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Perspektiven: Wie gefährlich sind biologische Waffen? Unfall in einem Pharma- oder Biotech-Betrieb Terroristische Attacke mit biologischen Substanzen Einsatz von B-Kampfstoffen in einem Krieg Georg Häsler Sansano, Bern 15. Oktober 2020 Perspektiven PRO Global Szenario 1 Wahrscheinlichkeit Szenario 2 Wahrscheinlichkeit Szenario 3 Wahrscheinlichkeit

Perspektiven · 2020. 10. 14. · trächtliches Arsenal an B-Waffen. Erst 1969 stoppte Präsident Richard Nixon unter dem Eindruck der An-ti-Vietnam-Demonstrationen sämtliche B-Waffen-Pro-gramme

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Page 1: Perspektiven · 2020. 10. 14. · trächtliches Arsenal an B-Waffen. Erst 1969 stoppte Präsident Richard Nixon unter dem Eindruck der An-ti-Vietnam-Demonstrationen sämtliche B-Waffen-Pro-gramme

Perspektiven: Wie gefährlich sind biologische Waffen?

Unfall in einem Pharma- oder Biotech-Betrieb

Terroristische Attacke mit biologischen Substanzen

Einsatz von B-Kampfstoffen in einem Krieg

Georg Häsler Sansano, Bern15. Oktober 2020

PerspektivenPRO Global

Szenario 1 Wahrscheinlichkeit

Szenario 2 Wahrscheinlichkeit

Szenario 3 Wahrscheinlichkeit

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Dichtung und Wahrheit über den Einsatz von B-Waffen

Die Geschichte dreht hartnäckig ihre Runden durchs Netz: Das Coronavirus sei eigentlich das Resultat der chinesischen B-Waffen-Forschung. Die etwas harm-losere Version lautet, dass Wissenschafter im virolo-gischen Institut von Wuhan mit einem unbekannten Fledermausvirus experimentiert hätten. Der Erreger, der seit Ende 2019 die Welt in Atem hält, sei also menschengemacht. Ein Bericht von Five Eyes, einem Verbund der Nachrichtendienste der USA, Australiens und weiterer englischsprachiger Länder, schien diese Theorie sogar zu belegen.

Unterdessen ist klar: Das Coronavirus wurde weder künstlich hergestellt noch absichtlich freigesetzt. Dies hielt Ende April der Direktor aller 17 US-Ge-heimdienste in einem Statement fest: Die Intelligence Community teile den weitverbreiteten Konsens der Wissenschaft, dass Covid-19 weder menschengemacht noch genetisch verändert worden sei.

Dies ist angesichts der angespannten Beziehungen zwischen den USA und China eine bemerkenswert klare Aussage. Denn Spekulationen und Verschwö-rungstheorien über den Einsatz biologischer oder auch chemischer Waffen gehören zum festen Repertoire des Informationskriegs zwischen rivalisierenden Mächten.

Der Vorwurf der Brunnenvergiftung ist ein altherge-brachter Topos. Seit der Grossen Pest im Mittelalter wurde er vor allem als antisemitisches Stereotyp verwendet, zuletzt im Jahr 2016 vom Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde Mahmud Abbas

vor dem Europäischen Parlament in Strassburg. Er be-hauptete ohne jede Grundlage, Rabbiner würden die israelische Regierung auffordern, das Wasser in den palästinensischen Gebieten zu vergiften. In den 1980er Jahren machten Gerüchte die Runde, wahlweise die CIA oder der KGB hätten das HI-Virus in die Welt gesetzt. Auch Kuba beschuldigte die USA wiederholt, biologische Kampfstoffe zu verwenden.Fliessender Übergang zwischen B- und C-Kampfstoffen

Die Bestimmung, was eine B-Waffe ist, ist nicht einfach. Eine allgemein anerkannte Definition gibt es nicht. Der Übergang von chemischen zu biologischen Kampfstoffen ist fliessend. Im engeren Sinn sind Mittel zur Verbreitung ansteckender Krankheiten gemeint, die biologisch hergestellt werden. Im Vordergrund steht der Pockenerreger. Teilweise zählen ebenfalls Toxine wie Rizin oder Bioregulatoren zu den B-Waffen, also Substanzen, die auf biologische Prozesse Einfluss nehmen und etwa Giftstoffe freisetzen können. Das Kriterium ist die Produktionsweise.

