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PAPST PIUS XII. UND DIE SHOA. Ein verhinderter Heiliger? Vortrag von Prof. Dr. Georg Denzler Freundeskreis Kloster Andechs, 18. Januar 2009 Ein Gedicht von Albrecht Haushofer trägt die Überschrift „Schuld“. Seine Verse sollen als Leitmotiv oder Grundmelodie durch die folgenden Ausführungen schwingen. Albrecht gehörte zur Sippe Haushofer, die wenige Kilometer vom Heiligen Berg Andechs entfernt auf dem Hartschimmelhof ihren Stammsitz hat. Der hochbegabte Sohn wurde, wie schon sein Vater Karl, Professor für Geographie und Geschichte in Berlin. Weil man ihn mit den Verschwörern des 20. Juli 1944 in Verbindung brachte, flüchtete er von Berlin ins Asyl nach Partenkirchen. Doch Häscher griffen ihn dort auf und brachten ihn nach Berlin in das Gestapo-Gefängnis Moabit. Erst in den letzten Tagen des Dritten Reiches, wahrscheinlich am 23. April 1945, wurde Haushofer von einem SS-Mann hinterrücks erschossen. Ein kommunistischer Mithäftling, der das Massaker überlebte, barg aus Albrechts Manteltasche zwölf blutbefleckte Papierblätter, auf denen, mit Bleischrift beschriebene, 80 Gedichte standen, die heute als „Moabiter Sonnette“ bekannt sind und die mir kostbarer sind als alles Gold und Silber dieser Erde. Die wenigen Verse des Sonnett XXXIX lauten: Ich trage leicht an dem, was das Gericht mir Schuld benennen wird: an Plan und Sorgen. Verbrecher wär’ ich, hätt’ ich für das Morgen des Volkes nicht geplant aus eigner Pflicht. Doch schuldig bin ich anders als ihr denkt, ich mußte früher meine Pflicht erkennen, ich mußte schärfer Unheil Unheil nennen –

PAPST PIUS XII. UND DIE SHOA. Ein verhinderter Heiliger ... · PAPST PIUS XII. ALS THEOLOGE Ein Hauptgrund für die unterschiedlichen Meinungen und Beurteilungen dieses Pontifex Maximus

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Page 1: PAPST PIUS XII. UND DIE SHOA. Ein verhinderter Heiliger ... · PAPST PIUS XII. ALS THEOLOGE Ein Hauptgrund für die unterschiedlichen Meinungen und Beurteilungen dieses Pontifex Maximus

PAPST PIUS XII. UND DIE SHOA. Ein verhinderter Heiliger?

Vortrag von Prof. Dr. Georg Denzler

Freundeskreis Kloster Andechs, 18. Januar 2009

Ein Gedicht von Albrecht Haushofer trägt die Überschrift „Schuld“. Seine Verse

sollen als Leitmotiv oder Grundmelodie durch die folgenden Ausführungen

schwingen. Albrecht gehörte zur Sippe Haushofer, die wenige Kilometer vom

Heiligen Berg Andechs entfernt auf dem Hartschimmelhof ihren Stammsitz hat.

Der hochbegabte Sohn wurde, wie schon sein Vater Karl, Professor für

Geographie und Geschichte in Berlin. Weil man ihn mit den Verschwörern des

20. Juli 1944 in Verbindung brachte, flüchtete er von Berlin ins Asyl nach

Partenkirchen. Doch Häscher griffen ihn dort auf und brachten ihn nach Berlin

in das Gestapo-Gefängnis Moabit. Erst in den letzten Tagen des Dritten Reiches,

wahrscheinlich am 23. April 1945, wurde Haushofer von einem SS-Mann

hinterrücks erschossen. Ein kommunistischer Mithäftling, der das Massaker

überlebte, barg aus Albrechts Manteltasche zwölf blutbefleckte Papierblätter,

auf denen, mit Bleischrift beschriebene, 80 Gedichte standen, die heute als

„Moabiter Sonnette“ bekannt sind und die mir kostbarer sind als alles Gold und

Silber dieser Erde.

Die wenigen Verse des Sonnett XXXIX lauten:

Ich trage leicht an dem, was das Gericht

mir Schuld benennen wird: an Plan und Sorgen.

Verbrecher wär’ ich, hätt’ ich für das Morgen

des Volkes nicht geplant aus eigner Pflicht.

Doch schuldig bin ich anders als ihr denkt,

ich mußte früher meine Pflicht erkennen,

ich mußte schärfer Unheil Unheil nennen –

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mein Urteil hab ich viel zu langgelenkt …

Ich klage mich in meinem Herzen an:

ich habe mein Gewissen lang betrogen,

ich hab mich selbst und andere belogen –

ich kannte früh des Jammers ganze Bahn –

ich hab gewarnt – nicht hart genug und klar!

und heute weiß ich, was ich schuldig war.

Nachdem Papst Pius XII., mit bürgerlichem Namen Eugenio Pacelli, am 9.

Oktober 1958, also vor 50 Jahren, in Castel Gandolfo verstorben war, konnte

man überall hören und lesen, daß ein ganz großer Papst, der fast 20 Jahre lang

an der Spitze der Katholischen Kirche stand, heimgegangen ist. Der damalige

deutsche Botschafter beim Hl. Stuhl, Dr. Rudolf Graf Strachwitz, notierte in

seinem Tagebuch: Protestanten, Juden und Ungläubige bezeigen ihre Trauer

ebenso wie die Katholiken. Sogar die Kommunisten, die in Pius XII. immer

ihren schärfsten Gegner gesehen hatten, wagen es in diesem Augenblick nicht,

ihn anzugreifen; vor der Größe dieses Mannes, der den Heiligen Stuhl zu einer

früher nie gekannten Bedeutung erhoben hat, müssen auch sie verstummen

Ungezählte Katholiken auf der ganzen Welt fragten sich besorgt, wie es nach

diesem viel bewunderten Pontifex Maximus mit der Kirche weitergehen werde.

Inzwischen sind fünf weitere Päpste gefolgt. Und es bewahrheitet sich immer

wieder: kein Mensch ist unersetzbar. Auch für Päpste gilt: Kaum verstorben,

schon vergessen. Nur einer scheint nach einem halben Jahrhundert unvergessen

zu sein, ja, steht heute noch im Mittelpunkt der Kritik wie kein zweiter: der einst

so hochgerühmte Papst Pius XII. Dies muß schon besondere Gründe haben.

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PAPST PIUS XII. ALS THEOLOGE

Ein Hauptgrund für die unterschiedlichen Meinungen und Beurteilungen dieses

Pontifex Maximus liegt sicher darin, daß er wegen seines autoritären und

mystischen Amtsverständnisses am Mythos seines unmittelbaren Nachfolgers

Johannes XXIII. gemessen wird. Der Römer Pius XII. sprach von einsamer

Höhe seines von ihm verabsolutierten Amtes zu nahezu allen aktuellen

Problemen in Kirche, Staat und Gesellschaft. Und dies mit dem Anspruch

verbindlicher Aussagen, die in Offenbarung oder Naturrecht begründet sein

sollten. (In den 16 Dokumenten des 2.Vatikanischen Konzils finden sich 168

Zitate aus Verlautbarungen Pius’ XII.)

