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Anja DollingerWalter Moers

Entdeckungsreisedurch einen phantastischen

Kontinent

Illustriert von Walter MoersGestaltet von Oliver Schmitt

Von A wie Anagrom Atafbis Z wie Zamomin

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Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das für dieses Buch verwendete

FSC®-zertifizierte Papier Munken Premium Creamliefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.

. AuflageCopyright © Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbHLektorat: Rainer Wieland

Umschlaggestaltung: Walter Moers und Oliver SchmittLayout und Satz: Oliver Schmitt, Mainz

Gesetzt aus der Mrs Eaves Narrow und Mrs Eaves

Druck und Einband: CPI – Clausen & Bosse, LeckPrinted in Germany

ISBN 978-3-8135-0530-6

www.knaus-verlag.de

Die Autoren

Anja Dollinger ist promovierte Kunsthistorikerin und Historikerin.Nach Tätigkeiten an Museen in Bonn und Frankfurt lebt sie mitihren beiden Kindern bei München und arbeitet freiberuflich

als Autorin und Lektorin. 2007 erschien von ihr »Nike unddas geheimnisvolle Museumsticket«. Durch eine Besprechung von»Die Stadt der Träumenden Bücher« wurde sie auf die Zamonien-Romane von Walter Moers aufmerksam, mit denen sie sich seither

intensiv beschäftigt.

Walter Moers ist der Schöpfer des »Käpt’n Blaubär« und anderergroßer Charaktere wie»Das kleine Arschloch«, »Der alte Sack«,

»Der Fönig«, »Adolf« sowie der kongeniale Übersetzer undIllustrator von Zamoniens größtem Schriftsteller Hildegunst von

Mythenmetz. Zuletzt erschien seine Übersetzung von Mythenmetz’»Das Labyrinth der Träumenden Bücher«.

Der Gestalter

Oliver Schmitt ist Buchgestalter. Er lebt in Mainz, wo erfreiberuflich und als Mitbetreiber des Ventil Verlags tätig ist. Bei der

Erforschung Zamoniens hat er von Anfang an assistiert.

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»Wissen ist Nacht.«Prof. Dr. Abdul Nachtigaller

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Vorwort für einen Kontinent

Auch ich, der Verfasser von inzwischen sechs Zamonien-Romanen, wurde in derletzten Zeit immer öfter mit Fragen konfrontiert, die ich nicht mehr aus dem Steg-reif beantworten konnte. Wo liegt eigentlich Gralsund? Südlich oder nördlich vonKleinkornheim? Wie knolft man mit den Zähnen? Wie funktioniert eine Teufels-felszyklopenzunge? Wie heißt die Zahl, die festlegt, wie viele Druidenseelen durchein Schlüsselloch passen?* Verfügen Hoawiefs über vier oder fünf Arme?** Werwar der führende Vertreter der Onomatopoetischen Starkdichtung – Rolli Fantonooder Montanios Truller?*** Ist ein Gruselsack ein Musik- oder ein Folterinstru-ment?“****

»Das sind Fragen, die jeden bewegen!«, sagte mein Verleger. »Wir müssen unbe-dingt den Regenwald zerstören und das Weltklima aus dem Gleichgewicht kippen,um ein Buch mit Antworten darauf unter die Leute zu bringen! Die Menschheit hateinen Anspruch auf ein Lexikon, in dem nachgewiesen wird, dass Schrecksendrei Nasenlöcher haben können.«

So fing es an. Und tatsächlich soll dieses Buch nur ein Anfang sein, denn die Auf-klärungsarbeit über den zamonischen Kontinent ist mit diesem Buch längst nichtbeendet – wir haben nur an seiner Oberfläche gekratzt. Sollten Sie mit ihm undseinen Bewohnern ein wenig vertraut sein, dann werden Sie mit Sicherheit deneinen oder anderen Begriff, einen Schauplatz, eine ganze Daseinsform oder viel-leicht sogar ihre Lieblingsfigur vermissen. Wahrscheinlich finden Sie, dass diesemoder jenem Thema zu viel oder zu wenig Raum beigemessen worden ist: Wieso,zum Henker, steht hier nicht mehr über die Toten Yetis? Und warum ist der Artikelüber den Stollentroll nicht noch umfangreicher? Das ist meine Lieblingsfigur, ichhabe sie mir auf die Glatze tätowieren lassen!

Das ist aber nun mal bei jedem lexikalischen Werk so – ein vollständiges Lexikonwäre ein Widerspruch in sich selbst. Ein gutes Nachschlagewerk ist immer work inprogress. Wir freuen uns daher darüber, wenn Sie uns auf Versäumnisse hinweisenoder offengebliebene Fragen zuschicken.

Haben die Unvorhandenen Winzlinge eine Geschlechtszugehörigkeit? Oder:Wenn Buchlinge sich von Büchern ernähren – wie sieht dann Ihre Verdauung aus?

Geben Sie die Hoffnung auf die Beantwortung dieser Fragen nicht auf und ver-schenken Sie das Buch so oft wie möglich! Denn im Erfolgsfall können wir unsereAufklärungsarbeit in einem weiteren Band fortsetzen. Und dann wird unmissver-ständlich geklärt, wie viele Buchlinge genau die Lederne Grotte bevölkern, warumLindwürmer periodisch die Schuppenfarbe wechseln und warum Ojahnn Golgovan Fontheweg in diesem Band keinen eigenen Eintrag bekommen hat.

Ihre Fragen sammeln wir unter [email protected] Moers

*Ein Olz. **Vier. ***Schwer zu sagen. ****Beides.

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Gebrauchsanweisung

Die Themenauswahl dieser lexikalischen Entdeckungsreise umfasst das ge-samte Spektrum an Daseinsformen, Persönlichkeiten, Flora, Fauna undSachgebieten, die den besonderen Charakter Zamoniens ausmachen – soweitwir sie aus den nicht gerade zahlreichen Quellen kennen. Das Buch soll ei-nen ersten Einblick in die Vielfalt dieses phantastischen und letztlich wohlunerschöpflichen Kontinents bieten. Durch diese Zusammenschau wird eserstmals möglich, Zusammenhänge zu erfassen, Verbindungslinien zwischenden Romanen zu erkennen, Entwicklungen abzulesen und auch Revisionenvorzunehmen.

Wenn Sie die Zamonien-Romane bislang noch nicht oder nicht komplettkennen, werden Sie durch die Lektüre womöglich starke Impulse bekommen,dies nachzuholen. Sollten Sie bereits mit Zamonien vertraut sein, werden Siedie Romane vielleicht unter neuen Aspekten wiederlesen wollen.

Die Geistesblitze ( ) im Text verweisen auf andere Artikel des Buches, eben-so die Wegweiser (�).

Die Angaben am Ende des Artikels benennen die Quellen, auf die er sich imWesentlichen bezieht. Diese und die Auflösung der Abkürzungen finden Sieauf S. 306.

Zahllose Begriffe konnten in diesem Band aus Platzgründen keinen eigenenArtikel erhalten, tauchen aber womöglich trotzdem auf, andere kommen trotzeines eigenen Artikels auch andernorts vor: Um sie aufzuspüren, gibt es dasRegister auf S. 307.

Ein Hinweis noch zu den Namen: Grundsätzlich finden Sie Persönlichkeitenunter ihrem Nachnamen (z. B. Anazazi, Inazea; La Gadeon, Perla ...). Ausnah-men bilden vor allem die Wolpertinger und die Lindwürmer; sie stehen unterihrem Rufnamen (Rumo, Hildegunst usw.).

Es ist eine oftmals vertrackte Arbeit, aus der Fülle Themen herauszuschälen,zu strukturieren und umfassend darzustellen. Unstimmigkeiten, Irrtümerund Unterlassungen sind daher bei aller Sorgfalt nicht auszuschließen. SollteIhnen dergleichen auffallen, freuen wir uns über einen Hinweis.

Anja Dollinger

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Alphabet der Sterne

Das Alphabet der Sterne ist der reinsteQuell dichterischer Inspiration. Nur we-nige der Auserwählten, die im Besitz desOrms sind, erlangen auch diese höchsteGabe.

