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Wie in allen Gesellschaftsbereichen erleben wir auch beim Thema Gesundheit einen Para- digmenwechsel: Die Auseinandersetzung mit den Themen Gesundheit und Krankheit geschieht heute immer weniger isoliert zwi- schen Arzt und Patient, sondern zunehmend in einem komplexen Netzwerk unterschiedlichs- ter Akteure. Die Organisationen im Gesund- heitswesen wandeln sich von geschlossenen «Systemen» zu offenen «Netzwerken». Netzwerke sind nichthierarchische, sozio- technische – also aus menschlichen und nicht- menschlichen Akteuren bestehende – kom- plexe Gebilde, die ihre ganz eigene Dynamik und ihre eigenen Normen und Prinzipien haben. Diese Normen sind: Konnektivität und Flow, Kommunikation, Transparenz, Parti- zipation, Authentizität und Menschlichkeit, Variabilität und Heterogenität. Und sie sind mehr als Schlagworte: Sie sind eine Realität unseres Zeitalters. An diesen Normen und Werten werden heute Personen und Organisa- tionen, Dienstleistungen, Produkte und Kon- versationen im Bereich von Gesundheit und Krankheit gemessen. Konnektivität und Flow Die ersten zwei Netzwerknormen Konnektivi- tät und Flow meinen so viel wie «vernetze dich und lass Informationen fliessen». Konnektivi- tät bedeutet, dass wir heute – ganz im Sinne des antiken Ideals der Bibliothek von Alexan- dria – Zugang zu allem Wissen der Welt haben. Wer etwas wissen will, schaut im Internet nach. Das ermöglicht in zehn Sekunden, wozu frü- her der Gang zur Bibliothek nötig war. Durch die Allgemeinverfügbarkeit von Informati- onen und Wissen werden alte Besitzstände wertlos, die Gesellschaft teilt sich neu auf und lässt sich nicht mehr einfach durch bisher gültige Mechanismen, etwa Experten-Laien- Unterscheidungen, verwalten und regieren. In einem Netzwerk kann jeder Akteur, auch Patienten und Laien, zu einem «Hub» wer- den, wenn die Kompetenz stimmt. Und über die Kompetenz entscheidet das Netzwerk. Tradiertes, sogenanntes kristallines Wissen verliert immer mehr an Bedeutung. Stattdes- sen zählt, wie souverän man mit dem überall verfügbaren Wissen im Netzwerk umgeht. Konnektivität im Gesundheitswesen bedeutet aber auch, dass Patienten und Gesundheits- konsumenten nicht als isolierte, sondern ver- netzte Individuen zu betrachten sind. Netzwerke haben eine fliessende Dyna- mik und kennen keine Grenzziehungen wie klassische Systeme. Wissen, das in Netzwer- ken fliesst, ist nie vollständig identifizier- oder erfassbar. Man muss sich darauf einlassen, dass permanent Interaktionen und Kräfte zur Wirkung kommen, die sich nicht nach den Organisationsmustern der Hierarchie richten. THEMA Prof. Dr. Andréa Belliger ist Pro- rektorin der PHZ Luzern und Leiterin des IKF. Sie leitet den CAS «eHealth – Gesundheit digital». Paradigmenwechsel vom System zum Netzwerk – Von Connected Health und Naked Conversation Wir leben in einer vernetzten Welt. Netzwerke sind Zeitgeist, Ausdruck der Denk- und Fühlweise unserer Gesellschaft. Netzwerke haben ihre ganz eigenen Normen und Werte. Und weil ja bekanntlich das Medium gleichzeitig auch die Bot- schaft ist, lohnt es sich, etwas genauer hinzuschauen. Andréa Belliger Bild: Fotolia 04/2013 © netzmedien ag 24 SCHWERPUNKT: E-HEALTH

Paradigmenwechsel vom System zum Netzwerk – Von Connected Health und Naked Conversation

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Wir leben in einer vernetzten Welt. Netzwerke sind Zeitgeist, Ausdruck der Denk- und Fühlweise unserer Gesellschaft.Netzwerke haben ihre ganz eigenen Normen und Werte. Und weil ja bekanntlich das Medium gleichzeitig auch die Botschaft ist, lohnt es sich, etwas genauer hinzuschauen.

