bedeute das»Ende der Geschichte«. Das »Ende der Geschichte« heraufzubeschwören war eine Art neoliberalerExorzismus. Der Linken musste endlich jener böse Geist ausgetrieben werden, von dem sie besessenzu sein schien: der Geist der Utopie. Erstaunlich, wie beflissen sich heute viele als Exorzisten gebärden und sich bemühen, die Geschichtein eine einzige Richtung zu denken, alternativlos. Jean-Frangois Kahn, ein Franzose, hat darüber 1995ein Buch veröffentlicht. Es trägt den bezeichnenden Titel La pensee unique. Vierzig Jahre vor ihmhatte bereits ein anderer Philosoph, ein Pole, Leszek Kolakowski, darüber ein berühmtes Buchveröffentlicht. Es hatte den Titel  Der Mensch ohne Alternative. Es war ein Aufschrei gegen diestalinistischen Denkverbote, gegen ein Weltbild, in dem mit der Diktatur des Proletariats dieGeschichte ebenfalls zu Ende gekommen war. 

Das eindimensionale Denken wird nicht von Dauer sein, es verträgt sich nicht mit der Freiheit. DieFrage ist nur: Wie lange noch währt der Aberwitz, dass in einer technologischen Welt mit ungeahntenvirtuellen Möglichkeiten die gesellschaftlichen Alternativen ungedacht bleiben? Was lahmt zur Zeitdie deutschen Intellektuellen? Auch anderswo, in Frankreich beispielsweise oder in den USA, wird öffentlich über die wirtschaftliche Lage und deren gesellschaftliche Folgen debattiert. Doch hat manden Eindruck, als mischten sich in Deutschland die Intellektuellen viel zaghafter ein. Hat sie dasErlebnis jener epochalen Wende des Jahres 1989/90 so mitgenommen, dass sie eine schöpferischePause brauchen? Sind die einen träge, weil die Geschichte ihre langgehegte Sehnsucht nach nationalerWiederfindung endlich erfüllte? Sind die anderen verunsichert, weil sich ihre vergangenen Analysenzukünftiger Entwicklungen als falsch und ihre Utopien als trügerisch erwiesen? Oder ist es vielleichtdoch nur ein ganz banaler Anfall von »Fin-de-siecle-Melancholie«, der die deutschen Intellektuellensich raushalten lässt? Und das ausgerechnet in einer Phase des technologischen, ökonomischenUmbruchs, kurz vor Anbruch eines neuen Jahrtausends, wo uns allen nichts nötiger täte als geistigeOrientierung, wo vier Millionen Arbeitslose ganz dringlich eine andere politische Kultur als die deskonservativen Eaisser-faire brauchten! Eine politische Kultur, die nicht bloß das eine fördert: mehr

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Profit! Eine politische Kultur, die auch nicht immer und um jeden Preis nach einem Mehr anmateriellen Gütern trachtet. Eine politische Kultur, die dafür stets auf ein Mehr an Demokratie undgesellschaftlicher Beteiligung, ein Mehr an Wissen und Bildung, ein Mehr an Lebensqualität undmenschlichem Miteinander zielt. Viel eher erklärt sich die Leisetreterei der intellektuellen Linken, die, gemessen an der einstigenkämpferischen Lautstärke, fast den Anschein einer geistigen Kapitulation erweckt, durch einenanderen, einen allgemeineren zivilisatorischen Prozess: Das originäre Denken geht mehr und mehrunter der bloßen Wiedergabe, unter der Reproduktion verloren. Wenn es ein herausragendes Merkmalgibt, das den Gang der modernen Zivilisation kennzeichnet, dann ist es die phantastische,beschleunigte Entwicklung der Reproduktionstechnologie. Dass diese Entwicklung heute denMenschen erfasst hat, dass auch der Mensch jetzt geklont, das heißt auf technische Art identischreproduziert werden kann, ist nur folgerichtig und geradezu symbolisch für unsere Epoche. Es passt zudieser Symbolik, dass eine künstliche Figur wie Michael Jackson zum Idol junger Menschen auf-steigen konnte. Die Bezeichnung »Mediengesellschaft« für das Wesen unseres Zeitalters könnte nichtbesser gewählt sein, sind doch die Medien, der Name sagt es, die Mittel der Wiedergabe, derReproduktion.  Walter Benjamin war sich der umwälzenden Tragweite einer solchen technologischen Beschleunigung