Sie beschreiben diese Himmelsvisionmehr oder minder übereinstimmend alseine Schrift aus Licht, die sich spinnweb-artig zwischen den Sternen entfaltet.Über die sichtbare Wahrnehmung als Al-phabet hinaus offenbart es sich auch alsRhythmus, Gefühl und herrliche Musik.Ist man erst in seinem Besitz, formierensich in Windeseile kom-plette Werke von abso-luter Makellosigkeit vordem inneren Auge.

Persönlichkeiten, denendas Alphabet der Sternezuteil wurde:Der Schattenkönig sah esals Baby, und Perla La Ga-deon soll es sogar schonbei der Geburt besessenhaben. Hildegunst vonMythenmetz und Ovi-dios von Versschleifer

wird es beim Brand von Buchhaim zuteil,ehe sie vom Orm durchströmt werden.Ob Ojahnn Golgo van Fontheweg es er-langte, ist strittig. Während der Schatten-könig daran zweifelt, lässt ein Gedichtvon Buchling Golgo doch darauf schlie-ßen. Bei Ali Aria Ekmirrner soll einÜbermaß davon zum Tode geführt haben.LTB, 95, STB, 454f, 377f, 454f, LTB, 95ff, STB, 378, 206,289, 455, 378

Anagrom Ataf

Die halbstabile Luftspiegelung in derSüßen Wüste war jahrhundertelang einerder legendären Sehnsuchtsorte. Es gabBeschreibungen der properen Oasen-stadt »aus weißen, niedrigen Häusern mitroten und goldenen Dächern, mit vielenschattigen Palmen dazwischen und hierund da einem schlanken Turm«, jedochniemanden, der sie je betreten hätte, dasie sich, ganz nach der Natur einer Fata

Anagrom Ataf, halbstabile Luftspiegelung in der Süßen Wüste

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Morgana, stets rechtzeitig entzog. Blau-bär gelingt es, zusammen mit den Gim-peln , die ihn als den »Auserwählten«verehren, die scheue Spiegelung in eineZuckerschmelze zu treiben, wo sie dauer-haft fixiert wird.

Das von den Gimpeln heißersehnte Le-ben dort entpuppt sich jedoch als kom-pletter Reinfall: Zum einen sind sie ein-fach nicht häuslich und zum Wohnenungeeignet:

»Zuerst zeigte ich den Gimpeln, wieman auf einem Stuhl sitzt. Wir hatten einpaar Stühle auf den Marktplatz gestellt,an denen wir übten. Die Gimpel stelltensich sehr ungeschickt dabei an, setztensich neben die Stühle, fielen mit ihnenum oder stiegen auf sie hinauf und trau-ten sich dann nicht mehr runter. Nach-her hatten sie noch mehr Angst vor Stüh-len als vorher.«

Zum anderen leben bereits die Fatomein Anagrom Ataf. Diese sind eine »Trans-luzide Daseinsform aus der Familie derRuhelosen Geistwesen ohne Todesursa-che«. Als einzige bekannte Daseinsformsprechen sie rückwärts. Ihre Existenzbesteht in der kontinuierlichen Wieder-holung dessen, was sie in dem Momenttaten, als sich die Luftspiegelung halb-stabilisierte. Durch die Gimpel ist die-se Regelmäßigkeit empfindlich gestört.Erst als es Blaubär gelingt, die Gimpelzum Auszug zu bewegen, löst sich dasProblem: Anagrom Ataf, in dem auch diereich vorhandenen Nahrungsmittel nurSpiegelungen sind, deren Verzehr nichtsättigt und die bald wieder an ihrem an-gestammten Platz auftauchen, wird zueiner der größten TouristenattraktionenZamoniens, und die eher depressiv ver-anlagten Fatome erlangen Selbstvertrau-en und Wohlstand.KB, 285, 287 (LeNa), 286, 315f (LeNa), 322, 327 (LeNa)

Anazazi, Inazea

Die erste Begegnung zwischen Hilde-gunst von Mythenmetz und der ner-vösen Schreckse mit den ungelenkenBewegungen und der Reibeisenstimmeverläuft nicht gerade günstig. Hildegunstführt sich in ihrem auf Schrecksenlite-ratur spezialisierten Antiquariat auf wieein pubertärer Rüpel und beschädigtmutwillig mehrere der kostbaren Bü-cher. Schon hier offenbart sich jedochdie hochentwickelte seherische GabeInazeas. Diese Spontaneingebung, Inazeaspricht von einem »Schrecksenreflex«,wird sie später mit Hilfe ihres Freundes,des Eydeeten Hachmed Ben Kibitzer ,durch eine Alptraumanalyse absichernund verfeinern. Dank dieser selbstquä-lerischen Prozedur kann das von großenSchuldgefühlen geplagte Paar eine fol-genreiche und nicht ganz uneigennützigeEntscheidung treffen.

Schon bald nach seiner Rückkehr nachBuchhaim begegnet Hildegunst demungleichen Gespann erneut, und auchdieses Wiedersehen hat die Schrecksezuverlässig vorhergesehen. Die beidenhatten Buchhaim während des großenBrandes verlassen, führen nun aber wie-der ihre Spezial-Antiquariate. Scheinbardurch Zufall gelangt sie hier über einenmysteriösen Verkäufer an ein überausgesuchtes Werk von der Goldenen Liste ,

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in dem sich obendrein ein rätselhaftesDokument befindet, das ein großes Aben-teuer in Gang setzt.

Es ist müßig, über die Qualität der ei-gentlich unmöglichen Freundschaft zwi-schen dem Eydeeten Kibitzer und derSchreckse Anazazizu spekulieren. Grö-ßeres Einverneh-men und Vertrauenüber die Schrankender Daseinsformenhinweg ist jedochkaum vorstellbar(�Ehe). Und auchfür Hildegunst wirddie patente undimmer wieder er-

staunlich pragmatische Schreckse zu ei-ner wertvollen Begleiterin und Führerindurch das wiederaufgebaute Buchhaimund die neue Kunst des Puppetismus .Umso rätselhafter erscheint ihr jähesVerschwinden.STB, 88ff, LTB, 156, STB, 432ff, LTB, 175ff, 196ff, 402,LTB, 199

Anazazi, Izanuela

Sie ist die letzte Schreckse von Sledwa-ya, alle anderen wurden vom Terror-regiment, das der SchrecksenmeisterEißpin dort über sie ausübt, vertrieben,wenn sie es überhaupt überlebten. So hatIzanuela Anazazi, von der der gleiche be-drückende Geruch ausgeht wie von allenSchrecksen, das Monopol für Schreck-senmedizin in einer Stadt voller Kran-

ker inne; und auchEißpin muss sich ihrgegenüber mäßigen,da ein Schrecksen-meister ganz ohneSchrecksen auchkein Meister mehrist. Doch damit istdas prekäre Verhält-nis zwischen derpolitisch aktivenSchrecksimistin und

Die Schreckse Inazea Anazazi

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dem Schrecksenhasser, der eigens eineEin-Mann-Partei gründet, um die Wie-dereinführung der Schrecksenverbren-nung durchzusetzen, lange noch nichtausreichend erfasst. Und Izanuela, dieintensiv über die bisweilen unüberwind-lichen Gegensätze von Gefühl und Ver-stand, Schrecksimismus und Alchimie,Herz und Kopf reflektiert, versteht sichselbst nicht mehr.

Als die Kratze Echo Izanuela um Hilfebittet, sieht sie ihre Chance. Mit erheb-lichem Aufwand und Risiko bereitet sieEssenzen zu, für die sie ihre vielfältigenTalente als vorgebliche Diplomschreckseund begnadete Gärtnerin ebenso benö-tigt wie als Schlösserknackerin.

