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49 | Prävention und Gesundheitsförderung 1 · 2013 Schwerpunkt Das Thema Patientensicherheit wird in den USA seit Ende der 1990er Jahre und in Deutschland seit Mitte des vergange- nen Jahrzehnts ausführlich diskutiert. Diese Diskussion führte u. a. zur Befas- sung des Deutschen Ärztetages mit die- sem Thema im Jahr 2005 und zur Grün- dung des Aktionsbündnis Patientensi- cherheit e. V. (APS) im gleichen Jahr. Von großer Bedeutung war die Adaptation der internationalen Nomenklatur [Be- griffspaar unerwünschtes Ereignis (UE; „adverse event“) und vermeidbares UE, das auf einen Fehler („error“) zurückgeht (VUE; „preventable adverse event“; [12]]. Die Ergebnisse eines umfangreichen sys- tematischen Reviews auf der Basis von 241 international publizierten Studien, der die Häufigkeit von UE bei Krankenhaus- patienten auf 5–10 % bzw. 2–4 % (VUE), 1 % [Behandlungsfehler (VUE mit Sorg- faltsverletzung)] und 0,1 % (Mortalität an einem VUE) schätzte, ließen sich da- her auf Deutschland übertragen, so dass zeitnah mit der Entwicklung wirksamer Präventionsmaßnahmen begonnen wer- den konnte [6, 16]. Gerade auch die neu- esten Studien zur Prävalenz allein der no- sokomialer Infektionen [11] oder zur post- operativen Sterblichkeit [8] zeigen, dass die genannten Zahlen sehr konservati- ve Schätzungen darstellen, und dass die Situation eigentlich viel dramatischer ist. In den zurückliegenden Monaten hat die Diskussion über das Patientenrechte- gesetz deutlich gemacht, wie mühsam der weitere Weg sein wird. Bis auf die Beauf- tragung des Gemeinsamen Bundesaus- schusses zur Spezifizierung einrichtungs- interner Mindeststandards für das Risiko- management und für übergreifende Feh- lermeldesysteme [§ 137 Abs. 1d (Entwurf) SGB V] sind dort lediglich Regelungen vorgesehen, die die bisherige Rechtspre- chung rekapitulieren [1]. Dies gilt auch für die Etablierung des Behandlungsvertrags als neuer Form des Dienstvertrags nach § 630a ff. BGB, und im Falle der Aufklä- rung über Behandlungsalternativen ist durch die Beschränkung auf „gleicher- maßen indizierte und übliche Methoden“ (§ 630e Abs. 1) sogar eine Verschlechte- rung eingetreten. Wenn nicht gerade me- dienwirksam inszenierte Ereignisse (z. B. Todesfälle von Neugeborenen in Mainz oder Bremen) die Aufmerksamkeit auf dieses Thema lenken, herrscht wieder Ab- wehr und Bagatellisierung vor, auch wenn vor Ort viele Ärzte, Pflegende, Apotheker und Angehörige der anderen Berufsgrup- pen ungemein engagiert für die Verbes- serung der Patientensicherheit eintreten, wie die vielen praktischen Projekte zeigen. Man fühlt sich an die skeptischen Bilan- zierungen mehrerer amerikanischer Au- toren anlässlich der 5- und 10-Jahres-Ju- biläen des „To Err Is Human Report“ des „Institute of Medicine“ erinnert [5, 9, 10, 18]. Der Kern der Problematik liegt dar- in, dass nach einem falschen Verständ- nis des „No-blame-Ansatzes“ mehr Ver- pflichtung und Verantwortlichkeit („ac- countability“) abgelehnt wird, weil es der Freiwilligkeit der Beschäftigung mit dem Thema widerspräche und man sich hin- ter den Umständen versteckt, analog des Spruches „it’s the system, stupid“ [18]. Richtig verstanden, bezeichnet „No bla- me“ dagegen einen Managementansatz, der auf den innerinstitutionellen Rah- men bezogen ist (dort unverzichtbar, weil sonst kein Zugang zu Fehlern und Ereig- nissen gefunden werden kann). Dieser ist nicht als Aufhebung der Verantwortung im ärztlichen Handeln, selbst unter wid- rigen oder ökonomisch schwierigen Ver- hältnissen, anzusehen – sonst würde auch hierzulande „bad doctors get a free ride“ getitelt werden [7]. Dies gilt erst recht, wenn es sich um die Verantwortung von Institutionen (z. B. Krankenhäusern) oder Verbänden handelt. Anderenfalls käme der Verdacht auf, die Sicherheit der Be- handlung von Patienten sei ein disponi- bles Gut, das nur fallweise oder bei poli- tisch auszuhandelnden Bedingungen zu gewährleisten sei. Vor diesem Hintergrund ist es sinn- voll, sich über den Stand des Themas Pa- tientensicherheit in Deutschland im Jahr 2020 Gedanken zu machen, 15 Jahre nach Gründung des APS und somit auf halbem Weg. Dabei soll in diesem Artikel von sie- ben Thesen ausgegangen werden, die auf der Erfahrung der letzten Jahre beruhen und eine Extrapolierung in die Zukunft erlauben: 1. Die ersten Hausaufgaben, nämlich die Bearbeitung der „never events“, sind gemacht, die Aufmerksamkeit muss sich nun den häufigeren Ereignissen unterhalb der „Katastrophenschwelle“ zuwenden. 2. Messung schafft Verantwortung, Pa- tientensicherheitsindikatoren (PSI) zeigen Risikobereiche auf. Damit nicht nur „in den Brunnen gefallene Kinder“ (Ergebnisse) im Fokus stehen, muss vermehrt die Prozessqualität in den Mittelpunkt gerückt werden. 3. Diagnostische Fehler und daraus fol- gende unerwünschte Ereignisse müs- sen zusätzlich zu therapeutisch be- dingten Ereignissen Aufmerksamkeit finden. Matthias Schrappe Institut für Med. Statistik, Informatik und Epidemiologie (IMSIE), Universität zu Köln, Köln, Deutschland Patientensicherheit in Deutschland: Wo stehen wir im Jahr 2020? Präv Gesundheitsf 2013 ∙ 8:49–55 DOI 10.1007/s11553-012-0377-7 Online publiziert: 1. Februar 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012

Patientensicherheit in Deutschland: Wo stehen wir im Jahr 2020?

