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BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK HEFT 43 SEPTEMBER 2009 www.perspektive21.de WIE DER WIEDERANFANG DER SOZIALDEMOKRATIE IN BRANDENBURG GELANG THOMAS KRALINSKI: 20 sozialdemokratische Jahre MANFRED STOLPE: Die Schutzmacht der kleinen Leute STEFFEN REICHE: Wir sagen hier „Du“ REGINE HILDEBRANDT: Mit Haut und Haaren gefordert WOLFGANG BIRTHLER: Mein 9. November JES MÖLLER: „Dann nehmt doch Regine Hildebrandt“ HOLGER BARTSCH: Von Null auf Hundert ALBRECHT GERBER: Puls 180 MARTIN GORHOLT: Die Zukunft vor sich ANNE-KATHRIN OELTZEN: Die SPD in Brandenburg MATTHIAS PLATZECK: Zupackend und optimistisch SONDERAUSGABE 20 Jahre SDP

perspektive21 - Heft 43

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20 Jahre SDP

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Page 1: perspektive21 - Heft 43

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

HEFT 43 SEPTEMBER 2009 www.perspektive21.de

WIE DER WIEDERANFANG DER SOZIALDEMOKRATIE IN BRANDENBURG GELANG

THOMAS KRALINSKI: 20 sozialdemokratische JahreMANFRED STOLPE: Die Schutzmacht der kleinen LeuteSTEFFEN REICHE: Wir sagen hier „Du“REGINE HILDEBRANDT: Mit Haut und Haaren gefordertWOLFGANG BIRTHLER: Mein 9. NovemberJES MÖLLER: „Dann nehmt doch Regine Hildebrandt“ HOLGER BARTSCH: Von Null auf HundertALBRECHT GERBER: Puls 180MARTIN GORHOLT: Die Zukunft vor sichANNE-KATHRIN OELTZEN: Die SPD in BrandenburgMATTHIAS PLATZECK: Zupackend und optimistisch

S O N D E R A U S G A B E

20 Jahre SDP

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| Hoffmann und Campe | Das will ich lesen

20 Jahre nachder friedlichenRevolution von 1989:

Wie viel Einheit haben wir erreicht? Welchen Aufbruch braucht Deutsch-land jetzt?

224 Seiten,gebunden

Eine persönliche Bestandsaufnahme

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20 Jahre SDPAm 26. August vor genau 20 Jahren veröffentlichten Markus Meckel und

Martin Gutzeit den Aufruf zur Gründung einer sozialdemokratischen Parteiin der DDR. Das war der erste Appell zur Gründung einer Oppositionsbewegungin der DDR, im September folgten dann das Neue Forum, Demokratie Jetzt undandere. Ganz bewusst ging es den Initiatoren um eine neue Partei – weil sie dieMachtfrage stellen wollten. Sie forderten damit ganz klar die SED heraus – dennmit einer neuen Sozialdemokratie griffen sie das Machtmonopol der SED an,zumal diese sich ja als Vereinigung von KPD und SPD verstand.

Die Gründung der SDP 1989 war damals ein sehr mutiger und weitsichtigerSchritt – Markus Meckel hat darüber bereits in der vergangenen Ausgabe dieserZeitschrift berichtet. Eigentlich gebührt diesem Teil der friedlichen Revolutiondeutlich mehr Aufmerksamkeit. Die Perspektive 21 will dazu mit dieser Sonder-ausgabe einen Beitrag leisten. Zumal die wiedergegründete Sozialdemokratie eineErfolgsgeschichte ist. Die SPD regiert heute in fünf von sechs neuen Ländern,sie hat mit Persönlichkeiten wie Manfred Stolpe, Wolfgang Thierse, HaraldRingstorff, Regine Hildebrandt oder Matthias Platzeck sehr wichtige Identifi-kationsfiguren und Kämpfer für die soziale Demokratie in Ostdeutschland hervor-gebracht. Als einzige Parteineugründung hatte es die SPD in den neuen Ländernimmer schwer – doch sie hat ganz wesentlich zum geglückten Aufbau beigetragen.Und wird dies auch in Zukunft tun.

Mit diesem Heft wollen wir Geschichte in Geschichten erzählen und die Anfangs-zeit der SDP in der DDR und in Brandenburg beleuchten. Und am Schluss desHeftes stellen wir Matthias Platzeck die Frage, wie die SPD auch in Zukunft erfolg-reich sein kann – in Brandenburg und in Deutschland.

Ich wünsche Ihnen eine kurzweilige und spannende Lektüre.

IHR KLAUS NESS

P.S. Ich möchte allen herzlich danken, die bei der Ausgestaltung des Heftes mit-geholfen haben und ihre „historischen Schätze“ vom Dachboden geholt haben –insbesondere gilt der Dank Albrecht Gerber, Wilma Jacobi, Rainer Karchniwyund Konny Schulz.

vorwort

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impressum

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inhalt

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20 Jahre SDPWIE DER WIEDERANFANG DER SOZIALDEMOKRATIE

IN BRANDENBURG GELANG

20 SOZIALDEMOKRATISCHE JAHRE: Eine Chronik ................................................ 17

Zusammengestellt von Thomas Kralinski

MANFRED STOLPE: Die Schutzmacht der kleinen Leute ...................................... 119

Über die Gründung der SDP und seinen Eintritt in die SPD

STEFFEN REICHE: Wir sagen hier „Du“ ................................................................ 25

Wie die SDP den Weg zur SPD fand

REGINE HILDEBRANDT (†): Mit Haut und Haaren gefordert .................................. 31

Wie ich zur SPD gekommen bin

WOLFGANG BIRTHLER: Mein 9. November .......................................................... 35

Der Tag, an dem ich Sozialdemokrat wurde

JES MÖLLER: „Dann nehmt doch Regine Hildebrandt“ ........................................ 37

Stolz und selbstbewußt: Die SPD-Fraktion in der Volkskammer

HOLGER BARTSCH: Von Null auf Hundert .......................................................... 47

Mein Weg zur SPD

ALBRECHT GERBER: Puls 180 .............................................................................. 51

Vom Anfang und Aufbruch 1990 bei der SPD in Potsdam

MARTIN GORHOLT: Die Zukunft vor sich .............................................................. 59

Wie wir 1990 die Brandenburger SPD aufbauten

ANNE-KATHRIN OELTZEN: Die SPD in Brandenburg ............................................ 65

Wie der Wiederaufbau der Sozialdemokratie gelang

MATTHIAS PLATZECK: Zupackend und optimistisch ............................................ 79

Über seinen Eintritt in die SPD und die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert

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6 dezember 2007 – heft 36

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24. JULI +++ Markus Meckel und MartinGutzeit rufen in Berlin zur Gründungeiner Sozialdemokratischen Partei inder DDR auf.

26. AUGUST +++ Markus Meckel undMartin Gutzeit stellen am 200. Jah-restag der Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte die Initiative zurGründung der SDP öffentlich vor.

7. OKTOBER +++ In Schwante bei Ora-nienburg gründen 40 Personen dieSozialdemokratische Partei der DDR,SDP, wieder. Es ist die erste Partei,die sich in der DDR neu gründet.Gleichzeitig wird ein Aufnahmeantragin die Sozialistische Internationaleverabschiedet.

25. OKTOBER +++ Einer der Mitgründerder SDP, Steffen Reiche, ist zu Gastim SPD-Parteivorstand in Bonn. Erbittet um Unterstützung der SDP. DieSPD leitet einen Kurswechsel ein: DieSED ist von nun an kein Ansprech-

partner mehr für die westdeutschenSozialdemokraten.

6. DEZEMBER +++ In Ost-Berlin begin-nen die Gespräche zwischen DDR-Regierung und Opposition. Mit amTisch sitzen Vertreter der SDP. Eswerden Volkskammerwahlen für den6. Mai 1990 und die Auflösung derStasi verabredet.

18. DEZEMBER +++ In West-Berlin fin-det der Parteitag der SPD statt, aufdem das neue Grundsatzprogrammverabschiedet wird. Markus Meckelhält auf dem Parteitag eine Rede.

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Zwanzig sozial-demokratische JahreEINE CHRONIK ZUSAMMENGESTELLT VON THOMAS KRALINSKI

1989

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1990

12.-14. JANUAR +++ Die erste Delegier-tenkonferenz der SDP findet in Ost-Berlin statt. Auf der Konferenz wirddie Umbenennung in SPD beschlos-sen, Willy Brandt wird Ehrenvorsit-zender der DDR-SPD.

17. JANUAR +++ Die SPD eröffnet in derheutigen Lindenstraße ihr erstes Büroin Potsdam.

3. FEBRUAR +++ Der SPD-Bezirkspar-teitag Frankfurt (Oder) wählt BrittaSchellin (heute Stark) zu ihrer erstenVorsitzenden. Die Mitgliederzahl wirdauf ca. 1.500 geschätzt.

10. FEBRUAR +++ Der SPD-Bezirks-verband Potsdam wird gegründet,Jochen Wolf wird sein Vorsitzender.Der Bezirk hat ca. 2.300 Mitglieder.

22.-25. FEBRUAR +++ Der erste Parteitagder DDR-SPD findet in Leipzig statt. Erstimmt über ein Parteiprogramm ab undwählt Ibrahim Böhme zum Vorsitzen-den sowie zum Spitzenkandidaten fürdie Volkskammerwahl. Markus Meckelwird stellvertretender Vorsitzender,Steffen Reiche in den Vorstand gewählt.

18. MÄRZ +++ Bei der Volkskammer-wahl erhält die CDU mit der „Allianzfür Deutschland“ 48 Prozent derStimmen, die SPD 22 Prozent, die

PDS 16 Prozent. Im späteren LandBrandenburg erhält die SPD immerhin30 Prozent. In die Volkskammer wur-den u. a. gewählt: Steffen Reiche,Richard Schröder, Jes Möller, EmilSchnell, Konrad Elmer, WalterRomberg, Alwin Ziel, StephanHilsberg, Markus Meckel, KarstenWiebke und Regine Hildebrandt.

31. MÄRZ +++ Der BezirksparteitagCottbus wählt Edwin Zimmermann zu seinem ersten Vorsitzenden. DerBezirk hat ca. 2.000 Mitglieder.

12. APRIL +++ Lothar de Maizière wirdzum (letzten) DDR-Ministerpräsidentengewählt. Er stützt sich auf eine Koalitionaus CDU, SPD und Liberalen. MarkusMeckel wird Außenminister, EmilSchnell Postminister, Walter RombergFinanzminister und Regine HildebrandtMinisterin für Arbeit und Soziales.

6. MAI +++ Bei der Kommunalwahl wirddie SPD in Brandenburg mit 28 Pro-zent stärkste Kraft vor der CDU mit24 Prozent und der PDS mit 17 Pro-zent. Die Hochburgen der SPD liegenin Brandenburg an der Havel (41 Pro-zent) sowie den Kreisen Zossen (39Prozent), Nauen (38 Prozent), Ebers-walde (37 Prozent), Belzig (37 Pro-zent) und Seelow (35 Prozent).

26.-27. MAI +++ In Kleinmachnow findetder erste Landesparteitag der SPD

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thema – 20 jahre SDP

1990

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Brandenburg statt. Zum ersten Vor-sitzenden wird Steffen Reiche gewählt.Manfred Schulz, Siegfried von Rabenauund Edwin Zimmermann werden stell-vertretende Landesvorsitzende.

9. JUNI +++ Auf dem zweiten Parteitagder Ost-SPD in Halle wird WolfgangThierse zum neuen Vorsitzenden ge-wählt.

21. JULI +++ Manfred Stolpe wird vonder Brandenburger SPD als Spitzen-kandidat für die Landtagswahl am 14.Oktober aufgestellt.

1. AUGUST +++ Der erste gewählte Lan-desgeschäftsführer Martin Gorholtnimmt seine Arbeit auf.

1.-2. SEPTEMBER +++ Der 2. Landes-parteitag in Cottbus bestätigt ManfredStolpe als Kandidat für das Amt desMinisterpräsidenten, wählt die Lan-desliste und beschließt das Wahlpro-gramm.

27.-28. SEPTEMBER +++ Auf einemParteitag in Berlin vereinigen sichWest- und Ost-SPD. Damit gibt eserstmals seit 1933 wieder eine vereintesozialdemokratische Partei für ganzDeutschland. Hans-Jochen Vogel istihr Vorsitzender. Wolfgang Thiersewird stellvertretender SPD-Vorsit-zender, Regine Hildebrandt in denVorstand der SPD gewählt.

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20 sozialdemokratische jahre

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14. OKTOBER +++ Die SPD gewinnt dieerste Brandenburger Landtagswahl mit38 Prozent vor der CDU (29 Prozent),PDS (13 Prozent), FDP (7 Prozent)und Bündnis 90 (6 Prozent).

26. OKTOBER +++ Der neue Branden-burger Landtag konstituiert sich undwählt Herbert Knoblich (SPD) zu sei-nem ersten Präsidenten. Die SPD-Fraktion wählt Wolfgang Birthler zuihrem ersten Vorsitzenden.

1. NOVEMBER +++ Manfred Stolpe wirdzum Ministerpräsidenten gewählt. Erbildet eine Regierung aus SPD, FDPund Bündnis 90.

2. DEZEMBER +++ Die erste gesamtdeut-sche Bundestagswahl gewinnen CDU/CSU und FDP. Helmut Kohl bleibtBundeskanzler. In Brandenburg erhältdie SPD 33 Prozent und landet damithinter der CDU mit 36 Prozent.

1991

MÄRZ +++ Eine der ersten Kampagnen derBrandenburger SPD nach dem Wahljahrwirbt für das Kaufen einheimischer Pro-dukte. Damit soll der eigenen Wirtschaftunter die Arme gegriffen werden.

25. OKTOBER +++ Die neue Landeszen-trale der SPD bezieht das Otto-Wels-Haus in Potsdam.

1992

30. JANUAR +++ Mit einer Unterschrif-tenaktion „Wir Brandenburger fürManfred Stolpe“ stärkt die SPD ihremMinisterpräsidenten den Rücken. Erwird vor allem von westdeutschenMedien wegen seiner früheren Kon-takte als Kirchenjurist mit der Staats-macht und der Stasi angegriffen. AmEnde kommen mehrere zehntausendUnterschriften zusammen.

14. APRIL +++ Die neue Verfassung desLandes Brandenburg wird im Landtagmit 72 Ja-Stimmen, bei 11 Enthaltun-gen angenommen. SPD, PDS, Bündnis90 und FDP stimmen geschlossen fürdie Verfassung, die CDU-Fraktion istin der Frage gespalten.

16.-17. MAI +++ Zwei Jahre nach Grün-dung des Landesverbandes wird SteffenReiche auf dem Landesparteitag inTemplin als Vorsitzender wiedergewählt.

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1991

1992

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Seine Stellvertreter werden HeidrunFörster und Ernst Bahr. Die SPD hat inBrandenburg 6.500 Mitglieder in 350Ortsvereinen. Der Parteitag formuliertebenfalls einen Verhandlungsauftrag andie Landesregierung für eine möglicheLänderfusion mit Berlin.

14. JUNI +++ In einem Volksentscheidwird die neue Landesverfassung mit 94Prozent der Stimmen angenommen.Die SPD hatte mit einer Infobus-Kam-pagne für die Verfassung geworben.

1993

31. MÄRZ +++ Der Landtag beschließt ei-ne Kreisgebietsreform mit vier kreisfrei-en Städten und 14 Großkreisen, die tor-tenförmig von Berlin aus jeweils in diestrukturschwächeren Regionen desLandes reichen. Die SPD vollzog bereitsEnde 1992 ihre Strukturreform durchdie Bildung von 18 Unterbezirken.

5. DEZEMBER +++ Bei der Kommunal-wahl wird die SPD mit 35 Prozent lan-desweit stärkste Kraft. Bei der Stichwahlum das Amt des Oberbürgermeisters inPotsdam zwei Wochen später siegtHorst Gramlich (SPD) mit 55 Prozentgegen Rolf Kutzmutz (PDS).

1994

22. MÄRZ +++ Die Ampelkoalition schei-tert wenige Monate vor der Landtags-wahl. Die Bündnis-Fraktion kündigtden Koalitionsvertrag und begründetdies mit Differenzen bei der Bewertungvon Manfred Stolpes Kontakten zurStaatssicherheit. Die Landesregierungbleibt jedoch im Amt, ebenso die Mi-nister der Bündnis-Fraktion.

13. APRIL +++ Der Landtag lehnt eineSelbstauflösung ab. Manfred Stolpestützt sich auf eine Minderheitsregierungaus SPD und FDP. Der Landtag wirdwie geplant am 11. September gewählt.

16. APRIL +++ Die Landesvertreterver-sammlung der SPD nominiert ManfredStolpe mit 111 von 115 Stimmen er-neut zum Spitzenkandidaten für dieLandtagswahl. Ferner wird das Wahl-programm beschlossen.

29. MAI +++ Der Abschlussbericht des„Stolpe-Untersuchungsausschusses“ imLandtag entlastet Manfred Stolpe vom

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1993

1994

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Vorwurf der Zusammenarbeit mit demMinisterium für Staatssicherheit.

12. JUNI +++ Bei der ersten Europawahlwird die SPD in Brandenburg stärksteKraft. Norbert Glante wird erster direktgewählter Europaabgeordneter der SPD.

25. JUNI +++ Auf dem Landesparteitag in Glöwen wird Steffen Reiche zumLandesvorsitzenden wiedergewählt,Heidrun Förster und Holger Bartschwerden seine Stellvertreter.

11. SEPTEMBER +++ Bei der Landtags-wahl gewinnt die SPD mit 54 Prozentdie absolute Mehrheit. Die SPD erobertalle 44 Direktmandate.

11. OKTOBER +++ Manfred Stolpe wirdvom Landtag als Ministerpräsidentauch mit Stimmen aus der Oppositionwiedergewählt.

16. OKTOBER +++ Bei der Bundestags-wahl gewinnt die Brandenburger SPDebenfalls alle Direktmandate und wirdmit 45 Prozent stärkste Kraft.

1. DEZEMBER +++ Klaus Ness wird neuerLandesgeschäftsführer der SPD.

1995

22. APRIL +++ Ein Landesparteitag derSPD stimmt mit 72 Prozent für die

Fusion mit Berlin und den bereits aus-gehandelten Staatsvertrag.

1996

10. FEBRUAR +++ Das „Forum Ost-deutschland“ der SPD wird gegründet,Vorsitzender wird Manfred Stolpe. ImForum sollen ostdeutsche Interessen or-ganisiert und Kompetenzen gebündeltwerden.

5. MAI +++ Bei der Volksabstimmungüber die Fusion mit Berlin stimmen 63Prozent der Brandenburger mit Nein.Damit scheitert die Länderfusion. DieSPD hatte mit einer breit angelegtenKampagne für die Fusion geworben.

16. JUNI +++ Auf einem Landesparteitagwird Steffen Reiche erneut zum Landes-vorsitzenden gewählt. Heidrun Försterund Holger Bartsch bleiben seine Stell-vertreter.

10. AUGUST +++ Die BrandenburgerSPD startet eine Kampagne gegen denSozialabbau der Regierung Kohl undsammelt dabei allein 47.000 Unter-schriften. FOTO

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1995

1996

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1997

OKTOBER +++ Erstmals gibt der SPD-Landesverband die „Perspektive 21.Brandenburgische Hefte für Wissen-schaft und Politik“ heraus. Die viermalim Jahr erscheinende Zeitschrift beglei-tet die politische Diskussion im Landund trägt zur Entwicklung sozialdemo-kratischer Antworten auf die Fragen derZeit bei.

DEZEMBER +++ Die Brandenburger SPDist online. Der Landesverband stellt sei-ne Internetseiten ins Netz, in den kom-menden Monaten folgen die Unterbe-zirke.

1998

6.-7. JUNI +++ Der Landesparteitag inFrankfurt wählt Steffen Reiche erneutzum Landesvorsitzenden, HeidrunFörster und Holger Bartsch bleiben sei-ne Stellvertreter.

27. SEPTEMBER +++ Bei der Bundes-tagswahl holt die SPD mit knapp 44Prozent alle Direktmandate. GerhardSchröder wird Bundeskanzler einer rot-grünen Koalition. Bei der zeitgleichstattfindenden Kommunalwahl wirddie SPD (39 Prozent) mit großem Ab-stand stärkste Kraft vor PDS und CDUmit jeweils 21 Prozent. Die SPD wirderstmals in allen Kreisen stärkste Frak-tion. Matthias Platzeck wird mit 64

Prozent im ersten Wahlgang zum neuenOberbürgermeister von Potsdam ge-wählt.

1999

13. JUNI +++ Bei der Europawahl verliertdie SPD Stimmen, bleibt aber stärksteKraft vor CDU und PDS. NorbertGlante wird als Europaabgeordneter derSPD wiedergewählt.

26. JUNI +++ Die Landesvertreterver-sammlung der SPD wählt ManfredStolpe zum dritten Mal zu ihrem Spit-zenkandidaten für die Landtagswahl.Das Wahlprogramm trägt das Motto„… weil wir Brandenburg menschlichgestalten wollen.“

5. SEPTEMBER +++ Bei der Landtagswahlverliert die SPD die absolute Mehrheit,bleibt mit 39 Prozent aber stärksteKraft vor der CDU (26 Prozent) undder PDS (23 Prozent). Erstmals ziehtdie rechtsextreme DVU in den Land-tag ein.