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Wie in allen Gesellschaftsbereichen erleben wir auch beim Thema Gesundheit einen Para-digmenwechsel: Die Auseinandersetzung mit den Themen Gesundheit und Krankheit geschieht heute immer weniger isoliert zwi-schen Arzt und Patient, sondern zunehmend in einem komplexen Netzwerk unterschiedlichs-ter Akteure. Die Organisationen im Gesund-heitswesen wandeln sich von geschlossenen «Systemen» zu offenen «Netzwerken».

Netzwerke sind nichthierarchische, sozio-technische – also aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren bestehende – kom-plexe Gebilde, die ihre ganz eigene Dy namik

und ihre eigenen Normen und Prinzipien haben. Diese Normen sind: Konnektivität und Flow, Kommunika tion, Transparenz, Parti-zipation, Authentizität und Menschlichkeit, Variabilität und Heterogenität. Und sie sind mehr als Schlagworte: Sie sind eine Realität unseres Zeitalters. An diesen Normen und Werten werden heute Personen und Organisa-tionen, Dienstleistungen, Produkte und Kon-versationen im Bereich von Gesundheit und Krankheit gemessen.

Konnektivität und Flow Die ersten zwei Netzwerknormen Konnektivi-tät und Flow meinen so viel wie «vernetze dich und lass Informationen fliessen». Konnektivi-tät bedeutet, dass wir heute – ganz im Sinne des antiken Ideals der Bibliothek von Alexan-dria – Zugang zu allem Wissen der Welt haben. Wer etwas wissen will, schaut im Internet nach. Das ermöglicht in zehn Sekunden, wozu frü-her der Gang zur Bibliothek nötig war. Durch die Allgemeinverfügbarkeit von Informati-onen und Wissen werden alte Besitzstände

wertlos, die Gesellschaft teilt sich neu auf und lässt sich nicht mehr einfach durch bisher gültige Mechanismen, etwa Experten-Laien-Unterscheidungen, verwalten und regieren. In einem Netzwerk kann jeder Akteur, auch Patienten und Laien, zu einem «Hub» wer-den, wenn die Kompetenz stimmt. Und über die Kompetenz entscheidet das Netzwerk. Tradiertes, sogenanntes kristallines Wissen verliert immer mehr an Bedeutung. Stattdes-sen zählt, wie souverän man mit dem überall verfügbaren Wissen im Netzwerk umgeht. Konnektivität im Gesundheitswesen bedeutet aber auch, dass Patienten und Gesundheits-konsumenten nicht als isolierte, sondern ver-netzte Individuen zu betrachten sind.

Netzwerke haben eine fliessende Dyna-mik und kennen keine Grenzziehungen wie klassische Systeme. Wissen, das in Netzwer-ken fliesst, ist nie vollständig identifizier- oder erfassbar. Man muss sich darauf einlassen, dass permanent Interaktionen und Kräfte zur Wirkung kommen, die sich nicht nach den Organisationsmustern der Hierarchie richten.

thema

Prof. Dr. andréa Belliger ist Pro -rektorin der PHZ Luzern und Leiterin des IKF. Sie leitet den CAS «eHealth – Gesundheit digital».

Paradigmenwechsel vom System zum Netzwerk – Von Connected health und Naked ConversationWir leben in einer vernetzten Welt. Netzwerke sind Zeitgeist, Ausdruck der Denk- und Fühlweise unserer Gesellschaft. Netzwerke haben ihre ganz eigenen Normen und Werte. Und weil ja bekanntlich das Medium gleichzeitig auch die Bot-schaft ist, lohnt es sich, etwas genauer hinzuschauen. Andréa Belliger

Bild: Fotolia

04/2013 © netzmedien ag 24

SChwerPuNKt: e-health

themaSCHWerPUNKt: e-HeALtH

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Das kann zur Folge haben, dass zum Beispiel vernetzte Patienten über mehr Informationen oder besseren Zugang zu Wissensressourcen und Expertennetzwerken verfügen als nicht-vernetzte Health Professionals.

