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Paläographisch-diplomatische Bemerkungen zu D.O. III 232 (sogen. „Ostarrichi-Urkunde") Von Heide Dienst Seit das am 1. November 996 in Bruchsal ausgestellte Diplom Ottos III. fiir Bischof Gottschalk von Freising vor 50 Jahren in den Rang eines österreichische Identität stif- tenden Dokumentes erhoben worden ist', ist auch die Diplomatik aktiv geworden, die Echtheit dieser vom Herausgeber als „Diplom zweifelhafter Geltung" bezeichneten Ur- kunde zu beweisen. Den Zweifel hat niemand geringerer als der eigendiche Begründer der Diplomatik in Österreich, Theodor von Sickel, geäußert 2 , und selbst Leo Santifaller, der 1946 zu dem Schluß kam, „daß zunächst ein begründeter Verdacht gegen die Echt- heit der Urkunde nicht besteht" 3 , hielt es dennoch fiir „dringend notwendig, daß diese 1 Nach längeren, von verschiedenen Bedenken bestimmten Verhandlungen kam wesentlich auf Be- treiben des Unterrichtsministers Dr. Felix Hördes am 9. Juli 1946 ein Ministerratsbeschluß zustande, „daß anläßlich der 950-Jahr-Feier des erstmaligen Auftreten des Namens Österreich (Ostarrichi) eine Feier ,950 Jahre Österreich' stattfindet, mit deren Durchführung das Bundesministerium fiir Unterricht betraut wird" (BKA/Präs., ZI. 1555/46, Wien, ÖStA/AdR). Das Zitat verdanke ich Stefan Spevak, der über die Aktivitäten des Jahres 1946 eine Arbeit vorbreitet. Vgl. auch Ernst Bruckmüller, Millenium! - Millenium?, ÖGL39 (1995) 137-155. 2 Theodor S ickel (Ed.), Die Urkunden Otto des III. (MGΗ DD II 2, 1893) 647 Nr. 232 (die Ur- kunde wird hier in Hinkunft mit Ο bezeichnet), Vorbemerkung: „Ein von HF. mit dem Eschatokoll ver- sehenes, unbesiegeltes Blanquet wurde von einem Freisinger Schreiber ausgefüllt. Derselbe benutzte als Vorlage fiir seine Fassung hauptsächlich D.O. II 66 und hielt sich im Uebrigen an das Freisinger Formu- lar (vgl. DDO. III 170, 197 und DDH. II Stumpf Reg. 1339, 1449). Wie aber die Schrift verräth, wird die Urkunde erst zur Zeit der Besiegelung mit dem zweiten in den J. 1002-1014 verwendeten Siegel Heinrich II., und zwar wahrscheinlich vor dem im J. 1006 erfolgten Tode des Bischöfe Kotascalch, voll- endet worden sein." Schon Josef v. Zahn hatte anläßlich seiner Edition des Diploms im Codex diploma- tics Austriaco-Frisingensis, FRA II 31 (1870) n. 50, S. 51 angemerkt: „Von der Echtheit des Documen- tes sind die Mon. boica nicht überzeugt; in der That liegt Heinrichs II. Siegel bei, doch ist dies kein Be- weis, dass dasselbe auch daran gewesen. Am verdächtigendsten ist das Pergament, welches zwar die Form der Ottonischen Urkunden festhält, doch seiner Bearbeitung nach sehr jenem der Mine des 11. Jhdt. ähnlich ist. Die Schrift des Datum ist eine andere, gröber und breiter, als die des Textes, welche der Ot- tonischen Zeit nicht widerspricht. Sieht man von der Unregelmässigkeit des Pergamentes ab, so liesse sich kaum Bedeutendes gegen die Echtheit einwenden." Zu den MB vgl. unten Anm. 27. 3 Leo S a n t i f a l l e r , Ober die „Ostarrichi-Urkunde" vom 1. November 996, in: Jahrbuch „Die Fur- che" (Wien 1946)149-162, Wiederabdruck als selbständige Schrift (Wien: Phönix[!]-Verlag 1948), das Zitat: 14. Die Schrift enthält ein Photo der Urkunde. 1981 wurde von der AD EVA Graz eine Faksimi- leausgabe hergestellt (Einleitung, Transkription und Übersetzung: Adam Wandruszka, ohne Druck- und Literaturangaben). Die Übersetzung Wandruszkas folgt der Anna Maria Drabeks im Katalog der Ostar- richi-Gedenkstätte in Neuhofen/Ybbs (Neuhofen/Ybbs, o. J. [1980]), Übersetzungen boten auch landes- MIÖG 104 (1996) Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/22/14 3:56 AM

Paläographisch-diplomatische Bemerkungen zu D.O. III 232 (sogen. „Ostarrichi-Urkunde“)

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Paläographisch-diplomatische Bemerkungen zu D.O. III 232 (sogen. „Ostarrichi-Urkunde")

Von Heide Dienst

Seit das am 1. November 9 9 6 in Bruchsal ausgestellte Diplom Ottos III. fiir Bischof Gottschalk von Freising vor 50 Jahren in den Rang eines österreichische Identität stif-tenden Dokumentes erhoben worden ist', ist auch die Diplomatik aktiv geworden, die Echtheit dieser vom Herausgeber als „Diplom zweifelhafter Geltung" bezeichneten Ur-kunde zu beweisen. Den Zweifel hat niemand geringerer als der eigendiche Begründer der Diplomatik in Österreich, Theodor von Sickel, geäußert2, und selbst Leo Santifaller, der 1 9 4 6 zu dem Schluß kam, „daß zunächst ein begründeter Verdacht gegen die Echt-heit der Urkunde nicht besteht"3, hielt es dennoch fiir „dringend notwendig, daß diese

1 Nach längeren, von verschiedenen Bedenken bestimmten Verhandlungen kam wesentlich auf Be-treiben des Unterrichtsministers Dr. Felix Hördes am 9. Juli 1946 ein Ministerratsbeschluß zustande, „daß anläßlich der 950-Jahr-Feier des erstmaligen Auftreten des Namens Österreich (Ostarrichi) eine Feier ,950 Jahre Österreich' stattfindet, mit deren Durchführung das Bundesministerium fiir Unterricht betraut wird" (BKA/Präs., ZI. 1555/46, Wien, ÖStA/AdR). Das Zitat verdanke ich Stefan Spevak, der über die Aktivitäten des Jahres 1946 eine Arbeit vorbreitet. Vgl. auch Ernst Bruckmüller, Millenium! -Millenium?, ÖGL39 (1995) 137-155.