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49| Prävention und Gesundheitsförderung 1 · 2013

Schwerpunkt

Das Thema Patientensicherheit wird in den USA seit Ende der 1990er Jahre und in Deutschland seit Mitte des vergange-nen Jahrzehnts ausführlich diskutiert. Diese Diskussion führte u. a. zur Befas-sung des Deutschen Ärztetages mit die-sem Thema im Jahr 2005 und zur Grün-dung des Aktionsbündnis Patientensi-cherheit e. V. (APS) im gleichen Jahr. Von großer Bedeutung war die Adaptation der internationalen Nomenklatur [Be-griffspaar unerwünschtes Ereignis (UE; „adverse event“) und vermeidbares UE, das auf einen Fehler („error“) zurückgeht (VUE; „preventable adverse event“; [12]]. Die Ergebnisse eines umfangreichen sys-tematischen Reviews auf der Basis von 241 international publizierten Studien, der die Häufigkeit von UE bei Krankenhaus-patienten auf 5–10 % bzw. 2–4 % (VUE), 1 % [Behandlungsfehler (VUE mit Sorg-faltsverletzung)] und 0,1  % (Mortalität an einem VUE) schätzte, ließen sich da-her auf Deutschland übertragen, so dass zeitnah mit der Entwicklung wirksamer Präventionsmaßnahmen begonnen wer-den konnte [6, 16]. Gerade auch die neu-esten Studien zur Prävalenz allein der no-sokomialer Infektionen [11] oder zur post-operativen Sterblichkeit [8] zeigen, dass die genannten Zahlen sehr konservati-ve Schätzungen darstellen, und dass die Situation eigentlich viel dramatischer ist.

In den zurückliegenden Monaten hat die Diskussion über das Patientenrechte-gesetz deutlich gemacht, wie mühsam der weitere Weg sein wird. Bis auf die Beauf-tragung des Gemeinsamen Bundesaus-schusses zur Spezifizierung einrichtungs-interner Mindeststandards für das Risiko-management und für übergreifende Feh-lermeldesysteme [§ 137 Abs. 1d (Entwurf)

SGB V] sind dort lediglich Regelungen vorgesehen, die die bisherige Rechtspre-chung rekapitulieren [1]. Dies gilt auch für die Etablierung des Behandlungsvertrags als neuer Form des Dienstvertrags nach § 630a ff. BGB, und im Falle der Aufklä-rung über Behandlungsalternativen ist durch die Beschränkung auf „gleicher-maßen indizierte und übliche Methoden“ (§ 630e Abs. 1) sogar eine Verschlechte-rung eingetreten. Wenn nicht gerade me-dienwirksam inszenierte Ereignisse (z. B. Todesfälle von Neugeborenen in Mainz oder Bremen) die Aufmerksamkeit auf dieses Thema lenken, herrscht wieder Ab-wehr und Bagatellisierung vor, auch wenn vor Ort viele Ärzte, Pflegende, Apotheker und Angehörige der anderen Berufsgrup-pen ungemein engagiert für die Verbes-serung der Patientensicherheit eintreten, wie die vielen praktischen Projekte zeigen. Man fühlt sich an die skeptischen Bilan-zierungen mehrerer amerikanischer Au-toren anlässlich der 5- und 10-Jahres-Ju-biläen des „To Err Is Human Report“ des „Institute of Medicine“ erinnert [5, 9, 10, 18]. Der Kern der Problematik liegt dar-in, dass nach einem falschen Verständ-nis des „No-blame-Ansatzes“ mehr Ver-pflichtung und Verantwortlichkeit („ac-countability“) abgelehnt wird, weil es der Freiwilligkeit der Beschäftigung mit dem Thema widerspräche und man sich hin-ter den Umständen versteckt, analog des Spruches „it’s the system, stupid“ [18]. Richtig verstanden, bezeichnet „No bla-me“ dagegen einen Managementansatz, der auf den innerinstitutionellen Rah-men bezogen ist (dort unverzichtbar, weil sonst kein Zugang zu Fehlern und Ereig-nissen gefunden werden kann). Dieser ist nicht als Aufhebung der Verantwortung

im ärztlichen Handeln, selbst unter wid-rigen oder ökonomisch schwierigen Ver-hältnissen, anzusehen – sonst würde auch hierzulande „bad doctors get a free ride“ getitelt werden [7]. Dies gilt erst recht, wenn es sich um die Verantwortung von Institutionen (z. B. Krankenhäusern) oder Verbänden handelt. Anderenfalls käme der Verdacht auf, die Sicherheit der Be-handlung von Patienten sei ein disponi-bles Gut, das nur fallweise oder bei poli-tisch auszuhandelnden Bedingungen zu gewährleisten sei.

Vor diesem Hintergrund ist es sinn-voll, sich über den Stand des Themas Pa-tientensicherheit in Deutschland im Jahr 2020 Gedanken zu machen, 15 Jahre nach Gründung des APS und somit auf halbem Weg. Dabei soll in diesem Artikel von sie-ben Thesen ausgegangen werden, die auf der Erfahrung der letzten Jahre beruhen und eine Extrapolierung in die Zukunft erlauben:1. Die ersten Hausaufgaben, nämlich die

Bearbeitung der „never events“, sind gemacht, die Aufmerksamkeit muss sich nun den häufigeren Ereignissen unterhalb der „Katastrophenschwelle“ zuwenden.

2. Messung schafft Verantwortung, Pa-tientensicherheitsindikatoren (PSI) zeigen Risikobereiche auf. Damit nicht nur „in den Brunnen gefallene Kinder“ (Ergebnisse) im Fokus stehen, muss vermehrt die Prozessqualität in den Mittelpunkt gerückt werden.

