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Anaesthesist 2013 · 62:473–482 DOI 10.1007/s00101-013-2174-x Online publiziert: 10. Mai 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 I.-U. Grom 1  · D.A. Vagts 2  · U. Kampa 3  · G. Pfeiffer 4  · L. Schreiber-Winzig 5  ·  C.H.R. Wiese 6  · Expertengruppe Palliativ- und Notfallmedizin Akademie für  Palliativmedizin und Hospizarbeit Dresden 1  Akademie für Palliativmedizin und Hospizarbeit Dresden gGmbH, Dresden 2    Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Notfallmedizin, Schmerztherapie,  Palliativmedizin, Krankenhaus Hetzelstift, Neustadt a.d. Weinstraße 3  Klinik für Anästhesiologie, Evangelisches Krankenhaus, Hattingen 4  Klinik für Anästhesiologie, RoMed Kreisklinik Bad Aibling, Bad Aibling 5  Landeskrankenhaus Steyr, Steyr 6  Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum Regensburg, Regensburg Patienten am Lebensende  auf der Intensivstation Kulturelle Aspekte der Begleitung In Krisenzeiten wie der Aufnahme auf eine Intensivstation drängt sich aus kultureller Perspektive die zen- trale Frage auf: Was haben der Pa- tient und seine Angehörigen im Lau- fe des Lebens als gesellschaftliche Werte, Sitten, Moralvorstellungen, Normen und soziale Rollen im Rah- men der Sozialisation und der Erzie- hung internalisiert? Während der Be- rufsalltag im Krankenhaus sich mehr über kurze Informationen, Anweisun- gen und allumfängliche Dokumenta- tion auszeichnet, sind es die Elemen- te der humanistischen Kommunika- tionspsychologie, die – auch als Kul- turmerkmale – in der Begleitung von Schwerstkranken und Sterbenden große Bedeutung haben: Wahrneh- mung und Wertschätzung, Achtsam- keit, Kongruenz, Empathie, Unter- stützung und Pietät. Hintergrund Die Begleitung des Menschen im Ange- sicht seines Sterbens eröffnet Einblicke in Dimensionen, die dem Alltäglichen zu- meist verborgen bleiben. Diese Einblicke sind auch in der Intensivmedizin in deut- schen Krankenhäusern existent und von hoher Relevanz. Zahlreiche Faktoren be- einflussen die Einstellungen von Patien- ten, Angehörigen und Mitarbeitern der Intensivstation bezüglich der Therapie- entscheidungen am Lebensende [5, 24]. Dabei überwiegen und variieren ethni- sche, kulturelle und religiöse Aspekte weit mehr als medizinische und ökonomische Entscheidungsfaktoren [1, 6, 21, 31, 32, 33]. Der Begriff Intensivmedizin lässt so- wohl Patienten als auch Angehörige ir- ritiert aufhorchen. Zumeist sind sie er- schrocken, wenn z. B. eine intensivme- dizinische Behandlung notwendig wird bzw. wenn unklar ist, welche möglichen Konsequenzen eine derartige Behandlung folgen lässt. „So schlimm ist es also“, heißt es dann in einem der ersten Schreckmo- mente. Die Intensivstation weckt, auch bedingt durch zahlreiche mediale Insze- nierungen, Vorstellungen einer hoch spe- zialisierten, z. T. hektischen und scheinbar wenig menschlichen Medizin. Die eige- ne Hilflosigkeit ergibt sich aus der aus- geprägten Technisierung sowie der Fü- gung in medizinische Abläufe und Maß- nahmen, die der Patient und der Ange- hörige in aller Regel nicht verstehen kön- nen [24]. Atmosphärisch wirken Intensiv- stationen insbesondere in der Wahrneh- mung von Menschen, die üblicherwei- se mit dem Krankhaus nichts zu tun ha- ben, und in der medialen Welt wie sterile Reinräume der Chip-Industrie mit zahl- reichen unbekannten Geräuschen so- wie Anblicken und sich daraus ergeben- den, eher belastenden Eindrücken für Pa- tienten und Angehörige. Nur allmählich zeichnen sich hier Veränderungen ab, die den Eindruck der Rehumanisierung einer lebensnotwendigen Einrichtung vermit- teln wollen. Der Topos „kulturelle Aspekte“ ver- mittelt Mosaiksteine von Lebendigkeit, Gemeinsamkeiten in Sprache, Dialekt, Mentalität, Heimatgefühl, Verbinden- des in Geschichte, Tradition, Religion und Identität, aber auch die Autonomie des selbstbestimmten Platzes zum Ster- ben [16]. Diese scheinen primär in einem deutlichen Widerspruch zur menschli- chen Wahrnehmung der modernen In- tensivmedizin zu stehen, deren Hauptat- tribut das Bewahren des Lebens ist. Da- bei entstehen in der Betrachtung der The- menstellung unterschiedliche Assoziatio- nen, die auf den ersten Blick nur schwer vereinbar zu sein scheinen, allerdings in einem großen Einfluss zueinander stehen [16, 24]. Die Begleitung am Lebensende eröff- net verschiedene Perspektiven: Die Ein- samkeit des Sterbenden [7], die Arbeit des Behandlungsteams und die Perspek- tive derjenigen Menschen, die mit schwe- Palliativmedizin Redaktion H. Bardenheuer, Heidelberg 473 Der Anaesthesist 6 · 2013|

Patienten am Lebensende auf der Intensivstation

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Anaesthesist 2013 · 62:473–482DOI 10.1007/s00101-013-2174-xOnline publiziert: 10. Mai 2013© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

I.-U. Grom1 · D.A. Vagts2 · U. Kampa3 · G. Pfeiffer4 · L. Schreiber-Winzig5 · C.H.R. Wiese6 · Expertengruppe Palliativ- und Notfallmedizin Akademie für Palliativmedizin und Hospizarbeit Dresden1 Akademie für Palliativmedizin und Hospizarbeit Dresden gGmbH, Dresden2  Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Notfallmedizin, Schmerztherapie, 

Palliativmedizin, Krankenhaus Hetzelstift, Neustadt a.d. Weinstraße3 Klinik für Anästhesiologie, Evangelisches Krankenhaus, Hattingen4 Klinik für Anästhesiologie, RoMed Kreisklinik Bad Aibling, Bad Aibling5 Landeskrankenhaus Steyr, Steyr6 Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum Regensburg, Regensburg

Patienten am Lebensende auf der IntensivstationKulturelle Aspekte der Begleitung

In Krisenzeiten wie der Aufnahme auf eine Intensivstation drängt sich aus kultureller Perspektive die zen-trale Frage auf: Was haben der Pa-tient und seine Angehörigen im Lau-fe des Lebens als gesellschaftliche Werte, Sitten, Moralvorstellungen, Normen und soziale Rollen im Rah-men der Sozialisation und der Erzie-hung internalisiert? Während der Be-rufsalltag im Krankenhaus sich mehr über kurze Informationen, Anweisun-gen und allumfängliche Dokumenta-tion auszeichnet, sind es die Elemen-te der humanistischen Kommunika-tionspsychologie, die – auch als Kul-turmerkmale – in der Begleitung von Schwerstkranken und Sterbenden große Bedeutung haben: Wahrneh-mung und Wertschätzung, Achtsam-keit, Kongruenz, Empathie, Unter-stützung und Pietät.