Auch wenn der Titel „vicarius Christi“ (Stellvertreter Christi) schon bei Papst

Innocenz III. im 13. Jahrhundert nachweisbar ist, so gebrauchte ihn doch kein

Papst so häufig wie Pius XII. Bereits in seiner Antrittsenzyklika „Summi

Pontificatus“ vom 20. Oktober 1939 umschrieb er sein höchstes Amt in der

Kirche im Pluralis maiestaticus mit diesen Worten: Wir sind Stellvertreter

desjenigen, der in entscheidender Stunde vor dem Vertreter der höchsten

irdischen Macht von damals das Wort sprach. ‚Ich bin dazu geboren und in die

Welt gekommmen, daß ich der Wahrheit Zeugnis gebe. Jeder, der aus der

Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.’ Als solcher erachten Wir es gerade auch in

unseren Tagen als besondere Pflicht unseres Amtes, mit apostolischem Freimut

der Wahrheit Zeugnis zu geben. Diese Pflicht umfaßt notwendig die Darlegung

und Widerlegung der menschlichen Irrtümer und Vergehen, die erkannt werden

müssen, wenn sie behandelt und geheilt werden sollen … In der Erfüllung dieser

Unserer Sendung werden Wir uns von irdischen Rücksichten nicht beeinflussen

lassen; weder Mißtrauen und Widerspruch, Ablehnung und Unverständnis, noch

die Furcht, mißverstanden oder falsch ausgelegt zu werden, kann Uns davon

abhalten.

Dies heißt im Klartext: Ein Papst, der angesichts schwerer dogmatischer oder

moralischer Irrtümer schweigt, verrät seine Mission als Papst. Folglich ist es

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auch völlig erlaubt zu fragen, ob Pius XII. diesem von ihm selbst erhobenen bis

in den Himmel hinein reichenden Anspruch immer gerecht geworden ist.

Zunächst wollen wir noch etwas genauer erkunden, wie Pius XII. seine

Primatsstellung innerhalb der Kirche verstanden hat. Aufschluß darüber gibt

seine Enzyklika „Mystici corporis Christi“ vom 29. Juni 1943, in der davor

gewarnt wird zu glauben, Christus leite seine Kirche nur auf unsichtbare oder

außerordentliche Weise. Der Papst betont vielmehr: Unser göttlicher Erlöser übt

auch eine sichtbare, ordentliche Leitung über seinen mystischen Leib aus durch

seinen Stellvertreter auf Erden… Als er aber die Welt verlassen und zum Vater

zurückkehren wollte, hat er die sichtbare Leitung der ganzen von ihm

gegründeten Gemeinschaft dem Apostelfürsten (Petrus) übertragen.

Und um keinerlei Zweifel daran aufkommen zu lassen, daß in den Händen des

Petrus und seiner Nachfolger, der Päpste, tatsächlich die volle Regierung der

Kirche liegt, heißt es in der Enzyklika weiter: Petrus ist kraft des Primates der

Stellvertreter Christi, und daher gibt es nur ein einziges Haupt dieses Leibes,

nämlich Christus. Er hört zwar nicht auf, die Kirche auf geheimnisvolle Weise in

eigener Person zu regieren. Auf sichtbare Weise jedoch leitet er sie durch den,

der auf Erden seine Stelle vertritt… Daß Christus und sein Stellvertreter auf

Erden nur ein einziges Haupt ausmachen, hat Bonifaz VIII., Unser Vorgänger

hochseligen Andenkens, durch das Apostolische Schreiben Unam Sanctam

feierlich erklärt, und seine Nachfolger haben diese Lehre immerfort wiederholt.

Aus dieser vollständigen Identifizierung des Papstes mit Christus zieht Pius

XII. den weitreichenden Schluß, all jene befänden sich in einem gefährlichen

Irrtum, die meinen, sie könnten Christus als Haupt der Kirche verehren, ohne

seinem Stellvertreter auf Erden die Treue zu wahren.

Was den Hauptauftrag des Papstes für die gesamte Welt betrifft, erklärte Pius

XII. in seiner Weihnachtsansprache 1954, vier Jahre vor seinem Tod: Wenn Wir

in einer Gesamtschau die verflossenen Jahre Unseres Pontifikats

zusammenfassen, so scheint Uns, die göttliche Vorsehung habe Uns die

besondere Sendung zuweisen wollen, in geduldiger und schier aufreibender

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Tätigkeit beizutragen, daß die Menschheit auf die Pfade des Friedens

zurückfinde.“

Es ist nicht zu bestreiten, daß Pius XII., in dessen Wappenspruch die Worte

„Opus iustitiae pax“ (Das Werk der Gerechtigkeit heißt Friede) standen, sich wie

kaum ein anderer für die Wiedererlangung und Erhaltung des Friedens auf Erden

eingesetzt hat. Schon in seiner ersten Radioansprache am 3. März 1939, dem

Tag seiner Wahl zum Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche, ermahnte der

neue Papst, in aller Anonymität und Neutralität, aber unmißverständlich zuerst

an den kriegslüsternen „Führer“ Adolf Hitler gerichtet, zum Frieden unter den

Völkern. Den noch seit dem Konklave in Rom anwesenden deutschen

Kardinälen machte er drei Tage später deutlich, warum er sich einer neutralen

Ausdrucksweise bedient habe: um so leichter Gehör zu finden. Dem entsprach

auch seine Weisung an die Vatikan-zeitung „L’Osservatore Romano“: Ich habe

Polemik im Osservatore Romano verboten bis auf weiteres. Ich habe sie dort

wissen lassen, sie sollten jetzt kein scharfes Wort sagen. Wir wollten sehen,

einen Versuch wagen. Wenn sie den Kampf wollen, fürchten wir uns nicht. Aber

wir wollen sehen, ob es irgendwie möglich ist, zum Frieden zu kommen.

Drei Monate später, am 20. Juli 1939, anläßlich der Unterzeichnung des

Konkordats mit dem Deutschem Reich schrieb Pius XII. nicht ohne böse

Vorahnung an den deutschen Episkopat: Wir wollen Euch nicht darüber im

Unklaren lassen, daß von dem ersten Tage Unserer Berufung auf den Stuhl Petri

an Wir bemüht gewesen sind, alles in unserer Macht Stehende und mit der

heiligen Verantwortung unseres Amtes Vereinbare zu tun, um an die Stelle der

heutigen unseligen Gegensätze einen auf gesunden und gesicherten Grundlagen

ruhenden, im Gewissen verantwortbaren, für beide Teile segensvollen Frieden

anzubahnen.

Und am 24. August desselben Jahres beschwor Pius XII., voller Sorge um den

Frieden, die Regierenden in aller Welt in einer Radiobotschaft: Mit dem Frieden

ist nichts verloren, mit dem Krieg aber kann alles verloren sein. Die flehenden

Worte des Papstes blieben aber wirkungslos, denn nur eine Woche später

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entzündete der deutsche Diktator mit dem Überfall auf Polen den Zweiten

Weltkrieg.