schon bewusst. Er schrieb vor 62. Jahren den bereits erwähnten Essay über »Das Kunstwerk imZeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. Er sah, dass vieles, was über die Reproduktion vonKunst zu sagen war, der Verlust von Authentizität und Tiefe, im übertragenen Sinn auch auf dieReproduktion von Politik zutrifft. »Die Krise der Demokratien lässt sich als eine Krise derAusstellungsbedingungen des politischen Menschen verstehen«, schreibt er. Und seine Aussage, »DieKunst der Gegenwart darf auf um so größere Wirksamkeit rechnen, je mehr sie sich auf Repro-duzierbarkeit einrichtet, also je weniger sie das Originalwerk in den Mittelpunkt stellt«, lässt sich mitderselben Gültigkeit auf die Politik umformulieren: Die Politik der Gegenwart darf auf um so größereWirksamkeit rechnen, je mehr sie sich auf Reproduzierbarkeit einrichtet! Nicht komplizierteZusammenhänge und weitsichtige Strategien, nicht Originalität und Tiefe, nicht Wahrheit und Inhaltbieten für eine Reproduktion die besten Möglichkeiten, sondern der vordergründige Ereigniswert - dasSpektakel. 

Die Politiker stellen sich darauf ein. Wenn die Reproduzierbarkeit das Signum der »modernen Zeiten«ist, gilt derjenige als modern, der ihre Spielregeln konsequent befolgt und Politik als Medienereignisbetreibt. Doch hat diese Einstellung ihren Preis: Der Inhalt muss hinter das Ereignis treten. Profileverschwimmen im seichten Wasser, Verbindlichkeit schwindet, Beliebigkeit nimmt überhand. Und jeleiser der Geist sich äußert, desto lauter breitet die Beliebigkeit sich aus. Schon ist ja vielfach derBegriff Modernität zum Synonym für Beliebigkeit geworden.  Doch gibt es auch Anzeichen eines Wiedererwachens der intellektuellen Linken. Die Auflagenhöhe,die die leidenschaftliche Streitschrift von Viviane Forrester in Frankreich in kürzester Zeit erreicht hat- die Neue Züricher Zeitung bezeichnete dieses Buch als »den seit langem ersten Schritt, um das Feldeiner populären Gesellschaftskritik für die Linke zurückzuerobern« -, spricht dafür, dass ein breitesReformbündnis zwischen Bürgersinn und Geist immer noch - oder schon wieder - möglich ist. Auch inDeutschland. Ein solches Bündnis zwischen der Mehrheit des Volkes und den Intellektuellen hat sich

in der Vergangenheit meist als der beste Nährboden für tiefgreifende soziale Reformen erwiesen.Meinungsforscher stellen eine wachsende Identifikation der Mehrheit mit Werten fest, die von denBefragten zuvor als »links« eingeordnet wurden. Mit den Begriffen »links« oder »rechts« könnten dieMenschen heute nicht mehr viel anfangen, sagen die »Modernisierer«. Die Befragungen beweisen dasGegenteil: Treffender, als die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger bestimmte Werte derLinken oder der Rechten zuzuordnen vermag, könnten es die Experten auch nicht. Immerhin lassen die Umfragen über das Wertebewusstsein der Deutschen den Schluss zu, dass dieGrunddisposition für eine breite Zustimmung zu einer wertebetonenden linken Politik auch inDeutschland gegeben ist. Die Menschen haben verstanden, dass der Sozialstaat reformiert werden muss. Sie waren und sindauch bereit, Einschränkungen hinzunehmen. Man erinnere sich daran, dass Norbert Blüm aufs Jahrgerechnet 98 Milliarden DM bei Rentnern und Arbeitslosen gespart hat. Die Bürger akzeptierenReformen des Sozialstaats aber nur unter der Bedingung, dass es dabei gerecht zugeht. SozialeEinschränkungen verursachen gesellschaftliche Verteilungskämpfe. Gerade in solchen Zeiten ist einePolitik gefragt, die nach dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit verfährt.  