3. Diagnostische Fehler und daraus fol-gende unerwünschte Ereignisse müs-sen zusätzlich zu therapeutisch be-dingten Ereignissen Aufmerksamkeit finden.

Matthias SchrappeInstitut für Med. Statistik, Informatik und Epidemiologie (IMSIE), Universität zu Köln, Köln, Deutschland

Patientensicherheit in Deutschland: Wo stehen wir im Jahr 2020?

Präv Gesundheitsf 2013 ∙ 8:49–55DOI 10.1007/s11553-012-0377-7Online publiziert: 1. Februar 2013© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012

Schwerpunkt

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4. Die Management-Perspektive (und somit auch das Zusammenwirken mit einem gut verstandenen Qualitätsma-nagement) muss über den individuel-len und individualistischen Ansatz ge-stellt werden.

5. Die Gesundheitspolitik muss wegen der Bedeutung für die Gesundheit der Bevölkerung ihre Verantwortung in stärkerem Maße als bislang erkennen und neben der für das deutsche Sys-tem typischen Selbstverwaltung dort normative Festsetzungen vornehmen, wo das Problem anderweitig nicht zü-gig und angemessen gelöst wird.

6. Es gibt auf lange Sicht keine Alternati-ve zur wissenschaftlichen Absicherung der Maßnahmen, die zur Verbesserung der Patientensicherheit eingebracht werden. Diese kann nur im Rahmen eines Versorgungsforschungsansatzes vorgenommen werden.

7. Eine vollständige, integrierte und nicht nur punktuell-randständige Aufnahme in die Ausbildung der Gesundheitsbe-rufe ist Conditio sine qua non.

„Never events“ und die drohende Banalisierung des Häufigen

Eine anhaltende Debatte zum Thema Pa-tientensicherheit, wie sie in entwickel-ten Gesundheitssystemen in den letzten 20 Jahren stattgefunden hat, geht i. Allg. von schweren, aber sehr seltenen Ein-zelereignissen aus, z. B. den „WSPPE’s“ („wrong site, wrong procedure, wrong pa-tient events“) oder der intratheakalen Ins-

tillation von Methotrexat in den Liquor-raum in der Onkologie. Durch die Akti-vitäten des Aktionsbündnisses Patienten-sicherheit e. V. (APS) und kooperieren-den Organisationen in Deutschland so-wie durch international tätige Einrichtun-gen sind hierzu in den letzten 5–10 Jah-ren Empfehlungen und Instrumen-te entwickelt worden, die eine Verbesse-rung der Patientensicherheit insbesonde-re im Krankenhausbereich erwarten las-sen (Übersicht z. B. unter http://www.ak-tionsbuendnispatientensicherheit.de, ge-meinsame Elemente dieser Empfehlun-gen s. [15]). Wenngleich untergesetzli-cher Natur, dürften diese Empfehlungen bereits heute „dem allgemein anerkann-ten Stand der medizinischen Erkenntnis-se“ (§ 70, SGB V) bzw. den Sorgfaltspflich-ten entsprechen.

Diese Fokussierung auf die „never events“ kann sich dabei nicht nur auf den unmittelbar einsichtigen Handlungsbe-darf berufen, sondern verdeutlicht auch das innovative Moment, das eine inten-sive Beschäftigung mit dieser Thematik für das Gesundheitswesen bereithält. Im Mittelpunkt stehen hier die Methode der auf das Konzept der Fehlerkette gestütz-ten Schadensanalyse und die Betonung des Systemversagens statt alleine der in-dividuellen Schuld. Die eigentliche und außerordentliche Leistung in dieser Phase ist in der „Säkularisierung des Unvorstell-baren“, in der Dekonstruktion des vorher als undenkbar, nur durch individuelles Verschulden Erklärbaren zu sehen. Die-se Leistung wird auch von den Gesund-heitsberufen anerkannt, weil es für de-

ren beruflichen Alltag unmittelbare und positive Auswirkungen zeigt, indem es die Angst nimmt, „es“ könnte doch im nähe-ren Umfeld (oder einem selbst) passieren, und indem es konkrete, umsetzbare Prä-ventionsmöglichkeiten an die Hand gibt.

Andererseits ist dieser Fokus aber auch die Achillesferse einer solchen „Pa-tientensicherheitsbewegung“, wie wir sie derzeit auch in Deutschland erleben. Auf der einfachsten Ebene ist nicht zu über-sehen, dass eine große Zahl von Perso-nen, die sich an die Empfehlungen halten, Präventionsanstrengungen (z. B. Check-listen, Vier-Augen-Prinzip) unterneh-men müssen, um ein Ereignis zu verhin-dern, das sie selbst aller Wahrscheinlich-keit nach nicht erleben werden. Zweitens ist die Frage nach der weiteren Perspek-tive offen, wenn Präventionsempfehlun-gen für die typischen „never events“ ent-wickelt sind und man sich logischerweise mit den „banalen“, häufigeren Ereignissen beschäftigen müsste (Stürze, Myokardin-farkte während des stationären Aufent-halts, nosokomiale Pneumonie). Und drittens, darauf wird weiter unten einge-gangen, was ist zu tun, wenn sich die Or-ganisationen trotz aller gut gemeinten Empfehlungen nicht daran halten oder sie nur pro forma erfüllen?