Und doch: Ungeachtet seiner zum Prinzip erhobenen Neutralität zeigte sich

Pius XII. Ende 1939 bereit, Umsturzpläne deutscher Generäle unter Führung

von Ludwig Beck zu unterstützen. Als Kontaktperson zwischen Widerstand und

Papst fungierte der bayerische Rechtsanwalt Joseph Müller, den Pacelli als

Nuntius in München kennengelernt hatte. Wer weiß, wie Hitler reagiert hätte,

wenn ihm die Konspiration des Papstes mit Anführern des Umsturzes bekannt

geworden wäre. Nach Ansicht des Cambridger Historikers Owen Chadwick ging

Pius XII. ein immenses Risiko ein: Der Papst riskierte das Schicksal der Kirche

in Deutschland, Österreich und Polen und riskierte vielleicht noch mehr …., um

die deutsche Invasion in Holland, Belgien, Frankreich zu verhindern und

unendliches Blutvergießen zu vermeiden und schließlich um Europa den Frieden

zurückzugeben.

Nicht anders dachte der Jesuitenpater Robert Leiber, Pius’ XII. engster

Berater in diesen Jahren, wenn er später die Überzeugung äußerte, der Papst sei

mit seiner Bereitschaft zum Umsturzversuch viel zu weit gegangen.

Und der britische Historiker Harold C. Deutsch schrieb voller Verwunderung:

Die rasche Bereitschaft des Papstes, als Vermittler zwischen einer

Verschwörergruppe in einem kriegführenden Land und der Regierung eines

gegnerischen Staates aufzutreten, kann als eines der erstaunlichsten Ereignisse

in der modernen Geschichte des Papsttums bezeichnet werden.

Gegen Ende des Krieges startete Pius XII. einen letzten, schier unglaublichen

Versuch, Hitler zu einem Waffenstillstand zu bewegen. Er bat den Münchener

Kardinal Faulhaber, sich in seinem Namen zum Führer zu begeben, um die

Einstellung des mit letztem Vernichtungs-willen geführten Krieges zu erreichen.

Der Kardinal erhielt tatsächlich eine Audienz beim Führer in der Wolfsschanze.

Dort angekommen, wurden ihm die Augen verbunden. Und als ihm die Binde

wieder abgenommen war, stand er in einem Zimmer vor Hitler. Sogleich trug er

ihm die Bitte des Papstes vor. Sobald Hitler aber den Namen Pius XII. hörte,

begann er laut zu schreien: „Pius XII? Das ist der einzige Mensch, der mir

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immer widerstanden und niemals gehorcht hat.“ Wörtlich sagte er: „Ich hätte

Rom dem Erdboden gleichgemacht, wenn nicht der da oben gewesen wäe, der es

mir immer vereitelt hat.“ Danach wurden Faulhaber die Augen wieder

verbunden, bis er bei dem Wagen ankam, der ihn an den in einem dichten Wald

versteckten Ort gebracht hatte. Eine ganz und gar unglaubliches Geschehen.

Doch der Bischofsvikar des Papstes für die Diözese Rom, Petrus Canisius van

Lierde, berichtete dieses Ereignis in seinem Festvortrag bei der

Gedenkveranstaltung zum 25. Todestag Papst Pius’ XII. (1983) in Wien und

versicherte ausdrücklich, daß es sich um eine absolut sichere und

wahrheitsgetreue Zeugenaussage handle.

Pacelli lernte schon während seiner Jahre als Nuntius in München und Berlin

das deutsche Volk kennen und lieben und bewahrte sich seine Sympathie für

Land und Leute. Die deutsche Ordensschwester Pascalina war die gestrenge

Herrin seines Haushalts schon in Deutschland und blieb es auch in all den

Jahren seines Pontifikats. Botschafter Graf Strachwitz notierte nach der Audienz

am 23. Mai 1957, bei der er Papst Pius XII. sein Beglaubigungsschreiben

überreichte: Er sprach von seiner Liebe zu Deutschland, seiner Hochschätzung

der Bundesregierung und den guten diplomatischen Beziehungen. Diese erste

persönliche Begegnung mit dem Papst beeindruckte den Botschafter mehr als

alles äußere Gepränge des Vatikanpalastes: Der stärkste Eindruck war die

Persönlichkeit Pius’ XII., die Würde, Geist und menschliche Güte so

bewundernswert vereinigt.

NATIONALSOZIALISMUS: PRINCIPIIS OBSTA!

Als Nuntius in Berlin betrachtete Pacelli die aufstrebende NS-Bewegung in

glaubensmäßiger Sicht als eine häretische Bewegung. Dafür sprachen vor allem

die Rassenlehre und die Forderung eines „positiven Christentums“, hinter der

nichts anderes als ein neues Heidentum stehe. Im Programm der NSDAP hieß es

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unmißverständlich: Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im

Staat, soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits-

und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen. Das dies vornehmlich

gegen die Juden gerichtet war, beweist der berüchtigte § 4 des Programms:

Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein,

wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann

daher Volksgenosse sein.

Nicht zuletzt dieser Häresie wegen standen kirchliche Autoriäten der Hitler-

Partei vor dem Entscheidungsjahr 1933 ablehnend und feindlich gegenüber.

Diesen Kurs hätten sie kompromißlos durchhalten sollen. Einige klarsichtige

Geister im Klerus wie unter den Laien schafften es. Ich möchte hier nur einen

Pfarrer zitieren, der längst vergessen ist, wenn er überhaupt bekannt war:

Stephan Rugel, Pfarrer von Lutzingen, ein Geistlicher von großer Zivilcourage

und einer geradezu prophetischen Begabung. Am Sonntag, dem 12. März 1933,

eine Woche nach der spektakulären Wahl vom 5. März, begann er seine Predigt

von der Kanzel seiner Pfarrkirche mit den Worten: Heil Christus, nicht heil

Hitler! Dann fuhr er unerschrocken fort: Wenn in absehbarer Zeit ein viel

furchtbarerer Weltkrieg kommt, dann, so bitte ich heute schon: Laßt das

Jammern. Ihr habt ihn selbst gewählt! Um seinen Zuhörern die Augen zu öffen,

stellte er mit letzter Klarheit fest: Der Nationalsozialismus will selber

Weltanschauung sein und als solche Politik machen… Diese Weltanschauung

aber ist antichristlich… Beim Nationalsozialismus ist das ganze Christentum in

das Gegenteil verkehrt. Dann kam der politisch hellhörige Pfarrer Rugel auf die

zentrale Irrlehre des Nationalsozialismus zu sprechen: Die wichtigste

Glaubenslehre des NS ist seine Weltanschauung über die Rasse… Die höchste

Rassse ist die nordische, arische, germanische Rasse, der blaublonde Mensch.