Unter reinen C-Kampfstoffen sind in chemischen Prozessen hergestellte Gifte zu verstehen, die direkt auf den menschlichen Organismus wirken. Bekannt sind Sarin, eine farblose, relativ flüchtige Flüssigkeit, welche das Nervensystem angreift, oder Yperit, das unter dem Namen Senfgas geläufig ist und die Haut schädigt.

Biologischen und chemischen Kampfstoffen gemein ist

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die besonders oft zum Tod führende Wirkung. Sie fallen deshalb unter die Kategorie der Massenvernichtungs-waffen, zusammengefasst unter der Abkürzung CBRN für chemisch, biologisch, radiologisch und nuklear.

Japanische Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg

Chemische Kampfstoffe wurden seit dem Ersten Weltkrieg trotz Ächtung wiederholt eingesetzt, zuletzt mutmasslich vom syrischen Machthaber Bashar al-Asad gegen die eigene Bevölkerung. In Erinne-rung bleibt auch ihr Einsatz durch den irakischen Diktator Saddam Hussein im Krieg gegen Iran und die Kurden. Die Schweiz hat mit Experten des damaligen AC-Schutzdienstes der Armee zugunsten der Uno erheblich zur Aufklärung der irakischen Kriegsverbre-chen beigetragen.

Die Hemmschwelle, einen militärischen Gegner mit einer ansteckenden Krankheit zu bekämpfen, blieb trotz den totalen Kriegen des 20. Jahrhunderts ver-hältnismässig hoch. Einzig die Kaiserlich Japanische Armee setzte bei der Invasion Chinas im Zweiten Weltkrieg systematisch B-Waffen ein – und zwar gegen die Zivilbevölkerung: Verantwortlich dafür war die berüchtigte Einheit 731. Unter der ärztlichen Leitung von General Ishii Shiro setzte sie unter anderem in den Städten Chü Hsien und Ningbo Pestbakterien aus.

Als Akt der Rache für einen Bombenangriff auf Tokio («Doolittle Raid») 1942 produzierte die Einheit einen

Milzbrand-Kampfstoff und vergiftete damit auf der Insel Taiwan Flüsse und Seen. Weiter hat die japani-sche Armee die Wasserversorgung chinesischer Dörfer vergiftet, um die Wirkung des Ausbruchs von Cholera und Typhus zu studieren.

Noch lange nach der Kapitulation Japans im August 1945 starben in China Menschen an den Folgen der B-Waffen-Einsätze. Statt die verantwortlichen Forscher als Kriegsverbrecher abzuurteilen, sicherten ihnen die Amerikaner als Gegenleistung für ihr Wissen Straffrei-heit zu. Laut wissenschaftlichen Untersuchungen waren die japanischen Informationen keine wirkliche Hilfe für die Entwicklung des B-Waffen-Programms der USA, das in kleinerem Rahmen bereits seit 1941 lief.

Über ein Jahr hielt die US-Armee die Aktivitäten sogar vor Präsident Franklin D. Roosevelt geheim. Am Ende des Krieges waren bereits 5000 Personen daran beteiligt. Der Fokus im amerikanischen Labor Camp Detrick lag auf Experimenten mit Anthrax (Milzbrand) und Botulinumtoxin (Botox), das auf die Nerven wirkt und heute auch in der Schönheitsmedizin verwendet wird.

Die Amerikaner starteten ihre Forschung mit biologi-schen Kampfstoffen, um nach Angriffen der Japaner zurückzuschlagen. 1987 belegte der Historiker Barton Bernstein auf der Basis von deklassifizierten Do-kumenten der amerikanischen Regierung, dass die Wissenschafter bald auch offensive Waffen entwickelt

Die verschwommenen Grenzen zwischen biologischen und chemischen Kampfstoffen

Quellen: Labor Spiez, VBS NZZ/visualdata.studio

Biologische KampfstoffeBiowaffenkonvention

Chemische KampfstoffeChemiewaffenkonvention

Ansteckenden Krankheiten Toxine Bioregulatoren Chemische Kampfstoffe

PockenEbola

AnthraxPest

BotulinumtoxinSaxitoxin

Rizin

EndorphinNeurokininEndothelinBradykinin

SarinVX

SomanTabun

HD

Produktion: biologischProduktion: chemisch

Ansteckend GiftigGiftig Giftig

Zwischen biologischen und chemischen Kampfstoffen besteht ein fliessender Übergang, wie diese Darstellung des Labors Spiez zeigt.