Teilt man UE grob nach Häufigkeit und patientenseitigen Schweregrad auf (. Abb. 1), lässt sich die Gruppe I der genannten „never events“ leicht abgren-zen, ebenso die Gruppe III der häufigen, aber leichten Ereignisse (obwohl eine ent-zündete periphere Verweilkanüle für den Patienten gar nicht so „leicht“ ist). Weist man entsprechend einer zweidimensio-nalen „failure mode and efficiency ana-lysis“ (FMEA), einem traditionellen Ana-lyseinstrument aus dem Qualitäts- und Risikomanagement, diesen Gruppen für beide Dimensionen jeweils maximal 10 Punkte zu, erhält man für diese beiden Gruppen eher niedrige Punktzahlen (10–30 Punkte bei maximaler Häufigkeit bzw. Schwere, aber niedrigen Werten für die komplementäre Dimension), zumindest verglichen mit der mittleren Gruppe II, in der mittelschwere Ereignisse mittlerer Häufigkeit zusammengefasst sind (25 bis über 50 Punkte). Hier – beim sekundä-ren Nierenversagen bei Kontrastmittelga-be (die zweithäufigste Form des „nosoko-

Abb. 1 9 Drei Grup-pen mit UE je nach Schweregrad und Häu-figkeit. Die mittle-re Gruppe bedarf der vermehrten Aufmerk-samkeit

Schwere

10

10

5

5

1

1 Häu�gkeit

Vincristin i.th.Seiten-Eingri�s-Patienten-verwechselung“Bauchtücher”

I

SturzDekubitus

NosokomialeInfektionen

DosierungsfehlerAkutes Nieren-versagendurch KM

II

FehlindizierterBlasenkatheterEntzündung ViggoMisslungeneBlutabnahme

II I

51| Prävention und Gesundheitsförderung 1 · 2013

mialen“ sekundären Nierenversagens) als Paradebeispiel – liegen die Aufgaben der Zukunft. Mühsame Aufgaben, aber sehr viel konkreter als sich für die Zukunft v. a. mit weichen Themen wie der (zugegebe-nermaßen wichtigen, s.  unten) Sicher-heitskultur zu widmen [18].

Prozess- vs. Ergebnisqualität: Patientensicherheitsindikatoren

Das Thema Patientensicherheit wird oft von einer Renaissance der Ergebnisquali-tät begleitet (Schweiz, USA). So sind die unerwünschten Ereignisse, die gemeinhin mit „Patientensicherheit“ assoziiert wer-den, meist als ergebnisrelevante Ereignisse zu charakterisieren (z. B. Rate periopera-tiven Zwischenfällen). Gleichzeitig spielt in einem modernen Verständnis von Pa-tientensicherheit die Prozessqualität eine entscheidende Rolle, denn die Beinahe-schäden, die eine Fehlerkette bilden (z. B. Schreibfehler im Patientennamen), wei-sen zweifelsfrei einen Prozesscharakter auf. Das Kind ist also noch nicht in den Brunnen gefallen, erst am „sharp end“, im letzten Schritt der Fehlerkette, tritt ein (negatives) Ergebnis ein.

Die diffizile Balance zwischen Prozess- und Ergebnisqualität spielt für die The-matik Patientensicherheit daher ein gro-ße Rolle. Einerseits sind es die Ergebnisse, die „zählen“, andererseits sind es die Pro-zessschritte, die Perspektiven für die Prä-vention aufzeigen, damit die Ergebnisse gar nicht erst auftreten. Auch im mess-technischen Zugang zeigen sich deutli-che Unterschiede. Ergebnisse sind rele-vant (das oft angeführte Beispiel der In-house-Todesfälle), andererseits müssen sie umfangreich risikoadjustiert werden und sind darüber hinaus Gegenstand von Dokumentationsproblemen. Prozessindi-katoren sind auf Prävention ausgerichtet (z. B. Desinfektionsmittelverbrauch), aber nicht immer nachweisbar mit Ergebnissen korreliert [19].

Will man nicht darauf verzichten, si-cherheitsrelevante Ereignisse und Feh-ler reliabel und valide zu erheben, um die Verantwortlichkeit im System (die „ac-countability“) der Leistungserbringer und der anderen „stakeholder“ zu verbessern, muss man sich stärker mit dem Thema der Patientensicherheitsindikatoren (PSI)

beschäftigen, so wie es der Sachverständi-genrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen in seinem Gutach-ten 2007 skizziert hat [12]. Dabei wird kein Weg daran vorbeiführen, sich auch mehr mit validen Prozessindikatoren zu beschäftigen, um nicht ausschließlich über „bad apples“ berichten zu müssen.

Diagnose vs. Therapie

Verwandt mit dieser Thematik ist die bis-herige Unterbewertung diagnostischer Fehler, sozusagen dem prozessualen Vor-lauf der therapeutischen Ergebnisse [18]. Ein klassisches Bespiel ist die Abnah-me von Blutkulturen erst nach der ersten Antibiotikagabe bei der ambulant erwor-

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Matthias Schrappe

Patientensicherheit in Deutschland: Wo stehen wir im Jahr 2020?

ZusammenfassungIm Jahr 2005 wurde in Deutschland das Ak-tionsbündnis Patientensicherheit gegründet, 5 Jahre nach Erscheinen des Reports „To Err Is Human“ in den USA. Der Artikel skizziert, ba-sierend auf sieben Thesen, die weitere Ent-wicklung mit Bezug auf den Zeithorizont 2020. 1) Nach der Bearbeitung der „never events“ stehen die häufigeren Ereignissen unterhalb der „Katastrophenschwelle“ an, 2) Patientensicherheitsindikatoren (PSI) müssen vermehrt die Prozessqualität in den Mittel-punkt rücken, 3) diagnostisch bedingte un-erwünschte Ereignisse sind bislang unterbe-wertet und werden wichtiger, 4) die Manage-mentperspektive ist langfristig dem individu-ellen und individualistischen Ansatz überge-ordnet, 5) die Gesundheitspolitik muss we-gen ihrer Garantenstellung in stärkerem Ma-ße als bisher normative Festsetzungen vor-nehmen, wenn das Problem anderweitig nicht angemessen gelöst wird, 6) es besteht

keine Alternative zur wissenschaftlichen Ab-sicherung der Maßnahmen der Interventio-nen (Versorgungsforschung), und 7) gibt es keine Alternative zur vollständigen, integrier-ten und nicht nur punktuell-randständigen Aufnahme in die Ausbildung der Gesund-heitsberufe. In dem Artikel wird zu jedem die-ser Punkte kurz der aktuelle Wissensstand re-feriert und der Handlungsbedarf geschildert. Um im Jahr 2020 den Stand der weiteren Ent-wicklung zu beurteilen, wird der Grad der In-tegration in die unterschiedlichen Ausbil-dungsgänge der Gesundheitsberufe vorge-schlagen – einfach zu messen, relevant und aussagekräftig für das Ausmaß, mit dem man sich im deutschen Gesundheitswesen weiter mit dem Thema beschäftigt.