… Nur die nordische Rasse hat Existenzberechtigung, sie ist die Rasse des

Lichtes, die anderen: die Rassen der Finsternis… Die schlimmste Rasse sind die

Juden, denen die Nationalsozialisten alle Schlechtigkeit beilegen. Diese Rasse

ist total verkommen, entartet, ist eine satanische Rasse, der Gegenpol zur

nordischen, göttlichen Rasse. Sie müssen ausgerottet werden: Juda verrecke!..

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Christus ist nach NS-weltanschauung selbstverständlich kein Jude, sondern ein

Arier, ein blaublonder Norde. Der NS sieht christus am liebsten mit der Peitsche

in der Hand, wie er die Juden beim Tempel hinauswirft. Christus ist Antisemit.

Christus ist für den Nationalsozialismus: Kämpfer, nicht Dulder, er ist ein Gott

des Hasses, nicht der Liebe. Das ist das positive Christentum im Programm des

Nationalsozialismus. Pfarrer Rugel beendete seine Flammen-Predigt mit diesen

Worten: Wir erwarten das Heil nicht von Hitler und seinen NS-Grundsätzen,

sondern allein von Christus und rufen darum zum Schluß nicht Heil Hitler,

sondern Heil Christus, hochgelobt in Ewigkeit. Amen.

Wenn alle Bischöfe und Priester das Kirchenvolk von der ersten Stunde an so

aufgeklärt hätten, bräuchten wir uns heute keine Kritik über ihr Verhalten in

gefahrvoller Zeit gefallen lassen. Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Ich

greife Jahre voraus, schaue in das Jahr 1941, als die Vorbereitungen für die sog.

Endlösung der Judenfrage in ihre entscheidende Phase traten. Erzbischöf Conrad

Gröber von Freiburg publizierte zum Karfreitag 1941 einen Hirtenbrief, in dem

Sätze wie diese zu hören waren: Als treibende Kraft stand hinter der jüdischen

gesetzlichen Macht die abstoßende Heuchelei und böswillige Heimtücke der

Pharisäer. Sie entpuppten sich immer mehr als Christi Erz- und Todfeinde…

Ihre Augen waren durch ihre Voreingenommenheit verbunden und verblendet

von ihrer jüdischen Weltherrschaftsbegierde… Judas, dieser unsägliche Wicht

… sitzt heuchlerisch beim Abendmahl …, worauf der Satan in ihn fuhr … und

ihn an die Spitze der bereit stehenden Judenknechte stellte…Echt jüdisch

feilschte Judas mit den Hohepriestern … Christus wird verraten mit den Zeichen

der überschäumenden Liebe,mit einem schmatzenden Kuß der schmutzigen

Judaslippen…. Was auch immer den Juden zustößt, ist Erfüllung göttlicher

Rache.

Der Berliner Dompropst Lichtenberg besaß die Courage, im Hedwigsdom

öffentlich für die verfolgten Juden zu beten. Er wurde verhaftet und starb

während des Transports in das KZ-Dachau.

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Einen entscheidenden Wendepunkt im Verhältnis der deutschen Bischöfe zum

Nationalsozialismus stellte ihre berühmte Erklärung vom 28. März 1933 dar. Es

war dies eine allzu schnelle Reaktion auf Hitlers Regierungserklärung vom 23.

März 1933, in der er den beiden Großkirchen in Deutschland öffentlich

garantierte: Die nationale Regierung sieht in den beiden christlichen

Konfessionen wichtigste Faktoren der Erhaltung unseres Volkstums. Sie wird die

zwischen ihnen und den Ländern abgeschlossenen Verträge respektieren; ihre

Rechte sollen nicht angetastet werden… Ebenso legt die Reichsregierung, die im

Christentum die unerschütterlichen Fundamente des sittlichen und moralischen

Lebens unseres Volkes sieht, den größten Wert daruf, die freundschaftlichen

Beziehungen zum Heiligen Stuhl weiter zu pflegen und auszugestalten.

Diesen geschickt ausgelegten Köder verschlangen die deutschen Bischöfe

allzu vertrauensselig. So kam es zu ihrer verhängnisvollen Kundgebung vom 28.

März 1933: Es ist nunmehr anzuerkennen, daß von dem höchsten Vertreter der

Reichsregierung, der zugleich autoritärer Führer jener Bewegung ist, öffentlich

und feierlich Erklärungen gegeben sind, durch die der Unverletzlichkeit der

katholischen Glaubenslehre und den unveränderten Aufgaben und Rechten der

Kirche Rechnung getragen, sowie die vollinhaltliche Geltung der von den

einzelnen deutschen Ländern mit der Kirche abgeschlossenen Staatsverträge

durch die Reichsregierung ausdrücklich zugesichert sind.

Im Vatikan zeigte sich Kardinal-Staatsekretär Pacelli überrascht von der

schnellen und positiven Reaktion der deutschen Bischöfe. Er war freilich

Diplomat genug, um die schon bald erfolgte Initiative der Reichsregierung zum

Abschluß eines Konkordates mit dem Heiligen Stuhl zu nutzen, um der Kirche

in Deutschland Rechtssicherheit zu verschaffen.

Nach dem hitzigen Professorenstreit zwischen dem katholischen Historiker

Konrad Repgen und dem evangelischen Kirchenhistoriker Klaus Scholder kann

heute als gesichert gelten, daß der Vatikan das Zustandekommen des Konkordats

mit dem Deutschen Reich nicht um den Preis einer Zustimmung des

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katholischen Zentrumspartei zum Ermächtigungsgesetz und zu deren

Selbstauflösung erreicht hat.

Pius XI. und seinem Staatssekretär Pacelli, in dessen Händen die

Verhandlungen mit den von Hitler beauftragten Diplomaten lagen, wird in

bestimmten Kreisen der völkerrechtliche Vertrag mit der Hitler-Regierung als

schwerer Fehler zur Last gelegt, obwohl er doch der katholischen Kirche nicht

zu erwartende Vorteile gebracht hat und heute noch bringt, da dieses Konkordat

unverändert weiter gilt. Auf Kritik stießen vor allem die Vereinbarungen der

Artikel 31 und 32, mit denen die Kirche auf jede politische Betätigung des

Klerus verzichtete und sich mit dem Fortbestand allein jener „katholischer

Organisationen und Verbände, die ausschließlich religiösen, rein kulturellen und

karitativen Zwecken dienen“, zufrieden gab, ohne daß aber die Verbände einzeln

genannt waren.

Ernster sind jene Kritiker zu nehmen, die dem Vatikan allein schon die

Tatsache eines Vertragsabschlusses zum Vorwurf machen, weil dieser als eine

Anerkennung des kirchenfeindlichen Regimes fehlgedeutet werden konnte. In

der Tat verbuchte die Hitler-Regierung das Konkordat rein formal als einen

großartigen Prestigegewinn. Hitler selbst sprach schon in einer Verfügung vom

8. Juli 1933, also wenige Tage vor Unterzeichung des Konkordats, die Hoffnung

aus, bisher noch zögernde Katholiken für die neue Regierung gewinnen zu

können: Durch den Abschluß des Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und

der Deutschen Reichsregierung scheint mir genügend Gewähr dafür gegeben,

daß sich die Reichsangehörigen des römisch-katholischen Bekenntnisses von

jetzt ab rückhaltlos in den Dienst des neuen nationalsozialistischen Staates

stellen werden.“

Kardinal Pacelli trug lange Bedenken, den Vertrag zu unterzeichnen, da er die

falsche Propaganda der Gegenseite schon vorausahnte. Doch um einer sicheren

Zukunft der Kirche in Deutschland willen meinte er schließlich, eine Ablehnung

nicht verantworten zu können. In einem Gespräch mit Ivone Kirkpatrick, dem

britischen Gesandten beim Vatikan, umschrieb er die Zwangslage des Vatikans

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mit den Worten: Eine Pistole war mir auf die Brust gesetzt. Ich hatte keine

andere Wahl.