2 Theodor S i c k e l (Ed.), Die Urkunden Otto des III. (MGΗ DD II 2, 1893) 647 Nr. 232 (die Ur-kunde wird hier in Hinkunft mit Ο bezeichnet), Vorbemerkung: „Ein von HF. mit dem Eschatokoll ver-sehenes, unbesiegeltes Blanquet wurde von einem Freisinger Schreiber ausgefüllt. Derselbe benutzte als Vorlage fiir seine Fassung hauptsächlich D.O. II 66 und hielt sich im Uebrigen an das Freisinger Formu-lar (vgl. DDO. III 170, 197 und DDH. II Stumpf Reg. 1339, 1449). Wie aber die Schrift verräth, wird die Urkunde erst zur Zeit der Besiegelung mit dem zweiten in den J. 1002-1014 verwendeten Siegel Heinrich II., und zwar wahrscheinlich vor dem im J. 1006 erfolgten Tode des Bischöfe Kotascalch, voll-endet worden sein." Schon Josef v. Zahn hatte anläßlich seiner Edition des Diploms im Codex diploma-t i c s Austriaco-Frisingensis, FRA II 31 (1870) n. 50, S. 51 angemerkt: „Von der Echtheit des Documen-tes sind die Mon. boica nicht überzeugt; in der That liegt Heinrichs II. Siegel bei, doch ist dies kein Be-weis, dass dasselbe auch daran gewesen. Am verdächtigendsten ist das Pergament, welches zwar die Form der Ottonischen Urkunden festhält, doch seiner Bearbeitung nach sehr jenem der Mine des 11. Jhdt. ähnlich ist. Die Schrift des Datum ist eine andere, gröber und breiter, als die des Textes, welche der Ot-tonischen Zeit nicht widerspricht. Sieht man von der Unregelmässigkeit des Pergamentes ab, so liesse sich kaum Bedeutendes gegen die Echtheit einwenden." Zu den MB vgl. unten Anm. 27.

3 Leo S a n t i f a l l e r , Ober die „Ostarrichi-Urkunde" vom 1. November 996, in: Jahrbuch „Die Fur-che" (Wien 1946)149-162, Wiederabdruck als selbständige Schrift (Wien: Phönix[!]-Verlag 1948), das Zitat: 14. Die Schrift enthält ein Photo der Urkunde. 1981 wurde von der AD EVA Graz eine Faksimi-leausgabe hergestellt (Einleitung, Transkription und Übersetzung: Adam Wandruszka, ohne Druck- und Literaturangaben). Die Übersetzung Wandruszkas folgt der Anna Maria Drabeks im Katalog der Ostar-richi-Gedenkstätte in Neuhofen/Ybbs (Neuhofen/Ybbs, o. J. [1980]), Übersetzungen boten auch landes-

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fur die Geschichte Österreichs so hochbedeutsame und diplomatisch so problemreiche Urkunde im Zusammenhang des Gesamtmaterials und aufgrund der Errungenschaften der modernen Urkundenforschung einer noch umfassenderen Untersuchung unterzo-gen würde". Santifallers für eine breitere Öffentlichkeit konzipierte Ausführungen be-ruhten auf der Literatur; von der Originalurkunde in München (ehem. KS 859, nun: Freising HU 14) meint er, sie werde „dortselbst, falls sie nicht zerstört oder geborgen ist, noch heute aufbewahrt"4. Aus Anlaß des Babenbergerjubiläums nahm Heinrich Appelt 1976 zu diplomatischen Problemen Stellung, wobei er besonders auf Probleme der Be-siegelung, des Monogramms und des Freisinger Diktates einging5. Er hielt abschließend fest, daß „die Kaiserurkunde, die zum erstenmal in der Geschichte den Namen Öster-reich nennt, ein vollwertiges historisches Zeugnis fur die Verhältnisse" bleibe, „die zur Zeit ihrer Ausfertigung in unserer Heimat herrschten"6.

Bevor auf einige Aspekte von Inhalt und Problemen der Urkunde näher eingegan-gen wird, sei festgestellt, daß die Bezeichnung „Österreich" fur das bayerische Ostland, die babenbergische Mark, am Ende des 10. Jahrhunderts auch ohne diese Urkunde ge-sichert wäre, wird doch in einem weiteren Diplom Ottos III., ausgestellt am 29. April 998 in Rom, dem bayerischen Herzog Heinrich, seinem Vetter, der Besitz von Nöchling in pago quoque Osterriche vocitato ac comitatu Heinrici marchionis übertragen". Die kanz-leimäßige Ausfertigung dieser Urkunde ist unbestritten8. Wir können daher mit Gelas-senheit an die Untersuchung unserer Urkunde herangehen - es versteht sich von selbst, daß angesichts des knappen hier zur Verfugung stehenden Raumes nur ausgewählte Ein-zelbeobachtungen vorgetragen werden können.

Freising erhielt Besitz im Ausmaß von 30 Königshufen in und um Neuhofen an der Ybbs: quasdam nostri iuris res in regierte imlgari vocabulo Ostarrichi in marcha et in comi-tatu Heinrici comitis filii Liutpaldi marchionis in loco Niuvanhova dicto, id est cum eadem curte et in proximo confinio adiacentes triginta regales hobas ... in proprium atque perpe-tuum usum. Als Vorurkunde wurde bereits von Sickel D.O. II 66 von 973 (vor Novem-

bzw. begriffs- und wissenschaftsgeschichtliche Publikationen des Jahres 1946: Karl L e c h η e r, Ostarri-chi, in: Monatsschrift „Neue Ordnung" 15/2 (April 1946) 17 -21 ; Alphons L h o t s k y , Die Ostarrichi-Urkunde, Festnummer der Wiener Zeitung „950 Jahre Österreich" vom 1. November 1946. Der Ostar-richi-Festvortrag Lhotskys vom 21. Oktober 1946 in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wurde 1947 gedruckt; Wiederabdruck in: d e r s . , Aufsätze und Vorträge (herausg. v. Hans Wagner und Heinrich Koller) 1 (1970) 2 2 1 - 2 4 4 .

