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153 Herz 30 · 2005 · Nr. 2 © Urban & Vogel © Urban & Vogel 2005 Herz Paradigmenwechsel in der universitären Medizin? Zur Fusion und Privatisierung von Universitätskliniken am Beispiel von Marburg und Gießen Bernhard Maisch 1 1 Abteilung Innere Medizin – Kardiologie, Universitätsklinik Marburg. Schlüsselwörter: Universitätskliniken · Fusion · Privatisierung Herz 2005;30:153–8 DOI 10.1007/s00059-005-2679-4 Zusammenfassung 1. Die Fusion der Universitätskliniken in Mittelhessen ist eine „Zwangsheirat mit Risiko“ (Der Spiegel) [1]. Sie ist in der ge- genwärtigen politischen und finanziellen Lage des landes aber wohl kaum vermeidbar. Aus Marburger Sicht ist es schmerzlich, die Gewinne und Rückstellungen eines wirt- schaftlich bestens geführten Universitätsklinikums in die Defizite einer weniger effizient geführten Gießener Klinik und ggf. in deren zukünftige Baumaßnahmen geben zu müs- sen. 2. Beide Fakultäten leiden unter einer extrem niedrigen Lan- deszuweisung für Forschung und Lehre, die bezogen auf die Studentenzahl und Professoren beträchtlich unter dem deutschen Mittelwert liegt. Alle 3 hessischen Medizinfach- bereiche gehören zu den 5 am schlechtesten von den jewei- ligen Bundesländern finanzierten Fakultäten. Beide Univer- sitätskliniken, Gießen allerdings wesentlich mehr als Mar- burg, sehen sich für die kommenden 7–10 Jahre mit einem Investitionsstau in die Bausubstanz, beide in gleichem Um- fang in die Großgeräte (HBFG) konfrontiert. 3. Eine Privatisierung einer oder beider Universitätskliniken hat diverse grundsätzliche Probleme. a) Sie ist eine potentielle Bedrohung für die verfassungs- rechtlich zu gewährleistende Freiheit von Forschung und Lehre. Ein privater Betreiber wird durch die Unterstützung oder Unterlassung von gemeinsamen Investionen For- schung unzweifelhaft beeinflussen. Ein denkbares Bei- spiel ist die Bevorzugung der Versorgungs- gegenüber der Grundlagenforschung. b) Es zeichnen sich Absurditäten ab in der Trennung von For- schung und Lehre einerseits und der Krankenversorgung andererseits bei der Personalpolitik, der Mehrwertsteuer- problematik sowie den Raum-, Flächen- und Liegenschafts- fragen. c) Ich sehe ein möglicherweise von der hessischen Landesre- gierung überschätztes positives Potential in der Schaffung des viertgrößten Universitätsklinikums für die Rekrutierung von Patienten aus ganz Deutschland, denn Universitätskli- niken rekrutieren für spezialisierte Techniken und Kompe- tenzen ohnehin ihre Patienten bundesweit. Eine zusätzliche Rekrutierung von Patienten für Diagnostik und Eingriffe der Routineversorgung ist aber kaum zu erwarten. d) Der auf den „shareholder value“ bedachte private Konzern wird, auch wenn er kurzfristig investive Entlastung anbie- ten kann (Beispiel Gießen), nicht ohne drastische Personal- restrukturierung an beiden Standorten auskommen. Bei- spiele hierfür gibt es genug bei allen in Frage kommenden privaten Konzernen. Es gibt allerdings auch bemerkenswer- te zusätzliche Forschungsinvestitionen, z.B. bei Helios in Berlin und dem Rhönklinikum am Herzzentrum in Leipzig. e) Die finanziellen Risiken durch die Umsatzsteuerproblema- tik zuzüglich der durch die DRGs erforderlichen Einspa- rungsmaßnahmen stellen eine kaum tragbare finanzielle Zusatzbelastung eines späteren privaten Betreibers dar. Aus aktuellem Anlass

Paradigmenwechsel in der universitären Medizin?