4. OKTOBER +++ Auf einem Landespar-teitag entscheidet sich die SPD für eineRegierungskoalition mit der CDU.Regine Hildebrandt kündigt an, dass sie der neuen Regierung als Ministerinnicht mehr angehören wird.

13. OKTOBER +++ Manfred Stolpe wirdvom Landtag erneut zum Ministerprä-

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1999

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sidenten gewählt. Neuer Vizeregie-rungschef und Innenminister wird JörgSchönbohm (CDU). Neuer Fraktions-vorsitzender wird Gunter Fritsch.

2000

18. MÄRZ +++ Auf einem Strategiepar-teitag wertet die SPD den Verlust derabsoluten Mehrheit aus. Mit denMittenwalder Beschlüssen werden für dieThemenbereiche „Soziale Gerechtigkeitim 21. Jahrhundert“, „ZukunftsregionBrandenburg“ und „Bildungs- undErziehungsoffensive Brandenburg“neue programmatische Akzente gesetzt.

8. JULI +++ Auf dem Landesparteitag inOranienburg kommt es erstmals zumFührungswechsel bei der Brandenbur-ger SPD: Matthias Platzeck löst SteffenReiche als Landesvorsitzender ab. Absofort gibt es vier stellvertretende Lan-desvorsitzende: Dagmar Ziegler, Gun-ter Fritsch, Katrin Molkentin undHolger Bartsch.

2001

26. NOVEMBER +++ Mit Regine Hilde-brandt stirbt eine der großen Sozial-demokratinnen der SPD. Bei einer beeindruckenden Trauerfeier verab-schieden sich Tausende Wegbegleiter,Freunde und Unterstützer.

2002

22. MÄRZ +++ Die Abstimmung zumZuwanderungsgesetz im Bundesratwird zu einer ernsten Krise der GroßenKoalition. Ministerpräsident Stolpestimmte mit Ja, Innenminister Schön-bohm mit Nein.

22. JUNI +++ Auf dem Landesparteitag inWittenberge kündigt Manfred Stolpeseinen Rücktritt als Ministerpräsidentan. Matthias Platzeck wird als neuerMinisterpräsident nominiert. Er bleibtLandesvorsitzender. Auch seine Stell-vertreter bleiben im Amt.

26. JUNI +++ Der Landtag wählt MatthiasPlatzeck zum neuen Ministerpräsidenten.

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2002

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22. SEPTEMBER +++ Bei der Bundestags-wahl erreicht die SPD mit über 700.000Stimmen ihr bisher bestes Wahlergebnisin Brandenburg. Mit Manfred Stolpewird erstmals ein Brandenburger Bun-desminister. Er ist für Verkehr, Bau undWohnungswesen sowie den Aufbau Ostim Kabinett von Gerhard Schröder zu-ständig.

2003

19. AUGUST +++ Zum ersten Mal feiert die SPD ihr Sommerfest im PotsdamerBuga-Park. Eingeladen sind alle Bran-denburger SPD-Mitglieder sowie zahlrei-che Unterstützer, Partner und Gäste ausWirtschaft, Kultur, Sport und Gesell-schaft. Nach dem erfolgreichen Auftaktfindet das Sommerfest jährlich statt undist mit jeweils etwa 2.000 Gästen diegrößte politische Veranstaltung im Land.

26. OKTOBER +++ Bei der Kommunalwahlverliert die SPD 15 Prozentpunkte underhält nur noch 24 Prozent der Stimmen.Erstmals wird die CDU stärkste Kraft (28Prozent), die PDS erhält 21 Prozent.

2004

9. MAI +++ Die Landesvertreterversamm-lung wählt Matthias Platzeck zum Spit-zenkandidaten der SPD für die Land-tagswahl. „Erneuerung aus eigenerKraft“ ist das Leitmotiv des verabschie-deten Wahlprogramms.

26-28. MAI +++ Der LandesvorsitzendeMatthias Platzeck informiert sich inFinnland über das positive Zusammen-wirken von Bildungs-, Familien- undWirtschaftspolitik. Anregungen, wie lan-ges gemeinsames Lernen, der Techno-logiebeirat und die Netzwerke GesundeKinder, finden Eingang in die Program-matik der SPD.

13. JUNI +++ Auch bei der Europawahlmuss die SPD herbe Verluste hinneh-men. Sie kommt mit 21 Prozent nur aufden dritten Platz nach PDS (31 Pro-zent) und CDU (24 Prozent). NorbertGlante wird als Europaabgeordneterwiedergewählt.

14. AUGUST +++ Auf dem Landespartei-tag in Brandenburg an der Havel wirdMatthias Platzeck als Landesvorsitzen-der wiedergewählt. StellvertretendeLandesvorsitzende werden DagmarZiegler, Martina Gregor, GunterFritsch und Peer Giesecke.

19. SEPTEMBER +++ Nach einem fulmi-nanten Wahlkampf, bei dem die SPDbis zu 9 Prozent hinter der PDS lag,werden die Sozialdemokraten mit 32Prozent der Stimmen erneut stärksteKraft im Land. Die PDS erhält 28Prozent, die CDU 20 Prozent. Auchdie rechtsextreme DVU zieht erneutin den Landtag ein. Neuer Fraktions-vorsitzender der SPD wird GünterBaaske.

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20 sozialdemokratische jahre

2003

2004

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13. OKTOBER +++ Der Landtag wähltGunter Fritsch zu seinem neuen Prä-sidenten. Matthias Platzeck wird vomLandtag wieder zum Ministerpräsidentengewählt. Er stützt sich erneut auf eineKoalition aus SPD und CDU. Zuvorhatte ein Landesparteitag den Koaliti-onsvertrag beschlossen.

2005

19. FEBRUAR +++ Auf der Klausurtagungder SPD in Michendorf stellt MatthiasPlatzeck seine Ideen für eine Neuorien-

tierung von Wirtschaftsförderung undLandesplanung vor. Im Mittelpunkt desneuen Leitbildes steht das Prinzip„Stärken stärken“. Es löst das Leitbildder dezentralen Konzentration ab.

20. MAI +++ Auf einem Landesparteitagunterstützt die SPD die eingeleiteteReform von Wirtschaftsförderung undLandesplanung.

18. SEPTEMBER +++ Bei der Bundestags-wahl bleibt die SPD stärkste Kraft inBrandenburg und gewinnt wieder allezehn Direktmandate. Die CDU gelangtnur auf Platz 3, die in Linkspartei um-benannte PDS wird erstmals bei Bun-destagswahlen zweitstärkste Kraft inBrandenburg.

12. NOVEMBER +++ Mit einer Großde-monstration, die von allen demokra-tischen Parteien und vielen anderen gesellschaftlichen Organisationen ge-tragen wird, wird ein Aufmarsch derrechtsextremen NPD in Halbe verhin-dert. Die NPD gibt es darauf hin auf,Halbe zu einem ihrer Aufmarschge-biete zu machen.

15. NOVEMBER +++ Matthias Platzeckwird auf dem Bundesparteitag inKarlsruhe bei nur zwei Gegenstimmenzum neuen Bundesvorsitzenden derSPD gewählt. Die SPD beschließt fer-ner den Koalitionsvertrag mit CDU/CSU für die neue Bundesregierung.

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2005

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2006

10. APRIL +++ Matthias Platzeck stellt seine Leitsätze für das neue Grundsatz-programm der SPD vor. Er entwickeltdarin den Gedanken des vorsorgendenSozialstaates.

11. APRIL +++ Aus Gesundheitsgründenmuss Matthias Platzeck vom Bundes-vorsitz der SPD zurücktreten. Er bleibtaber Landesvorsitzender und Minister-präsident.

26. APRIL +++ Die SPD eröffnet mit demRegine-Hildebrandt-Haus in Potsdamihre neue Landesgeschäftsstelle.

1. JULI +++ Matthias Platzeck wird auf demLandesparteitag erneut zum Landesvor-

sitzenden gewählt. Seine Stellvertreterwerden Günter Baaske, Martina Münch,Gunter Fritsch und Dagmar Ziegler. DerLandesparteitag wählt erstmals mit KlausNess auch einen Generalsekretär.

22. OKTOBER +++ Zum ersten Mal wirdmit Frank Szymanski ein Sozialdemo-krat Oberbürgermeister von Cottbus.Er setzt sich in der Wahl mit 61 Prozentgegen einen gemeinsamen Kandidatenvon CDU und PDS durch.

2007

10-12. APRIL 2007 +++ Der Landesvorsit-zende Matthias Platzeck fährt nachWien und Niederösterreich. Dort infor-miert er sich über die strategische Zu-sammenarbeit mit den osteuropäischen

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2007

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Partnerregionen und die Kooperationin der Hauptstadtregion.

30. JUNI 2007 +++ Auf ihrem Landespar-teitag unterstützt die SPD den Entwurffür das neue Grundsatzprogramm derBundespartei. Sie entwirft gleichzeitigein Leitbild, wie die Idee des vorsorgen-den Sozialstaates in praktische Politik inBrandenburg übersetzt wird.

2008

23. FEBRUAR +++ Auf ihrer Vorstands-klausur beschließt die SPD ein „Sozial-paket“. Nach harten Verhandlungenmit der CDU wird ein Mobilitätsticketfür sozial Schwache und der Schulso-zialfonds eingeführt. Den Kreisen wirdes freigestellt, Elternbeiträge für Schul-busse zu erheben.

11. MÄRZ +++ Vor 75 Jahren wurde dasErmächtigungsgesetz von den Nazisverabschiedet. Aus diesem Anlass ge-denkt die SPD-Landtagsfraktion desletzten Fraktionsvorsitzenden der SPDim Reichstag, Otto Wels, und des letz-ten (sozial-)demokratischen Minister-präsidenten von Preußen, Otto Braun.

31. AUGUST +++ Der Landesparteitagwählt Matthias Platzeck erneut zumLandesvorsitzenden. Mit einer Sat-zungsänderung wird die Führungsspitzegestrafft. Stellvertretende Landesvorsit-

zendende werden Klara Geywitz undMartina Münch. Klaus Ness bleibt Ge-neralsekretär.

28. SEPTEMBER +++ Die SPD wird wie-der stärkste Kraft bei der Kommunal-wahl. In zehn Kreisen und kreisfreienStädten stellt sie die größte Fraktion,der PDS gelingt dies in vier, der CDUebenfalls in vier Kreisen. Die Wahlbe-teiligung steigt deutlich auf 50 Pro-zent.

2009

9. MAI +++ Die Landesvertreterversamm-lung wählt Frank-Walter Steinmeierzum Spitzenkandidaten für die Bundes-tagswahl. Der Brandenburger Listen-führer ist gleichzeitig Kanzlerkandidatder SPD.

7. JUNI +++ Entgegen dem Bundestrendlegt die SPD bei der Europawahl zu undwird hinter der PDS zweitstärkste Kraft.Norbert Glante bleibt Europaabgeord-neter für die SPD.

20. JUNI +++ Matthias Platzeck wird zumzweiten Mal Spitzenkandidat der SPDfür die Landtagswahl am 27. September2009. Der Landesparteitag beschließtferner das Wahlprogramm unter demMotto: „Brandenburg im neuen Jahr-zehnt: Kraftvoll, sozial, gerecht“. �

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PERSPEKTIVE 21: Wann haben Sie dennzum ersten Mal von Bestrebungen gehört,die SPD in der DDR wieder zu gründen? MANFRED STOLPE: Die Sozialdemokra-tie war im Herzen vieler DDR-Bürgertief verankert. Das hatte viel mit WillyBrandt zu tun. Vom dem wussten dieLeute, dass er immer gesagt hat: „Wirsind jetzt geteilt, aber wir werden euchnicht vergessen.“ Er war auch öfter inder DDR und eine seiner Bedingun-gen war stets, dass er auch mit denKirchen reden konnte. Das waren sehreindrucksvolle Begegnungen. Insofernhatte die SPD in der DDR immer einsehr hohes Ansehen. Im Sommer 1987erschien dann ein Berliner Pfarrer inmeinem Kirchenbüro – er ist heuteübrigens anderweitig politisch aktiv.Wir sprachen über verschiedene The-men, doch dann signalisierte er, dass es heikel würde …

Und sie kommunizierten über Zettelweiter.STOLPE: Ja, wir hatten eine Technikentwickelt, weiter zu reden und paralleletwas aufs Papier zu bringen. Er mein-

te jedenfalls, dass es an der Zeit wäre,die SPD in der DDR wieder zu bele-ben. Und er fragte mich, ob ich nichtüber meine Kontakte in den Westenklären könnte, was die SPD dort davonhalten würde.

Vielleicht zu ängstlich

Und wie hat die SPD in Bonn reagiert? STOLPE: Ich habe Hans-Jochen Vogel,den damaligen SPD-Vorsitzenden an-gefragt. Er hat abgeraten. Er befürch-tete eine Konfrontation mit der SEDund glaubte, dass er in einer derartzugespitzten Situation den „neuen“Sozialdemokraten nicht würde helfenkönnen. Ich habe das an den BerlinerPfarrer übermittelt, der nicht glücklichdarüber war – und die Sache verlief imSande.

Und Ihnen blieb eine Menge Ärger er-spart. STOLPE: Ehrlich gesagt, ja. Mir warklar, dass es auf jeden Fall massiveAuseinandersetzungen mit der DDR-Führung gegeben hätte. Die Idee war

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Die Schutzmacht derkleinen LeuteÜBER DIE GRÜNDUNG DER SDP UND SEINEN EINTRITT IN DIE SPD

SPRACH THOMAS KRALINSKI MIT MANFRED STOLPE

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gut, aber die Zeit war noch nicht reif.Im Nachhinein kann man aber auchsagen: Vielleicht waren wir zu ängst-lich.

Wie haben Sie dann vom zweiten Anlaufgehört? STOLPE: Der Pfarrer der BerlinerGolgatha-Gemeinde erzählte mir imSommer 1989 von einem Treffen, daszum Jahrestag der Menschenrechts-erklärung der Französischen Revolu-tion mit Markus Meckel und MartinGutzeit vorbereitet wurde. An diesemTag wollten sie den Aufruf zur Grün-dung der Sozialdemokratie in der DDRvorstellen. Irgendwann kriegte ich aucheinen Anruf vom Berliner Magistrat,ob ich denn wisse, dass da etwas läuftund ob der öffentliche Friede gestörtwerden solle.

Die Staatsmacht wusste also Bescheid? STOLPE: Von der SDP-Erklärung wuss-ten die, glaube ich, nichts. Denen warnur wichtig, dass es auf den Straßenruhig blieb. Seit Ende der siebzigerJahre hatte die SED zähneknirschendeine gewisse Freiheit in den Räumender Kirchen akzeptiert – solange eskeine Unruhe auf den Straßen gab.

Deshalb fand dann die eigentliche Grün-dung der SDP auch in den Kirchenräu-men in Schwante statt? STOLPE: Ja – und die evangelischeKirchenleitung wusste, was da am 7.

Oktober vorgesehen war. Wir habenim Kirchenamt befürchtet, dass jetzteine dramatische Aktion passieren würde. Aber nichts geschah. Stasi und Polizei waren zu sehr mit dem 40. Jahrestag der DDR in Berlin undder Zerschlagung einer großen Protest-demonstration beschäftigt.

Kohl ließ anfragen

Wann haben Sie denn selbst mit demGedanken gespielt, in eine Partei ein-zutreten? STOLPE: Bis ins Frühjahr 1990 habeich angenommen, dass man nicht ineine Partei eintreten muss. Ich dachte,man kann mehr erreichen, wenn manviele Leute kennt, mit Menschen redenkann und Meinungen vermitteln kann.Eine Methode, die sich in der DDR jabewährt hatte.

Sie waren ja als Konsistorialpräsident derevangelischen Kirche kein Unbekannterin der DDR. Hat denn niemand beiIhnen angeklopft, um Sie in eine Parteizu locken? STOLPE: Im Dezember 1989 war derdamalige Kanzleramtschef in der DDRunterwegs, um die „Allianz für Deutsch-land“ vorzubereiten. Dazu sollte dieBlockpartei-CDU mit dem Feigen-blättchen „Demokratischer Aufbruch“ausgestattet werden. Im DA wareninteressante Leute dabei, einige vonihnen kannte ich schon länger. Aber

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thema – 20 jahre SDP

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die „Allianz“ wurde machtpolitisch kalkuliert und auf die Volkskammer-wahlen vorbereitet. Da ließ Kohl beimir anfragen, ob ich bereit wäre, die„Allianz für Deutschland“ mitzugrün-den.

Und das kam überhaupt nicht in Frage? STOLPE: Aus zwei Gründen nicht.Erstens war ich zögerlich, weil ich beider CDU nicht glaubte, dass das diePartei wäre, die wir jetzt brauchen

würden. Und zweitens war ich zu die-sem Zeitpunkt noch der Meinung, ichmuss in keine Partei. Man kann sym-pathisieren, unterstützen, aber manmuss schon gar nicht in die „Allianzfür Deutschland“.

Und warum kam es dann zum Eintrittin die SPD? STOLPE: Nach der Volkskammerwahlwurde mir klar, dass wir auf einen de-mokratischen Rechtsstaat nach bundes-

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manfred stolpe – die schutzmacht der kleinen leute

Landtagswahlkampf 1990: Manfred Stolpe in einer Schuhfabrik in Luckenwalde

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thema – 20 jahre SDP

Mit dieser Postkarte trat Manfred Stolpe im Juli 1990 in die SPD ein.

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republikanischem Vorbild zusteuerten– und darin Parteien unverzichtbarsind. Dass heißt, man muss Menschenfinden, die ähnlich denken.

Die SPD versteht die Sorgen

Und wie haben Sie gedacht? STOLPE: Klar war, wir würden in Ost-deutschland schnell eine Marktwirt-schaft haben. In meinen Augen war dieDDR-Wirtschaft nicht wettbewerbsfä-hig. Ich erwartete, dass die Ostmärkteverschwinden und viele Menschen ar-beitslos werden würden – und dass esdarauf ankam, diesen Problemen ent-gegenzuwirken. In dieser Situationhabe ich nur in der SPD Leute gefun-den, die diese Sorgen verstanden.

In der Ost- oder der West-SPD? STOLPE: Die Unterschiede waren danicht sehr groß. Ich hatte das Glück,dass ich den Ministerpräsidenten vonNRW, Johannes Rau, schon sehr langekannte. Er hatte mir als erster einen

massiven Strukturwandel prophezeit –ähnlich wie im Ruhrgebiet. Und er hatRecht behalten. In einer solchen Aus-gangslage habe ich nur die Sozialdemo-kraten gesehen, die die Interessen derkleinen Leute – wie Rau das immer soschön sagte – vertreten würden.

Sie sind dann am 7. Juli 1990 in dieSPD eingetreten. STOLPE: Auf einer Postkarte. Auf derVorderseite war eine Karikatur, wo einMensch, offenbar ein DDR-Bürger,blind, weil er zwei große D-Marktstückevor den Augen hat, in Schlaglöcherläuft, die da heißen Arbeitslosigkeit, hö-here Mieten, Pleiten, § 218. Ich habeauf dieser Karte meinen Eintritt in dieSPD mit den Worten „Die Gründesehen Sie umseitig“ erklärt.

Und die Mitgliedschaft haben Sie niebereut? STOLPE: Nie. Ich sehe nur in der SPDeine Schutzmacht der kleinen Leute,bis heute. �

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manfred stolpe – die schutzmacht der kleinen leute

M A N F R E D S T O L P E

war bis 1990 Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche in der DDR, von 1990 bis 2003 Ministerpräsident des Landes Brandenburg und anschließend

bis 2005 Bundesverkehrsminister.

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Ende August 1989 beantragte ich einVisum für die „einmalige Ausreise

nach der BRD“. Ich rechnete nicht mitder Genehmigung, schon gar nicht nachder Gründung der SDP am 7. Oktober– doch ich bekam den Pass. Schon frühwies ich Freunde aus dem Vorberei-tungskreis darauf hin, dass ich irgend-wann im Herbst wieder in den Westenfahren würde und dann ja etwas tunkönnte, um unsere Gründung bekanntzu machen. Aber wir hatten so viel zutun, dass niemand recht darauf achtete,genaueres zu verabreden. Außerdem –was sollte schon groß möglich sein.

So fand ich mich am Montag, dem16. Oktober, früh am Bahnhof Zoo inWest-Berlin, glücklich, wieder ein paarTage „Ausgang“ aus der DDR erhaltenzu haben. Ich würde bei dieser Reisenicht – wie zumindest erwogen – imWesten bleiben, sondern zurückkehren.Als erstes ging ich zu Reinhard Kraftvom Ökumenisch-missionarischenZentrum. Voller Stolz erzählte ich ihm,dass ich mit Freunden die SDP geradevor zehn Tagen gegründet hatte. Er warfast sprachlos und guckte mich in einerMischung von Verwunderung undErstaunen an. Verwunderung darüber,

dass es mir trotzdem gelungen war hierzu sein, Erstaunen über meine Ruhe,dass ich hier saß und kopierte, anstattetwas von dieser Gründung zu erzählen.