4 Santifaller, Urkunde (1948)8 . ' Heinrich A p p e l t , Zur diplomatischen Beurtei lung der Ostarrichi-Urkunde. Jahrbuch fur Lan-

deskunde von N Ö NF 42 (1976, Babenberger-Forschungen) 1 - 8 , mit 2 Abb. auf einer Tafel. 6 Ebenda 8.

D.O. III 286. Kar! Foltz, der Bearbeiter dieses im Original erhaltenen Stückes, weist Diktat und Schrift dem Η F zu, dem jüngeren der beiden aus der Wormser Domschule kommenden Hauptnotare des Kanzlers Hildibald (977 -998 ) , Bischöfe von Worms (vgl. dazu Kehr wie Anm. 14, 40 ff., Η F 46ff . ) .

8 In jüngster Zeit wurden alle Königsurkunden fiir bayerische Empfanger im allgemeinen und fiiir Freising im besonderen fiir Fälschungen aus der Mit te des 12. Jahrhunderts , im Falle Freisings auf Ver-anlassung Bischof Ottos, erklärt; der „neue Typ der Privilegienurkunde" sei von Wibald von Stablo erst geschaffen worden: Hans Constantin F a u ß n e r , Die Königsurkunden-Fälschungen Ottos von Freising (1993) , österr. Betreffe bes. 72 ff. Da die Argumentat ion fur diese absurden Behauptungen die Niederun-gen paläographisch-diplomatischer Gefilde völlig vermied, ist jede fachliche Diskussion verunmöglicht; vgl. aber zur Sache Rudolf S c h i e f f e r , Otto von Freising ein Urkundenfalscher? in: Regensburg, Bayern und Europa, FS Reindel (Regensburg 1995) 2 4 5 - 2 5 5 , zu D. O. III 232 bes. 253 f.

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ber 23, hier in Hinkunft mit Κ bezeichnet) für Bischof Abraham von Freising festge-stellt. Darin heißt es, der Kaiser habe quandam nostraeproprietatispartem in regione vul~ gari vocabulo Chreine et in marcha et in comitatu Paponis comitis sitam übertragen. Aus dieser Gegenüberstellung ist ersichtlich, daß sich der Verfasser genötigt sah, wie in seiner Vorlage eine Gegendbezeichnung einzusetzen. Ostarrichi war offenbar die gängige Be-zeichnung für das bayerische Ostland, dem lateinischen oriens, orientalisplaga, orientalis regia entsprechend9, zunächst nicht auf den Amtsbereich des babenbergischen Markgra-fen beschränkt10, in der volkssprachlichen Version jedoch nur für diesen belegt und all-mählich im 11. Jahrhundert eine Bezeichnung ftir das werdende Land (Nieder-)öster-reich. Im Fall von Κ war die volkssprachliche Bezeichnung fur den Amtsbereich des Gra-fen Poppo offenbar zunächst nicht bekannt, es wurde dafür ein nur mit Punkten be-zeichneter Platz ausgespart. Da dieser zu großzügig bemessen worden war, wurden in den freien Raum in erheblich größeren Buchstaben die Worte vocabulo Chreine nach-träglich eingefügt". Vielleicht durch dieses Vorbild angeregt, sah sich der Schreiber von Ο veranlaßt, seinerseits Ostarrichi in etwas größerer Schrift hervorzuheben.

Doch zunächst noch zum Inhalt: Bereits Appelt hat gezeigt, daß das Diktat von Ο allein auf Κ beruht, eine von Sickel angenommene weitere Verwendung von Freisinger Formular - wenn man von der Wendung super gremium (Frisingensis ecclesiae u. ä.) ab-sieht - nicht bestätigt werden kann, ferner, daß die sprachliche Anpassung an die neuen Erfordernisse nicht an allen Stellen gut geglückt ist l 2 . Κ ist wesendich umfangreicher als O, es enthält eine genaue Grenzbeschreibung sowie eine sorgfältige und taxative Aufzäh-lung aller in der herrscherlichen Beurkundung enthaltenen Rechte. Nicht alle sind auch in Ο übernommen worden, dafür zwei charakteristische Beispiele: Die Pertinenzformel von Κ lautet: cum terris cultis et incultis pratis pascuis silvis aedificiis aquis aquarumve de-cursibus ipsoque iam dicto foresto venationibus piscationibus molendinis mobilibus et inmo-bilihus viis et inviis exitibus et reditibus quaesitis et inquirendis et cum omnibus iure legali-terque ad haec pertinentibus, die von O: cum terris cultis et incultis pratis pascuis silvis aedificiis aquis aquarumve decursibus venationibus zidalweidun piscationibus molendinis mobilibus et inmobilibus viis et inviis exitibus et reditibus quesitis et inquirendis omnibusque iure legaliterque ad easdem hobaspertinentibus. Die Erwähnung des in Κ zuvor genau be-zeichneten Waldstückes (silvula quae Szovrska Dubravua) war überflüssig, Bienenstöcke gab es offenbar nur im Neuhofener Gebiet, ein Grund für die neuerliche Betonung, daß es sich um Pertinenzen zu den dreißig Königshufen handle, ist schwer erkennbar. Liegt hier die Begründung für die Änderungen auf der Hand, so ist eine zweite Abweichung bei der Übernahme eines zweiten formelhaften Teiles merkwürdig: die Übertragung in die freie Verfügungsgewalt des Bischofs bzw. seiner Kirche wird in Κ näher ausgeführt durch haec omnia tenendi dandi vendendi commutandi seu quicquidinde voluerit faciendi, die Worte dandi vendendi fehlen in O. Daß es sich dabei nicht um ein Versehen, einen Abschreibfehler handeln kann, zeigt die Tatsache, daß in Ο nach tenendi eine Lücke von

9 Zu diesen Bezeichnungen vgl. zuletzt Heide D i e n s t , Ostarrichi - oriens - Austria: Probleme „österreichischer Identität" im Hochmittelalter, in: Was heißt Österreich? (herausg v. Richard G. Plaschka, Gerald Stourzh, Jan P. Niederkorn, AÖG 136, 1995) 35-50.