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In den USA, wo die Ungleichheit der Einkommen und der Lebensverhältnisse in den beidenzurückliegenden Dekaden am stärksten zugenommen hat, spricht heute einer der führendenArbeitsmarktökonomen, Richard Freeman, von » Apartheid-Ökonomie«. Der gesamte wirtschaftlicheErfolg der neoliberalen »Reaganomics« sei ausschließlich jenen 5 Prozent der Gesellschaft zugutegekommen, die ohnehin schon auf der Sonnenseite lebten. Alle anderen hätten dabei verloren - jeärmer, desto mehr. Freeman befürchtet über kurz oder lang einen neuen Klassenkampf. Was fürAmerika gilt, mag erst recht für Europa gelten. Die Linksregierungen in Europa kamen an die Macht,weil die Bürger der sozialen Kälte des Neoliberalismus eine Absage erteilten. Sollte die Politik den»Hilferuf« der Bürgerinnen und Bürger überhören und keine Besserung einleiten, wird sich der Protestandere Wege suchen. Radikale Parteien werden Zulauf erhalten, wenn die sozialdemokratischenRegierungen Europas die einmalige Chance verspielen, dem Neoliberalismus, der zu dramatischenWährungs- und Finanzkrisen geführt hat, ein sozialdemokratisches Gesellschaftsmodellgegenüberzustellen.  Es ist dringend geboten, dem Gemeinsinn auch im wirtschaftlichen Leben wieder größere Geltung zuverschaffen. Nichts anderes ist Aufgabe und Ziel der demokratischen Linken. Unter dem Begriff des»Sozialismus« wurde ja ursprünglich nicht ein bestimmtes Produktionssystem verstanden, sondernlediglich das Bemühen, die individuellen oder egoistischen Bestrebungen der Menschen so zu kana-

lisieren, dass sie der Allgemeinheit in der Summe zum Nutzen gereichen. 

Neben den bekannten, im allgemeinen sozialen Wandel liegenden Ursachen für den Verlust anGemeinsinn trägt nicht zuletzt auch die Globalisierung dazu bei, die Ausrichtung der Wirtschaft auf das Gemeinwohl abzuschwächen. Unter den globalen Bedingungen des wirtschaftlichen Wettbewerbsgreifen nationalstaatliche Instrumente der Wirtschaftspolitik nur noch in begrenztem Maß. Die tradi-tionelle Nationalökonomie, die den Ausgleich der wirtschaftlichen Einzelinteressen imnationalstaatlichen Rahmen zum Wohl des Ganzen im Auge hatte, wird mit der fortschreitendenInternationalisierung der Märkte immer unzulänglicher. Im globalen Wettbewerb kämpft jedesUnternehmen für sich allein, es zählt allein der eigene Erfolg - und dabei hat es sein Bewenden. Esgibt keine demokratisch legitimierte Instanz, die einen übergeordneten Ausgleich der Interessen zuvermitteln sucht. Um so etwas wie Gemeinsinn auch den globalen Wirtschaftsbeziehungen einzuimpfen, ist es mit

Appellen an die Moral der Akteure nicht getan. Es kommt vielmehr darauf an, die internationalenWirtschaftsbeziehungen durch ein Mindestmaß an Regelungen zu strukturieren. Zweifelsohne bedarf es zur Durchsetzung solcher Regelungen auf dem Weltmarkt einer Machtposition. Diese hat zwar keineinzelnes europäisches Land, aber sehr wohl die Europäische Union. Zunächst müssen die Mitgliederder Europäischen Union sich auf eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik verständigen.Deutschland muss in Brüssel stärker auf eine umfassendere Angleichung der Steuern dringen. DieGewerkschaften sollten die Koordinierung der Tarifpolitik auf der europäischen Ebene energischer inAngriff nehmen. Die Verabschiedung einer europäischen Sozialcharta, mit der sich die Gemeinschaftauch zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verpflichtet, kann nur ein erster notwendiger Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Sozialstaatsmodell sein.Die Entwicklung eines solchen Modells hätte nicht nur den Vorteil, die Position der sozialenMarktwirtschaft im globalen Wettbewerb der Systeme gegenüber dem Kapitalismus »pur« zu stärken

