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Petra Kania: Was sich in den Tiefen der Seele verbirgt

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Petra Kania Was sich in den Tiefen der Seele verbirgt Roman Taschenbuch, 152 Seiten, ISBN: 978-3-99051-016-2 Herzsprung-Verlag

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Impressum:

Alle weiteren Personen und Handlungen des Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind

zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:www.herzsprung-verlag.eu

© 2015 – Herzsprung-VerlagTostner Burgweg 21 c, A- 6800 Feldkirch

Telefon: 05522/[email protected] Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2015

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM /www.literaturredaktion.de

Auslieferung: Papierfresserchens MTM-Verlag www.papierfresserchen.de

Coverillustration: © sakura/AdobeStock Coverfoto: © Petra Kania

Gedruckt in der EU ISBN: 978-3-99051-016-2 – Taschenbuch

ISBN: 978-3-99051-017-9 – eBook

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Was sichin den Tiefen

der Seele verbirgt

Petra Kania

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Den Roman widme ich meiner Psychotherapeutin Sandra B., ohne die es dieses Buch nicht geben würde.

Petra Kania

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Ich stelle meine Reisetasche auf dem Boden ab und starre aus dem Fenster meines Zimmers, in dem ich die nächsten sechs Wochen verbringen werde. Die Klinik liegt auf einer kleinen Anhöhe, umgeben von Wäldern. Morgen beginne ich mit der Therapie, deswegen bin ich hier. Ich will mich den traumatischen Erlebnissen der letzten Monate stellen, um sie endlich verarbeiten zu können. Meine Gedanken schweifen zurück in die Vergangenheit, an den Tag, als ich nicht ahnte, was mich in naher Zukunft erwarten würde.

Alles fing mit dem Anruf meines Psychiaters an. Er hatte auf Band hinterlassen, dass er mich in seiner Praxis sprechen wollte. Seit zwei Jahren war ich Patientin bei Dr. Pawlow und quartalsmäßig kam ich in seine Sprechstunden, meist um ein neues Rezept ausstellen zu lassen. Obwohl er sich vor Patien-ten kaum retten konnte, wirkten er und seine Mitarbeiter stets ausgeglichen, und falls sie selbst gestresst waren, so merkten die Patienten davon nichts.

Ich hatte also viel Glück gehabt, Dr. Pawlow zu finden, denn bekanntlich waren die Praxen für Psychiatrie und Psychothe-rapie terminlich für Monate ausgebucht und einen Platz zu ergattern war Glückssache.

Den Tipp, zu Dr. Pawlow zu gehen, hatte ich von meiner Psychotherapeutin Sanja Delft erhalten und sie hatte mal wie-der das richtige Gespür gehabt, welcher Arzt zu mir passen würde.

Mit der Diagnose schwere Depression hatte ich vor drei Jahren bei Sanja Delft mit der Gesprächstherapie begonnen. Schritt für Schritt half sie mir, wieder im Leben Fuß zu fassen und mein Selbstbewusstsein aufzubauen. Durch die Medikamente von Dr. Pawlow wurde mein seelischer und körperlicher Zu-stand so weit stabilisiert, dass ich die Therapie bei Sanja Delft zunächst beenden konnte. Allerdings hatte ich die Option, mich im Notfall immer bei ihr melden zu können.

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Natürlich schwirrten mir sofort alle möglichen negativen Gedanken durch den Kopf. Warum wurde ich von Dr. Pawlow in die Praxis bestellt? Hatte ich etwas falsch gemacht? Wollte er mir mitteilen, dass er mich nicht länger als Patient behal-ten wollte? Krampfhaft suchte ich nach einem Fehlverhalten meinerseits. Wie immer! Das kannte ich ja, dieses ständige Gefühl von Was habe ich falsch gemacht? Dank Psychotherapie und Medikamenten war ich aber immerhin so stabil, nicht in völlige Panik zu geraten, aber gegen die mich nun quälenden Magenschmerzen kam ich nicht an.

Die ganze Nacht grübelte ich, warum ich in die Praxis kom-men sollte. Je mehr ich grübelte, umso stärker wurde meine innere Unruhe.

Am nächsten Tag erschien ich, von der schlaflosen Nacht gezeichnet, zu dem bestellten Termin. Innerlich auf das Schlimmste, den Rausschmiss, gefasst.

Frau Hartung an der Rezeption kannte mich ja nun schon, und wie immer fiel ihre Begrüßung freundlich und ruhig aus.

„Nehmen Sie bitte im Wartezimmer Platz. Der Doktor ruft Sie dann auf.“

Im Wartezimmer saßen bereits vier Patienten und ich setzte mich auf einen Stuhl seitlich an der Wand. Mir gegenüber saß ein junger Mann, ganz in sein Handy vertieft, an dem er be-ständig herumhantierte. Eine ältere Frau saß neben ihm, ihre Handtasche auf dem Schoß und stierte ausdruckslos vor sich hin. Zwei Stühle neben mir saßen ein Mann und eine Frau. Die Frau blätterte lustlos in einer der Illustrierten, die in dem Zimmer auslagen, während der Mann die Arme verschränkt hatte und auf den Boden blickte, dabei wippte er nervös mit seinen Beinen. Wer von den beiden der Patient und wer die Begleitung war, konnte ich bei besten Willen nicht erkennen. Schließlich hatte die Realität nur wenig mit den überzeichne-ten Charakteren psychisch Kranker aus irgendwelchen reiße-rischen Filmen zu tun.