SchlüsselwörterPatientensicherheit · Ausbildung · Versorgungsforschung

Germany: patient safety in 2020

AbstractThe German Coalition for Patient Safety was founded in 2005, 5 years after the publica-tion of the “To Err Is Human” Report in the USA. In this article, the further develop-ment of the patient safety issue in Germa-ny until 2020 is specified, based on seven as-sumptions. (1) After the successful work on the “never events” other adverse events with higher frequency but lower severity is crucial, (2) patient safety indicators should, in addi-tion to outcome, include process markers, (3) diagnostical adverse events are misleading-ly underestimated and have to be considered, (4) the management perspective is on the long run dominating the individualistic ap-proach, (5) German health policy can no lon-ger delegate patient safety issues to health care players but has to meet its accountabil-

ity in areas where self-regulation does ob-viously not work, (6) the scientific approach (outcomes research) has to be enforced, and (7) profound and comprehensive integration of the safety issue in eduction of all health care professions is essential. To each of these assumptions, the current state is outlined and the need of action discussed. The devel-opment in the year 2020 could perhaps best be estimated by the degree of integration in the educational context, which is easily mea-sured, relevant and which could be a valu-able and valid marker for further success on patient safety on the national level.

KeywordsPatient safety · Teaching · Training · Outcomes research

Zusammenfassung · Abstract

Schwerpunkt

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benen Pneumonie, weil hier keine aussa-gekräftigen Befunde mehr zu erwarten sind. Die eigentliche Therapie kann feh-lerfrei erfolgen, führt jedoch zu einem u. U. schwerwiegenden unerwünschten Ereignis, wenn Fehler in der Diagnostik gemacht wurden und ein nicht indizier-tes therapeutisches Herangehen gewählt wurde. Fehlertheoretisch befindet man sich in einem „diagnostischen Irrtum“. Der Begriff Irrtum, eine Fehlerunter-form, bezeichnet im Gegensatz zum Aus-führungs- und Wahrnehmungsfehler das Verfolgen eines falschen Plans, innerhalb dessen aber alles richtig gemacht wird.

Als eine Ursache für die bisherige Unterschätzung dieser Thematik besteht darin, dass nach der gängigen Rechtspre-chung der Arzt nicht die richtige Diagno-se schuldet. Diese Thematik dürfte eines der schwierigsten Aufgaben für eine Ver-besserung der Patientensicherheit in Zu-kunft darstellen, denn diagnostische Fehl-entscheidungen sind sehr viel weniger leicht zu erfassen und nachzuverfolgen als therapeutische Fehler, weil sie nicht so-gleich auffallen. Wichtig ist hier die Nut-zung von Leitlinien, welche die diagnos-tischen Prozesse abbilden; Leitlinien als Instrument der Standardisierung von Ab-läufen ist nicht umsonst eines der wich-tigsten Instrumente zur Verbesserung der Patientensicherheit [3].

Welche Bedeutung diese Thematik hat, zeigt die Überlegung, dass auch eine Überdiagnostik zu unerwünschten Ereig-nissen bzw. Schäden führen kann, wenn sie zu falsch-positiven Befunden führt (z. B. PSA-Screening, CT-Screening Tho-rax) und Patienten Eingriffen unterwor-fen werden, die sonst nicht notwendig ge-worden wären und keinen positiven Ef-fekt auf das Outcome der Patienten haben.

Keine Patientensicherheit ohne Managementperspektive

Die Verbesserung der Patientensicherheit ist eine individuelle Aufgabe der Angehö-rigen der Gesundheitsberufe (und ihrer Professionen). Alle diesbezüglichen An-strengungen (z. B. Einführung eines Feh-lermeldesystems, Erfassung nosokomia-ler Infektionen etc.) werden jedoch inner-halb von Organisationen umgesetzt und am Leben gehalten. Die ersten Projekte

mögen noch wegen ihrer eigenen Dyna-mik und Bedeutung erfolgreich sein, aber „… once the low-hanging fruit has been picked, their blunt tools become increa-singly ill-suited to drive progress in com-plex, nuanced areas“ [18]. Wie auch die Fehlerkettenanalyse regelmäßig erbringt, sind organisatorische und Systemfaktoren für die Entstehung von UE von entschei-dender Bedeutung (s. klassisches Beispiel Teamversagen). In der Konsequenz ist die Verbesserung der Patientensicherheit eine organisatorische und somit Management-aufgabe, entscheidend geprägt vom Enga-gement der Führung und von dem Grad, in dem eine Sicherheitskultur (als Unter-form der Organisationskultur) verwirk-licht werden kann.

Dies ist leichter gesagt als getan, auf je-den Fall reicht es nicht aus, sich statt kon-kreter organisatorischer Maßnahmen und Strukturveränderungen umfangreich am Diskurs über die leider mangelhafte Si-cherheitskultur zu beteiligen. Was ein Er-folg versprechendes Risikomanagement ausmacht, kann etwa wie folgt beschrie-ben werden:

4 Risikomanagement ist nicht die spe-zialisierte Aufgabe eines/r „safety-of-ficers“, sondern eine umfassende Auf-gabe der gesamten Organisation.

4 Die Führung muss sich offen zu die-sem Ziel bekennen und sollte regel-mäßig gegenüber den Mitarbeitern, den Aufsichtsgremien und der Öf-fentlichkeit hierzu Rechenschaft ab-legen (z. B. Risikobericht, der neben den finanziellen Perspektiven auch den klinischen Bereich abdeckt). Eine frühzeitige Einbindung der Mitarbei-tervertretung ist essentiell, ein früh-zeitig verabschiedetes Kommunika-tionskonzept gegenüber der Öffent-lichkeit kann im Falle eines größeren Ereignisses entscheidend sein.