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153Herz 30 · 2005 · Nr. 2 © Urban & Vogel

© Urban & Vogel 2005Herz

Paradigmenwechsel in der universitären Medizin?Zur Fusion und Privatisierung von Universitätskliniken am Beispiel von Marburg und Gießen

Bernhard Maisch1

1 Abteilung Innere Medizin – Kardiologie, Universitätsklinik Marburg.

Schlüsselwörter: Universitätskliniken · Fusion · Privatisierung

Herz 2005;30:153–8

DOI 10.1007/s00059-005-2679-4

Zusammenfassung1. Die Fusion der Universitätskliniken in Mittelhessen ist eine

„Zwangsheirat mit Risiko“ (Der Spiegel) [1]. Sie ist in der ge-genwärtigen politischen und finanziellen Lage des landes aber wohl kaum vermeidbar. Aus Marburger Sicht ist es schmerzlich, die Gewinne und Rückstellungen eines wirt-schaftlich bestens geführten Universitätsklinikums in die Defizite einer weniger effizient geführten Gießener Klinik und ggf. in deren zukünftige Baumaßnahmen geben zu müs-sen.

2. Beide Fakultäten leiden unter einer extrem niedrigen Lan-deszuweisung für Forschung und Lehre, die bezogen auf die Studentenzahl und Professoren beträchtlich unter dem deutschen Mittelwert liegt. Alle 3 hessischen Medizinfach-bereiche gehören zu den 5 am schlechtesten von den jewei-ligen Bundesländern finanzierten Fakultäten. Beide Univer-sitätskliniken, Gießen allerdings wesentlich mehr als Mar-burg, sehen sich für die kommenden 7–10 Jahre mit einem Investitionsstau in die Bausubstanz, beide in gleichem Um-fang in die Großgeräte (HBFG) konfrontiert.

3. Eine Privatisierung einer oder beider Universitätskliniken hat diverse grundsätzliche Probleme.

a) Sie ist eine potentielle Bedrohung für die verfassungs-rechtlich zu gewährleistende Freiheit von Forschung und Lehre. Ein privater Betreiber wird durch die Unterstützung oder Unterlassung von gemeinsamen Investionen For-schung unzweifelhaft beeinflussen. Ein denkbares Bei-spiel ist die Bevorzugung der Versorgungs- gegenüber der Grundlagenforschung.

b) Es zeichnen sich Absurditäten ab in der Trennung von For-schung und Lehre einerseits und der Krankenversorgung andererseits bei der Personalpolitik, der Mehrwertsteuer-problematik sowie den Raum-, Flächen- und Liegenschafts-fragen.

c) Ich sehe ein möglicherweise von der hessischen Landesre-gierung überschätztes positives Potential in der Schaffung des viertgrößten Universitätsklinikums für die Rekrutierung von Patienten aus ganz Deutschland, denn Universitätskli-niken rekrutieren für spezialisierte Techniken und Kompe-tenzen ohnehin ihre Patienten bundesweit. Eine zusätzliche Rekrutierung von Patienten für Diagnostik und Eingriffe der Routineversorgung ist aber kaum zu erwarten.

d) Der auf den „shareholder value“ bedachte private Konzern wird, auch wenn er kurzfristig investive Entlastung anbie-ten kann (Beispiel Gießen), nicht ohne drastische Personal-restrukturierung an beiden Standorten auskommen. Bei-spiele hierfür gibt es genug bei allen in Frage kommenden privaten Konzernen. Es gibt allerdings auch bemerkenswer-te zusätzliche Forschungsinvestitionen, z.B. bei Helios in Berlin und dem Rhönklinikum am Herzzentrum in Leipzig.

e) Die finanziellen Risiken durch die Umsatzsteuerproblema-tik zuzüglich der durch die DRGs erforderlichen Einspa-rungsmaßnahmen stellen eine kaum tragbare finanzielle Zusatzbelastung eines späteren privaten Betreibers dar.

Aus aktuellem Anlass

Maisch B. Paradigmenwechsel in der universitären Medizin

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Historisches und AktuellesDie Philipps-Universität in Marburg, die erste protes-tantische Universität, und ihre medizinische Fakultät blicken auf eine 478-jährige glanzvolle, mitunter auch durchaus wechselvolle Geschichte zurück. So hat die Fakultät im Mittelalter Marburg zweimal verlassen wegen des Sudor Angelicus, einer heimtückischen Grippeepidemie, und über Jahre Zuflucht im nahen Grünberg und in Frankenberg gefunden. Aber die Universitätsklinik der Stadt, in der die heilige Elisa-beth im Jahr 1230 das erste Hospital gründete, sah sich im Lauf ihrer Geschichte nie gezwungen, ihre soziale Identität aufzugeben. Auch die Justus-Liebig-Univer-sität Gießen und ihr medizinischer Fachbereich, die zwar etwas jünger sind, sind seit Jahrhunderten mit der Region verwachsen. Beide Medizinfachbereiche sind in ihre Universitäten über Sektionen oder Kooperati-onen eingebunden.