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hatten. Mit Unterstützung der Briten entwickelten die Amerikaner bereits 1943 die Grundlagen für eine Anthraxbombe. Schematische Pläne einer späteren Version einer solchen Bombe von 1955 zeigen, dass für den Transport der Erreger in der Luft Aerosole verwendet wurden.

Geheimes B-Wettrüsten im Kalten Krieg

Trotz Befürchtungen gegen Ende des Krieges, auch die Nazis könnten mit ihren V1-Raketen biologische oder chemische Angriffe auf amerikanische Truppen ausführen, kommt der Historiker Bernstein zum Schluss, dass weder Präsident Roosevelt noch sein Nachfolger Harry S. Truman je mit der Entscheidung konfrontiert war, eine B-Waffen-Attacke zu befehlen.

Trotzdem war das Thema biologische Kriegsführung nach dem Zweiten Weltkrieg nicht vom Tisch. Die USA entwickelten in den Nachkriegsjahren ein be-trächtliches Arsenal an B-Waffen. Erst 1969 stoppte Präsident Richard Nixon unter dem Eindruck der An-ti-Vietnam-Demonstrationen sämtliche B-Waffen-Pro-gramme der USA.

Der Einsatz biologischer und chemischer Waffen ist seit 1925 geächtet. Im sogenannten Genfer Protokoll wurde die Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln als Kampfstoffe verboten. Das Abkommen erwies sich aber als Papiertiger, weil es nur den Einsatz solcher Waffen betraf.

Das Uno-Abrüstungskomitee unternahm in den frühen 1970er Jahren einen neuen Versuch, das Protokoll zu ergänzen, musste sich aber auf den B-Waffen-Bereich beschränken. 1972 unterschrieben schliesslich auch die beiden Hauptkontrahenten im Kalten Krieg, die USA und die Sowjetunion, die neue Biowaffenkon-vention, die auch die Entwicklung und Lagerung von Kampfstoffen mit ansteckenden Krankheiten oder Toxinen verbot.

Die UdSSR blieb trotzdem bis zum Ende ihres Bestehens eine Blackbox, was die Produktion von biologischen Kampfstoffen angeht. Ein Jahr nach der Unterzeichnung der Biowaffenkonvention riefen die Sowjets unter strengster Geheimhaltung die Behörde Biopreparat ins Leben. An mehreren Standorten ar-beiteten bis zu 50 000 Personen an der Entwicklung. 1979 versuchte der KGB einen Unfall mit Milzbran-derregern in Swerdlowsk (heute Jekaterinburg) zu ver-tuschen, der 105 Sowjetbürger das Leben kostete.

Erst gegen Ende des Kalten Kriegs kamen Details über Biopreparat ans Licht. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dürften die Forschungsarbeiten wei-tergegangen sein. Noch heute gibt es kaum gesicherte Angaben über die russischen B-Waffen-Bestände. Während der Wirren der 1990er Jahre gab es Be-fürchtungen, dass Teile des Potenzials im Rahmen der sogenannten Proliferation, also der Weitergabe von Massenvernichtungswaffen, in falsche Hände geraten seien. Die Grenze zwischen regulären Geheimdiensten und organisierter Kriminalität war fliessend. Bis heute

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ist allerdings kein Fall einer Attacke mit B-Kampfstof-fen aus ehemals sowjetischer Produktion bekannt.

Die B-Waffen aus dem Kalten Krieg sind ein Mysterium geblieben. Auch die Fachleute im renommierten Labor Spiez haben keinen wirklichen Überblick über die vorhandenen Bestände biologischer Kampfstoffe der Industrienationen, obschon 183 Staaten als Vertrags-staaten der Biowaffenkonvention eigentlich an deren völkerrechtlich verbindlichen Wortlaut gebunden wären und somit keine Bestände mehr haben sollten. Dieser Umstand kann aber nicht verifiziert werden, weil es keine entsprechenden Mechanismen gibt.

Noch immer wirken die B-Waffen als Bestandteil des Informationskriegs unter rivalisierenden Akteuren nach – heute allerdings in wesentlich komplexeren Verhältnissen als in der Zeit, als sich mit den USA und der Sowjetunion verhältnismässig berechenbare Supermächte gegenüberstanden.