4 Um Fehlermeldesysteme („critical in-cident reporting systems“, CIRS) und überhaupt ein offenes, der Analy-se zugängliches Umgehen mit Sicher-heit zu ermöglichen, sollte die Füh-rung den Mitarbeitern Sanktionsfrei-heit für gemeldete Vorfälle garantie-ren (nonpunitives Management).

4 Unerwünschte Ereignisse aller Art und Fehler (d. h. Regelverletzun-gen), wie sie im CIRS gemeldet wer-

den, müssen konsequent nachverfolgt und aufgeklärt werden, Konsequen-zen müssen nachvollziehbar eingelei-tet werden. Ereignisse, die in anderen Systemen beobachtet werden (in ers-ter Linie ist hier die Krankenhaushy-giene, die externe Qualitätssicherung, das Beschwerdemanagement, Patien-tenbefragungen und Aussagen der Patientenbeauftragten zu nennen), sollten mit herangezogen werden.

4 Das Risikomanagement muss kohä-rent sein, d. h. alle Abteilungen und Aufgabenbereiche, deren Kenntnis-se und Sichtweisen hier sinnvoll ein-zusetzen sind, müssen veranlasst wer-den, zu diesem Thema nahtlos zu-sammenzuarbeiten – das allein macht die aktive Beteiligung der Führung notwendig. Hier sind in erster Li-nie Risikomanagement, Qualitätsma-nagement, medizinisches Controlling, IT-Abteilung und Abrechnung, „pub-lic relations“, Hygiene und Infektions-management, Apotheke und Arznei-mittelkommission, Transfusionsme-dizin und OP-Management zu nen-nen, natürlich auch die klinischen Abteilungen – wenngleich die Ma-nagement-nahen Einrichtungen hier in erster Linie gemeint sind, denn so-bald die Fehlerproblematik als wich-tig erkannt wird („wer herrscht über das CIRS?“), gibt es eine Konkurrenz um diesen Bereich, um den eigenen Machtanspruch auszubauen, mit der Folge von Abgrenzungen, die allesamt für das Ergebnis negativ sind.

4 Das Risikomanagement muss konsis-tent sein, d. h. die Führung muss da-rauf achten, dass die gewählten An-sätze zu einander passen und gut ab-gestimmt sind. Gerade zu Beginn, zu einem Zeitpunkt, an dem die Akzep-tanz steigt, gibt es plötzlich einen Run auf entsprechende Instrumente, die verfolgten Ansätze können dabei so weit auseinanderdriften, dass keine sinnvolle Aussage mehr möglich ist (Beispiel: anonyme oder nicht-anony-me Meldung im CIRS).

In der weiteren Ausformung fehlt es hier allerdings noch an einer weiterführenden und sich normativ auswirkenden Diskus-sion, an der sich auch die im Qualitäts-

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und Sicherheitsbereich tätigen Organi-sationen und wissenschaftlichen Gesell-schaften stärker beteiligen sollten. Es ist nicht verständlich, dass man in anderen relevanten gesellschaftlichen Bereichen (z. B. Finanzwirtschaft) auf verbindliche Konzepten setzt, ausgerechnet aber im Gesundheitsbereich Regelungen zur Stei-gerung der „accountability“ mit Verweis auf die professionelle Autonomie und die angeblichen negativen Auswirkungen fehlender Freiwilligkeit verhindert wer-den. Zu denken ist z. B. an die Veröffent-lichung der Einführung von Fehlermel-desystemen einschließlich der Zahl der eingegangenen und erfolgreich bearbei-teten Meldungen, einem reinen Prozess-parameter, der leicht überprüfbar ist und eine wichtigen Einblick gibt (eine hohe Zahl von Meldungen entspricht z. B. eher einer adäquaten Sicherheitskultur als de-ren Fehlen). Der Sachverständigenrat hat die Anforderungen an Verantwortlichkeit im Gesundheitswesen umfangreich dar-gestellt [13].

Ein besonderes Problem stellt der am-bulante Bereich dar [2]. Im allgemein-ärztlichen Bereich wird in Deutschland durch die „Jeder-Fehler-zählt-Initiative“ ein Menge getan, aber auch hier sind wei-tergehende Lösungen notwendig. Es ist natürlich fraglich, ob die im ambulan-ten Bereich vorherrschenden kleinunter-nehmerischen Strukturen ausreichen, um umfassende Risikomanagementstrategien einzuführen und umzusetzen. Eventuell sind nur größere Einrichtungen wie Ärz-tehäuser und „medical homes“ [13], die sich der populationsbezogenen, d. h. sek-torübergreifenden Versorgung der Bevöl-kerung widmen, dazu in der Lage.

Die Aufgabe der Politik

In Deutschland spielt die Selbstverwal-tung der „Player“ eine große Rolle. Gerne werden diesen Verbänden und dem Ge-meinsamen Bundesausschuss (G-BA) von der (Gesundheits)Politik Aufgaben zuge-wiesen mit der Maßgabe, sich hier bezüg-lich der Umsetzung zu einigen. So oft dies auch ein gutes Vorgehen sein mag, beim Thema Patientensicherheit muss die Be-auftragung der Selbstverwaltung kritisch hinterfragt werden. Der Entwurf des Pa-tientenrechtegesetzes gibt vor, der G-BA