Im Herzen des Klassenfeindes

Er fragte mich, ob ich bereit wäre, demRIAS ein Interview zu geben. Verwun-dert sagte ich: „Wenn das so einfachgeht?“. Auf diese Weise würde man vonder SDP-Gründung im Osten das ersteMal auch dort mehr hören. Sofort riefKraft beim RIAS an und auch dort warman erstaunt. „Was, und der ist hier?“Wenig später saß ich in der KufsteinerStraße im „Herzen des Klassenfeindes“.Aus einem Interview wurden zwei undals ich das erste Mal in einem dieser klei-nen schalldichten Räume saß, mit demMikrofon vor dem Gesicht, das durchLicht anzeigte, dass jetzt vielleicht Tau-sende zuhörten, spürte ich Aufregung,mehr aber noch Verantwortung.

Im Osten hatten wir kaum Publika-tionsmöglichkeiten, bestenfalls dieWachsmatrizenabzüge, aber man er-reichte eben meist nur die sowieso schonkritischen Geister der Opposition undnur begrenzt die wirkliche Öffentlichkeit

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Wir sagen hier „Du“WIE DIE SDP DEN WEG ZUR SPD FAND

VON STEFFEN REICHE

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der DDR. Einmal beim RIAS, ging ichdurch die vielen Gänge, und fand michin dem dunklen Zimmer wieder, in deminmitten von Büchern, Zeitungen undPapieren Manfred Rexin saß, der Poli-tikchef beim RIAS. Er nahm sich eineStunde Zeit und wollte alles wissen.„Und was haben sie jetzt vor?“, fragteer zum Schluss. Ich erzählte ihm vondem Wunsch, einen Verantwortlichenaus der SPD zu treffen, mit dem ich ineinen offiziellen Kontakt treten könnte.Er nannte mir Tilman Fichter von derParteischule der SPD in Bonn. Ich ver-ließ das Zimmer und war sicher: Jetzthabe ich den Anfang eines Fadens in dieHand bekommen.

Zwei Tage später, am 18. Oktober,traf ich Tilman Fichter in Bonn. Ohnejede Distanz waren wir sofort tief imGespräch. Ich erzählte und er ordneteein. Endlich mal wieder was in derDDR, was ihn faszinierte, da konnteman etwas draus machen. Fichter über-legte, wie man dieser Initiative zu größe-rer Beachtung verhelfen könnte. Unter-brochen wurden wir durch das Klingelndes Telefons. „Was“, schrie er und guck-te ungläubig und begeistert zu mir.„Was? Honecker ist zurückgetreten?!“Der WDR, bei dem ich für Freitag-abend angemeldet worden war, wolltejetzt dringend wissen, wo ich bin.Honecker wäre zurückgetreten, und ob

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Die Gründungsmitglieder der SDP am 7. Oktober 1989 in Schwante

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steffen reiche – wir sagen hier „du“

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ich nicht vielleicht heute Abend schonzum „Brennpunkt‘‘ in der ARD kom-men könnte. „Ja“, ich versuchte ruhig zubleiben. Ich wechselte zwischen Aufre-gung und Spannung, verbunden immerwieder mit der Frage: Darf ich das? Waspassiert meiner Familie, was meinen El-tern und mir?

Denn das war etwas Neues, dass überein Ereignis in der DDR auch jemandmitsprechen konnte und mitsprach, derdazu gehörte und den es direkt betraf.Dass Honecker zurücktrat, hing ja nichtmit seinem Alter, mit seinen Leistungenoder einer Wahl zusammen, sondernmit uns, die wir protestiert hatten, mitdenen, die ausgereist waren oder dasNeue Forum und andere Vereinigungengegründet hatten!

Zwischen Schmidt und Seiters

Es war ein wirklich ungewöhnlichesBild, das sich dem Fernsehzuschauer umViertel nach Acht in der DDR bot:Helmut Schmidt, KanzleramtsministerRudolf Seiters und Oskar Lafontaine,alle im Anzug mit Schlips und Kragen,saßen mit einem Typen am Tisch inFlickenlederjacke und einer Brille, die esin ihrer Größe auch gut mit der Brilleeines ZK-Mitgliedes aufnehmen konnte.Schmidt begegnete mir kühl und reser-viert, er hatte wohl Sorge, zu großeNähe zu diesem nicht einzuordnendenMenschen zu zeigen, der im Osten einesozialdemokratische Partei gegründet

hatte. Lafontaine reizte es hingegendeutlich zu machen, dass man mit So-zialdemokraten im Osten gern redenwürde. Gleichwohl: Niemand wusste andiesem Abend wirklich, was sich nuneigentlich verändert hatte und was jetztkommen würde.

Die weiteren Treffen im Westen derRepublik gingen Schlag auf Schlag.Nach einem Besuch im „Presseclub“ amSonntag wollte ich sehen, wie die „rich-tige“ SPD lebte und funktionierte. ImParteivorstand der SPD, der Baracke,beratschlagte ich mit Tilman Fichterund Karl-Heinz Klär, Abteilungsleiterfür Politik und Planung im Ollenhauer-Haus. Der entschuldigte sich plötzlichund verschwand. Ich glaubte, er würdeeinige Bücher und Material holen, dieich dann versuchen würde in die DDRzu schmuggeln. Wenig später kam erwieder: „Der Hans-Jochen würde gernemit Dir reden“. Jetzt galt es eine Chan-ce zu nutzen. „Ich bring Dich hin“,sagte er.

„Und Sie haben die Sozialdemokratieim Osten wieder mit begründet?“ Icherzählte ein bisschen, und noch ehe wiruns setzten, sagte Hans-Jochen Vogel:„Wir hier sagen als Genossen ,Du‘ zu-einander. Also ich heiße Hans-Jochen.“Ich vergaß zu antworten und setzte michdankbar auf den Stuhl, der mir angebo-ten wurde. Hans-Jochen Vogel fasste indem kaum fünfzehnminütigen GesprächVertrauen. „Ich muss ins Präsidium.Willst Du mitkommen und von Eurer

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Gründung erzählen?“ Mir stockte derAtem, denn das war quasi eine öffent-liche Anerkennung dessen, was wirgemacht hatten. Die offizielle Gegen-zeichnung des fast aberwitzigen An-spruchs, eine sozialdemokratische Parteigegründet zu haben. Ein Raum gefülltmit lauter Menschen, die ich aus demFernsehen kannte, die mir vorgestelltwurden und mir freundlich zunickten.Ich erzählte, was wir gemacht hattenund vor allem, was wir wollten. Berich-tete, dass wir lange diskutiert hatten, obwir uns SDP oder SPD nennen sollten,

berichtete von unserem Antrag um Auf-nahme in die Sozialistische Internatio-nale und bat darum, dass die SPD ihnbefürwortete. Besonders intensiv erklärteich, warum wir gegenüber der DDR aufUnterstützung angewiesen waren. Wirwollten Partei sein, denn die SPD fehlteja in der Volkskammer seit der Zwangs-vereinigung. Es fehlte in der DDR einekritische, oppositionelle Partei. Bürger-initiativen gab es, aber keine Partei, dieihre Anliegen im Parlament zur Sprachebrachte. Wir wollten Mitglieder derSED gewinnen und langsam zu einer

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steffen reiche – wir sagen hier „du“

Steffen Reiche und Hans-Jochen Vogel im Oktober 1989 in Bonn

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ernsten politischen Größe aufwachsen.Uns war klar, dass das ohne Unterstüt-zung der SPD nicht gelingen konnte.Die Frage der Selbständigkeit musstenicht betont werden. Das verstand sichvon selbst in zwei verschiedenen Staaten,da wir in der DDR gerade nicht als Ost-ableger der West-SPD diskriminiert undins politische Abseits gedrängt werdenwollten.

Die Fragen von Egon Bahr überJohannes Rau bis Heidemarie Wieczo-rek-Zeul machten deutlich, dass dieGenossen uns offen gegenüberstanden.Wenn die erste Partei, die sich neugründet, sozialdemokratisch sein will –dann war das ein gutes Zeichen. Ichsagte etwas zum SED-SPD-Papier„Streit der Kulturen“, wie es uns gehol-fen hatte, obwohl wir erst sehr verwun-dert waren, dass es ein solches Papierüberhaupt geben konnte. Ich stellteunsere Position zur deutschen Einheitdar und erläuterte, dass sie ein langfristi-ges Ziel für uns sei, wir aber sahen, dasswegen der deutschen Teilung als Folgedeutscher Schuld erst ein Prozess inGang gesetzt werden musste. Besondersfreute sich Johannes Rau, als ich erzähl-te, wie eng dies alles mit den Kirchenverbunden war, dass die Sozialdemo-

kratie im Osten aus der Kirche herausneu wuchs.

Die SPD – damals aus honorigenund verständlichen Gründen viel zu eta-tistisch eingestellt – wollte zu demZeitpunkt weitere Veränderungen nichtnur im deutsch-deutschen Verhältnis,sondern auch für die Ostdeutschen überdie gemeinsam entwickelte Streitkulturmit der SED verändern. Doch spätestensseit dem Sturz von Honecker musstenun aber ein stärkerer offizieller Dialogmit der Opposition beginnen. Das trafsich, denn die SDP im Osten brauchteAnerkennung und Schutz für diesen imGrunde vermessenen Anfang unsererParteigründung. Und die SPD brauchteeinen Partner in der DDR-Opposition –die SDP.

Am selben Abend traf ich dannEgon Bahr in seinem Abgeordneten-büro im Bundestag. Er sagte mir imAuftrag des Parteipräsidiums die Prä-ferenz der Kontakte der SPD zurSDP zu. Da wurde klar, dass für diegrößte deutsche Volkspartei von die-sem Tag an nicht mehr die Kontaktezur SED im Mittelpunkt standen,sondern dass der Vorzugskontakt absofort den fünfzig ostdeutschen So-zialdemokraten in der SDP galt. �

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thema – 20 jahre SDP

S T E F F E N R E I C H E

war Mitbegründer der SDP, von 1990 bis 2000 erster Landesvorsitzender derSPD Brandenburg und ist heute Bundestagsabgeordneter.

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A ls „Politikverweigerer“ habenmeine Familie und ich die DDR

überdauert: keine Mitgliedschaft ineiner Jugendorganisation (nicht malPionier oder FDJler), Parteimitglied-schaft ohnehin nicht, keine Wahlbe-teiligung, kein Wehrkundeunterrichtfür die Kinder usw.

Unsere evangelische Kirche, derenaktive Mitglieder wir waren, half dabei.Von Ferne sympathisierten wir als Ost-Berliner, geprägt durch Ernst Reuterund Willy Brandt, mit der SPD. Aller-dings war uns durch das DDR-Parteien-system eine Zugehörigkeit zu Parteiengrundsätzlich suspekt. Unsere Herzenschlugen für die entstehenden Bürgerbe-wegungen: In „Demokratie jetzt“ wur-den mein Mann und ich im September1989 aktiv.

Der schnelle Fortgang der gesell-schaftlichen Umwälzung machte unsklar, dass für den Fall freier Wahlen inder DDR auch neue Parteien etabliertwerden mussten: Wir wollten dasunterstützen. Die ersten Unterlagenzur neuen SDP, die wir erhielten,boten keinen direkten Zugang: Wir

kannten Ibrahim Böhme nicht. Aberals sich nach der Gründung der SDPin Schwante am 7. Oktober 1989 he-rausstellte, dass ein Kollege meinesMannes in der Evangelischen Vertrags-anstalt Berlin, Thorsten Hilse, zu denGründungsmitgliedern gehörte, such-ten wir ihn sofort auf und traten nochin der ersten Woche nach der Grün-dung der SDP bei – wir wollten siefinanziell unterstützen, ihren Aufbaufördern, aber eigentlich „bürgerbewegt“weiterarbeiten!

Demzufolge waren wir im Oktober1989 intensiv für „Demokratie jetzt“tätig. Dieser Zustand sollte allerdingsnicht lange währen: Am 5. November1989 fand nach dem Gottesdienst inder Sophienkirche in Berlin-Mitte dieGründung des SDP-BezirksverbandesBerlin (Ost) statt (und die dauerte bis21 Uhr – wir waren sehr basisdemo-kratisiert!), und es war sehr deutlich zu sehen, wie wenig Menschen bisherdabei waren. Wir mussten also in derSDP mit ran! Meine Schwägerin wurdein den Landesvorstand gewählt, meinSchwager wurde ein stellvertretender

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Mit Haut und Haaren gefordertWIE ICH ZUR SPD GEKOMMEN BIN

VON REGINE HILDEBRANDT †

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Kreisvorsitzender, mein Mann ging anden Runden Tisch des Rundfunks derDDR.

Ich hielt mich zurück: Ich war ge-rade Betriebsratsvorsitzende meinerZentralstelle für Diabetes in Berlingeworden und wollte unbedingt alsBiologin bei der Betreuung von Dia-betikern weiter arbeiten, weil ich dieneuen Möglichkeiten, aber auch dieSystemschwierigkeiten für diese Formder Betreuung in der Umbruchzeitdeutlich sah.

Unsere SDP-Arbeit bestand aus im-provisierten SDP-Versammlungen (inWohnungen!), vielen Diskussionenund Demonstrationen: im Novembervor der CSSR-Botschaft, im Dezembervor der Rumänischen Botschaft in Ost-Berlin für die Demokratisierung in die-sen Ländern.

Und dann kamen die Nominierun-gen für die erste freigewählte Volkskam-mer im Frühjahr 1990 – und ich warfällig! Ich wollte eigentlich keine haupt-amtliche politische Arbeit machen undkandidierte aus Einsicht in die Notwen-digkeit und in dem Glauben, ich würdebeides miteinander kombinieren kön-nen: Fachberuf und Abgeordnetentätig-keit. Das erwies sich bald als Illusion.Der Wahlkampf war improvisiert –allerdings mit einer tollen Veranstaltungmit Hans-Jochen Vogel im Colosseumin Berlin, bei der außer mir auchWolfgang Thierse und Tino Schwirzinaerstmalig in größerer Öffentlichkeit auf-traten. Trotz der für uns niederschmet-ternden SPD-Ergebnisse zog ich alsZweitplazierte der Bezirksliste am 18.März 1990 in die Volkskammer ein.Die schwere Entscheidung der SPD-Fraktion, eine Koalition einzugehen,führte dazu, dass in der Regierung deMaizière auch Ministerposten zu beset-zen waren – und innerhalb wenigerTage war ich „Minister für Arbeit undSoziales“ für die SPD – und damit voneinem Tag zum anderen weg von mei-ner Facharbeit – und voll in der Politik.

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Die schnelle Entwicklung und diegroßen Probleme des Jahres 1990 inder DDR haben mich dann mit Hautund Haaren gefordert – und als dieKoalition zerbrach, war ich geradezuverzweifelt, dass wir als SPD den Eini-gungsvertrag nicht intensiver beein-flussen konnten. Hier entstand bei mirder dringende Wunsch, die wichtigen

Erfahrungen der ersten Monate zu-gunsten der Ostler einzusetzen – undzwar im Osten und nicht in Berlin,nicht im Bundestag! Das Ergebnis derLandtagswahlen 1990 in Brandenburgmachte es möglich – für mich alsLandtagsabgeordnete und Ministerinfür Arbeit, Soziales, Gesundheit undFrauen. �

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regine hildebrandt – mit haut und haaren gefordert

Beim Kampf gegen das Oder-Hochwasser 1997: Steffen Reiche, Matthias Platzeck und Regine Hildebrandt (v. r.)

REGINE HILDEBRANDT (1941-2001)

war 1990 Ministerin für Arbeit und Soziales in der Regierung de Maizière undvon 1990 bis 1999 Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen des

Landes Brandenburg. Der Text entstand 1999.

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thema – 20 jahre SDP

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Für die meisten Leute ist der 9. No-vember 1989 mit den gleichen Er-

innerungen verbunden: Ungläubig hörteman in den Abendnachrichten die Mel-dungen über neue Ausreiseregelungenund lag sich kurze Zeit später mit Be-kannten und Unbekannten vor Freudein den Armen. Die Mauer war gefallen!Wer konnte, machte seine ersten Schrit-te hinüber nach West-Berlin. MeinRückblick auf diesen 9. November fälltetwas anders aus. Für mich bleibt es derTag, an dem ich Sozialdemokrat wurde.

Natürlich begann mein politischesLeben nicht erst mit dem Eintritt in dieSPD, die sich damals noch SDP nannte.Meine Kirchengemeinde und die Evan-gelische Kirche boten mir den Raum fürdie Auseinandersetzung mit der Gesell-schaft und dem politischen System derDDR – Reibungsflächen gab es ja ge-nug. Unsere Themen hießen Umwelt-schutz, Frieden und Menschenrechte.Wie so viele Menschen hatte ich gegenEnder der achtziger Jahre Hoffnunggeschöpft, dass sich im Zuge der Peres-troika Freiheit und Demokratie auch inder DDR durchsetzen ließen – notfallsauch gegen die SED. Mit Interesse er-fuhr ich im Sommer 1989 durch Ma-

rianne Birthler von den Plänen, einesozialdemokratische Partei zu gründen.Meine Teilnahme an der SDP-Grün-dungsveranstaltung am 7. Oktober inSchwante war fest verabredet, doch amKommen hinderte mich ein profanerGrund: Ich hatte tierärztlichen Bereit-schaftsdienst im Kreis Angermünde undkonnte Menschen und Vieh in derUckermark schwerlich im Stich lassen.

Doch mein Eintritt in die SPD warnur aufgeschoben. Zwischenzeitlichauch Mitglied im „Neuen Forum“ hatteich für Anfang November geplant, einer(Ost-)Berliner Ortsgruppe der SPD bei-zutreten, um anschließend eine Anger-münder Ortsgruppe ins Leben zu rufen.Und so fuhr ich mich mit meiner FrauPetra am 9. November nach Berlin. Wirhalfen dort zunächst meiner Tochterbeim Umzug und besuchten dann – sowar es vorher verabredet – eine vonKonrad Elmer geleitete SPD-Versamm-lung. Sie fand unter fast konspirativenUmständen in der Karower Kleingarten-siedlung statt. Nachdem ich dort mei-nen Eintritt in die SPD erklärt hatte,war ich stolz und erleichtert. Später aufder Heimfahrt in die Uckermark schalte-ten wir das Autoradio ein und hörten

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Mein 9. November DER TAG, AN DEM ICH SOZIALDEMOKRAT WURDE

VON WOLFGANG BIRTHLER

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fassungslos die Neuigkeiten. Zur Um-kehr nach Berlin war es mittlerweile zuspät – aber den eigentlich wichtigenSchritt hatte ich ja schon getan! In denfolgenden Wochen und Monaten über-schlugen sich die Ereignisse. Noch imDezember 1989 gründeten wir die An-germünder Ortsgruppe der SPD undhatten unsere erste Bewährungsprobe imVolkskammerwahlkampf. Die DDRverschwand, und das Land Brandenburgerlebte seine Wiederauferstehung. Ichentschloss mich im Sommer 1990, indie Landespolitik zu gehen – um das

aktiv zu verwirklichen, was ich untereiner sozial gerechten und ökologischorientierten Politik verstand. Heute seheich viele der Dinge erreicht, die wir imHerbst 1989 auf die Tagesordnung ge-setzt haben. Daneben steht allerdingsauch die Erkenntnis, dass sich in eineroffenen Gesellschaft das scheinbar Not-wendige und Vernünftige äußerst lang-sam und oft nur auf Umwegen durch-setzt. Am Ende freue ich mich überdiesen Zufall, der mein SPD-Eintritts-datum mit dem historischen Ereignis des Mauerfalls zusammengeführt hat. �

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thema – 20 jahre SDP

W O L F G A N G B I R T H L E R

war von 1990 bis 1999 Fraktionsvorsitzender der SPD im Landtag und anschließend bis 2004 Minister für Umwelt und Landwirtschaft

des Landes Brandenburg.

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W enn ich nach fast 20 Jahren –ohne Anspruch auf Vollstän-

digkeit – an die Zeit in der Volks-kammer zurückdenke, kommt siemir wie ein Marathonlauf vor, beidem die Läufer bei Kilometer 32 auslauter Erschöpfung beschließen, dasRennen schon nach 35 Kilometernenden zu lassen. Und doch sind allehoch zufrieden. Aber der Reihenach.

Freie Wahlen. Jedem war klar:Sie bedeuteten das Ende der DDR.Ende 1989 zunächst auf den 6. Mai1990 angesetzt, wurden die WahlenEnde Januar 1990 wegen der sichüberschlagenden Entwicklung aufden symbolträchtigen 18. März 1990vorgezogen. Die Regeln waren ein-fach: In jedem DDR-Bezirk gab eseigene Listen, jeder Wähler hatte eineStimme und das Ergebnis entschied,wie viele Mandate in dem Bezirk aufdie jeweilige Partei respektive Listen-verbindung entfielen. Auf einer De-legiertenversammlung der SPD desBezirkes Potsdam wurde ich auf Platz4 der Liste gesetzt und am 18. März

1990 zum Abgeordneten der Volks-kammer gewählt.

Das Rennen begann gewisserma-ßen schon vor dem Startschuss.Denn vor der Wahl hatte der Vor-sitzende der SPD in der DDR, Ibra-him Böhme – offenbar im Gefühl,bald für die Geschicke des Landesverantwortlich zu sein – eine größereAnzahl der Mandatsbewerber zum 7.März 1990 nach Berlin geladen, umwenigsten einen ersten Eindruck vonder späteren Fraktion zu bekommen.Viele der Teilnehmer des Treffens,das irgendwo in der Nähe der Janno-witzbrücke stattfand, habe ich späternie wieder gesehen – Platz 4 der Listereichte längst nicht in allen Bezirkenzum Einzug ins Parlament.