DAS SCHWEIGEN DES PAPSTES ODER

NEUTRALITÄT ALS HÖCHSTES PRINZIP

Der in der Schule der Diplomatie herangereifte römische Priester Eugenio

Pacelli liess sich als Papst Pius XII. von keinem der kriegführenden Staaten

anwerben, er blieb in politischen Angelegenheiten streng auf Neutralität

bedacht. Doch gerade diese unparteiische Haltung sollte ihm später den

schweren Vorwurf einbringen, er habe große Ungerechtigkeiten und schwere

Verbrechen, insbesondere während des Dritten Reiches, einfach hingenommen.

Im Vordergrund steht dabei bis heute das Schweigen des Papstes zum Holocaust.

Als aber im Herbst 1943 die Razzia der Nazis gegen die Juden in Rom einsetzte

- etwa 1250 Juden wurden zusammengetrieben - , fühlte sich Pius XII. direkt

herausgefordert, da sich die Verfolgungen buchstäblich „unter seinem Fenster“

(Ernst von Weizsäcker) ereigneten. Jetzt betraute er Bischof Hudal mit einer

Intervention beim Reichsführer-SS Heinrich Himmler. Durch seinen

Staatssekretär Kardinal Maglione liess er Ernst von Weizsäcker, dem

Botschafter des Deutschen Reiches am Vatikan, mitteilen: Sollte sich der

Heilige Stuhl dennoch dazu gezwungen sehen, würde er sich, was die

Konsequenzen anbelangt, der göttlichen Vorsehung anvertrauen. Die Razzia

wurde daraufhin tatsächlich gestoppt. Der Papst hatte jetzt als Bischof der

Diözese Rom seine Verpflichtung zum Einsatz für die jüdischen Bürger Roms

erkannt. Der Spruch seines Gewissens gewann in diesem Fall den Vorrang vor

seinem Verantwortungs-denken. So forderte er freies Kirchenasyl für alle. Auf

des Papstes Bitte hin stellte der Stadtkommandant General Stahel Schutzbriefe

aus mit folgendem Wortlaut: Bekanntmachung! Dieses Gebäude dient religiösen

Zwecken und gehört dem Vatikanstaat. Haussuchungen und

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Beschlagnahmungen sind verboten. Folglich fanden Tausende Juden Asyl und

Rettung in kirchlichen Einrichtungen, vor allem in Seminarien und Klöstern,

aber auch in der Sommerresidenz Castel Gandolfo und im Vatikan selbt.

Kirchenfeindliche Kritiker übersehen meist, daß das Hl. Offizium, die jetzige

Vatikanische Kongregation für die Glaubenslehre, schon in einem Dekret vom

25. März 1928 den Rassismus als Irrlehre verworfen hat. Der Apostolische

Stuhl, heißt es darin in aller Klarheit, verurteilt ganz besonders den Haß gegen

das einst auserwählte Volk Gottes, nämlich jenen Haß, den man heute

gewöhnlich ‚Antisemitismus’ nennt.

Bei der Audienz Pius’ XI. für seinen Staatssekretär Kardinal Pacelli am 1.

April 1933 kam das Thema Judenverfolgung erneut zur Sprache. Hohe jüdische

Würdenträger hatten den Papst über die jüngsten antisemitischen Exzesse der

neuen Nazimachthaber informiert. Der Berliner Nuntius Orsenigo sollte jetzt

erkunden, was der Heilige Stuhl angesichts der Vorkommnisse unternehmen

könnte. Pacelli fügte seinen Aufzeichnungen die vielsagende Bemerkung bei:

Es könnten Tage kommen, in denen man sagen können muß, daß in dieser Sache

etwas gemacht worden ist.

Zu den Opfern gehörte auch die jüdische Karmelitin Teresia Benedicta a Cruce

(einst Edith Stein), die am 7. August 1942 zusammen mit fast 1000 jüdischen

Männern, Frauen und Kindern nach Auschwitz deportiert wurde. Vermutlich

endeten alle in den Gaskammern. Die jüdische Konvertitin und Dozentin für

Philosophie Edith Stein hatte, noch bevor sie im Oktober 1933 in den Kölner

Karmel eintrat, Papst Pius XI. in einem persönlichen Brief vom April 1933 um

seinen Beistand für die verfolgten Juden gebeten: Seit Wochen warten und

hoffen nicht nur die Juden, sondern Tausende treuer Katholiken in Deutschland

– und ich denke, in der ganzen Welt – darauf, daß die Kirche Christi ihre

Stimme erheben möge … Wir alle, die wir treue Kinder der Kirche sind und die

Verhältnisse in Deutschland mit offenen Augen betrachten, fürchten das

Schlimmste für das Ansehen der Kirche, wenn das Schweigen noch länger

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anhält. Eine Antwort wurde ihr weder von Papst Pius XI. noch von seinem

Staatssekretär Kardinal Pacelli zuteil.

1963 zog der Dramatiker Rolf Hochhuth in seinem Trauerspiel „Der

Stellvertreter“ (1963), unbelastet von historischen Spezialkenntnissen, aus seiner

Einschätzung des päpstlichen Verhalten dieses Fazit: ein einziges großes

Schweigen des Vatikans zur Vernichtung des jüdischen Volkes. Warum fragte er

nicht zuerst nach der Haltung der deutschen Bischöfe und Theologen in dieser

Frage?

Beschämende Reaktionen zeigten in der Tat die beiden deutschen Kardinäle

Bertram und Faulhaber, als sie im April 1933 vom ersten Judenboykott der

Nazis hörten. Der Breslauer Erzbischof Bertram verwies darauf, daß es sich um

einen wirtschaftlichen Kampf in einem uns in kirchlicher Hinsicht nicht

nahestehenden Interessentenkreis handelt. Und der Münchener Erzbischof

Faulhaber telegrafierte auf eine Anfrage seines Breslauer Amtskollegen, daß

jedes Eintreten für die Juden aussichtslos sei, ja, deren Situation nur noch

verschlimmern würde. Eine noch beschämendere Auskunft gab Faulhaber dem

Priester Alois Wurm, dem Herausgeber der Monatsschrift „Seele“: Für die

kirchlichen Oberbehörden bestehen weit wichtigere Gegenwartsfragen; denn

Schule, der Weiterbestand der katholischen Vereine, Sterilisierung sind für das

Christentum in unserer Heimt noch wichtiger, zumal man annehmen darf, und

zum Teil schon erlebte, daß die Juden sich selber helfen können, daß wir also

keinen Grund haben, der Regierung einen Grund zu geben, um die Judenhetze

in eine Jesuitenhetze umzubiegen… Bei einer Hetze gegen die Katholiken oder

gegen den Bischof hat kein Mensch gefragt, was man gegen diese Hetze tun

könne. Das ist und bleibt das Geheimnis der Passion.

