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PETRA RENNEKE Jakob Loewenberg und die »Kunstwart-Debatte« I. Alain Finkielkraut, der Verfasser der Studie Le Juif Imaginaire, formuliert in einem Essay Einheit in der Vielheit eine interessante Ausgangsthese: »Mein Thema sind Nationalismus und Weltbürgertum, und ich werde versuchen, mich in einem Atemzug sowohl für das Weltbürgertum wie für den Nationa- lismus auszusprechen.« 1 Bemerkenswert ist Finkielkrauts These deshalb, weil er Kosmopolitismus und Nationalismus zwei alte Antagonismen in einem Atemzug nennt. 1912 verffentlichte der jüdische Schriftsteller Moritz Goldstein in der Zeitschrift Kunstwart den Essay »Deutsch-jüdischer Parna«. Er lste eine umfangreiche kontroverse Debatte aus, in der zentrale Fragen des jüdischen Selbstverstndnisses und des Verhltnisses von Judentum und Deutschtum diskutiert wurden. Wie aktuell diese Debatte noch oder wieder ist, zeigt sich darin, dass sie 2002 ausführlich dokumentiert und durch eine Reihe von begleitenden Aufstzen analysiert wurde. Mich interessieren im Folgenden zwei Themen, die in diesen (und frühe- ren) Beitrgen zur »Kunstwart-Debatte« nicht oder nur am Rande beachtet wurden. Zum einen ist das die Position, die der Schriftsteller und Pdagoge Jakob Loewenberg in dieser Debatte einnahm. Zum anderen sind es die Kon- texte der Debatte und die in ihr verhandelten übergreifenden Fragestellungen. Die Binnenstruktur meines Aufsatzes bildet das Nachzeichnen einiger Pa- rameter und physiognomischer Linien des modernen Judentums, wie sie sich in der sogenannten »Judenfrage« seit 1870 konfigurierten und in der »Kunst- wart-Debatte« zur Disposition standen. Dabei geht es um das Formulieren von verschwiegenen Narrativen der Moderne. Die Forderung, sich zur jüdi- schen Identitt zu bekennen, formuliert von Moritz Goldstein und Jakob Loewenberg aus scheinbar entgegengesetzten Positionen und (ideologischen) Lagern, fungiert dabei als ein Dispositiv innerhalb der Konstruktion einer s- thetischen Diaspora als einer Kategorie und Denkfigur der Moderne. Dabei geht es mir ausdrücklich nicht um die Physiognomie einer von Gustav Kro- janker und einigen anderen akzentuierten jüdischen Moderne, »die den Bo- 1 Alain Finkielkraut: »Einheit in der Vielheit«. In: Sichtweisen. »Nationalismus und Weltbürgertum«. Hg. von der Stiftung Weimarer Klassik und DG Bank. Frank- furt/M. 1994, S. 41-52, Zitat S. 42.

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PETRA RENNEKE

Jakob Loewenberg und die »Kunstwart-Debatte«

I.

Alain Finkielkraut, der Verfasser der Studie Le Juif Imaginaire, formuliert in einem Essay Einheit in der Vielheit eine interessante Ausgangsthese: »Mein Thema sind Nationalismus und Weltbürgertum, und ich werde versuchen, mich in einem Atemzug sowohl für das Weltbürgertum wie für den Nationa-lismus auszusprechen.«1 Bemerkenswert ist Finkielkrauts These deshalb, weil er Kosmopolitismus und Nationalismus � zwei alte Antagonismen � in einem Atemzug nennt.

1912 veröffentlichte der jüdische Schriftsteller Moritz Goldstein in der Zeitschrift Kunstwart den Essay »Deutsch-jüdischer Parnaß«. Er löste eine umfangreiche kontroverse Debatte aus, in der zentrale Fragen des jüdischen Selbstverständnisses und des Verhältnisses von Judentum und Deutschtum diskutiert wurden. Wie aktuell diese Debatte noch � oder wieder � ist, zeigt sich darin, dass sie 2002 ausführlich dokumentiert und durch eine Reihe von begleitenden Aufsätzen analysiert wurde.

Mich interessieren im Folgenden zwei Themen, die in diesen (und frühe-ren) Beiträgen zur »Kunstwart-Debatte« nicht oder nur am Rande beachtet wurden. Zum einen ist das die Position, die der Schriftsteller und Pädagoge Jakob Loewenberg in dieser Debatte einnahm. Zum anderen sind es die Kon-texte der Debatte und die in ihr verhandelten übergreifenden Fragestellungen.

Die Binnenstruktur meines Aufsatzes bildet das Nachzeichnen einiger Pa-rameter und physiognomischer Linien des modernen Judentums, wie sie sich in der sogenannten »Judenfrage« seit 1870 konfigurierten und in der »Kunst-wart-Debatte« zur Disposition standen. Dabei geht es um das Formulieren von verschwiegenen Narrativen der Moderne. Die Forderung, sich zur jüdi-schen Identität zu bekennen, formuliert von Moritz Goldstein und Jakob Loewenberg aus scheinbar entgegengesetzten Positionen und (ideologischen) Lagern, fungiert dabei als ein Dispositiv innerhalb der Konstruktion einer äs-thetischen Diaspora als einer Kategorie und Denkfigur der Moderne. Dabei geht es mir ausdrücklich nicht um die Physiognomie einer von Gustav Kro-janker und einigen anderen akzentuierten jüdischen Moderne, »die den Bo-

1 Alain Finkielkraut: »Einheit in der Vielheit«. In: Sichtweisen. »Nationalismus und

Weltbürgertum«. Hg. von der Stiftung Weimarer Klassik und DG Bank. Frank-furt/M. 1994, S. 41-52, Zitat S. 42.

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den für eine neue Art der Betrachtung bereitete«.2 Die Beziehungen von Ju-dentum und Moderne zielen auf die Rekonstruktion jener »anderen« jüdi-schen Geschichte in Deutschland, »die nicht so recht in das Bild einer Ge-schichtsauffassung passen mag, die bestimmt ist von den Koordinaten Assi-milation und Emanzipation, Antisemitismus und �Beiträge� zur deutschen Kultur«3, wie Michael Brenner zu Recht die Festschreibung deutsch-jüdischer Diskurse skizziert. Gefragt wird gleichzeitig nach verborgenen Tra-ditionen der Moderne. Eine dieser verborgenen jüdischen Traditionen besagt, dass Text nicht nur in der lateinischen Etymologie textus: Gewebe, Geflecht heißt, sondern dass Text immer Kontext ist. Dabei geht es um die Rekon-struktion des verschwiegenen enzyklopädischen Wissens der im Judentum und seiner Geschichte konfigurierten sprachlichen und kulturellen Vielfalt als entscheidenden Narrativen der abendländischen Kulturgeschichte. Dazu zählt auch das schwierige Kapitel des Verhältnisses osteuropäischer Juden und In-tellektueller in Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik.

Im Folgenden geht es weniger um eine ausführliche Darstellung der »Kunstwart-Debatte«, wie sie in Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Ge-schichte 20024 rekonstruiert wurde, als vielmehr um Jakob Loewenbergs Po-sition und um einige Akzentverschiebungen in der derzeitigen Diskussion.5 Dabei beziehe ich zwei Publikationen und die durch sie ausgelösten Diskus-sionen mit ein, die mir in diesem Zusammenhang wichtig erscheinen: die Schrift Judentaufen (1912) und die »Janus-Debatte«, die durch den Aufsatz »Das grosse Hassen« (1913) von Cheskel Zwi Klötzel in der Zeitschrift Ja-nus ausgelöst wurde. Die beiden Publikationen gerieten jedoch bis heute re-zeptionsgeschichtlich in den Hintergrund. Ein Beispiel dafür bietet das Me-nora-Jahrbuch, das die »Janus-Debatte« zwar auf fünfzig Seiten abdruckt, aber keiner der Kommentatoren bezieht sie mit ein. Es geht also nicht um biographische Erkundigungen bei der Rekonstruktion der »Kunstwart-

2 Juden in der deutschen Literatur. Essays über zeitgenössische Schriftsteller. Hg.

von Gustav Krojanker. Berlin 1922, S. 7-16, Zitat S. 10.

3 Michael Brenner: »Jüdische Sprachen und die neuere deutsch-jüdische Geschich-te«. In: Jüdische Sprachen in deutscher Umwelt. Hebräisch und Jiddisch von der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert. Göttingen 2002, S. 7-10, Zitat S. 8.

4 Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 2002, Bd. 13: Deutsch-jüdischer Parnaß. Rekonstruktion einer Debatte. Hg. von Julius H. Schoeps, Karl E. Grözinger, Willi Jasper und Gert Mattenklott. Berlin 2002.

5 Vgl. Friedrich Niewöhners Rezension dieses Jahrbuchs: »Haß auf dem Parnaß. Eine Debatte von 1912 über Deutschtum und Judentum«. In: Frankfurter Allge-meine Zeitung vom 11.12.2002, Nr. 288, S. N 3.

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Debatte«, wie sie Elisabeth Albanis6 und Joachim Schlör7 bestreiten, oder um die Frage, ob es sich bei Goldstein um einen »hypereuropäischen Zionisten« handelt, wie sie Manfred Voigts8 auf der Folie der Lektüre von Goldsteins Schrift Wir und Europa9 (1914) stellt. Es geht in der folgenden Darstellung auch nicht um den von Andreas B. Kilcher akzentuierten Aspekt der »Debat-te um die deutsch-jüdische Literatur 1900 bis 1933«.10

II.

Den in Niederntudorf (bei Salzkotten, Kreis Paderborn) geborenen Jakob Loewenberg (1856-1929)11 kann man als einen deutschnationalen und zu-

6 Elisabeth Albanis: »Moritz Goldstein. Ein biographischer Abriß«. In: Menora

2002, S. 203-238.

7 Joachim Schlör: »Von 1912-1938: Moritz Goldsteins Wandlung und Beharrung«. In: Menora 2002, S. 239-270.

8 Vgl. Manfred Voigts: »Der �hypereuropäische� Zionist. Moritz Goldstein, die �Kunstwart�-Debatte und Europa«. In: Menora 2002, S. 271-287. Vgl. auch Man-fred Voigts: »Moritz Goldstein, der Mann hinter der �Kunstwart-Debatte�. Ein Beitrag zur Tragik der Assimilation«. In: Heinrich Mann-Jahrbuch 13 (1995), S. 149-184.

9 Moritz Goldstein: »Wir und Europa«. In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Hg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag. 1. Aufl. Leipzig 1913; zit. n. 2. Aufl. Leipzig 1914, S. 195-209.

10 Andreas B. Kilcher: »Interpretationen eines kulturellen Zwischenraums. Die Debat-te um die deutsch-jüdische Literatur 1900 bis 1933«. In: Menora 2002, S. 289-312.

11 Der weitaus umfangreichste Teil des Nachlasses von Loewenberg, der in der Da-tenbank »www.juedischeliteraturwestfalen.de« verzeichnet ist, wird heute in der Loewenberg-Collection des Leo-Baeck-Institutes New York (AR � C. 442 12000) aufbewahrt. Die Inventarliste umfasst knapp 300 Einzeltitel, die wie folgt geordnet sind: I. Persönliches; II. Reise nach USA 1893; III. Nachrufe, Trauerfeiern, späte-re Berichte; IV. Schultätigkeit; V. Korrespondenz mit Freunden und Verlegern, auch Berichte; VI. Briefe, Familie; VII. Gedichte; VIII. Gedichte, Familie; IX. Es-says; X. »Rübezahl«, Märchenspiel; XI. Fotos; XII. Wiedergutmachung; XIII. Ta-gebücher. Ein zweiter größerer Bestand befindet sich in der Staats- und Universi-tätsbibliothek Hamburg. Der Teilnachlass aus älterer Zeit enthält Briefe von Ri-chard Dehmel, Marie von Ebner-Eschenbach, Otto Ernst und Detlev Liliencron. In jüngster Zeit kamen etwa 190 Autografen hinzu, die noch nicht katalogisiert sind, darunter u.a. Briefe von Gerhard Hauptmann, Theodor Storm und Arno Holz. Vgl. Jakob Loewenberg: Aus zwei Quellen. Die Geschichte eines deutschen Juden. Roman. Mit je einem Nachwort hg. von Peter Frielingsdorf und Karl-Martin Flü-ter. Paderborn 1993 sowie Jakob Loewenberg: Aus jüdischer Seele. Ausgewählte Werke. Mit einem Vorwort von Günter Kunert. Hg. von Winfried Kempf. Pader-born 1995.

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gleich jüdischen Schriftsteller und Pädagogen bezeichnen. Er ist Mitglied des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und der Verfasser unter anderem der Werke Aus jüdischer Seele und Deutsche Dichter-Abende. Eine Sammlung von Vorträgen über neuere deutsche Literatur (1904), im letzteren Werk porträtiert er nicht deutsch-jüdische, sondern deutsche Schrift-steller-Idole. So beginnt Loewenberg seine Vortragsreihe, gehalten in der Li-terarischen Gesellschaft zu Hamburg, die er zusammen mit Gustav Falke, Otto Ernst und Detlev Liliencron gegründet hatte, mit der katholischen Dich-terin Annette von Droste-Hülshoff (1893), über Christian Dietrich Grabbe (1901), Nikolaus Lenau (1902), Friedrich Wilhelm Weber (1894), Marie von Ebner-Eschenbach (1898), bis hin zu seinem großen literarischen Vorbild Detlev von Liliencron (1904) und Gerhard Hauptmann (1896). Die Reihe der Vorträge endet mit einem Kapitel zur modernen Frauenlyrik (1897).