Hintergrund

Die Begleitung des Menschen im Ange-sicht seines Sterbens eröffnet Einblicke in Dimensionen, die dem Alltäglichen zu-meist verborgen bleiben. Diese Einblicke sind auch in der Intensivmedizin in deut-schen Krankenhäusern existent und von hoher Relevanz. Zahlreiche Faktoren be-

einflussen die Einstellungen von Patien-ten, Angehörigen und Mitarbeitern der Intensivstation bezüglich der Therapie-entscheidungen am Lebensende [5, 24]. Dabei überwiegen und variieren ethni-sche, kulturelle und religiöse Aspekte weit mehr als medizinische und ökonomische Entscheidungsfaktoren [1, 6, 21, 31, 32, 33].

Der Begriff Intensivmedizin lässt so-wohl Patienten als auch Angehörige ir-ritiert aufhorchen. Zumeist sind sie er-schrocken, wenn z. B. eine intensivme-dizinische Behandlung notwendig wird bzw. wenn unklar ist, welche möglichen Konsequenzen eine derartige Behandlung folgen lässt. „So schlimm ist es also“, heißt es dann in einem der ersten Schreckmo-mente. Die Intensivstation weckt, auch bedingt durch zahlreiche mediale Insze-nierungen, Vorstellungen einer hoch spe-zialisierten, z. T. hektischen und scheinbar wenig menschlichen Medizin. Die eige-ne Hilflosigkeit ergibt sich aus der aus-geprägten Technisierung sowie der Fü-gung in medizinische Abläufe und Maß-nahmen, die der Patient und der Ange-hörige in aller Regel nicht verstehen kön-nen [24]. Atmosphärisch wirken Intensiv-stationen insbesondere in der Wahrneh-mung von Menschen, die üblicherwei-se mit dem Krankhaus nichts zu tun ha-ben, und in der medialen Welt wie sterile

Reinräume der Chip-Industrie mit zahl-reichen unbekannten Geräuschen so-wie Anblicken und sich daraus ergeben-den, eher belastenden Eindrücken für Pa-tienten und Angehörige. Nur allmählich zeichnen sich hier Veränderungen ab, die den Eindruck der Rehumanisierung einer lebensnotwendigen Einrichtung vermit-teln wollen.

Der Topos „kulturelle Aspekte“ ver-mittelt Mosaiksteine von Lebendigkeit, Gemeinsamkeiten in Sprache, Dialekt, Mentalität, Heimatgefühl, Verbinden-des in Geschichte, Tradition, Religion und Identität, aber auch die Autonomie des selbstbestimmten Platzes zum Ster-ben [16]. Diese scheinen primär in einem deutlichen Widerspruch zur menschli-chen Wahrnehmung der modernen In-tensivmedizin zu stehen, deren Hauptat-tribut das Bewahren des Lebens ist. Da-bei entstehen in der Betrachtung der The-menstellung unterschiedliche Assoziatio-nen, die auf den ersten Blick nur schwer vereinbar zu sein scheinen, allerdings in einem großen Einfluss zueinander stehen [16, 24].

Die Begleitung am Lebensende eröff-net verschiedene Perspektiven: Die Ein-samkeit des Sterbenden [7], die Arbeit des Behandlungsteams und die Perspek-tive derjenigen Menschen, die mit schwe-

Palliativmedizin

RedaktionH. Bardenheuer, Heidelberg

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rem Herzen versuchen, dem Sterbenden in der letzten Lebensphase die Hand zu halten; bei ihnen wird die Zerrissenheit zwischen Beistehenwollen und Loslassen-müssen offenkundig.

Die vorliegende Arbeit beleuchtet v. a. kulturelle Aspekte in der Begleitung von Menschen am Lebensende auf der In-tensivstation und will versuchen, durch die Beantwortung von 5 Fragen sowohl mögliche Widersprüche zwischen der menschlichen Wahrnehmung kulturel-ler Aspekte und der modernen Intensiv-medizin zu klären als auch den Einfluss kultureller Aspekte auf Therapieentschei-dungen im intensivmedizinischen Be-handlungsverlauf darzustellen. Hierzu wird ein eher kulturanthropologischer als medizinischer Ansatz gewählt.

Methode

Basierend auf nationaler und internatio-naler Literaturrecherche wurden durch die verantwortlichen Autoren 5 Haupt-fragen zur Thematik formuliert, deren Be-antwortung in einem Expertengremium (bestehend aus Experten in der Notfall-medizin, Intensivmedizin, Palliativme-dizin sowie Geistes- und Sozialwissen-schaft) in mehreren Prozessen diskutiert wurde. Die Ergebnisse dieser Diskussio-nen werden im Konsens als Ergebnisteil dieser Arbeit präsentiert und im Folgen-den unter Berücksichtigung wissenschaft-licher Literatur interdisziplinär diskutiert.

Ein Ethikvotum war zur Erstellung der Arbeit aufgrund des Studiendesigns nicht notwendig. Alle Autoren sind mit dem Konsens einverstanden. Die Thesen ent-sprechen der Auffassung des verantwort-lichen Gremiums und stellen keine Ein-zelmeinungen der Autoren dar.

Folgende 5 Hauptfragen sind Bestand-teil der Arbeit:1. Was sind die kulturellen Aspekte, die

den Patienten und seine Angehörigen in ihrem Leben getragen und verbun-den haben?

2. Welche kulturellen Elemente in der Begleitung am Lebensende sind fester Bestandteil einer modernen Intensiv-medizin?

3. Könnte die Intensivmedizin in der Begleitung am Lebensende auf kultu-relle Elemente zurückgreifen?

4. Welche kulturellen Elemente einer menschennahen Begleitung am Le-bensende lassen sich in die Intensiv-medizin integrieren?

5. Wie kann es nun gelingen, die 3 skiz-zierten Welten – Betroffene – Inten-sivmedizin – kulturelle Aspekte – auf einen gemeinsamen Nenner zu brin-gen, der in sich zugleich die höchste Dichte an individueller Identifikation birgt?

Ergebnisse und Diskussion

Frage 1

Was sind die kulturellen Aspekte, die den Patienten und seine Angehörigen in ihrem Leben getragen und verbunden haben?

Vor Beantwortung dieser Frage stellen sich folgende weitere Fragen: Seit welcher Zeit befindet sich der Patient bereits auf der Intensivstation? Hat das Team der In-tensivstation hieraus resultierend eine rea-listische Chance, im Rahmen einer mög-lichen Therapiezieländerung dem Patien-ten ein Sterben in Würde zu ermöglichen und seiner kulturellen Ausrichtung sowie der seiner Angehörigen organisatorisch und inhaltlich zu entsprechen?

In einer Zeit, in der die Gesellschaft mittlerweile zu 40% aus Single-Haushal-ten besteht und sich ein deutlicher demo-grafischer Wandel vollzieht [40], ist es für intensivmedizinisches Personal oft ein schwieriges Unterfangen, rechtzeitig An-gehörige und zusätzlich noch deren kul-turelle Wünsche und Einstellungen in Er-fahrung bringen zu können [23]. Nicht selten werden Mitarbeiter des Behand-lungsteams zu „Ersatzangehörigen“ in der Begleitung des Sterbenden, sodass auch ihre individuellen kulturellen Einstellun-gen Teil des Entscheidungsprozesses in der Intensivmedizin werden.

Der Patient und seine Angehörigen werden zunehmend als eine Einheit ge-sehen, denn es gibt 2 Axiome im Leben eines Menschen, die allen Menschen un-verbrüchlich gemeinsam sind: die eige-ne Sterblichkeit und die Tatsache, dass al-le Menschen Angehörige sind und haben. Gern wird dies schon im eigenen Leben außer Acht gelassen. Über Angehörige zu sprechen oder zu schreiben, bedeutet,

auch über sich selbst etwas zu sagen, ob als Arzt, Mitarbeiter aus der Pflege oder des psychosozialen Teams: Die Welt be-steht einzig aus Angehörigen.