Wie Böhme verschwand

Ibrahim Böhme wurde dann amMittwoch nach der Wahl, als sich die SPD-Fraktion konstituierte, Frak-tionsvorsitzender. Ich kannte ihnnicht weiter, im Fernsehen wirkte ereloquent und besonnen. Nun über-

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„Dann nehmt dochRegine Hildebrandt“ STOLZ UND SELBSTBEWUSST: DIE SPD-FRAKTION IN DER VOLKSKAMMER

VON JES MÖLLER

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raschte er mich mit der Vorstellung,wir sollten uns nicht an der Regie-rung beteiligen und gemeinsam mitder PDS das soziale Gewissen derEinheit spielen. Das wäre ein Trep-penwitz der Weltgeschichte gewesen:Aus der alten Einheitspartei wäre dieEinheitsopposition geworden! Erübte das Amt zum Glück nur zweiTage aus – zu eindeutig waren dieEnthüllungen des SchriftstellersRainer Kunze am Ende jener ereig-nisreichen Woche. Böhme, der am17. März noch als der kommendeMinisterpräsident galt, verschwandnur eine Woche später in der Versen-kung der Geschichte. Mehrere Mo-nate nahm er nicht mehr am parla-mentarischen Leben teil.

Plötzlich, im August 1990, er-schien er noch einmal wie selbstver-ständlich zu den Debatten um Bei-tritt und Einigungsvertrag in derSPD-Fraktion, ohne sich, nach mei-ner Erinnerung, zu den Stasi-Vor-würfen auch nur zu äußern. EinSpieler, der offensichtlich meinte,nach wenigen Monaten wäre Grasüber seine Spitzeleien gewachsen.Inhaltlich lag er übrigens ganz aufder Linie des damaligen Kanzlerkan-didaten der SPD, sprach sich dafüraus, den Einigungsvertrag abzulehnenund der Bundesrepublik nicht beizu-treten (jedenfalls nicht zu den ausge-handelten Konditionen). Der saar-ländische Ministerpräsident wollte

seinerzeit ähnliches, nämlich denEinigungsvertrag im Bundesrat ab-lehnen, um im Vermittlungsausschussdie deutsche Einigung nachzuverhan-deln. Als ginge es bei der EinigungDeutschlands um saarländische Stein-kohlesubventionen ...

Die Angst vor den Unruhen

Aber zurück in den März. Zur Regie-rungsbeteiligung gab es keine ernst-hafte Alternative, obwohl der Partei-vorstand der DDR-SPD dies anderssah. Neben Böhme als Vorsitzendemwaren seinerzeit Karl-August Kamilli(später Schill-Partei), Angelika Barbe(später CDU) und Markus Meckeldort vertreten. Aber die Fraktion ließsich die Sache nicht aus der Handnehmen. Diskutiert wurde freilichsehr intensiv über die Verteilung derMinisterien. Ich erinnere mich nochgenau, dass viele in der Fraktion fürdie SPD das Innenressort geforderthatten, und Wolfgang Thierse daraufentgegnete: Wenn es zu sozialen Un-ruhen kommt, kann sich die SPDnach 1919 einen zweiten Noske, derals Wehrminister 1919 den Sparta-kusaufstand niederschlagen ließ,nicht mehr leisten. Von der Vertei-lung der Ministerposten abgesehen,verdeutlicht die Bemerkung zugleichprägnant den damaligen Zeitgeist:Wir verglichen uns zwanglos mit derRevolution 1918/1919 und wir woll-

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thema – 20 jahre SDP

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ten es besser machen als 1919. Übri-gens hätte es zu den sozialen Unru-hen, die Thierse fürchtete, durchauskommen können. Irgendwann imSommer 1990 etwa hatten Ost-Ber-liner Müllmänner mit ihren Fahrzeu-gen den Palast der Republik kom-plett abgeriegelt, der Weg ins Hausähnelte einem Spießrutenlauf.

Ministerinnen gesucht

Die Fraktion, selbstbewusst und mitRealitätssinn ausgestattet, nahm fürsich in Anspruch, bei der Auswahlder Minister zumindest einbezogen

zu werden; auch Frauen, so wurdegefordert, sollten zum Zuge kom-men. Als Richard Schröder, in-zwischen neuer Fraktionsvorsitzen-der, einwarf, das wolle man schongerne tun, es sei aber gar nicht soeinfach, geeignete Frauen zu finden,wurde spontan dazwischengerufen:„Dann nehmt doch Regine Hilde-brandt“. Eine denkwürdige politischeKarriere begann. Zunächst musstenaber noch DDR-typische Schwierig-keiten überwunden werden. Nachder Fraktionssitzung hatte nämlichdie Fraktionsführung entschieden,mit der Hildebrandt könne man es

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jes möller – „dann nehmt doch regine hildebrandt“

Volkskammer-Wahlplakat 1990

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ja tatsächlich versuchen, doch war sienicht zu erreichen. So wurden Wolf-gang Thierse und Alwin Ziel losge-schickt, Regine in Berlin zu finden.Alwin Ziel hat mir später erzählt, sieseien einige Stunden durch Berlingeirrt und hätten die vermisste Ab-geordnete dann schließlich gefunden– in der Domkantorei. Sie ließen dieSängerin aus der Chorprobe rufenund fragten sie, ob sie Arbeits- undSozialministerin werden wolle.

Ohne Pause bis zum Schluß

Die Volkskammer war ein Parla-ment, das mit anderen Parlamentenkaum verglichen werden kann. Nahe-zu ohne Pause bis zum Abend des 2.Oktober 1990 wurde gearbeitet. Inden Sitzungswochen – und es gabpraktisch nur Sitzungswochen – fan-den in der Regel donnerstags undfreitags Plenarberatungen statt.Freitags begannen die Tagungenzumeist schon um 8:00 Uhr mor-gens; Ende September 1990 sogareinmal zu unchristlich früher Stundeum 7:00 Uhr! Das mit dem frühenBeginn angestrebte Ziel – Heimfahrtder Abgeordneten nach Rostock,Leipzig oder Suhl „schon“ am spätenNachmittag – wurde freilich seltenerreicht, nur zu oft zog sich auch amFreitag die Tagung bis zum frühenAbend hin, manchmal sogar bis ge-gen Mitternacht oder in die frühen

Morgenstunden. Ich erinnere mich,dass Richard Schröder in einer sol-chen Situation den Geschäftsord-nungsantrag stellte, die Sitzung„wegen allgemeiner Erschöpfung“abzubrechen – der Antrag wurdesofort angenommen. Hinzu kamenSondersitzungen an den Wochen-enden. Dass die Treuhandanstalt dieEigentümerbefugnisse für die gesam-te ostdeutsche Wirtschaft ausübenkann – beschlossen an einem Sonn-tag in einer Sondersitzung kurz vorder Währungsunion. Die Bildungder neuen Länder – beschlossen aneinem Sonntag Ende Juli 1990. DerBeitritt dieser neugebildeten neuenLänder nach Artikel 23 des Grund-gesetzes – beschlossen in einer Son-dersitzung.

Verkehrte Welt

Die Arbeit in den Ausschüssen warnicht weniger zeitraubend. DemSonderausschuss zur Kontrolle derAuflösung des MfS, dem ich ange-hörte (Vorsitzender war JoachimGauck), wurde irgendwann im Früh-sommer eine Liste der Offiziere desMfS im besonderen Einsatz zuge-spielt. Die meist kurz OibE genann-ten Stasi-Offiziere seien nach wie vortätig. Da dem Innenminister Diestelin dieser Hinsicht nicht zu trauenwar, verabredeten sich die Ausschuss-mitglieder, die Sache selbst in die

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Hand zu nehmen. Jeder sollte in sei-nem Bezirk die Dienstvorgesetztender Stasi-Offiziere vom Doppellebender Mitarbeiter informieren. So fuhrich dann mit meinem Lada nachPotsdam in die Bezirksdirektion derDeutschen Volkspolizei, zum VEBSpezialbau Potsdam etc. und sprachmit den jeweiligen Chefs. Die gewis-sermaßen spätrevolutionäre, nachheutigen Maßstäben rein exekutiveTätigkeit, wurde immer wieder be-hindert. Nicht von der Stasi, sonderndurch die Tatsache, dass mein Autodie Angewohnheit hatte, bei stärke-rem Regen einfach liegen zu blieben.Als ich nach Brandenburg an derHavel in die Strafvollzugsanstalt fuhr,um einen „OibE“ zu enttarnen, hal-

fen mir sowjetische Soldaten, meinAuto wieder flott zu bekommen.

Auch die sonstigen äußeren Um-stände der parlamentarischen Arbeitwaren katastrophal, zumindest nachheutigen Maßstäben. Die Fraktions-sitzungen fanden in den ersten Wo-chen auf den Fluren des Palastes derRepublik statt. Büros besaßen dieAbgeordneten zunächst gar nicht.Später wurde irgendwann das alteReichsbank- bzw. ZK-Gebäude leergezogen, doch damit besserte sichwenig. Zwar gab es nun viele kleineBüroräume, aber für Gespräche oderTreffen kleinerer Gruppen gab espraktisch keine Möglichkeiten. FürGespräche oder Besprechungen schienes zu Zeiten des „sozialistischen Zen-tralismus“ in dem ZK-Gebäude mitseinen riesigen Fluren keinen Bedarfgegeben zu haben. Die Umbenen-nung in „Haus der Parlamentarier“machte die Sache auch nicht besser.Noch bedrückender war das Gebäude,in dem die Abgeordneten in den Sit-zungswochen wohnten: das Wohn-heim des Ministeriums für Staats-sicherheit in Lichtenberg mit seinenschäbigen Sprelacartmöbeln atmeteganz den Geist der Bauherren.

Immer das letzte Wort

Das immense Arbeitsprogramm derVolkskammer war erforderlich, damitder Beitritt nach Artikel 23 über-

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jes möller – „dann nehmt doch regine hildebrandt“

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haupt erst erfolgen konnte. Beitretensollte nämlich nicht die DDR, son-dern die einzelnen Bundesländer, diees freilich zunächst noch gar nichtgab. In aller Eile gegründet, befandensie sich zunächst noch „in statu nas-cendi“ und bis sie nach dem Beitrittarbeitsfähig sein würden, konntenMonate vergehen. Für diese Über-gangszeit mussten die Länder miteiner nach dem Beitritt als Landes-recht fortgeltenden rechtlichen„Grundausstattung“ versehen wer-den. Andere Bestimmungen solltenmöglichst schnell beschlossen wer-den, damit sie im Einigungsvertragals Bundsrecht weitergelten konnten.Manchmal ist dies gelungen, bei demVermögensgesetz etwa. Andere hastigberatene Gesetze traten, kaum be-schlossen, am 3. Oktober 1990 schonwieder außer Kraft, weil sie nicht inden Einigungsvertrag gelangt waren(beispielsweise das Gesetz über denUmgang mit den Stasi-Akten).

Ein Grund für die Länge der Sit-zungen waren die oft ausuferndenGeschäftsordnungsdebatten. Zu un-freiwilliger Komik trug bei diesenDebatten nicht selten die Präsidentinder Volkskammer, Sabine Bergmann-Pohl, bei. Gleich in der zweiten Sit-zung musste die immer ein wenigüberfordert wirkende Ärztin (ich hat-te zunächst vermutet, sie sei Kauf-hallenleiterin) bei einem brisantenGeschäftsordnungsantrag feststellen,

die Zahl der anwesenden Abgeord-neten sei größer als die der abgege-benen Stimmen, es „fehlten“ einigeStimmen. Es war kein Spott, alsLothar de Maizière sie vor allen Ab-geordneten fragte, ob die Präsidentin,äh, also auch, äh, die Stimmenthal-tungen...? Frau Bergmann-Pohl, dieimmer das letzte Wort haben musste,erwiderte kurz, im Rechnen sei sieganz gut, und löste das Problem aufihre Art: Sie ließ Reinhard Höppner(SPD), später Ministerpräsident inSachsen-Anhalt, die Leitung überneh-men. Später verfeinerte Frau Berg-mann-Pohl ihre Methode, brenzligeSituationen zu lösen: Wurde es kri-tisch, gab es eine fünfminütige Kaf-feepause, und danach leitete die Sit-zung wie selbstverständlich (und stetssouverän) Reinhard Höppner.

Ostpakete werden gespart

Gut erinnere ich mich auch an einAbendessen, bei dem ich mich langemit CDU-Bundestagsabgeordnetenunterhielt. Diese waren auch in ver-traulicher Runde nicht davon abzu-bringen, dass die deutsche Einheitmit der Verteilung der Zuwachsratendes wirtschaftlichen Wachstums zubezahlen sei. Auf Einwände wurdemir launig entgegengehalten, die So-zis verstünden doch ohnehin nichtsvon Wirtschaft, es sei seltsam, dasssich dies schon auf die Ost-Sozial-

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demokraten übertragen habe. Ob ichdenn nicht wisse, dass die deutscheTeilung auch immense Summen ge-kostet habe, die jetzt alle eingespartwerden könnten: Mit der Wieder-vereinigung entfielen 1. Transit-pauschale, 2. Berlin-Förderung, 3.Zonenrand-Förderung, 4. Begrü-ßungsgeld, 5. steuerliche Absetz-barkeit der Ostpakete und 6. ganzsicher noch viel mehr, von dem ichals Ostdeutscher noch gar keineVorstellung hätte. Und wenn dieTreuhand erst mal das Volkseigen-tum verkauft habe... Wer’s glaubt,wird selig, dachte ich damals bei mir.Heute würde ich das anders sehen:Wer’s glaubt, gewinnt Wahlen. AuchWähler-Placebos wirken am besten,wenn der, der sie überreicht, vonihrer Wirksamkeit überzeugt ist.

Der Bruch der Koalition

Nach der Gründung der neuen Län-der am 22. Juli 1990 brach dieGroße DDR-Koalition Anfang Au-gust 1990 auseinander. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Günther Krausehatte in der Sitzung der Volkskam-mer mehrere Minister der SPDscharf persönlich angegriffen, zu-nächst den aus Paulinenaue imHavelland stammenden Landwirt-schaftsminister Polack und seinenStaatssekretär Kauffold, dann denFinanzminister, der „zur Katastro-

phenstimmung beitrage“, undschließlich Regine Hildebrandt. Alser in seiner hochfahrenden, arrogan-ten Art die Minister seines eigenenKoalitionspartners als „sogenanntehochrangige Politiker“ bezeichnete,verließen ich und die meisten SPD-Abgeordneten den Plenarsaal. Zielder Aktion war offenkundig, dieKoalitionsregierung auseinanderbre-chen zu lassen, was prompt gelang.Äußerte sich Krause gegenüber derostdeutschen SPD in der Regel he-rablassend, biederte er sich HelmutKohl förmlich an. „Der Herr Bun-deskanzler“ haben dieses und jenesgesagt, ließ er häufig in seine Volks-

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kammerreden einfließen (der eigeneMinisterpräsident, so irgendwannspäter in einem Halbsatz, stimmedem auch zu). Hochmut kommt vordem Fall, und mancher Fall ist sogartiefer als der Aufstieg zuvor.

Abstimmung um 2 Uhr

Der Beitritt der neuen Länder erfolg-te in der Nacht von Mittwoch, dem22. August 1990, auf Donnerstag,dem 23. August 1990. Nach demAuseinanderbrechen der Koalitions-regierung sollte der Beitritt nach demWillen der SPD-Fraktion zwar soschnell wie möglich erfolgen, bei derDiskussion in der Fraktion amAbend des 22. August gab es indes-sen starke Vorbehalte, den Beitrittschon vor der Zustimmung zumEinigungsvertrag zu erklären. Mitdem Beitritt hätte die SPD-Fraktionihr letztes (schwaches) Druckmittelaus der Hand gegeben. Als Lösungschlug jemand vor, dass man denBeitritt ja bedingt erklären könne,bedingt durch das wirksame Zustan-dekommen des Einigungsvertrages.Ob dies allerdings staatsrechtlichmöglich sei, konnte niemand sagen.Hektisch wurde Martin Gutzeit los-geschickt, der als einer der wenigenein Mobiltelefon hatte (das paketför-mige, schwere Gerät symbolisierteäußerste Bedeutsamkeit). Er sollteHans-Jochen Vogel fragen, ob es ge-

gen eine solche Lösung staatsrechtli-che Bedenken gebe. Irgendwann kamder immer etwas verschmitzt blicken-de Gutzeit wieder. Vogel, seinerzeitVorsitzender der SPD (West) und als„Einser-Jurist“ hochangesehen, hattesein Plazet gegeben. Die genaue Fas-sung des Antrages ergab sich dannaber erst in der Plenardebatte, wobeivon einer Bedingung im technischenSinne gar nicht gesprochen werdenkann, wie ich rückblickend feststellenmuss. Um derlei Fragen nachzuge-hen, war es bei der Abstimmung mit-ten in der Nacht, gegen 2:00 Uhr,im wahrsten Sinne des Wortes aberzu spät. Obwohl 40 Jahre einesschweren Weges nun zu Ende gin-gen, wollten die meisten nur noch

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Jes Möller

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abstimmen und nach Hause. Eskennzeichnet das Gespür für diegroße Geste, dass Gregor Gysi diehistorische Stunde nutzte, um untergroßem Beifall schlicht und einfachfestzuhalten: „Das Parlament hatsoeben nicht mehr und nicht wenigerals den Untergang der DeutschenDemokratischen Republik zum 3.Oktober 1990 beschlossen.“ Und wie-der wirkte es unfreiwillig komisch, alsFrau Bergmann-Pohl nach diesenWorten „eine angenehme Nacht-ruhe“ wünschte. Ja, ruhe sanft, seltsa-me Republik, und quäle uns und dieweitere deutsche Geschichte nichtmit Albträumen und Schreckgespens-tern!

Für mich hatte die Volkskammer-zeit übrigens noch ein Nachspiel.Während der eine oder andere

Richter heutzutage den Weg vomGericht in das Parlament findet, istder umgekehrte Weg, den ich gegan-gen bin, doch eher selten. Er führt zuder seltenen Konstellation, dass ichin manchen Fällen auf objektiveGesetzesauslegung gänzlich verzich-ten und ganz subjektiv an die Sacheherangehen kann: Bei Klagen nachdem Vermögensgesetz etwa, im Kernaltes Volkskammergesetz (es geht umdie Abwicklung der traurigen Hinter-lassenschaften der DDR), kann ichmit einer gewissen Berechtigungsagen, wie der historische Gesetzge-ber einmal eine Regelung gemeinthat. Ganz genau weiß ich’s natürlichauch nicht, aber im Zweifel ist eineBestimmung so zu verstehen, wie ichsie verstehe – schließlich habe ich sieselbst einmal mit beschlossen. �

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thema – 20 jahre SDP

J E S M Ö L L E R

war Mitbegründer der SDP in Potsdam und Volkskammerabgeordneter 1990.Heute ist er Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) und

Richter am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg.

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Im Januar 1990 trat ich in die sichdamals noch SDP nennende „So-

zialdemokratische Partei in der DDR“in meiner Heimatstadt Lübbenau ein.Äußerer Anlass war eine kurze Notizauf der Lokalseite der Lausitzer Rund-schau: „Ortsgruppe der SDP inLübbenau gegründet, Interessentenmelden sich bitte unter Telefon …“.Auf meinen Anruf sagte mir einehelle, junge Männerstimme, dass dienächste Versammlung Donnerstag-abend in der POS IV (PolytechnischeOberschule) stattfinde und ich solledoch einmal vorbeikommen.

Das tat ich und drei oder vier Stun-den später war ich Mitglied der SDP inLübbenau, obwohl der teilweise chaoti-sche Verlauf der Versammlung nichtgerade zum Mitmachen einlud. Icherinnere mich an irgendwelche Que-relen mit einem ehemaligen Vorstand,der schon bald aus der Partei wiederaustrat, weil er nicht Bürgermeister-kandidat wurde. Das war Ende Januar1990, vier Monate später war ich Frak-tionsvorsitzender der SPD-Kreistags-fraktion Calau und ein Jahr später saßich für die SPD Brandenburg im 12.Deutschen Bundestag – sozusagen von

Null auf Hundert in der Politik inwenig mehr als einem Jahr!

Warum bin ich zu dieser Versamm-lung gegangen und trotz des ersteneher negativen Eindruckes SPD-Mit-glied geworden? Zwei Ereignisse sindes wohl gewesen, die diesen Schrittentscheidend vorgeprägt haben. Dawar erstens die Ostpolitik WillyBrandts, die für mich, wie für viele imOsten, große Hoffnungen auf mehrFreiheit, vor allem mehr geistige undmehr Bewegungsfreiheit weckte. Auchwenn diese Hoffnungen sich kaumerfüllten, sieht man einmal von einergewissen Lockerung im Bereich Kunstund Kultur ab, so waren Willy Brandtund Helmut Schmidt für meine politi-sche Grundeinstellung prägend. Es warklar für mich, dass „meine“ Partei inder Bundesrepublik nur die SPD seinkonnte.

Am 9. Okober in Leipzig

Und da war zweitens der 9. Oktober1989 in Leipzig! Ich arbeitete damalsmit einem Kollegen an einer wissen-schaftlichen Arbeit und wir trafen unsregelmäßig bei ihm in Leipzig, um in

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Von Null auf Hundert MEIN WEG ZUR SPD

VON HOLGER BARTSCH

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der Deutschen Bibliothek Literatur zustudieren und an unserem Thema zuarbeiten. Schon seit Mai fanden inLeipzig regelmäßig die sogenannten„Montagsdemos“ statt – ausgelöst zu-nächst durch die offensichtlichen Wahl-fälschungen bei der „Kommunalwahl“1989, in der Folge vor allem initiiertvon Ausreisewilligen. Im Verlauf desSommers nahm die Zahl der Demons-tranten aber stetig zu, und so hattenwir verabredet, uns diesmal am 9.Oktober zu treffen.