Loewenberg war, heute beinah vergessen, kaum mehr gelesen und rezi-piert, zu seiner Zeit ein viel gelesener Autor und Verfechter der Volksbil-dung. In Arbeiterbildungskursen sprach er über deutsche Literatur. Seine An-thologie Vom goldenen Überfluß12 (1902), fokussiert auf die »neuern deut-schen Dichter«, erschien bis 1932 in mehreren Auflagen von je über 100 000 Exemplaren. Loewenberg wählte die Gedichte für eine weitere Anthologie aus mit dem Titel Die Heide. Aus deutschen Dichtungen (1921), die er mit folgenden Sätzen einleitet:

Es gab eine Zeit, und sie liegt noch nicht fern, in der die Heide nicht nur nicht gekannt, in der sie gänzlich verkannt, ja mißachtet war, wie denn Nichtkenntnis und Verkennen so häufig zusammen-gehen.13

Die am Ende verzeichneten Dichter und Quellen sollen � so die Einführung im pathetischen Ton � die Topografie einer verkannten Landschaft darstellen. Zu diesen Dichtern gehört der deutschnationale Schriftsteller und Herausge-ber des Kunstwart14 Ferdinand Avenarius, wie die bereits erwähnten verehr-

12 Vom goldenen Überfluß. Eine Auswahl aus neuern deutschen Dichtern für Schule

und Haus im Auftrage und unter Mitwirkung der Literarischen Kommission der Hamburger Lehrervereinigung zur Pflege der künstlerischen Bildung. Hg. von Dr. J. Loewenberg. Leipzig [1902].

13 Die Heide. Aus deutschen Dichtungen. Ausgewählt von Dr. J. Loewenberg. Biele-feld und Leipzig 1921 (=Deutsche Schulausgaben; 182), Zitat S. III.

14 Vgl. Gerhard Kratzsch: Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus. Göttingen 1969. Am 1. Oktober 1887 erschien Der Kunstwart. Eine Rundschau über alle Gebiete des Schönen. Um 1900, so Kratzsch, stellte sich neben dem bis dahin üblichen Wort »national« das

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ten Dichter-Heroen Dehmel, Droste-Hülshoff, Ernst, Falke oder Freiligrath, Hebbel, Hesse, Löns, Stifter und natürlich Loewenberg selber. Die Antholo-gie Steht auf ihr lieben Kinderlein15 (1906) bildet ein Pendant zur ersten An-thologie Vom goldenen Überfluß. Loewenberg versuchte sich auch im Genre Märchen, wie das Märchenspiel Rübezahl16 (1904) zeigt. Der Pädagoge Loewenberg scheint durch in Titeln wie Aus der Welt des Kindes17 (1911), ein Buch, das sich wie ein Ratgeber für Eltern liest. Zwei Jahre später er-schien das Kinderbuch Bittegrün18 (1913). Als Direktor des Höheren Mäd-chenlyzeums in Hamburg veröffentlichte er 1916 das Kriegstagebuch einer Mädchenschule.19 Posthum kam 1931 Mutschi. Eine lustige Geschichte20 auf den Buchmarkt. Neben der Dissertation Über Otway�s und Schiller�s Don Carlos (1886) verfasste Loewenberg Novellen, wie Stille Helden (1905), und Dramen wie Vor dem Feind (1890) sowie Aelfrida (1919).21

Ein Blick auf Loewenbergs Lyrik zeigt immer wieder: Deutschnationale und jüdische Aspekte bilden für ihn nur eine Identität und schließen sich kei-nesfalls aus.22

Wort »völkisch« ein (ebd., S. 161), und antisemitische Autoren wie Adolf Bartels und Wilhelm Stapel wählten den Kunstwart zur Plattform antisemitischer Parolen. Adolf Bartels konstatierte: »[...] das deutsche Blut aber, das mir in den Adern fließt, ist eine Realität, [...] ein ganz besonderer Saft.« Adolf Bartels: »Neues Er-zählendes«. In: Der Kunstwart 12 (1898), H. 6, S. 187.

15 Steht auf ihr lieben Kinderlein. Gedichte aus älterer und neuerer Zeit für die Schule ausgewählt von Gustav Falke und Jakob Loewenberg. Köln 1906. In der Vorrede bezeichnet Loewenberg diese Gedichtsammlung mit Scherzgedichten, Sprüchen und Rätseln als Pendant zur Anthologie Vom goldenen Überfluß. Sie sei für das jüngere Kindesalter bestimmt, aufgeteilt in zwei Abteilungen: die erste für das 6. und 7. Lebensjahr, die zweite für das 8. und 9.

16 Jakob Loewenberg: Rübezahl. Ein Märchenspiel in vier Akten. 1. Aufl. Hamburg 1904; 3. Aufl. Hamburg 1922.

17 Jakob Loewenberg: Aus der Welt des Kindes. Ein Buch für Eltern und Erzieher. Leipzig 1911.

18 Jakob Loewenberg: Bittegrün. Kinderbuch. Leipzig 1913.

19 Jakob Loewenberg: Kriegstagebuch einer Mädchenschule. Berlin 1916.

20 Jakob Loewenberg: Mutschi. Eine lustige Geschichte. Hamburg 1926.

21 Vgl. Loewenbergs In Gängen und Höfen. Eine Hamburger Erzählung. Hamburg 1893; Stille Helden. Novellen. Hamburg 1906 sowie Vor dem Feind. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Altona und Leipzig 1890; Aelfrida. Drama in fünf Aufzügen. Hamburg 1919.

22 Vgl. Loewenbergs Gedichtbände: Gedichte. Norden 1889; Neue Gedichte. Ham-burg 1895; Von Strand und Straße. Gedichte. Hamburg 1905; mit der Widmung: »Otto Ernst und seiner Helmy zu eigen«. Deutsche Balladen. Ausgewählt von Dr.

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Jakob Loewenberg wächst in einem keineswegs assimilierten Elternhaus auf, und in einem nicht-intellektuellen Klima. Judentum und Deutschtum spielten unhinterfragt, selbstverständlich eine Rolle, ohne die Dominanz des einen oder anderen. Loewenbergs stark autobiografischer Roman mit dem für seine Position programmatischen Titel Aus zwei Quellen23 erzählt unter ande-rem aus der Ich-Erzähler-Perspektive die Geschichte einer schwierigen, aber glücklichen Kindheit in einem kleinen Dorf in der Nähe von Paderborn. Als Antwort auf eine Umfrage nach dem Jüdischen in seinem Werk schrieb Loe-wenberg 1925, als eine Referenz zu diesem Roman:

Die zwei Quellen � das sind Judentum und Deutschtum �. Aus ih-nen beiden strömt dem Träger der Handlung sein Fühlen und Den-ken. Was er äußert, ist mein eigenstes Bekenntnis. Niemals habe ich einen Zwiespalt zwischen dem Juden und dem Deutschen in mir gefühlt. [...] Die Heimat meiner Seele ruht in beiden. Und wenn ich jemals auf etwas stolz war, so war es darauf: Deutscher und Jude zu sein.24

Das ist ein klares Bekenntnis � allerdings keineswegs unhintergehbar. Itta Shedletzky erinnert in ihrem Aufsatz »Ludwig Jacobowski (1868-

1900) und Jakob Loewenberg (1856-1929). Literarisches Leben und Schaffen �aus deutscher und aus jüdischer Seele�« an die geübte Kritik an Loewenbergs »Deutschjudentum« und daran, dass das Leben und Werk beider Schriftsteller sehr stark von ihrem »Jude-und-Deutscher-Sein« oder »Deutscher-jüdischer-Herkunft-Sein«25 geprägt sei. Abschließend resümiert Shedletzky:

J. Loewenberg. Bielefeld und Leipzig 1924 (=Deutsche Schulausgaben; 197); A-bendleuchten. Ausgewählte Gedichte. Hamburg 1926.

23 Jakob Loewenberg: Aus zwei Quellen, als Erstdruck in Fortsetzungen erschienen im Israelitischen Familienblatt, Hamburg, 9 (1906). Als Buch veröffentlicht: Ber-lin 1914. Die zweite Aufl., Berlin 1919, verzeichnet den Untertitel »Die Geschich-te eines deutschen Juden«. Vgl. auch die Neuausgabe Paderborn 1993 (Anm. 11).

24 Jüdisch-liberale Zeitung 1925, V, S. 42, zit. n. Ernst Loewenberg: »J.L. Lebens-bild eines deutschen Juden«. In: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 27 (1931), S. 99-151, Zitat S. 151.

25 Itta Shedletzky: »Ludwig Jacobowski (1868-1900) und Jakob Loewenberg (1856-1929). Literarisches Leben und Schaffen �aus deutscher und aus jüdischer Seele�«. In: Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion. Hg. von Stéphane Mosès und Albrecht Schöne. Frankfurt/M. 1983, S. 194-209, Zitate S. 200 und S. 194.

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Für beide hing jüdische Thematik und Problematik mit der Juden-frage zusammen, mit dem Jude-Sein in feindlich gesinnter Umge-bung. Sie setzten sich dagegen nicht mit dem Judentum als geisti-gem Erbe, nicht mit jüdischen Inhalten auseinander. Loewenberg bearbeitete zwar jüdische Motive, aber entweder in belehrenden Nacherzählungen wie im Gedicht über die talmudische Figur der Beruria oder als Analogie zur gegenwärtigen Situation der Juden wie in Kämpfen und Bauen (nach dem vierten Kapitel des Buches Nehemia).26

Aufgewachsen ist Loewenberg in einem jüdisch orientierten Elternhaus im katholischen Milieu des kleinen, stickigen, westfälischen Dorfes, in dem die jüdischen Traditionen, Riten und Bräuche der Minderheit des »für weite Teile Westfalens typischen Landjudentums«27 in Form von Besuchen der Synago-ge, das Feiern der jüdischen Festtage wie Sukkot und Rosch Haschana, der Besuch der jüdischen und katholischen Dorfschule, insbesondere die Erinne-rungen an den ersten Schultag, den Alltag des Kindes bestimmten. Geboren in der Provinz und späteres Leben in der Großstadt28: Hier deutet sich eine prekäre Liaison zwischen Provinzialismus und Kosmopolitismus an, als die zwei Seiten einer Medaille, die die Physiognomie einiger jüdischer Intellek-tueller dieser Generation prägt.

Der Leser von Loewenbergs Deutsche Dichter-Abende und seines Ge-dichts Mein Vaterland aus dem 1892 erschienenen Gedichtband Lieder eines Semiten ist zunächst irritiert. Da stehen Titel wie Aus jüdischer Seele29, der genannte Gedichtband mit veränderter Überschrift aus dem Jahr 1901, Detlev von Liliencron30 (1904), Der gelbe Fleck, ein Drama31 (1899) oder das

26 Ebd., S. 203.

27 Hartmut Steinecke: »Loewenberg, Jakob«. In: Metzler-Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Andreas B. Kilcher. Stuttgart [u.a.] 2000, S. 394-396, Zitat S. 394f.

28 Vgl. den Reformpädagogen Loewenberg zur Kritik der »lebensreformerischen« Ressentiments gegen den »Moloch Großstadt« im Kapitel »Was unsern Groß-stadtkindern fehlt (Naturanschauung und Kunst)«. In: Geheime Miterzieher. Plau-dereien für Eltern und Erzieher. 1. Aufl. Hamburg 1903; 3. verb. Aufl. 1906, S. 96-126.

29 Jakob Loewenberg: Aus jüdischer Seele. Gedichte. Hamburg [1901].

30 Detlev von Liliencron. Mit einem Bildnis Detlev von Liliencrons. Hamburg 1904.

31 Jakob Loewenberg: »Der gelbe Fleck, ein Drama«. In: Ders.: Der gelbe Fleck. Berlin 1924, S. 119-143. In diesem Band sind auch die zwei bekanntesten

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Fragment eines Dramas Süsskind von Trimberg32, posthum 1936 erschienen, ohne Binde- und Trennungsstriche nebeneinander. Wie gehen diese scheinbar so disparaten, dichotomen Positionen, die sich in Loewenbergs Werk ankün-digen zusammen: Jude und Deutscher gleichermaßen zu sein?