10 So übergibt etwa Otto I. der Salzburger Kirche u. a. auf Bitten Herzog Heinrichs von Bayern Be-sitz in der südlichen Steiermark:... que/Lim nostri iurispredia in comitatu Marchuuardi marchionis nostri in plaga origentali constituta, D.O. I 389 (970 März 7, Pavia; Kanzleiausfertigung).

" Vgl. hier Abb. 1 a. 12 Appelt (wie Anm. 5) 6 f.

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etwa vier Buchstaben folgt, und in der Tat läßt sich mit einer Infrarotlampe das radierte dandi lesen. Die Rasur muß also nachträglich erfolgt sein, vielleicht anläßlich der Be-glaubigung? Gründe dafür und fur die Auslassung von vendendismd schwer zu finden, denn im Prinzip kommt die Erlaubnis zu Gabe und Verkauf ja in den Wendungen libero perfruantur arbitrio. ..quidquid voluerint inde faciendi zum Ausdruck. Auch die Vermu-tung, im Falle einer Übergabe von noch näher bestimmtem Besitz in genanntem Aus-maß, die eher einer Rodungserlaubnis gleichkommt, sei Weitergabe und Verkauf nicht vorgesehen, findet bei Durchsicht vergleichbarer Herrscherdiplome keine Bestätigung.

Der Schreiber von Ο hat sich nicht nur in der Formulierung seines Textes, sondern, wie es scheint, auch in bezug auf einige graphische Eigenarten an Κ orientiert. Der um-fangreiche Text von Κ ist in einer sehr gleichmäßigen, optisch ansprechenden diploma-tischen Minuskel geschrieben, die sich durch ein elegantes Erscheinungsbild und eine organische Entwicklung der Buchstabenformen und -Verbindungen auszeichnet'3. Ganz anders der Eindruck der Schrift von O: einer geübten gleichmäßigen Minuskel des Mit-telbandes steht eine uneinheidiche Gestaltung der Ober- und Unterlängen sowie der Verzierungen gegenüber. Die Schäfte der Oberlängen erreichen das drei- bis siebenfache der Mittellänge, sie stehen mitunter senkrecht, andere wieder sind leicht nach links bzw. rechts geneigt, die Ausgestaltung von b, d, h und l reicht von einfacher Verlängerung über einen fallweise mit einem in stumpfen Winkel angesetzten Abstrich nach rechts bis zu keulenförmigen Verdickungen durch eine meist links im unteren oder im letzten Drittel angesetzte Schleife, die mitunter auch nach rechts gezogen wird; neben dem Mi-nuskel-^ findet auch das runde (unziale) ^häufig Verwendung, auch im Wortinneren, zum Teil mit extrem nach links gebogenem langem Schaft. Die Verzierungen v o n / u n d s reichen von einer einfachen kleinen links angesetzten Schlinge über einen über den Schaft gezogenen nach rechts auslaufenden Strich; xf-Ligaturen werden meist durch eine Schlinge mit folgenden zwei Schleifen über den Schaft zur Verbindung der beiden mehr oder minder weit auseinandergerückten Buchstaben gestaltet, ähnlich auch die et- und (seltener) et-Ligaturen. Letztere finden zweimal fiir das Won «Verwendung, viel häufi-ger aber wird das Wort durch die beiden Minuskelbuchstaben e und t gebildet, wobei der Balken des t meist weit in die Oberlänge verlängert wird und in einem Knötchen en-det. Diese sehr uneinheidich gestaltete und unorganisch aufgesetzte Verzierung könnte durch die Vorlage angeregt worden sein, in der der Schaft des gestürzten / der «-Ligatur eine meist beträchtliche Verlängerung nach oben erfuhr. Ebenso uneinheitlich und un-organisch aufgesetzt wirken mitunter ausladende Schnörkel und Striche von links zum Balken des t am Wortanfang. Die Unterlängen von f , g, p, q, r und s reichten zunächst nicht allzuweit unter die Grundlinie, wurden aber meist mit zusätzlichen Strichen zum Teil extrem verlängert, charakteristisch ist auch die sehr tief angesetzte g-Schlinge, von der noch ein weiterer Strich nach unten gezogen wird. Das für die Diplomschrift so cha-rakteristische (und in Κ ausschließlich verwendete) offene α fehlt fast völlig, der Schaft des kleinen unzialen α ist etwa 45° geneigt, die Schreibung ae (auch an unpassender

13 Eine nähere Beschreibung dieser Schrift verbietet der hier zur Verfügung stehende Raum, vgl. je-doch Abb. 1. O b und in welcher Weise Beziehungen zu dem Freisinger Kleriker Willihalm und seinem Kreis hergestellt werden können, dessen „charakteristisch feiner und zügiger, disziplinierter bayerischer Hand ein gewisser stilbildender Einfluß" zugeschrieben wurde, bedarf näherer Untersuchungen. Vgl. Natalia D a n i e l , Handschriften des zehnten Jahrhunderts aus der Freisinger Dombibliothek. Studien über Schriftcharakter und Herkunft der nachkarolingischen und ottonischen Handschriften einer baye-rischen Bibliothek ( Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 11, 1973) 140 ff.

