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Pascals Barometer Marc Eyer 1. Zusammenfassung Warum läuft das Wasser nicht aus dem Glas, das verkehrt aus dem Waschbecken gehoben wird? Ist dafür das Vakuum verantwortlich oder der Luftdruck und wenn ja, was ist das überhaupt? Ein einfaches Alltagsphänomen entführt die Schüler im Lehrstück „Pascals Barometer“ tief in die Wissenschaftsgeschichte des 17. Jahrhunderts. Unter der Führung bedeutender Wissenschaftler (Galilei, Torricelli, Pascal, von Guericke) ergründen die Schüler das Rätsel um das Phänomen und ringen gemeinsam mit den Wissenschaftlern mit der Vorstellung des „Horror Vacui“ und dem Pa- radigma des Luftdrucks. 2. Pascals Sternstunde Die Entdeckung des Luftdrucks kann historisch ins 17. Jahrhundert gelegt werden (Simonyi 2004). In rascher Folge gelangten in dieser Zeit Beschreibungen von Experimenten und Erklä- rungen zu Phänomenen in die wissenschaftliche Öffentlichkeit und regten manchen Wissen- schaftler dazu an, darüber nachzudenken. Die aristotelische Lehre über die Unmöglichkeit des Vakuums (Theorie „horror vacui“) wurde schon durch Galilei kritisiert und durch Experimente widerlegt. Bekannt war aus der Bewässerungstechnik längst die beschränkte Anwendbarkeit von Saugpumpen, die nicht in der Lage waren, eine grössere Höhendifferenz als rund 10 Meter zu überwinden. Wo lagen die Gründe dafür? Ist es die Kraft des Vakuums, die beschränkt ist? Licht in die diffusen Vorstellungen über die Wirkung von Vakuum, über das Verhältnis zwischen „Sau- gen“ und „Drücken“ sowie die Gewichtskraft der Lufthülle und allfälliger Auswirkungen davon brachten die Experimente von Torricelli. Er experimentierte mit Quecksilbersäulen, die er in Glasrohren aus Quecksilberbäder zu ziehen versuchte. Er stellte fest, dass die Quecksilbersäulen immer bei einer bestimmten Höhe abrissen und im Gefäss einen „Leerraum“ zurückliessen. Wäh- rend noch Galilei damit argumentierte, dass das darüber entstehende Vakuum nur eine bestimm- te begrenzte „Haltekraft“ hätte (z. B. Mach 2006), prägte Torricelli ein Paradigma, das nur durch den Geist der neuen Selbstwahrnehmung der Menschen in dieser Zeit möglich war. „Noi viviamo sommersi nel fondo d’un pelago d’aria elementare“ (Walker 2007) – „Wir alle leben am Grunde ei- nes Meeres aus Luft“. Dieses Bild, das sichtbar wird, wenn die anthropozentrische Sichtweise aufgegeben und die Situation aus der Astronautenperspektive betrachtet wird, hat Torricelli da- von überzeugt, dass der Druck, der auf den Menschen lastenden Lufthülle die von ihm untersuch- ten Phänomene erklärt. Diese Sichtweise erforderte ein Standpunktwechsel, ein Lösen von der anthropozentrischen Sichtweise hin zu einer geozentrischen. Dass uns dieser Sichtwechsel heute trotz Globus, Satelliten- und Astronauten-Bildern der Erde immer noch beliebig schwer fällt zeigt, dass sich das Luftdruckkonzept bis heute nicht im Alltag verankert hat. Niemand stellt sich vor, dass beim „Saugen“ an einem Strohhalm die Luft aussen uns das Getränk in die Mundhöhle schiebt! Luft hat Masse und die ganze Lufthülle damit eine Gewichtskraft. Diese lastet auf uns allen und macht, dass die Luft sofort versucht alle Leerstellen auszufüllen. Dies versucht sie mit enormem Druck, dessen Gewalt uns fremd ist. Aber genau so fremd ist uns dessen Endlichkeit und Be- grenztheit. Diese beiden Einsichten, dass es erstens den leeren Raum gibt, dieser aber durch den Druck der Lufthülle mit grosser Gewalt zu verhindern versucht wird und zweitens, dass dieser Druck eben auch Grenzen hat (so kann er eine Wassersäule nicht mehr als 10 Meter heben) ist eine Sternstunde in der Geschichte wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die Art und Weise der Entdeckung des Luftdrucks ist gleichsam ein Lehrstück in wissenschaftli- cher Forschung. Das bilden von Hypothesen, Entwickeln und Weiterentwickeln von Experimen- ten, Überprüfen, Verwerfen oder Anpassen von Hypothesen und schließlich das Einbinden von gewonnener Erkenntnis in eine neue Theorie ist an diesem Beispiel exemplarisch.

Pascals Barometer - Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V. · (Galilei, Torricelli, Pascal, von Guericke) ergründen die Schüler das Rätsel um das Phänomen und ringen gemeinsam