solle sich um die Spezifikation der An-forderungen des Risikomanagements für das einrichtungsinterne Qualitätsmanage-ment bemühen. Ob hier wirklich wirksa-me Vorgaben gemacht werden, oder die Dinge nur zerredet werden wie beim The-ma Mindestmengen (eines der wichtigs-ten Beispiele für das Versagen des Selbst-verwaltungsansatzes), wird man abwarten müssen. Dabei wäre es einfach, zu Rege-lungen zu kommen, die sofort Wirkung zeigen, als Beispiel sei nur die Desinfek-tionsmittelmenge pro Mitarbeitertag ge-nannt. Das Argument, dann würde eben Desinfektionsmittel weggeschüttet, sagt mehr über diejenigen aus, die dieses Ar-gument vorbringen, als über die Tauglich-keit dieses Indikators: ein solcher Miss-brauch (wenn es wirklich soweit kommen sollte – da bleiben doch Zweifel) ließe sich z. B. durch Stichproben und direkte Beob-achtungsinstrumente, wie sie im Rahmen der „Aktion Saubere Hände“ (http://www.aktionssauberehaende.de) entwickelt und validiert wurden, sofort entdecken, ganz abgesehen davon, dass die erhöhten Raten nosokomialer Infektionen, die die Folge wären, sowieso eine kritischen Revision zur Folge hätten. Man darf nicht aus den Augen verlieren, wie schwerwiegend die Problematik Patientensicherheit ist, und dass der Gesundheitspolitik auf Bundes- und Landesebene hier eine Garantenstel-lung für die Prävention von vermeidbaren – denn hierum handelt es sich – Schädi-gungen von Patienten im Gesundheitswe-sen zukommt. Es gäbe plötzlich eine töd-lich verlaufende Infektionskrankheit, bei der durch Beachtung von Präventions-maßnahmen 17.000 Todesfälle vermie-den werden könnten, dann stelle man sich vor, mit welcher Stringenz staatliche Or-gane hier eingreifen würden.

Ohne Forschung weder Gewissheit noch Perspektive – aber komplexe Methodik!

Die Evidenz der Maßnahmen zur Verbes-serung der Patientensicherheit wird die Entwicklung der nächsten Jahre maßgeb-lich beeinflussen, insbesondere da es auch bei Beachtung aller Präventionsmaßnah-men weiter zu unerwünschten Ereignis-sen kommen wird. In diesem Zusammen-hang wird früher oder später die Forde-

rung nach klaren Nachweisen aufkom-men, dass die derzeit (mit der Euphorie der ersten Durchbrüche) eingeführten Maßnahmen auch wirklich wirksam sind.

Die Forschungsansätze beruhen auf der Methodik der klinischen Epidemiolo-gie sowie des ganzen Spektrums der Ver-sorgungsforschung, von den Organisa-tionswissenschaften über die Psycholo-gie bis zur Ethik und Gesundheitssystem-forschung. Die interne und externe Va-lidität umfasst die evidenzbasierte Me-dizin ebenso wie die Methodik der Ver-sorgungsforschung. Zum einen gilt es, Maßnahmen unter „Laborbedingungen“ zu untersuchen, zum anderen ist gerade beim Thema Patientensicherheit die Um-setzungsproblematik im Alltag der Ver-sorgung und die Evaluation komplexer, multipler Interventionen notwendig. Die Einführung einer Checkliste ist eben nicht nur eine Einpunktintervention sondern eine höchst komplexe multivalente Inter-vention (Schulung, Distribution, Art der Implementierung, Reimplementierung etc.), die in einer komplexen organisato-rischen Umgebung vorgenommen wird.

Unerwartete Ergebnisse sind nicht ausgeschlossen und können zunächst die Gutwilligen irritieren [17]. Eine ho-he Augenscheinvalidität kann täuschen: die Verbannung von hochkonzentrier-tem Kaliumchlorid, einem wichtigen In-fusionsbestandteil, das bei versehentli-cher, unverdünnter Applikation zum so-fortigen Herzstillstand führt, von den Sta-tionen kann zu einem verminderten Risi-ko der Falschinfusion führen, aber auch zu „Satellitenapotheken“, wenn die zen-trale Apotheke nicht zeitnahe genug lie-fert – mit der Konsequenz, dass unter dem Strich das Risiko höher ist als es vorher war. Auch auf Surrogatparameter ist nicht unbedingt Verlass, obwohl sie auf den ers-ten Blick klare Zusammenhänge aufzuzei-gen scheinen. So wird durch Verkürzung der Schichten die durch Müdigkeit be-dingte Fehlerrate bei Ärzten zwar gerin-ger, dieser Effekt kann aber durch nega-tive Effekte an anderer Stelle (z. B. wegen Informationsverlust bei erhöhter Überga-befrequenz) wieder aufgehoben werden [17]. Eine Verbesserung der Patienten-sicherheit in komplexen Kontextbedin-gungen kann nicht erreicht werden, wenn man ausschließlich isolierte Faktoren be-

Schwerpunkt

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trachtet und in randomisierten Untersu-chungen untersucht – und gleichzeitig sind solche Untersuchungen als erste Stu-fe notwendig. Wissenschaftlich muss bei Evaluationsstudien der Effekt auf die ge-samte Fehlerkette im Fokus stehen.

Im Einzelnen sind folgende For-schungsfragen von größter Wichtigkeit:

4 Epidemiologie und Erhebungsmetho-dik: wie Fehler und UE zählen?

4 Validierung von CIRS-Systemen: kommt es nachgewiesenermaßen zu Verbesserungen?

4 Validierung von Patientensicherheits-Indikatoren: wie Risiko und UE vor-hersagen?

4 welche Rolle spielen administrati-ve Daten im Vergleich zu klinischen Surveillance-Daten: welcher Messauf-wand ist notwendig?

4 Evaluation von Präventionsmaßnah-men: was wirkt wirklich?

4 Teamfaktoren in der Entstehung und Prävention: welche Rolle ist wirklich nachweisbar?

4 Faktoren einer Etablierung oder Ver-besserung einer Sicherheitskultur: wie diesen Begriff spezifizieren und ope-rationalisieren?

Der Forschungsbedarf ist in diesem zen-tralen Feld der Qualitäts- und Versor-gungsforschung enorm und drängend. Der multidisziplinäre Ansatz der Versor-gungsforschung ist unumgänglich zu be-achten (und dürfte in seiner ganzen Brei-te zur Geltung kommen).

Lehre

Die Integration des Themas Patientensi-cherheit in Lehre und Ausbildung sowie Weiterbildung der Gesundheitsberufe ist ein unerlässlicher Schritt, um zu nachhal-tigen Verbesserungen zu kommen. Al-lerdings ist unter „Integration“ nicht die punktuelle Abhandlung einiger Grund-sätze zu verstehen, sondern die Integra-tion in den gesamten Studienaufbau im Sinne einer (Sicherheits-)„Kultur“ der Ausbildung [4]. Voraussetzung für die Entwicklung tragfähiger Ausbildungs-konzepte sind eine Sichtung der bisheri-gen Erfahrungen, die Systematisierung der Herangehensweisen und die Entwick-lung eines umfassenden Konzepts.