Hinsichtlich dieser fliessenden Dyna-mik könnte man von so etwas wie «Seamless Health» sprechen. Ein Kontinuum der Ausei-nandersetzung mit Gesundheit und Krank-heit, das nicht an den Grenzen des Spitals oder der Arztpraxis haltmacht, sondern sich über verschiedene Orte, Zeiten, Technolo-gien und soziale Settings formell oder infor-mell hinwegbewegt. Hier spielt der Trend zu M-Health eine grosse Rolle. Inzwischen sind über 40 000 Gesundheits-Apps auf dem Markt. Die US-Bundesbehörde zur Überwachung von Nahrungs- und Arzneimitteln (FDA) erwog 2011 die Einführung eines Genehmigungspro-zesses für alle neu veröffentlichten Apps im Bereich Gesundheit. Und britische Ärzte ver-schreiben Apps wie Medikamente. Dienstleis-tungen wie E-Visit, E-Beratung, E-Coaching und E-Prescription sind auf dem Vormarsch. Auch sind folgende Themen im Trend: intelli-gente, sprachgesteuerte mobile Technologien; das medizi nische «Internet der Dinge», beste-hend aus intelligenten Artefakten, die mitein-ander kommunizieren können; Gamification im Bereich von Gesundheitsanwendungen; medizinische Sensoren, sogenannte Transient Electronics, die vom Körper nach getaner Arbeit absorbiert werden; AI- Systeme, die die medizinische Entscheidungsfindung unter-stützen; Neurowear und Ambient-Assisted-Living-Konzepte wie etwa die «Granny-Pods», kleine, modulare, medizinisch ausgestattete Hightech-Häuser für Senioren als Alternative zum Altersheim.

Die Auseinandersetzung mit dem Thema Seamless Health bedeutet aber auch, dass wir uns Gedanken darüber machen, wie unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen Orte und Räume für Gesundheit und Krank-heit im Sinne einer «Healing Architecture» aussehen sollten.

KommunikationNetzwerke verlangen über Konnektivität und Flow hinaus eine offene, selbstkritische, res-pektvolle und ehrliche Kommunikation. Ein-wegkommunikation ist Old School. Einige Institutionen im Gesundheitswesen haben diese Tendenz erkannt und kommunizieren via Social Media mit den Patienten und ihren Angehörigen. In der Schweiz werden die neuen Medien noch sehr wenig genutzt, der Tipping Point ist noch nicht erreicht, obwohl die Kom-munikation mit Pflegenden als Hauptgrund für die Patientenzufriedenheit genannt wird.

Ein grosser Trend im Bereich der Kommunika-tion geht Richtung Videokommunikation im Bereich Patient Education und im Sinne von E-Visits.

An Grenzen stiess die «Naked Conversa-tion» der Pharmaindustrie: Ab 2011 galten nämlich neue Nutzerregeln für Facebook-Konten. Neu mussten Firmen Kommentare auf ihren Facebook-Seiten zulassen. Die Reak-tion: Mehr als 30 Unternehmen löschten ihre Facebook-Auftritte ganz. Sie fürchteten nicht nur Kommentare enttäuschter Patien ten, son-dern öffentliche Beschreibungen von Medika-mentennebenwirkungen. Hier stellt sich die Frage, ob die Gesetzgebung wirklich noch jene Werte schützt, die unserer Gesellschaft heute wichtig sind.

transparenzTransparenz ist auch eine Grundnorm der Netzwerkgesellschaft. Wer heute als Firma, aber auch als Person nicht transparent ist, ist suspekt. Wenn zum Beispiel Pharmamitarbei-tende auf Wikipedia scheinbar anonym nega-tive Medikamenteneinträge bereinigen, fliegt das sehr schnell auf.