Die B-Waffen aus dem Kalten Krieg sind ein Mysterium geblieben. Auch die Fachleute im renommierten Labor Spiez haben keinen vollständigen Überblick über die vorhandenen Bestände biologischer Kampfstoffe der Industrienationen, obschon 183 Staaten als Vertrags-staaten der Biowaffenkonvention eigentlich an deren völkerrechtlich verbindlichen Wortlaut gebunden wären und somit keine Bestände mehr haben sollten.

Noch immer wirken die B-Waffen als Bestandteil des Informationskriegs unter rivalisierenden Akteuren

nach – heute allerdings in wesentlich komplexeren Verhältnissen als in der Zeit, als mit den USA und der Sowjetunion zwei verhältnismässig berechenbare Su-permächte sich gegenüber standen.

Infobox: Das Labor Spiez als führende Institution für eine Welt ohne Massen-vernichtungswaffen

Der Ursprung des Labors Spiez liegt im Kalten Krieg. Zunächst war es eine Einrichtung der Armee, um Methoden gegen mögliche Angriffe mit Massenvernichtungswaffen zu entwickeln. Im Zentrum standen das bessere Verständnis dieser Kampfstoffe und die Ausbildung.

In den 1980er Jahren machte sich das Labor Spiez erstmals international einen Namen, als der damalige Chef des AC-Schutzdienstes, Oberst Ulrich Imobersteg, im Auftrag der Uno die irakischen Giftgasangriffe gegen die Kurden und Iran untersuchte.

In den 1990er Jahren entwickelte sich das Labor Spiez zu einer weltweit führenden Institution. Es wurde einer breiteren Öffentlichkeit bekannt als Referenzlabor nach den C-Waffen-Attacken im syrischen Bürgerkrieg sowie im Fall Skripal.

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Szenario 1

Unfall in einem Pharma- oder Biotech-Betrieb

Wahrscheinlichkeit

Das grösste Potenzial an gefährlichen Erregern befindet sich gut gesichert in den Labors von Pharma- und Biotech-Unternehmen sowie an Universitäten. Um Therapien und Impfungen zu entwickeln, experimen-tiert die Forschung mit allen möglichen Mikroorganis-men.

Ein internationaler Standard legt allerdings vier sogenannte Biosafety-Levels (BSL) fest, die einen Unfall verhindern sollen. Mit jeder Stufe werden die Sicherheitsvorschriften verschärft. Bei BSL-1 sind keine besonderen Vorkehrungen nötig, BSL-4 erfordert bauliche Massnahmen und Schleusen. Die Mitarbei-tenden tragen Sicherheitsanzüge.

Trotzdem ist es vereinzelt zu Unfällen gekommen. Im März 2009 infizierte sich eine Person in einem

Hamburger Labor bei BSL-4 während eines Tier-versuchs mit dem Ebola-Erreger. Eine zugelassene Therapie gab es nicht. Die betroffene Person wurde mit einem experimentellen Impfstoff behandelt, zeigte während zwölf Stunden Symptome, blieb aber gesund. Ähnliches Glück hatte eine Mitarbeiterin eines texan-ischen Labors, die sich mit einer Tierseuche infizierte, aber mit einer Antibiotikakur erfolgreich behandelt werden konnte.

Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (Babs) hat im Anschluss an diese Ereignisse eine Fallstudie über einen Unfall in einem zivilen Biotech-Betrieb erstellt. Sie geht von der Annahme aus, dass Unregelmässig-keiten in einem Betrieb zur Freisetzung von Mikroor-ganismen führen, die ein erhebliches Schadenpotenzi-al für die Bevölkerung aufweisen.

Ein Unfall mit Erregern ansteckender Krankheiten ist potenziell gefährlich, aber wenig wahrscheinlich.

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Das extreme Szenario gemäss Babs geht von einem Unfall in einem Labor mit dem höchsten Biosafe-ty-Level aus. Ein hochansteckender Erreger gefährdet unmittelbar die Mitarbeiter und Menschen in einem Umkreis von 200 Metern um das Laborgebäude. Die weitere Verbreitung über Personen und Gegenstände ist möglich. Die schlimmstmögliche Entwicklung eines solchen Szenarios ist die unkontrollierte Ver-breitung ausserhalb der Einrichtung, die letztlich zu einer Pandemie mit einem aggressiven Erreger führen könnte.