I. Mein Vaterland! Wie�s mich durchschauert Bei deines Namens hehrem Klang! Mein ward, um was ich heiß getrauert In finstrer Zeiten Sturm und Drang. Nicht bist du frei mir zugefallen Als Menschenrecht, als göttlich Gut: Ich habe heiß um dich gerungen In schwerem Kampf mit Schweiß und Blut. Und schallt es nun aus Red� und Schriften: Du Fremdling, fort aus unsern Reih�n! Das Leben könnt Ihr mir vergiften, Rein bleibt und treu die Seele mein. Ihr könnt mir das Gefühl nicht rauben, Das freudigstolz die Brust mir schwellt; Trotz euer: Deutschland über al les , Ja, über alles in der Welt!33

Hier erklingen die Lieder eines Semiten als der patriotische Lobgesang auf Mein Vaterland Deutschland. Loewenberg erhebt in diesem frühen Gedicht-band bereits die Stimme als Jude und deutscher Patriot, er zeigt die zwei mit-

Erzählungen Loewenbergs, Die schwarze Riwke (1898) und Der Davidskolk (1918), veröffentlicht, die in dem Band Aus jüdischer Seele (Anm. 11) wieder ab-gedruckt wurden.

32 Jakob Loewenberg: »Süsskind von Trimberg. Fragment eines Dramas«. In: Jahr-buch für die jüdischen Gemeinden Schleswig Holsteins und der Hansestädte, der Landesgemeinde Oldenburg und des Regierungsbezirks Stade. Bd. 8. Hamburg 1936.

33 Jakob Loewenberg: Lieder eines Semiten. 1. Auflage. Hamburg 1892, S. 3. Vgl. die Abdrucke der Gedichte in der ersten Auflage ohne Überschriften und in spä-teren Abdrucken mit Titeln und Textvarianten. So lautet der in späteren Aufla-gen abweichende Wortlaut der zweiten Zeile »Bei deinem Namen heil�gem Klang« oder »Nicht bist du frei mir zu gefallen« in der 5. Zeile der ersten Stro-phe. Vgl. den Erstdruck in der ersten Auflage 1892 mit dem Wiederabdruck in: Jakob Loewenberg: Aus jüdischer Seele (Anm. 11), S. 15.

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einander korrespondierenden Seiten einer jüdischen Seele. Und dieses Vater-land ist keineswegs (als Menschenrecht und göttliches Gut) selbstverständ-lich gegeben, sondern zeitlebens stark umkämpft. Dass Judentum und Deutschtum nicht als Ausschlussverfahren im Denken fungieren müssen, zeigt das Gedicht Semit. In diesem Gedicht werden Diaspora und Heimat miteinander verknüpft:

VII. »Semit! Und fühlst du nicht die Schande, Den Schimpf, die Schmach in diesem Wort?« »»Ich fühl�s. � Ich zog von Land zu Lande Ich wanderte von Ort zu Ort; Doch ob ich in der Heimat Fluren, Ob fern den Frieden ich gesucht: Allüberall fand ich die Spuren Von jenem Volke, tief verrucht. [...] Daß du nicht kannst den Drachen töten, Mein Deutschland, sonst so ritterlich: Als Jude fühl� ich kein Erröten, Jedoch als Deutscher schäm� ich mich!««34

Allerdings war Loewenberg im Gegensatz zu Goldstein »die seelische Not des deutschen Juden«, nie »ganz jüdisch oder ganz deutsch zu werden« (Ber-liner Jahre)35, nicht bekannt. Während Moritz Goldstein die Vision der Kon-figuration einer jüdisch-nationalen Identität hatte im Hinblick auf eine kultu-relle, eben »�geistige Organisation� des Judentums«, so in seinem Aufsatz »Geistige Organisation des Judentums«36 (1906) entfaltet, ging Loewenberg

34 Loewenberg: Lieder eines Semiten (Anm. 33), S. 10.

35 Moritz Goldstein: Berliner Jahre. Erinnerungen 1880-1933. München 1977 (=Dort-munder Beiträge zur Zeitungsforschung; 25). Das Manuskript entstand bereits 1948 und erschien erst im Todesjahr von Goldstein, 1977. Der Herausgeber von Gold-steins Autobiographie, Kurt Koszyk, weist darauf hin, dass Goldstein zu jener ver-gessenen Journalistengeneration zählt, die 1918-1933 an der Gestaltung der Vossi-schen Zeitung mitwirkte. Koszyk sieht in diesem Dokument ein »überpersönliches Zeugnis für das liberale Judentum in der bürgerlichen Gesellschaft der Wilhelmini-schen und der Weimarer Jahre« (Vorwort, S. 6). Im Anhang der Berliner Jahre be-finden sich journalistische Arbeiten Goldsteins, unter dem Pseudonym Inquit.

36 Moritz Goldstein: »Geistige Organisation des Judentums«. In: Ost und West. Il-lustrierte Monatsschrift für modernes Judentum 6 (1906), H. 8/9, S. 513-526.

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von einer jüdischen, deutschnationalen Identität als Ausgangsbasis seines Schreibens aus. An dieser Schnittstelle eröffnet sich bereits Loewenbergs Gegenposition zu Moritz Goldstein, die er dann in seinem Beitrag zur »Kunstwart-Debatte« auch vehement vertritt. Goldstein forderte von den deutschen Juden »auf die Ehre, ein deutscher Dichter zu heißen, und deutsche Kultur zu machen, zu verzichten«37, sich unhintergehbar, eindeutig zum jüdi-schen Volk zu bekennen und die hebräische Sprache und Poesie wieder zu beleben.38 In seiner im gleichen Jahr 1912 veröffentlichten Schrift Begriff und Programm einer jüdischen Nationalliteratur39 plädierte Goldstein für eine »nationale Tendenz« und für die »Aufrichtung eines neuen Lebenside-als, an dem der Geist des jüdischen Volkes lebendig und wirklich wird«.40 Er verlangte »ein jüdisches Heldenideal« aufzurichten, indem den Juden ihre Geschichte wieder heroisch gemacht werde.41 Denn zu fragen bleibt, nicht nur von Seiten Loewenbergs: Können die Schriftsteller dieser Generation den von Goldstein in dieser programmatisch formulierten Schrift geforderten »Sprung ins Hebräische« (mit oder ohne Iwrit-Kenntnisse) überhaupt leisten? Und was ist eine explizit �jüdische Kultur�, was ist eine deutschsprachige jü-dische Nationalliteratur oder gar ein »Judendrama«, ein »Judenroman«, die nach Meinung Loewenbergs gar nicht begründet bzw. geschrieben werden können? Loewenbergs Ansicht nach gibt es demzufolge � im Gegensatz zu Goldsteins Überlegungen � keine »jüdische Literatur« in deutscher Sprache; das bedeutet: Mit Vehemenz legt er Widerspruch ein gegen Goldsteins For-derung einer deutschsprachigen jüdischen »Nationalliteratur«. Für Loewen-berg gibt es eine deutsche Literatur, wie in den Deutschen Dichter-Abenden der Hamburger Literarischen Gesellschaft nachzulesen ist. Insbesondere der Vortrag zu Annette von Droste-Hülshoff und die Betonung der Verbindung zwischen ihrer Verwurzelung in der westfälischen Heimat und den Auswir-kungen bis hin zu Prägungen ihres Werkes verdeutlichen nicht nur Loewen-bergs unverhohlenen Patriotismus � teilweise in einem pathetischen Stil for-muliert �, sondern auch seine gefestigte, keineswegs dualistische Position,

37 Moritz Goldstein: »Deutsch-jüdischer Parnaß«. In: Der Kunstwart 25 (1912), H.

11, S. 281-294, Zitat S. 289.

38 Vgl. ebd., S. 289f.

39 Moritz Goldstein: Begriff und Programm einer jüdischen Nationalliteratur. Berlin 1912.

40 Ebd., S. 13.

41 Ebd., S. 18.

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die keine Zwischen- oder Zwitterlösung zuließ.42 Und genau diese Überle-gungen und Reflexionen zu einer jüdischen Kultur in Deutschland mit den entsprechenden Institutionalisierungen � in Form einer »jüdischen Wissen-schaft«, »jüdischer Publizistik und Kritik« �, die kaum ein halbes Jahrzehnt nach seinem Aufsatz »Geistige Organisation des Judentums« in Goldsteins Deutsch-jüdischem Parnaß ihren Niederschlag finden, werden von seinen intellektuellen Zeitgenossen, also keineswegs nur von Loewenberg, als »An-maßung« empfunden. Höhepunkt des »Anstoßes« bildet dabei der in gegen-wärtigen Diskussionen über die Debatte viel zitierte Satz: »Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und die Fähigkeit dazu abspricht.«43 Andreas Herzog gibt den wichtigen Hinweis, in welchem Kontext Goldsteins Bestrebungen »Deutsch-jüdischer Parnaß« betrachtet werden müssen: als Teil einer umfassenden Auseinandersetzung unter »deutschen bzw. österreichischen Schriftstellern und Intellektuellen jüdischer Herkunft, in der sie sich mit der Frage eines neuen, dezidiert jüdischen Selbstverständnisses«44 im Zusammenhang der hochbrisanten Kon-figuration des modernen Judentums und dessen Physiognomie beschäftigten.

III.

Loewenbergs Verständnis des Judentums wird unter anderem geprägt von Hermann Cohen (1842, Coswig � 1918, Berlin), bei dem er 1884 in Marburg studierte. Cohens Position ist besonders deutlich in der Schrift Ein Bekenntnis in der Judenfrage45 (1880) formuliert. Diese entstand, im Kontext des Berli-

42 Eine dualistische Position skizziert präzise beispielsweise Jakob Wassermann in sei-

ner Reaktion auf Martin Buber Der Jude als Orientale. Vgl. Jakob Wassermann: »Der Jude als Orientale«. In: Vom Judentum (Anm. 9), S. 5-8.

43 Vgl. Anm. 37.

44 Andreas Herzog: »Zur Modernitätskritik und universalistischen Aspekten der �Jü-dischen Renaissance� in der deutschsprachigen Literatur zwischen Jahrhundert-wende und 1918«. In: Trans (November 1997), Nr. 2.

45 Hermann Cohen: Ein Bekenntnis in der Judenfrage. In: Ders.: Jüdische Schriften. Berlin 1924. Cohen lehrte ab 1915 bis zu seinem Tod in Berlins liberalem Rabbi-nerseminar, der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Cohen »über-setzt« Kants kategorischen Imperativ als einen moralischen, ethischen Handlungs-imperativ � auf der Grundlage des Prinzips der imitatio dei � in Referenz zur negativen Theologie von Maimonides. Cohen nannte das System der Übersetzung »die Methode der Korrelation« zwischen menschlicher Moral und Gott als »ethi-sche[r] Monotheismus«, Kernideal des Judentums als einziger Religion der Ver-nunft.

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ner Antisemitismusstreites46, als Entgegnung auf Heinrich von Treitschkes Angriff auf die Juden Ein Wort über unser Judentum (1879), einem emphati-schen Bekenntnis zu Deutschland als deutschjüdischem Vaterland. Treitschke erhob den Vorwurf, dass Juden keine wirklichen Deutschen seien und auch niemals sein könnten. Cohen forderte ein Bekenntnis als Dispositiv in der modernen Judenfrage, das freilich für ihn als Neukantianer einen Handlungs-imperativ zeitigt. Er verteidigte � zum Wohlgefallen von Loewenberg und anderen deutschnationalen Juden � die Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft und argumentierte � eine Generation vor Goldstein �, Juden re-präsentierten als Erben traditioneller jüdischer Werte das Wertvollste in der deutschen Kultur. Cohen beginnt seine Entgegnung auf Treitschke mit den programmatischen Worten:

Es ist also doch wieder dahin gekommen, daß wir bekennen müs-sen. Wir Jüngeren hatten wol hoffen dürfen, daß es uns allmählich gelingen würde, in die »Nation Kants« uns einzuleben; daß die vorhandenen Differenzen unter der grundsätzlichen Hilfe einer sittlichen Politik und der dem Einzelnen so nahe gelegten histori-schen Besinnung sich auszugleichen fortfahren würden; daß es mit der Zeit möglich werden würde, mit unbefangenem Ausdruck die vaterländische Liebe in uns reden zu lassen, und das Bewußtsein des Stolzes, an Aufgaben der Nation ebenbürtig mitwirken zu dür-fen.47

Dass es sich hierbei um Fragen der Physiognomie des modernen Judentums handelt, attestiert Cohen im Hinblick auf Treitschkes Racenfrage unmissver-ständlich: »Denn Racen-Instincte dürften sich allerdings durch keinen Feder-

46 Der Berliner Antisemitismusstreit. Hg. von Walter Boehlich. Frankfurt/M. 1965.

Hierbei handelt es sich um eine erstmalig zusammengestellte Sammlung von Do-kumenten aus den Jahren 1879-1880, die die lange Vorgeschichte des gescheiter-ten »Universitäts-Antisemitismus«, der 1933 offen zum Ausbruch kam, darstellt. Vgl. Der Berliner Antisemitismusstreit 1879-1881. Eine Kontroverse um die Zu-gehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition. Im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung bearbeitet von Karsten Krie-ger. 2 Teile. München 2003. Vgl. hierzu Julius H. Schoeps� Rezension: »Das E-vangelium der Intoleranz. Theodor Mommsen gegen Heinrich von Treitschke: Ei-ne Dokumentation wirft neues Licht auf den Berliner Antisemitismusstreit«. In: Die Zeit, 30.10.2003, Nr. 45, S. 55.