Wie die Hoffnung keimte

An jenem Montag, dem ersten nachdem 40. Jahrestag der DDR, bei dem inBerlin zahlreiche Demonstranten verhaf-tet worden waren, bot Leipzigs Innen-stadt ein beängstigendes Bild. Überallwaren Hundertschaften der Bereit-schaftspolizei und der Kampfgruppenmit Räumschilden und Hundestaffelnaufmarschiert (solche Bilder kannte man sonst nur aus dem Fernsehen), eslag eine ungeheure Spannung in derLuft, vor der Nikolaikirche standenmehrere Hundert Menschen, in denSeitenstraßen waren ebenfalls Polizei-einheiten und Kampfgruppen aufmar-schiert, sogar in der Innenstadt war diePolizei präsent und auf den Messehäu-sern rund um die Nikolaikirche warenBeobachter der Stasi stationiert.

Gegen Ende der Andacht stimmteneinige in der Menge vor der Kirche auf

einmal die Internationale an, andereriefen „auf dem Ring kommen sie!“Während die Menge in RichtungHauptbahnhof strömte, brachte derStadtfunk den bekannten Aufruf vonKurt Masur, Peter Zimmermann,Bernd-Lutz Lange und drei SED-Sekretären, in dem von Verhandlun-gen mit der Staatsmacht die Rede war.Damals war das ein unglaublicherVorgang, weshalb mein Kollege esnicht glauben wollte und es für eineFinte oder eine Provokation hielt. Unddann kam dieser riesige Zug den Ringentlang und die Menge rief nur „KeineGewalt!“, „Gorbi, Gorbi!“, „Wir sinddas Volk!“ Wir reihten uns ein, gingen

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ein Stück mit und es war ein unbe-schreibliches Gefühl. Man hatte aufeinmal wieder die Hoffnung, dass esdoch möglich sein sollte, das System zu zwingen, nicht länger dem Verän-derungsdruck zu widerstehen. Es wardieser Abend, als ich für mich den Entschluss fasste, an den Veränderun-gen, die nun unausweichlich schienen,beteiligt sein zu wollen, sie nicht passivzu erdulden, sondern aktiv mit zu ge-stalten. Mitgestalten und Verantwor-tung übernehmen aber konnte ich, daswar mir klar, nur in einer politischenGemeinschaft – eben der SDP bzw.SPD.

Voller Ideen und Vorsätze

Die ersten Tage und Wochen meinerParteizugehörigkeit waren turbulent –fast wöchentlich trafen wir uns. DieVolkskammerwahl war vorzubereiten –auch wenn die Träume vom „großenSieg“ der SPD bei uns in der „Provinz“sehr abgehoben schienen. Unmittelbardanach gingen wir an die Vorbereitungder Kommunalwahl vom 6. Mai 1990.Kandidaten mussten gefunden werden,was nicht immer einfach war. DieMaßstäbe, die wir damals vor allem andie politische Vergangenheit anlegten,waren streng. Ich will aus heutigerSicht nicht richten, ob zu streng –immerhin lag die Wende erst ein hal-bes Jahr zurück! Guter Wille war zwarbei vielen vorhanden, doch so mancher

schreckte auch vor der möglichen Ver-antwortung zurück – vielleicht einGrund dafür, dass meine Heimatstadtbis heute keinen SPD-Bürgermeisterhat, obwohl die SPD in Lübbenauschon 1990 stärkste Kraft wurde – fürden sogenannten „schwarzen Süden“damals eher untypisch!

Die Tage und Wochen vor undnach der Kommunalwahl 1990 warenmindestens so turbulent, wie die Wen-dezeit zwischen November 1989 undMärz 1990, aber doppelt so arbeits-reich. Im Kreistag Calau wurden wirnur zweitstärkste Fraktion nach derCDU. Eine geplante Koalition kam

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holger bartsch – von null auf hundert

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nicht zustande, weil wir den Land-ratskandidaten der CDU nicht akzep-tieren wollten (er war ehemaliges„Ratsmitglied“) und so durfte ich danndie Opposition im Kreistag führen.Täglich lernte jeder von uns dazu,kommunale Selbstverwaltung gab es in der DDR ja vorher nicht. Allewaren Neulinge in der Kommunal-politik – ausgestattet mit viel gutemWillen, noch mehr Ideen und Vor-sätzen aber wenig oder gar keinenKenntnissen über die öffentliche Ver-waltung. Blicke ich heute auf dieseZeit zurück, so stellt sie sich mir in derErinnerung als eine Abfolge von Partei-versammlungen, Fraktions- und Aus-schusssitzungen sowie Kreistagen dar,wobei auf jeder Sitzung, jeder Beratungneue, bisher unbekannte und noch nie

gehörte Themen und Probleme auf derTagesordnung standen.

Am „Tag der Deutschen Einheit“fragten mich meine Parteifreundedann, ob ich nicht für unsere Regionfür den ersten gesamtdeutschen Bun-destag kandidieren wolle. Ich hatte fak-tisch keine Bedenkzeit, brauchte auchkeine, denn ich sagte sofort zu. Dankeines zweiten Listenplatzes war ich dreiMonate später Mitglied der SPD-Frak-tion im 12. Deutschen Bundestag,erlebte die konstituierende Sitzung imReichstag, eröffnet von Willy Brandtals Alterspräsident, und erlernte in denfolgenden vier Jahren das politischeHandwerk in Bonn und in Branden-burg, um es schließlich, getreu meinemAnfang, wieder in der Kommunalpo-litik umzusetzen. �

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H O L G E R B A R T S C H

war von 1994 bis 2004 stellvertretender Landesvorsitzender der SPD und von 1994 bis 2006 Landrat des Kreises Oberspreewald-Lausitz.

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D as Jahr 1990 wirbelte mein Lebenkomplett durcheinander. Am 1.

Januar 1990 studierte ich Politikwissen-schaften in Bonn, die Mauer war zwargefallen, aber es gab noch zwei deutscheStaaten. Am 31. Dezember desselbenJahres arbeitete ich als Pressesprecherder SPD-Landtagsfraktion im wiederer-standenen Land Brandenburg und imvereinigten Deutschland.

Meine Eltern stammen aus Pom-mern bzw. Thüringen, und ich habemeinen Vater, einen Kirchenmusiker,in den achtziger Jahren mehrmals zuKonzertreisen in die damalige DDRbegleitet; daher hatte ich zumindesteine ungefähre Vorstellung vom „ande-ren Deutschland“. Mein Weg nachPotsdam kam gleichwohl eher zufälligzustande. Im Januar 1990 saßen wir inmeinem Bonner SPD-Ortsverein zu-sammen und überlegten, wie wir diePotsdamer SDP, so hieß sie damalsnoch, unterstützen könnten. Wir be-schlossen, bei Bonner Firmen Büro-material zu „erbetteln“, ich meldetemich als Fahrer. So traf ich am 29.Januar 1990 zum ersten Mal in Pots-dam ein und steuerte das „Linden-hotel“ an, das erst wenige Tage zuvor

von den neuen Parteien und Gruppie-rungen übernommen worden war undbis kurz zuvor Stasi-Untersuchungsge-fängnis war. Die SDP saß im Erdge-schoß hinter vergitterten Fenstern. Inden 1. Stock zogen die Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter des Amtes fürDenkmalpflege der Stadt Potsdam ein,darunter auch eine Frau, mit der ichheute verheiratet bin.

Zu tun gab es genug

Im „Lindenhotel“ traf ich u.a. auf EmilSchnell, Jes Möller und Rainer Speer.Abends beim Bier fragten sie mich, obich nicht Lust hätte, bis zu den Volks-kammerwahlen mitzuhelfen – zu tungäbe es genug. Nun hatte ich nach Ab-schluss meines Grundstudiums in Bonnsowieso gerade einen Durchhänger, „derOsten“ war für mich nicht vollkommenfremd, und ich wollte mich politischengagieren. Nach einer Nacht im Kin-derzimmer bei Schnells fuhr ich nachBonn zurück, packte einen Koffer mitKlamotten und fuhr wieder nach Pots-dam, wo ich zunächst bei einem Babels-berger Genossen (wieder im Kinderzim-mer) wohnen konnte.

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Puls 180 VOM ANFANG UND AUFBRUCH 1990 IN POTSDAM

VON ALBRECHT GERBER

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Anfang 1990 war die SDP eine Parteiim Aufbau und im Aufbruch. Wir be-fanden uns in einer geradezu irrsinnigereignisreichen Zeit – und wir befandenuns in einem absolut rudimentären orga-nisatorischen Zustand, den wir miteinem umso engagierteren und leiden-schaftlicheren Einsatz einigermaßenwettzumachen versuchten. SED/PDSund die Blockparteien besaßen nach wievor einen riesigen hauptamtlichen Appa-rat, Büros, Kommunikationsstrukturenund beste Verbindungen zu den staatli-chen Einrichtungen. Wir hingegen, eineHandvoll Leute im Bezirksbüro, ver-suchten mühsam, auf der Kreis- und Be-zirksebene überhaupt eine Mitgliederliste

zu erstellen, zu aktualisieren und zu klä-ren, an wen vor Ort denn überhaupt dieWahlkampfmaterialien vom DDR-Vor-stand weitergeleitet werden können.

Die politische Entwicklung in diesenWochen beschleunigte sich von Tag zuTag: Volkskammerwahlen standen an,die gefälschten Kommunalwahlen von1989 sollten wiederholt werden, dieRolle der Bezirke musste geklärt werden.Auf den Demonstrationen und Veran-staltungen tauchten die ersten Branden-burg-Fahnen und der Ruf nach einerLänder(wieder)gründung auf; interna-tional liefen die Gespräche mit derSowjetunion und den westlichen Sie-germächten über die deutsche Wieder-

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Oskar Lafontaine, Manfred Stolpe und Albrecht Gerber (v. l.) nach der Landtagswahl im Oktober 1990

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vereinigung; die Abwanderung in denWesten ging ungebremst weiter; vieleBetriebe kamen in ernste Schwierigkei-ten, und und und.

Mittendrin wir, die eine Partei auf-bauten und gleichzeitig einen Wahl-kampf führten. Wir planten und orga-nisierten Wahlkampfseminare undschrieben Programme, auch mit vielerund guter Hilfe der SPD aus Nord-rhein-Westfalen und Berlin. Wir orga-nisierten Demos, wir schrieben undverteilten Flugblätter, wir hielten Vor-standssitzungen ab und klebten Plakate– es war eine rasend schnelle Zeit, eineZeit, in der ich schneller und mehrlernte als ich mir hätte vorstellen kön-nen, in der ich neue Leute kennenlern-te und gute Freunde fand – und dieeinfach auch richtig Spaß machte.

Was willst Du in Bonn?

Das alles sollte so bleiben, aber am 18.März 1990, dem Tag der Volkskam-merwahlen, erfasste uns erst einmal dasganz großes Entsetzen. Die SPD hattein Umfragen gut ausgesehen, aber dasWahlergebnis war ein Desaster. Ganze22 Prozent gaben der SPD – nach einemstark von „West-Politikern“ geprägtenWahlkampf (kaum einer kannte deMaizière oder Ibrahim Böhme) – DDR-weit ihre Stimme, während die CDUeinen grandiosen Sieg einfahren konn-te. Offenbar wirkte, was Helmut Kohlversprach, während die SPD als unent-

schieden wahrgenommen wurde undihr Kanzlerkandidat Oskar Lafontaineals einer, dem die Wiedervereinigungeigentlich nicht ins Konzept passte.

Frustriert fuhr ich zunächst nachBonn zurück, doch einige Tage spätertraf ich auf einer Veranstaltung derBonner SPD wieder auf Rainer Speer,der fragte: „Was willst Du eigentlich indiesem verschnarchten Bonn, da wirddie Uni auch in 100 Jahren noch ste-hen, aber in Potsdam machen wir jetztKommunal- und Landtagswahlen,gründen einen Landesverband undkönnen jeden brauchen, der sich rich-tig reinhängen will.“ Ich fand immernoch, dass praktische Mithilfe in einereinmaligen historischen Ausnahmesi-tuation ungleich spannender und bes-ser ist, als in Bonn in Seminaren he-rumzusitzen.

Und so brach ich Anfang April wie-der nach Potsdam auf, nachdem icheinen Nachmieter für mein Zimmer-chen gefunden und meine Möbel beimeinen Eltern untergestellt hatte. Icharbeitete wieder beim BezirksverbandPotsdam mit; und in diese Zeit fielennicht nur die Kommunalwahlen, son-dern im März/April fand auch einespannende Debatte statt, die für dasSelbstverständnis der BrandenburgerSPD eine prägende Rolle spielte. DieVolkskammer war frei gewählt und dieKommunalparlamente würden MitteMai folgen, doch die Bezirksverwal-tungen und Bezirkstage besaßen keine

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albrecht gerber – puls 180

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demokratische Legitimation, sondernwurden „nur“ vom „Runden Tisch“kontrolliert. Die Zukunft der DDR-Bezirke war ungewiss, denn die Län-derneugründung stand bevor. DieRegierung de Maizière plante eineUmwandlung, nach der die Spitze derBezirksverwaltung auf Vorschlag derje-nigen Partei besetzt werden sollte, diebei den Volkskammerwahlen im Bezirkjeweils die meisten Stimmen erhaltenhatte. Die SPD hatte das lediglich inden Bezirken Potsdam und Frankfurt(Oder) geschafft.

Und plötzlich Pressesprecher

In der innerparteilichen Debatte ging esnun darum, ob wir schon vor der offi-ziellen Entscheidung der DDR-Regie-rung Vertreter in die Bezirksverwaltungentsenden sollten. Die einen meinten,man dürfe ohne eine Legitimationdurch Wahlen keine Verwaltungs- bzw.Regierungspositionen besetzen undaußerdem sei es besser, wenn die altenRegenten der Bezirke, also SED/PDSund die Blockparteien, den „Karren“richtig in den Dreck fahren würdenund die neuen, demokratischen Kräftedann einen kompletten Neuaufbaumachen könnten. Die anderen argu-mentierten, eine Legitimation desRunden Tisches würde zumindest vor-läufig ausreichen und es komme unbe-dingt darauf an, so schnell und so kon-sequent wie nur möglich in die alten

Apparate reinzukommen, um praktischund handfest Einfluss zu nehmen, denalten Kadern auf die Finger zu schauenund den Neuanfang voranzutreiben.Diese Position setzte sich letztlich(glücklicherweise) durch und der Run-de Tisch beschloss Mitte April, JochenWolf als Ratsmitglied in die Bezirks-verwaltung zu entsenden.

Ich bin sicher, diese Haltung deszupackenden und pragmatischenMachens sowie die Bereitschaft, einRisiko einzugehen, waren gewisserma-ßen charakterprägende Momente derBrandenburger SPD. Wertvoller fürdie Entwicklung der SPD in Branden-burg war gleichwohl, dass ManfredStolpe in unsere Partei eintrat undbereit war, als Ministerpräsidenten-Kandidat den Wahlkampf zu führen.Stolpe verkörperte die zupackendeGrundhaltung geradezu ideal, er kann-te Land und Leute wie kein anderer,hatte Erfahrungen und verstand mehrvon politischer Kommunikation alsirgend jemand sonst in der immernoch kleinen Brandenburger SPD.

In Potsdam betraute man mich imFrühling 1990 u. a. damit, die Bildungdes SPD-Landesverbandes Brandenburgorganisatorisch vorzubereiten. Von Sat-zungs- und Geschäftsordnungsfragenhatte ich herzlich wenig Ahnung undnoch weniger Erfahrung, und einenLandesparteitag hatte ich natürlichnoch nie vorbereitet. Aber da das denanderen genauso ging, fiel das nicht

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weiter auf. Nachdem wir dann im Juni1990 ein „ordentlicher“ Landesverbandgeworden waren, brauchte die SPDnatürlich auch einen ordentlichenPressesprecher. Steffen Reiche, der ersteVorsitzende der SPD Brandenburg,fragte mich in einer der ersten Vor-standssitzungen, ob ich diese Funktionübernehmen wolle. Ich antwortete, ichsei ein gerade 23 Jahre alt gewordenerStudent der Politikwissenschaften undintensiver Zeitungsleser, aber das seiauch schon alles, was ich von Pressear-beit verstünde. Egal, meinte Reiche,und ob der Vorstand einverstandenwäre, wenn ich das mache. Der Vor-stand war einverstanden – ich fühltemich geehrt, hatte aber im Grundekeine wirkliche Ahnung davon, wasvon da an auf mich zukommen würde.

Als erstes stellte ich mich bei allendamals in Potsdam tätigen Journalistenvor, baute den Presseverteiler weiteraus, textete Pressemitteilungen undhalf bei Veranstaltungen. Ich lernte,was im Gespräch mit Journalisten„unter zwei“ (anonym zitierbar) und„unter drei“ (nicht zitierbar) heißt,aber erst nachdem ich bei einem Ge-spräch mit einem Journalisten dieseFormel einmal vergaß, wurde mir sorichtig klar, was auch schiefgehenkann. Denn der Spiegel zitierte michkurz vor den Landtagswahlen im Ok-tober in einem Artikel, der sich mitden organisatorischen Schwierigkeitender SPD im Osten beschäftigte, so: „Inden vergleichsweise vielen und großenKommunalparlamenten waren so vieleSitze zu vergeben, dass ,beinahe jedesParteimitglied ein Mandat haben konn-te‘, wie der brandenburgische SPD-Sprecher Albrecht Gerber lästert“.

Das war überhaupt nicht lustig undich habe dafür im Wahlkampfteam einegehörige Abreibung verpasst bekom-men. Doch auch zu meinem Glück wardas natürlich kein wahlentscheidenderSchnitzer, sondern Manfred Stolpe isttrotz meiner im Rückblick sicherlichvöllig laienhaften Sprecherarbeit dererste Ministerpräsident Brandenburgsgeworden.

Daneben arbeitete ich im Sommerund Herbst 1990 als einer der Bran-denburger Vertreter in einer Koordi-nierungsgruppe mit, die die fünf

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Albrecht Gerber und Manfred Stolpe 1990

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Landtagswahlkämpfe im Osten und diefür den Winter angesetzte gesamtdeut-sche Bundestagswahl aufeinander ab-stimmen sollte. Wir trafen uns regel-mäßig in Berlin. Beim Nachlesen derSitzungsprotokolle ist mir wieder deut-lich geworden, wie konfliktreich schondamals das Verhältnis der Ost-SPDbesonders gegenüber Oskar Lafontainegewesen ist: Wir wollten nicht, dasssein Konterfei auf den Rückseitenunserer Spitzenkandidaten-Faltblätterprangen sollte, hatten aber das Pro-blem, dass diese Faltblätter vom Ollen-hauer-Haus finanziert wurden. Auchgab es Streit darüber, ob die Ost-Spit-

zenkandidaten bei einem Termin inLeipzig ein gemeinsames Foto mitLafontaine überhaupt machen wollten.

Heute ist schwer vorstellbar, wie in-tensiv diese Zeit gewesen ist – in einemMonat des Jahres 1990 passierte mehrals heutzutage in einem ganzen Jahr.Wir hatten Erlebnisse und Begegnun-gen, die nur in diesem Jahr möglichund denkbar waren, etwa einen Nach-mittag mit dem von mir verehrtenWilly Brandt und einer HandvollSPD-Leuten bei Kaffee und Kuchen im Pfarrhaus von Schwante – niemalshätte ich mir so was träumen lassen.Und noch heute habe ich Brandts

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thema – 20 jahre SDP

Landtagswahlkampf 1990: Manfred Stolpe in Nauen

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innere Bewegtheit bei diesem Treffenebenso frisch im Gedächtnis wie seinetiefsinnigen und weitsichtigen Wortean diesem Tag.

Ebenso ungewöhnlich, wenn aucheher skurril, war eine andere Begeben-heit. Im Sommer sollten hohe Offiziereder Polizei aus den drei Bezirken nachDüsseldorf reisen, um sich zwei oderdrei Tage lang mit Strukturen, Arbeits-weisen und Methoden der dortigenPolizei und des Innenministeriums vertraut zu machen. Rainer Speer, der zu dieser Zeit der sogenannte Verwal-tungsdirektor der Bezirksverwaltungs-behörde Potsdam war, bat mich mit-zufahren, um eigene Eindrücke zusammeln und um mitzubekommen,wie sich die Polizeioffiziere verhalten.Und so reiste ich dann mit drei gestan-denen und altgedienten Polizeiführernnach NRW, die mich skeptisch beäug-ten und wie ein rohes Ei behandelten.Sie hatten keine Ahnung, wen sie davor sich hatten, sondern wussten ledig-lich, dass ich auf Bitten der „neuenObrigkeit“ – so sahen sie das wohl –dabei war. Sicherheitshalber waren siealso mir gegenüber kollegial und zu-vorkommend. Ich beäugte sie ebensoskeptisch, denn auch ich hatte keineAhnung, wen ich da eigentlich vor mirhatte. Und von den fachlichen Fragenund Themen, die uns erwarteten, ver-stand ich natürlich auch so gut wienichts. Also ging ich so kollegial wiemöglich mit den „Kollegen“ um und

prägte mir während der Reise so vielwie möglich ein, um hinterher etwaseinigermaßen Sinnvolles über diekommende Umstrukturierung derPolizei sagen zu können. Die NRWlerwiederum hielten mich für einen Po-lizeioffizier und verwickelten mich inStruktur- und Einsatzführungsdebat-ten, bis ich klar machen konnte, dassich quasi nur ein Beobachter des Gan-zen war.