Das Babs nimmt als Referenzszenario einen Unfall in einem Labor der Stufe 3 an. Mitarbeitende stecken sich direkt mit einem dem Coronavirus ähnlichen Erreger an. Die Intensität des Ereignisses wird als gross bezeichnet, die Eintretenswahrscheinlichkeit in der Schweiz als «grundsätzlich vorstellbar, aber doch selten zu erwarten».

Ein Mitarbeiter könnte dann das Virus in ein Alters-heim tragen. Es kommt zu einer Häufung von Erkran-kungen, eine unkontrollierte Ausbreitung kann aber verhindert werden. Für die akute Phase der Anste-ckungen werden drei, für die Zeit der Regeneration

sechs Wochen angenommen. Das Babs rechnet für dieses Szenario mit einem bis zwei Todesfällen.

Mit Blick auf die verhältnismässig hohe Dichte an Biotech- und Pharma-Unternehmen in der Schweiz ist ein minimales Risiko vorhanden, dank hohen Si-cherheitsvorschriften ist ein Eintreten aber wenig wahrscheinlich. Ähnliches gilt für Einrichtungen im Ausland. Auch das Labor in Wuhan, das ins Visier von Verschwörungstheoretikern geraten ist, hält sich an die internationalen Standards und steht überdies im fach-lichen Austausch mit ähnlichen Einrichtungen.

Der GAU, der grösste anzunehmende Unfall, könnte sich in einem B-Waffen-Lager in Russland oder einem Drittstaat mit entsprechendem Potenzial ereignen. In den dreissig Jahren seit dem Ende des Kalten Kriegs schienen die Bestände aber hinreichend gesichert zu sein. Gefährlich sind krisenhaft politische Verände-rungen. Umso wichtiger ist der gegenseitige Austausch über die Kanäle der Abrüstungsvereinbarungen. Al-lerdings wird das System der kollektiven Sicherheit zunehmend infrage gestellt.

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Szenario 2

Terroristische Attacke mit biologischen Substanzen

Wahrscheinlichkeit

Vor dem Coronavirus hielt die Angst vor Terroran-schlägen die Öffentlichkeit in Atem. Mit dem Isla-mischen Staat (IS) und verschiedenen Ablegern von al-Kaida verfügten Terroristen über eine Heimbasis im Nahen Osten. Viele agierten auch als Einzeltäter. Ein Mega-Anschlag mit einer Massenvernichtungswaffe geschah allerdings nie – im Gegenteil: Die Terroristen benutzten in den letzten Monaten einfachere Methoden wie Messerattacken, um Angst und Schrecken zu ver-breiten.

Auch in den unübersichtlichen 1990er Jahren konnte die Proliferation verhindert oder in engen Grenzen gehalten werden. Anders als im grusligen Film «The Peacemaker» mit Nicole Kidman und George Clooney von 1997 sind keine Anschläge mit Massen-vernichtungswaffen aus dem ehemals sowjetischen ABC-Arsenal bekannt. Dennoch gab es in der Vergan-genheit vereinzelte Beispiele terroristischer Angriffe mit chemischen und auch biologischen Kampfstoffen.

Am nachhaltigsten in Erinnerung bleibt die Sarin-At-tacke auf die U-Bahn von Tokio 1995. Verübt wurde sie von Mitgliedern der Aum-Sekte. Die Tat forderte 13 Todesopfer – angesichts des koordinierten Anschlags eine verhältnismässig geringe Zahl. Laut der japani-schen Untersuchung verwendeten die Terroristen Sarin von schlechter Qualität.

Ebenfalls eine Sekte steckt hinter dem einzigen bio-terroristischen Anschlag grösseren Ausmasses des 20. Jahrhunderts: Anhänger des indischen Gurus Bhagwan kontaminierten 1984 in einer Kleinstadt im amerikanischen Gliedstaat Oregon Lebensmittel mit Salmonellen, um die Lokalwahlen zu beeinflussen. 751 Personen erlitten eine schwere Lebensmittelver-giftung, Todesopfer sind keine bekannt.

Im Nachgang zum Angriff auf die Twin Towers am 11. September 2001 erhielten zwei amerikanische Senatoren und ein bekannter Fotograf Briefe mit

Ein Anschlag mit biologischen Substanzen ist möglich und gefährlich. Die Wahrscheinlichkeit ist aber gering, weil die Ausführung eine

beträchtliche Logistik erfordert.