und für die Durchsetzung der erforderlichen Regelungen auf dem Weltmarkt eine Machtbasis zubilden. Sie könnte auch der Katalysator sein für das Zugehörigkeitsgefühl der Europäer zu einersupranationalen Struktur, für die Herausbildung eines europäischen »Nationalgefühls«. Für vieleMenschen ist die Europäische Union noch keine Gefühlsangelegenheit, sondern eine zweckmäßigeÜbereinkunft zur Wahrung von wirtschaftlichen oder sicherheitspolitischen Vorteilen. Als politischeoder kulturelle Vision kommt das vereinte Europa nur im Pathos der Sonntagsreden vor. In derWirklichkeit steht vor dem Traum die nüchterne Erkenntnis, dass die Mittel der nationalstaatlichenPolitik einer globalisierten Wirtschaft nicht mehr gewachsen sind.  Das Gefühl der Zugehörigkeit wächst aus einem gemeinsamen Erlebnisraum. Wie aber soll dasfunktionieren, solange der europäische Erlebnisraum kaum mehr als eine gemeinsame Warenwelt ist?Konsum allein ist sicher nicht dazu angetan, ein dauerhaftes Gefühl der Zugehörigkeit zu stiften - ganzabgesehen davon, dass nach der Lockerung des sozialen Netzes mehr und mehr Menschen die Waren-welt als einen Erlebnisraum erfahren, von dem sie ausgeschlossen bleiben. Nicht nur der Abbau vonWettbewerbshemmnissen im Zuge der Globalisierung, auch die großen Anstrengungen, zu denen sichfast alle Staaten genötigt sehen, um die Maastricht-Kriterien zu erfüllen, haben zu neuen sozialen

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Härten geführt. Es ist müßig, darüber zu streiten, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, vor einerWährungsunion die europäische Vereinigung auf anderen Gebieten enger zu gestalten. Der Zug istabgefahren, und er soll ankommen. Es darf allerdings nicht sein, dass die gemeinsame Währung zueiner nachhaltigen Schwächung der Sozialpolitik führt. Zu Recht würden die Menschen das Europa,das aus einer solchen Einheitswährung hervorgeht, nicht annehmen. Die Währungsunion wird sich nurin dem Maß als Triebkraft der zukünftigen Entwicklung erweisen, wie sie weitereEinheitsbestrebungen der Europäischen Union provoziert und beschleunigt: eine einheitlicheSteuerpolitik, eine Beschäftigungspolitik, eine einheitliche Wirtschaftspolitik und nicht zuletztfolgerichtig eine einheitliche Sozialpolitik. Damit sich unter den Menschen in Europa einZugehörigkeitsgefühl einstellen kann, damit so etwas wie eine »Nation Europa« entstehen kann, mussFluropa als demokratisches Projekt gelingen, aber auch als Projekt der sozialen Gerechtigkeit.  Dass wir noch nicht weitergekommen sind, liegt daran, dass es noch keine europäische Identität gibt.Sie schrittweise herzustellen ist eine geistige, eine kulturelle Aufgabe. Der Markt kann das nicht.Gesellschaftsentwürfe, die in den Kategorien der Betriebswirtschaft verfasst sind, widersprechen derabendländischen Kultur. Sie reduzieren den Menschen, der Freiheit und Würde will, auf ein flexiblesObjekt, das sich den jeweiligen Kapitalverwertungsbedingungen anzupassen hat. Deshalb ist die zürndritten Weg erklärte Anpassung der Politik an vermeintliche wirtschaftliche Zwänge ein Holzweg.