Im Verlauf ihrer intensiven und viel-fältigen Zusammenarbeit lernt Echo dieSchreckse als eine tierliebe Person mit pa-nischer Höhenangst kennen, als zunächstbekennende Käsarierin (»Heil, Käsar!«,

�Esstypen) und mitreißende Optimistinund, ungeachtet ihres abschreckendenÄußeren, als eine selbstbewusste Fraumit Spaß an Kosmetik und Mode.S, 189, 202, 231f, 258, 32, 241, 281, 233ff, 282f, 252ff,323ff, 189, 267f, 299f

Aromaorgel, olfaktorische(auch Geruchs- oder Duftorgel)

Izanuela Anazazi, begnadete Gärtnerin und letzte Schreckse von Sledwaya

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Ein »riechbares Bühnenbild«, das gibtes nur im Puppaecircus Maximus vonBuchhaim , dem Tempel des Puppetis-mus . Erzeugt wird es von der olfakto-rischen Aromaorgel, einem gewaltigen,überkomplexen Instrument aus Kolben,Röhren und Gefäßen, mit dessen Hilfejeder erdenkliche Geruch kreiert wer-den kann. Schon die sichtbaren Teile desInstrumentes sind raumgroß, tatsäch-lich aber durchzieht sein System wie einunterirdischer Pilz das gesamte Theater.Die ausgeklügelte Zufuhr von Gasen, zudenen als wesentlicher Bestandteil aucheines zur Neutralisierung gehört, ermög-licht es, »Architekturen für die Nase« zuerschaffen. So werden die wohligen Düfteeines erwachenden Morgens ebenso her-aufbeschworen wie der Gestank der Ka-takomben oder der spezifische Geruchder Buchlinge .

Konstruiert wurde die Aromaorgel vonOctobir van Krakenbeyn, einem jun-gen Duftorganisten. Er ist der beste voninsgesamt sieben Geruchsvirtuosen, dieausnahmslos aus Nebelheim kommen.

Denn nur sie verfügen über die Bega-bung der Sinneslenkung, die sie bereitsunrühmlich mit der hypnotischen Trom-paunenmusik unter Beweis gestellt ha-ben. Der geniale Vordenker des Instru-ments ist jedoch Maestro Corodiak, dererblindete Strippenzieher und Leiter desTheaters. Mit der Erfindung der Aroma-orgel, die es erlaubt, allein über den Ge-ruch eine ganze Szenerie zu imaginieren,gelingt ihm ein wichtiger Schritt auf demWeg zum Unsichtbaren Theater .LTB, 235, 231ff

Atlantis

Mit nahezu 200 Millionen Einwohnern(rund 25 Millionen in jedem der fünfBezirke zuzüglich jenen im Untergrund)war Atlantis schon von der schieren Grö-ße »der Mittelpunkt der Erde für nicht-oder halbmenschliche Daseinsformen«.Seine Architektur, zu der auch zahlrei-che Hinterlassenschaften der infolge derzamonischen Erbfolgerempeleien ver-bannten Menschen zählten, war die viel-fältigste in ganz Zamonien. Und in ihremMotto »Atlantis – eine Stadt mit Zukunft«,das Besucher an jedem der gigantischenTore begrüßte, steckte mehr Wahrheit, alsmanch einer ihrer Einwohner vermutlichzu träumen wagte.

Lange Zeit war die ehemals auf einerLandzunge im Osten Zamoniens gelegeneMegacity nur auf dem See- oder Luftweg

Maestro Corodiak, Erfinder der Aromaorgel

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erreichbar, ehe bis zu ihrem »Verschwin-den« etwa ein Jahr lang auch wieder derLandweg auf einer Passage durch dasPyritgebirge offen stand, der nun den At-lantissee erschließt.*

Ihre Geräuschkulisse – »ein grandiosesRauschen, vom Leben selbst erzeugt« –,die sich bereits in großer Ferne bemerk-bar machte, entfaltete auf Freunde desUrbanen einen geradezu magnetischenSog. Erzeugt wurde sie von einer Viel-falt an Daseinsformen, die beispielloswar und nahezu das gesamte Spektrumder zamonischen Ethnien umfasste. Diegemeinsame Sprache war Zamonisch,

das in etwa so vielen dialektalen Einfär-bungen gesprochen wurde, wie es dortDaseinsformen gab. Das Konglomeratwurde von einem König repräsentiert,tatsächlich jedoch von Nattifftoffen ge-steuert, soweit das bei der Größe über-haupt möglich war. Je nach Blickwinkelkönnte man daher auch sagen, dass sichdie Stadt letztlich selbst regierte, hätte esnicht auch noch Volzotan Smeik gegeben,den heimlichen Strippenzieher und wah-ren Herrscher der Metropole (�Haifisch-maden).

Die Architektur von Atlantis entzogsich in ihrer Vielfalt, Geschichte und

Atlantis und seine weitere Umgebung

___________________________

* Ein Bolloggkopf hatte die einzige Schneise durch das ansonsten unpassierbare Pyritgebirgeversperrt. Blaubär gelang die eigentlich unmögliche Durchquerung des Schädels, ehe dieser vomBollogg wieder aufgesetzt wurde.

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der Bandbreite ihrer Dimensionen einersinnvollen Zusammenfassung. Von denPyramiden der vertriebenen Ägypter biszu den ultramodernen unterirdischenArchitekturen der Unsichtbaren Leu-te gab es praktisch jeden erdenklichenBaustil und in jedweder Größe – von denzum Schutz vor der zerstörerischen Krafteinzelner Wassertropfen mit Glas über-dachten Anlagen der Bonsaimännchenbis zu den fünf unfertigen babylonischenSchraubentürmen, deren unverglasteGeschosse über Außentreppen von rund25.000 Stufen erschlos-sen waren.

Das Leben in Atlan-tis bot unerschöpflicheMöglichkeiten an Arbeitund Freizeitgestaltung.Blaubär schlug sich mitzahllosen Jobs durch, eheer als Lügenkönig zumschließlich prominente-sten Bewohner der Stadtwurde: Haarpuler in ei-ner Fellkämmerei, Keh-rer in einer Spuckhalle,Etikettierer in einer Blut-pfandleihe, Handzettel-verteiler, Gruselschreierim Wachsfigurenkabi-nett, Laternenkontrol-leur, Friedhofsgärtner,Straßenkehrer, Hosen-bügler, Nachtwächter,Schachschänkenkellner,Zeitungsjunge, Laufku-rier, Reklameschreier,Plakatabkratzer, Fisch-sortierer und Beleger ineiner Hoawief-Pizzeria.

Für die meisten Er-werbstätigen war derMittwoch in Atlantis ar-

beitsfrei. Dann wurde ein schier un-übersehbares Angebot an sportlichen,wissenschaftlichen und kulturellen Ak-tivitäten jeglicher Couleur geboten: VonFreytagg Hayo, dem Dompteur der blau-en Blitze bis zur Marathonaufführungvon »Der Baßrüttler des Voltigorken« imKolodrom (experimentelles Bühnen-stück von Hildegunst von Mythenmetzin 240 Stunden mit über 3000 Schau-spielern), vom kostenlosen Huckepack-rennen der sehr um ein gutes Image be-mühten Rikschadämonen im Atlantis-

Stadtbild von Atlantis (Ausschnitt)

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park bis zum Vortragvon Dr. Grobian G. Gro-bian, dem Erfinderdes Grobianismus imHüttenmuseum, ein-schließlich Anrempelndes Publikums.* Diegrößte Attraktion warenjedoch die im Megatherder Stadt unter der Be-teiligung von Zuhörernnahezu aller Bevölke-rungskreise und -schich-ten ausgetragenen Du-elle der Lügengladiato-ren .

Kurz nach dem legen-dären, über 99 Rundenausgetragenen Turnierzwischen Nussram Fha-kir und Blaubär kam esdann zu jenem außer-ordentlichen Ereignis,das sich – wie man imNachhinein erkennen konnte –, bereitslange vorher durch die häufigen Erdbe-ben und die Entladung von blauen Blit-zen abgezeichnet hatte. Seit Tausendenvon Jahren hatten Außerirdische, dieUnsichtbaren Leute, die zunächst ober-irdisch in Häusern lebten, in denen dasWasser bergauf floss, und später in derKanalisation von Atlantis, daran gearbei-tet, die Stadt mit Hilfe ihrer überlegenenTechnologie zum größten Raumschiffder Geschichte umzuwandeln. Bei ihrerUntergrundtätigkeit gewannen sie im-mer mehr Mitstreiter, zu denen auch derWolpertinger Rumo , der Stollentroll(mutmaßlich) und die Berghutze Fred-

da zählten. Fredda in-formierte Blaubär auchüber die Hintergründedes unmittelbar bevor-stehenden Abflugs:

»Die Menschen über-nehmen immer mehrvon diesem Planeten.Sie beherrschen mitt-lerweile fast alle Konti-nente und lassen dortfür andersartige Wesenkeinen Platz. Zwerge,Hutzen, Yetis … Sie allemüssen dort im Ver-borgenen leben. Nur inZamonien ist es nochanders. Aber Zamoni-en wird irgendwannim Meer versinken, dashaben die UnsichtbarenLeute schon vor Jahrtau-senden errechnet. Aufihrem Planeten ist Platz

für uns alle.«Kurze Zeit später hob die Stadt mit

einem Traumstart ab, zur maßlosen Be-wunderung der vorsorglich herbeigeeil-ten Rettungssaurier (�Mac) ohne jeg-liche Komplikationen und Verluste. Alsneuer, in vielen Farben strahlender Sternauf Zickzackkurs ist es seither am Him-mel sichtbar.