Im Mai 2004 hatten alle im Hessischen Landtag ver-tretenen Parteien sich für eine Kooperation der Univer-sitätskliniken von Marburg und Gießen ausgesprochen, die nach mehr als 18-monatigen Gesprächen zur Ab-stimmung über die Schaffung einer wirtschaftlichen Einheit (Fusion) der Kliniken führen sollte. In dem Ab-stimmungsprozess sollten Schwerpunktbildungen der Fächer definiert werden, die an beiden Standorten kli-nisch vertreten sind, aber auch Abstimmungen zur Auf-gabe einzelner Fächer geführt werden, die bei einem Klinikum Mittelhessen nicht an beiden Orten vorgehal-ten werden müssen. In einer gemeinsamen Fachbe-reichsratssitzung am 12.05.2004 hatten sich sowohl die Gießener als auch die Marburger Fakultät für eine Ko-operation, aber auch für eine kritische Prüfung der Fu-sionsoption ausgesprochen. Trotz aller Schwierigkeiten führte dieser Abstimmungsprozess zu komplementären Schwerpunkten in vielen chirurgischen und internisti-

A Paradigm Change in German Academic Medicine. Merger and Privatisation as Examplified with the University Hospitals in Marburg and Giessen.

Abstract1. The intended fusion of the university hospitals Marburg and

Giessen in the state of Hessia is “a marriage under pressure with uncalculated risk” (Spiegel 2005). In the present politi-cal and financial situation it hardly appears to be avoidable. From the point of the view of the faculty of medicine in Mar-burg it is difficult to understand, that the profits of this well guided university hospital with a positive yearly budget should go to the neighboring university hospital which still had a fair amount of deficit spending in the last years.

2. Both medical faculties suffer from a very low budget from the state of Hessia for research and teaching. Giessen much more than Marburg, have a substantial need for investments in buildings and infrastructure. Both institutions have a similar need for investments in costly medical apparatuses. This is a problem, which many university hospitals face nowadays.

3. The intended privatisation of one or both university hospi-tals will need sound answers to several fundamental ques-tions and problems:

a) A privatisation potentially endangers the freedom of re-search and teaching garanteed by the German constitu-tion. A private company will undoubtedly influence by ac-tive or missing additional support the direction of research in the respective academic institution. An example is the priorisation of clinical in contrast to basic research.

b) With the privatisation practical absurdities in the separa-tion of research and teaching on one side and hospital care on the other will become obvious with respect to the status of the academic employees, the obligatory taxation

(16%) when a transfer of labor from one institution to the other is taken into account. The use of rooms for seminars, lectures and bedside with a double function for both teaching, research and hospital care has to be clarified with a convincing solution in everyday practice.

c) The potential additional acquisition of patients, which has been advocated by the Hessian state government, may be unrealistic, when the 4th biggest university hospital in Ger-many will be created by the merger. University hospitals recrute the patients for high end medicine beyond their re-gion because of the specialized academic competence and advanced technical possibilities. Additional recruitment of patients for routine hospital can hardly be expected.

d) A private management will have to consider primarily the “shareholder value”, even when investing in infrastructure and buildings, as it can be expected for one partner. On the longterm this will not be possible without a substan-tial reduction of employees in both institutions. There are, however, also substantial efforts of some private hospital chains in clinical research, e.g. by Helios in Berlin and Rhön Gmbh at the Leipzig Heart Center.

e) There is a yet underestimated but very substantial risk be-cause of the taxation for the private owner when academ-ic staff is transferred from the university to hospital care in their dual function as academic teachers and doctors. This risk also applies for the university if the transfer should come from hospital to the university. These costs would add to the financial burden, which has to be carried in ad-dition to the DRGs.

Key Words: University hospitals · Merger · Privatisation

Maisch B. Paradigmenwechsel in der universitären Medizin

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schen Fächern, wobei z.B. die Kliniken für Gastroente-rologie und Endokrinologie so abgestimmt wurden, dass der gastroenterologische Schwerpunkt in Marburg und der endokrinologische Schwerpunkt in Gießen bei fortbestehender Grundversorgung an beiden Standor-ten, bei der Unfallchirurgie und Orthopädie der ortho-pädische Schwerpunkt in Marburg, der unfallchirurgi-sche Schwerpunkt in Gießen und in der Pädiatrie der neonatologische und nephrologische Schwerpunkt in Marburg, die allgemeine Pädiatrie und die Kinderherz-chirurgie in Gießen angesiedelt sein sollten.