Wenn Angehörige in die Begleitung des Sterbenskranken integriert werden, bedarf es zunächst der Klärung dieser Be-ziehung, damit sich erschließen kann, was diese Menschen in ihrem Leben gemein-sam ge- und ertragen haben, was sie mit-einander verbunden hat, was sie trennt und was davon in der Begleitung am Le-bensende und in der Sterbestunde von Be-deutung sowie hilfreich sein kann.

Wenn ein Mensch schwer erkrankt, wird nicht nur sein Leben aus einem ver-trauten Lebensgefüge, -rhythmus und -gefühl herausgerissen. Auch seine Ange-hörigen sind betroffen und werden fortan mit neuen Aufgaben konfrontiert, denn in gleicher Weise gerät ihr Lebensgefüge ins Wanken: Sorge um den Gesundheits-zustand des ihnen nahestehenden Men-schen, existenzielle Fragen, Zuständigkei-ten und Verantwortungen innerhalb des Familienverbands, Angst um die berufli-che und die wirtschaftliche Zukunft so-wie Unsicherheit gegenüber dem Freun-deskreis sind Facetten eines oft kaum er-fassbaren Spektrums ungeklärter Gefüh-le, Befürchtungen und Konfrontationen im Alltag.

In der Arbeit der Mitarbeiter der In-tensivstation mit Angehörigen kön-nen sich deshalb Situationen ergeben, in denen „merkwürdige Gefühle“ zurück-bleiben und der Eindruck entsteht, hin-ter dem, was sich zeigt, verbirgt sich et-was ganz anderes. Verunsicherung ist eine häufige Reaktion der professionellen Hel-fer auf das Verhalten von Angehörigen („Ich habe schon dreimal mit den An-gehörigen gesprochen, und ich habe den Eindruck, ich erreiche sie immer noch nicht …“). Wiederum kehrt sich Verun-sicherung bei den Angehörigen häufig in Misstrauen und unterschwellige, subtile Aggressivität um [10].

Gerade in Krisenzeiten wie der Auf-nahme auf eine Intensivstation drängt sich aus kultureller Perspektive die zent-rale Frage auf: Was haben der Patient und seine Angehörigen im Laufe des Lebens als gesellschaftliche Werte, Sitten, Moral-vorstellungen, Normen und soziale Rol-len im Rahmen der Sozialisation und der

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Palliativmedizin

Erziehung internalisiert? Hierzu zählen in der Primärsozialisation v. a. Reinlichkeit, Austausch über Nähe und Distanz zu Mit-menschen, Grußsitte, Blick- und Körper-kontakt [19].

Auch die Erfahrung von Unfall, Krankheit, Sterben, Tod, Bestattung und Erinnerungskultur prägen frühe Sozia-lisierung. Gerade hier wird der Grund-stein für Krankheitsverständnis, Coping-Strategien und Interpretationsformen von Krankheit als Schicksal oder Chance ge-legt [19].

Wesentlich in der Arbeit mit Ange-hörigen ist es, die Konflikte zu erkennen, die sich in eine klassische Krise verdich-ten können und die häufig der Grund da-für sind, warum die Arbeit mit Angehöri-gen als „schwierig“ empfunden wird, zu-mal, wenn es darum geht, mit den An-gehörigen über das nahende Sterben zu sprechen.

Bei diesen Konflikten lassen sich para-digmatisch 10 “Sch“-Konflikte ausma-chen, die nachfolgend erläutert werden: Schreck, Schutzreflex, Schock, Schuldge-fühle, Schwieger-, Schamgefühle, Schick-salsfügung, Schüchternheit, Schweigen, Schonung (. Abb. 1).

Schreck. Der Schreck ist eine natürliche Reaktion. Wenn Angehörige plötzlich da-mit konfrontiert werden, dass ein ihnen nahestehender Mensch existenziell ge-fährdet ist und er auf der Intensivstation liegt, ist es nur natürlich, dass sie sehr er-schrecken.

Schutzreflex. Durch die Selbstreferenz („Was? Mein Angehöriger?“) entsteht ein Schutzreflex, und man will sich helfend einbringen.

Schock. Durch die Identifikation mit der betreffenden Person (Patient) über „mein, dein, ihr“ verdichtet sich der Schrecken über den Schutzreflex zum Schock.

Schuldgefühle. Häufig ist zu beobach-ten, dass sich Schuldgefühle bemerkbar machen, die das Verhältnis vom Betrof-fenen zum Patienten erahnen lassen. So kann z. B. der Status „Schwieger-“ schwie-riger werden.

Schamgefühle. Sie können durchbre-chen, wenn befürchtet wird, dass bio-grafische Missstände offenkundig wer-den können.

Schicksalshaltung. Auch kann an der Schicksalshaltung erkennbar werden, wie sich die Begegnung mit den Ange-hörigen entwickeln wird. Dies bewegt sich erfahrungsgemäß in der Spannwei-te von fordernd bis kontrollierend, denn der Patient war ja immer ein Kämpfer, und das wird jetzt das Personal für ihn übernehmen, und die Angehörigen kon-trollieren dies. Oder aber mit Gottver-trauen schicksalsergeben, und das Per-sonal wird doch hoffentlich – stellvertre-tend für Gott – noch einmal alles zum Guten wenden.

Schüchternheit, Schweigen und Scho-nung. Viele Menschen kommen über große Strecken ihres Lebenswegs ohne das Krankenhaus aus. Umso mehr kann die Begegnung der Angehörigen mit Ärz-ten (Professoren und Doktoren) eine Nei-gung zur Schüchternheit verstärken und Schweigen unterstützen, v. a. auch in sen-siblen Beziehungsaspekten zum Patien-ten. Alles in allem brauchen Angehöri-ge in dieser für sie hoch stressbeladenen Situation Schonung. Dies wird am meis-ten verkannt, und ist häufig der Grund, warum Gespräche ineffektiv wirken und Hilfsangebote plötzlich einbrechen. Scho-nung bedeutet dabei nicht, dass dem An-gehörigen wichtige Informationen vor-enthalten werden sollen, bzw. z. B. Kin-der nicht mit der aktuellen Situation kon-frontiert werden dürfen, sondern, dass aus Fürsorglichkeit für den Angehörigen bewusst Unterstützungsangebote emp-fohlen werden (z. B. Hinweis, nach dem Überbringen der schlechten Nachrich-ten, nicht aktiv am Straßenverkehr teil-zunehmen).

Ein erfahrenes Team jedoch weiß: Die 3 Kardinalwünsche von Patienten und ihren Angehörigen sind unabhän-gig von kulturellen Unterschieden: Kon-takt, Kommunikation und Kontinuität [31, 33]. Hierzu muss durch das Behand-lungsteam vorab definiert werden, inwie-weit die Angehörigen in Entscheidungs-prozesse einbezogen werden dürfen oder wollen [24].

Frage 2

Welche kulturellen Elemente in der Beglei-tung am Lebensende sind fester Bestandteil einer modernen Intensivmedizin?