Zurück blieb der Atlantissee, ein riesi-ger Krater, der sich mit Meerwasser füllteund an dessen Ufer Buntbären eine neueStadt gründeten: »Man sagte später, diessei der Anfang vom Untergang Zamo-niens gewesen, die Unsichtbaren Leutehätten mit Atlantis sozusagen den Stöpsel

___________________________* Es ist eine traurige Fußnote, dass Grobian ausgerechnet sein um Anschaulichkeit bemühterAnsatz zum Verhängnis wurde, denn er wurde »bei einem Vortrag über Grobianismus, den er imatlantischen Hüttenmuseum hielt und bei dem er Zuschauer vorsätzlich anrempelte, von einemangerempelten Blutschinken mit einer Keule erschlagen.«

Die meistvertretenenDaseinsformen

in Atlantis

Nattifftoffen

Kludden

Fossegrims

Haselhexen

Unken

Blutschinken

Wolpertinger

Rikschadämonen

Schilfgnome

Draks

Greifen

Gargyllen

Zwiezwerge

Fhernhachen

Witschweine

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aus Zamonien gezogen, aber Legendenneigen zur Vereinfachung.«KB, 477, 109f, 449, 373, 392f, 399, 392f/99, 447, 476ff,536, 467ff, 496ff, 472, 558, 656, 618ff, 632, 680f, 702f,689

Autodidakten

In die Schule gehen sie allenicht gerne. Für Rumogibt es dort genau zweiPluspunkte: Den Fechtun-terricht und Rala. Aber ers-

teren darf er wochenlang nicht besuchenund muss stattdessen im KellerverliesLesen und Schreiben lernen und zweite-re wird von seinem Erzrivalen Rolv ho-fiert. Lieber durchläuft er die Schule desLebens, findet in Volzotan Smeik, aberauch in den beiden Bewohnern seinerWaffe – Grinzold und Löwenzahn – sehreigenwillige und bisweilen eindimen-sionale, aber effektive Lehrmeister. Woimmer er etwas erzählt bekommt, hört erzu. Und wenn es drauf ankommt, fällt esihm wieder ein. Die Geschichte von derSchlacht im Nurnenwald etwa, der er denentscheidenden Hinweis verdankt, wie erseinen verhassten Gegner auszuschaltenvermag. Anderes ist ihm einfach gege-

ben, vor allem seine kunsthandwerkli-che Begabung als Holzschnitzer. Intuitivgreift er zu den richtigen Werkzeugenund Materialien; und seinem »Lehrher-ren«, Ornt La Okro, bleibt nur, über die-ses Talent zu staunen. Seine Schatulleaus dem Holz der Nurnenwaldeiche wirdnicht nur Ralas Herz berühren.

Rala, auch wenn sie dieSchule offenbar wenigerwiderständig durchläuftals Rumo, lernt ebenfallsmühelos aus Anschauung

und Intuition – den tödlichen Gebrauchvon Pfeil und Bogen genauso wie dasSchwimmen.

Wie ein unbeschriebe-nes Blatt taucht Blaubärin der Walnussschale aufund schlägt von da aneinen kontinuierlichen

Bildungsweg ein, der ihn nur einmal ineine echte Schule, die Nachtakademievon Prof. Dr. Abdul Nachtigaller , führenwird. Ohne es zu suchen und manchmalauch unmerklich, wird ihm sein Wisseneingeschrieben – von den Zwergpiraten ,von denen er alles über Knoten lernt,aber auch über das Scheitern, über dieTratschwellen, die ihn alle Facetten derSprache und der Rhetorik lehren biszu den Gimpeln , von denen er 2000Namen für Sand und das Überleben inder Süßen Wüste lernt. Bei ihnen reifter aber auch, quasi durch »learning bydoing«, zum Anführer, der Verantwor-tung übernimmt. Zuerst, indem er dieersehnte Heimat Anagrom Ataf für sieerobert, dann, noch viel weitsichtiger,indem er ihnen ein neues Lebenszielsteckt. An der Hälfte seines Lebens (vor-übergehend) angekommen, ist Blaubärin jeder Hinsicht – intellektuell, emotio-nal und handwerklich – eine der kom-

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plettesten Persönlichkeiten, die man sichvorstellen kann.

Hildegunst von Mythen-metz ist unter den za-monischen Autodidakteninsofern eine Ausnahme,als ihm die handwerkli-

che Seite abgeht. Er lernt zumeist unddann geradezu exzessiv aus Büchern undkonzentriert sich auf die Schriftstellerei.Durch ganze Bibliotheken liest er sichhindurch und macht sich das Erworbe-ne geschmeidig zunutze. Dass er auf demWeg zum gefeierten Großschriftstellerauch immer wieder prägende Lehrmeis-ter findet, ist ihm selbst meist gar nichtrichtig bewusst.

Echo , die superbegabteKratze, braucht nur etwaszu hören, um es zu me-morieren. So kann ihmSchrecksenmeister Eiß-

pin alles alchimistische Wissen eintrich-tern, um sein Fett, auf das er letztlich ausist, zu einer Art Wissensessenz zu ma-chen. Wahres von Falschem unterschei-den kann Echo zunächst nicht, er glaubtseinem Frauchen die Geschichte von denkleinen Kratzen, die aus der Kratzen-minze gepflückt werden, genauso, wieSchuhu Fjodor F. Fjodor, dass der Mond385.080 Kilometer entfernt ist. Eine Na-turbegabung sondergleichen ist Echo vorallem als Therapeut. Aus dem Stegreif,mit enormem Einfühlungsvermögen

und durchschlagendem Erfolg ersinnt ereine Methode, um Izanuela Anazazi vonihrer Höhenangst zu heilen. Ohne je eineherkömmliche Schule besucht zu haben,ist Echo so am Beginn seines eigentlichenKratzenlebens ein wahrer Universalge-lehrter, der mit den Tieren sprechen undalles in Gold verwandeln kann, der Angsterfahren und sie auszuhalten gelernt hat,intellektuell, emotional und vor allemauch gastronomisch beschlagen wie keinzweiter.

Auch Ensel tut sich imGegensatz zu seiner streb-samen und anpassungs-willigen Schwester Kreteschwer, Schulbildung an-

zunehmen, was sich – etwa wenn es umdie hilfreiche Unterscheidung von essba-ren und giftigen Beeren geht – durchausals Nachteil herausstellt (�Ensel & Kre-te). Er rekrutiert jedoch grundsätzlichnützliches Wissen aus der Lektüre vonAbenteuerromanen, selbst wenn die ei-genwilligen Gesetze, die im Großen Waldherrschen, die erfolgreiche Anwendungimmer wieder unterlaufen.

»Dass man Markierungen zu hinter-lassen hatte, wenn man durch die Wild-nis wanderte, wusste er aus der Lektüreseiner Prinz-Kaltbluth-Bücher.«

Einer der beeindruckend-sten und zielstrebigstenzamonischen Autodidak-ten ist Colophonius Regen-schein , der Bücherjäger .