Zur Forschung und Lehre sind zwischenzeitlich auch einheitliche Konzepte für den Erhalt der Zahnkli-niken unter Schwerpunktbildung und Bildung eines Graduiertenkollegs sowohl in Marburg als auch in Gie-ßen von der AG Hochschulmedizin verabschiedet wor-den. Ebenso gilt dies mit Ausnahme der Humangenetik für alle „Laborfächer“ (klinische Chemie, Pathologie und Neuropathologie, Virologie und Mikrobiologie), wohingegen der Marburger Klinikumsvorstand Ein-sparpotential in einigen Laborfächern (z.B. klinische Chemie) bei einer Einstandortlösung sieht.

Übereinstimmungen zur Schwerpunktbildung un-ter Erhalt der für Forschung und Lehre erforderlichen Fächer an beiden Standorten liegen zwischenzeitlich vor. Wissenschaftliche Exzellenz wird allerdings primär durch die Forscher und akademisch tätigen Ärzte ga-rantiert. Einstandortlösungen an wissenschaftlichen Schwerpunkten, die traditionell sowohl in Marburg als auch in Gießen zu Hause sind, wie z.B. die Infektions-biologie, Virologie und Mikrobiologie würden auch stets eine Einbuße an wissenschaftlicher Exzellenz in ganz Mittelhessen bedeuten. Andererseits wird bei der Fusion beider Universitätskliniken das bundesweit viertgrößte Universitätsklinikum gebildet, was zweifel-los auch zu Synergien in der Krankenversorgung, For-schung und Lehre führen müsste.

Die für Mitte des Jahres 2005 beabsichtigte Fusion beider Universitätskliniken stellt angesichts der histori-schen Gegebenheiten an beiden Fakultäten einen Bruch der gewachsenen Tradition dar, der aus der Sicht vieler Mitarbeiter vergleichbar der Absicht eines britischen Pre-mierministers wäre, die Fakultäten Oxford und Cambridge zu fusionieren. Die Absicht des Landes, die fusionierten Kliniken anschließend zu privatisieren, käme, um im Bild zu bleiben, dann dem Verkauf der Kronjuwelen gleich. Diesen Schritt hat der hessische Ministerpräsident mit sei-ner Regierungserklärung am 14.12.2004 getan, als er den Stufenplan einer Fusion bis zum 01.07.2005 und einer Pri-

vatisierung Anfang 2006 zum Regierungsprogramm er-hob. Eine Privatisierung entsprach dem Wunsch des Gie-ßener Klinikumsvorstands, seinem Fachbereich und seiner Universitätsleitung, die in der Privatisierung die einzige Möglichkeit zum Abbau des auf ca. 200 Mio. Euro ge-schätzten Investitionsstaus sahen. Eine Privatisierung des Gießener Klinikstandorts allein hätte die vom Land ange-strebte Fusion verunmöglicht, gleichzeitig einen in seinen Folgen schwer abschätzbaren längerfristigen Nachteil in der Akquisition von Patientenströmen und damit auch in der Konkurrenzfähigkeit für den Marburger Standort be-deutet. Dieser hatte sich deshalb statt einer Privatisierung einer oder beider Universitätsklinika für eine Stiftung bür-gerlichen Rechts oder doch die Beibehaltung des Status einer Anstalt öffentlichen Rechts unter Fortführung der Bemühungen zu einer wirtschaftlichen Einheit beider Kli-niken in Mittelhessen ausgesprochen.

Finanzielle SituationDas Land Hessen weist, nicht zuletzt auch wegen der Transferleistungen an die neuen Bundesländer, ein jährli-ches Defizit von ca. 9 Mrd. Euro aus. Dies hat trotz des Hochschulpakts zu einer weiteren Reduktion der jährli-chen Zuführungsbeiträge des Landes (Landeszuschuss) geführt, die eine Grundausstattung in Forschung und Leh-re gerade noch ermöglicht, aber eine echte leistungsbezo-gene Mittelvergabe verunmöglicht. Nicht nur in Hessen, sondern bundesweit haben sich durch die Kürzungen der Mittel aus dem Hochschulbauförderungsgesetz (HBFG) Investitionsstaus bei Bauvorhaben und der Beschaffung von Großgeräten angehäuft. Während in Frankfurt und Marburg allerdings universitäre Bauvorhaben realisiert werden konnten (in Marburg die Zentrale Medizinische Bibliothek [ZMB], Forschungsgebäude [BMFZ] sowie In-stitutsneubauten für Virologie, Immunologie und Mikro-biologie, das Mutter-Kind-Zentrum), hat das Land Inves-titionen in Gießener Bauvorhaben in ähnlicher Größen-ordnung nicht getätigt. Auch in der laufenden Finanzierung der Krankenversorgung unterscheiden sich beide Stand-orte: Marburg schrieb trotz DRG-Anpassung auch 2004 schwarze Zahlen; Gießen muss ein Defizit von ca. 8 Mio. Euro ausweisen: „Das Gießener Universitätsklinikum mit teilweise maroder Bausubstanz schreibt rote Zahlen – auf der anderen Seite das Klinikum Marburg, das schwarze Zahlen schreibt und über einen modernen Gebäudekom-plex verfügt“ (Der Spiegel) [1].