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Ausblick 

Eckhard Fuhr schrieb im Juni 1999 in der Frankfurter Allgemeinen unter der Überschrift»Stellungswechsel«: »Wäre das »bürgerliche Lager< in Bonn an der Regierung, hätte mancherBeobachter weniger Schwierigkeiten, die politischen Ereignisse der letzten Monate zu bewerten undeinzuordnen. Endlich, so läsen sich die Kommentare der Regierungsfreunde, geschieht das, worauf man allzu lange warten musste. Deutschland erweist sich im Kosovo-Krieg auch in einer radikalveränderten weltpolitischen Szenerie als zuverlässiger Partner des westlichen Bündnisses und streiftdie aus seiner Geschichte erwachsene Sonderrolle ab, flüchtet sich nicht mehr in die moralischgepolsterte Zuschauerloge. Endlich auch kommen im Inneren jene Reformen in Gang, über deren

generelle Richtung es keinen Zweifel geben kann: Sanierung des Haushalts ohne Angst vor tiefenSchnitten bei den Sozialausgaben und mit der langfristigen Perspektive eines ausgeglichenen Etats,Senkung des Rentenniveaus ... Die Gefechtslage ist undurchsichtig- parteipolitisch betrachtet jedenfalls. Es ist so, als seien die gegnerischen Heere im Nebel des Vorfeldes aneinander vor-beimarschiert und fänden sich jetzt in der jeweils verkehrten Stellung wieder. Beide Seiten kennensich dort noch nicht so richtig aus. Die Sozialdemokraten haben sich, ohne dass es eine langwierigeund aufwühlende Debatte darüber gegeben hätte, denkbar weit von ihrem traditionellen Selbstver-ständnis und ihrer alten politischen Logik entfernt.« Es ist richtig, dass sich die gegnerischen Heere in der jeweils verkehrten Stellung wiederfinden. DasZukunftsprogramm 2ooo wurde zum Zukunftsprogramm für die CDU. Sie gewinnt ohne eigenesZutun die Wahlen, weil die sozialdemokratischen Wählerinnen und Wähler enttäuscht wurden und ingroßer Zahl nicht zur Wahl gehen. Mit dem Zukunftsprogramm 2000 der rot-grünen Bundesregierung

wurde dieser Stellungswechsel überdeutlich. Unternehmen sollen um 8 Milliarden entlastet werden,zur Kasse gebeten werden vor allen Dingen Arbeitslose und Rentner. Die Wiedereinführung derprivaten Vermögensteuer oder die Erhöhung der Erbschaftsteuer lehnten der Bundeskanzler und seinFinanzminister ab. Offensichtlich geht es Rentnern und Langzeitarbeitslosen ja viel besser als denBesitzern großer Vermögen und deren Erben. »Umverteilung darf nicht von der sozialdemokratischenTagesordnung genommen werden. Die Erbschaftsteuer sollte hoch sein, damit nicht zu vielePrivilegien weitergegeben werden können«, sagt Anthony Giddens, der sicherlich in Deutschland denTraditionalisten zugerechnet würde. Werner Perger schreibt in der Zeit dazu: »Dies ist zweifellos dieReformstrategie mit dem größten Risiko des Scheiterns. Schröder weiß, dass er zuviel Zeit verlorenhat. Um so ehrgeiziger ist sein Programm. Etwas von der Art und Tragweite hätte man jedenfalls vonder Regierungserklärung beim Amtsantritt - die erste versäumte Gelegenheit - erwartet. Doch da war