47 Vgl. Hermann Cohen: Ein Bekenntnis in der Judenfrage, datiert: »Marburg, am 24. Januar 1880. In: Der Berliner Antisemitismusstreit (Anm. 46), S. 124-149, Zi-tat S. 124f.

Jakob Loewenberg 77

krieg beschwichtigen lassen. Physiognomische Probleme, als Fragen unter Bürgern desselben Staates erhoben, sind Ehrenfragen.«48

Ein Gespenst geht um in Moritz Goldsteins »Deutsch-jüdischem Parnaß« und in den Reaktionen der von ihm ausgelösten »Kunstwart-Debatte«: und zwar der unhintergehbare Antinomismus von Judentum und Deutschtum, von Judentum und (protestantischem) Christentum. Diesem Gespenst tritt der Neukantianer Hermann Cohen vehement entgegen. Eine Rolle spielt dabei auch Cohens Schrift Deutschtum und Judentum49 (1915), von der Loewen-berg, der seine Vorlesung zur »Geschichte der nachkant�schen Philosophie« sowie dessen »Philosophische Übungen« im Jahr 1884 besuchte, tief beein-druckt war.50 Loewenbergs Besuch dieser zwei Veranstaltungen von Cohen in Marburg lässt sich anhand des »Anmelde-Buches« im Leo-Baeck-Institut New York (LC I.II) nachweisen. Und genau dieses Gespenst des Antinomis-mus geisterte als unheimlicher Gast umher und diktierte die Semantik so mancher rhetorischer Texte der Zeit, wie im Folgenden unter anderem aufge-zeigt wird. Denn Loewenberg beharrt im Anschluss an seine Cohen-Studien auf dem nicht antinomistischen, sondern gleichsam »integrativen« oder dia-lektischen Charakter von Deutschtum und Judentum als einer politischen U-topie. Und diese politische Utopie signalisiert � freilich ein wenig unbeholfen � eine eigentümliche Konstellation zwischen Judentum und (ästhetischer) Moderne. Tatsächlich gab es seit etwa 1905 einen Diskurs der Krise und Tra-gödie der Kultur in Deutschland.51 »Der Fall des Gesetzes aber ist nicht das

48 Ebd., S. 125.

49 Hermann Cohen: Deutschtum und Judentum. Mit grundlegenden Betrachtungen zu Staat und Internationalismus. 1. Aufl. Gießen 1915; 2. Aufl. Gießen 1916. Vgl. hierzu: Karol Sauerland: »Im Namen einer deutsch-jüdischen Symbiose: Hermann Cohen«. In: Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871-1933. Hg. von Winfried Barner und Christoph König. Göttingen 2001, S. 153-162.

50 Vgl. hierzu: Bernd Wacker, Winfried Kempf: Jakob Loewenberg 1856-1929. Er-innerung an sein Leben und Werk. Hg. von »Judentum in Salzkotten e.V.« Salz-kotten 1992, S. 135f., 143f.

51 Christoph Schmidt gibt in seinem Essay zu Hermann Cohen und Carl Schmitt den Hinweis: »Im Anschluß an Friedrich Nietzsches �Geburt der Tragödie� entwickelt sich der Diskurs über die Tragödie der modernen Kultur.« Schmidt erinnert an Georg Simmels Schrift Der Begriff und die Tragödie der Kultur. Berlin 1911 oder an Theodor Lessings: Der Untergang der Erde am Geist. München 1916 oder aber an Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1920-1921. Vgl. Christoph Schmidt: »Vor dem Gesetz. Zur Dialektik von jüdischer Moderne und politischer Theologie«. In: Erfahrung und Zäsur. Denkfiguren der deutsch-jüdi-schen Moderne. Hg. von Ashraf Noor. Freiburg/Br. 1999 (=Rombach Wissen-schaften: Reihe Litterae; 67), S. 115-140, Zitat S. 117.

Petra Renneke 78

Individuum.« Dieses Diktum steht am Eingang von Cohens Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums.52 Christoph Schmidt skizziert diese Zeit der Kulturkrise als eine Zeit der Konfrontation des Individuums mit dem Gesetz.53 Diese Konfrontation wurde um die Jahrhundertwende, bis zum Zeitfenster der »Kunstwart-Debatte«,

zum Hebel, mit dem sich die neokantianische Begriffsmaschine selbst zerstörte. Insofern verweist Cohens Formel von der »Krise des Gesetzes« auf die Logik, [...] auf das »Gesetz«, der Krise, das sich in den verschiedenen lebensphilosophischen, phänomenologi-schen, ontologischen und theologischen Formen von Antinomismus als einen großen häretischen Imperativ gleichsam ausspricht.54

Der Akzent liegt hier auf den verschiedenen Formen des Antinomismus, der in diesem Kontext gleichzeitig als entscheidendes Dispositiv der Moderne fungiert.

IV.

In einem anonymen Nachruf auf Moritz Goldstein im Mitteilungsblatt (MB). Wochenschrift des Irgun Olej Merkaz Europa erinnert der Verfasser an die Schrift Judentaufen mit einem Vorwort von Werner Sombart, die »neben der �Kunstwart-Debatte� gelesen werden sollte«.55

Es stellte dies ein Umfrage-Ergebnis nach dem Erscheinen von Sombarts »Die Juden und das Wirtschaftsleben« dar. Diese Bro-schüre mit damals sehr prominenten Deutschen und Juden ist völ-lig vergessen, obwohl sie z.B. anzeigen würde, dass die von Gold-stein aufgerührte Diskussion um die Judenfrage in Deutschland damals � und offenbar unabhängig voneinander � viele Kreise der deutschen Intelligenz beschäftigten.56

52 Hermann Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Nach

dem Manuskript des Verfassers neu durchgearbeitet und mit einem Nachwort ver-sehen von Bruno Strauß. Köln 1959.

53 Christoph Schmidt liest Cohens Text im intertextuellen Verfahren zu Kafkas Vor dem Gesetz � einem Text, der sich dem Leser wie der Zeit verweigert.

54 Schmidt (Anm. 51), S. 117.

55 [s.n.]: »In Memoriam Moritz Goldstein«. In: Mitteilungsblatt (MB). Wochenschrift des Irgun Olej Merkaz Europa 45 (30.9.1977), S. 5.

56 Ebd.

Jakob Loewenberg 79

Moritz Goldstein hatte also keineswegs als erster die Frage der Stellung der Juden in der deutschen Kultur und Literatur in seiner Zeit aufgeworfen, son-dern die seit den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in ausgesprochen intellektuellen Kreisen diskutierte so genannte »Judenfrage« aufgegriffen und zum zentralen Gegenstand seines vielbeachteten Aufsatzes »Deutsch-jüdischer Parnaß« gemacht. Diese historische Debatte wurde nicht nur in Kunstwart und Janus, sondern auch in anderen Zeitschriften geführt � wie Ost und West, Jüdische Rundschau oder Allgemeine Zeitung des Judentums (in der sich Ludwig Geiger, der sich an beiden Debatten beteiligte, gleich zweimal zu Wort meldete). In den über neunzig Zuschriften an den Kunst-wart, von denen in der Rubrik Sprechsaal nur eine Auswahl erschien, kamen neben den bereits Genannten, Paul Cohen, Franz Quentin (alias Ludwig Strauß), Philipp Stauff auch andere, nur mit Initialen genannte Autoren zu Wort. Ludwig Geiger betitelt seine Reaktion mit »Der Kunstwart und die Ju-denfrage«.57 Geiger lehnt nicht nur Goldsteins Kernthese »Wir Juden verwal-ten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung dazu ab-spricht« als indiskutabel ab, sondern auch die vielstimmigen Reaktionen � außer der Zuschrift von Loewenberg: »Die einzige Antwort auf die Goldsteinschen Ausführungen, die wirklich Beachtung verdient, ist die des Herrn Jakob Loewenberg.«58

Zugespitzt könnte man formulieren: Goldstein ging es in erster Linie nicht um den Aspekt der deutsch-jüdischen Literatur als »Musenberg«, denn der »�Jude in der deutschen Literatur�, das ist eines von den allerheikelsten Din-gen, die nicht in den Mund genommen werden dürfen, will man sich nicht heillos kompromittieren«.59 Er wendet sich an sein Volk. Goldstein wollte keineswegs in erster Linie darauf hinweisen, »daß deutsche Kultur zu einem nicht geringen Teil jüdische Kultur« ist, als ein so genannter Beitrag jüdi-scher Literatur zu der deutschen Kultur. Vielmehr forderte er ein klares Be-kenntnis gerade deutscher Juden zum Judentum, sich »schamlos als Juden« zu bekennen und nicht nur für Juden über Juden zu schreiben, oder ihren An-teil an einer nicht jüdischen Kultur und deutsch-jüdischen Literatur unter Beweis zu stellen. Juden sollten mit Stolz »unbedingt als Juden wirken«. Im Klartext: Goldstein berührte eine Problemkonstante, die sich den jeweiligen Zuschreibungen wie deutsch-jüdisch, deutschnational, liberal oder assimiliert

57 Ludwig Geiger: »Der Kunstwart und die Judenfrage«. In: Allgemeine Zeitung des

Judentums 76 (1912), Nr. 46, S. 542 und Nr. 47, S. 554f.

58 Ebd. [Herv. im Orig.]. Im Anschluss zitiert Geiger Loewenbergs Beitrag noch einmal vollständig.

59 Goldstein (Anm. 37), S. 281.

Petra Renneke 80

� mit Rücksicht auf die Bindestrichproblematik � völlig entzieht. Sich zu be-kennen � und zwar rückhaltlos � hat etwas mit »Gabe« (etymologisch von geben) im religiösen, ethischen Sinn (nach Derrida) zu tun.

Loewenbergs Ausgangssituation seiner zu Goldstein konträren Position in der »Kunstwart-Debatte« bildet die Konfrontation mit dem Antisemitismus. Loewenberg bezog Stellung zum Antisemitismus seiner Zeit. So erschien 1919 ein offener Brief über Antisemitismus in der Monatsschrift Deutsches Volkstum.60 Die vermeintliche Dorf-Idylle aus Kindertagen wird durchkreuzt:

Ich wanderte im vergangenen Herbst, mich der stillen Schönheit der Landschaft freuend, durch ein kleines Heidedorf von wenigen Häusern, in dem sicherlich nie ein Jude gewohnt [...]. Da ruft ein Bürschchen von etwa acht Jahren mir schimpfend nach: »Jud! Jud!«61

Loewenberg formuliert in diesem Eingangsstatement den Vorgang der (visu-ellen) Etikettierung, indem der Name und Begriff »Jude« zum Stigma avan-ciert, das � ex negativo � im Ausgrenzungsprozess im Bewusstein gefiltert und gelagert wird. Er steht in dem Zusammenhang der deutschen Nation und dem um die Jahrhundertwende extrem erstarkten deutschen Nationalismus, der 1912 seine völkischen Komponenten � wie die oben genannten Judentau-fen belegen � keinesfalls mehr verleugnen kann. In der folgenden Argumentationsstruktur knüpft Loewenberg unausgesprochen an die parallel stattfindende »Janus-Debatte« an, wenn er nach der verdeckten virtuellen Schnittstelle dieses Antisemitismus fragt:

Wie kommt das Kind dazu, mir so grausam wehzutun? Solcher Haß muß ererbt sein. Wenn seit vielen Jahrhunderten die Kinder in Schule, Kirche und Haus belehrt werden, diese Menschen, die Ju-den haben unsern Heiland getötet: ist es nicht ein löbliches Gefühl, das jenes Kind zu seinem Schimpfen treibt? Und wie viele Er-wachsene stehen noch unbewußt unter dem Bann dieses anerzoge-nen oder ererbten Gefühls! Ihr Glaube ist vielleicht geschwunden, aber der Haß ist geblieben.62

60 Vgl. Jakob Loewenberg: Ȇber Antisemitismus. Ein offener Brief an Wilhelm

Stapel«. In: Deutsches Volkstum. Eine Monatsschrift [Hamburg] 21 (1919), S. 325-328.