Insgesamt behandelt das Land Hessen seine Me-dizinfachbereiche stiefmütterlich: Mit 16 100 Euro lau-fender Grundmittel im Jahr pro Medizinstudent lag

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Hessen im Jahr 2001 unter allen Bundesländern 12 300 Euro unter dem Bundesdurchschnitt (28 400 Euro) und am Ende aller Bundesländer (Niedersachsen 37 100 Eu-ro, Bayern 35 5000 Euro). Je Absolvent sind dies in Hessen mit 153 000 Euro genau 100 000 Euro unter dem bundesdeutschen Mittel des laufenden Zuschussbedarfs je Absolvent an medizinischen Einrichtungen. Damit liegt Hessen an vorletzter Stelle in der BRD. Es ver-wundert nicht, dass sich unter den fünf medizinischen Einrichtungen mit den niedrigsten laufenden Grund-mitteln je Absolvent die drei hessischen Medizinfakul-täten befinden (Frankfurt mit 134 000 Euro, Marburg mit 154 000 Euro, Gießen mit 174 000 Euro). Bezogen auf die laufenden Grundmittel pro Professorenstelle liegt Hessen mit 422 000 Euro genau 238 000 Euro unter dem Bundesdurchschnitt von 660 000 Euro und damit an drittletzter Stelle bundesweit [2].

Würde man aus der spartanischen Finanzierung durch das Land und den eingeworbenen Drittmitteln die Produktivität der hessischen Medizinfachbereiche berechnen, dann, aber nur dann, wäre „Hessen vorn“, denn in ihren Drittmitteleinwerbungen rangieren alle drei hessischen Universitätskliniken und Fachbereiche im guten Mittelfeld.

Medizinische Wissenschaft und Forschung sind ohne eine auskömmliche Grundfinanzierung durch das Land und eine gerechte Verteilung von investiven Mitteln in Hessen nicht möglich. Marburg, Gießen und Frankfurt bilden ungefähr die gleiche Anzahl von Medizinstuden-ten aus. Hier wäre das Land Hessen gefordert, klare Pri-oritäten in der Finanzpolitik zu setzen, denn Medizinfor-schung ist hochinnovativ und zukunftsorientiert.

Auch Investitionen in die Bausubstanz der einzel-nen Medizinstandorte sollten berücksichtigen, dass alle drei Standorte ungefähr dieselbe Anzahl Studenten ausbilden und gute Wissenschaft machen. Wenn in den letzten 25 Jahren in Frankfurt mehr als 650, in Marburg ca. 480 und in Gießen weniger als 200 Mio. Euro inves-tiert wurden, belegt dies ungleiche Maßstäbe für durch-aus vergleichbare Leistungen.

Die vom Land Hessen angestrebte Privatisierung ist nur schwer kompatibel mit der verfassungsrechtlich ga-rantierten Freiheit von Forschung und Lehre. Freiheit von Forschung und Lehre setzt eine mit der Forschung vereinbare Rechtsform nicht nur der Fachbereiche, sondern auch der zugehörigen Universitätskliniken vo-raus. Ein privates Betreibermodell widerspricht der für exzellente Forschung unverzichtbaren akademischen Freiheit, die, gleichgültig an welchem Standort, dem

systemimmanenten Gewinnstreben eines privaten Krankenhauskonzerns und dem „shareholder value“ in praxi untergeordnet würde. Alle nicht für die Kranken-versorgung rentablen, aber für Lehre und Forschung essentiellen Fächer wären gefährdet. Bereits jetzt, in der Anstalt öffentlichen Rechts, dominiert bedauerli-cherweise im ärztlichen Alltag die Krankenversorgung vor der akademischen Lehre und der Forschung.