der frischgebackene Kanzler noch nicht soweit, die Wahlversprechen vom Tisch zu nehmen.« Genau darum geht es. Das merkwürdige ist, dass Werner Perger es offensichtlich goutiert, wenn einKanzler Wahlversprechen vom Tisch nimmt. So, als seien in einer Demokratie die Parteien nichtgehalten, vor den Wahlen den Wählerinnen und Wählern zu sagen, was sie nach den Wahlen machenwürden. Wir hatten im Wahlprogramm keine unhaltbaren Versprechungen gemacht, sondern vielmehrdas gesamte Wahlprogramm unter einen Finanzierungsvorbehalt gestellt. Wir hatten allerdings dieRentenkürzungen der Regierung Kohl im Hinblick auf die kleinen Renten als unanständig bezeichnetund versprochen, einen sozialen Kahlschlag zu vermeiden. »Schröder«, so meint Werner Perger, »ist jetzt gezwungen, neu um das Vertrauen zu werben, das er mit seiner stillen Kapitulation vorLafontaine und dem Parteiapparat aufs Spiel gesetzt und zum großen Teil verspielt hat. Nicht zuletztim parteifernen Milieumix der mutmaßlichen neuen Mitte.« Aber erwirbt man wirklich Vertrauendurch den Bruch von Wahlversprechen? Und wer gehört eigentlich zum parteifernen Milieumix der

mutmaßlichen neuen Mitte? Es ist immer wieder dieselbe Leier. Diejenigen, die hohe Einkommen undVermögen haben, aber kaum Steuern zahlen und so gut wie nie vom Verlust des Arbeitsplatzesbedroht sind, fordern am lautesten Reformen bei Renten, bei der Arbeitslosenversicherung und bei denRechten der Arbeitnehmer. Besonders tun sich dabei Politiker, verbeamtete Professoren, Journalisten

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und selbständige Unternehmer und Verbandsfunktionäre hervor, die sich allesamt nicht vorstellenkönnen, was es heißt, mit einer Rente von 12.50 Mark, einem Arbeitslosengeld von 1400 DM, einerArbeitslosenhilfe von TOGO DM oder der Sozialhilfe von 800 DM zu leben. Sie wissen häufig auchnicht, dass eine Verkäuferin oder ein Hilfsarbeiter mit einem Nettoeinkommen von ca. 2.000 DMleben muss. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, welche Politik wir in der Konstellation mit GerhardSchröder als Bundeskanzler und mir als Parteivorsitzendem machen würden, hatten wir sorgfältig einRegierungsprogramm ausgearbeitet. Abgesehen von handwerklichen Mängeln, die vor allemauf die schiechte Koordination im Kanzleramt zurückgingen, setzten wir in den ersten Monatenunserer Regierungszeit vieles von dem um, was wir versprochen hatten. In der Steuerpolitik, in derRenten- und Gesundheitspolitik, bei der Lohnfortzahlung, beim Kündigungsschutz und bei demVersuch, die Erosion der Sozialversicherung zu stoppen, haben wir genau die Entscheidungenherbeigeführt, die wir den Wählerinnen und Wählern vor den Wahlen versprochen hatten.Insbesondere in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik hatten wir die Abkehr vomNeoliberalismus zur Grundlage unseres Regierungsprogramms gemacht. Wir wollten nicht immer nurUnternehmensteuersenkungen, sondern auch Steuersenkungen für die große Mehrheit des Volkes. Wirwollten nicht immer nur soziale Kürzungen, sondern die Wiederherstellung von Arbeitnehmerrechten

bei Lohnfortzahlung und Kündigungsschutz. Wir wollten nicht immer nur Lohnzurückhaltung,sondern den gerechten Anteil für die arbeitenden Menschen am gewachsenen Wohlstand durchproduktivitätsorientierte Lohnabschlüsse. Es war zu erwarten, dass unsere neue Politik in Deutschland auf erheblichen Widerstand derInteressengruppen stoßen würde, die zu Zeiten der Regierung Kohl von der Umverteilungspolitikprofitiert hatten. Es war zu erwarten, dass die Zeitungsverlage nicht einverstanden wären, wenn die fürsie attraktive 63o-Mark-Job-Regelung verändert würde. Es war zu erwarten, dass Versicherungs- undStromwirtschaft gegen unsere Steuerpolitik Widerstand leisten würden. Es war zu erwarten, dass sichdiejenigen, die mit Währungsspekulationen viel Geld verdienten, den Versuchen des französischenFinanzministers Strauss-Kahn, des japanischen Finanzministers Miyazawa und von mir, dieWährungsspekulation einzudämmen, widersetzen würden. Sozialdemokratische Politik hat aber nur dann eine Chance, wenn sie glaubwürdig bleibt und sich