61 Jakob Loewenberg: [Sprechsaal]. In: Kunstwart 25 (1912), H. 22, S. 245-249.

62 Ebd., S. 245.

Jakob Loewenberg 81

Die virtuelle Schnittstelle, um die Loewenbergs Argumentation zunächst kreist, ist der Hass als einem »anerzogenen oder ererbten Gefühl«, bei Kin-dern wie Erwachsenen, das die (fiktive) Differenz zwischen Juden und Deut-schen markiert und zugleich fortschreibt. Hass ist ein absolutes Gefühl � ein Tabu �, in seiner Radikalität nicht zu überbieten und weitaus mehr als die sa-lonfähige Geste der Ablehnung und Abwehr. Hass hat eine anarchistische, keineswegs antisemitische Stoßrichtung. Und es geht Loewenberg hier nicht ausschließlich um die verschiedenen Spielarten: den Hass der Antisemiten oder um den jüdischen Selbsthass, wie ihn Otto Weininger in seiner Studie Geschlecht und Charakter (1903) dokumentiert und ihn in seiner Person figu-riert, wie Cheskel Zwi Klötzel in seinem Beitrag »Das grosse Hassen« in der Zeitschrift Janus betont. Sondern Loewenberg bewertet Hass als ein grundle-gendes, sehr radikales Gefühl der Abneigung, das das visuelle Etikett »Ande-rer«, »Fremder«, »Jude« erst etabliert. »�Der und der hat mir unrecht getan�, das sagt gar nichts, aber �der Jude hat mir unrecht getan�, das ist leider für viele Behauptung und Beweis zugleich.«63 Im Folgenden bemüht sich Loe-wenberg um eine Darstellung der Genese dieses Gefühls der Abneigung, die allerdings an den aufgeführten Beispielen und Vergleichen zu scheitern droht:

So suche ich mir die Abneigung, die nicht in allen, aber in vielen Kreisen des deutschen Volkes gegen die Juden herrscht, zu erklä-ren; sie ist echt, sie ist tief und sie fragt nicht nach Recht und Ge-rechtigkeit. So weit gehe ich auch mit Goldstein; aber sonst kann ich ihm nicht folgen.64

Im zweiten Punkt seiner Argumentationsstruktur bezieht sich Loewenberg auf den meist zitierten Satz des »Deutsch-jüdischen Parnaß« und den Titel von Goldsteins Aufsatz. Es wäre zu einfach, hier nur die Position des assimi-lierten Juden Loewenberg zu sehen. Sondern die entscheidende Frage, die sich nun stellt, lautet: Wo setzt seine Kritik in der Auseinandersetzung mit Goldsteins Aufsatz an? Loewenberg warnt vor einer überheblichen, anma-ßenden Position, wie er � und nicht nur er allein � sie in Goldsteins Plädoyer vertreten sieht. Denn führt diese exponierte Stellung nicht gerade zur Fort-schreibung ideologischer Fiktionen und zur Fortsetzung der »Scheidung der Anteile« und damit zur forcierten Differenzierung, die zwei Jahrzehnte später in die Vernichtung führt?

63 Ebd.

64 Ebd., S. 246.

Petra Renneke 82

Wir Juden beklagen uns, daß unsre Gegner unsern Wert, unsre Leistungen unterschätzen, hüten wir uns, daß wir sie überschätzen. Und das tut Goldstein. Schon der Titel seiner Ausführungen klingt, wenn er nicht ironisch gemeint ist, nach Überhebung, ist grund-falsch, ist ein Widersinn, ein Unding. Es gibt keinen deutsch-jüdischen Parnaß, ebensowenig wie es einen deutsch-polnischen oder einen deutsch-wendischen gibt. Was in deutscher Sprache an dichterischen Werken geschrieben ist, gehört zur deutschen Litera-tur oder nicht.65

»Heimat« dieser jüdischen Seele ist und bleibt, wie Loewenberg betonte: Deutschland. Es

ist die Heimat unsrer Seele. Wir sind Deutsche, und wir wollen es bleiben! Wir lieben unser Vaterland mit aller Kraft unsres schwer-geprüften Herzens, und wenn Goldstein sagt, es ist eine unglückli-che Liebe und eines Mannes unwürdig, so erwidern wir mit Goe-the: »Wenn ich dich liebe, was geht�s dich an?«

Daß wir dabei unsrer Väter nicht vergessen, daß wir uns stolz und frei als Juden bekennen, ist selbstverständlich, ist einfache Ehren-pflicht eines anständigen Menschen. Ist doch die Treue die Wurzel der jüdischen Geschichte.66

Hier kommt zugleich die emphatische Goethe-Verehrung zahlreicher Juden vor 1933 zur Sprache.67 Loewenberg bezieht Stellung zu Fragen des Zionismus als einem möglichen Lösungsmuster der »Judenfrage« in der »Kunstwart-Debatte«:

Merkwürdig! Wie eng, wie unauflöslich wir deutsche Juden mit dem Deutschtum verknüpft sind, das schildert Goldstein ganz er-greifend. Um so verwunderlicher ist es, daß er mit den Zionisten liebäugelt, daß er die einzige Rettung in dem Sprung »in die neu-hebräische Literatur« sieht [...]. Der Zionismus kann uns nicht hel-

65 Ebd.

66 Ebd., S. 248 [Herv. im Orig.].

67 Vgl. zu diesem Forschungsaspekt u.a. Wilfried Barner: »Jüdische Goethe-Verehrung vor 1933«. In: Juden in der deutschen Literatur (Anm. 25), S. 127-151. Interessant ist, dass Barner seinen Aufsatz mit der Ausgangsfrage akzentuiert: »Gibt es �die� jüdische Goethe-Verehrung oder auch �den� jüdischen Goethe-Haß in einem benennbaren Sinne?« (S. 127f.), hier figuriert in Rahel Varnhagen und Ludwig Börne.

Jakob Loewenberg 83

fen, er mag eine Lösung, eine Erlösung für die unterdrückten [...] russischen Juden bedeuten [...] für uns deutsche Juden ist er nicht einmal ein »Linderungsmittel«. Wir haben uns unser Vaterland un-ter schweren Kämpfen, mit mehr Blut und Schweiß errungen als unsre Vorfahren ihr gelobtes Land, wir wohnen auf seinem Boden seit mehr denn einem Jahrtausend [...].68

1918, angesichts des Ersten Weltkrieges und nur ein halbes Jahrzehnt nach Loewenbergs Stellungnahme in der »Kunstwart-Debatte«, »übersetzt« er Herzls Programm einer »Heimstätte für die Juden« (dargelegt in Herzls Der Judenstaat aus dem Jahr 1896) in die merkwürdige Terminologie »Wille zum Volksein« in seinem Tagebuch:

Dieser Wille zum Volksein hat etwas Ergreifendes [...] und ich verstehe nur zu gut, wie in der Zeit der nationalen Spannung er die Jugend mit Begeisterung packt [...]. Eine gesicherte englische Heimstätte � auch gut für alle Verfolgten [...] nicht aber für die, die mit allen Fasern ihres Herzens an der deutschen Heimat hängen.69

Und genau hier liegt der Akzent: Loewenberg bezeichnet das Deutschsein bis auf die Knochen »mit allen Fasern des Herzens«, also anders gewendet: mit Haut und Haar, als etwas Gegebenes, das nicht erworben werden kann. Er spitzt dann diesen Satz zu: »Nie kann mir eine Zeder werden, was mir die deutsche Buche war.« Es klingt lapidar: Aber genau darum geht es. Von Sei-ten der Assimilation kann nun von völligem »Aufgehen« in die deutsche Kul-tur argumentiert werden. Aber handelt es sich hier wirklich um eine Form der Überidentifikation und damit � so der beliebte Vorwurf � um den Ausverkauf und Verrat der eigenen »Identität«?

Zur gleichen Zeit schreibt Loewenberg an seinem Sohn Richard über sei-ne Reflexionen zu Religion und Judentum:

Das Göttliche, das Ahnungsvolle, [...] das Streben zum Höheren und Höchsten, [...] das Verbundensein mit der Natur und doch das Frei-sein von ihr � das alles ist mir Religion. [...] Weil sich aber alles das, was ich als Religion empfinde, als Göttliches, als Menschliches, am reinsten in Israels Propheten, in Israels Lehre, in Israels Geschichte offenbart hat, so steht mir das Judentum so hoch, daß ich mich freu-dig zu ihm bekenne [...] zu dem Stamm zu gehören [...].70

68 Loewenberg: [Sprechsaal] (Anm. 61), S. 248f.

69 Loewenberg: Lebensbild eines deutschen Juden (Anm. 24), S. 150.

70 Ebd., S. 139f.

Petra Renneke 84

Provinzialismus, Nationalismus und vermeintlich kosmopolitische Positionen � hier sei noch einmal an Finkielkrauts These erinnert � gehen hier zusam-men und schließen sich nicht aus. Loewenbergs deutschnationales, patheti-sches Bekenntnis zur deutschen Dichtung, zur deutschen Sprache bis hin zu der Topografie Deutschland schließt seinen Stolz, Jude zu sein, nicht aus. Und genau diese »Selbstverständlichkeit« im Bekenntnis, Jude zu sein, als etwas Gegebenes, als eine »Gabe« (fernab von Produktivität und utilitaristi-schen Anforderungen), ist die virtuelle Schnittstelle, um die Loewenbergs und Goldsteins Argumentationen kreisen. Die fehlende Transparenz gerade dieser Schnittpunkte greift Hannah Arendt zwei Jahrzehnte später in ihrem Essay »Aufklärung und Judenfrage«71 (1932) wieder auf. Loewenbergs Schlussplädoyer gegen Goldstein lautet:

Nach abermals hundert Jahren � wir haben hoffen und warten ge-lernt � wird es vielleicht keinem einzigen mehr einfallen, zu be-zweifeln, daß wir Deutsche sind, wie denn schon heute ungezählte der besten und feinsten Geister es nicht tun. Nur dürfen wir unsrer Menschenwürde nichts vergeben, nur müssen wir uns selber als Deutsche fühlen und als Deutsche wirken � trotz alledem!72

Ernst Lissauers Kernpunkt seiner Kritik am »Deutsch-jüdischen Parnaß«, die Parallelen zu Loewenbergs Position aufzeigt, stellt Goldsteins ahistorische Argumentation dar; denn die Physiognomie des modernen Judentums als we-sentliches Integral der Moderne fragt zunächst nach den historischen Zu-sammenhängen und Kontexten, wie der Komplex der »Judenfrage« als Kul-turfrage bereits andeutet:

Um das Problem zu durchblicken, das Moritz Goldstein zur Erörte-rung stellt, dazu bedarf es einer historischen Erkenntnis für die Vergangenheit und einer historischen Gelassenheit für die Zu-kunft; einer historischen: aus Erkennen geschichtlichen Werdens und geschichtlicher Notwendigkeit muß unsre Entscheidung er-wachsen. Goldstein aber weiß vom Geschichtlichen, wie ich zei-gen werde, nichts, und in einer Ungeduld, die zuinnerst auf einem unorganischen und unhistorischen Wesen erwuchs, rennt er stamp-

71 Hannah Arendt: »Aufklärung und Judenfrage«. In: Zeitschrift für die Geschichte

der Juden in Deutschland 4 (1932), Nr. 2-3 [wieder abgedruckt in und zit. n.: Hannah Arendt: Die verborgene Tradition. Acht Essays. Frankfurt/M. 1976, S. 108-126]. Des Weiteren diskutiert Arendt die »Judenfrage« an Franz Kafka und Walter Benjamin in ihren beeindruckenden Benjamin- und Kafka-Essays.

72 Loewenberg: [Sprechsaal] (Anm. 61), S. 249.

Jakob Loewenberg 85

fend, blind und zornig gegen die Tatsachen an. [...] Goldstein gräbt nirgends an die Wurzel.73

Lissauers ausdrückliche Akzentuierung seiner Stellungnahme und sein Hin-weis auf die bei Goldstein unberücksichtigten historischen Kontexte fehlt bei Jakob Loewenberg allerdings. Er hingegen stellt die deutsche Literatur in ihre literarhistorischen Zusammenhänge, da es für ihn ja keine jüdische Literatur gibt. Konsequenterweise fragt Lissauer, »was eigentlich ein Volk ist und ob danach die Juden überhaupt noch ein Volk sind«74, was ein Staat, eine Nation und Nationalität sind, denn Goldstein stellt diese Fragen nicht.

Ich bestreite, daß die Juden, die im Ghetto noch ein Volk waren, heute noch ein Volk sind: alle Kriterien dafür mangeln. Es fehlen die gemeinsame Sprache, die gemeinsamen Sitten, der gemeinsa-me Boden, das gemeinsame Klima, die gemeinsamen Gesetze.75

Ein gewisser didaktischer Impuls durchzieht viele Werke Loewenbergs, wie Geheime Miterzieher (1903). Er überschreibt ein Kapitel Unsere Volksmär-chen (als geheime Miterzieher) und erzählt die genealogische Geschichte der Märchen als mündliche Überlieferung des Volkstümlichen � »Reste uralter Sagen, Klänge alter Dichtungen und Spuren des heidnisch-germanischen Götterglaubens« �, die durch die »Vermittlung persischer, arabischer und jü-discher Übersetzer in die Literatur und von dieser ins Volk gedrungen, oder durch die Berührung der verschiedenen Völker zur Zeit der Mongolenherr-schaft mündlich überliefert worden« sind.76 Überflüssig zu sagen, dass er da-

73 Ernst Lissauer: [Sprechsaal]. In: Kunstwart 25 (1912), Heft 13, S. 6-12, Zitat S. 6.

74 Ebd.

75 Ebd., S. 7.

76 Vgl. Jakob Loewenberg: Geheime Miterzieher. Studien und Plaudereien für Eltern und Erzieher. 1. Aufl. Hamburg 1903; 3. verb. Aufl. 1906, Zitat S. 145: »Es war einmal � doch nein, es klingt zwar wie ein Märchen, aber es ist eine geschichtliche Tatsache, daß einst zwei grundgelehrte deutsche Sprachforscher von Dorf zu Dorf zogen, um von alten Frauen und Männern, aus dem Munde der Einfältigen und Schlichten, uralte Lebensweisheit und ewig-junge Poesie zu hören.« (S. 141) Im Zeitalter der (europäischen) Romantik � 1806 beginnt das Sammeln und 1812 auf Anregung von Achim von Arnim die Herausgabe des ersten, 1814 des zweiten Märchenbandes � erlebt dieses Genre eine einmalige Renaissance, nachdem schon zuvor Musäus, von der Hagen, Büsching, Tieck und Naubert andere Märchen he-rausgegeben hatten (vgl. S. 142). Loewenberg akzentuiert: »[...] aber sie nahmen ihnen den schönsten Schmuck, das Volkstümliche, gaben ihnen eine künstliche Färbung [...]. Die Gebrüder Grimm hingegen, ganz auf treue Wiedergabe bedacht

Petra Renneke 86

mit an eine in der Romantik wieder entdeckte wichtige literarhistorische Tra-ditionslinie der deutschen Literatur und der verschiedenen Literaturen über-haupt erinnert. Und interessanterweise greift Robert Weltsch diesen Aspekt der volkstümlichen Tradition in seinem viel beachteten Essay »Judenfrage und Zionismus« wieder auf, wie ich unten noch weiter ausführen werde.