Mit Intelligenz, profunder und allumfas-sender Bildung, hartnäckiger Rechercheund Spürsinn birgt er mit Leichtigkeitdie größten Schätze der Katakombenund wird letztlich auch zum Vordenkerfür deren mögliche zivilisatorische Er-schließung.EK, 85, S, 64f, EK, 31, S, 246

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Bedürfnisanstalten

Für Rumo ist es zunächst ein völlig neuesWort, für die zivilisierten Wolpertingerjedoch Inbegriff eines wohlstrukturier-ten Gemeinwesens. Ja, Wolperting iststolz darauf, die Stadt mit den meistenBedürfnisanstalten in ganz Zamonien zusein. Ihre Sauberkeit wird hochgehalten,

und wer sich in der Schule etwas zuschul-den kommen lässt, riskiert, mit ihrer Rei-nigung betraut zu werden. Andernortsist ihr Ruf nicht ganz so glänzend, undso bekennt Phistomefel Smeik , als jungeHaifischmade in einer derart verzwei-felten Situation gewesen zu sein, dasser »sogar« die Erbschaft einer Öffentli-chen Bedürfnisanstalt angetreten hätte(�Qualmoir).R, 188f, 201, 219, STB, 140f

Belebte Totmaterie

Belebte Totmaterie ist nicht zu verwech-seln mit Totmateriedichtung. Bei dieservon Hildegunst von Mythenmetz erfun-denen und mit »Der sprechende Ofen«zugleich zur unerreichten Meisterschaftgebrachten Literaturgattung handelt essich um die fiktive, literarische Beseelungeigentlich unbelebter Gegenstände.

Belebte Totmaterie: Leidener Männlein und Lebendes Buch

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Belebte Totmaterie hingegen ist in denmeisten Fällen das Werk von Buchimistenoder Alchimisten wie Succubius Eißpin ,die sich etwa mit der Erschaffung von Ge-kochten Gespenstern oder Schmerzens-kerzen einen mehr oder minder gelun-genen Scherz erlauben, mit den Leben-den Büchern eine Gattung erschufen,die sich in den Katakomben längst ihrerKontrolle entzogen hat, oder die LeidenerMännlein als »anorganische« Versuchs-kaninchen verwenden (wie es alle zamo-nischen Wissenschaftler tun). Die Frag-würdigkeit all dieser Experimente trittam augenfälligsten beim Zamomin zu-tage, dem einzigen denkenden Element,das vorübergehend ziemlich erfolgreichdie Weltherrschaft anstrebt. Womöglichwar es auch das Urzamomin, das denDenkenden Treibsand von Unbiskantzum Denken veranlasste.

Wie es sich mit den Puppen verhält, diein Buchhaim für puppetistische Auffüh-rungen verwendet werden, ist nicht ganzklar: Während der Aufführungen wer-den sie in der Sprache des Puppetismus»slengvo«, lebendig, und zwar auf so be-klemmend naturalistische Weise, dasskein Dieb, der dies erlebte, wagen würde,Hand an sie zu legen.

Grinzold und Löwenzahn sind die inRumos Waffe vereinigten Gehirne ei-

nes verstorbenen Dämonenkriegers undeines Stollentrolls . Das Pulver der sterb-lichen Überreste der Krieger wurde vonden Bergwerkstrollen mit dem Erz ver-mischt, in der Absicht eines der legen-dären Dämonenschwerter zu schmieden.Löwenzahns Gehirn geriet aus Versehendazwischen. Ob die telepathisch kommu-nizierende Waffe seinetwegen eher an einKäsemesser als ein Schwert erinnert?EK, 243ff, LTB, 204, 209, R, 310

Beleuchtung

Daseinsformen, die auf ihre Augen ange-wiesen sind, brauchen Licht. In Zamoni-en wird es in erster Linie mit Kerzen, Holzund fossilen Brennstoffen erzeugt, inUntenwelt , dem gefahrenvollen unterir-dischen Reich, zusätzlich auch mit Hilfetierischer und pflanzlicher Lichtspender.

In den Häusern Zamoniens geben Ker-zen behagliches, manchmal aber auchnur allzu spärliches Licht. So herrschenoftmals schummrige Sichtverhältnisse,sei es im Antiquariat Kibitzers , im Buch-

Beispiele belebter Totmaterie

Denkender TreibsandGekochtes Gespenst

Grinzold und LöwenzahnLebende Bücher

Leidener MännleinPuppen

Schmerzenskerzen

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haimer Qualmoir oderim Turm General Tick-tacks . Eine bedrücken-de Lichtquelle sind dieSchmerzenskerzen , aufderen Erfindung Succu-bius Eißpin besondersstolz ist. Hildegunst vonMythenmetz wiederumschwärmt von seinemsiebenarmigen Silber-leuchter aus der Gral-sunder Metallmanufak-tur, in den die siebenGrundtugenden desDichters in Altzamonischeingeprägt sind undden er mit Talgstumpenbestückt. Auch zur Be-leuchtung von Schau-fenstern werden Kerzeneingesetzt, in Hel solcheaus dunklem Wachs. DerSchattenkönig und dieBuchlinge beleuchten ihre Räume eben-falls mit Kerzen und Feuerstellen. Vor al-lem die Buchlinge haben dazu eine ganzentschiedene Meinung: »Quallenlichttaugt nicht zum Lesen ... Kerzenlicht istberuhigend. Wir haben eine eigene Ker-zenwerkstatt. Wusstest du, dass man ausPapierraupen tolles Kerzenfett kochenkann?«

Kerzen werden so auch zu einem Grad-messer der Zivilisation: Als Hildegunstbeim Aufstieg aus den Katakomben erst-mals wieder auf Kerzenlicht stößt, weißer, dass die Oberfläche nahe ist. Dass erspäter stets Kerze und Streichhölzer mitsich führt, verwundert daher wenig.

In Hel verwendet man Kohlenbeckenzur Straßenbeleuchtung, aber auch alsmobile Lichtquelle für unterwegs. Blau-bärs Tätigkeit in Atlantis als Laternen-

kontrolleur deutet ebenso wie das Ver-bot einer Straßenbeleuchtung für dieSchrecksengasse von Sledwaya daraufhin, dass die größeren Städte Zamoni-ens grundsätzlich über Straßenlaternenverfügen. Dennoch herrscht bisweilenauch innerstädtisch Dunkelheit , in derman sich behelfen muss: Als Rumo undRolv in der Bleichen Gasse ihren langenZweikampf bis in die Abendstunden aus-tragen, werden Fackeln herbeigebracht.

Eine besondere Kunst beherrschendie Buchlinge, vor allem Danzelot undGofid. Sie sind »Flammenwerfer«, dieihre Pechfackeln virtuos in die enormenHöhen des Waldes der Kristalle werfenund Hildegunst so einen unvergesslichenAnblick bescheren:

»Immer wieder schleuderten sie ihreFackeln in die Luft, und was die wirbeln-

Quallenlampen werden durch in Nährflüssigkeit gehalteneLeuchtquallen betrieben.

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den Flammen dann aus der Dunkelheitschälten, war jedesmal von atemberau-bender Pracht.«

Wie magisch ein solcher Anblick geradein Untenwelt sein muss, wird erst deut-lich, wenn man sich vergegenwärtigt,dass dort vornehmlich Quallenlicht fla-ckert. Die Quallen werden in einer Nähr-lösung gehalten und spenden ein kaltes,pulsierendes Licht. Immerhin wurde soüberhaupt erst die Erschließung der Ka-takomben möglich. Auch rund um Helwird bei Quallenlicht gearbeitet, hier hatman in den Straßen Wasserbecken fürLeuchtquallen eingelassen, und auch dieKanalisation wird mit Quallenlampenerhellt. Unbeleuchtete Bereiche begehtman mit Quallenfackeln.

Das sind aber nicht die einzigen Tiere,die zur Beleuchtung eingesetzt werden.Eißpin verwendet Lampen mit Irrlich-tern und Glühwürmern, Kibitzer lässtwährend seiner TestamentseröffnungIrrlichter fliegen und Izanuela Anaza-zi verschafft sich mit Leuchtkäfern undLavawürmern zusätzliches Licht. Zudemzüchtet sie leuchtende Pflanzen, die je-doch keinen praktischen Nutzen haben.