Im Tagesgeschäft arbeiteten alle Akti-ven mit unglaublichem Einsatz und oftgenug buchstäblich bis zum Umfallen.

So viel war zu tun, dass es oftmals rich-tig eng wurde. Anfang September 1990sollte Manfred Stolpe offiziell auf einemLandesparteitag zum Spitzenkandidaten

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albrecht gerber – puls 180

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gewählt werden. Kurz vor Beginn desKonvents drückte er mir und einemGenossen einen Stapel Papier in dieHand. Das war sein vorbereiteter Re-detext. Stolpe meinte ganz entspannt,er habe da noch ein paar Änderungenund ob wir wohl so nett sein könnten,die in den Text einzuarbeiten. BeimBlick auf die Blätter wurde uns jedochrichtig mulmig, denn Stolpe hatte einewirklich große Menge an Änderungenund ganze Passagen mit der Hand neugeschrieben. Wir stürzten an den Com-puter, Stolpes Rede stand nämlich un-mittelbar bevor. Kurz vor Beginn sei-ner Rede drückten wir ihm die Seiten,die wir bis dahin fertig hatten, in dieHand und machten uns fieberhaft anden zweiten Teil. Währenddessen be-gann Stolpe im Saal mit seiner auchheute noch absolut lesenswerten Rede.Als wir den restlichen Teil des Manu-skripts endlich fertig hatten (es kamuns trotz 180er Puls wie eine Ewigkeitvor), bin ich so unauffällig wie mög-lich zum Rednerpult gegangen undhabe ihm die restlichen Blätter auf dasPult gelegt. Dabei konnte ich mit hal-bem Auge sehen, dass wir uns auchnicht mehr Zeit hätten lassen dürfen,denn Stolpe hatte den größten Teil

des ihm vorliegenden Textes bereitsgesprochen.

Mir war inzwischen klar, dass ich in Potsdam und Brandenburg bleibenwürde. Man konnte sich nicht nur en-gagieren, sondern auch wirklich etwasbewegen und viel Sinnvolles erreichen.Für einen politischen Menschen war esgroßartig, am Aufbau einer demokrati-schen und selbstbewussten Partei undeines alten neuen Landes mitzuwirken.Ich bin froh und dankbar, dabei gewe-sen und dabei geblieben zu sein. �

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thema – 20 jahre SDP

A L B R E C H T G E R B E R

ist Politikwissenschaftler, kam 1990 nach Potsdam und ist heute Abteilungsleiter in der Staatskanzlei.

Willy Brandt zu Gast im Otto-Wels-Hausin Potsdam 1991

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Am 7. Oktober 1989 war die SDPin Schwante, in der Nähe von

Oranienburg, gegründet worden. Vonder West-Sozialdemokratie wurde dieneue Partei zunächst mit gemischtenGefühlen betrachtet. Nur wenige Tagespäter war Steffen Reiche, einer derMitgründer, auf Verwandtenbesuch inKöln. Sein Besuch wurde für ihn undseine Freunde überraschenderweise zueiner Werbereise für die ostdeutsche„SPD“. Medien und Politik empfingenReiche als offiziellen Vertreter der wie-der gegründeten Sozialdemokratie inder DDR.

Auch Doris Ahnen, Matthias Kollatzund ich vom Juso-Bundesvorstand tra-fen uns mit ihm in einer Bonner Pizze-ria in der Nähe des Hofgartens. Füruns war die Unterstützung des Aufbausder Ost SPD eine Selbstverständ-lichkeit – während andere Teile derJusos und der SPD sich noch im diplo-matischen Hakenschlagen übten. Soerinnere ich mich auch noch an dasSchmuggeln von Wachsmatrizengerätenin die DDR. Im Erich-Ollenhauer-Haus, der SPD-Parteizentrale, gab eseinige kluge Menschen wie TilmanFichter, für die die deutsche Frage im-

mer auf der Tagesordnung gebliebenwar und als eine strategische Frageauch für die Linken galt. Es war keinZufall, dass der BundesgeschäftsführerPeter Glotz ihn in die „Baracke“ geholthatte. Und natürlich riss Willy BrandtsGabe mit, geschichtliche Ereignisse inFormeln zu prägen. Er hatte ganzandere Emotionen zu Deutschlandund zu den Menschen in Ostdeutsch-land als viele Enkel oder Urenkel inseiner Partei – und vor allem zeigte ersie auch.

Aufbruch überall

Nach dem 9. November wurde dannalles einfacher. Bei keinem Kongressdurften Vertreter der DDR-SPD oderder Bürgerbewegung fehlen, man reistein der DDR von Ort zu Ort, seltenhabe ich als Referent in meinem Lebennoch mal so gut besuchte und von Auf-bruchstimmung geprägte Veranstaltun-gen vorgefunden. Die Jungen Sozialde-mokraten wurden aufgebaut, regionalePartnerschaften gegründet, die Wahl-kämpfe unterstützt. Bei den ersten undeinzigen freien Volkskammerwahlenam 18. März 1990 rechnete sich die

59perspektive21

Die Zukunft vor sich WIE WIR 1990 DIE BRANDENBURGER SPD AUFBAUTEN

VON MARTIN GORHOLT

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Sozialdemokratie große Chancen aus,führende Kraft zu werden. Doch eskam anders. Die „Allianz für Deutsch-land“ wurde klarer Wahlsieger, dieSPD Juniorpartner in der GroßenDDR-Koalition. Schon bei diesenWahlen zeigte sich, dass die SPDgerade nicht in den sozialdemokrati-schen „Stammländern“ Sachsen undThüringen mithalten konnte, sonderndass das Ergebnis in Brandenburg dasBeste für die SPD war. Dasselbe Bildzeigten die Kommunalwahlen im Mai,wo die SPD in Brandenburg in vielenwichtigen Städten und Landkreisenstärkste Partei wurde und viele Ober-bürgermeister und Landräte stellenkonnte, so in Potsdam, Brandenburgund Frankfurt (Oder). Die CDU warnur im Süden Brandenburgs stark,stellte dort den Oberbürgermeister inCottbus.

Ein neuer Landesverband

Die SPD-Organisation hatte sich ent-sprechend der kommunalen Gliede-rung in Kreisverbänden aufgestellt. Sogab es im späteren Brandenburg 44Kreisverbände. Die Hauptamtlichen-Struktur war ein wenig urwüchsig vonder SPD-Zentrale in der Rungestraßein Berlin errichtet worden. Entspre-chend den DDR-Bezirken gab es inBrandenburg drei SPD Bezirksver-bände: in Potsdam unter Führung vonJochen Wolf, in Cottbus mit Edwin

Zimmermann an der Spitze, in Frank-furt mit Britta Schellin, heute Stark.Der Landesverband gründete sich am26./27. Mai in Kleinmachnow, wo der30-jährige Steffen Reiche als Landes-vorsitzender gewählt wurde. Er hatteals einziger Kandidat eine Minister-präsidentenkandidatur für sich ausge-schlossen. Mit Manfred Stolpe wurdendanach die entscheidenden Gesprächegeführt.

Mit den besten Chancen

Die Bezirksverbände waren schnell über-holt und lösten sich sukzessive auf, derBezirksverband Cottbus am zögerlichs-ten; bis Ende 1990 verfügte er über eineBezirksgeschäftsstelle. Im Landesaus-schuss waren alle Kreisverbände vertre-ten, allerdings bleibt seine politischeLegitimation ähnlich wie beim Bundes-parteirat bis heute umstritten.

Die erste Aufgabe der Landesparteiwar 1990 Wahlkampf zu führen – unddass, obwohl schon zwei Wahlen, Volks-kammer- und Kommunalwahlen, statt-gefunden hatten. Für den 14. Oktoberwaren die Landtagswahlen in den fünfneuen Ländern anberaumt. Und schließ-lich standen die ersten gesamtdeutschenBundestagswahlen am 2. Dezember1990 bereits vor der Tür.

Ich hatte mich als Mitarbeiter des Parteivorstandes im Erich-Ollenhauer-Haus für eine der fünf Geschäftsführer-stellen in den neuen Landesverbänden

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thema – 20 jahre SDP

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beworben. Sachsen oder Brandenburghatte ich als Wunsch geäußert. InVorstellungsgesprächen deutete sicheine Entsendung nach Brandenburgan. Hans-Jochen Vogel, der damaligeParteivorsitzende, entsandte uns per-sönlich. Ich erinnere mich noch gut,wie er sagte, in Brandenburg gäbe esmit Manfred Stolpe die besten Chan-cen.

Am 1. August 1990 trat ich meineArbeit beim Landesverband Branden-burg an. Ende Juli stand in Bad Müns-tereifel beim Willy-Eichler-Bildungs-werk ein Wahlkampfseminar an. DerLandesvorstand und Vertreter aus denRegionen nahmen an dem Seminarteil. Es wurde aus Wahlkämpfen ausdem Westen berichtet. So war BodoHombach Gast und referierte über die

erfolgreichen Wahlkämpfe in NRW.Slogans wurden gesucht, die sich andiese erfolgreichen Kampagnen anlehn-ten. Aus „Wir in NRW“ wurde „Wirin Brandenburg“. Einige der Genossin-

nen und Genossen kannte ich schonaus anderen Zusammenhängen, sonatürlich Steffen Reiche oder den da-maligen Juso Andreas Klemund. DerName Matthias Platzeck fiel bei einergeheimen, merk- und denkwürdigenLandesvorstandssitzung. Kabinettslis-ten wurden gehandelt, Steffen Reichebrachte Matthias Platzeck für die SPDals Umweltminister ins Gespräch, wasauf scharfen Widerstand stieß; die SPDhabe genug ministrable Menschen inden eigenen Reihen.

Professioneller Wahlkampf

Die Landesgeschäftsstelle der SPD war in der Potsdamer Otto-Nuschke-Straße, heute Lindenstraße, in ehema-ligen Gefängnis-Räumen der Staats-sicherheit eingerichtet. (Otto Nuschkewar erster Vorsitzender der Blockpar-tei-CDU in der DDR.) Ende August1990 erfolgte der Umzug in dieFriedrich-Ebert-Straße 61. Immerhin:Diese Straße brauchte später nichtumbenannt zu werden. Die Straßewurde einfach nicht mehr nach demOberbürgermeister der Hauptstadtder DDR, sondern nach seinem gleich-namigen Vater benannt, dem sozial-demokratischen Reichspräsidenten. Inunseren Räumen war früher die Natio-nale Front untergebracht.

Die Wahlkampfleitung lag für dieLandtagswahlen bei Rainer Speer, dieAgentur war Schäfer Bellot in Berlin,

61perspektive21

martin gorholt – die zukunft vor sich

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ein schnell gegründeter Ost-Ablegerder Düsseldorfer Agentur Butter. DieWahlkampfmaterialien waren in denfünf neuen Ländern ähnlich angelegt.Es gab die Großflächen-Tafeln, Mast-aufhänger mit dem Spitzenkandidaten,Flyer mit den Wahlkreiskandidaten,Landkarten mit den Grenzen derneuen Länder. Alles durchaus profes-sionelles Material.

Die Landesgeschäftsstelle war aufge-teilt in den Partei-Teil und das BüroStolpe. Das Büro Stolpe war mit Kolle-gen aus den SPD-Bezirken in NRWund dem Leiter des Büros von HelmutSchmidt, Jens Fischer, besetzt. ImPartei-Teil arbeiteten u. a. der Presse-sprecher Albrecht Gerber, WilmaJakobi und Olaf Engels. Alle zusam-men organisierten wir die Stolpe-Tour,bereiteten Unterstützungstermine mitJohannes Rau, Willy Brandt, HelmutSchmidt, Hertha Däubler-Gmelin und vielen anderen vor. Auch RegineHildebrandt spielte mit ihren Auftrit-ten schon eine besondere Rolle.

Funkgeräte statt Telefon

Kontakte mit der Partei im Westenund in Berlin liefen über Großfunkge-räte, denn in Brandenburg konntenwir damals zunächst nur zwischen 6und 8 morgens telefonieren, dann wa-ren die Leitungen belegt. Also fuhrman zur Abstimmung zumeist rausoder verschickte Briefe.

Unsere Strategie war, Brandenburgals neuen Identitätsanker und ManfredStolpe als „einen von uns“, Kenner Ost-deutschlands und Vertrauensmann fürdie Menschen herauszustellen. Damiterreichte die SPD am Wahlabend 38,2Prozent und bildete keine große Koali-tion, sondern die Ampel aus SPD, Bür-gerbündnis und FDP – ein Dreierbünd-nis, das heute aufgrund der Schwächeder beiden großen Volksparteien wiederin Mode kommen könnte.

Erst nach den Landtagswahlen be-gannen wir die Partei systematischorganisationspolitisch aufzustellen,bauten Arbeitsgemeinschaften und dieSozialdemokratische Gemeinschaft fürKommunalpolitik auf und redeten mit

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thema – 20 jahre SDP

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befreundeten Organisationen. Ende1990 kamen Kreisvorsitzende undLandräte zu Regionalgesprächen zu-sammen, in denen die Parteistrukturmit Regionalgeschäftstellen festgelegtwurde. Der Parteivorstand wollte 12Regionalgeschäftsführer mit 12 halbenBürokräften. Daraus machten wir amEnde 18 Geschäftsführer in Büroge-meinschaften mit den Abgeordnetenund sieben Mitarbeiter in der Landes-geschäftsstelle. Kurz vor Weihnachtenbestätigte auch der Landesvorstanddiese Struktur, genauso wie den Lan-desgeschäftsführer. Anfang des Jahres1991 standen die Gründung des Otto-Wels-Werkes als Bildungsträger derSPD und der Bürgerberatung Branden-burg mit 10 ABM-Kräften an. Frauenwie Andrea Wicklein oder KonnySchulz haben so zur SPD gefunden.Und der Verein zeigte die SPD alsKümmerpartei.

Volkspartei ist der Anspruch

Der Erfolg der SPD in den folgendenJahren bis hin zu den historischen 54Prozent bei der Landtagswahl von1994 war gekennzeichnet durch dieIdentitätsfigur Manfred Stolpe, durchdie unkonventionell engagierte RegineHildebrandt und durch starke kommu-nale Träger sozialdemokratischer Poli-tik, vor allem den Landräten. Stolpeund Hildebrandt vermittelten denMenschen das Gefühl, sich für das

Land und für die Menschen aufzurei-ben. Und es gab Themen, die dieMenschen überzeugten und mit demLand identifizierten, zum Beispiel dieLandesverfassung.

Auf dem Landesparteitag am 4. Mai1991 gab sich die Partei eine neue Sat-zung und eine Beitragsordnung. Aufdem Parteitag 1992 in Templin wurdeein systematisch neu gedachter Landes-vorstand gewählt, in dem zum Beispieldie Landräte eine stärkere Stellung hat-ten. Bis zu den Kommunalwahlen imDezember 1993 wurden dann aus den44 Kreisverbänden 18 Unterbezirke.

1993 schrieb Steffen Reiche in einemArtikel im Buch „SPD 2000“ von

63perspektive21

martin gorholt – die zukunft vor sich

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Karl-Heinz Blessing, die „West-SPD“habe in der „Ost-SPD“ ihre Zukunftvor sich, nämlich eine Partei mit all

ihren Aufgaben zu sein, aber mit – imVergleich zu den Hochzeiten der Mit-gliederparteien im Westen Anfang dersiebziger Jahre – wenig Mitgliedern.Heute wird diese These immer mehrvon der Realität belegt. Die Branden-burger SPD zeigt im Übrigen, dassVolkspartei zu sein, also volksnah, inunterschiedlichen Milieus und Schich-ten verankert, nicht von der Mitglie-derzahl abhängig ist, sondern von derinhaltlichen und personellen Aufstel-lung der Partei. Heute gibt es eigent-lich nur drei Landesverbände der SPD,die derart „volksparteilich“ aufgestelltsind: Bremen, Rheinland-Pfalz undBrandenburg. �

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thema – 20 jahre SDP

M A R T I N G O R H O L T

war von 1990 bis 1994 erster Landesgeschäftsführer der SPD Brandenburg und ist heute Landtagskandidat.

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B randenburg ist das einzige ost-deutsche Bundesland, in dem die

SPD seit 1990 bei Landtagswahlenstets stärkste Partei wurde. Damit istdie Brandenburger SPD nicht nur dieerfolgreichste Partei im Bundesland,sondern im Vergleich der ostdeutschenLandesverbände auch die erfolgreichsteLandes-SPD in den fünf ostdeutschenBundesländern. In diesem Beitrag wirddie Entwicklung der SPD in Branden-burg seit 1990 nachgezeichnet und derFrage nach den spezifischen Problemenund Perspektiven der SPD im Bundes-land nachgegangen.

Aufbruch und Gründung

Die Sozialdemokratie in Ostdeutsch-land gründete sich am 7. Oktober1989 unter dem Namen Sozialdemo-kratische Partei in der DDR (SDP).An diesem Tag waren auf Initiativeeines kleinen Gründerkreises um diebeiden protestantischen Pfarrer Mar-kus Meckel und Martin Gutzeit rund40 Teilnehmerinnen und Teilnehmerin dem märkischen Ort Schwante beiBerlin zusammengekommen, um denin der DDR zu diesem Zeitpunkt

noch illegalen Akt einer Parteigrün-dung zu vollziehen.

Die SPD in Ostdeutschland zähltfolglich wie Bündnis 90/Die Grünen zuden im Herbst 1989 neu gegründetenParteien. Diese „Neuparteien“ musstenihren Parteiaufbau von Null an leistenund konnten nicht – wie CDU oderPDS – auf bestehende Organisations-strukturen, Parteiangestellte oder ande-re Ressourcen aus DDR-Zeiten zurück-greifen.

Zu Beginn des Jahres 1990 gab es in fast allen Kreisstädten des späterenBundeslandes Brandenburg Ortsver-bände und Basisgruppen der SDP.Bereits am 8. November 1989 hattesich in der Stadt Potsdam ein proviso-rischer Bezirksverband der SDP fürden DDR-Bezirk Potsdam gebildet.Darüber hinaus ist die Gründung vonSDP-Gruppen in verschiedenen Ortenund Städten überliefert, beispielsweisedie Gründung der SDP in Guben am23. November 1989 oder die Grün-dung des Kreisverbandes Rathenow am28. November 1989.

Der Landesverband der Partei wur-de auf dem ersten Landesparteitag derSPD am 26. Mai 1990 in Kleinmach-

65perspektive21

Die SPD in Brandenburg WIE DER WIEDERAUFBAU DER SOZIALDEMOKRATIE GELANG

VON ANNE-KATHRIN OELTZEN

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now ins Leben gerufen. Die Delegier-ten wählten Steffen Reiche zum erstenLandesvorsitzenden. Reiche, seit 1988protestantischer Pfarrer in dem südlichvon Berlin gelegenen Christinendorf,hatte zum Kreis der SDP-Parteigründerin Schwante gehört.

Auf dem „Brandenburger Weg“

Mit der Landtagswahl vom 14. Okto-ber 1990 waren insgesamt fünf Partei-en in den Brandenburger Landtag ein-gezogen, neben SPD, CDU und PDSauch FDP und „Bündnis 90“. Andersals in den anderen vier neuen Bundes-ländern war in Brandenburg nicht dieCDU stärkste Partei geworden sonderndie SPD. Bereits bei der ersten freienVolkskammerwahl in der DDR am 18.März 1990 hatte die SPD außer imDDR-Bezirk Berlin (35,2 Prozent) nurin den Bezirken Frankfurt (Oder) (31,9

Prozent) und Potsdam (34,3 Prozent)Wahlergebnisse über 30 Prozent errei-chen können. Ihr gutes Landtagswahl-ergebnis und damit die Chance, inBrandenburg zu regieren, verdankte dieSPD unter anderem ihrer klugen Per-sonalpolitik: Ihr Spitzenkandidat warManfred Stolpe, auf Platz zwei derLandesliste stand Regine Hildebrandt.

Manfred Stolpe war erst seit kurzemSPD-Mitglied und genoss als „Kirchen-politiker“ eine DDR-weite Bekanntheit.Seit 1982 war er Konsistorialpräsidentdes Evangelischen Konsistoriums Berlin-Brandenburg. In dieser Funktion warStolpe zu DDR-Zeiten Verhandlungs-führer der evangelischen Kirche im Ver-hältnis zu den staatlichen Stellen derDDR. Er nahm die Rolle eines „Krisen-managers“ wahr, der als Unterhändlerder Kirche unter anderem bei Reise-behinderungen und Ausreiseanträgenzwischen Bürgerrechtlern und dem

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thema – 20 jahre SDP

SPD-Mitglieder der Landesregierung 1990-1994

Ministerpräsident Manfred Stolpe

Innenminister Alwin Ziel

Ministerin für Arbeit, Soziales

und Gesundheit

Regine Hildebrandt

Finanzminister Klaus-Dieter Kühbacher

Justizminister Hans Otto Bräutigam (parteilos)

Minister für Ernährung,

Landwirtschaft und Forsten

Edwin Zimmermann

Minister für Stadtentwicklung,

Wohnen und Verkehr

Jochen Wolf,

ab 1993 Hartmut Meyer

Chef der Staatskanzlei Jürgen Linde

Page 67: perspektive21 - Heft 43

SED-Staat zu vermitteln suchte. DieFrage, wie eng Stolpes Kontakte mitdem SED-Staat und vor allem mit derStaatssicherheit der DDR waren, und ob er dabei immer auf Seiten der Kirchegestanden hatte, versuchte später einUntersuchungsausschuss des Branden-burger Landtages zu klären.