Loewenberg zählt also zu denjenigen deutschen Staatsbürgern jüdischen Glaubens, die das »Angebot« der Emanzipation im Kontext der »Judeneman-zipation« 1812 (also exakt hundert Jahre zuvor) � und damit eine der Stein-Hardenbergschen Reformen � niemals ernster genommen hatten, als es ge-meint war. Denn genau hier liegt die Problemkonstante in den Diskussionen um die Assimilation, wie Hannah Arendt in ihrem Essay »The Jew as Pariah: A Hidden Tradition«77 (1944) formuliert. Im Kontext von Arendts Argumen-tationsstruktur im Kampf gegen das Doppelgesicht der Assimilation definiert sie die Figur des Paria als diejenige, die »in den Ländern der Emanzipation weder der Versuchung einer törichten Mimikry noch einer Parvenükarriere nachgegeben« hatte, sondern stattdessen versuchte, »die frohe Botschaft der Emanzipation so ernst zu nehmen, wie sie gemeint war«. Und das bedeutet: nicht ernster, sondern wörtlich. Denn die juristische Formel des Central-vereins täuscht allzu leicht über den besonderen »Kunstgriff« hinweg: deut-scher Staatsbürger ja, aber jüdischen Glaubens.

Gesellschaft und Öffentlichkeitsstrukturen brauchen zuverlässige Siche-rungsstrategien von Erkennbarkeit. Das heißt, je mehr die Zeichen der real existierenden sichtbaren Differenz (zwischen Deutschen und Juden als deut-schen Staatsbürgern) im Schwinden sind, desto mehr müssen fiktive Diffe-renzen und Zeichen gefunden werden. Oder wie es Leschnitzer in seinem

[...] erzählten sie in dem selben Stil [...] wie sie ihnen überliefert wurden. Ihre

Quelle war das Volk selbst«. (S. 142) Die Volksweise vom »Bucklicht Männlein«, die für Benjamin zur entscheidenden Denkfigur wird, wie Arendt in ihrem Benja-min-Essay darlegt, knüpft an diese deutsche volkstümliche Tradition an. Allein entscheidend an diesem Exkurs ist die bewusste Akzentuierung des Bekenntnisses zu einer volkstümlichen Tradition und damit das Wiederauffinden und die Restitu-tion von entscheidenden Wissens-Poetologien einer ästhetischen Moderne und von Parametern innerhalb der abendländischen Kulturgeschichte. Exakt 100 Jahre spä-ter (nach Erscheinen der ersten Märchen-Sammlung) gerinnt die Forderung von Goldstein zur (Rück-)Besinnung auf die verschüttete volkstümliche jüdische Tra-dition zur maßlosen Anmaßung in der »Kunstwart-Debatte«.

77 Hannah Arendt: »The Jew as Pariah: A Hidden Tradition«. In: Jewish Social Stu-dies 6 (Februar 1944), Nr. 2, S. 99-122 [in dt. Übersetzung zuerst erschienen in Hannah Arendt: Sechs Essays. Heidelberg 1948. Wieder abgedruckt in: Dies.: Die verborgene Tradition. Frankfurt/M. 1976, S. 46ff.].

Jakob Loewenberg 87

Prolog zu Saul und David78 konstatiert: Sauls Sperr trifft David um so schneller, je weniger David als David erkennbar (und identifizierbar) ist. Loewenberg teilte nicht nur mit zahlreichen deutschsprachigen jüdischen Schriftstellern des Wilhelminischen Kaiserreiches und der Weimarer Repu-blik die Hoffnung, als Schriftsteller, Pädagoge und Gelehrter »voll und ganz in Sprache und Gesinnung ein Deutscher zu sein«79, sondern er war explizit »deutsch bis auf die Knochen«80 in seinem Selbstverständnis als Deutscher und Jude. Es handelt sich hierbei um mehr als eine (bloße) Hoffnung, die sich dann spätestens 1933 als tödliche Illusion entpuppen sollte. Denn der Zitaten-schatz deutscher Dichtung blieb � auch in der Fremdsprache, im Exil bis in die Vernichtung, das heißt in der sprachlichen, kulturellen und topografischen Diaspora � zeitlebens »in the back of my mind«, wie Hannah Arendt im Gaus-Interview (1964) bestätigte. Das bedeutet in letzter Konsequenz auch, dass jüdische Intellektuelle wie Loewenberg, Lissauer und andere sich nicht erst deutsche Geschichte(n) und »Identitäten« aneignen mussten (in Form von falsch verstandenen »Aneignungsgeschichten«), da sie (ohne Binde-strich) sine qua non bereits als gegeben vorhanden waren und nicht (produk-tiv-utilitaristisch) erworben werden konnten.

V.

Im Folgenden werde ich einige entscheidende Fragen zum Kontext »Moderne und Physiognomie des Judentums« innerhalb des gegebenen Zeitraums 1912 bis 1932 diskutieren. Des Weiteren stelle ich kurz die rezeptionsgeschichtlich wenig beachteten und bereits oben genannten zeitgleichen Publikationen Das grosse Hassen und Judentaufen vor. So könnte eine der Fragen lauten: Was existiert in der europäischen Diaspora noch an Judentum? Oder: Welche Rol-le spielt jüdische Tradition � hier diskutiert am Beispiel der »Judenfrage« � innerhalb eines säkularen Denkens und seiner Schieflagen?

78 Adolf Leschnitzer: Saul und David. Die Problematik der deutsch-jüdischen Le-

bensgemeinschaft. Heidelberg 1954. Vgl. hier S. 7f.

79 Peter Gay: »Die deutschen Juden in der Wilhelminischen Kultur«. In: Ders.: Freud, Juden und andere Deutsche. München 1989, S. 115-188.

80 Diese Sprachfloskel porträtiert gleichzeitig einen real existierenden Sachverhalt: als Komparativ, deutscher zu sein als deutsch; deutsch zu sein bis auf die Kno-chen; eine »Inschrift«, die wie ein Tattoo dem Körper und der Haut eingraviert ist � und zwar unaufhebbar. Erst auf dieser Folie sind Phänomene wie der Hurra-patriotismus gerade jüdischer Intellektueller, zwei Jahre nach der »Kunstwart-Debatte«, 1914, bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges, »lesbar«.

Petra Renneke 88

In der Einleitung zu Juden in der deutschen Literatur. Essays über zeitge-nössische Schriftsteller81 spricht sich der Herausgeber Gustav Krojanker ein-deutig für eine Scheidung zwischen Deutschen und Juden aus, als konträre Position zu vielfachen (subtilen) Nivellierungsprozessen. Krojanker erinnert: »Aber seit langem haben auch ihn gleiche Landschaft und gleiche Luft gebil-det. [...] Aber � und das ist das Wesentlichste � auch für ihn ist die deutsche Sprache das Material, in dem er seinen tiefsten Ausdruck formt.« Und in konträrer Position zu Goldstein � auf der Argumentationslinie von Loewen-berg � schreibt Krojanker weiter:

Deshalb ist er in den Kreis deutscher Kultur eingegangen: durch sie gebildet und ihr, was sie ihm an Reichtümern gab, zurückerstattend, indem er ihre Fülle durch seine Besonderheit mehrt. Innerhalb der Grenzen deutscher Kultur also wird hier geschieden; [...].82

Krojanker plädiert in seiner Einleitung nicht nur für ein Verstehens- und Denkverfahren, das Abgrenzen nicht für Ausschließen hält, so skizziert er die Tragik der älteren Generation am Beispiel von Jakob Wassermann, sondern auch für das Hinterfragen von (festgeschriebenen) bequemen Narrativen, wie jüdisch-liberale, deutschnationale, kulturzionistische oder antisemitische Po-sitionen, an die Shulamit Volkow in ihrem Aufsatz »Sprache als Auseinan-dersetzung mit Juden und Judentum in Deutschland, 1780-1933«83 erinnert.

Aus dem Blickfeld der heutigen Renaissance und großen Beachtung die-ser Debatte � als »Symptom« einer tiefen geistigen Gärung, die einen großen Teil der Jugend und Intellektuellen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ergriffen hatte � gerät dabei die zur gleichen Zeit ausgelöste »Janus-Debatte« »Das grosse Hassen«, veröffentlicht in Janus, einer 1911 gegründeten Münchner Halbmonatsschrift für Literatur, Kultur und Kritik. Cheskel Zwi Klötzel beginnt seinen Aufsatz mit dem Hinweis auf die Neuauflage des Ro-mans Der Jude von Meier Aaron Goldschmidt (1846) ausgerechnet im Jahr 1912. Klötzel hält den ausgegrabenen Schatz der Vergangenheit zu diesem Zeitpunkt nicht für einen Zufall. Diesen »archäologischen Fund« akzentuiert er »zur Illustration und Förderung einer der größten Weltfragen, die speziell in Deutschland heute aktueller als je ist: die Judenfrage«.84 Goldschmidts

81 Anm. 2.

82 Ebd., S. 11.

83 Shulamit Volkow: »Sprache als Auseinandersetzung mit Juden und Judentum in Deutschland, 1780-1933«. In: Jüdische Intellektuelle (Anm. 49), S. 223-238.

84 Cheskel Zwi Klötzel: »Das grosse Hassen. Ein Beitrag zur Judenfrage in Deutsch-land«. In: Janus II (1912/13), 1. Halbjahr, H. 2, S. 57-60, Zitat S. 57. Vgl. auch

Jakob Loewenberg 89

Text stellt er in den Kontext von Sombarts oben genannter Schrift Die Juden und das Wirtschaftsleben und von Schnitzlers Weg ins Freie, als ein Beispiel für die in Mode gekommenen, von Klötzel so bezeichneten »Judenromane«. Er akzentuiert Goldschmidts Text zudem als ein offenes, klares Bekenntnis einer gefährlichen Erkenntnis. Auf der ersten Seite des Textes erscheint ein Moses-Zitat:

»Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe, und zwischen deinem Samen und ihrem Samen. Der soll dir den Kopf zertreten und du wirst ihn in die Ferse stechen.« (1. Buch Mose, 3, 15)85

Im Zentrum dieses Zitats stehen die Liebe und der Hass zwischen Mann und Frau, zwischen Jude und Goi, aber auch zwischen Juden und Christen und Deutschtum und Judentum in letzter Konsequenz. Einen größeren und zugleich kleineren Ort für die Engführung vermeintlicher Antinomien kann man sich kaum vorstellen als diese alttestamentarische Textstelle. Denn der Ort (der Rede � vormals das Paradies) schrumpft unaufhaltsam im Sprechakt. Diese Stelle, an der man � etymologisch konnotiert � für einen Augenblick zu stehen vermeint, markiert auch den Ort zwischen Orient und Okzident und denjenigen beider Kulturgeschichten. Denn der Samen und die Ferse be-zeichnen nicht nur die Ferse des Juden allein, sondern konnotieren zugleich die Ferse antiker Götterhelden.