auch mit Interessengruppen auseinandersetzt. Bleibt sie nicht glaubwürdig, beginnt sie gar, dasGegenteil von dem zu machen, was vor den Wahlen versprochen wurde, dann verlieren Sozialde-mokraten noch schneller die Zustimmung ihrer Wählerinnen und Wähler, als konservative Parteien.  Ich zitierte noch einmal Eckhard Fuhr: »Aber mit seinem Rückzug als Parteivorsitzender undFinanzminister ist Lafontaines Versuch, Deutschland und die Europäische Union nach >links< zuführen, noch einmal den Aufstand gegen den neoliberalen Mainstream zu wagen, gescheitert. Es gibtin der SPD eine Menge Leute, denen das nicht passt, aber niemand, der außerhalb der engerenParteiumgebung der Idee einer Sozialdemokratie ä la Lafontaine Gehör verschaffen könnte.« DenAufstand gegen den neoliberalen Mainstream zu wagen, das war der Kern meiner Arbeit alsParteivorsitzender der SPD. Die Sozialdemokraten haben die politische Aufgabe, einen wild gewordenen Kapitalismus zubändigen, der sich unter Hinweis auf die vermeintlich ehernen Gesetze der Wirtschaft rechtfertigt. Wir

befinden uns in einer Epoche neokonservativer Restauration. Diese konservative Revolution redet unsein, sie sei fortschrittlich, vernünftig und wissenschaftlich. Sie erklärt das Gesetz einerWirtschaftswelt, die nach ihrer eigenen Logik operiert, nach dem Gesetz des Marktes als dem Gesetzdes Stärkeren zur gesellschaftlichen Regel. Sie glorifiziert die Herrschaft der Finanzmärkte, jenenKapitalismus pur, der als Gesetz nur den maximalen Profit kennt. Der Neoliberalismus,wissenschaftlich verbrämt und mit Medienmacht unterstützt, wurde zu einer Art konservativerIdeologie, die sich unter der Überschrift »Ende der Ideologien« und »Ende der Geschichte« empfahl.Der Ruf nach weniger Staat ist allzu oft der Ruf nach weniger Demokratie. Die demokratischenEntscheidungen der Politik sollen durch die Märkte ersetzt werden, und wie immer schon in derGeschichte, passen sich viele dem herrschenden Zeitgeist an.Die SPD steht im Herbst 1999 wieder einmal am Scheideweg. Die Bilder gleichen sich. Wie vor demMannheimer Parteitag 1995 nähert sich die SPD in den Meinungsumfragen der 3o-Prozent-Grenze.Und wie vor Mannheim muss sie die Frage beantworten, ob sie sich dem neoliberalen Zeitgeistunterwerfen will. Der Unterschied ist: Heute ist sie die führende Regierungspartei. DerParteivorsitzende ist der Bundeskanzler. Vor dem Mannheimer Parteitag forderte Hans-Jochen Vogel

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Gerhard Schröder auf, gegen Rudolf Scharping zu kandidieren. Vogel schrieb: »Aber mehr und mehrstellt sich die Frage, wofür er die Macht, um die er kämpft, eigentlich einzusetzen gedenkt. Und obihm die eigene Medienpräsenz nicht wichtiger ist als das Gesamtinteresse der deutschenSozialdemokratie, die keiner als Trampolin für eigene hohe Sprünge missbrauchen darf. So wieSchröder bislang agiert, hat er nicht nur der Partei Schaden zugefügt, sondern sich auch selbstbeschädigt.« 