Zusammenfassung · Abstract

Anaesthesist 2013 · 62:473–482DOI 10.1007/s00101-013-2174-x© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

I.-U. Grom · D.A. Vagts · U. Kampa ·  G. Pfeiffer · L. Schreiber-Winzig ·  C.H.R. Wiese · Expertengruppe  Palliativ- und Notfallmedizin Akademie für Palliativmedizin und Hospizarbeit Dresden

Patienten am Lebensende auf der Intensivstation. Kulturelle Aspekte der Begleitung

ZusammenfassungDie Begleitung des Menschen im Angesicht seines Sterbens eröffnet Einblicke in Dimen-sionen, die dem Alltäglichen zumeist verbor-gen bleiben. Diese Einblicke sind auch in der Intensivmedizin in deutschen Krankenhäu-sern existent und von hoher Relevanz. Ins-besondere im Zusammenhang mit Entschei-dungen am Lebensende bestimmen oftmals medizinische, kulturelle und religiöse Aspek-te das Handeln bzw. die Therapieziele und ggf. die Therapiezieländerungen. Die vorlie-gende Arbeit beleuchtet v. a. kulturelle As-pekte und deren Besonderheiten in der Be-gleitung von Menschen am Lebensende auf der Intensivstation.

SchlüsselwörterAchtsamkeit · Empathie · Kommunikation · Angehörige · Sterbebegleitung

Patients at the end of life in the intensive care unit. Cultural aspects of accompaniment

AbstractThe accompaniment of people in the face of death offers insights into dimensions which are mostly not seen in ordinary life. These in-sights also exist in intensive care in German hospitals and are highly relevant in medical decision making. End-of-life decisions in par-ticular often determine medical, cultural and spiritual aspects concerning medical treat-ment and therapeutic targets and if neces-sary new therapy targets. The following arti-cle especially illuminates cultural aspects and their characteristics in patients at the end of life in the intensive care unit.

KeywordsAwareness · Empathy · Relatives ·  Communication · End of life care

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Die Intensivmedizin hat sich sowohl national als auch international in den ver-gangenen 25 Jahren sehr stark entwickelt und in ihren Gegebenheiten auch ent-sprechend verändert. Sie ist in der heu-tigen Zeit einer der hoch spezialisierten und hoch technisierten medizinischen Bereiche. Der gegenwärtige Alltag auf In-tensivstationen ist durch die folgenden Faktoren geprägt [38]:F  kritische Entscheidungen an der

Grenze zwischen Leben und Tod,F  Zeitmangel,F  Betten- und Ressourcenknappheit,F  konkurrierende Interessen einzelner

intra-, aber auch interprofessioneller Gruppen,

F  nur sehr bedingte Planbarkeit des All-tags,

F  hohe tägliche Arbeitsbelastung im Schichtsystem und

F  ökonomische Handlungszwänge.

Wie im Folgenden ersichtlich wird, sind aus der Entwicklung der intensivmedi-zinischen Versorgung keine kulturel-len Elemente auszumachen, die für die Begleitung am Lebensende angewendet werden könnten. Jedoch kann sich die Intensivmedizin in der Begleitung am Lebensende rückbesinnen auf cura pal-liativa, der „ärztliche[n] Pflicht, Schwer-kranken und Sterbenden bis zum Tod beizustehen, selbst in aussichtslosen Fäl-len. Sie lässt sich bereits seit dem ausge-henden Mittelalter im ärztlichen Schrift-tum, aber auch in der medizinischen Pra-xis nachweisen“ [32]. Dabei können viele, die Symptome lindernden und das seeli-sche Befinden stärkenden Angebote zum Tragen kommen, die gerade auch in der

Komplementärversorgung zur Verfü-gung stehen. Ehrenamtliche Mitarbeiter aus den Hospizdiensten können unter-stützend für den Patienten, seine Ange-hörigen und entlastend für das Team ab-gerufen und eingesetzt werden.

Frage 3

Könnte die Intensivmedizin in der Beglei-tung am Lebensende auf kulturelle Ele-mente zurückgreifen?

Menschen am Lebensende auf der Inten-sivstation zu begleiten, verlangt von allen Beteiligten eine große Spannbreite in der Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit [1]. Intensivmedizinisches Personal ist es gewohnt, nach exakten Handlungsanwei-sungen zu therapieren [1]. Während der Berufsalltag im Krankenhaus sich mehr über kurze Informationen, Anweisun-gen und allumfängliche Dokumentation auszeichnet, sind es gerade die Elemen-te der humanistischen Kommunikations-psychologie, die – auch als Kulturmerk-male – in der Begleitung von Schwerst-kranken und Sterbenden große Bedeu-tung haben: Wahrnehmung und Wert-schätzung, Achtsamkeit, Kongruenz, Em-pathie, Unterstützung und Pietät. Reiht man die Initialen dieser Worte Wert-schätzung, Achtsamkeit, Kongruenz, Em-pathie, Unterstützung und Pietät anein-ander, ergeben sie den englischen Begriff „wake up“. Dieses „Wake up-Modell“ als Handlungsempfehlung in der Intensiv-medizin wird an späterer Stelle eingehend vorgestellt.

Rückbesinnung auf KulturDie Rückbesinnung auf die Kultur kann sowohl ein pragmatischer Ansatz als auch eine erfüllende Erfahrung sein, denn Kul-tur ist – wie Johann Messner sie seinerzeit definierte – „die mit der Vorstellungs-, Denk-, Sprach- und Wertwelt in der Fol-ge von Generationen übermittelte Le-bensform“ [20]. Sie ist auch in einer technisierten Welt in ihren Grundwer-ten konstant und in diesem Zusammen-hang auf die Intensivmedizin übertrag-bar. Bezüglich der von Messner definier-ten Kultur wird mit Jung-Stilling nach-folgend ein weiterer Bindebogen zu Kul-tur- und Verantwortungsethik vs. Verbü-rokratisierung gelegt. Kultur ist nicht nur die Pflege des Geistigen im Menschen und in der Gesellschaft; die Kultur ist wesentlich auf soziale und humane Ziele ausgerichtet [15]. Johann Heinrich Jung-Stilling war neben Goethe einer der ers-ten, der bemüht war, von den stark bü-rokratisierenden Bemächtigungen des Adels immer wieder die Verpflichtung zur „Kultur für den Einzelnen und das Gemeinwohl“ einzufordern. Er präg-te den Begriff der „Kulturethik“, die den Menschen geschuldet sei, um ein „im Gemeinwesen aufgehobenes Leben füh-ren zu können“ [3, 15]. Einhundertfünf-zig Jahre später wurde die Kulturethik im Sinne Jung-Stillings von Max Weber zur „Verantwortungsethik“ weiterentwickelt [3]. Beide Begriffe – Kulturethik und Verantwortungsethik – sind in einem ge-schichtlichen Kontext menschlicher Ent-fernung und Entfremdung durch Büro-kratisierung entstanden.

Die Bürokratisierung fand ihre „Spar-ringspartner“ zunächst im Militärischen und in der Folge dann im Zeitalter der Industrialisierung. Dokumentation der Arbeitsprozesse und Nachweis der Qua-litätssicherung erhielten einen höheren Stellenwert als alles so genannte Mensch-liche – wie beispielsweise Verantwor-tung, Mitgefühl und Fürsorge. Zuneh-mend wurde die menschliche Arbeits-kraft zum einen entbehrlich, da maschi-nell ersetzt. Zum anderen sind die ver-bleibenden Arbeitskräfte zum Einsteller, Regler und Kontrolleur der Apparate zwar immer spezialisierter, aber fachlich „ent-menschlicht“, menschlich „entfachlicht“, degradiert und „entmündigt“ worden.