Auf dieser Folie lautet eine der missverständlichen Kernthesen Klötzels:

Dem Antisemitismus, dem Judenhaß, steht auf jüdischer Seite ein großes Hassen alles Nichtjüdischen gegenüber; wie wir Juden von jedem Nichtjuden wissen, daß er irgendwo in einem Winkel seines Herzens Antisemit ist und sein muß, so ist jeder Jude im tiefsten Grunde seines Seins ein Hasser alles Nichtjüdischen.86

Klötzel führt als prominentes Beispiel der Weltliteratur für einen Juden, der hasst, Shakespeares Shylock-Figur � als Exempel (gescheiterter) Annähe-rungsversuche � ins Diskussionsfeld und konstatiert:

Cheskel Zwi [Klötzel]: »Wir jungen Juden!« In: Die Aktion 1 (4.12.1911), Sp. 1315-16. »Wir wollen �echt� werden. Wir wollen einheitlich und wesenhaft wer-den. Kein Ragout fin aus dem Extrakt aller Rassen und Zeiten wollen wir mehr sein: Keine Träger einer Mission an die Völker, aber erfüllt von unserer Mission an uns selbst, an unser Volk! Wir wollen eins sein an Leib und Seele und Hirn und Herz! Juden � weiter nichts!« (Sp. 1316)

85 Ebd., S. 58.

86 Ebd. [Herv. i. Orig.].

Petra Renneke 90

wie im innersten Herzen eines jeden Christen das Wort »Jude« kein völlig harmloses ist, so ist jedem Juden der Nichtjude der »Goi«, was beileibe keine Beleidigung ist, aber ein deutliches, nicht mißzuverstehendes Trennungszeichen.87

Er führt den Gedanken weiter aus und fokussiert seine Überzeugung in den Aussagen:

in Wirklichkeit ist nichts in mir so lebendig als die Überzeugung dessen, daß, wenn es irgend etwas gibt, was alle Juden der Welt eint, es dieser große, erhabene Haß ist. [...] Denn das erscheint mir als Kern alles Menschentums: sich seiner Natur bewußt zu sein und für sie einzustehen. Man nennt uns eine Gefahr des »Deutsch-tums«. Gewiß sind wir das, so sicher, wie das Deutschtum eine Gefahr für das Judentum ist!88

Wie die Etymologie des Wortes »Janus« bereits evoziert: »Das grosse Has-sen« impliziert immer »das kleine Lieben«, so der Titel der Rubrik, in der die Reaktionen auf Klötzels Aufsatz abgedruckt wurden. Beide sind gleicher-maßen radikal. Friedrich Niewöhner erinnert in seiner Rezension des Me-nora-Jahrbuchs an ein zentrales Weininger-Zitat aus Geschlecht und Charak-ter:

Wie man im anderen nur liebt, was man so gerne ganz möchte und doch nie ganz ist, so haßt man im anderen nur, was man nimmer sein will und doch immer zum Teil noch ist. Man haßt nicht etwas, womit man keinerlei Ähnlichkeit hat.89

Awrum Halbert rückt die Dialektik zwischen Liebe und Hass ins Zentrum seiner Stellungnahme zur »Janus-Debatte«, die den programmatischen Titel trägt »Das kleine Lieben«. Er wendet sich gleichzeitig gegen die künstlich aufgeblähte Debatte und hebt an: »Sie verzeihen schon, Herr Cheskel Zwi

87 Ebd. [Herv. i. Orig.].

88 Ebd., S. 59 [Herv. i. Orig.].

89 Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Wien 1903. Der Nachdruck erschien: München 1980, zit. n. Friedrich Niewöhner: Haß auf dem Parnaß (Anm. 5), S. N 3. Vgl. den beeindruckenden Essay von Oskar Braun: »Otto Weininger«. In: Juden in der deutschen Literatur (Anm. 2), S. 121-138. In diesem viel beachteten Buch veröffentlichte Moritz Goldstein einen Essay über Arnold Zweig. Vgl. Moritz Goldstein: »Arnold Zweig«, ebd., S. 241-250.

Jakob Loewenberg 91

Klötzel, wenn ich sage: Ihr Beitrag zur Judenfrage entstammte einer literari-schen Idee � nichts sonst. � «90

Das grosse Hassen ist ein hübsch erfundenes Wort, vielleicht auch eine bitter durchlebte Erfahrung. Aber nicht mehr. Denn genauso wenig wie wir unser Judentum verleugnen (besser man sagt: unser Judsein) � genauso wenig haben wir das Bedürfnis, unser kleines Lieben zu verleugnen. Und dieses Lieben gehört dem »Goi«, allem Geraden und Aufrechten, allem, was nicht winkelzügig, allem, was reinlich und reinen Herzens ist. [...] Wir Juden haben gar keinen Anlaß, unser Judsein zu verleugnen, wenn dieses Judsein sich im Temperament, in Tat und Werk ausprägt.91

Ludwig Geiger bezieht Position in seinem Beitrag »Das große Hassen« in der Allgemeinen Zeitung des Judentums. Er verwirft Klötzels Aussagen als »der reinste Nonsens« 92 und stellt die Frage:

Kann man wirklich deutsches Wesen hassen und so intensiv, wie viele von uns es tun, in das Wesen Goethes, Schillers, der deut-schen Literatur, der deutschen, selbst der mittelalterlichen Ge-schichte sich versetzen? Es ist eine grobe Verkennung der Wahr-heit, wenn der Verfasser von Haß spricht; wir alle lieben vielmehr die deutsche Entwicklung, lieben die Deutschen von ehedem und von heute.93

Die 1912 in sieben Auflagen erschienene Publikation Judentaufen ist heute nahezu in Vergessenheit geraten. Ausgangspunkt bildet Werner Sombarts Buch Die Juden und das Wirtschaftleben. Sombart untersucht den Anteil der Juden an der Bildung des herrschenden kapitalistischen Wirtschaftssystems und behandelt darin die so genannte »Judenfrage« als Kulturfrage, als »das schlechthin wichtigste Problem der modernen Kultur wissenschaftlich er-schöpfend«, »so weit der augenblickliche Stand der Wissenschaft und die Art des bisher vorliegenden Materials ihm das gestattete«94, so Landsberger in

90 Awrum Halbert: »Das kleine Lieben. Eine bündige Antwort an Herrn Cheskel Zwi

Klötzel, den Autor des Beitrages zur Judenfrage: �Das große Hassen�«. In: Janus II (1912/13), 1. Halbjahr, H. 9, S. 452-454, Zitat 452.

91 Ebd., S. 453 [Herv. i. Orig.].

92 Ludwig Geiger: »Das große Hassen«. In: Allgemeine Zeitung des Judentums 76 (1912), Nr. 48, S. 565f., Zitat S. 565.

93 Ebd.

94 Werner Sombart: Judentaufen. München 71912.

Petra Renneke 92

seinem Vorwort. Er stellt namhaften Schriftstellern und Wissenschaftlern � von Sombart, Frank Wedekind, Heinrich Mann, Fritz Mauthner, Ludwig Geiger, Hermann Bahr bis hin zu Richard Dehmel � mehrere Fragen zu den Folgen � in geistiger, politischer und wirtschaftlicher Beziehung � von er-stens: Assimilation, Konversion/Taufe und Mischehe; zweitens zu den Fol-gen der Verwirklichung des Zionismus; drittens zu den Konsequenzen, falls die ersten beiden Fragen nicht zutreffen und viertens zu der Frage, ob eine der drei genannten Punkte wünschenswert sei. Landsberger, der Schriftsteller und Herausgeber der Wochenschrift für deutsche Kultur Morgen � an der Seite von Sombart, Herwarth Walden und Hugo von Hofmannsthal �, muss erkennen, dass die von ihm ebenfalls gestellte Frage nach dem Schicksal der Ostjuden und damit die »Entdeckung ostjüdischer Kultur und Geistigkeit«95 von fast keinem der befragten Zeitgenossen beantwortet wurde.

Der Begriff »Jüdische Renaissance« geht auf einen programmatischen Ar-tikel Martin Bubers aus dem Jahr 1901 zurück und markiert eine eklatante Leerstelle in den Köpfen westeuropäischer (jüdischer) Intellektueller. Die seit der »jüdischen Renaissance«96 wieder entdeckte Traditionslinie der Ostjuden fungiert als Quelle einer vitalen und schöpferischen jüdischen Kultur. Sie galt

95 Florian Krobb: »Landsberger, Artur«. In: Metzler-Lexikon der deutsch-jüdischen

Literatur (Anm. 27), S. 371f., Zitat S. 372.

96 Die Zeitschrift Ost und West, die 1901 bis 1923 in Berlin erschienen ist, wollte ein ganzheitliches Bild des Judentums zeichnen � so Leo Winz, der aus der Ukraine stammende Hauptherausgeber, in seinem programmatischen Vorwort � und ak-zentuiert das »altjüdische Leben, das lange geschmäht und erniedrigt gewesen« in den Brennpunkt des Lesers rücken. Unter dem Titel »Jüdische Renaissance« ver-öffentlichte der 23jährige Martin Buber im ersten Heft dieser Zeitschrift die Re-naissance des Judentums aus dem Geist der Neoromantik und damit die kulturelle Erneuerung des europäischen Judentums. Buber äußert sich hier zum ersten Mal zu Fragen des Judentums und mit Blick auf die »armselige Episode �Assimilati-on�« und die osteuropäischen Juden fordert er � wie später der Herausgeber der Judentaufen � »das einheitliche, ungebrochene Lebensgefühl des Juden wieder auf den Thron zu setzen« und somit betont Buber, wie die Romantiker und der deut-sche Idealismus, die Notwendigkeit, »vor einer äußeren eine innere Heimat zu schaffen«. Charakteristisch sind der pathetische, prophetische Ton des Artikels und seine vitalistische Grundtendenz, die die Nähe zu Nietzsche nicht verleugnet. Goldsteins Programm einer jüdischen Nationalliteratur, formuliert Buber in Refe-renz zum deutschen Idealismus als »jungjüdische Dichtung«, als vornehmstes Mit-tel der »Wiedergeburt des Judenvolkes«. Vgl. hierzu: Herzog (Anm. 44) sowie Bernd Witte: »Die Renaissance des Judentums aus dem Geist der Neuromantik. Über Entstehung, Blüte und Scheitern des Kulturzionismus«. In: Neue Zürcher Zeitung vom 25.4.2003. Bubers bereits 1904 konzipiertes und erst 1916 realisier-tes Zeitschriftenprojekt Der Jude war als Revue der jüdischen Moderne konzipiert.

Jakob Loewenberg 93

lange Zeit als verschwundenes Narrativ der westlich assimilierten Juden-schaft im Hinblick auf deren Kultur und Selbstverständnis.

Der osteuropäische Philosoph Achad Haam bezeichnet seine hebräische Schrift mit dem für die Zeit programmatischen Titel Am Scheidewege � in der autorisierten deutschen Übertragung � und definiert den polyvalenten Begriff »Judentum«, der häufig als inhaltliche Leerstelle in aktuellen Diskursen fun-giert: »Im Begriff des Judentums schließen wir alles ein, was uns das jüdi-sche Volk und das Wesen des Volksgeistes verstehen lehrt«97, ferner die »historischen, ideellen wie materiellen, stetigen und temporären Erscheinun-gen, in denen der jüdische Volksgeist von der Urzeit bis heute sich dokumen-tiert«.98 Die Sprache gilt Haam wie bereits Herder als der »zuverlässigste Schlüssel zum Verständnis des Volksgeistes«.99 Sein Medium ist eine jährli-che »Enzyklopädie des Judentums«, so Haams hier vorgestelltes, allerdings gescheitertes Projekt.

Wie Landsberger wertet Loewenberg den Zionismus als eine mögliche Lösung für die unterdrückten Juden Osteuropas, aber nicht für die deutschen Juden. Goldsteins Forderung nach Bewahrung der spezifisch jüdischen Ei-genschaften wird im Kontext der Lektüre der Umfrage um so verständlicher, wenn man vor allem die Sprache von einigen der Beiträger und Zeitgenossen genauer analysiert. Goldstein reagiert nicht nur auf die Assimilationsproble-matik, sondern auf den Antisemitismus, der sich in einem dem Sozialdarwi-nismus entlehnten Vokabular äußert. Im Umfeld von Antisemiten wie Adolf Bartels und Josef Nadler zitiert Professor Gurlitt Paul de Lagarde mit Hin-weis auf Houston Chamberlains Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts:

und wenn die Deutschen germanischen Blutes sich auf ihre Eigen-art besännen und sich in dieser behaupteten, so würde die Juden-frage verschwinden, die Juden würden in Deutschland aufgehen und das Blut der Germanen würde durch die Zumischung fremd-rassigen Blutes einen schnelleren Puls bekommen.100

Heinrich Mann argumentiert in der Umfrage in Judentaufen:

97 Achad Haam: Am Scheidewege. Gesammelte Aufsätze. Autorisierte Übertragung

aus dem Hebräischen von Israel Friedländer und Harry Torczyner. Berlin 1923, 4 Bde., Zitat Bd. 1, S. 429.