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PascalsBarometerMarcEyer1. ZusammenfassungWarumläuftdasWassernichtausdemGlas,dasverkehrtausdemWaschbeckengehobenwird?IstdafürdasVakuumverantwortlichoderderLuftdruckundwennja,wasistdasüberhaupt?Eineinfaches Alltagsphänomen entführt die Schüler im Lehrstück „Pascals Barometer“ tief in dieWissenschaftsgeschichtedes17.Jahrhunderts.UnterderFührungbedeutenderWissenschaftler(Galilei,Torricelli,Pascal,vonGuericke)ergründendieSchülerdasRätselumdasPhänomenundringengemeinsammitdenWissenschaftlernmitderVorstellungdes„HorrorVacui“unddemPa-radigmadesLuftdrucks.2. PascalsSternstundeDieEntdeckungdesLuftdruckskannhistorischins17.Jahrhundertgelegtwerden(Simonyi2004).InrascherFolgegelangtenindieserZeitBeschreibungenvonExperimentenundErklä-rungenzuPhänomenenindiewissenschaftlicheÖffentlichkeitundregtenmanchenWissen-schaftlerdazuan,darübernachzudenken.DiearistotelischeLehreüberdieUnmöglichkeitdesVakuums(Theorie„horrorvacui“)wurdeschondurchGalileikritisiertunddurchExperimentewiderlegt.BekanntwarausderBewässerungstechniklängstdiebeschränkteAnwendbarkeitvonSaugpumpen,dienichtinderLagewaren,einegrössereHöhendifferenzalsrund10Meterzuüberwinden.WolagendieGründedafür?IstesdieKraftdesVakuums,diebeschränktist?LichtindiediffusenVorstellungenüberdieWirkungvonVakuum,überdasVerhältniszwischen„Sau-gen“und„Drücken“sowiedieGewichtskraftderLufthülleundallfälligerAuswirkungendavonbrachtendieExperimentevonTorricelli.ErexperimentiertemitQuecksilbersäulen,dieerinGlasrohrenausQuecksilberbäderzuziehenversuchte.Erstelltefest,dassdieQuecksilbersäulenimmerbeieinerbestimmtenHöheabrissenundimGefässeinen„Leerraum“zurückliessen.Wäh-rendnochGalileidamitargumentierte,dassdasdarüberentstehendeVakuumnureinebestimm-tebegrenzte„Haltekraft“hätte(z.B.Mach2006),prägteTorricellieinParadigma,dasnurdurchdenGeistderneuenSelbstwahrnehmungderMenschenindieserZeitmöglichwar.„Noiviviamosommersinelfondod’unpelagod’ariaelementare“(Walker2007)–„WirallelebenamGrundeei-nesMeeresausLuft“.DiesesBild,dassichtbarwird,wenndieanthropozentrischeSichtweiseaufgegebenunddieSituationausderAstronautenperspektivebetrachtetwird,hatTorricellida-vonüberzeugt,dassderDruck,deraufdenMenschenlastendenLufthülledievonihmuntersuch-tenPhänomeneerklärt.DieseSichtweiseerforderteeinStandpunktwechsel,einLösenvonderanthropozentrischenSichtweisehinzueinergeozentrischen.DassunsdieserSichtwechselheutetrotzGlobus,Satelliten-undAstronauten-BildernderErdeimmernochbeliebigschwerfälltzeigt,dasssichdasLuftdruckkonzeptbisheutenichtimAlltagverankerthat.Niemandstelltsichvor,dassbeim„Saugen“aneinemStrohhalmdieLuftaussenunsdasGetränkindieMundhöhleschiebt!LufthatMasseunddieganzeLufthülledamiteineGewichtskraft.Dieselastetaufunsallenundmacht,dassdieLuftsofortversuchtalleLeerstellenauszufüllen.DiesversuchtsiemitenormemDruck,dessenGewaltunsfremdist.AbergenausofremdistunsdessenEndlichkeitundBe-grenztheit.DiesebeidenEinsichten,dasseserstensdenleerenRaumgibt,dieseraberdurchdenDruckderLufthüllemitgrosserGewaltzuverhindernversuchtwirdundzweitens,dassdieserDruckebenauchGrenzenhat(sokannereineWassersäulenichtmehrals10Meterheben)isteineSternstundeinderGeschichtewissenschaftlicherErkenntnisse.DieArtundWeisederEntdeckungdesLuftdrucksistgleichsameinLehrstückinwissenschaftli-cherForschung.DasbildenvonHypothesen,EntwickelnundWeiterentwickelnvonExperimen-ten,Überprüfen,VerwerfenoderAnpassenvonHypothesenundschließlichdasEinbindenvongewonnenerErkenntnisineineneueTheorieistandiesemBeispielexemplarisch.

3. DieErforschungdesLuftdrucksalsUnterrichtseinheit–einLehrstückDasLehrstückPascalsBarometergründetaufeinerUnterrichtsvorlagevonMartinWagenschein(Wagenschein2002),dieinerstenFassungenvonUeliAeschlimannundHansChristophBerg(Aeschlimann1997)ausgearbeitetwurde.DieWeiterentwicklungdieserUnterrichtsvorlagenzumLehrstück„PascalsBarometer–freinachMartinWagenschein“wurde2013publiziert(Ey-er/Aeschlimann2013).InderfolgendenÜbersichtsinddieeinzelnenUnterrichtssequenzen(Ak-te)desLehrstücksdargestellt.Diesesindzeitlichunterschiedlichumfassend.Dieseverschiede-nenEinheitenwerdenimfolgendenKapitelausführlicherbeschrieben.DieBeschreibungensindzumTeilwörtlichdererwähntenPublikationEyer/Aeschlimann(2013)entnommen.Übersicht

Beschränkte Kraft des Vakuums Schüler- und Demo-Experiment

Theorie des horror vacui GALILEO GALILEI

Hat die Luft ein Gewicht? Demo-Experiment

Theorie des Luftdrucks EVANGELISTA TORRICELLI

Wasserglasexperiment Sokratisches Gespräch

Eröffnung, Exposition des Phänomens WIR (KLASSE)

Der lange Wasserschlauch Großexperiment

Entwicklung des Phänomens GASPARO BERTI

Besteigung des Puy de Dôme Literatur und Experiment

Die Entscheidung für den Luftdruck BLAISE PASCAL

Die Kraft des Luftdrucks Demo-Experimente Paradigmenwechsel OTTO VON GUERICKE

Die Schlussrunde Diskussionsrunde

Überblicken des Weges der Erkenntnis BERTI, GALILEI, TORRICELLI, PASCAL, GUERICKE