Inneruniversitäre VernetzungenDas Medizinstudium auch nach der neuen Approbations-ordnung beruht auf einer engen Vernetzung zwischen the-oretischen und vorklinischen Fächern und der klinischen Ausbildung in den „Produktionsstätten“ des jeweiligen Universitätsklinikums. Die Aufrechterhaltung der traditi-onsreichen Verbindungen mit der Universität und die täg-liche Einbindung des akademischen Lehrkörpers in die dreifache Aufgabe von Krankenversorgung, Forschung und Lehre zeichnen den nicht immer einfachen Balance-akt der Universitätsprofessoren und ärztlichen Mitarbei-ter aus, der an allen Universitätskliniken einen Teil der Alltagsaufgabe darstellt, die durch die Belastungen in der Krankenversorgung im Rahmen der DRG-Finanzierung zusätzliche finanzielle Restriktionen auferlegt bekommt.

Nachdem sich der hessische Ministerpräsident in seiner Regierungserklärung im Dezember 2004 für eine Privatisierung der zuvor fusionierten mittelhessischen Universitätskliniken entschieden hatte, wird das Pro-jekt Fusion und Privatisierung jetzt intensiv in Arbeits-gruppen begleitet, in denen das Ministerium für Wis-senschaft und Kunst, das Sozialministerium und Finanz-ministerium, die Klinikumsvorstände und Dekane sowie Personalvertretungen beider Universitätsklinika im Rahmen von einer Lenkungs- und fünf Arbeitsgrup-pen eingebunden sind. Transaktionsberatung und Rechtsberatung sind weitere Bestandteile des einmali-gen Unternehmens. Denn eine Privatisierung ganzer Universitätskliniken, hier zusätzlich kompliziert durch eigentlich jene zweier Klinika, hat es bisher in Deutsch-land nicht gegeben. Bisher war nur eine Privatisierung einzelner Kliniken, wie etwa des Herzzentrums in Leip-zig (Rhönklinikum), Teile des Klinikums Berlin-Buch (Helios), erfolgreich durchgeführt worden. Da eine Pri-vatisierung ganzer Universitätskliniken in Deutschland bisher ohne Beispiel ist, sind die sich aufwerfenden Fra-gen entsprechend komplex.

Diese Fragen werden gegenwärtig in fünf Projekt-gruppen und einer Lenkungsgruppe, begleitet durch einen Transaktionsberater und juristischen Berater, er-

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örtert. Sämtliche relevanten Details der beiden Univer-sitätsklinika werden den sich bewerbenden privaten Konzernen in einem faktischen und virtuellen „Daten-raum“ zur Verfügung gestellt.

Fragen zur KrankenversorgungBis zum Jahr 2010 sind hessenweit ca. 7 000–10 000 Betten abzubauen. Es verbleiben ca. 27 000 Krankenhausbetten. Gründe der zu erwartenden Bettenreduktion sind:1. die Verweildauerverkürzung durch die DRGs und

durch die demographische Entwicklung, die eine Ab-nahme der Gesamtbevölkerung erwarten lässt.

2. Gegenläufig ist ein erhöhter Bedarf wegen der zuneh-menden Zahl geriatrischer Patienten bei einem älter werdenden Patientengut anzunehmen, wobei erwar-tungsgemäß die intensivste Inanspruchnahme klinischer Behandlungen während der letzten 4 Lebensjahre und insbesondere der letzten 6 Lebensmonate vorliegt.

Die beiden mittelhessischen Universitätsklinika ha-ben im Gegensatz zu Universitätskliniken in Großstäd-ten eine Krankenversorgung sowohl im „High-end“- (ca. 30–40%) als auch „Low-end“- (ca. 30%; Regelver-sorgung) und Intermediär-Bereich (30–40%) zu leisten. Dies dürfte die DRG-bedingte Anpassung verlangsa-men, aber nicht aufhalten. Hieraus lässt sich ableiten, dass eine Fusion der beiden mittelhessischen Universi-tätsklinika unter dem Gesichtspunkt der Krankenver-sorgung durchaus sinnvoll, möglicherweise sogar ohne Alternative ist. Denn die Schätzungen für DRG-be-dingte notwendige Einsparungen liegen für die Zeit bis zum Abschluss der Konvergenzphase bei ca. 8–11 Mio. Euro in Marburg und ca. 25 Mio. Euro in Gießen.