98 Ebd.

99 Ebd.

100 Professor Gurlitt. In: Judentaufen (Anm. 94), S. 49.

Petra Renneke 94

Auf Ihre Fragen erwidere ich: Assimilierung halte ich für wün-schenswert, sofern sie nicht Aufgehen bedeutet, sondern Annähe-rung und Einwirkung. Die Juden dürfen sich nicht mit dem Ideal durchdringen, Germanen zu werden. Nicht nur der Jude ist verlo-ren, der sich totschiesst, weil er nicht Reserveleutnant wird, son-dern auch der, der es wird. Denn für ihn ist es zu Ende mit dem Zwang, Geist zu haben (wozu Fragwürdigkeit und Abseitigkeit ihn nötigten), mit dem Zwang, den Geist wenigstens zu lieben und ihn bei seinem »Wirtsvolk« geltend zu machen. Was aber soll, wenn auch die Juden versagen, aus einem »Wirtsvolk« werden, das schon jetzt an geistiger Unterernährung krankt? Wenn kein Jude mehr das öffentliche Leben ein wenig geistiger macht, und keine Jüdin mehr die Liebe? Die Folgen der vollständigen Assimilierung und die der Trennung wären gleich schauderhaft.101

Robert Weltsch, der Herausgeber der Berliner Jüdischen Rundschau (seit 1912), unternimmt in seinem Essay »Judenfrage und Zionismus«, 1932 in der vielbeachteten Publikation Klärung erschienen, den Versuch, die Entstehung der »modernen Judenfrage« in den rekonstruierten Kontext der geschichtli-chen Zusammenhänge des Judentums zu stellen. Weltschs Ausgangsthese ist sicherlich nicht neu, aber für eine Relektüre der Kontexte bemerkenswert: Ihm zufolge gab der Zwang, die geschichtlichen und volkstümlichen Zu-sammenhänge des Judentums zu verleugnen, den Anstoß zur Entstehung der modernen Judenfrage. Im Folgenden skizziert Weltsch die genealogischen Linien des »geschichtlichen Zusammenhangs« des Judentums. Aufklärung und Judenfrage bleiben komplementär aufeinander bezogen, wie Arendt in ihrem gleichnamigen Essay aus dem Jahr 1932 ebenfalls konstatiert. Das heißt innerhalb der Aufklärung und des Liberalismus vollzieht sich eine Los-lösung der jüdischen Religion von ihrem »volkstümlichen Boden«, so Robert Weltsch. Die jüdische Religion verkommt zur bloßen Attrappe, zur »abstrak-ten Ethik« und zur »Privatsache«. Weltsch skizziert den subtilen Prozess des Abgesangs der jüdischen Religion und der volkstümlichen Tradition (wie sie sich unter anderem in dem deutschen Volkslied vom »Bucklicht Männlein« konfiguriert) und des Erstarkens des (deutschen) Nationalismus. Auf dieser Basis konnte die »ideologische Fiktion« der Emanzipation, die anstrebte, das »angestammte Volkstum auf dem Altar der Menschlichkeit zu opfern«, län-ger am Leben erhalten werden. Robert Weltsch weist zu Recht auf die kleine (unscheinbare), aber wichtige Differenz hin: Das moderne Staatengebilde von

101 Ebd., S. 69.

Jakob Loewenberg 95

1871 � gleichzeitig erscheint Dohms Schrift Von der Gleichberechtigung der Juden � beruht zwar auf juristisch-formalen, nicht aber auf »organisch-geschichtliche[n] Momente[n]«:

Aber in Wahrheit herrschte hier unbemerkt eine ideologische Fik-tion; denn die Juden wurden gar nicht a ls solche dem Staate ein-gegliedert, vielmehr hatte man von ihnen als Preis der Emanzipati-on ein Abstreifen des Judentums, eine immer weitergehende Anpassung an die Umwelt verlangt.102

Das bedeutete: Mit dem Herauslösen aus den gegebenen »geschichtlichen und volkstümlichen Zusammenhängen« des Judentums setzt der Prozess der Assimilation, des (jüdischen) Selbsthasses bis hin zur (Juden)Taufe als »Ent-ree-Billett zur europäischen Kultur« ein. Damit verband der getaufte Jude die Hoffnung an dem kosmopolitischen Projekt Wir und Europa, wie es Moritz Goldstein 1914 im Auftrag von Ahron Eliasberg, dem Leiter des »Jüdischen Verlags« formulierte, teilzunehmen. Manfred Voigts analysiert diesen Text von Goldstein in seinem Aufsatz im Kontext eines »hypereuropäischen Pro-jekts« genauer.

Das bedeutet: Robert Weltschs Beitrag zur »Lösung« der modernen Ju-denfrage liegt nicht allein (für ihn) im Zionismus, sondern sein kluger Essay liest sich in der Relektüre aus Sicht des 21. Jahrhunderts auch als ein Beitrag zur Hermeneutik dieser Frage. Damit leistet Weltsch gleichzeitig einen Bei-trag zur Hermeneutik der Moderne:

Ergreifend kommt dieses Gefühl zum Durchbruch in Gedichten mancher jüdischer Dichter am Ausgang des 19. Jahrhunderts; und die große Wendung tritt ein, indem der Jude, nachdem er die euro-päische Entwicklung in hundert Jahren durchrast hat, seinen Blick wieder in die Vergangenheit richtet und die tieferen Zusammen-hänge seines Wesens wieder zu erfassen sucht. Das Erlebnis dieser

102 Robert Weltsch: »Judenfrage und Zionismus«. In: Klärung. 12 Autoren, Politiker

über die Judenfrage. Berlin 1932, S. 126-137, Zitat, S. 128f. Vgl. auch: »Die Ju-denfrage für den Juden«. In: Der Jud ist schuld...? Diskussionsbuch über die Ju-denfrage. Basel [u.a.] 1932 [wieder abgedruckt wurden beide Essays unter dem Titel: »Zu zwei Enqueten (1932)«. In: Robert Weltsch: An der Wende des moder-nen Judentums. Betrachtungen aus fünf Jahrzehnten. Tübingen 1972, S. 8-20]. Weltsch konstatiert: »Ein Teil des Volkes stemmte sich allen widrigen Umständen entgegen und bewahrte dem Volkstum die Treue, der andere Teil gab sich selbst auf. [...]« (ebd., S. 19).

Petra Renneke 96

Rückwendung hat in deutscher Sprache seine klassische Form von dem Dichter Richard Beer-Hofmann erhalten [...].103

Keineswegs mit einer völkischen oder rassistischen Konnotation formuliert Weltsch: »Dieses Wiedereinstellen des Juden in die Kontinuität seiner Bluts-gemeinschaft bedeutet den Anfang eines neuen Judentums in unseren Ta-gen.«104 Hier schließt sich (ungewollt) die oben bereits aufgezeigte virtuelle Schnittstelle zu den deutschnationalen jüdischen Autoren dieser Generation, wie Jakob Loewenberg, die Weltsch natürlich nicht im Blick hatte. Weltsch konstatiert den ganz simplen, aber grundlegenden Sachverhalt, den Goldstein rigoros und vehement hervorhebt:

Während bei jedem anderen Volk jeder Volksgenosse einfach durch die Tatsache seiner Geburt in dem naturgegebenen Zusam-menhang seiner Gemeinschaft steht, bedarf es bei dem Juden der Diaspora erst eines besonderen Aktes des Bewußtseins, um den Anschluß an sein Volk zu vollziehen. Denn die natürliche Gemein-schaft der Heimatgenossen ist bei ihm nicht identisch mit seiner Geschichts- und Blutsgemeinschaft.105

Zugespitzt formuliert: Loewenberg wie Weltsch beziehen von völlig unter-schiedlichen (ideologischen) Standorten Position zu »ihrem Volk«. Und hier liegt das Paradoxon: im Zugleich von »identisch sein« mit »Mein Volk« � an das Goldstein im Subtext seines Aufsatzes sein Plädoyer hält � und Nicht-Identisch-Sein: »Denn wenn wir uns nicht als Juden bekennen, dann sind wir nichts.« Hier spricht der Dichter, der Moritz Goldstein zeitlebens gerne sein wollte und als der er in der Öffentlichkeit nie wahrgenommen wurde. Er legt hier seine unterschiedlichen »Identitäten« (Konstruktionen) ab: als Klassiker-Herausgeber im Bong-Verlag, als Journalist, Herausgeber und Redakteur der Vossischen Zeitung und als Gerichtsreporter (mit dem Pseudonym »Inquit«). So fühlte sich Goldstein in den zahlreichen Reaktionen und über neunzig Zu-schriften an den Kunstwart durchaus missverstanden: Lag doch die Qualität seines Deutsch-jüdischen Parnasses mehr in der Polemik als in einem ernst zu nehmenden literarischen Zeugnis. Und schon Goldstein ahnte den schma-len Grad der Differenz: Redakteur und Reporter kann ich werden; Dichter bin ich. Das heißt mit anderen Worten: Zionist, Kosmopolit kann ich werden; Ju-de bin ich. Und genau an diesem »verschwiegenen« Zusammenhang im Um-

103 Ebd., S. 130f.

104 Ebd., S. 131.

105 Ebd. [Herv. P.R.].

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feld der hitzigen Debatten um Emanzipation und Assimilation, Zionismus und Judentaufen erinnert Weltsch in seinem Aufsatz, wenn er nicht zuletzt Heines Taufe (1825) so interpretiert: »so beweist dieser bittere Scherz, wie man damals mit Dingen des Glaubens und des Volkstums zu spielen ge-zwungen war.«106 Das bedeutet: Moritz Goldstein, der den Schekel bezahlte, aber im Grunde kein überzeugter Zionist war, »übersetzt« einen entscheiden-den Grundzug seiner Zeit � und von Robert Weltsch pointiert formuliert � folgendermaßen: �Du kannst und darfst alles werden � nur nicht Jude sein�107 und ein Bekenntnis ablegen in Form von »Mein Volk«, denn das ruft sogleich falsche Verdachtsmomente und Konnotationen hervor.

Goldsteins Plädoyer ist verbunden mit der Aufforderung, sich zum Jude-Sein rückhaltlos zu bekennen und die jüdischen Eigenschaften zu bewahren, um sie überhaupt erst tradieren zu können. Und genau an diesem heiklen Schnittpunkt, der so evident wie verborgen ist, liegt die ungeheure Provoka-tion und Anmaßung Goldsteins und auch die Angriffsfläche für die Zuschrif-ten an die Redaktion des Kunstwart. Aber was, so muss man auch heute noch � aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts � fragen, erregte die Gemüter der Zeitgenossen wirklich so sehr, dass ein einzelner Aufsatz eine ganze hitzige Debatte auslöste, zu der Intellektuelle wie Hannah Arendt noch ein halbes Jahrhundert später � 1968 � in ihrem Benjamin-Essay und in dem oben er-wähnten Band Saul und David Stellung bezogen?

Als eine gewagte These sei hier formuliert: Die vermeintlich so disparaten Narrative und diversen Positionen rücken gerade in der »Janus-Debatte« ek-latant zusammen. So lautet ein unspektakuläres Zitat aus dem Jahr 1932 in Klärung. 12 Autoren, Politiker über die Judenfrage: »Man kann sich nicht wohlgemut zu seinem Volkstum bekennen ohne plötzlich von einer Seite her angegriffen zu werden, die sich bei näherem Betracht als spezifisch �jüdisch� herausstellt.« Der Sprecher notiert weiter: »Wir Deutschen betrachten unsere Erde, unser Vaterland und unsere Muttersprache, unsere Geschichte [...] und unsere Wesenheit, unsere psychologische und physiologische Ganzheit als Endergebnis unserer Volkszugehörigkeit, unseres Volkstums«.108 Diese Kon-

106 Ebd., S. 129.

107 Anton Kuh konstatiert: »Hier hat man, am Bilde einer bloßen Buchstabenwir-kung, die Jahrtausendpsychose der Juden. Sie durften zu sich niemals reinen Sin-nes �Ja!� sagen. Sie mußten das aus ihrem Herzen aufzüngelnde �u�, das den Na-men ihres Volkes zum Hirn emportrug, mit rasch zusammengeraffter Dialektik er-sticken.« Vgl. den von Weltsch und anderen Zeitgenossen viel rezensierten Essay: Juden und Deutsche. Ein Resümé von Anton Kuh. Berlin 1921, S. 9.

108 Hanns Johst: »Volk im Volke«: In: Klärung (Anm. 103), S. 117-124, Zitat S. 117.

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fession fordert Goldstein ein, verlangt Loewenberg und fordert der hier zitier-te nationalsozialistische Autor Hanns Johst � als ein wichtiges, verschwiege-nes Dispositiv der Moderne. Das Janusgesicht dieser Debatte variiert sich bei Jakob Loewenberg in den »Lieder[n] eines Semiten« aus »jüdischer Seele«, der einen Hymnus auf »Mein Vaterland« Deutschland verfasst. Bei Moritz Goldstein konfiguriert sich dieses »Doppelgesicht« in der Richtung und Suchbewegung des Denkens als »Deutsch-jüdischer Parnaß« und »Wir und Europa«. Doch diese Reflexionsbewegung innerhalb (zwiespältiger) kulturel-ler Zwischenräume setzt zugleich die eine entscheidende Richtung voraus: »Meinwärts« (sich dem Vorwurf der »Weltflucht« aussetzend). Oder zuge-spitzt formuliert: kein »Weltbürgertum ohne Nationalismus«, wie Fin-kielkraut in einem Atemzug zwingt, oder wie Robert Weltsch formuliert: »Der moderne Nationalismus ist überall ein Kind der Aufklärung.«109 Und der »Dichter« Moritz Goldstein weiß, dass die Hymne, die Elegie leicht zum Kaddisch »Weltende« (Jakob van Hoddis) gerinnen kann. Mit Goldstein ge-langt nun auch der nationaldeutsche Jude in ein ganz anderes Licht. Der ein-gangs bei Itta Shedletzky zitierte Vorwurf des »Deutschjudentums« zeigt: Loewenbergs Bewusstsein seiner deutschen Herkunft im Sinne der Zugehö-rigkeit zum Staatengebilde »Deutsches Reich« (seit 1871), der Weimarer Re-publik lässt ihn um nichts weniger Jude sein. Ganz im Gegenteil: Deutschtum und Judentum belichten sich nach Loewenbergs Überzeugung gegenseitig wie Fotonegative.

109 Ebd., S. 132.