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ANTIJUDAISMUS - ANTISEMITISMUS

Es ist nicht zu bestreiten, daß eine religiös verstandene Feindschaft der Kirche

gegenüber den Juden von Anfang an bestand und in manchen Christenkreisen

bis in unsere Gegenwart besteht, obwohl das 2. Vatikanische Konzil einen

Neuanfang gemacht hat.

Nun gibt es Historiker wie Daniel Goldhagen und John Weiss (Professor für

Europäische Geschichte an der City University of New York), die fest

behaupten, daß die traditionelle christliche Judenfeindschaft zu Beginn des 19.

Jahrhunderts in einen rassistisch geprägten Antisemitismus umgeschlagen habe,

der auf die Absonderung und Vernichtung der jüdischen Rasse abzielte.

In den Augen Goldhagens waren sowohl Pius XI. als auch Pius XII.

eingefleischte Antisemiten. Der judenstämmige Goldhagen scheint nicht zu

wissen, daß der rassistisch-völkische Antisemitismus seine ersten Wurzeln in der

Rassenlehre des französischen Graf Arthur Gobineau (+ 1882) hat, die Wilhelm

Marr in den 80er Jahren mit Feuereifer propagierte. Der deutsche Jude Moses

Heß (+ 1875) stellte fest, daß „die Deutschen weniger die Religion der Juden

hassen als ihre Rasse, weniger ihren eigentümlichen Glauben als ihre

eigentümlichen Nasen. Wenig später löste der Berliner Historiker Heinrich

Treitschke (+ 1896) mit seinem Artikel zur Judenfrage, darin der Schreckensruf

Die Juden sind unser Unglück“, den sog. Berliner Antisemitismusstreit aus.

Antijudaismus und Antisemitismus verfolgen völlig unerschiedliche Ziele.

Während der religiöse Antijudaismus auf den Glauben gerichtet ist und die

jüdische Religion dadurch überwinden will, daß die Juden für den christlichen

Glauben gewonnen werden (Judenmission), konzentriert sich das Interesse des

rassischen Antisemitismus auf die Rasse und verfolgt als höchstes Ziel die

Vernichtung der Juden, weil sie minderwertige Menschen seien.

Gewiß muß man fragen, ob und wieweit dieser kirchliche Antijudaismus, von

dem schon im Neuen Testament Spuren anzutreffen sind und der in Theologie

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und Liturgie durch Jahrhunderte eifrig propagiert wurde, ein Klima geschaffen

hat, das den rassischen Antisemitismus begünstigt und ungewollt sogar gefördert

hat. Goldhagen erspart sich aber jede Mühe einer Differenzierung, ja er

bezeichnet diese von der allgemeinen Forschung akzeptierte Unterscheidung

zwischen Antijudaismus und Antisemitismus als sprachliche Beschönigungen,

deskriptive Verzerrungen, begriffliche Taschespielertricks, Auslassungen in der

Erzählung, interpretatorische Verrenkungen und moralische Ausflüchte. Auf

diese Weise fällt es ihm leicht, eine direkte Verbindungslinie von der religiösen

Judenfeindschaft der Kirche zum modernen Vernichtungsantisemitismus zu

ziehen, der im Holocaust, richtiger in der Shoa (Vernichtung) von 6 Millionen

Juden durch das NS-Regime, seinen Höhepunkt erreicht hat.

Der Berliner Nuntius Orsenigo unterrichtete nach dem Nürnberger Parteitag von

1935, auf dem „die Gesetze zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen

Ehre“ beschlossen worden waren, den Vatikan über verschärfte Maßnahmen

gegen die Juden. Dabei versuchte er einen Blick in die nächste Zukunft:

Wenn, wie es den Anschein hat, der nationalsozialistischen Regierung lange

Dauer beschieden sein wird, sind die Juden dazu verurteilt, aus dieser Nation zu

verschwinden.

Doch diese warnenden Rufe führten im Vatikan weder jetzt noch zwei Jahre

später, als der Nuntius den Vatikan über den „antisemitischen Vandalismus“ in

der sogenannten Reichskristallnacht vom 9. November 1938 informierte, zu

spürbare Reaktionen. Jedenfalls kam es zu keinem entschiedenen Protest in der

Öffentlichkeit.

Aus den neu zugänglichen Akten des Vatikanischen Geheimarchivs wissen wir,

daß Papst Pius XI. gegen Ende seines Pontifikats mehr und mehr entschlossen

war, sein Schweigen in der Judenfrage zu beenden. Ein erster Beweis dafür ist

die vielgerühmte Enzyklika „Mit brennender Sorge“ vom 21. März 1937, deren

Grundtext auf den Münchener Kardinal Michael Faulhaber zurückgeht, der sich

zu dieser Zeit in Rom aufhielt. Die erweiterte und verschärfte Endfassung trägt

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allerdings die Handschrift des Kardinalstaatssekretärs Pacelli. Dies gilt

besonders für die Aussage über den Antisemitismus: Wer die Rassse oder das

Volk oder den Staat oder die Träger der Staatsgewalt oder andere Grundwerte

menschlicher Gemeinschaftsgestaltung – die innerhalb der irdischen Ordnung

einen wesentlichen und ehrengebietenden Platz behaupten – aus dieser ihrer

irdischen Wertskala herauslöst, sie zur höchsten Norm aller, auch der religiösen

Werte macht und sie mit Götzenkult vergöttert, der verkehrt und fälscht die

gottgeschaffene und gottbefohlene Ordnung der Dinge. Ein solcher ist weit von

wahrem Gottesglauben und einer solchem Glauben entsprechenden

Lebensauffassung entfernt.

Dieses Dokument, das auf abenteuerlichen Wegen in die Hände der deutschen

Bischöfe gelangte und darum von den Kanzeln verlesen werden konnte, ist

deshalb so wichtig, weil es der einzige öffentliche Protest der Kirche gegen die

Entrechtung und Verfolgung der Juden – auch wenn hier das Wort Jude selbst

nicht gebraucht, vielleicht sogar absichtlich vermieden wird – während des

Dritten Reich geblieben ist.