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Paläographisch-diplomatische Bemerkungen zu D.O. III 232 (sogen. „Ostarrichi-Urkunde") 5

Stelle, wie ζ. B. aecclesia, dazu K: acclesia) findet sich häufig, daneben auch e caudata, die Bögen von h, m und η sind fast krallenförmig nach links geneigt, ν findet sich nicht sel-ten auch im Wortinneren; eine /»/-Ligatur, sehr seltene unterschiedlich gestaltete schnörkelhafte Aufsätze auf e, besonders am Wortende, sowie ein vielleicht vom doppel-stöckigen c der Vorlage entwickelter Schnörkel auf einem c seien zu dem im Ganzen un-einheitlichen Schriftbild noch angemerkt. Auffallend ist der große Abstand zwischen den einzelnen Wörtern (im Gegensatz zu K), der mitunter durch meist von der Grund-linie ausgehende (bei a, m), neu an den letzten Buchstaben angesetzte in punktförmigen Knötchen endende Strich ausgefüllt wurde.

Die Gestaltung besonders der diplomatischen Elemente der Schrift ist - das sei zu-sammenfassend festgestellt - durch die Verwendung sowohl altbekannter als auch neuer, erst im 11. Jahrhundert allgemeiner werdender Formen gekennzeichnet, doch findet sich insgesamt kein Element, das nicht auch in gleichzeitigen Schriften festgestellt wer-den kann14. Es könnte sein, daß ein in Buchschrift geübter Schreiber mit der Aufgabe et-was überforden war, ein längeres Schriftstück in diplomatischer Minuskel zu gestalten. Insbesondere dürfte ihm die Ausführung längerer gerader Striche schwergefallen sein, wie die zittrige Ausführung der Elongata (Protokoll und Beginn der Publicatio) zu be-weisen scheint15.

Es herrscht Übereinstimmung darüber, daß Signumzeile, Rekognitionszeile und Datierung (diese mit Sicherheit von Hildibald F) als kanzleimäßig ausgefertigte Teile von Ο anzusehen sind16. Auch das Monogramm wird dazu gezählt. Es war neu. Erst aus Anlaß der Kaiserkrönung (996 Mai 21) wurde es entwickelt, erstmals findet es sich auf dem Diplom vom 22. Mai, durch das Bischof Gottschalk von Freising das Marktrecht in seinem Bischofssitz verliehen wird17, seine Ausführung belegt eine gewisse Unbeholfen-

14 Einzelbeobachtungen sollen an anderer Stelle mitgeteilt werden, hier sei nur kurz auf die Feststel-lungen von Paul Kehr, Die Urkunden Otto 111.(1890) 87 ff. verwiesen. Daß die Datierung einer Schrift auf 996 bzw. 1002 aufgrund paläographischer Kriterien nicht möglich ist, hat bereits Appelt angemerkt; Zur Diplomschrift kurz Wilhelm Erben , Die Kaiser- und Königsurkunden des Mittelalters etc. (Urkundenlehre I, 1907) 132 ff.; Datierungen 1002 (bzw. vor 1035) konnten aus inhaltlichen Gründen erwogen werden.

15 Sie wurde von Sickel — bisher unwidersprochen — dem Empfängerschreiber zugewiesen. Die De-votionsformel divina preordinante dementia findet sich in keinem anderen Diplom fur Freising, sie ist auch in der Reichskanzlei extrem selten. Kehr (wie Anm. 14) 126 mit Anm. 3 weist auf italienische Notare hin (vgl. D.O. III 69 für Treviso von 991 April 18: divina ordinante clemencia rex). Diese Devotionsformel findet sich übrigens auch in D.O. III 220, die der Kaiser auf dem Rückweg von der Kaiserkrönung am 26. Juli 996 in Borgo San Donnino fur das Kloster Moninella (S. Ruffino) bei Man-tua ausgestellt hat. Für die Elongata am Beginn wurden zwei Linien blind auf der Rückseite (Haarseite) gezogen, fiir die Signumzeile eine fiir die Oberkante des Mittelbandes, lediglich der fur den Vollzie-hungsstrich bestimmte Teil dieser Linie wurde auf der Fleischseite gezogen, wohl um dem jungen Kaiser durch die Vertiefung die Ausführung einer geraden Linie zu erleichtern. Für die Rekognitionszeile schließlich fehlt eine Blindlinierung; diesem Umstand ist die wellenförmige, allmählich immer kürzer werdende Schrift zuzuschreiben.

16 Vgl. zuletzt Appelt (wie Anm. 5) 2. 17 D.O. III. 197; zur Datierung Theodor S i c k e l , Erläuterungen zu den Diplomen Otto III./III.

MIÖG 12 (1892) 370 f., am 28. Mai übrigens wurde Erzbischof Hartwig von Salzburg das Marktrecht verbrieft, D.O. III 208; die Diplome über diese beiden Verleihungen stellen nach unserer Kenntnis die einzigen nach der Kaiserkrönung in Rom bzw. überhaupt in Italien ausgestellten Urkunden für deutsche Empfänger dar.

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6 Heide Dienst

heit18, jedoch bald wurde das von Otto II. bekannte Monogramm mit den verdickten Schäften der beiden Τ und dem verdickten ersten Schrägbalken des V übernommen, neu dazu kam ein meist in der Mittellänge ausgeführtes, oben durch den Vollziehungs-strich begrenztes Α (aus imperator)·, die Ausführung variierte von Diplom zu Diplom. Vergleicht man die Farbe der Tinte, die im Falle des Vollziehungsstriches in der Vertie-fung der Blindlinierung etwas verronnen ist, mit dem Α im Monogramm von O, so wird man Appelt gerne folgen, der für die eigenhändige Zeichnung dieses Buchstabens durch den zu diesem Zeitpunkt sechzehnjährigen Kaiser plädiert hat".