Zehn "Sch"-Kon�ikte

Schonung

Schweigen

Schüchternheit

SchicksalshaltungScham

„Schwieger...“

Schuldgefühle

Schock

Schutzre�ex

Schrecken

Abb. 1 9 Konflikt-uhr. (Nach I.-U. Grom, mit freundl. Genehmi-gung)

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Palliativmedizin

IntensivstationMit Blick auf die Intensivstation ist im Sinne von Jung-Stilling und Weber ein gutes Beispiel für den Prototyp der In-dustriearbeit im Angesicht der mensch-lich-existenziellen Grenzerfahrung zu finden: Maschinen bearbeiten den Kör-per; die Wärter, wie zur Zeit Jung-Stil-lings die Krankenpflege genannt wur-de [34], kontrollieren die Monitore; die Ärzte stellen sich dem Kampf gegen die Krankheit des Patienten. Nach wie vor beklagen Angehörige von Patienten, dass sie zu wenig in der Begleitung integriert werden.

Wenngleich das folgende Zitat von Heiner Geißler, dem damaligen deut-schen Bundesminister für Familie, Ju-gend und Gesundheit, bereits 20 Jahre alt ist, trifft es dennoch die heutige Le-benswirklichkeit auf der Intensivstation. Geißler lag nach einem Gleitschirmun-fall 3 Wochen auf einer Intensivstation, die er folgendermaßen wahrgenommen hat:

So stirbt der Patient ganz im Stil unserer Zeit inmitten der hektischen Geschäftigkeit einer supertechnisierten und übermedika-mentösen Medizin, in sterilen Räumen, ab-geschirmt von der nicht keimfreien Außen-welt nach tagelangem Kampf der Ärzte mit dem Tod. Von jeder Kommunikation mit seinen Angehörigen, Freunden, Bekann-ten und dem Geistlichen etc. abgeschnit-ten, wird nun erst das Sterben zur seeli-schen Qual. Die Intensivmedizin wird hier zur Hölle der Einsamkeit, zum Absturz der Seele ins Nichts, zur wissenschaftlichen Ver-suchsstation und Folterkammer, sie verhin-dert, dass der Patient den Sinn seines Ster-bens, Vollendung bzw. den Abschluss seines Lebens erkennen und vielleicht bewältigen kann. ([9])

Es gilt nun, auf Spurensuche zu gehen, was in einer industriell geprägten Inten-sivmedizin trägt, wenn der Mensch im Angesicht seiner Endlichkeit, auf dem höchsten Gipfel der seelischen Verlas-senheit im Kampf um sein Leben fällt. Folgt man diesem Sprachduktus, klin-gen militärische Töne an. Wie bereits be-schrieben, hat sich die Kulturethik im Rokoko entwickelt, dem Aufblühen bü-rokratischer Regelungen menschlichen

Gemeinwohls und der ersten Hoch-Zeit des Militärs im 17. Jh. In der west-lichen Hemisphäre erscheint die Sprache der Medizin als eine Art „Militärspra-che“, die sich dem „Schauplatz Mensch“ widmet [22, 24]. Die Sprache der Medi-zin beschreibt den Kampf, den der Kör-per täglich auf den Schlachtfeldern in seinem Innern zu führen und zu gewin-nen hat. („Die Streitmacht des Körpers ist das Immunsystem, in dem Killerzellen die veränderten Körperzellen erkennen und zerstören können“ [22].) In der me-dizinischen „Umgangssprache“ sind da-bei viele dieser Kriegsmetaphern bereits wie selbstverständlich aufgenommen worden. In der Intensivstation empfin-den der Patient und seine Angehörigen oftmals, dass „mit schwerem Geschütz aufgefahren werden muss“, wobei aber auch invasive Eingriffe bei Operationen nicht immer „enduring freedom“ herstel-len können. Der Feind (z. B. der Tumor) muss ja bekämpft werden, und man darf sich nicht geschlagen geben. Schließlich hat man auch als Patient „zu kämpfen“, und dazu kann es passieren, dass er so-wohl durch das intensivmedizinische Personal, durch weitere Behandler und durch seine Angehörigen zum Durchhal-ten „angefeuert“ wird. Wie also können durch Angehörige und intensivmedizini-sches Personal Sterben und Tod kommu-niziert werden, wenn Krankheit oftmals als etwas angesehen wird, das bekämpft werden muss?

Was ist mit den „die Krankheit be-kämpfenden“ Ärzten und dem Inten-sivpflegepersonal, wenn der Patient den Kampf gegen die Krankheit nicht ge-winnt, und – wie ein Verweigerer – (sich) aufgegeben hat – kapituliert – oder ein-fach der „Feind“, die Krankheit, stär-ker war? Und was ist mit dem Patien-ten, der nun – wie gesagt – „im Kampf gegen die Krankheit“ „gefallen“ ist [22]? „Gekämpft, gehofft und doch verloren“ drückt in den Todesanzeigen die Resig-nation aus, wenn die „Schlacht gegen die Krankheit“ verloren wurde. In diesem Zusammenhang werden dann kulturelle Aspekte bedeutend, die sowohl richtige Wahl der Kommunikation (Sprache als kulturelles Zeichen) als auch die frühzei-tige Integration von Angehörigen in die medizinische Behandlung nahelegen [1].

Frage 4

Welche kulturellen Elemente einer men-schennahen Begleitung am Lebensende las-sen sich in die Intensivmedizin integrieren?

Es stellt sich die Frage, welche kulturellen Angebote dem Behandlungsteam der In-tensivstation zur Verfügung stehen, um hierdurch den Patienten im Bewusstsein seines Menschseins angemessen beglei-ten zu können. Weiterhin müssen im Be-handlungsteam Verantwortlichkeiten für diese Angebote und deren patientenin-dividuelle Umsetzung benannt werden.

Mit Blick auf die Entwicklung der Intensivmedizin muss festgestellt wer-den, dass vom Mittelalter bis in die frü-he Neuzeit, die Überwachung der schwer Erkrankten und Sterbenden nicht durch den Arzt, sondern von einem Kranken-wärter erfolgte, primär mit dem Ziel, rechtzeitig den Priester zu rufen [17, 18]. Der Priester sprach in der Sterbephase des Patienten bzw. am Totenbett Gebete und gab dem Patienten die letzte Ölung, heute auch Krankensalbung genannt. Erst mit der Zunahme von technischen Gerä-ten haben sich Ärzte Ende des 19./20. Jh.s dem sterbenskranken Menschen inten-siver zugewendet, allem voran zur Erhe-bung und zur Dokumentation quantitati-ver Daten, zur regelmäßigen Fieber- und zur Blutdruckmessung. Zahlreiche ent-wickelte (Mess-)Geräte erweiterten das Kontroll- und Behandlungsspektrum in einem medizinischen Feld, in dem das Leben eines Menschen zwischen Grat-wanderung, einer möglichen Rehabili-tation, aber auch dem letzten Atemzug schwankt [17, 18, 37].

Die Entwicklung der Intensivmedizin hat seit ihrer systematischen Etablierung in der 2. Hälfte der 1960er Jahre das Be-handlungsspektrum der kurativen Medi-zin enorm erweitert, und viele Menschen verdanken heute dieser hoch technisier-ten, invasiven Medizin, dass sie noch am Leben sind [17, 18]. In diesem Zusam-menhang hat die Intensivmedizin natür-lich eine Tendenz zur eindeutig lebens-erhaltenden Medizin, mit teilweise „ap-parativen“ Mitteln. Die akute Lebensqua-lität wird bewusst dem kurativen Ansatz untergeordnet.