WIR

HORROR VACUI LUFTDRUCK

4. KurzbeschreibungdereinzelnenAkte

Eröffnung–DasExperimentmitdemWasserglas

DenBeginnfolgtdemsogenanntensokratischenGespräch,fürwelchesdasBildvonMartinWa-genscheinmitseinenStudierendenexemplarischgewordenist(vgl.Abb.1).ImFokusstehtdasExperimentmit demWasserglas, das den Schülernmöglichst nahe und anschaulich exponiertwird.DazugruppiertsichdieKlasseumeinenTisch,aufdemeinzudreiViertelnmitWasserge-fülltesWaschbeckenundeinhohesTrinkglas(Bierglas)bereitgestellt sind.DieSchülermüssensostehenodersitzen,dasssieallebequemaufdasWasserbeckenblickenundindieserPositionaucheinigeZeit ausharrenkönnen.DieLehrpersonbeginntnun inderArtWagenscheinsetwaso: „Sie haben alle schonmal Gläser gespült, nicht? Ist Ihnen diese eigenartige Tatsache dabeiauchschonmalaufgefallen?“DieLehrpersontauchtdasGlasvollkommeninsWasserbeckenundziehtesvorsichtig,dieÖffnungdesGlasesimmerunterWasser,verdrehtausdemWasserbecken.DasWasserkommtmit,fliesstnichtausdemGlas,obwohlesdieWasseroberflächedesWassersimWaschbeckenlängstüberstiegenhat.„Wasistdalos?WarumläuftdasWassernichtausdemGlasinsBecken?“Ausdiesemerstaunlichen,jetztwiederentdecktenAlltagsphänomenentwickeltsich die ganze erste Unterrichtssequenz. Die Schüler erkunden das Phänomenmit Fragen,mitaufgestellten und wieder verworfenen Hypothesen so umfassend, dass nach der Sequenz alleintrinsischdaraninteressiertsind,demSachverhaltdesPhänomensaufdenGrundzugehen.ImVerlaufedesGespräches tauchenVorschläge zurErweiterungdesExperiments auf. Einigenkannspontannachgegangenwerden,andereerfordernetwasVorbereitungszeit.SozumBeispieldasExperimentmitdemlangenSchlauch,mitdemuntersuchtwerdensoll,wiehochdenneineWassersäule „auseinemBecken“gezogenwerdenkann(vgl. folgendesKapitel „Der langeWas-serschlauch“). Vor allem aber tauchenwährenddesGesprächs zwei Erklärungsansätze für dasPhänomen auf: Das Konzept „horror vacui“ und das Konzept des Luftdrucks. Beide Konzeptewerden durch die Schüler in verschiedenen Ansätzen mehrmals formuliert. Luftdruck: „DerDruckdurchdieAussenluft auf dasWasser imBecken verhindert einAusfliessendesWassersausdemGlas!“Horrorvacui:„DieNaturlässtkeinVakuumzuoderversuchtzumindest,esheftigzuverhindern.WassolltedennimGlassein,wenndasWasserherausfliesst?“

DerlangeWasserschlauch

Inder zweitenSequenzwidmet sichdieKlassedemWasserschlauchexperiment.Die IdeedazuwurdeimVerlaufedessokratischenGesprächsinderKlasseentwickelt.DieSchülerhelfeneinandergegenseitig,daseindrücklicheExperimentdurchzuführen.Einvoll-kommenmitWassergefülltertransparenterSchlauchvonetwazwölfMeternLängeliegtaufge-

Abbildung 1: Martin Wagenschein beim Bierglas-Experiment im Sokratischen Gespräch mit Lehrperso-nen.

rollt ineinemmitWassergefülltenBecken.DaseineEnde liegtoffen imBecken,dasandere istfestverschlossen.AmgeschlossenenEndewirdeinelangeSchnurbefestigt,womitderSchlauchdannimTreppenhausnachobengezogenwerdenkann.ZweiSchülersinduntenbesorgt,dasof-feneEndedesSchlauchsimBeckenunterWasserzuhalten.DieanderenziehendenSchlauchimTreppenhaushoch;dasWassersteigtmit.BeietwazehnMeternbleibtaberdasWasserplötzlichstehenundBlasenbildensichimWasser.WarumbleibtdasWasserstehen?WoherkommendieBlasenimWasser?WasistimentstehendenRaumüberdemWasser?DasExperimentbildeteineEtappeaufdemWegzurKlärungderFrage,mitwelcherderbeidenTheoriendasPhänomenerklärtwerdensoll.AbschließendeErklärungensindindiesemStadiumweder für dasWasserschlauchexperiment noch für das PhänomenWasserglas gefragt. Die Be-obachtungenwerdenaber festgehalten: „DasWasser löstsichbeietwazehnMeternvomSchlau-chende, dasWasser bleibt stehen.DasWasser bringt Blasen hervor.Es bildet sich ein LeerraumüberdemWasser.BeimHerunterlassendesSchlauchsfülltsichderLeerraumwiedermitWasser.“Nachder erfolgreichenDurchführungdesExperimentswerdendie Schüler damit konfrontiert,dasssiemitihrenIdeenundVorstellungennichtalleinestehen,sondernsicheinreihenindieGe-schichte derWissenschaft.GasparoBerti hatte in den StrassenRomsum1640mit zehnMeterhohenGlasrohrenundWasserexperimentiertunddasgleichePhänomenstudiert.