Bis hierher scheint der Annahme, daß Bischof Gottschalk, der in einem besonderen Naheverhältnis zum jungen Kaiser stand, der bei der Kaiserkrönung in Rom zugegen war und ihn wohl auf dem Zug nach Norden begleitet harte (dabei könnte ein Kleriker aus seiner Begleitung auch die ungewöhnliche Devotionsformel kennengelernt ha-ben)20, der offenbar auch Wege gefunden hatte, über Angelegenheiten seines Bistums in-formiert zu sein und diesbezüglich aktiv zu werden, die Aktivitäten seines Bistums an der Ybbs am 1.11. 996 durch ein Königsdiplom hatte absichern lassen, nichts entge-genzustehen. Sickel hat die bis jetzt von der Forschung ohne Ausnahme und Einschrän-kung übernommene Idee in die Welt gesetzt, Bischof Gottschalk könne zu diesem Zeit-punkt nur ein Blankett erhalten haben, ein Blankett, ausgestattet mit Signum-, Reko-gnitions- und Datumzeile. Es wäre dies das einzige aus der Regierungszeit Ottos III. be-kannte Blankett21. Welchen Vorteil hätte es gebracht, ein unvollzogenes Blankett nach Hause nehmen zu können, das zwecks Vollziehung noch ein zweites Mal dem Herrscher vorgelegt hätte werden müssen? Viel eher ist doch anzunehmen, daß Bischof Gottschalk dem Kaiser in Bruchsal ein im Freisinger Skriptorium geschriebenes Pergament vorge-legt hat, über dessen Inhalt vermudich bereits vorher mündlich ein Einvernehmen her-gestellt worden ist, das dort mit den nötigen Beglaubigungsmitteln versehen worden ist. Das war der übliche Vorgang bei Empfängerausfertigungen; in ottonischer Zeit waren sie vor allem durch das Erzstift Salzburg und die Bistümer Freising und Passau die Re-gel22. Sickel hätte das auch in unserem Fall angenommen - wäre nicht das Siegel.

Daher zum Siegel. In seiner Edition des Diploms stellt Sickel in einer Anmerkung fest, es sei abgefallen, aber liege noch bei, und verweist auf die Arbeit von Karl Foltz, der es als zweites Siegel König Heinrichs II. beschrieb, das von 1002 (Juli 10) bis zur Kaiser-

18 Vgl. hier Abb. 5 b. Zu Monogramm u. Vollziehung in Urkunden Ottos III. Kehr (wie Anm. 14) 36f., Erben (wie Anm. 14) 150ff.

" Appelt (wie Anm. 5) 8. Von D.O. III 197 abgesehen, sind die Buchstaben der Monogramme, so-weit sie von mir aus der frühen Kaiserzeit Ottos III. verglichen werden konnten, als von Kanzleinotaren gezeichnet anzusehen. Doch kennen wir die Zeichnungen von Kreuzen und Kreisen in den Königsmo-nogrammen (vgl. dazu auch hier Abb. 5 a) und schließlich ist von ihm auch das älteste Original einer kai-serlichen Unterschrift erhalten, auf dem Papyrusprivileg Gregors V. fur Ausona-Vich von 998 Mai (9), vgl. dazu Waldemar S c h l ö g l , Die Unterfertigung Deutscher Könige von der Karolingerzeit bis zum In-terregnum durch Kreuz und Unterschrift (Münchener Historische Studien, Abt. Geschichdiche Hills-wissenschaften 16, 1978) 83ff. mitTaf. III, Abb. 3, hier Abb. 5d .

20 Vgl. Mathilde U h l i r z , Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Otto II. und Otto III., 2. Bd.: Otto III. 983-1002 (1954) 204 ff, zum Itinerar im Herbst 996 vgl. ebenda Exkurs 12, 494 ff.

21 Zur Sache vgl. Harry B r e s s l a u , Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien 1 (Berlin 31958, 21911) 460ff. Während relativ viele Urkunden mit dem unbeglaubigten bzw. nur mit dem Siegel beglaubigten Empfangertext erhalten sind, so gestaltet sich der Nachweis eines kanzleimäßig ausgefertigten Blanketts äußerst schwierig.

22 Kehr (wie Anm. 14) 50 f.

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Paläographisch-diplomatische Bemerkungen zu D.O. III 232 (sogen. „Ostarrichi-Urkunde") 7

krönung 1014 (Juni 21; nachweisbar bis 1013 Dez.)23 in Gebrauch war. Spätestens 1911 war das Siegel nicht mehr vorhanden. Dies geht aus einer kurzen Anmerkung Heinrich Wibels zu unserem Diplom im Rahmen einer Besprechung von Otto Posses zweitem Siegelband hervor, auf die Heinrich Appelt aufmerksam gemacht hat2"*. Die Überlegung wäre verlockend, daß im Laufe der Zeit ein abgefallenes Siegel aus dem reichen Urkun-denmaterial Heinrichs II. für Freising irrtümlich dem Otto-Diplom beigelegt worden wäre: schließlich fehlen die Siegel an den noch heute erhaltenen Originalen DD.H. II 55 (Bamberg 1003 Sept. 9, betreffend Roding und andere Orte) und 137 (Bamberg 1007 Mai 10, betreffend Wölz und Lind in provinca Karinthia et in comitatu Adelbero-nis), kopial überliefen sind DD. Η. II 32 (1002 November 24), 56 (1003 September 9) und 136 (1007 Mai 10).

Die einzige Abbildung des Siegels verdanken wir dem Benediktbeurer Benediktiner Karl Meichelbeck, der in seiner Historia Frisingensis dem D.O. III 232 besondere Be-deutung beimaß, da er aufgrund seiner Gleichsetzung von Niuttanhova mit Waidhofen/ Ybbs den unmittelbaren Beginn dieser bedeutenden freisingischen Herrschaft doku-mentiert sah25. Aus diesem Grund gab er Monogramm und Siegel wieder26, ohne sich über dessen Befestigung zu äußern. In der Siegelwiedergabe finden sich in der Umschrift lediglich rechts die Worte. D(E)I GRATIA REX. Aus den Bemerkungen zu unserer Ur-kunde anläßlich ihres Abdruckes in den Monumenta Boica dagegen geht hervor, daß damals (1836) der größere Teil des bereits gebrochenen Siegels noch dem Pergament eingedrückt, von dem abgebrochenen Teil aber bereits einiges verloren war: immerhin wurde von der Umschrift noch gelesen: ...S D(E)I GRATIA REX27, während Philipp Ernst Spiess 1791 auf dem abgefallenen Bruchstück noch die Buchstaben .. .CHVS ent-