Pius XI. wollte auch noch eine spezielle Enzyklika gegen Rassismus und

Antisemitismus publizieren. Mit dem Entwurf dazu betraute er im Juni 1938 den

im Kampf gegen den Rassismus in den USA hervorgetretenen Jesuiten John La

Farge, dem der Jesuitengeneral Ledóchowski, ein gebürtiger Pole, zwei

Jesuiten, den Franzosen Gustave Desbuquois und den Deutschen Gustav

Gundlach, als sachkundige Mitarbeiter zur Seite gab. Doch der Tod des Papstes

im Februar 1939 verhinderte eine Publizierung dieser Stellungnahme. Ungeklärt

ist freilich, warum der am 3. März 1939 gewählte Nachfolger Pius XII., der

noch als Staatssekretär unter Pius XI. Kenntnis von dem Plan erhalten haben

mußte, den Entwurf in der Schublade verschwinden ließ. Gerade jetzt, da man

vom Vatikan ein deutliches Wort gegen die immer schlimmere Formen

annehmenden Judenverfolgungen erwartete. Der Pacelli-Papst Pius XII. meinte

mit deutlichen Mahn- und Protestschreiben an verschiedene Regierungs- und

Parteibehörden seine Pflicht erfüllt zu haben.

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Daneben unterstützte der Vatikan kirchliche Hilfsaktionen für verfolgte Juden

und rettete auf diese Weise, vor allem während der Besetzung Roms durch

deutsche Truppen, Tausenden (gewiß nicht 800 000, wie Pinchas Lapide meinte)

das Leben .

Es ist üblich, die gesamte Schuld am Versagen der Kirche während des Dritten

Reiches allein auf die zwei Pius-Päpste abzuladen. Wenn sie laut und stark in

der Öffentlichkeit Protest gegen das verbrecherische Naziregime erhoben hätten,

meinen die Kritiker, wäre alles anders gelaufen. Wer wollte das wissen?

Pius XII. selbst war der Überzeugung, daß er zwar zu diplomatischen

Demarchen verpflichtet sei, öffentliche Proteste aber nicht verantworten könne,

da sie die Lage der Kirche und auch der Juden nur noch verschlimmern würden.

In diesem Sinn schrieb er an den Berliner Bischof Preysing am 30. September

1941, daß die allgemeine politische Lage in ihrer schwierigen und oft

widerspruchsvollen Eigenart dem Oberhaupt der Gesamtkirche in seinen

öffentlichen Kundgebungen pflichtmäßige Zurückhaltung auferlegt. Um so mehr

aber sei es Pflicht der deutschen Bischöfe, heißt es in einem späteren Schreiben

des Papstes an den Berliner Ordinarius, mit öffentlichem Widerspruch

hervorzutreten: Den an Ort und Stelle tätigen Oberhirten überlassen Wir es

abzuwägen, ob und bis zu welchem Grade die Gefahr von

Vergeltungsmaßnahmen und Druckmitteln im Falle bischöflicher Kundgebungen

sowie andere vielleicht durch die Länge und Psychologie des Krieges

verursachen Umstände es ratsam erscheinen lassen, trotz der angeführten

Beweggründe, ad maiora mala vitanda (um größere Übel zu verhüten)

Zurückhaltung zu üben. Hier liegt einer der Gründe, warum Wir selber Uns in

Unseren Kundgebungen Beschränkungen auferlegen.“

Doch die deutschen Bischöfe, schon seit 1933 uneinig über ein gemeinsames

Vorgehen gegen den Nazismus, hüllten sich in Schweigen, obwohl mutige

Proteste einzelner Bischöfe, an der Spitze der Münsteraner Bischof Graf Galen,

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z.B. gegen Euthanasiemaßnahmen und Euthanasieaktionen nicht ohne Erfolg

geblieben waren.

Dieses permanente Schweigen der obersten Kirchenautoritäten im Vatikan und

in den deutschen Diözesen zu eklatanten Verstößen des NS-Staates und NSDAP-

Behörden gegen Menschenrechte, vor allem zum industriellen Morden am

jüdischen Volk, veranlaßte den Eichstätter Domkapitular Johannes Kraus zu

einem anonymen Flugblatt mit der Überschrift „Aufschrei eines deutschen

Katholiken“: Herr und Gott! Du gabst uns Bischöfe, die uns leiten und führen

sollen. Sie sind die Nachfolger der Apostel-Martyrer, aber vom Martyrergeist ist

nichts auf sie übergegangen… Die Einpeitscher der glaubensfeindlichen

Weltanschauung lachen sich ins Fäustchen, raunen sich untereinander zu und

sprechen es offen aus: Wir gehen so weit vor, bis wir Widerstand finden, wir

hätten nicht gedacht, daß die Bischöfe so wenig Widerstand leisten.

Es dauerte Jahrzehnte, bis die deutschsprachigen Bischöfe aus Anlaß des 50.

Jahrestages der von Nazis im November 1939 in Deutschland durchgeführten

Pogrome offiziell Stellung nahmen. Eine antijüdische Einstellung auch im

kirchlichen Bereich hat mit dazu geführt, daß Christen in den Jahren des

Dritten Reiches nicht den gebotenen Widerstand gegen den rassistischen

Antisemitismus geleistet haben. Es hat unter Katholiken vielfach Versagen und

Schuld gegeben. Nicht wenige haben sich von der Ideologie des

Nationalsozialismus einnehmen lassen und sind bei den Verbrechen gegen

jüdisches Eigentum und Leben gleichgültig geblieben. Andere haben den

Verbrechen Vorschub geleistet oder sind sogar selber Verbrecher geworden.

Unbekannt ist die Zahl derer, die beim Verschwinden ihrer jüdischen Nachbarn

entsetzt waren und doch nicht die Kraft zum sichtbaren Protest fanden. Jene, die

bis zum Einsatz ihres Lebens halfen, blieben oft allein… Der Rückblick auf die

Geschehnisse vom November 1938 und die zwölfjährige Gewaltherrschaft der

Nationalsozialisten … erinnert daran, daß die Kirche, die wir als heilig

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bekennen und als Geheimnis verehren, auch eine sündige und der Umkehr

bedürftige Kirche ist.

GESINNUNGS- UND VERANTWORTUNGSETHIK

Eugenio Pacelli war persönlich tieffromm und theologisch hochgelehrt. Da er

schon mit 40 Jahren als Nuntius in Deutschland die Laufbahn eines Diplomaten

einschlug, geriet er notwendigerweise oft in Tiefen der Meerenge zwischen

Skylla und Charybdis, zwischen christlicher Glaubenslehre und kirchlicher

Diplomatie. Zwei Seelen stritten fortan in seiner Brust um den Vorrang:

persönliche Glaubensüberzeugung und diplomatische Flexibilität. Im Ernstfall

trat bei ihm Entschiedenheit in Glaubensfragen aus kirchenpolitischen Interessen

an die zweite Stelle. Wo entschiedenes Nein und öffentlicher Protest am Platz

gewesen wären, gewann politische Neutralität meist die Oberhand.

Etwas anderes wäre es gewesen zu denken: Die Kirche soll lieber im Dienst an

den Menschen untergehen, als durch falsche Verbrüderung und diplomatische

Taktik mit einem Unrechtswsystem zu überleben. Vielleicht hätte solches

Unterliegen sogar Siegen bedeutet.

Diese grundsätzliche Einstellung hatte Pacelli schon als Berliner Nuntius

bewiesen, als Kardinal Merry del Val, Sekretär des Heiligen Offiziums, ihn zur

Veröffentlichung eines Dekrets gegen die Ökumenische Bewegung aufforderte.