DiebeschränkteKraftdesVakuums

InderfolgendenLektionsetztsichdieKlassemitderLektürevonGalileis„Discorsi“auseinander(Galilei2004/1638).Erbeschreibtdarin seineTheorieder „beschränktenKraftdesVakuums“.ZwaristerandersalsetwadieAristotelikerderMeinung,dassesdurchauseinVakuum(dieLee-re)gibt,allerdingsmusszurErzeugungeinersolchenLeereeineKraftaufgewendetwerden.DieKraftdesVakuums,mitderdieses sich selbst zuverhindernversucht, kanngemessenwerden.Die Schülermessen sie:MitPlastikspritzenundWasser erkunden sie „dasVakuum“. FülltmandieSpritzezurHälftemitWasserundverschließtdieSpritzenöffnungvornemitdemDaumen,solässtsichdurchkräftigesZiehenderKolbenetwasherausziehen.ErneutdieFrage:Wasbleibtimsich öffnenden Raum? Leere? Wasserdampf? Luft, die sich aus demWasser «gelöst» hat? DieSchülerentdeckenselber,dassderKolbenderSpritzeblitzschnellzurückschnellt,wennsiedie-sen loslassen.DerLeerraumverschwindetaugenblicklich.KannsichausdemWasserausgetre-teneLuftsoraschwieder imWasser„verkriechen“?VorerstbleibtdieHypotheseimRaumste-hen,dasssichbeimZiehendesKolbenstatsächlicheinluftleererRaumbildet.DieKlasse folgt nunderBeschreibungGalileis zurBestimmungderKraft, die nötig ist, umeinVakuumzuerzeugen.DazuwirdeinAusschnittausden„Discorsi“gelesen,inwelchemderPro-tagonistSalviatiseinenKollegenSagredoundSimpliciodasExperimenterklärt.DieResultateausdenExperimentenwerfenneueFragenundUnsicherheitenauf:WarumspieltesfürdieKraftkeineRolle,wievielVakuumerzeugtwird?WarumhängtdieKraftandererseitsdavonab,welcheQuerschnittsflächedieSpritze(dasVakuum)hat?

HatdieLuftein„Gewicht“?

DieTheoriedes„horrorvacui“wirdvorläufigsostehengelassenunddieKlassewendetsichwie-derderFragenachdemLuftdruckzu:WennderLuftdruckdasAusfließendesWassersausdemGlasverhindernsoll,somussdieLuft jaeinbeträchtlichesGewichthaben,umeinensogroßenGegendruckzuerzeugen.SchonfastalsSelbstverständlichkeitwirdhierangenommen,dassdieLufttatsächlicheineGewichtskrafthat.Istdaswirklichso?Undwennja,wiegroßistdiese?Istesmöglich,siezumessen?Wiederum liegt bei Galilei die Beschreibung eines Experiments vor,wie die Gewichtskraft derLuft gemessenwerden kann. Das Experiment lässt sich, genauwie beschrieben,mit geringem

Aufwanddurchführen.DieKlassebestimmtsodieDichtederLuft.UmdieBedeutungdiesesRe-sultates zu konkretisieren, werden als Beispiel die Masse und die Gewichtskraft der Luft imSchulzimmer berechnet. Das Resultat beeindruckt! Die Luftdrucktheorie rückt dadurch in einneuesLicht.LuftkannalsoeinebeträchtlicheKraftaufdieUmgebungausüben.SofortwirftdasErgebnisaberauchneueFragenauf:WieertragenwirMenschendieGewichtskraftderganzenLuft?WievielLuftgibtesdenninderganzenAtmosphäre?ImUnterrichttauchteineweiterehistorischePersönlichkeitauf,dievorgeschlagenhat,dieWas-sersäuleimGlasdurcheinesolcheausQuecksilberzuersetzen:EvangelistaTorricelli.Quecksil-berhateinedeutlichgrößereDichtealsWasserundeineQuecksilbersäulesolltedaherdieKraftdesVakuumsbzw.dieKraftdesLuftdrucksbereitsbeigeringererMächtigkeitüberwinden.Im Unterricht wird ein altes Quecksilber-Barometer studiert. Es funktioniert genau nach demPrinzipdesWasserglas- bzw.desWasserschlauchexperimentes,mit demUnterschied, dassdieQuecksilbersäulebereitsbeietwa73ZentimeterneineGewichtskrafthat,dieausreicht,umdie„KraftdesVakuumszuüberwinden“bzw.denentgegenhaltendenLuftdruckauszugleichen.Tor-ricelliwareinvehementerVerfechterderLuftdrucktheorie.AufgrundeinerVielzahlverschiede-nerExperimente,dieermitQuecksilbersäulengemachthat, ist er zuderÜberzeugunggekom-men, dass die Theorie des „horror vacui“ eine falsche Vorstellung der Gegebenheiten schafft.TorricellizeichneteeineindrücklichesBildseinerSichtweise: „WirMenschen lebenamGrundeeinesMeeresausLuft!“(Walker2007).AllebisherbeschriebenenEffekteseienzurückzuführenaufdenSchweredruckderimmensenLuftsäule,anderenGrundwirleben.