Betriebswirtschaftliche Aspekte, TrennungsrechnungDie Aufgabe, die betriebswirtschaftlichen und organi-satorischen Aspekte bei Fusion und anschließender Pri-vatisierung sowie die Trennungsrechnung zwischen De-kanat/Fachbereich einerseits, der Universität als zwei-tem und dem Universitätsklinikum als drittem Partner zu analysieren und zu vereinheitlichen, ist schwierig.

Trennungsrechnung: Hier liegen die zu klärenden Probleme im Grundsätzlichen und im Detail, da beide Fachbereiche zwar über Trennungsrechnungen verfü-gen, diese aber nicht einheitlich strukturiert haben. Pro-blempunkt ist u.a. die Bewertung der Hochschulambu-lanzen für die Forschung und Lehre und für die Kran-kenversorgung. Hier vertreten beide Fachbereiche die Ansicht, dass die durch die Kassenärztliche Vereini-gung zugegebenermaßen unterfinanzierten Hochschul-

ambulanzen in ca. 80% der reinen Krankenversorgung dienen und die 20% Inanspruchnahme durch Forschung und Lehre bereits durch die in der leistungsbezogenen Mittelvergabe gewährte Grundausstattung von For-schung und Lehre enthalten ist. Dies sieht die Kranken-versorgung bei einem drohenden Verlust bisheriger Einnahmen aus den Hochschulambulanzen erwartungs-gemäß anders. Die Einschätzung eines möglichen priva-ten Betreibers bleibt abzuwarten.

Weiterer Klärungsbedarf besteht für die Träger-aufgaben im öffentlichen Gesundheitswesen (Impf-sprechstunde, pädiatrische Audiologie, Schule für kran-ke Kinder, wissenschaftliche Freibetten, Azubis). Vor allem die möglicherweise bei einer Privatisierung zu er-wartende Rückzahlung von HBFG-Zuschüssen des Bundes stellt ein in seiner Größenordnung noch nicht abschätzbares Problem dar.

Übereignung von Liegenschaften des Landes an einen privaten Betreiber

Neben der Erfassung aller im Landesbesitz befindlichen Liegenschaften und Gebäude in einem verbindlichen Kataster werden offensichtliche Problempunkte sein, wie Seminarräume, Hörsäle, Arztzimmer, Gänge, Kran-kenzimmer mit Patienten, die alle in unterschiedlichem Maß für die Krankenversorgung und Forschung und Lehre benötigt werden, zu verteilen oder später abzu-rechnen sind? Ein privater Betreiber möchte verständ-licherweise die Klinika besitzen. Der Fachbereich fände es hingegen absurd, wenn das Land seine Anteile aus Forschung und Lehre, d.h. Liegenschaften und Räu-men, verkaufen würde und der Fachbereich später für Hörsäle, Arzt- und Patientenzimmer, sanitäre Anlagen usw. dem privaten Betreiber Miete zahlen müsste. Ein Verkauf würde auch etwaige zukünftige Entwicklungen für Forschung und Lehre strukturell behindern.

Zu den Aufgaben gehört auch die Abschätzung tat-sächlicher Investitionserfordernisse an den beiden Stand-orten: Gießen schätzt seinen gegenwärtigen Investitions-stau auf ca. 200 Mio. Euro; Marburg hat zwar nach Ab-schluss des zweiten Bauabschnitts auf den Lahnbergen mit der Fertigstellung von Mutter-Kind-Zentrum, Der-matologie, ZMB, Forschungsgebäuden, Virologie, Mi-krobiologie und Immunologie (ca. 150 Mio. Euro) seinen akuten dringendsten Investitionsbedarf abgearbeitet, dringt aber verständlicherweise bereits jetzt auf einen dritten Bauabschnitt mit Verlegung der Neurofächer und der Zahnmedizin als Kopfklinikum auf die Lahnberge.

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Personalrechtliche ProblemeHier befürchten trotz eines bis zum Jahr 2010 vom Minis-terium zugesagten Kündigungsschutzes die Personalver-tretungen an beiden Standorten, dass es zu einem Abbau von Stellen der Pflege, der Verwaltung und der Ärzte kommen wird. Gerade weil die Verträge mit den Ärzten oft nur kurze Laufzeiten (2–4 Jahre) haben, greift hier in einem für die Patientenversorgung entscheidenden Be-reich die Garantie des Kündigungsschutzes nicht.