Auch Regine Hildebrandt, auf Platzzwei der SPD-Liste zur Landtagswahl,besaß landesweite Bekanntheit: Sie warMinisterin für Arbeit und Soziales inder aus der Volkskammerwahl vomMärz 1990 hervorgegangenen DDR-Regierung unter Lothar de Maizière.Hildebrandt übernahm in der Landes-

regierung das Amt der Ministerin fürArbeit, Soziales, Gesundheit undFrauen. Streitbar hatte Hildebrandtihre Stimme gegen die ihrer Ansichtnach vorhandenen Ungerechtigkeitendes Einigungsvertrages und den Zu-sammenbruch der ostdeutschen Wirt-schaft erhoben; lauthals stritt sie fürBeschäftigungsprogramme zugunstender rasch wachsenden Zahl an Arbeits-losen. Besonders gegen die Zurück-drängung der Frauen aus dem Arbeits-leben in den neuen Bundesländern undfür den Erhalt der Fristenlösung in derFrage des Schwangerschaftsabbruchsergriff sie Partei. Aufgrund ihrer ganz

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anne-kathrin oeltzen – die SPD in brandenburg

38,2% 39,3%

31,9%

29,4%

18,7%

26,5%

13,4%

5,3% 6,1%

54,1%

19,4%

18,7%

23,3%

28,0%

6,6%

2,2%

1,9% 3,3%

6,4% 2,9%

1,9%

3,6%

1,1%1,1%

SPD CDU PDS/L FDP B90/G DVU/NPD

Landtagswahlen 1990-2004

1990 1994 1999 2004

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eigenen Ausstrahlung und energischenArt des Auftretens erfuhr sie von vielenMenschen nicht nur in Ostdeutschland,sondern auch in den alten Bundeslän-dern eine besondere Art der Vereh-rung. Daher wurde ihr später in denMedien zugeschrieben, die Stimme desOstens zu sein.

Im November 1990 ging die SPDeine Regierungskoalition mit Bündnis90 und der FDP ein. Der Regierungsstildes Ministerpräsidenten Manfred Stolpewar vom Willen zum politischen Aus-gleich geprägt. Auf Stolpe geht die Redevom „Brandenburger Weg der Toleranz“zurück, der die Zusammenarbeit mit

allen im Landtag vertretenen Parteienumfasste und einen Ausgrenzungskursgegenüber der PDS ausschloss.

Die „Ampelkoalition“ wurde durchdie unterschiedliche Bewertung des „FallStolpe“ mehrmals erschüttert. Bereits imOktober 1992 war Marianne Birthler(Bündnis 90) aus Protest gegen die ihrerMeinung nach unzureichende Aufarbei-tung der früheren Stasi-Kontakte Stolpesals Bildungsministerin zurückgetreten.Nachdem der Vorsitzende der Fraktion„Bündnis“ im Landtag, Günter Nooke,Anfang März 1994 den Vorwurf erho-ben hatte, der Ministerpräsident habe im Untersuchungsausschuss nicht die

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thema – 20 jahre SDP

45,1%43,5%

46,4%

36,3%

28,1%

20,8%22,3%

11,0%

19,3%

35,8%

32,9%

20,6%

26,6%

17,2%

20,3%

6,9%5,8%

2,6%2,8%

9,7%

5,1%4,5%

3,6%2,9%

6,6%

SPD CDU PDS/L FDP B90/G

Bundestagswahlen 1990-2005

1990 1994 1998 2002 2005

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Wahrheit gesagt, zerbrach die Regie-rungskoalition an der Bewertung derIntensität von Stolpes Kontakten zuSED und Staatssicherheit am 22. März1994 endgültig. Bis zum Ende derLegislaturperiode im September 1994führte Stolpe eine Minderheitenregie-rung mit der FDP. Der Abschlussberichtdes Untersuchungsausschusses entlasteteStolpe: Eine Verpflichtung zu einer Zu-sammenarbeit mit dem Ministerium fürStaatssicherheit sei nicht nachzuweisen.

Die SPD-Alleinregierung

In den Wahlkampf zur Landtagswahlam 11. September 1994 zog die SPDmit ihrem Doppelgespann aus demMinisterpräsidenten Manfred Stolpeund der populären SozialministerinRegine Hildebrandt. Der Landtagswahl-kampf bildete den Schlusspunkt in derAuseinandersetzung über den „FallStolpe“. Trotz – oder gerade wegen –der Stasi-Vorwürfe hatte sich der Minis-terpräsident bei den Brandenburgerin-nen und Brandenburgern ein hohesAnsehen erworben. Stolpe stand bei-spielhaft für den verbreiteten Eindruck,dass ostdeutsche Biografien im wieder-vereinigten Deutschland entwertet wur-den. Mit 54,1 Prozent gewann die SPDdie absolute Mehrheit der Stimmen.

Das zentrale Projekt der SPD-Allein-regierung war die Fusion von Berlin undBrandenburg zu einem gemeinsamenBundesland. Es nahm bis 1996 nahezu

die gesamte Aufmerksamkeit der Lan-desregierung in Beschlag. Nach langemRingen und lebhafter Diskussion er-reichte Stolpe zwar die Zustimmungsowohl seiner Landespartei als auch derLandtagsfraktion für die Länderfusion.Das Fusionsprojekt scheiterte jedoch am5. Mai 1996 im Volksentscheid: Fast 63Prozent der Brandenburgerinnen undBrandenburger stimmten gegen dieFusion.

Im Landtagswahlkampf 1999 gerietdie SPD unter Druck, da es der bisdahin chronisch schwachen CDU gelun-gen war, sich mit der Wahl des früherenBerliner Innensenators Jörg Schönbohmzum Landesvorsitzenden neu aufzustel-len. Dass die SPD die CDU als politi-schen Gegner ernst nahm, zeigte unteranderem ihre programmatische Neuaus-richtung in der Bildungspolitik: Bei derVerabschiedung ihres Wahlprogrammssprach sich die SPD im Juni 1999 fürdie Einführung eines Zentralabiturs undeine auf 12 Jahre verkürzte Abitur-Zeitaus. Bei der Landtagswahl im September1999 blieb die SPD zwar stärkste Partei,musste aber Verluste von knapp 15 Pro-zentpunkten hinnehmen.

Stabwechsel an der Spitze

Mit dem Verlust der absoluten Mehr-heit war die Stolpe-SPD zur Regie-rungsbildung auf einen Koalitions-partner angewiesen. Am 4. Oktober1999 votierte ein SPD-Landesparteitag

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anne-kathrin oeltzen – die SPD in brandenburg

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nach leidenschaftlicher Debatte mitgroßer Mehrheit für die Annahme desKoalitionsvertrags mit der CDU. Re-gine Hildebrandt, die sich nachdrück-lich für ein Zusammengehen mit derPDS und gegen die CDU stark ge-macht hatte, zog daraufhin die Konse-quenzen und stand als Landesministe-rin nicht mehr zur Verfügung.

Mit dem Koalitionsbeschluss gingdie SPD jedoch nicht von der herbenWahlschlappe direkt zur Tagesordnungüber: Der Landesparteitag nahm einenInitiativantrag an, der die Einberufungeines Sonderparteitags zur Aufarbei-tung der Wahlschlappe für März 2000gefordert hatte. Dort sollte die zukünf-

tige inhaltliche Parteiarbeit sowie dieinnerparteiliche Struktur und Kommu-nikation eingehend diskutiert werden.Doch auch dieser Strategie-Parteitagließ die Unruhe in der SPD nicht ver-stummen. Erst die Wahl von MatthiasPlatzeck zum neuen Landesvorsitzen-den der SPD auf dem Landesparteitagin Oranienburg am 8. Juli 2000 befrie-dete die Partei.

Platzeck führte die Landespartei ausdem Amt des Oberbürgermeisters vonPotsdam heraus. Für einen Landesvor-sitzenden eine durchaus ungewöhnli-che Konstellation. Auf dem Landes-parteitag am 22. Juni 2002 verkündeteManfred Stolpe vollkommen überra-

70 september 2009 – heft 43

thema – 20 jahre SDP

34,5%

39,0%

25,8%27,8%

7,1%

4,1%

6,3%

23,5%

19,8%21,4%20,6%

24,7%

21,3%

21,6%21,3%

7,3%

4,6%4,2%4,1%4,2%

SPD CDU PDS/L FDP B90/G

Kommunalwahlen 1993-2008

1993 1998 2003 2008

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schend, dass er bereits in der darauf-folgenden Woche als Ministerpräsi-dent zurücktreten werde. Damit warder Weg für einen Generationswechselim Regierungsamt hin zu MatthiasPlatzeck frei.

Als Ministerpräsident trat Platzeck einschwieriges politisches Erbe an. Bereitsim Herbst 2002 tat sich aufgrund vonSteuerausfällen ein dramatisches Lochim Landeshaushalt auf. Die ernste Fi-nanzlage zwang die Regierung zu einemharten Sparkurs. Die Verhandlungenüber den Nachtragshaushalt für das Jahr2003 führten im Februar 2003 zu einerhandfesten Koalitionskrise. Hinzu ka-

men ernsthafte Irritationen zwischenden Koalitionspartnern, nachdem meh-rere CDU-Landtagsabgeordnete undder CDU-Innenminister Jörg Schön-bohm eine Solidaritätsadresse unter-schrieben hatten, die den Irak-Kriegdes amerikanischen Präsidenten GeorgW. Bush vorbehaltlos unterstützte. ImNovember 2003 führte die ungelösteFinanzierungsfrage der im Bau befind-lichen „Chipfabrik“ in Frankfurt (Oder)zu negativen Schlagzeilen. Schließlichmusste Platzeck erklären, dass das Landkeine Bürgschaft zugunsten der Betrei-berfirma aufbringen werde, womit dasProjekt scheiterte.

71perspektive21

anne-kathrin oeltzen – die SPD in brandenburg

SPD-Mitglieder der Landesregierung 1994-1999

Ministerpräsident Manfred Stolpe

Innenminister Alwin Ziel

Ministerin für Arbeit, Soziales

und Gesundheit

Regine Hildebrandt

Finanzminister Klaus-Dieter Kühbacher,

ab 1995 Wilma Simon

Justiz- und Europaminister Hans Otto Bräutigam (parteilos)

Wirtschaftsminister Burkhard Dreher

Minister für Ernährung,

Landwirtschaft und Forsten

Edwin Zimmermann,

ab 1997 Gunter Fritsch

Minister für Stadtentwicklung,

Wohnen und Verkehr

Hartmut Meyer

Minister für Wissenschaft,

Forschung, Kultur

Steffen Reiche

Ministerin für Bildung,

Jugend und Sport

Angelika Peter

Minister für Umwelt, Naturschutz,

Raumordnung

Matthias Platzeck,

ab 1995 Eberhard Henne

Chef der Staatskanzlei Jürgen Linde

Page 72: perspektive21 - Heft 43

Bereits in seiner ersten Regierungs-erklärung im November 2002 hattePlatzeck auf die sich veränderndenRahmenbedingungen für die Landes-politik angesichts der sinkenden Fi-nanzmittel reagiert, indem er fürBrandenburg das Ende der Nach-Wende-Zeit ausrief. Zunächst bliebjedoch undeutlich, wie die von ihmausgerufene Modernisierung mit mär-kischer Prägung in der praktischenLandespolitik verwirklicht werden soll-te. Im September 2003 formuliertePlatzeck dann unter dem Leitmotiv„Zukunft braucht Herkunft“ seinenEntwurf für die zukünftige Landesent-wicklung Brandenburgs. Die Schwie-rigkeit bestand darin, angesichts vonSparzwang, abnehmenden Landes-mitteln und demografischem Wandelim Bundesland Kriterien für die zu-künftigen Prioritäten in der Landes-

entwicklung zu finden. Unter Verweisauf die erfolgreichen skandinavischenLänder und besonders Finnlands for-mulierte Platzeck seine Vision vonBrandenburg als einem modernen Ge-meinwesen mit effizienter Wirtschaft,mit hochwertiger Infrastruktur undmit hervorragenden Bildungs- undForschungseinrichtungen. Mit demWechsel im Ministerpräsidentenamtvon Stolpe zu Platzeck hatte die Lan-des-SPD nicht nur eine personelleErneuerung vollzogen, sondern sie lei-tete auch eine inhaltliche und strategi-sche Neuausrichtung ein.

Erneuerung aus eigener Kraft

Im Jahr 2004 führte Matthias Platzeckdie SPD zum ersten Mal als Spitzen-kandidat in die Wahl. Im Wahlkampfsetzte die brandenburgische SPD auf

72 september 2009 – heft 43

thema – 20 jahre SDP

Ministerpräsident Manfred Stolpe,

ab 2002 Matthias Platzeck

Minister für Arbeit, Soziales

und Gesundheit

Alwin Ziel,

ab 2002 Günter Baaske

Finanzministerin Wilma Simon,

ab 2000 Dagmar Ziegler

Minister für Landwirtschaft,

Umwelt und Raumordnung

Wolfgang Birthler

Minister für Stadtentwicklung,

Wohnen und Verkehr

Hartmut Meyer,

ab 2003 Frank Szymanski

Minister für Bildung,

Jugend und Sport

Steffen Reiche

Chef der Staatskanzlei Rainer Speer

SPD-Mitglieder der Landesregierung 1999-2004

Page 73: perspektive21 - Heft 43

eine stark personalisierte, ganz auf denMinisterpräsidenten zugeschnitteneKampagne. Der Wahlkampf gewann anHärte, als die von der PDS geschürtepolitische Auseinandersetzung um dieReformpolitik der rot-grünen Bundes-regierung den Landeswahlkampf mitWucht zu überrollen begann. Als dieSPD dann in der heißen Wahlkampf-phase auf den insgesamt 32 Kundge-bungen massiv die Proteste der Hartz-IV-Gegner und der PDS zu spürenbekam, retteten die SPD die Führungs-qualitäten ihres Spitzenkandidaten:Platzeck hielt dem Hartz-IV-Protest aufden Marktplätzen stand, er thematisier-te in seinen Wahlkampfreden offen dieNotwendigkeit der Arbeitsmarktrefor-men. Dafür ließ er sich gegebenenfallsauch vom zum Teil aufgebrachtenPublikum niederbrüllen – doch zu-gleich wuchs der Respekt vor seinenSteher-Qualitäten. Am Ende ging dieSPD aus der „Brandenburgwahl“ alsstärkste Partei hervor.

Nach der Landtagswahl ging dieSPD schließlich erneut eine Koalitionmit der CDU ein, unter anderem weildurch den populistischen Anti-Hartz-IV-Wahlkampf der PDS die Grundlagefür eine vertrauensvolle Zusammenar-beit der SPD mit der PDS gestört war.Die von Ministerpräsident Platzeck inder vergangenen Legislaturperiode ein-geleitete inhaltliche Neuausrichtung derLandespolitik mit ihrer Fokussierungauf Bildung, Wissenschaft und Wirt-

schaft wurde nun Grundlage der Regie-rungspolitik; bereits die Präambel desKoalitionsvertrages nahm diesen neuenGeist in dem Leitmotiv der „Erneue-rung aus eigener Kraft“ auf. Mit dem„Michendorfer Thesenpapier“ stießPlatzeck im Februar 2005 eine breiteDebatte über die Neuausrichtung derWirtschaftsförderung und Landesent-wicklung an. Auf ihrem Landesparteitagam 20. Mai 2005 machte sich dieLandes-SPD mit der „LudwigsfelderErklärung“ diese inhaltliche Neuaus-richtung zu Eigen. Als zentrales Projektfolgte für die Landesregierung aus derBrandenburger Zukunftsdebatte derUmbau der Wirtschafts- und Regional-förderung auf Branchenschwerpunkteund Wachstumskerne. Diese Abkehrvom „Prinzip Gießkanne“ hat beträcht-liche positive Mobilisierungseffekte beiden regionalen und lokalen Akteurenausgelöst.

Der vorsorgende Sozialstaat

Besonderen Einfluss gewannen Pro-grammatik und Regierungspolitik derBrandenburger SPD während der Zeitvon Matthias Platzeck als Bundesvor-sitzender seiner Partei. Nach demüberraschenden Rücktritt des Partei-vorsitzenden Franz Müntefering imOktober 2005 übernahm Platzeck dieParteiführung. Von ihm gingen wichti-ge inhaltliche Programm-Impulse aus,mit denen er zur Wiederbelebung der

73perspektive21

anne-kathrin oeltzen – die SPD in brandenburg

Page 74: perspektive21 - Heft 43

innerparteilichen Programmdebattebeitrug. Auf Platzeck geht das Leitbilddes „vorsorgenden Sozialstaats“ zurück,mit dem er eine wesentliche Neuaus-richtung der SPD-Programmatik vor-nahm. Platzeck brachte die in seinemBundesland in den vergangenen 16Jahren gewonnenen Erfahrungen mitdem Strukturwandel und seinen Fol-gen für eine Transformationsgesell-schaft – die seine Landes-SPD in ihrerProgramm- und Politikentwicklungbereits verarbeitet hat – als direktenImpuls in die Programmdebatte derGesamt-SPD ein.

Die Mandatsträger

In der Brandenburger SPD sind Sozial-demokraten der ersten Stunde nochimmer zahlreich vertreten. Der heutigeFinanzminister Rainer Speer etwa hatteim Winter 1989/90 die PotsdamerSDP/SPD mit aufgebaut. Die Sozial-ministerin Dagmar Ziegler hatte 1990den SPD-Ortsverein Lenzen mit ge-gründet. Und Günter Baaske, der Vor-sitzende der SPD-Landtagsfraktion,war 1989 Gründungsmitglied sowohldes Neuen Forums als auch der SDPin Belzig. Bereits seit 1989 engagierensich für die SDP/SPD mindestens achtder 33 heutigen Landtagsabgeordneten,und mindestens neun weitere Abgeord-nete sind seit 1990 SPD-Mitglieder.Nach wie vor ist der BrandenburgerSPD die starke Prägung durch die Bür-

gerbewegung der DDR anzumerken,ihre Parteielite speist sich in hohemMaße aus dem Kreis der Aktiven ausder Zeit des Parteiaufbaus des Jahres1989/90.

Dass die Gründergeneration derSDP/SPD auch nach knapp 20 Jah-ren noch relativ stark in Spitzenpo-sitionen der SPD vertreten ist, liegtdaran, dass viele von ihnen zu Beginnihrer politischen Karrieren im Jahr1990 noch recht jung waren, mit Ge-burtsjahrgängen zwischen 1955 bis1965. Mit der Landtagswahl 2004 hatjedoch ein Generationswechsel einge-setzt, der sich in den kommendenJahren auch auf der kommunalen Ebe-ne fortsetzen wird. Viele Kommunal-politikerinnen und Kommunalpolitikerder Gründer- und Aufbaugenerationder Jahre 1989/90 stellten sich zurKommunalwahl 2008 nicht mehr derWahl. Die Suche nach neuen Kandi-datinnen und Kandidaten bedeutet für die Brandenburger SPD eine großeHerausforderung, da sie als Rekrutie-rungsbasis nur aus einer kleinen Zahlan Parteimitgliedern schöpfen kann.Wie bei den Kommunalwahlen 2008wird die SPD auch in Zukunft ver-stärkt parteilose Kandidaten gewinnenmüssen.

Auf ihre Regierungstätigkeit seit1990 und ihre breite Mandatsträger-basis – sowohl der Landtagsabgeord-neten und Minister auf der Landes-ebene als auch der Bürgermeister,

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thema – 20 jahre SDP

Page 75: perspektive21 - Heft 43

Landräte und vielen hundert Kommu-nalpolitiker in den Landkreisen undKommunen – stützt sich der selbstbe-wusst erhobene Anspruch der Bran-denburger SPD, die eigentliche „Bran-denburgpartei“ zu sein.

Eine einzigartige Zeitschrift

Mit der „Perspektive 21 – Branden-burgische Hefte für Wissenschaft undPolitik“ besitzt der Landesverband derSPD seit 1997 eine eigene Zeitschrift,die jährlich in vier Ausgaben erscheint.Zunächst richtete sich die Zeitschriftals Diskussionsforum zwischen Wis-senschaft und Politik in erster Linie anAngehörige der Hochschulen in Bran-denburg. Nach und nach hat sich die„Perspektive 21“ jedoch zu dem zentra-len Debattenorgan der Landes-SPDentwickelt, das in der Partei auch überBrandenburg hinaus Beachtung findet.Unter den Landesparteien sowohl in

Brandenburg als auch in Deutschlandist ein derart ambitioniertes Zeitschrif-tenprojekt bisher einzigartig.