23 Karl F ο 11 z, Die Siegel der deutschen Könige und Kaiser aus dem sächsischen Hause 911-1024 . NA 3 (1878) 42 f., mit Verweis auf eine große Ähnlichkeit mit dem 5. Siegel Ottos III., verwendet 998 Jänner bis Mai. Foltz beschreibt das häufig belegte Heinrich-Siegel wie folgt: „Der König in ganzer Figur, auf dem Throne sitzend, Kopf en face, bärtig, giebelförmige Krone mit 3 gestielten Perlen; die Chlamys reicht nicht bis zu den Knöcheln, unten, an den eng anliegenden Aermeln und an der rechten Schulter gesäumt. Der Mantel ist in der üblichen Weise dargestellt. Der König hält in der Rechten das Scepter, in der Linken den Reichsapfel empor: ersteres mit zwei Knoten unten und einem oben, darüber ein Kreuz, aus zwei Blättern einer Lilie hervorwachsend - letzterer mit einem Kreuz auf der Fläche. Die Basis des Thrones zeigt schräge Streifen, die von links nach rechts unten gehen, darüber auf jeder Seite eine Säule, links mit Streifen in gleicher, rechts in entgegengesetzter Richtung, durch eine oben und unten abgerun-dete Öffnung von dem nicht weiter ausgeführten Körper des Thrones geschieden; darüber ein Querbal-ken mit kleinen Bögen, dann zu beiden Seiten der Figur je ein runder Wulst mit einem breiten senkrech-ten Streifen. Vor der Basis des Thrones ein Schemel, auf dem die Füsse ruhen; Legende, oben in der Län-genachse beginnend, durch die Basis des Thrones unterbrochen: +HEINRICHVS DI GRATIA REX. Keine Randverzierung." Vgl. dazu auch Otto Posse , Die Siegel der Deutschen Kaiser und Könige 1 (1909) Tafel 11, Abb. 2 (Heinrich II); hier Abb. 4; das vergleichbare Siegel aus der Kaiserzeit Ottos III. ebenda Tafel 10, Abb. 1 (nachgewiesen 997 Okt. 2 6 - 9 9 8 Feb. 6, bzw. vermudich April 22, Mai 2). Die Siegelbeschreibung bei Posse 5 ( 1 9 1 3 ) 16 f. übernimmt den Text von Foltz, fuhrt aber unter den Belegen im Gegensatz zu diesem unser Stück nicht mehr an.

24 Appelt (wie Anm. 5) 1 Anm. 2; Heinrich W i b e l , NA 3 6 (1911) 311 f., Aura. 3 verweist auf eine entsprechende „gütige Mitteilung des Reichsarchivs".

25 Carolus M e i c h e l b e c k , Historiae Frisingensis tomus I (Augustae Vindel. et Graecii 1724) p. 193 sq. Eine Reproduktion der Abbildung Meichelbecks bietet Appelt (wie Anm. 5) Tafel 1.

26 l.c.p. 194, vgl. hier Abb. 3. 27 M B 31/1 (Augsburg 1836) 259 sqq. Nr. 133.

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8 Heide Dienst

ziffern konnte..28. Es ist also anzunehmen, daß Meichelbeck nur den noch mit dem Per-gament verbundenen Teil des Siegels wiedergegeben und den Rest ohne Kenntlichma-chung seiner Vorgangsweise ergänzt hat29. Wir können also annehmen, daß noch am Ende des 18. Jahrhunderts ein Teil eines Siegels mit dem Pergament verbunden war, das die vollständige Legende + H E I N R I C H V S D(E)I GRATIA REX enthalten hat30. Die Annahme einer nachträglichen Manipulation an dem Siegel durch Tilgung des Namens kann daher fallengelassen werden. Ob die von Otto III. vollzogene Urkunde besiegelt war oder nicht, kann letztlich nicht entschieden werden, die ordnungsgemäße ursprüng-liche Besiegelung ist jedenfalls nicht auszuschließen. Warum und wann das Siegel Hein-richs II. angebracht worden ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Die Anbringung eines Siegels Heinrich II. durch die (königliche) Kanzlei ist nicht sehr wahrscheinlich, es wäre wohl eher eine Besitzbestätigung ausgefertigt worden, wie sie in unserem Fall in allge-meiner Form dann durch Konrad II. erfolgte3'. O b in Anbetracht der Wichtigkeit einer „Gründungsbestätigung" von Waidhofen in späterer Zeit ein in Freising vorhandenes, von einer Urkunde Heinrichs II. abgefallenes Heinrich-Siegel angebracht worden ist32?

30 Königshufen waren vergleichsweise sehr viel, es sollte dadurch offenbar ein gro-ßer Spielraum für Rodungsmöglichkeiten geboten werden. In der ersten Urkunde über die Festsetzung freisingischer Interessen an der Ybbs, betreffend einen Besitztausch des Königs mit Freising, war die Hufenzahl vergleichsweise gering: alter Freisinger Besitz an-schließend an das Gebiet der Königsburg Krems wurde gegen sechs Königshufen an der Ybbs, in Ulmerfeld, gegeben33. Hier wie auch in vergleichbaren Fällen fällt auf, daß geo-

' ' Aufklärungen in der Geschichte und Diplomatik (Bayreuth 1791) 102: „Man kann die vier letz-ten Buchstaben vom Nahmen H E I N R I C H V S noch deudich darauf lesen."

29 Die etwas sorglose Vorgangsweise bei der Gestaltung der Abbildungen belegt auch die Wieder-gabe des Monogramms, dem der Vollziehungsstrich fehlt. Daß diese Tatsache wohl zahlreiche Theorien zur Folge gehabt hätte, wenn das Original nicht erhalten geblieben wäre, ist unschwer vorstellbar.