DieBesteigungdesPuydeDôme

DieQuecksilbersäuleunddieExperimentevonTorricellierbrachtennochkeinenBeweisfürdieWirkungdesLuftdrucks.Dazubedurftees inderEntdeckungs-GeschichtedesLuftdruckseinesweiterengenialenKopfs:BlaisePascal.ImJahre1647beauftragtedieserseinenSchwagerPériermit einemExperiment:Er sollemit einemmitQuecksilber gefülltenRohr,wie esTorricelli fürseineExperimenteverwendethatte,vonClermont-FerrandausaufdenPuydeDômesteigenunddabeigenaudenPegelderQuecksilbersäulebeobachten.FallsderLuftdruckbeidemExperimenteineRollespielte,solltesichbeimBesteigendesBergesetwasverändern,dajaderLuftdruckaufdemBerggeringerseinwürdealsinClermont-Ferrand.DerOriginaltextdesBriefwechselswirddenSchülernvorgelegt.Eswirdeinevereinfachte(aberimmer noch in französisch verfasste) Zusammenfassung davon gelesen, bereit steht auch dievollständige deutscheÜbersetzung. Auch dieses Experiment, das historisch denDurchbruch inderFragenachderBedeutungdesLuftdrucksgebrachthat,sollimUnterrichtinszeniertwerden.ZwargibtesanderSchulekeinegeeignetenInstrumente,umdasExperimentamnahegelegenenHausbergwanderndnachzuvollziehen(dasQuecksilberbarometeristvielzulabilundzuschwer,umdamitumherzuwandern).SoführenwirdasExperiment imSchulhausselberdurch,wowireinenHöhenunterschiedvonetwa20Meternüberwindenkönnen.DasExperimentscheintdenBeweiszuerbringen.DerPegelimRohrsinktumetwa2mm(beiPascalwarenesetwa9cm)!Die Schüler sollen jeder für sich schriftlich ausformulieren,welcheErkenntnis dasExperimentvonPascalgebrachthat.

DieKraftdesLuftdrucks

OttovonGuericketrittals letzterderWissenschaftler imUnterricht inErscheinung.Erbrachtedie Kunst der öffentlichen Inszenierung naturwissenschaftlicher Experimente auf einen neuenHöhepunkt. Seine Faszination für die neuen Erkenntnisse rund um den Luftdruck schwapptraschaufdieSchülerüber.AttraktiveExperimenteundGuerickesErfindungderLuftpumpema-chendieWirkungunddieMachtdesLuftdruckserfahrbar.Es lohntsichhier,eineLektionlangmiteinerVakuumpumpezuexperimentierenundzuspielen:DasZentrumbildendieMagdebur-ger Halbkugeln, und dazu gehört blühend erzählt die Geschichte der Inszenierung des Experi-

mentesdurchGuerickeinMagdeburg.FernerwirddasVerhaltenvonverschiedenenDingenun-terderVakuumglockeuntersuch:einBallon,einGlasWasser,einSchokokussusw.

DieSchlussrunde

Den letztenHöhepunkt derWanderung durch dieWissenschaftsgeschichte bildet die abschlie-ßende Gesprächsrunde mit den fünf Wissenschaftlern Berti, Galilei, Torricelli, Pascal und vonGuericke. Sie soll gleichzeitig einen Überblick über den vollzogenen Erkenntnisprozess geben.DieSchülerschlüpfenindieRollederWissenschaftlerundversuchen,ausderenWartedasAus-gangsphänomen (Wasser imWasserglas) zu erklären. Ein aufmerksamesPublikum stellt dabeikritischeFragen.AlleExperimente,die imLehrstückeinezentraleRollespielen,sindnochmalspräsent.DieDiskussionwird nach40Minutenunterbrochen.NachdemnunOtto vonGuerickedie Luftpumpe erfunden hat und scheinbar klar ist, dass der Luftdruck für das Verharren desWassers imGlas verantwortlich ist, soll dies nun auf sehr direkteWeise experimentell gezeigtwerden. Dramaturgisch hat dieses abschließende Experiment die Bedeutung des „Finales“ imLehrstück. Eine verkleinerte Version des BeckensmitWasserglas, ein Reagenzglas in kleinemWassergefäß,gehaltenvoneinemStativ,wirdunterderVakuumglockeevakuiert.EinähnlichesExperimenthatum1670auchRobertBoyledurchgeführt.Obwohlodergeradeweilallezuwis-senglauben,wasgeschehenwird,herrschtgroßeSpannung.UndtatsächlichbeginntdasWasserausdemGlasauszufliessen,nachdemdieVakuumpumpeeineWeilekräftigLuftabgepumpthat!

Nachspiel

DasLehrstückendetdamit,dassdieSchülerdenAuftragerhalten, inDreier-bisVierergruppeneinDIN-A0-PosteralsDenkbildzugestalten,aufwelchemderganzeUnterrichtzumBarometerundvorallemdiewichtigstenErkenntnisse,festgehaltensind.EineWochespäterschreibendieSchülereinePhysikprüfungüberdenInhaltdesLehrstücks.DaimganzenUnterrichtkaumgerechnetwurde,istdiePrüfunggeprägtdurchqualitativeFragestel-lungen. Die Schüler sollen aber auch in der Lage sein, Transferleistungen zu erbringen. So be-stehteineAufgabezumBeispieldarin,dieFunktionsweisedes imUnterrichtniebesprochenenGoethe-Barometerszuerklären.ZweiMonatenachder InszenierungdesLehrstückswerdendie Schülermit einemFragebogenbefragt.Siesollensichdazuäussern,wie ihnendasLehrstück insgesamtundwie ihnendieun-terschiedlichenSequenzengefallenhaben.Erfragtwirdaberauch,was ihnenbesondersgeblie-benistundobsiedieGrundfrage,umwelchesichdasLehrstückgedrehthat,nochkennen.Die-sesFeedback ist füreineAuswertungenormwichtig.SinddieLernzielemitdemLehrstücker-reichtworden?Wasmussverbessertwerden?WohabensichdieSchülergelangweilt?5. BlitzlichterausdemUnterrichtImsokratischenGesprächversuchtdieLehrpersondasPhänomenbestmöglichzuexponierenumdieSchüleranzuregen,überihreVorstellungenzuerzählenunddiesegegenseitigzudisku-tieren(Abb.2).DieLehrpersonhatdabeigenügendExperimentiermaterialzurHand,umspon-tanaufVorschlägeundAnregungenderSchülerzureagieren(Abb.3).