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Während Hippokrates Medizin als „Kunst“ beschrieb, „die Kranken von ihren Leiden ganz zu befreien, die Hef-tigkeit von Krankheiten zu mildern, sich aber von der Behandlung derjenigen ganz fernzuhalten, die schon von der Krankheit überwältigt sind“ [35], darf heute mit Fug und Recht behauptet werden, dass sich das Behandlungsteam der Intensivme-dizin im wahrsten Sinne des Wortes in-tensiv um alle medizinischen Belange be-müht, einem Menschen wieder zu einem lebbaren Leben zu verhelfen (http://www.archive.org, zugegriffen: 13.02.2013). In der Intensivmedizin kulminieren trotz al-ler Erfolge aber auch zahlreiche Schwie-rigkeiten, deren hohe Konfliktträchtig-keit in weiteren Untersuchungen belegt werden konnte [38]. Der Hauptkonflikt ist rasch auszumachen: Es ist die Sprach-losigkeit der Akteure in der hohen Dich-te des Arbeitsalltags. Und es sind primär die Ärzte, die nicht sprechen, und die Pfle-gekräfte, die nach eigenen Aussagen häu-fig nichts sagen sollen [1]. Die Ergebnisse zahlreicher Untersuchungen zur Patien-tenzufriedenheit belegen, dass sprechen-de Medizin, wie sie in den 1990er Jahren vorangebracht werden sollte, ihre Adres-saten bis heute nicht wirklich erreichte. So wird an erster Stelle von Patienten, gefolgt von Angehörigen und Pflegenden nach wie vor bemängelt, ja beklagt, dass v. a. die Ärzte nicht mit ihnen sprechen [38]. Un-tersucht man die Handlungsanweisungen, die für die Intensivmedizin verpflichtend sind, angefangen von den Codierrichtli-nien, nach den Codes der Internationa-len statistischen Klassifikation der Krank-heiten und verwandter Gesundheitspro-bleme (ICD) und des Operationen- und Prozedurenschlüssels (OPS), Aufwand-Scores usw., die in die Diagnosis Related Groups (DRG) münden, so staunt man, was alles getan bzw. dokumentiert werden muss [38]. Das Gespräch mit dem Patien-ten und seinen Angehörigen wird jedoch in keinem Scoring-System erfasst oder standardisiert dokumentiert.

Dasein, zuhören, reden, Anteil neh-men, berühren, berührt sein, mitfühlen, all diese natürlichen Regungen im An-gesicht eines Menschen in absoluter De-mutshaltung, sind keine abrechenbaren Größen und daher nicht erlösrelevant und somit oftmals anscheinend auch nicht be-

handlungsrelevant. Sie werden sowohl von Angehörigen, aber auch von profes-sionellen Behandlern oftmals außer Acht gelassen [32]. Zusätzlich zu fehlenden Ge-sprächen kommen in diesem Zusammen-hang noch unterschiedliche kulturelle As-pekte, die ihrerseits ebenfalls einen häu-fig „unausgesprochenen“ Einfluss auf die Therapie und ggf. Therapiezieländerun-gen haben [31, 32, 33]. Trotz dieser nun-mehr in zahlreichen Untersuchungen be-legten Tatsache behalten professionelle Behandler – sowohl Pflegende als auch Ärzte – gerade in Entscheidungen am Le-bensende, verbunden mit Therapieziel-änderungen, ihr informierendes Sprach-muster gegenüber den Angehörigen bei [38]. Es fehlen in der Intensivmedizin weiterhin wesentliche Elemente, die ein „gesundes“ Arzt-Patient-Verhältnis aus-machen [38]. Hier könnte die Integration einer bewusst entwickelten Kommunika-tionsstruktur dazu beitragen, gute Vor-aussetzungen für eine patienten- und an-gehörigenfreundliche Intensivstation bzw. Intensivmedizin zu entwickeln [36, 38].

Einschränkend muss an dieser Stel-le allerdings angemerkt werden, dass al-le Studien zu diesem Thema, die sich mit dem Arzt-Patient- oder Arzt-Angehöri-ger-Verhältnis in der Intensivmedizin be-schäftigen, einem möglichen Bias unter-liegen. Weder für den deutschsprachigen noch für den angloamerikanischen Raum liegen validierte Fragebogen als Untersu-chungsinstrumente vor, aus denen sich „client-professional gaps“, also die Diskre-panz in der Einschätzung derselben Situ-ation durch Patienten, Angehörige und medizinisches Fachpersonal, verlässlich eruieren lassen [27, 28, 29].

Nicht zuletzt waren die intransparen-ten Abläufe und nichtkommunizierten Interventionen der Intensivmedizin ein wesentlicher Grund, warum sich Mitte der 1960er Jahre in Großbritannien die Bürger auf den Weg gemacht haben, sich gegen die Massivität der medizinischen Maßnahmen und der fehlenden Kommu-nikation mit Patienten und ihren Angehö-rigen aufzulehnen und sich für ein wür-diges, durch Menschen begleitetes Ster-ben einzusetzen. Diese Bewegung kam in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre auch in Deutschland an und führte allmählich in gleicher Weise zu einem Umdenken in

der Intensivmedizin. „End-of-life care“ bringt dieses Anliegen wesentlich zum Ausdruck, das symbolisch und pragma-tisch für einen erweiterten Blick des Be-handlungsteams in der Intensivmedizin steht [17, 18]. Eine weitere entscheidende Frage stellt sich in dem Zusammenhang, was der Mensch gerade auch auf der In-tensivstationen am Ende seines Lebens benötigt. Sterben heißt Bilanzieren. Die Lebensrückschau ist primär eine Betrach-tung von Beziehungen. Das Ende wirft seine Schatten auf das Vergangene: „Wie stehen wir zueinander, was hat uns ver-bunden, was hat uns getrennt?“ Auf dem Gipfel der Krise will und muss man sich von dem befreien, was zur Last, ja, Belas-tung geworden ist. Das sind überpropor-tional zwischenmenschliche Konflikte. Verzeihung ist dabei die wesentlichste Er-fahrung, die ein Sterbender braucht und sucht. Von daher sind menschliche Nähe und die Möglichkeit zum Gespräch unab-dingbar. Verzeihen und Verzeihung, das ist das Wichtigste für den Patienten, aber auch für seine Angehörigen, die als Hin-terbliebene einmal mit den letzten Bildern dieses vergehenden Lebens zurückbleiben werden. Danach beginnt der Prozess des Abschiednehmens: von allem – der eige-nen Rolle, der Beziehung zu den Mitmen-schen, den weltlichen Dingen und auch vom therapeutischen Team, so es denn in der Betriebsamkeit der Akkordmedizin sich dafür überhaupt öffnen kann.

Wenn Worte schwinden –  wie Worte finden?Kommunikation und Bindung in all ihren Facetten sind das transkulturelle Binde-glied. „Religio“ bedeutet Rückbinden und In-Beziehung-sein, und „communicare“ heißt teilen, mitteilen, Anteil nehmen. In einer therapeutisch hermetischen Absper-rung scheinen Patienten und Angehörige ausgeschlossen zu sein, ausgegrenzt von einem In-Beziehung-treten, Mitteilen und Erfahren. Zurück bleiben v. a. bei den Angehörigen Verstörtheit, Verzweiflung, Schuldgefühle, Misstrauen bis hin zu Ge-fühlen der Überrumpelung, was immer wieder zum Auslöser wird, einen Rechts-anwalt einzuschalten.

Der Mensch ist das Maß aller Dinge, erläuterte der vorsokratische Philosoph Protagoras (490–411 v. Chr.). Jedoch ha-

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Palliativmedizin

ben die Prozesse der Objektivierung durch die Verwissenschaftlichung menschlichen Seins die Person immer stärker abstra-hiert. Bildgebende Verfahren reduzieren die unmittelbare Begegnung mit dem Pa-tienten auf technisch Sichtbargemachtes. Das Wesentliche aber bleibt für das Au-ge unsichtbar, lehrt jedoch schon Antoine de Saint-Exupéry in Der kleine Prinz [26].