Das Thema Transparenz hat ganz unter-schiedliche Facetten und reicht von Online-Ratingsystemen von Spitälern, Arztpraxen und Kassen über ein neues Verständnis von Pri-vacy und Publicy, was zu einem veränderten Umgang mit den eigenen Gesundheitsdaten führt (Data Donation durch Patienten, Forde-rung nach selbstbestimmtem Umgang mit den eigenen Gesundheitsdaten). Auch die Ansätze der Quantified-Self-Bewegung, der Crowd-sourced- und Crowdfunded-Forschung, das Boom-Thema «Big Data» und die Herausfor-derung, diese Daten im Sinne von Health Data Analytics und Datenvisualisierung zu interpre-tieren und durch «Smart Data Governance» anzuwenden, sind Teil dieser Netzwerknorm. Ein weiteres wichtiges Thema ist «Openness» in all seinen Facetten wie etwa Open Source Drug Discovery, Open Source Biomedical Research, Open Notes (Offenlegung von ärztlichen Noti-zen für Patienten) und Open Publication von Forschungsergebnissen und Datensätzen in Zeitschriften wie PlosOne oder Cureus.

PartizipationDas Credo der Netzwerkgesellschaft «nicht Wissen und Informationen hüten, sondern Wissen und Informationen teilen» führt zu neuem Wissen. Das gilt auch für unsere Gesundheitsdaten. Wir teilen, weil wir einen Vorteil darin sehen. Teilen ist eine soziale Handlung: sie verbindet uns, stellt Beziehun-gen her, bildet Vertrauen, Fremde werden zu Freunden. Für das Thema Gesundheit und

Krankheit bedeutet diese Norm, dass Kon-zepte wie partizipative Medizin und Shared Decision Making in den Vordergrund rücken. Nach dem Credo «let patients help» sieht die partizipative Medizin den Patienten als Part-ner und vertraut auf dessen Vermögen, die neuen, vernetzten Technologien eigenver-antwortlich und systematisch mit Blick auf den für ihn adäquaten Umgang mit seiner Gesundheit und Krankheit einzusetzen. Der EU-Aktionsplan 2012-2020 zur Nutzung digi-taler Lösungen im Gesundheitssystem bringt es auf den Punkt: «Putting patients in the driving seat.» Partizipative Medizin geht vom Grundprinzip des «Shared De sicion Making» aus, einer spezifischen Form der Interaktion, die auf geteilter Information und gleichbe-rechtigter Entscheidungsfindung zum Beispiel bezüglich Diagnose und Therapie basiert.

authentizität und menschlichkeitAuthentizität und Menschlichkeit sind weitere Netzwerknormen. In den sozialen Netzwerken ist klar: Ohne Wirtschaftlichkeit geht es nicht, aber ohne Menschlichkeit geht gar nichts. Im Bereich von Gesundheit und Krankheit zeigen sich diese Netzwerkprinzipen zum Beispiel darin, dass es immer weniger die formal erwor-benen Titel sind, die zählen, sondern die Kom-petenz. Und es ist das Netzwerk, das einem jede Position gibt, wenn die Kompetenz stimmt, sie aber auch genauso schnell wieder nimmt, wenn das nicht der Fall ist. Durch Authentizität und Menschlichkeit werden Netzwerteilneh-mende zu «Hubs». Ihre Kompetenz wird wahr-genommen und ihre Stimme gehört.

heterogenität und Variabilität Heterogenität und Variabilität besagen: Mach dein Netzwerk komplex und heterogen. Eröffne Möglichkeitsräume. Denn Netzwerke sind smart und innovativ, wenn sie hetero-gen und divers sind. Wir sollten deshalb nicht versuchen, die Dinge im Gesundheitswe-sen durch Standardisierung im Namen der Effizienz oder Kostenersparnis einfacher zu machen, sondern eher komplexer. Health Pro-fessionals sollten möglichst das ganze kom-plexe soziale Netzwerk von Krankheit und Gesundheit – online wie offline – in ein umfas-sendes Wissensnetzwerk einbinden.

Netzwerke sind wegen ihrer Heterogeni-tät und Komplexität unkontrollierbar, para-dox, selbstorganisierend und chaotisch. Sie lassen sich nicht top down steuern. Mög-lich ist höchstens eine Art Kontextsteuerung über die Schaffung adäquater Rahmenbe-dingungen – sowohl auf politischer, rechtli-cher, wirtschaftlicher, organisationaler wie zwischenmenschlicher Ebene. <