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Anthraxpulver. Fünf Menschen starben, 17 wurden verletzt. In Verdacht geriet zunächst al-Kaida. Die Untersuchung des FBI wies allerdings darauf hin, dass ein Wissenschafter aus dem Anti-Biowaffen-Labor Camp Detrick hinter den Attacken stehen könnte, der damit das Impfprogramm für Anthrax retten wollte. Er verübte Selbstmord. Der Fall konnte nie restlos geklärt werden.

Auf einer Risikomatrix erscheinen B-Waffen-Ereignis-se mit terroristischem Hintergrund zwar nicht im roten Bereich, haben aber ein hohes Schadensausmass. Diskutiert werden neben Briefen mit Anthraxsporen auch Anschläge auf eine Schweizer Catering-Firma. Besonders bedrohlich wirkt die Vorstellung von Terro-risten, die auf einem Messegelände oder in einem Zug mit ansteckenden Viren infiziertes Aerosol versprühen. Möglich wäre bei einer solchen Attacke die weltweite Verbreitung des Erregers, also eine Pandemie.

Dass es in den letzten Jahren trotzdem kaum ABC-An-schläge gab, erklären westliche Nachrichtendiens-te damit, dass Selbstmordattentäter in der Regel Lastwagen, Gewehre, Sprengstoff oder Messer

benutzen, die unmittelbar zur Verfügung stehen, und nicht zuerst zwei Jahre lang Mikrobiologie studieren wollen.

Die umfassende Planung und Vorbereitung des Angriffs vom 11. September 2001 ist allerdings ein starkes Ge-genargument. Mohammed Atta, einer der Haupttäter, studierte in Hamburg Städtebau und nahm zusammen mit den anderen Attentätern Flugstunden, um eines der entführten Flugzeuge schliesslich in den Nordturm des New Yorker World Trade Center zu steuern.

Möglich ist der gezielte Einsatz von B- oder C-Kampf-stoffen auch im Rahmen von Staatsterror. Die Dioxi-nattacke auf den früheren ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko 2004, die Affäre um die Ver-giftung des Doppelagenten Sergei Skripal 2018 und in den letzten Wochen der Anschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny werden alle mit Aktionen des russischen Geheimdiensts in Verbindung gebracht.

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10PRO Global Perspektiven

Szenario 3

Einsatz von B-Kampfstoffen in einem Krieg

Wahrscheinlichkeit

Die Welt ist im Umbruch. Neue Machtkonstellationen machen grössere Kriege wieder wahrscheinlicher. Das System der kollektiven Sicherheit und auch die Ab-rüstungskontrolle sind in einer tiefen Krise. Der Blick nach Syrien zeigt, dass Machthaber nicht davor zu-rückschrecken, die eigene Bevölkerung mit C-Kampf-stoffen zu bekämpfen.

Trotzdem ist kein staatlicher Akteur in Sicht, der in einem bewaffneten Konflikt B-Kampfstoffe verwenden würde. Die Globalisierung hat die Hemmschwelle heraufgesetzt. Auch ein gezielt ausgesetztes Virus würde sich unkontrolliert verbreiten und könnte eine Pandemie auslösen. Ein Staat, der eine ansteckende Krankheit als Kampfmittel einsetzt, muss also damit rechnen, die eigene Bevölkerung zu gefährden. Zudem versuchen die Grossmächte heute, bewaffnete

Konflikte möglichst lange unterhalb der Kriegsschwel-le zu halten.

Die geopolitische Entwicklung ist jedoch volatil. Neben den Staaten treten zunehmend hybride Akteure auf. Nach Einschätzung des Labors Spiez sind für ein ausgewachsenes Waffenprogramm für biologische Kampfstoffe allerdings staatliche Ressourcen erforder-lich.

Es ist deshalb zwingend, der Rüstungskontrolle wieder mehr Beachtung zu schenken. Der ständige Austausch auf der Basis von Regeln schafft eine gute Grundlage, um frühzeitig auf gefährliche Entwicklungen zu reagieren. Dies gilt insbesondere im Umgang mit Mas-senvernichtungswaffen, also auch den B-Kampfstoffen.

Ein bewaffneter Konflikt mit Biowaffen ist sehr unwahrscheinlich, wäre aber extrem gefährlich. Das Risiko kann derzeit als nahe bei null bezeichnet

werden.

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Oktober 2020