Obwohl in der Sache derselben Meinung, wollte Pacelli dem von Rom

vorgegebenen Kurs aus politischen und gesellschaftlichen Gründen nicht folgen.

In seinem Antwortbrief vom 28. April 1927 an Nicola Canali, den Assessor des

Heiligen Offiziums, hielt er an seiner opportunistischen Haltung fest und

riskierte dafür sogar seine Abberufung. Sein Amt als Nuntius sei ein Amt, das

meine Kräfte besonders bei den heutigen, höchst schwierigen Umständen viel zu

sehr übersteigt, von dem ich deswegen freigestellt werden möchte, um mich ins

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Privatleben zur Ausübung des heiligen priesterlichen Dienstes zurückziehen zu

können.

Doch Pius XI. stellte sich in diesem Konflikt auf die Seite des Nuntius und

damit auch gegen die streng dogmatische Linie des Heiligen Offiziums, obwohl

er als Präfekt dessen oberster Chef war. Für Pacelli bedeutete diese

Entscheidung eine Bestätigung seines politischen Neutralitätsprinzips, dem er

vor allem in den Jahren des Hitler-Regimes treu blieb und weswegen er bis

heute im Kreuzfeuer der Kritik steht als „Papst, der geschwiegen hat.“

Das tödliche Schicksal der katholischen Juden in den Niederlanden, das der

öffentliche Protest der katholischen Bischöfe gegen die nazistische

Judenvernichtung verursacht hatte, bestärkte Papst Pius XII. noch mehr, auf

jeden öffentlichen Protest zu verzichten. Daß er von diesem Dilemma zwischen

Gewissensanruf und Verantwortungshandeln förmlich zerrieben wurde, deutete

er mehrmals an. Zuletzt im Jahr 1944, wenn er dem Kölner Erzbischof Josef

Frings schrieb, daß es oft schmerzvoll schwer ist, zu entscheiden, ob

Zurückhaltung und vorsichtiges Schweigen oder offenes Reden und starkes

Handeln geboten sind.

Wie sehr den Papst die Verfolgung der Juden bedrückte, beweisen Worte wie

diese: Ich habe mehrere Male daran gedacht, den Nazismus mit dem Bannstrahl

der Exkommunikation zu belegen, um vor der zivilisierten Welt die Bestialität

der Judenausrottung anzuprangern. Doch nach vielen Tränen und vielen

Gebeten bin ich zu dem Schluß gelangt, daß ein Protest nicht nur niemandem

helfen, sondern das Vorgehen gegen die Juden noch verschlimmern würde….

Vielleicht hätte mir mein feierlicher Protest ein Lob der zivilisierten Welt

eingetragen, doch hätte ich den armen Juden eine noch unversöhnlichere

Verfolgung als diejenige, die sie jetzt erleiden, eingebracht.

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HEILIGSPRECHUNG?

Wir sollten Pius XII. wegen seiner Haltung zum Holocaust weder verdammen

noch heiligsprechen. Nur wenige Jahre nach Pius’ XII. Tod im Jahre 1958

wünschten ungezählte Katholiken seine baldige Heiligsprechung. (Nebenbei

gestanden: Wenn ich Papst wäre, würde ich als erstes die Kongregation für

Selig- und Heiligssprechungen ganz abschaffen.)Tatsächlich wurde das

Verfahren zur Kanonisation auch schon bald eröffnet, aber erst in unseren Tagen

abgeschlossen. Doch unmittelbar vor dem geplanten Heiligspechungsakt ließen

sich inner- und außerhalb der Kirche mahnende und warnende Stimmen

vernehmen, die dieses fromme Vorhaben entschieden ablehnten. Dabei spielte

die überaus vorsichtige und auf Neutralität bedachte Haltung des Papstes

gegenüber dem Naziregime gewiß die entscheidende Rolle.

Pius XII. selbst wäre der letzte gewesen, der auf seine eigene Heiligsprechung

erpicht gewesen wäre. Wußte er doch nur allzu gut um seine fragwürdige

Kirchenpolitik zur Zeit des Dritten Reiches. Dies schimmert auch in seinem

Testament durch, wenn er ganz allgemein Fehler und Versäumnisse während

seines langen Pontifikats eingesteht: Erbarme dich meiner, Gott, nach deiner

großen Barmherzigkeit! Diese Worte, die ich im Bewußtsein meiner

Unzulänglichkeit aussprach, als ich mit Bestürzung meine Wahl zum Papst

annahm, wiederhole ich nun mit größerer Berechtigung, da die

Vergegenwärtigung der Mängel, Unzulänglichkeiten und Fehler, die während

eines so langen Pontifikates und in solch schwerer Zeit begangen wurden, mir

meine Unzulänglichkeit und Unwürdigkeit klarer vor Augen geführt haben.

SCHULDIG ODER UNSCHULDIG?

Der Historiker ist kein Richter. Er hat weder freizusprechen noch zu verurteilen.

Wohl aber darf er urteilen, was er im Einzelfall für richtig oder falsch hält; denn

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ohne solches Beurteilen aufgrund gesicherter Fakten wäre jede Beschäftigung

mit der Geschichte, d.h. mit den Geschehnissen, nutzlos.

Die Einschätzung der Lage des Papstes durch den deutschen Botschaftsrat beim

Hl. Stuhl, Albrecht von Kessel, verdient zumindest Beachtung. In der Zeitung

„Die Welt“ vom 6. April 1963, dem Jahr, in dem Rolf Hochhuths Theaterstück

„Der Stellvertreter“ zum ersten Mal gespielt wurde, äußerte von Kessel die

Überzeugung: Pius XII., den ich schon als Staatssekretär und zwölf Jahre später

als Papst gekannt habe, war eine große Gestalt, die allerdings, das war damals

meine Überzeugung und ist es auch heute noch, unter der Gewissensnot fast

zusammenbrach. Er hat, ich weiß es, Tag für Tg, Woche für Woche, Monat für

Monat um die Antwort gerungen. Keiner konnte ihm die Verantwortung für

diese Antwort abnehmen.

Anderer Meinung war der nach dem 20. Juli 1944 hingerichtete Berthold Graf

von Stauffenberg, wenn er bekannte: Das Furchtbarste ist, zu wissen, daß es

nicht gelingen kann und daß man es dennoch für unser Land und unsere Kinder

tun muß.

Die jüdische Dichterin Gerty Spies (+ 1997), die 1942 von München in das KZ

Theresienstadt deportiert wurde und drei schreckliche Jahre bis zur Befreiung

des Lagers überleben konnnte, ließ sich den Glauben an das Gute im Menschen

nicht nehmen. Mit wenigen Versen erinnerte sie daran, wie man auch wegen

unterlassener Hilfeleistung schuldig werden kann.

Was ist des Unschuldigen Schuld –

wo beginnt sie?

Sie beginnt da,

wo er gelassen, mit hängenden Armen,

schulterzuckend daneben steht,

den Mantel zugeknöpft,

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eine Zigarette anzündet und spricht:

Da kann man nichts machen …

Seht, da beginnt des Unschuldigen Schuld.

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