AneinerSchnurwireinmitWassergefüllterSchlauchamverschlossenenEndedurchdasTreppenhausderSchuleindieHöhegezogen.DasoffeneEndedesSchlauchsbleibtdabeiineinemgefülltenWasserbeckenuntergetaucht,be-wachtvonzweiSchülern.Beietwa10MeternbleibtdasWasserplötzlichstehen(Abb.4).SchülermessennachderVorlageGalileisdie„Vakuums-kraft“.Siefindendabeiheraus,dassdiesevonderQuer-schnittsflächederSpritzeabhängt,diesiedazubenützen,nichtaberetwavonder„Menge“anerzeugtemVakuum(Abb.5aund5b).

Abbildung 2: Das Sokratische Gespräch mit Schülern rund um das Experiment mit dem Wasserglas.

Abbildung 3: Das Experiment mit dem Wasserglas wird auf Vor-schläge der Schüler hin erweitert.

Abbildung 4: Das Experiment mit dem lan-gen Wasserschlauch im Treppenhaus des Schulhauses.

Abbildung 5a: „Wie stark ist das Vakuum?“ Schüler experimentieren nach der Vorlage Galileis.

Abbildung 5b: Wovon hängt die Vakuums-kraft ab?

InderRollederverschiedenenWissenschaftler(Berti,Galilei,Torricelli,PascalundvonGueri-cke(nichtimBild))diskutierendieSchülerdieLösungdesRätselsumdasWasser,dasnichtausdemGlasläuft.JederWissenschaftlerar-gumentiertinseinerSichtweise.DierestlichenSchülerbildendasaufmerksamePublikumundunterbrechendieDiskussionmitkritischenFragen(Abb.6).DasFinalederUnterrichtseinheitbildetdasExperimentvonBoyle,beiwelchemdieLuftumdasverkehrteWassergefässunterderVakuumglockeevakuiertwird.ObwohldieSchülerimPrinzipwissenwasgeschehenwird,istdieSpannunggross.LäuftdasWasserwirklichausdemGlas?Wasgeschieht,wennmandieLuftwiederdazulässt?(Abb.7)6. DidaktischeundmethodischeAnmerkungenLehrstückesindallgemeincharakterisiertdurchdreimethodischeMerkmale;siesinddramatur-gisch,exemplarischundgenetisch(Berg2009).DramaturgischDasLehrstück„PacalsBarometer“habenwirinverschiedene„Akte“eingeteilt.DabeiorientierenwirunsanderGliederungvonWerkenausderMusikoderdemTheaterundgebendamitdem

Abbildung 6: Schüler diskutieren in der Rolle der Wissen-schaftler über den Paradigmenwechsel vom „horror vacui“ zum Luftdruck.

Abbildung 7: „Also, ist es wirklich wahr!?“ …das Wasser läuft bei fehlendem Luftdruck aus dem Glas!

LehrstückeineDramaturgie.BeiderKompositiondesLehrstückshabenwiralsodenAnspruch,nichtblossdieGeschichtederEntdeckungdesLuftdrucksnachzuerzählen, sonderndasDramadieserwissenschaftlichenEntdeckungnachzuinszenieren.DieSchülernehmendabeieineaktiveRolleein.SieerlebenihreigenesBildungs-DramabeimNach-entdeckendesLuftdrucks.ImerstenAkt,derEröffnung,begegnendieSchülerdemPhänomen.DieseBegegnunghabenwirinderFormeinesSokratischenGesprächsinszeniert.DasSokratischeGesprächwirdmanchmalmit dem Begriff der „Mäeutik“ (Hebammenkunst oder Geburtshilfe) in Verbindung gebracht.SokratesverwendetedenBegriff imdidaktischenZusammenhang,umdieRolledesGesprächs-leiterszubeschreiben.DieserversuchtdurchgeschicktesFragenund lenkendesGesprächsdieErkenntnisausdemSchülerhervorzuholen.DiePhilosophiedahintergründetaufderAnnahme,dassdieErkenntnisineinemjedenschlummertunddiesedurchgeschicktesUnterrichtenandenTaggebrachtwerdenkann.DadurchdassdieLehrpersondasPhänomen(hierdirTatsache,dassdasWassernicht ausdemGlas läuft)möglichst anschaulichundprägnant (auch sprachlich) inSzene setzt, sollen die Vorstellungen und Präkonzepte zum Sachverhalt aus den Schülern evo-ziert,dasheißthervorgelocktwerden.AnfänglichlenktundführtdieLehrpersondasGespräch,zieht sich dann aber idealerweise immermehr aus derDiskussion zurückundübernimmtnurnochAufgabenderGesprächsführung.VorallemaberdarfdieLehrpersonkeineDenk-undEr-kenntnisprozesse abschneiden, indem sie Fragen beantwortet oder Erklärungen abgibt. BleibtdasGesprächhängenoderstecktesineinerSackgasse,dannkanndieLehrpersonselberInputsgeben,allerdingsgeschiehtdasdurchdenEinbezugderUrheberderGedankengängez.B.inderfolgendenArt:„Vor400JahrenhatsicheinWissenschaftlerdieseFrageauchgestelltunder istnocheinenSchrittweitergegangen:ErwolltewissenobdasExperimentauchgehe,wennerim-mermehr,d.h.einimmergrösseresWassergefässnehmenwürde.WasmeintIhr?Funktioniertdasauch?“DieseVerbindungzurKulturgeschichtegibtdemInhaltdesUnterrichtseineneueDi-mension.DieFragemitderwirunsimUnterrichtbeschäftigenistnichteinevomLehrererfun-deneAufgabe!Während des gesamten Lehrstücks greifen wir immer wieder auf historische Quellen zurück.DieseOrientierunganderKulturgenesederErkenntniseinesSachverhalts ist fürdenErkennt-nisprozesswichtig.WirlassenunsinunserenGedankengängendurchjenedergroßenGelehrtenlenken. Die Kulturauthentizität verschafft unseremWissen einemenschheitsgeschichtliche Di-mension.OftsindLehrpersonenmitutilitaristischenFragenvonSchülernkonfrontiert:„Warummuss ichmathematischableitenkönnen?Wozumuss ich französischeLiteratur lesen?WoundwannbraucheichdasinmeinemLebenjewieder?“DieAntwortendarauflieferteinUnterricht,der kulturhistorische Bezüge schafft. Bildung bedeutet, das gegenwärtige Menschheitswissen,die gegenwärtigen Gesellschaftsnormen (Ethik,Moral, Religion, Lebensphilosophien) und auchdieStaatsformenundWissenschaftssträngebishinzudenLehrplänenderSchuleninihrerkul-turhistorischen Entwicklung zu sehen. Der Schüler soll zur Erkenntnis gelangen: „Ich lebemitmeinenGedanken,meinen Ideen,meinenErkenntnissenundKonzepten in einerhistorisch ge-wachsenenkulturellenGesellschaft,diemichprägtundformtundanderichauchteilhabenunddieichmitprägenundmitgestaltenkannundsoll.“ExemplarischEntsprechendsinddiePhänomeneauchausgewählt,dieinLehrstückenunterrichtetwerden.Siesollen exemplarisch sein, sollen einen Erkenntnisschritt in der (wissenschaftlichen) Mensch-heitsgeschichte (nach Klafki (2007): epochal typisches Menschheitsthema) aufgreifen, an demdas Gelernte auch auf andere Inhalte übertragenwerden kann. Beim vorliegenden Beispiel istdas nicht weniger als das moderne naturwissenschaftliche Denken, Experimentieren undSchlussfolgern an sich.DieEntdeckungdesLuftdrucks alsneueswissenschaftlichesParadigmaist ein exemplarischesStückWissenschaftsgeschichte.Es ist exemplarisch fürdieVeränderungdesWeltbildes in jenerEpoche.DerMenschrückt immermehrausdemZentrumderBeschrei-bung.DieTheorienundErklärungenentziehen sich immermehrderdirektenAnschaulichkeit.UmdieWeltzuverstehen,mussderMenschsichvonseineranthropozentrischenSichtweiselö-sen, einen Schritt zurückmachen, dieWelt von „außerhalb“ betrachten. Dann rückt das „Meer