Die Mitglieder

Im Vergleich zu den westdeutschenLandesverbänden und Bezirken derSPD verfügt die Partei in Ostdeutsch-land nur über eine sehr kleine Mitglie-derbasis. Im Vergleich der fünf ost-deutschen SPD-Landesverbände besitztdie Brandenburger SPD seit 1990durchgängig die höchste Mitglieder-zahl. Die Zahl ihrer Parteimitgliederbeträgt zurzeit etwa 6.770 Mitglieder.Auch in der Rekrutierungsfähigkeitschneidet die Brandenburger SPD ambesten ab: Im Jahr 2007 waren inBrandenburg knapp drei von 1.000Einwohnern ab 14 Jahren Mitglied derSPD. In Thüringen, Sachsen-Anhaltund Mecklenburg-Vorpommern lagdie Rekrutierungsfähigkeit der SPD

75perspektive21

anne-kathrin oeltzen – die SPD in brandenburg

Ministerpräsident Matthias Platzeck

Ministerin für Arbeit, Soziales

und Gesundheit

Dagmar Ziegler

Finanzminister Rainer Speer

Minister für Landwirtschaft,

Umwelt und Verbraucherschutz

Dietmar Woidke

Minister für Infrastruktur

und Raumordnung

Frank Szymanski,

ab 2006 Reinhold Dellmann

Minister für Bildung,

Jugend und Sport

Holger Rupprecht

Chef der Staatskanzlei Clemens Appel

SPD-Mitglieder der Landesregierung 2004-2009

Page 76: perspektive21 - Heft 43

nur bei zwei, in Sachsen bei nur einemvon 1.000 beitrittsberechtigten Ein-wohnern.

Die Wähler der SPD

Die Zusammensetzung der Wähler-schaft der SPD in Brandenburg weisteinige besondere Merkmale auf, die imVergleich zu anderen ostdeutschenBundesländern ins Auge fallen. DieSPD stützt sich bei bei Landtagswahlenauf eine breite Wählerkoalition, zu derArbeiter, Angestellte und Arbeitsloseebenso gehören wie an die evangelischeKirche gebundene Wähler und Kon-fessionslose. Bereits 1990 hatte die

Mehrheit der Arbeiterschaft für dieSPD gestimmt – anders als in denanderen Ländern, in denen sich dieArbeiter mehrheitlich für die CDUentschieden. Diese breite Wählerkoa-lition konnte die SPD auch 1994 und1999 an sich binden. Bei der Landtags-wahl 2004 jedoch ist sie erstmals insWanken geraten.

Die SPD erzielt seit 1990 beiFrauen stets bessere Wahlergebnisseals bei Männern. Bei der Wahl 2004schnitt sie bei den Wählerinnen mit36 Prozent weit besser ab als bei denWählern mit nur 28 Prozent. Deut-lich treten in der Wählerschaft derSPD auch Unterschiede in der Alters-

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thema – 20 jahre SDP

5.721

6.815

6.750

6.778

7.575

7.518

7.472

6.785

6.691

6.573

11.292

9.505

7.927

7.858

7.609

7.315

7.148

6.731

6.771

22.864

18.258

16.962

14.950

13.427

11.597

10.428

9.710

9.127

42.662

1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008

Parteimitglieder in Brandenburg 1990-2008

CDU PDS/LinkeSPDQuelle: Oskar Niedermayer, FU Berlin 2009

Page 77: perspektive21 - Heft 43

zusammensetzung ihrer Wähler her-vor: 2004 erzielte die SPD bei denüber 60-jährigen Wählerinnen undWählern mit 43 Prozent ein über-durchschnittlich gutes Ergebnis.

Probleme und Perspektiven

Seit 1990 hat sich an dem zentralenProblem der SPD in Brandenburgnicht viel geändert: an ihrer sehr klei-nen Mitgliederbasis. Diese hat Auswir-kungen auf die Fähigkeit der Partei zurRekrutierung ihres politischen Perso-nals, und zwar sowohl für die Landes-ebene als auch für die Kommunalpo-litik. Weil sie so wenige Mitglieder hat,ist die SPD bei den Kommunalwahlendarauf angewiesen, Parteilose als Kan-didaten zu gewinnen. Zudem werdenin den nächsten Jahren viele Kommu-nalpolitiker, die seit 1990 aktiv sind,ihre Ämter niederlegen. Die besondereHerausforderung für die Brandenbur-ger SPD besteht also darin, neue Kan-didatinnen und Kandidaten für sich zugewinnen. Vor allem auf der Ebene derGemeinden und der ehrenamtlichenBürgermeister ist es für die Partei vonBedeutung, eigene Listen und Kandi-daten aufzustellen. Täte sie dies nicht,vergäbe sie von vornherein ihre Chan-cen, dass in diesen Gemeinden Kandi-datinnen und Kandidaten der SPD ge-wählt werden.

Ihren Erfolg seit 1990 verdankte dieBrandenburger SPD zum einen ihren

populären Spitzenpolitikern ManfredStolpe und Regine Hildebrandt. Mitdiesen starken Zugpferden besaß dieLandes-SPD über Jahre hinweg einattraktives Personalangebot. Zum an-deren konnte sich die SPD in Bran-denburg – anders als in den anderenostdeutschen Bundesländern – seit1990 auf eine starke kommunale Ver-ankerung stützen. Zudem hat es dieBrandenburger SPD mehrfach verstan-den, notwendige Erneuerungsprozessein Gang zu setzen und erfolgreich zubewältigen. Dies gelang in personalpo-litischer Hinsicht nach der Wahl-schlappe von 1999, auf die der Ge-nerationenwechsel von Manfred Stolpezu Matthias Platzeck erfolgte. Und esgelang in konzeptioneller Hinsicht,indem sich die Brandenburger SPDmehrfach im Zuge inhaltlicher Zu-kunftsdebatten auf Vordermann brachteund ihre neuen Ideen mit einer prag-matischen Regierungspolitik in die Tatumsetzte.

Für die zukünftige Entwicklung desParteiensystems in Brandenburg wirddie nächste Landtagswahl eine wichtigeRolle spielen: Der Ausgang der imHerbst 2009 parallel zur Bundestags-wahl stattfindenden Landtagswahl wirddarüber entscheiden, ob sich die SPDin Brandenburg eher auf den Typuseiner „Mittelpartei“ zubewegt, die sichmit Ergebnissen von rund 30 Prozentder Stimmen auf gleicher Höhe mitPDS und CDU einrichten muss, aber

77perspektive21

anne-kathrin oeltzen – die SPD in brandenburg

Page 78: perspektive21 - Heft 43

in beide Richtungen koalitionsfähig ist;oder ob es der SPD wieder gelingenwird, ihre Vormachtstellung als Volks-partei mit einem Ergebnis von über 40Prozent der Wählerstimmen auszubau-en. Die Chance dazu hat die SPD mitder von Ministerpräsident MatthiasPlatzeck eingeschlagenen neuen Linieder Reformpolitik für Brandenburg.

Über die geleistete Regierungsarbeitwerden die Brandenburgerinnen undBrandenburger bei der kommendenLandtagswahl zu entscheiden haben.Die Chancen der SPD, ihre herausge-hobene Stellung als „natürliche“ Regie-rungspartei in Brandenburg zu konso-lidieren und wieder auszubauen, stehennicht schlecht. �

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thema – 20 jahre SDP

A N N E-K A T H R I N O E L T Z E N

ist Politikwissenschaftlerin und promoviert über die Geschichte der sächsischen und brandenburgischen SPD.

Page 79: perspektive21 - Heft 43

PERSPEKTIVE 21: Am 7. Oktober 1989,also dem 40. Jahrestag der DDR, wurdein Schwante die SozialdemokratischePartei gegründet. Was haben Sie an demTag gemacht?MATTHIAS PLATZECK: Ich war zu der Zeitin der Umweltbewegung aktiv. InPotsdam hatte ich im Jahr davor die„Arbeitsgemeinschaft für Umweltschutzund Stadtgestaltung“ (ARGUS) mit ge-gründet, und ganz bewusst für den 7.Oktober 1989 hatten wir zum zweitenMal ein landesweites Treffen der DDR-Umweltgruppen organisiert, das dann –formal unter dem Dach des Kultur-bundes – bei uns in Potsdam stattfand.Das ganze Land war schon nahezu inAufruhr, es gab brutale Übergriffe derSicherheitsorgane. Kein Mensch wusste,wie es mit der DDR weitergehen würde.Auf unserer Umweltgruppenkonferenzhaben wir dann eine Resolution verab-schiedet, in der es hieß: „Wir sind amTage des 40. Geburtstages unserer Repu-blik betroffen, traurig und wütend überden Zustand unseres Landes.“ Und wei-ter: „Wir wollen als selbstbewusste Bürgerunseres sozialistischen Staates endlich

glaubhaft in den Entscheidungsmecha-nismus im Lande einbezogen werden,statt ein Leben in privater Zurückgezo-genheit zu führen.“

Darum ging es den Sozialdemokratendoch auch, die sich am selben Tag inSchwante formierten. Hätten Sie nichtdamals schon dorthin gepasst?PLATZECK: Vielleicht nicht ganz. Ichstammte ja aus der Umweltbewegung derDDR, das war sozusagen meine Traditi-onslinie. Für uns in der Umweltbewe-gung war kennzeichnend, dass wir vor al-lem bessere Lebensbedingungen für dieBürger forderten. Es ging uns zunächstnicht um die Beendigung der SED-Herr-schaft. So ähnlich tickten auch die ande-ren Bürgerbewegungen in der DDR. Dievöllige Abschaffung der bestehendenOrdnung zugunsten einer parlamentari-schen Demokratie stand nicht auf unse-rem Programm. Und genau das war derUnterschied zu den Sozialdemokratenum Markus Meckel und Martin Gutzeit,die sich in Schwante versammelten. Diewollten von Anfang an nicht bloß als„Arbeitsgemeinschaft“, „Forum“ oder

79perspektive21

Zupackend und optimistischÜBER SEINEN EINTRITT IN DIE SPD UND DIE SOZIALDEMOKRATIE

IM 21. JAHRHUNDERT SPRACH TOBIAS DÜRR MIT MATTHIAS PLATZECK

Page 80: perspektive21 - Heft 43

„Initiative“ irgendwie mitreden und mit-bestimmen. Die wollten eine richtigePartei sein und nach freien Wahlen mög-lichst regieren. Das war für die SED na-türlich viel bedrohlicher und gefährlicher,weil die Sozialdemokraten den histori-schen Wahrheitsanspruch der Kommu-nisten fundamental bestritten. Für dieSED gab es ja nichts Schlimmeres als So-zialdemokratismus. Und damit stelltensie die Machtfrage. Die Sozialdemokra-ten waren auch nicht wie die anderenOppositionsgruppen permanent mitSelbstfindungsdebatten beschäftigt, son-dern konnten Punkt für Punkt benen-nen, was sie wollten: Rechtsstaatlichkeit,

Gewaltenteilung, soziale Marktwirt-schaft, Freiheit der Gewerkschaften,Streikrecht. Und diese Ziele wollten sieim Rahmen einer parlamentarischenDemokratie erreichen, in der verschiede-ne Parteien miteinander konkurrieren.Dass einer einzelnen Partei von vornher-ein eine „führende Rolle“ zugeschriebenwerden könnte, war mit diesen Prinzi-pien natürlich völlig unvereinbar. Darinbestand sozusagen der Frontalangriff derSozialdemokratie auf den DDR-Sozialis-mus. Darum hatte die SED vor Leutenwie Meckel und Gutzeit viel mehr Angstals vor uns etwas machtvergessenen Bür-gerrechtlern.

80 september 2009 – heft 43

thema – 20 jahre SDP

1. Mai 1998: Manfred Stolpe, Gerhard Schröder, Matthias Platzeck und Steffen Reiche (v. r.)

Page 81: perspektive21 - Heft 43

Haben Sie diese Unterschiede damals auchschon so genau verstanden und analysiert? PLATZECK: Nein. Mir hat zwar die Klar-heit und Zielstrebigkeit der SDP impo-niert, aber selbst war ich noch nicht soweit. Wir Bürgerrechtler träumten jadamals von der Rätedemokratie undsolchen Dingen. Vor allem wollten wirdie DDR behalten: lebendiger, bunterund freier als unter der SED, aber ebendoch als eigenen Staat. Ich weiß noch,wie es war, als ich zum ersten Mal WillyBrandt erlebte. Das war Ende Januar1990 auf einer Tagung der Evangeli-schen Akademie Tutzing bei München.Alle in meiner Familie bewundertenBrandt. Und der sagte da in seiner Redeganz klipp und klar: „Die Sache ist ge-laufen, die von Deutschland handelt.“Das hieß: Für ihn stand damals schonfest, dass die Einheit kommen würde.Und er sagte auch: „Wer noch von ei-nem ‚Dritten Weg‘ träumt, sollte erken-nen, dass die DDR gegenwärtig nichtdie Option hat, ein schwedischerWohlfahrtsstaat zu werden, womöglichmit jugoslawischer Selbstverwaltungund ökologischem Spitzenniveau, je-denfalls nicht aus eigener Kraft.“ Damittraf Brandt meinen wunden Punkt. Mirhat das damals jedenfalls sehr zu denkengegeben, aber überzeugt war ich nochnicht. Die Einsicht kam erst nach undnach, nämlich als ich begriff, wie voll-ständig marode und bankrott die DDRin Wirklichkeit war. Brandt hatte ganzeinfach recht.

Und im Spätsommer 1990 hat JoachimGauck dann zu Ihnen gesagt: „Warumgehst du eigentlich nicht zu den Sozial-demokraten? Du bist doch einer.“ Wiemeinte er das?PLATZECK: Das habe ich ihn damals auchgefragt. Gauck und ich kannten uns zuder Zeit ungefähr ein halbes Jahr. Wirhatten zusammen für das Bündnis 90 in

81perspektive21

matthias platzeck – zupackend und optimistisch

Oktober 2004: Günter Baaske gratuliert dem wiedergewählten Ministerpräsidenten Matthias Platzeck

Page 82: perspektive21 - Heft 43

der ersten frei gewählten Volkskammergesessen. Und er hatte damals wohlschon etwas über mich begriffen, wasmir selbst noch gar nicht so klar war. Ersagte: „Von der Art und Weise, wie duagierst, wie du redest, wie du denkst, bistdu eigentlich ein Sozialdemokrat.“

Trotzdem hat es dann noch fünf Jahregedauert, bis Sie tatsächlich in die SPDeingetreten sind.PLATZECK: Stimmt, aber das hatte natür-lich mit bestimmten anderen Vorprägun-gen zu tun. Zum einen stammte ich nuneinmal aus der Umweltbewegung derDDR. Damit landete ich fast automa-tisch beim Bündnis 90, das sich wieder-um den westdeutschen Grünen verwandtfühlte. Und zum anderen hatte ich – wieMillionen andere ehemalige DDR-Bür-ger – ziemlich tief sitzende Vorbehalte ge-gen Parteien an sich. In der DDR war„Partei“ nun einmal mehr oder wenigermit „SED“ gleichgesetzt gewesen. Dashat viele ehemalige DDR-Bürger abge-schreckt, auch wenn Parteien in der par-lamentarischen Demokratie natürlich etwas völlig anderes sind. Viele von unshaben eine ganze Weile gebraucht, umdiese Skepsis zu überwinden. Ich auch.Heute ist mir klar, dass Demokratie ohneParteien, die nach innen integrieren undnach außen Kompromisse schließen kön-nen, schlicht nicht funktioniert.

Seit Ihrem Eintritt in die SPD sind fastanderthalb Jahrzehnte vergangen. Zwi-

schenzeitlich waren Sie sogar Bundesvor-sitzender der Partei. Wie muss sich dieSozialdemokratie verändern, damit siewieder richtig erfolgreich werden kann?PLATZECK: Also, Vorsitzender mussteich ja deshalb werden, weil mir meinVater 1995 bei meinem Eintritt in dieSPD auf den Weg gegeben hatte: „Jun-ge, wenn du schon in eine Partei ein-trittst, dann versuch wenigstens, ihrVorsitzender zu werden.“ Daran habeich mich gehalten. Aber im Ernst: DieMenschen in Deutschland wollen undbrauchen keine Parteien, die bloß Na-belschau betreiben und ihr eigenesSchicksal bedauern. Die Leute könnennur mit solchen Parteien etwas anfan-gen, die auf sie zugehen. Um jeden Preismüssen wir deshalb Selbstabkapselungund Binnenorientierung vermeiden.Wir müssen uns neuen Wählerschich-ten zuwenden, immer bereit sein zurÖffnung und Erneuerung. In Branden-burg gelingt uns das ganz gut, glaubeich. Wir waren zum Beispiel 2004 dererste Landesverband der SPD über-haupt, der mit LandesbauernpräsidentUdo Folgart einen parteilosen Listen-kandidaten aufstellte. Das war ein Signalder Öffnung, und davon brauchen wirnoch viel mehr. Wir können nicht er-warten, dass die Bürger in Massen beiuns eintreten wollen wie in den siebzigerJahren in Westdeutschland. Die Zeitensind ein für allemal vorbei. Also müssenwir uns umso mehr den Bürgern zuwen-den und zwar jeden Tag aufs Neue.

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thema – 20 jahre SDP

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Und welchen Weg sollte die SPD inhalt-lich einschlagen?PLATZECK: Dazu lässt sich natürlichmanches sagen, aber eines ist mir beson-ders wichtig. Ich zitiere noch einmalWilly Brandt: „Die Sozialdemokrati-sche Partei Deutschlands gilt nach Mei-nung eines großen Teils unseres Volkesals Partei des Fortschritts.“ Brandt sag-te das 1969. Als Partei des Fortschrittsfeierte die SPD ihre größten Erfolge, alsPartei des Fortschritts überzeugte sie dieMenschen. Ich sage nicht, dass die SPDseitdem zu einer konservativen Parteigeworden ist. Aber manchmal geht esbei uns ein bisschen zu sehr um die Er-gebnissicherung, statt um Offensive undAufbruch. Darum finde ich, wir soll-

ten wieder mutiger werden und unsklipp und klar zum Fortschritt beken-nen. Natürlich bleibt soziale Gerech-tigkeit unser Markenzeichen. Aberwenn sich die SPD im 21. Jahrhun-dert treu bleiben will, dann muss sie in ihrer ganzen Grundhaltung unbe-dingt wieder als die Partei des Fort-schritts, der Experimentierfreude unddes Vorwärtsdrangs erkennbar werden.Neugier auf die bessere und intelligen-tere Lösung, weil sich Lebenschancenund Gerechtigkeit überhaupt nur soschaffen lassen – das muss unser Antriebsein. Übrigens finde ich, dass Frank-Walter Steinmeiers Deutschlandplan„Die Arbeit von morgen“ genau diesenGeist atmet. Das gefällt mir gut.

83perspektive21

matthias platzeck – zupackend und optimistisch

Im Landtagswahlkampf 2009

Page 84: perspektive21 - Heft 43

Aber ist nicht im vorigen Jahrhundert imNamen des Fortschritts jede Menge Un-heil angerichtet worden?PLATZECK: Das bestreite ich überhauptnicht. „Den Sozialismus in seinem Laufhält weder Ochs noch Esel auf“, hieß dasbei Erich Honecker. So einen naivenund unreflektierten Fortschrittsbegriffmeine ich ausdrücklich nicht. Fortschrittkommt nicht von selbst, es gibt keinezwangsläufige Entwicklung zum Besse-ren. Aber: Das Bessere ist möglich, wennsich Menschen entschieden dafür einset-zen. „Auf uns selbst kommt es an, lasst esuns einfach ausprobieren“, mit dieser zu-packenden Grundhaltung haben wir1989 die SED-Herrschaft beendet undseitdem unser Land neu aufgebaut underneuert. Diese zupackende, optimisti-sche Grundhaltung werden wir auchbrauchen, um die Probleme des 21.Jahrhunderts zu lösen. In diesem Sinnesollte sich die SPD wieder klar und

deutlich als Partei des Fortschritts ver-stehen. Zumindest hier bei uns in Bran-denburg klappt das schon ziemlich gut,finde ich. �

84 september 2009 – heft 43

thema – 20 jahre SDP

M A T T H I A S P L A T Z E C K

trat 1995 in die SPD ein, war 2005-2006 ihr Bundesvorsitzender und ist seit 2000 Landesvorsitzender sowie seit 2002 Ministerpräsident

des Landes Brandenburg.

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85perspektive21

x – x

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kommen nicht von selbst. Die Berliner Republik ist der Ort für die wichtigen Debatten unserer

Zeit: progressiv, neugierig, undogmatisch. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

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Seit 1997 erscheint„perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältereExemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de als pdf herunterladen.

Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnen gerne auchauf Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte eine E-Mail an [email protected].

Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar:Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?Heft 18 Der Osten und die Berliner RepublikHeft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des SozialstaatesHeft 20 Der Letzte macht das Licht aus?Heft 21/22 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn?Heft 23 Kinder? Kinder!Heft 24 Von Finnland lernen?!Heft 25 Erneuerung aus eigner KraftHeft 26 Ohne Moos nix los?Heft 27 Was nun Deutschland?Heft 28 Die neue SPDHeft 29 Zukunft: WissenHeft 30 Chancen für RegionenHeft 31 Investitionen in KöpfeHeft 32 Auf dem Weg ins 21. JahrhundertHeft 33 Der Vorsorgende SozialstaatHeft 34 Brandenburg in BewegungHeft 35 10 Jahre Perspektive 21Heft 36 Den Rechten keine ChanceHeft 37 Energie und KlimaHeft 38 Das rote PreußenHeft 39 Osteuropa und wirHeft 40 Bildung für alleHeft 41 Eine neue Wirtschaftsordnung?Heft 42 1989 - 2009