Noch weitaus artenreicher sind na-turgemäß die leuchtenden Pflanzen undTiere in Untenwelt. Viele Spezies er-scheinen hier in fluoreszierenden oderphosphoreszierenden Varianten: Algenund Ameisen, Vrahoks , Schwämme undPilze, Motten und Käfer. Zu diesen orga-nischen Lichtquellen kommen minera-lische hinzu – Lavaströme, die für Hitzeund goldgelben Schein sorgen, aber auchungeklärte Phänomene wie das »Licht,das in einer unterirdischen Höhle wieeine Quelle aus dem Fels sprudelt. Undin einen See aus leuchtender Luft stürzt.«

Die Rostigen Gnome machten sich he-terogene Leuchtsubstanzen zunutze und

unternahmen einen weiteren Schritt zurzuverlässigen Beleuchtung von Unten-welt, indem sie den »Schimmerschim-mel« züchteten, einen Rost, den sie mitLeuchtalgen und Schimmelpilzen kreuz-ten, »wodurch etwas entstand, das we-der eindeutig dem Mineral- noch demPflanzenreich zuzuordnen war. Mit die-ser dezent schimmernden Substanz, diesich ständig fortpflanzte, beleuchtetensie weite Teile ihres Reiches«. Genau hiermöchte auch der geheimnisvolle Libri-naut (�Bücherjäger) ansetzen, der diemitreißende Vision erleuchteter Kata-komben beschwört.

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Gewisse Weiterentwicklungen weistauch das moderne Buchhaim gegenüberHildegunsts erstem Besuch auf, dennnun werden Öllampen mit Petroleumbetrieben.

Beispiellos und technisch extremavanciert ist das Licht, dessen sich dieUnsichtbaren Leute im Untergrund vonAtlantis bedienen – freischwebendegelbe Kugeln, die jedoch auch nur »eingespenstisches kaltes Licht« spenden.

Neben all diesen Beleuchtungsarten,die der Erhellung dienen, gibt es auchEffektbeleuchtungen. Über eine ausge-feilte Lichttechnik verfügt der Puppae-circus Maximus in Buchhaim. Hierwerden nicht nur die unterschiedli-chen Beleuchtungsartenan den verschiedenenSchauplätzen der »Stadtder Träumenden Bücher«virtuos simuliert, auchdas Theater selbst wirdin zauberhafte Lichtspie-le getaucht: »Ein gewal-tiger kupferner Leuchterwurde herabgesenkt, mitHunderten von brennen-den Kerzen darin. Er warflankiert von zwei großenKugeln, die mit kleinenSpiegeln aus rotem, grü-nem, gelbem und blau-em Glas übersät warenund sich nun zu drehenbegannen – wodurch derganze Raum plötzlichvon entfesselten buntenIrrlichtern durchgeistertwurde.«

Die Zwergpiraten ent-fesseln Nacht für Nachtein enormes Spektakel,um die Klabautergeis-

ter fernzuhalten – »Lampions, Fackeln,farbigen Lichterketten, Wunderkerzen,kleine Feuer«, und außerdem: »eine Sig-nalrakete nach der anderen«.

Für stimmungsvolle Atmosphäre sor-gen die spontan entzündeten, fettigenMaiskolben, die die Blutschinken im Me-gather von Atlantis schwenken, als Nuss-ram Fhakir mit seinen musikalischenEinlagen eine neue Variante des Lügen-duells ins Leben ruft.

STB, 232, 237, LTB, 88, 154f, R, 563f, S, 23f, EK, 35f,LTB, 81, R, 429, STB, 314, 232, 437, LTB, 426, R, 429,672f, KB, 498, S, 185, R, 225, STB, 247, 36, 57, R, 429,556, STB, 420, S, 146, 284, 234, 238, LTB, 169f,S, 240, STB, 308, LTB, 353f, R, 398, 672ff,STB, 309, 315, R, 370, STB, 291, LTB, 373ff,404, 421f, KB, 611f, LTB, 218, KB, 26, 583,LTB, 353f

Buchlinge bevorzugen Kerzenlicht zum Lesen.

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Biblionismus

Nachdem das Feuer das alte Buchhaimzerstört hatte, entstand aus den Ruineneine moderne Stadt. Damit wurde auch

der okkulte Buchimismus abgelöst durchden Biblionismus, mit dem sich das ge-samte Buchwesen erfassen lässt. Ovidiosvon Versschleifer beschreibt ihn als »denGeist des modernen Buchhaim«. DerHandel mit Büchern ist durch ihn trans-parenter, und das Leben auch für Auto-ren sicherer, denn es gibt keine Bücher-jäger mehr, die sich gewaltsam in denBesitz makabrer Körpertrophäen brin-gen, die ehemals auf dem Schwarzmarkt

Die Biblio-TypologieVerteilung (geschätzt) unter den Daseinsformen in Buchhaim.

Biblioklasten (Bücherschänder)

Biblioklepten (pathologische Bücherdiebe)

Bibliomane (enthusiastische Büchersammler)

Bibliomanten (Wahrsager aus Büchern)

Bibliomaten (zwanghafte Leser)

Biblionäre (finanzkräftige Büchersammler)

Biblionekromanten (Liebhaber von Buchleichen)

Bibliopathen (pathologische Bücherhasser)

Bibliophobe (Angst vor Büchern)

Bibliophrene (Buchgestörte)

Biblioskope (Buchforscher)

Biblioten (fanatische Bücherleugner)

Biblioverse (pathologische Buchliebhaber)

Sonstige*

3%

5%

20%

2%

10%

1%

3%

8%

3%

6%

12%

2%

17%

8%

* dazu zählen Biblionisten, Bibliodromen, Bibliogeten, Bibliodonten, Bibliogoten,Bibliospasten, Bibliometen, Biblioganten, Bibliophasten, Bibliophanten, Bibliogomen,Bibliobile, Bibliophagen, Bibliogame

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hohe Preise erzielten. An ihrer Stelle ge-hen nun Librinauten unter Einhaltungstrenger Regeln dem noch immer nichtungefährlichen Geschäft der Bücherbe-schaffung aus den Katakomben nach.

An der Buchhaimer Universität wirddie Biblionistik in hoher Differenzierunggelehrt, so dass die Schreckse InazeaAnazazi das Fach SchrecksimistischeBiblionistik belegen kann.

Unter dem Schirm des Biblionismusentwickeln sich auch zahlreiche neueBerufe – Bibliokraten etwa, Biblioristen,Bibiliotekten und Bibliozisten . Und erstellt eine Typologie zur Verfügung, diees erlaubt, jede Daseinsform im Hinblickauf ihr besonderes Verhältnis zu Büchernzu charakterisieren.LTB, 110, 108ff, 118, 125ff, 167

Bibliotekten

Brandschutz wurde beim WiederaufbauBuchhaims zur obersten Maxime, ehesich mit dem neuen Berufsbild des Bib-liotekten auch ästhetisch ein eigenerBaustil herausbildete. Zunächst entstan-den die sogenannten Schwebenden Bib-liotheken des Architekten Dr. TsoelibratUhu, die bei Feuer (und nicht nur dann)auf Stützen aus feuerfestem Stahl hoch-gefahren werden können, eine sehr eli-

täre Architektur für besonders Vermö-gende.

Bald darauf wurden im Hildegunst vonMythenmetz -Rüssel versteinerte Bücherentdeckt und von der Stadtverwaltung alskostenfreies Baumaterial freigegeben. Siewaren infolge des Brandes durch einensehr spezifischen petrologischen Prozessentstanden, bei dem überschwemmteBereiche der Katakomben von Schlickumschlossen wurden. Durch die Kombi-nation aus Sauerstoffentzug und hohemDruck versteinerten bzw. mumifiziertendie Bücher und waren so zwar dem le-senden Zugriff entzogen, wurden aber

Schwebende Bibliothek des StarbibliotektenDr. Tsoelibrat Uhu

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als attraktives heimisches Baumaterialwiedergewonnen.