Es lassen sich fünf verschiedene Lehr-angebote unterscheiden, die in verschie-denen Phasen des Studiums eingebracht werden und die in dieser Reihenfolge fortschreiten, ausgehend von dem kog-nitiven Wissenstransfer und die Vermitt-lung von Fähigkeiten zum Ziel der Ver-änderung der grundlegenden Einstellun-gen. Bereits in 1) Einführungsveranstal-tungen und vorklinischen Einheiten soll-ten grundlegende Fragen angesprochen werden, um das Interesse zu wecken bzw. die Erwartungen der Studierenden nicht zu enttäuschen, denn ähnlich der norma-len Bevölkerung ist hier von dem Vorwis-sen auszugehen, dass die Gesundheits-versorgung nicht fehlerfrei ist. 2) Bei der systematischen Wissensvermittlung ge-lingt die primäre Vermittlung des grund-sätzlichen Fehlerverständnisses i.  Allg. sehr gut, schwierig gestaltet sich die Ge-wichtung der Handlungsfelder (z. B. häu-figste Arten von UE) und die Gestaltung der Umsetzung von Verbesserungsmaß-nahmen (nach der Fehlerkettenanalyse: was ist tatsächlich machbar). 3) Die (be-schränkten) Erfahrungen in der Integ-ration in klinische Vorlesungen zeigen eine hohe Aufmerksamkeit bei den Stu-dierenden und eine große Handlungsre-levanz. 4) Simulationstraining und Trai-ning in „Cockpit Ressource Management“ sind unerlässlich und dürfen nicht an den technischen Fähigkeiten stehen bleiben, sondern auch die Hinterfragung der so-zialen Rollen (Vorbild, Verhalten gegen-über Mitarbeitern, Patienten) und Fragen der Teamfunktion mit einbeziehen [14]. 5) Der problemorientierte Ansatz wird häu-fig kasuistisch verstanden, sollte aber in Richtung des Problemorientierten Ler-nens ausgebaut werden, soweit dies mit dem Gesamtkonzept der Ausbildung ver-einbar ist.

Die Lehre zu Patientensicherheit muss in diesem Sinne mehrere Ansätze um-fassen. Systematische Vorlesungen sind wichtig, können durchaus aber für spe-ziell Interessierte zugeschnitten sein (kli-nischer Abschnitt), im Mittelpunkt ste-hen aber Simulations- und Teamtraining, einzelne Einheiten in den großen klini-schen Fächern (Chirurgie, Innere Medi-zin) und problemorientierte Ansätze bei zunehmendem Patientenkontakt. In Zu-kunft ist es als nächster Schritt zwingend,

einen berufsgruppenübergreifenden An-satz in den Vordergrund zu stellen, da die Lösungsmöglichkeiten auch interprofes-sioneller Natur sind.

Fazit für die Praxis

Der Sachverständigenrat zur Begutach-tung der Entwicklung im Gesundheits-wesen hat dem Kapitel zur Thematik Pa-tientensicherheit in seinem Gutachten 2007 nicht ohne Absicht ein Kapitel zur Verantwortlichkeit („accountability“) vo-rangestellt. Dieser Konnex wird auch in der amerikanischen Diskussion gesehen [9, 18]: die Verantwortlichkeit auf allen Ebenen und bei allen Beteiligten des Ge-sundheitswesens muss gesteigert wer-den. Nur muss der Weg auch klar sein, und die spezifischen Aufgaben müssen formuliert sein. Hier ein Versuch: Die Pa-tientensicherheitsspezialisten müssen sich demnächst mehr den „kleinen“ Din-gen zuwenden (und gleichzeitig ein Au-ge auf den „großen“ Ereignissen behal-ten). Sinnvolle Patientensicherheitsindi-katoren mit Prozesscharakter sollten er-gänzend zu Ergebnisindikatoren rotie-rend eingesetzt werden, um den „safe-ty level“ einer Institution zu beobach-ten. Neben der Therapie müssen gera-de unter dem Prozessaspekt diagnosti-sche Entscheidungswege größere Beach-tung finden. Ganz zentral: die Verbesse-rung der Patientensicherheit geht in ers-ter Linie von einem organisationalen Ansatz aus: „it’s management, stupid“. Die Gesundheitspolitik hält sich gerade in Deutschland gerne bedeckt und de-legiert an die Selbstverwaltung, wie auch jetzt wieder im Patientenrechtegesetz. Allerdings hat die Politik auf Länder- und Bundesebene eine Garantenstellung und muss – wenn sie delegieren will – zumin-dest zeitnahe nachhalten, ob die Proble-me auch nachweisbar gelöst werden; an-derenfalls sind Vorgaben zu machen. Die Patientensicherheitsforschung muss un-abhängig ausgestaltet und universitär getragen sein. Sie hat auf dem Boden der Versorgungsforschung die Aufgabe, Ins-trumente zu evaluieren und langfristige Entwicklungen zu antizipieren. Sie kann damit auch an einem entscheidenden Punkt mit dazu beitragen, dass langfris-

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tig wirklich eine Verbesserung eintritt: in der Lehre, in der Ausbildung der Gesund-heitsberufe. Vielleicht ist es hier, an dem Maß, in dem Patientensicherheit in die Ausbildung aller Gesundheitsberufe in-tegriert ist, im Jahr 2020 am besten er-kennbar, am leichtesten ablesbar, ob es wirkliche Fortschritte gegeben hat und weiter geben wird.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Matthias SchrappeInstitut für Med. Statistik, Informatik und Epidemiologie (IMSIE)Universität zu KölnKerpener Straße 62 50937 Kö[email protected]

Interessenkonflikt. Der Korrespondenzautor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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