30 Wibel (wieAnm. 24)312undihmfolgendAppelt(wieAnm. 5) 3 hielten es fur wahrscheinlich, daß das ursprünglich entweder unbesiegelte oder mit einem Siegel Ottos III. versehene Original später - aus welchen Gründen auch immer - ein Siegel Heinrichs II. erhielt, in dem der Name des Königs getilgt war, „um die mißbräuchliche Befestigung eines nicht zugehörigen Siegels zu verschleiern". Die vielleicht nach-ttägliche Ersetzung des Siegels belegt nach Wibel auch die Tatsache, daß die durch die kreuzförmigen Ein-schnitte fiir das Durchdrücken des Wachses enstandenen und zur Siegelbefestigung umgebogenen Lappen fehlen (mit - oder durch das ursprüngliche Siegel abgerissen oder nachträglich weggeschnitten, wie Wibel vermutet).

31 D . Κ .II 211 (1034 Mai 7, Regensburg); ein Beispiel für eine Bestätigung von Einzelschenkungen stellt die Urkunde Heinrich III. fur Freising bezüglich Ollern dar D. Η. K. 3 (1040 Jänner 18, Augs-burg), das von seinem Vater geschenkt worden war D. Κ. II 195 (1033 Juli 19, Memleben).

32 Es ist denkbar, wenngleich konkrete Hinweise darauf bisher nicht gefunden werden konnten, daß die Diplome Ottos III. betreffend Ulmerfeld und Neuhofen - falls dieses vor Meichelbeck schon mit Waidhofen/Ybbs gleichgesetzt worden ist - als Beweismittel in den häufigen Auseinandersetzungen um Hoheitsfragen mit den österreichischen Landes Fürsten seit dem 14. Jahrhundert herangezogen wurden. Einen Hinweis darauf, daß 1581 in einem die Gerichtsbarkeit in der Stadt Waidhofen betreffenden Streitfall geforscht werden sollte (wenn auch nicht nach Königsdiplomen), verdanke ich Herwig Weigl: der freisingische Kommissar Emanuel Welser bekundete damals gutachterlich die Auffassung, man solle „Übergabe oder donation, wie die herrschaft Waidhoven vom hauß Österreich erstlichen an den stift Frei-sing khommen," suchen, BHStA München, H L Freising blau 223/8, fol. 392v. Unter Umständen ist bei einem Anlaß dieser A n seit dem Spätmittelalter unsere Urkunde, deren Siegel bereits abgefallen war, mit einem von einer anderen Urkunde abgefallenen Heinrich-Siegel versehen worden.

33 ... Gotcsschalchus Frisingensis aecclesiae episcopus quoddam praediolum suae aecclesiae iacens in con-finio nostraeproprietatis orientalis urbis quaedicitur Cremisa ... in im nostraepotestatis tradidit. Nosautem econtra in eadem marcha et in comitatu Henrici comitis nostrae porprietatis VI regales hobas in loco qui dici-

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Paläographisch-diplomatische Bemerkungen zu D.O. III 232 (sogen. „Ostarrichi-Urkunde") 9

graphisch fest begrenzte, genau iokalisierbare Gebietsübertragungen wesentlich geringe-ren Umfang aufwiesen als Legitimierungen von Hoffnungsgebieten. 995 hatte Freising im Tauschwege Besitz zu Ulmerfeld erhalten, 996 bereits einen neuen Hof angelegt; am 7. Mai 1034 bestätigte Kaiser Konrad II. in Regensburg die festen Grenzen des in den dazwischenliegenden Jahrzehnten ausgebauten Besitzes34.

Was seine Grundlegung in der Legitimierung von Rodungsaktivitäten durch Ο be-trifft, so konnte kein letztlich plausibler Grund dafür gefunden werden, daß sie nicht am 1. November 996 in Bruchsal erfolgt sein sollte. Manches aus der hier vorgetragenen Argumentation mag infolge der nötigen Kürze nicht genügend überzeugen, doch wird in absehbarer Zeit vielleicht Gelegenheit sein, alles gesammelte Material in extenso aus-breiten zu können.

Abbildungsnachweis: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München: 1 a-c, 2 a-c, 5 b-c. Institut für österreichische Geschichtsforschung; Photo: Pani: 3, 4, 5 a.

tur Zudamaresfelt iuxta flumen quod dicitur Ipisa .. in manus praesaripri episcopi tradidimus ea lege et eo te-nore utpraefata eclesia .. et Gotesschaleus episcopus .. eas inperpetuumpotestativepossideant. D.O. III 170 (995 August 16, Magdeburg), zur Sache vgl. u. a. Franz G u m p i n g e r , Die freisingische Herrschaft Ul-merfeld im Mittelalter (phil. Diss. Wien 1962) 12-26. Der Besitz bei Krems ging wohl auf die Schen-kung des vir venerabilis Joseph (von Gars), eines christlichen Slavenfursten, an Bischof Waldo ν. Freising am Beginn des 10. Jahrhunderts (903?) zurück; vgl. Die Traditionen des Hochstifts Freising (ed. v. Theo-dor Bitterauf, QE NF 1/1, 1856) n. 1037.

* D.K. II 211.

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Paläographisch-diplomatische Bemerkungen zu D . O . III 2 3 2 (sogen. „Ostarrichi-Urkunde") 11

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12 Heide Dienst

^ ^ g u l i i j j j u n ^ j l f e l » ? Abb. 4: D. Η. II 269 (Frankfurt, 1013 Juli 19), Siegel. · Umschrift: +HEINRICHVS D(E)I GRATIA REX.

Abb. 3: Monogramm und Siegel der Urkunde von 996 Nov. 1, nach Mei-chelbeck (wie oben, Anm. 25).

Abb. 5a: D.O. III 131, Abb. 5b: D.O. III 197, Abb. 5c: D.O. III 232, Monogramm, Vorlage: Monogramm. Monogramm. Sickel, Kaiserurkunden in Abb. DC 8.

Abb. 5d: JL3888 (vgl. oben Anm. 19): * ego Otto d(e)i gr(ati)a Roman(orum) imp(erator) aug(ustus) subs(cripsi)

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