Die umfassende Verwendung der mar-morähnlichen Quarzbücher trug wesent-lich zur Herausbildung der Bibliotekturbei, einer dem Biblionismus verschrie-benen Architektur. Ein Fünftel der Buch-haimer Bauten muss seither den behörd-lichen Vorgaben zufolge von Bibliotektenerrichtet werden. Oft sind es Gebäudefür das Buchwesen – Antiquariate, Ver-lage, Bibliotheken –, die nach Versmaßenproportioniert sind, eine aufwendigeBuchornamentik oder die Form einesaufgeschlagenen Buches aufweisen. DieBibliotekten unterliegen strengen Regelnund tragen ziemlich unvorteilhafte Hüteaus antiquarischen Architekturbüchernals Zunftkleidung.LTB, 70ff, 118f

Bibliozisten

Eine weitere Folge des Brandes vonBuchhaim und seines wirtschaftlichenAufschwungs ist die Anstellung von Bib-liozisten. Es sind Wolpertinger , die nurfür den Brandschutz verantwortlich sindund aus Steuergeldern der wohlhaben-den Gemeinde finanziert werden. Durchdie Einrichtung von Löschstationen undQualmoirs , Bedürfnisanstalten für Rau-cher, verringern sie das Brandrisiko be-trächtlich. Die Bibliozisten patrouillierendurch die Straßen und untersagen un-

kontrolliertes Rauchen in der Öffentlich-keit. So macht auch Hildegunst von My-thenmetz , der seine letzte Pfeife rauchenmöchte, seine erste Erfahrung mit einemBrandschutzpolizisten. Und obwohl ihndessen physische Präsenz einschüchtert,ist er doch eingenommen von dessen ver-bindlicher Freundlichkeit. Fast scheintes, als hätte die auf ein touristenfreund-liches Ansehen erpichte Gemeinde ihreMitarbeiter hierfür eigens kommunikativgeschult. Umgänglich klären sie über dieGefahren des Rauchens auf, lotsen dendarbenden Raucher zum nächstgelege-nen Qualmoir und werben nebenbei so-gar noch für den Puppaecircus Maximus.LTB, 117, 83ff

Bildende Künstler

Um die klassischen Bildenden Künste– Malerei, Bildhauerei und Architektur –wird in Zamonien kein ausgeprägter Per-sonenkult betrieben. Einige Künstler,Kunstschulen und Baustile sind zwar na-mentlich bekannt, ansonsten ist Kunstvor allem im öffentlichen Raum selbst-verständlich, aber eher anonymisiert,etwa die zahlreichen Großskulpturen vonAtlantis (z. B. die »prahlerischen Rie-senskulpturen« der Italiener), Sledwaya(bronzenes Denkmal des SelbstlosenHausarztes), Florinth (Hildegunst vonMythenmetz -Denkmal) und Buchhaim(»Buchkolosse aus Stein oder Metall, vonunterschiedlichen Künstlern gestaltetund bemalt« und allerorten Dichter-denkmäler). Das gilt auch für die Au-torenportraits namenloser Maler inden Cafés von Buchhaim . In der SüßenWüste walten gar spezielle meteorolo-gisch-geologische Kräfte, die rein zufälligKunstwerke aller Größe und Art aus dem

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Sand formen und genauso willkürlichwieder abschmirgeln.

Noch einen Schritt weiter geht Phis-tomefel Smeik in seiner totalitärenAllmachtsphantasie, als er jegliches Ge-niewesen tilgen, Skulpturen zerschlagenund Ölbilder mit Säure abwaschen will.

»Die Abschaffung aller Kunst wird wohlkaum ohne die Abschaffung aller Künst-ler vonstatten gehen.«

Die Unvorhandenen Winzlinge ha-ben diesen Schritt bereits vollzogen unddie Kunst überwunden oder, genauergesagt, in die Wissenschaft überführt.Dennoch scheint es unangemessen, wievon Volzotan Smeik vorgeschlagen, hiervon »Wunst« oder »Kissenschaft« zusprechen.

KB, 467f, 471f, 482, S, 144, EK, 245, LTB, 47/50, LTB, 139,189, STB, 144, R, 147f, S, 15f, LTB, 240, 133, R, 239, 375f,STB, 136, LTB, 254

Namentlich bekannteBildende Künstler

Succubius Eißpin: Katastrophenmalervon Vulkanausbrüchen, Wirbelwinden,Riesenwellen, Erdbeben ...

Chicorigi de Gorio: alptraumhafteGemälde

Ed van Murch: Großmeister derGralsunder Dämonenmalerei

Rumo von Zamonien: begnadeterFeinschnitzer

Hagob Saldaldian Smeik: Mikroskulp-teur (»Er hat die komplette Schlacht vomNurnenwald in eine Wimper geschnitzt.«)

Vochtigan Venng: wahnsinnige, in allenFarben glühende, späte Ölgemälde

Succubius Eißpin: Vulkanausbruch. Sledwaya, Schloss, Privatbesitz

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Blaubär

Er gehört zur Familie der Buntbären,etwa zwei Meter großen Säugetieren mitSprachbegabung (�Boris Boris). Einstlebten die Bären, von denen nicht zweidieselbe Fellfarbe aufwiesen, friedlichim Großen Wald , nun aber scheint der

dunkelmarine Blaubär ihr letzter Ver-treter. Als Findelkind in einer Walnuss-schale gelangt er zu den Zwergpiraten ,die ihn fünf Jahre lang liebevoll großzie-hen. Schon hier, in seinem ersten vonden insgesamt dreizehneinhalb Lebenseiner ersten Lebenshälfte, fällt ein mar-kanter Zug auf: Was immer ihm gebotenwird, das Bärchen nimmt es klaglos an.Und es lernt: von den Zwergpiraten etwaKnotenmachen, Segeln und, ganz wich-tig, Prahlen. Doch erst zwei Leben späterwird der Kleinbär auch Sprechen lernen,das dann allerdings sogleich auf höchs-tem Niveau und in allen Facetten:

»Ich lernte große und kleine Wörter,Tätigkeitswörter, Wiewörter, Umstands-

wörter, Nebenwörter, Bindewörter,Hauptwörter und Widerworte; schöneWörter und auch solche, die man garnicht erst sagen sollte.«

Diese Begabung wird ihn viele Lebenspäter zum Star von Atlantis machen, derehemaligen Hauptstadt Zamoniens. Vor-her jedoch muss er noch viel mehr lernenund erleben. Wie ein Schwamm saugt derinzwischen Blaubär genannte Jugendli-che auf, was ihm seine staunenswerten

Lebensumstände bie-ten: die Geografie derWelt und vor allem Za-moniens auf dem Rückenvon Mac , dem Rettungs-saurier, das Überleben inder Süßen Wüste , die ermit den nomadisieren-den Gimpeln durch-streift, die Schicksale derAbenteurer, mit denen erim Ewigen Tornado lebt.Und vor allem all das, wasihn der Eydeet Prof. Dr.Abdul Nachtigaller inseiner Nachtschule lehrt.

Als er die verlässt, weil die Kapazität sei-nes Gehirns ausgeschöpft ist, verfügt erüber eine nahezu allumfassende Bildung:

»Meine Kenntnisse beschränkten sichdurchaus nicht nur auf Literatur, Natur-wissenschaften, Philosophie und Kunst,ich beherrschte auch jeden denkbarenBereich des täglichen Lebens: Ich wusste,wie man eine Turmuhr repariert und eineNockenwelle fräst, wie man die Statikeines Staudamms errechnet, ein Gehirntrepaniert und eine Zeitbombe baut.«

Obendrein überträgt ihm Nachtigallerauch noch telepathisch sein »Lexikon dererklärungsbedürftigen Wunder, Daseins-formen und Phänomene Zamoniens undUmgebung«. Fortan ist es sein Vademe-

Tratschwellen bringen dem kleinen Blaubär das Sprechen bei –und das auf höchstem Niveau.

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cum, wenn auch ein recht unzuverläs-siges, da er die Gebrauchsanweisung zudessen Benutzung erst sehr viel späterfindet: »Die Erklärung des Lexikons kamwie immer ungebeten, im falschen Au-genblick und nicht allgemeinverständ-lich genug formuliert.«

Doch es zeichnet den nervenstarkenSäuger aus, dass er auch unter größtemStress geistesgegenwärtig genug ist, dieeher abstrakten Informationen in prak-tische Handlungsanweisungen zu über-setzen.