Individuelle Werte, die den Menschen an sich ausmachen, wie Vitalität, Teilhabe, Spiritualität und Humor werden zweitran-gig, da Messwerten, die sein Leben als ge-sund oder krank definieren, eine höhere Bedeutung zugeschrieben wird. Mensch-liches Ergehen wird synthetisiert; der ge-messene Befund wird dokumentiert. Technisierte Kommunikation macht Be-gegnung und Sprache überflüssig [4].

Wie aber sollen die Behandler wis-sen, was der Wille des Patienten ist, wer er als Person an sich und in seinem Le-ben ist? Was wünscht er sich für sein Ab-schiednehmen in einer so fremden, steri-len Umgebung? Sterben – dieses intime Sich-aus-der-Welt-wieder-Zurückziehen – wird in eine grelle Öffentlichkeit kata-pultiert, der Sterbende liegt unter kaltem Neonlicht, über ihm surrt die Klimaanla-ge. Das Piepen der Apparaturen signali-siert, ob er noch lebt oder ob der Exodus, das Aushauchen des Odems, bereits ein-getreten ist. Diese oftmals nüchterne Kli-nikatmosphäre lässt häufig alle Gefüh-le erstarren. Weinen stockt in der Kehle, zutiefst menschliches Gerührtsein wird in dieser Stationsöffentlichkeit zur Pein-lichkeit; das „coming-out“, dass die Bezie-hung über die Zeit gesehen auch nicht im-mer zum Besten gewesen ist, kann nun so schwer eingestanden werden. Worte, die immer leiser werden, können nur müh-sam unter diesen Umgebungsbedingun-gen verstanden werden, und alles, was man noch sagen möchte, reißt einem das Herz aus dem Leib. Aber man will sich vor den anderen, den letztlich Fremden, ja auch nicht die Blöße geben. Und Verzei-hen, dieses gegenseitige Erlösen aus un-sinnigsten Verstrickungen, kann es noch gehört werden? Was also ist zur Kultur geworden in diesem Abstraktum allen menschlichen Seins? Trauer! Wir trau-ern für den Rest unseres Lebens, weil wir den Schmerz im Angesicht des Sterbens in einer so menschlich erkalteten Atmosphä-

re nicht auszudrücken vermögen. Eine Kerze anzünden, ein Lied singen, viel-leicht eine Geschichte erzählen, „Weißt Du noch …?“, oder beten, all das, mei-nen wir, müssen wir auf später verschie-ben, später, wenn alles vorüber ist, wenn wir wieder allein sind.

Keine Last sein – oder doch?Leben ist verletzlich wie eine Schneeflo-cke. Es ist schwer ertragbar, das Ringen der zarten Lebensflamme im grellen Licht der Medizinmaschinerie mitansehen zu müssen. Außerdem will man ja auch für niemanden eine Last sein. Denn die Mit-arbeiter der Intensivstation [14, 30] mel-den sich immer mehr öffentlich zu Wort und artikulieren, welche Belastungen sie für sich zu bewältigen haben: Die Kran-kenpflege beklagt vielfach ihre massive körperliche und psychische Überbean-spruchung auf der Intensivstation. Glaubt man der zwischenzeitlich reichlich vorzu-findenden Literatur, ist diese Arbeit nur noch mit einer großen Portion aus Hu-mor, Zynismus, Sarkasmus und schließ-lich Galgenhumor zu bewerkstelligen [2, 12, 30]. So scheinen sich die Welten ent-fernter denn je gegenüberzuliegen. Ver-binden kann sie nur der Sterbende, wenn jede Seite – die Angehörigen und das Be-handlungsteam – seine Botschaft auf-nimmt.

Frage 5

Wie kann es nun gelingen, diese 3 skizzier-ten Welten – Betroffene – Intensivmedizin – kulturelle Aspekte – auf einen gemein-samen Nenner zu bringen, der in sich zu-gleich die höchste Dichte an individueller Identifikation birgt?

Das Wake-Up-Modell kann diesem kom-plexen Anspruch hilfreiche Impulse an-bieten. Seine Initialen stehen für Wert-schätzung, Achtsamkeit, Kongruenz, Em-pathie, Unterstützung, Pietät.

„Wake up“ ist der Appell von Patienten am Lebensende an ihre Behandler. „Auf-wachen!“ – dafür wachsam sein, was die betroffenen Menschen brauchen, beson-nen handeln und mit allen Sinnen wert-schätzend, aufmerksam und konzent-riert sein, v. a., wenn der Kranke zuneh-mend weniger kommunizieren und mit

allen Sinnen wahrnehmen kann. Es ist das „Aufwachen“ und Wachsein, das fordert, aus der eigenen Routine und der Hektik des beruflichen Alltags herauszutreten, sich zurückzunehmen und einzubrin-gen in sachtem Wechselspiel, je nachdem, was der Mensch braucht, dessen Atemzü-ge immer schwächer werden [10, 11].

In der Praxis hat sich das sog. Erinne-rungsbuch bewährt, das beim Bett des Pa-tienten liegt [8]. Jeder, der mit ihm zusam-men ist, kann all das aufschreiben, was ihm der Patient noch sagen oder andeu-ten kann. Dieses Buch wird ein kostbarer Schatz sein, v. a. für die Hinterbliebenen in einer späteren Zeit [8]. Es kann eine Art Lebenskultur auf der Intensivstation dar-stellen. Das Sprechen wird in Schriftform dargelegt und fällt so manchen Beteiligten deutlich leichter.

Der Theologe Johann Christoph Hampe verfasste „Zehn Ratschläge eines Schwerstkranken und Sterbenden an sei-nen Begleiter“ [13]. Sie bilden die Grund-lage für das Wake-up-Modell. Ein Auszug aus diesen Ratschlägen wird nachfolgend vorgestellt, verbunden mit dem Wunsch an den Leser, die Achtsamkeit und Unmit-telbarkeit menschlicher Nähe eines Ster-benden daraus spüren zu lernen und für die eigene Kommunikation aufzunehmen (nach [13]):

1. Lass nicht zu, dass ich in den letzten Augenblicken entwürdigt werde. Dass heißt, lass mich, wenn es irgendwie ein-zurichten ist, in der vertrauten Umge-bung sterben. Das ist schwerer, aber es wird dich bereichern, Sterbebegleiter zu sein.

2. Bleibe bei mir, wenn mich jetzt Zorn, Angst, Traurigkeit und Verzweiflung heimsuchen. Hilf mir zum Frieden hin-durchzugelangen.

3. Denke dann nicht, wenn es so weit ist und du hier ratlos am Bett sitzt, dass ich tot sei. Das Leben dauert länger, als die Ärzte sagen. Der Übergang ist lang-wieriger, als wir bisher wussten. Ich hö-re alles, was du sagst, auch wenn ich schweige und meine Augen gebrochen scheinen. Drum sage jetzt nicht irgend-etwas, sondern das Richtige. Du belei-digst nicht mich, sondern dich selbst, wenn du jetzt mit deinen Freunden be-langlosen Trost erörterst und mir zeigst,

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Palliativmedizin

dass du in Wahrheit nicht mich, son-dern dich selbst betrauerst, wenn du zu trauern beginnst. So vieles, fast alles, ist jetzt nicht mehr wichtig.