ausLuft“indenBlick.PlötzlicherscheintallesklarunddeutlichvordemgeistigenAuge.Fürun-sereSchüleristdasheutedeutlicheinfacheralsfürdieMenschenvor500Jahren.SatellitenbilderundAufnahmenderErdevonRaumstationensindbekannt.Schwieriggebliebenist,dieseBildermitdereigenenAnschauungzuverbinden.VonuntenandenHimmelschauenundsichgleichzei-tig vorzustellen, wie das Bild „von außen“ aussieht. Jede Veränderung von Sichtweisen undBlickwinkeln erfordert Sicherheit im eigenen Standpunkt. Umgekehrt findet der Lernende nurVertrauenindeneigenenStandpunkt,wennereswagt,sichzubewegen!GenetischSchließlichistdasLehrstückimmeraucheinStückgenetischenLehrensundLernensimdoppel-tenSinne.DieSchüler leistenwährenddesganzenLehrstücks selberbeträchtlicheErkenntnis-schritte,diesiesichidealerweiseselbererschließen,natürlichunterkundigerAnleitungderAk-teurederKulturgeschichte (Berti,Galilei,Torricelli,Pascal, vonGuericke).DasLehrstück ist sogestaltet, dass es für die Schüler möglich ist, individuell den Weg der Erkenntnis zu gehen,gleichzeitigfolgtesaberderKulturgenesedesInhalts.DieseParallelführungvonIndividualgene-se und Kulturgenese geht davon aus, dass das Erkennen und Erschließen vonWissen unsererSchüler heute nicht anders zu verlaufen hat, als jenes derMenschen insgesamt. Ein typischesBeispiel für dieseGenese ist, dass dieVakuumpumpe imganzenLehrstück erst an jener Stelleauftaucht,nachdemsieimhistorischenVerlauf(vonOttovonGuericke)auchwirklicherfundenwurde,diesobwohlderVorschlageinesolchezuverwendenmöglicherweisevonSchülernschonfrüher gefordertwurde.TauchtdieVakuumpumpe imUnterricht zu früh auf,werdenwichtigeErkenntnisschrittevorweggenommen,wasdieKontinuitätdesLernprozessesunddieDramatur-giedesLehrstücksstört.7. KommentarzurLehrplanpassung

Das LehrstückPascals Barometer passt hervorragend in den Lehrplan der Hydrostatik, die imSchweizer Kanton Bern im 9. Schuljahr vorgesehen ist. Die vorgegebenen Themen „Gewichts-kraft“,„Druckbegriff“,„Kolbendruck“,„Schweredruck“,„hydrostatischesPrinzip“und„Luftdruck“sindallesamtGegenstanddesLehrstücks.AllerdingsliegtdabeidasSchwergewichtnichtaufderformalen Behandlung, sondern auf der inhaltlichen Auseinandersetzung (auf der Bedeutungs-ebene)mit diesen Begriffen. Um denDruckbegriff umfassen zu bilden, sollten aber zum Lehr-stückfolgendeAspekteergänztwerden:

• DruckalsskalareGrößeundDruckkraftalssenkrechtaufOberflächengerichteteGröße• PrinzipderkommunizierendenGefäßeundhydrostatischesParadoxon• Quasi-InkompressibilitätvonFlüssigkeitenundPascalsches(hydrostatisches)Prinzip• Druckeinheiten(Pascal,Bar,mmHg,Torr,PSI)

NebendiesenfachinhaltlichenThemensetzensichdieSchüler implizitauchmitWissenschafts-geschichte undmitwissenschaftstheoretischen Fragen zur Bildung, Validierung und Begrenzt-heit von wissenschaftlichen Paradigmen auseinander. Das Miterleben und Durchdenken einesParadigmenwechsels relativiertdieAbsolutheitwissenschaftlicherKonzepte, zeigtderenDyna-mikundderenkulturellePrägungauf.DieSchülerinnenundSchüler lernenfernerauchdieBe-deutung und den Einsatz des physikalischen Experimentes innerhalb des Erkenntnisprozesseskennen,vorerstallerdingserstineinerrechtenggeführtenArt.8.Stichwort„Lehrkunstdidaktik“DievonHansChristophBergundTheodorSchulzeabMitteder1980er-JahreentwickelteLehr-kunstdidaktik(vgl.Berg/Schulze1995)basiertaufMartinWagenscheinsgenetischerMethodeundseinenexemplarischen,fürdieFächerMathematikundPhysikskizziertenUnterrichtsbei-spielen.SiebefasstsichmitwissenschaftlichoderkulturellbedeutendenEreignissen,welchedie

SichtaufKultur,KunstundWissenschaftmaßgeblichverändertundbeeinflussthabenundbisheutegelten.ImLehrstückunterrichtwerdendieSchülerinnenundSchülerindieAusgangslagefrühererEntdecker,UrheberoderAutorenversetzt,vonwelcheraussie„nach-entdeckend“dieWegezueinerEntdeckung,einerErfindungodereinemgeschaffenenWerkimeigenenLern-undBildungsprozesserleben(Wildhirt2008,63).EinLehrstückisteineinsichgeschlossenemehr-dimensionaloderinterdisziplinärangelegteUnterrichtseinheit,dieeinenvollständigenLernzyk-lusumfasst(vgl.Übersichtaufwww.lehrkunst.ch).DieLehrkunstdidaktikistdenbildungstheo-retischenUnterrichtskonzeptionenzuzuordnen(Klafkiab1959;Berg/Gerwig/Wildhirt2013,16f),sieistgleichzeitigtiefindenKlassikernderPädagogikverwurzelt.Lehrstückunterrichtistgleichermaßenerfahrungsorientiert,entdeckungsorientiertundhandlungsorientiert(vgl.Wild-hirt/Jänichen/Berg2015).

LiteraturAeschlimannUeli(1997):PascalsBarometer.In:HansChristophBerg/TheodorSchulze(Hrsg.)(1997):Lehrkunst-

werkstattI.DidaktikinUnterrichtsexempeln.Luchterhand.Neuwied.S.90-116.Berg,HansChristoph;Schulze,Theodor(1995):Lehrkunst.LehrbuchderDidaktik.Luchterhand.Neuwied.Berg,HansChristoph(2009):DieWerkdimensionimBildungsprozess.DasKonzeptderLehrkunstdidaktik;Lehrkunstdi-

daktik,Band1.hep-Verlag.Bern.Berg,HansChristoph;Gerwig,Mario;Wildhirt,Susanne:(2013):Lehrkunstdidaktik2013.WeiteraufdemWegzueiner

konkretenundallgemeinenBildungsdidaktik.In:Zierer,Klaus(Hrsg.):JahrbuchfürAllgemeineDidaktik2013.SchneiderVerlagHohengehren.Baltmannsweiler.S.11-31.

Eyer,Marc;Aeschlimann,Ueli(2013):PascalsBarometer–freinachMartinWagenschein.Lehrkunstdidaktik,Band8.hep-Verlag.Bern.

Galilei,Galileo(2004):UnterredungenundmathematischeDemonstrationenüberzweineueWissenszweige,dieMecha-nikunddieFallgesetzebetreffend:ersterbissechsterTag(1638).HarryDeutsch(OstwaldsKlassikerderexaktenWissenschaften,Bd.11).Frankfurt/Main.

Klafki,Wolfgang(62007):NeueStudienzurBildungstheorieundDidaktik.ZeitgemäßeAllgemeinbildungundkritisch-konstruktiveDidaktik.Beltz&Gelberg.Weinheim.

Mach,Ernst(2006):DieMechanikinihrerEntwicklung.VDM.Saarbrücken.Simonyi,Károly(32004):KulturgeschichtederPhysik,vondenAnfängenbisheute.HarryDeutsch.Frankfurt/Main.Wagenschein,Martin(2002):Erinnerungenfürmorgen.EinepädagogischeAutobiographie.Beltz.Weinheim.Walker,Gabrielle(2007):EinMeervonLuft.BerlinVerlag.Berlin.Wildhirt,Susanne;Jänichen,Michael;Berg,HansChristoph(2015):Lehrstückunterricht.In:Wiechmann,Jürgen;Wild-

hirt,Susanne(Hrsg.):ZwölfUnterrichtsmethoden.VielfaltfürdiePraxis.Beltz-Verlag.Weinheim.S.111-128.ZumAutorProf.Dr.Dr.MarcEyeristDozentfürInterdisziplinaritätundBereichsleiterfürFachdidaktikanderPädagogischenHochschuleinBernsowiePhysiklehreramGymnasiumNeufeldinBern.Erpromovierte2004anderUniversitätBerninPhysikund2013anderUniversitätMarburginEr-ziehungswissenschaften.Seit2001arbeiteterfürdieWeiterentwicklungundAusbreitungderLehrkunstdidaktik.