Des Weiteren ist der steuerliche Aspekt einer Fusi-on zweier Anstalten öffentlichen Rechts mit geplanter Privatisierung von einschneidender Bedeutung. Hierzu ergeben sich verschiedene Denkmöglichkeiten:

Möglichkeit 1Die Universität überlässt das Personal dem privatisier-ten Klinikum (Rechtsform der GmbH). Das Klinikum wäre nach dieser Rechtsformänderung ein gewerblicher Betrieb. Dieser müsste für die Überlassung des vom Land/von der Universität angestellten Personals 16% Umsatzsteuer erheben, das nicht vorsteuerabzugsfähig ist und eine echte Mehrbelastung darstellt. Die grob ge-schätzten Kosten bei ca. 1 000 ärztlichen und wissen-schaftlichen Mitarbeitern und einem Bruttogehalt von 60 Mio. Euro wären ca. 10 Mio. Euro Mehrwertsteuer für den privaten Betreiber, die dieser vorher verdienen oder einsparen müsste. Wie dies ohne drastische Perso-naleinsparungen zu leisten wäre, ist nicht vorstellbar.

Möglichkeit 2Das Klinikum überlässt der Universität das Personal im Wege der Leistungserbringung. Hier wäre die Universi-tät, und damit das Land, in ähnlichem Maße steuer-pflichtig wie unter Möglichkeit 1: Etwa 10 Mio. Euro sind bei einem ohnehin defizitären Universitätshaushalt an beiden Standorten nicht leistbar ohne zusätzliche Zuweisungen des Landes, die dieses aber ja gerade ein-sparen möchte.

Möglichkeit 3Überlassung des Personals mittels eines gesonderten Lehrauftrags oder analog zum Chefarztmodell mit ge-splittetem Vertrag. Hier wäre das bereits bei Lehrstuhl-inhabern praktizierte Chefarztmodell mit zwei unter-schiedlichen Verträgen, zwei Steuerkarten, zwei ge-trennten Abrechnungen und zwei unterschiedlichen Arbeitgebern (Miterledigung der Gehalts- und Lohna-brechnungen und anderer Personalangelegenheiten ist durch eine Seite gegen umsatzsteuerpflichtiges Entgelt

möglich) bei ca. 1 000 Mitarbeitern zu regeln. Dies wür-de einen unrealistischen bürokratischen Aufwand er-fordern, der ebenfalls erhebliche steuerliche Implikati-onen hat.

Folgen für Forschung und LehreInhaltliche Fragen bei Forschung und Lehre beziehen sich auf die Klärung der Abgrenzung und Kooperation des fusionierten und später privaten Klinikbetreibers mit dem Fachbereich [3].a) Bei Berufungsverfahren: Hier liegt in Hessen die

Kompetenz gegenwärtig noch beim Fachbereich. Zum Berufungsvorschlag des Fachbereichs und der Universität ist gegenwärtig nur das Benehmen mit dem Klinikumsvorstand einzuholen. Der Ärztliche Direktor ist selbstverständlich auch heute bereits be-ratendes Mitglied der Berufungskommission. Ein privater Betreiber wird hier versuchen, Einfluss auf die Strukturentwicklung zu nehmen und damit stets ein Einvernehmen fordern.

b) Die Mitwirkung des Dekans im Klinikumsvorstand: Bisher ist der Dekan stimmberechtigtes Mitglied des Vorstands. Zu befürchten wäre der Wegfall des Stimmrechts, und es würde allenfalls ein Vetorecht bei Angelegenheiten von Forschung und Lehre ge-währt. Dies stellt eine Entmachtung der akademi-schen Vertretung dar, die von Seiten der Forschung und Lehre nicht hingenommen werden darf.

Literatur1. Hackenbroch V. Hochschulen: Zwangsheirat mit Risiko. Der Spiegel

2005;7:1184–6 (vom 14.02.2005).2. Bericht zur finanziellen Lage der Hochschulen. Wiesbaden: Statist-

isches Bundesamt, 2003.3. Hilzenbecher M. Teilprivatisierung der Universitätsklinika, Anhörung

von Sachverständigen am 2. Juli 2003, Aktuelle Reihe Nr. 13, Ministeri-um für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg.

KorrespondenzanschriftProf. Dr. Bernhard MaischPhilipps-UniversitätDirektor der Klinik für Innere Medizin – KardiologieBaldingerstraße35033 MarburgTelefon (+49/6421) 286-6461, -8954E-Mail: [email protected]

Der Autor ist gleichzeitig Dekan des Fachbereiches Medizin der Philipps-Universität Marburg.