4. Das Richtige, was du mir jetzt sagen möchtest, wenn ich dich darum auch nicht mehr bitten kann, wäre zum Ers-ten das, was es mir nicht schwer, son-dern leichter macht, mich zu trennen; denn das muss ich. Ich wusste es auch längst, bevor du oder der Arzt es mir mit euren verlegenen Worten eröffnet hat-tet. Also sag mir, dass ihr ohne mich fer-tig werdet. Zeig mir den Mut, der sich abfindet, nicht den haltlosen Schmerz. Mitleid ist nicht angebracht. Jetzt leide ich nicht mehr.

5. Das Richtige, was du mir jetzt sagen möchtest, wenn ich dich auch vielleicht nicht mehr darum bitten kann, wä-re das Wort, aus dem ich gelebt habe. Wenn nichts bleibt vom Leben auf Er-den, so sind es doch diese Worte. Und wenn sie nie Wort geworden wären in unserem Leben, so musst du jetzt ver-suchen, sie zu finden. Hat es sie nicht gehabt, so hat unsere Liebe doch immer auf ihr Wort gehofft. Vielleicht war es ein einziger Bibelvers oder unser Hoch-zeitsspruch, aus dem wir lebten ein Le-ben lang, ein einziger, der unser Suchen jetzt zusammenfasst. Versuch es zu fin-den und mir ins Ohr zu sagen. Ich höre.

6. Ich höre, obwohl ich schweigen muss und nun auch schweigen will. Halte meine Hand. Ich will es mit der Hand sagen. Wisch mir den Schweiß von der Stirn. Streiche die Decke glatt. Bleib bei mir. Wir sind miteinander verbunden. Das ist das Sakrament des Sterbestands. Wenn nur noch die Zeichen sprechen können …, so lass sie sprechen.

7. Morgen, wenn sie dich nicht mehr allein lassen mit mir, sorge dafür, dass der Ton dieser Stunde zwischen uns nicht verlo-ren geht. Lass die ehrenden Worte in der Anzeige, den Aufwand auf dem Fried-hof. Das alles erreicht mich nicht mehr.

In diesen Ratschlägen spiegelt sich die Unmittelbarkeit der menschlichen Begeg-nung. Es ist oftmals nicht die geschliffe-ne medizinische Rhetorik, die sich Kran-ke, Sterbende und ihre Angehörigen wün-schen. Sie alle brauchen die menschliche Nähe auf Augenhöhe, von Angesicht zu

Angesicht. Sie brauchen in gleicher Wei-se den Beistand, den beispielsweise die eh-renamtlichen Hospizmitarbeiter in so ein-drucksvollen Formen in der Palliativver-sorgung und Hospizarbeit entwickelt und in die verschiedenen Versorgungsbereiche integriert haben. Somit ist die Integration hospizlicher und palliativmedizinischer Aspekte in die tägliche intensivmedizini-sche Arbeit hochsinnvoll und sowohl aus kultureller, aber auch aus allgemeiner Per-spektive zu empfehlen.

Fazit für die Praxis

Intensivmedizinische Behandlung ist ein hochkomplexes Arbeitsfeld. In ihrer heu-tigen Realisierung steht sie in der nahtlo-sen Weiterentwicklung des Rokoko, der ersten Hoch-Zeit von Militarismus und Bürokratisierung. Technikeinsatz, allum-fängliche Dokumentation und Abrech-nungsvorgaben sind Primat allen Han-delns. Das Behandlungsteam ist den Prinzipien des Taylorismus unterwor-fen; Humanmedizin und menschenna-he Pflege scheinen in diesem Duktus ro-mantisierende Idealisierung zu sein. Das Arbeitsfeld ist geprägt von Industrie-kultur – sachlich – nüchtern – gefühls-leer. Dies wird durch die Kriegssprache der Medizin noch verstärkt. Nicht zuletzt steht Kalkulation vor Kommunikation.Ethische Reflexionen, End-of-life ca-re und palliativ-hospizliche Elemente sind hierzu die positiven Ansätze einer Gegenbewegung, die den Ärzten und Pflegenden ihren Status als Menschen-behandler zurückgeben und sie nicht länger als Handlanger eines ausbeuten-den Imperiums namens Gesundheitsin-dustrie versklaven.Sterbenskranken Menschen wird es so-mit ermöglicht, ihr Leben durch Men-schen, begleitet in Würde, zu vollenden, und Angehörige werden gestärkt aus einer Begleitung herausgehen, in der sie sich als menschlicher Partner wahrge-nommen, gestützt und getröstet gefühlt haben.Wertschätzung, Achtsamkeit, Kongru-enz, Empathie, Unterstützung und Pietät können einer neuen medizinischen Kul-tur der Begleitung am Lebensende auf der Intensivstation Ausdruck verleihen 

und können hilfreich für ein verändertes, mitarbeiterbezogenes sowie patienten-orientiertes Bewusstsein in der täglichen Arbeit sein.

Korrespondenzadresse

PD Dr. C.H.R. WieseKlinik für Anästhesiologie,  Universitätsklinikum RegensburgFranz-Josef-Strauß-Allee 11, 93053 [email protected]

Interessenkonflikt.  Der korrespondierende Autor gibt für sich und seine Koautoren an, dass kein Interes-senkonflikt besteht.

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Edda und Peter Weimann

High Performance im Kranken-hausmanagementHeidelberg: Springer-Verlag 2012, 1. Aufl., 197 S., 64 Abb., 26 Tab., (ISBN 978-3-642-25067-5), gebunden, 49.95 EUR

Mit dem Buch „High Performance im Krankenhaus-management“ ha-ben die Autoren Edda und Peter Weimann eine überzeugende Dar-stellung von Ma-nagementtechni-

ken für alle Leitungsebenen eines Kranken-hauses zusammengefasst. 

Auf 180 Seiten wird komprimiert in 10 Kapiteln ein breit gefasstes Spektrum an Managementtechniken gut leserlich und verständlich aufbereitet. Vor jedem Kapitel werden die zu vermittelnden Inhalte kurz skizziert. In der anschließenden Darstellung werden die Problemstellungen in den Klini-ken anhand von praktischen Beispielen aus dem Klinikalltag illustriert und die zur Prob-lemlösung geeigneten jeweiligen Manage-mentwerkzeuge beschrieben, deren An-wendungsmöglichkeiten dargestellt und konkrete Handlungsempfehlungen abge-leitet. Der praktische Bezug zum Klinikall-tag ist dabei immer gegeben. 

Im Anschluss eines jeden Kapitels wer-den die wesentlichen zu vermittelnden In-halte kurz zusammengefasst und es wer-den zu dem angesprochenen Problemfeld konkrete Fragen gestellt, die den Leser im-mer wieder veranlassen, die konkreten In-halte mit seinen eigenen Erfahrungen zu vergleichen. Zudem gibt es am Ende jedes Kapitels Literaturhinweise, um die Thematik zu vertiefen. Das Beste an diesem Buch ist, dass auf verständliche, zielgerichtete und lösungsorientierte Art und Weise Manage-menttechniken mit direktem Bezug zu kon-kreten Problemstellungen des Klinikalltags vermittelt werden. 

Um in einem zunehmend marktwirt-schaftlich orientierten Gesundheitsmarkt zu bestehen, richtet sich das Buch an die-jenigen, die in Kliniken und Gesundheits-einrichtungen jeder Art die zum wirtschaft-lichen Erfolg eines Unternehmens notwen-digen Änderungen um- und durchsetzen müssen.

H. Vanherpe (Berlin)

Buchbesprechungen

482 |  Der Anaesthesist 6 · 2013

Palliativmedizin