Heute versucht Gerhard Schröder die Politik der SPD von oben zu verändern. Ein Richtungswechsel,der von oben verordnet wird, entspricht nicht der Tradition der SPD, die sich immer alsMitgliederpartei, als demokratisch organisierte Programmpartei, verstanden hat. Es wäre daher konse-quent, wenn Gerhard Schröder auf dem kommenden SPD-Parteitag erklären würde, was seinpolitischer Neuanfang bedeutet und warum er das mit großer Mehrheit beschlosseneRegierungsprogramm nicht mehr gelten lassen will. Das Schröder-Blair-Papier als Sammelsurium vonAllgemeinplätzen und dehnbaren Begriffen eignet sich nicht für eine ernsthafte Programmdebatte. Esbehindert die bereits erfolgreich vorangekommene programmatische Neuorientierung der SPD. Es gibt wirklich große Herausforderungen, denen sich die sozialdemokratische Regierungsparteistellen muss: Neben den klassischen Aufgaben geht es heute vor allem darum, dem angelsächsischenKapitalismus einen europäischen Sozialstaat gegenüberzustellen und dem deregulierten Weltmarkt

einen Ordnungsrahmen zu geben. Das ist der Auftrag, den die Wählerinnen und Wähler densozialdemokratischen Regierungen Europas gegeben haben. Viele Europäer setzten ihre Hoffnung auf die neue sozialdemokratische Regierung in Deutschland. Doch nach der Veröffentlichung desSchröder-Blair-Papiers war die Enttäuschung groß. Auch im Medienzeitalter gilt es, eine langfristig angelegte Politik zu verfolgen. Wer Modernisierungruft, muss sagen, was er darunter versteht. Wörter wie Anpassungsfähigkeit und Flexibilität sindWorthülsen. Der soziale Aufstieg ist erstrebenswert. Möglichst viele Menschen sollen an denLebensgewohnheiten der wohlhabenderen Gesellschaftsschichten teilhaben. Für uns alle aber gilt: DasUrteil von Karl Marx, »Das Sein bestimmt das Bewusstsein«, ist kein ehernes Gesetz.. DerAufgestiegene ist nicht gezwungen, den geistigen Überbau der besitzenden Schichten zu übernehmen.Wenn wir wissen, wo wir herkommen, wissen wir auch, wohin wir gehen müssen.  In der heutigen Zeit haben die Leitideen der Sozialdemokratie nichts von ihrer Ausstrahlung verloren.

Das hat die CDU/CSU aus ihrer Wahlniederlage gelernt. Sie verteidigt jetzt die sozialeMarktwirtschaft gegen die »Modernisierer« im Regierungslager. Die SPD hat den Wählern aberversprochen, die notwendige Erneuerung mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden. Sie muss demneoliberalen Zeitgeist widerstehen. Wenn die »Modernisierer« Hombach und Mandelsohn ihren Chefs aufgeschrieben haben: »In derVergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit mit der Forderung nach Gleichheit imErgebnis verwechselt. Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstrengung undVerantwortung ignoriert und nicht belohnt und die soziale Demokratie mit Konformität undMittelmäßigkeit verbunden statt mit Kreativität, Diversität und herausragender Leistung«, stellt sichdie Frage, welche Vergangenheit mit dem Herunterbeten dieser konservativen Vorurteile unserer Geg-ner gemeint ist. Die Regierungszeit Willy Brandts? Die Regierungszeit Helmut Schmidts? Die Wahldesaster bei den Europawahlen, den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen und den

Landtagswahlen zeigen, dass der neue Kurs, den die Regierung Schröder eingeschlagen hat, von denWählerinnen und Wählern abgelehnt wird. Das Festhalten an diesem Kurs wird unweigerlich zuweiteren verheerenden Wahlniederlagen führen. Die SPD als die große linke Volkspartei istaufgerufen, ihren Weg erneut zu bestimmen.  Dabei darf sie nicht vergessen: Das Herz wird noch nicht an der Börse gehandelt. Aber es hat einenStandort. Es schlägt links. 

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Register

Auf das Register habe ich hier verzichtet. Die darin aufgeführten Namen und deren Seitenzahlentreffen auf den vorangegangenen Text nicht mehr zu.

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Ursprüngliche Seitenzahl: 317Ca. 20 Seiten mit Bildern von Politikern und dem Register fehlen, können aber auf Wunsch

nachgeliefert werden

Eingescannt und bearbeitet von Becket

Literatur gehört ins Netz!