Diese geistige Wendigkeit geht mit derGabe einher, Vertrauen zu erwecken undFreundschaften über sämtliche Grenzender Daseinsformen und Galaxien hinwegzu schließen. Auch wenn sich das Bä-renjunge mit dem Tyrannowalfisch Rex,einem riesenhaften Raubfisch, nichtanfreundet, so zeigt er doch bereits einehohe Sensibilität für dessen Bedürfnisse.Sein erster richtiger, väterlicher Freundist Mac der Rettungssaurier. Ein Jahr ver-

bringt er mit ihm als dessen gewiefterNavigator in einer perfekten Symbiose. Inder Nachtschule, erstmals unter Gleich-altrigen, ist es dann Qwert Zuiopü, derGallertprinz aus der 2364. Dimension, indessen Dasein er eine schicksalhafte Rol-le spielt:

»Als schließlich Qwert die Nachtaka-demie verlassen musste, brach für michbeinahe die Welt zusammen. Ab jetztwürde ich ein Fremder unter Fremdensein.«

Später findet er in 16 U, der schlechtenIdee , und Chemluth Havanna, einemrassigen Tabakhütchen, treue Freundevon durchaus unterschiedlicher Zuver-lässigkeit. Sie alle bilden ein dringendnotwendiges Gegengewicht zu den ab-gründigen Daseinsformen, denen er sichimmer wieder ausgesetzt sieht — allenvoran der Stollentroll , der ihn mit bit-terböser Regelmäßigkeit ins Verderbenstürzt. Oder eben auch nicht.

Bereits als Kind, noch namenlos und

Blaubär mit seinem väterlichen Freund Mac, dem Rettungssaurier

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sprechen kann er auch noch nicht, wirder bei den Klabautergeistern zum um-jubelten Star. Auch dies ist eine prägendeErfahrung, die sich wiederholt — ob alsAuserwählter der Gimpel oder als um-jubelter Traumkomponist im Bollogg-kopf . Blaubärs Charisma, sein Einfalls-reichtum und seine hohe Begabung, allesErlernte sinnstiftend zu nutzen, geheneinher mit einer intuitiven Divenhaftig-keit, für die ihn seine Fans umso heißerverehren:

»Eigentlich war ich angetreten, umberühmt, vielleicht sogar unsterblich zuwerden.«

Als Lügengladiator in Atlantis kumu-lieren diese in vielen Leben angesammel-ten darstellerischen Talente, sein ausge-prägter Sinn für Timing, Entertainment,gute Geschichten und vor allem aucheine staunenswerte Reife.

Obwohl er einen ausgeprägten Hangzu gutem Essen, Maßlosigkeit und Über-gewicht hat, nimmt er auch Phasen ein-seitiger und karger Ernährung tapferhin — die Algen der Zwergpiraten, dieÖlsardinen Prof. Nachtigallers, das ewi-ge Gimp in der Süßen Wüste oder dieselbstverschuldete Mangelernährung imEwigen Tornado. Wenn er jedoch Gele-genheit dazu erhält, frönt er exzessiv denGenüssen und muss anschließend Sorgetragen, seinen überstrapazierten Körpererneut in Form zu kriegen (�Esstypen):

»Ich hatte mittlerweile mächtig abge-nommen. Während unserer Langstre-ckenflüge machte ich auf Macs RückenFreiübungen: Liegestütze, Knie- undRumpfbeugen.«

Unerschütterlich besteht er die aus-sichtslosesten Situationen und versuchtbis zuletzt, das Beste daraus zu machen.So sammelt er profunde Lebenserfah-rung, lernt die unterschiedlichsten Le-

benskonzepte und -motivationen ken-nen und kann schließlich auch beginnen,eigenständige Entscheidungen für sichzu treffen. In der Mitte seines Lebens istso aus dem unbeschriebenen Blatt fastbuchstäblich ein wandelndes Lexikongeworden, ein gestandener, auch hand-werklich geschickter Bär in den bestenJahren, der weiß, was er will: »Das Lebenist kurz, behauptet man. Ansichtssache,sage ich. Die einen sind kurz, die anderensind lang, und manche sind mittel. Au-ßerdem hatte ich noch dreizehneinhalbandere davon.«KB, 11, 58, 154, 158, 409, 416, 583, 102, 703

Bolloggkopf

Bolloggs zählen zu den zamonischenAusnahme-Naturkatastrophen. Es sindRiesenzyklopen, die eine Größe von biszu zwei Kilometern erreichen können.Da sie auch kopflos überleben könnenund ohnehin unter einer akuten Sozial-schwäche leiden, legen sie ab einer Größevon etwa 1700 Metern ihren Schädel ab.Glücklicherweise gibt es in Zamoniennur noch eine Handvoll von ihnen. Ei-ner von ihnen versperrt mit seinem Kopfden einzigen Landzugang nach Atlantis ,

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das somit lange Zeit nur noch auf demSee- und Luftweg erreichbar war. Blau-bär wagt jedoch die Durchquerung deszwanzig bis fünfundzwanzig Kilometerbreiten Kopfes, was sich als ebenso wag-halsiges wie unerquickliches Abenteuerherausstellt, bedingt durch die riesigenBollogg-Flöhe, die im Haar siedeln, Seenaus Ohrenschmalz an Ein- und Ausgang,einen tödlichen See des Vergessens imInneren sowie den darin irrlichterndenWahnsinn. Immer wieder versucht der,die guten und schlechten Ideen, die inder rechten Hirnhälfte leben, zu mani-pulieren, was dazu führt, dass der Kopfals verrückt gilt. Bunte Gedanken sausenin ihm wie »wildgewordene Wunderker-zen« herum, treffen bisweilen aufeinan-der und vereinigen sich — wenn eine Fra-ge mit der richtigen Antwort zusammen-trifft — zu einem funkensprühenden,orangefarbenen Blitz, der Lösung. ZweiLösungen, die aufeinandertreffen, erge-

ben wiederum eine Idee, von denen esgute und schlechte gibt. Je nachdem sindes große oder kleine, mehr oder minderhell glimmende Lichttropfen. Blaubärfreundet sich mit 16 U an, einer schlech-ten Idee , die ihm zum Schutzengel beider Durchquerung des Schädels wird.

Damit der Bolloggkopf nicht erwacht,sorgen Traumkomponisten auf einerArt Orgel dafür, dass er kontinuierlichträumt. Blaubär führt diese Tätigkeit aufkünstlerische Höhen und komponiertaus den in die Tiefen der Zeit reichendenErinnerungen des Bolloggs virtuose Auf-führungen von bizarrer Schönheit undWucht.

Das Labyrinth des zweigeteilten Hirnswird von Planmachern, geometrischenKörpern in wechselnder Gestalt, kar-tografiert. Bei einem von ihnen erstehtBlaubär eine Karte, mit deren Hilfe erschließlich auch durch die linke Gehirn-hälfte auf die andere Seite findet. Diese

Bollogg-GehirnkarteBollogg-Gehirnkarte

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Walter Moers, Anja Dollinger

ZamonienEntdeckungsreise durch einen phantastischen Kontinent - VonA wie Anagrom Ataf bis Z wie Zamomin

ORIGINALAUSGABE

Gebundenes Buch, Pappband, 312 Seiten, 15,0 x 22,7 cmISBN: 978-3-8135-0530-6

Knaus

Erscheinungstermin: Oktober 2012

Zamonien für Anfänger und Fortgeschrittene und solche, die es werden wollen! Alles, was die Welt über Walter Moers’ phantastischen Kontinent Zamonien wissen sollte:Dieses reich illustrierte und liebevoll gestaltete Lexikon präsentiert die Fülle dieser Weltin über 150 verschwenderisch illustrierten Artikeln: über Buchhaim und Brummli, Hel undHaifischmaden, Kakertratten und Kometenwein, Orm und Olz, Schrecksen und Stollentrolle,Untenwelt, Unvorhandene Winzlinge und vieles andere mehr … Millionen Leser weltweit folgen Buch für Buch den Helden von Walter Moers und Hildegunst vonMythenmetz auf den phantastischen Kontinent Zamonien, wo es von skurrilen Daseinsformen,unglaublichen Naturerscheinungen, fabelhaften Errungenschaften von Kunst und Wissenschaft,aber auch Abenteuern aller Art nur so wimmelt. Und so ist es kein Wunder, dass Zamonienjede Menge Fragen aufwirft: Lebende Bücher – Wirklichkeit oder Fiktion? Was ist eigentlichdas Orm? Wie durchquert man einen Bolloggkopf? Wo bekommt man in Zamonien die bestenRauschmittel? Ernähren sich Buchlinge wirklich von Büchern? Reicht Zamonisch oder brauchtman auch Frostfrattisch? Wie tickt General Ticktack? Anja Dollinger ist es gelungen, Licht in diedunklen Geheimnisse dieser rätselhaften Welt des Walter Moers zu bringen.