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Glücklicherweise wurde keine Musik gespielt, man blieb hier von dieser Geräuschkulisse verschont. Da niemand sprach, war es still in dem Wartezimmer, bis auf ein gelegent-liches Stöhnen der älteren Frau und den Handygeräuschen des jungen Mannes.

Nach einer Weile war zu hören, wie sich die Tür des Behand-lungszimmers öffnete und Dr. Pawlow zusammen mit seinem Patienten an die Rezeption trat. Dort wurde, den Geräuschen nach zu urteilen, ein Rezept ausgedruckt. Der Doktor gab dem Patienten nochmals genaue Angaben zur Dosierung des Medikamentes, dann wurde ich auch schon aufgerufen.

„Frau Fischer, bitte kommen Sie mit!“Ich atmete einmal tief durch und folgte Dr. Andrej Pawlow

in sein Behandlungszimmer.Aber da er mich mit einem freundlichen Lächeln begrüßte,

konnte das, was mich erwartete, eigentlich nicht so schlimm sein.

„Nehmen Sie bitte Platz!“, sagte der Doktor in seiner char-manten Sprachmelodie, die von seiner russischen Herkunft zeugte. „Ich habe Sie zu mir gebeten, weil ich etwas mit Ihnen besprechen wollte.“

Ich war derart aufgeregt, dass ich nur nicken konnte. Jetzt schlug er mir bestimmt vor, zu einem anderen Psychiater zu wechseln.

„Frau Fischer, Sie haben mir erzählt, dass Sie gerne kochen und dass dies eine bedeutsame Ressource für Sie ist. Habe ich das so richtig verstanden?“

Immerhin konnte ich ein raues Ja aus meiner Kehle pressen.„Das Kochen ist, so habe ich Sie verstanden, Entspannung,

aber auch Bestätigung und Befriedigung, etwas erfolgreich geschaffen zu haben.“ Während Dr. Pawlow redete, hielt er Blickkontakt zu mir, wohl um in meiner Mimik die Reaktion auf seine Worte abzulesen.

Jetzt kam er zu dem eigentlichen Kernpunkt, weshalb er mich in seine Praxis bestellt hatte. „Könnten Sie sich vor-

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stellen, ein paar Arztpraxen in der Mittagszeit mit Essen zu beliefern?“

Ich schluckte, war erst einmal erleichtert darüber, dass ich doch nichts falsch gemacht hatte, dann schwirrten mir nur so die Gedanken durch den Kopf, was dies für mich zu bedeuten hatte. Wieso sollte ich für Arztpraxen kochen? Wie war er denn auf diese Idee gekommen?

Es wurde ein langes, intensives Gespräch und je mehr ich mich damit auseinandersetzte, umso realer wurde die Vor-stellung, tatsächlich auf den Vorschlag einzugehen.

Dr. Pawlow erklärte, dass er auf diesen Gedanken gekom-men war, da die Ernährung in den Arztpraxen nicht dem entsprach, was dem Patienten ständig empfohlen wurde. In den kurzen Mittagspausen gab es meist belegte Brötchen, Ba-guette, Kuchen oder Fast Food. Jedenfalls keine ausgewogene, frische Kost.

„Dazu fehlt einfach die Zeit und natürlich auch das Per-sonal!“, klagte Dr. Pawlow.

„Dann kam mir die Idee, dass es so etwas wie ein, nennen wir es mal ein Arztpraxen-Catering geben müsste. Natürlich gibt es eine Firma, die uns lieber gestern als heute mit Essen beliefern würde, aber mir schwebt da einfach eine persönliche-re, individuellere Variante vor. Jemand, der nur eine Handvoll Praxen mittags mit Essen beliefert. Jemand, der gerne kocht, der gesund kocht, der schmackhaft kocht. Und da dachte ich an Sie, Frau Fischer!“

Erwartungsvoll blickte mich Dr. Pawlow an.„Das kommt jetzt alles etwas überraschend!“, stammelte ich.

„Wie soll das denn genau funktionieren? Ich weiß nicht, ob ich das wirklich kann.“

„Nur Mut, Frau Fischer. Wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass Sie dies schaffen, hätte ich Ihnen nichts von mei-ner Idee gesagt. Wichtig ist ja, dass Sie höchstens ein bis zwei Praxen beliefern. Und nicht unbedingt jeden Tag. Erst einmal, sagen wir zweimal die Woche. Dieser Mittagsservice soll ja

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nicht für Sie stressig werden, sondern er soll für Sie eine po-sitive Auswirkung haben.“

„Aber wem sollte ich denn mittags Essen liefern?“„Also natürlich hier in meine Praxis und dann suchen Sie

sich doch noch eine oder zwei Praxen, die Ihnen vertraut sind. Das wären dann auch für Sie vertraute Personen und Räum-lichkeiten. Natürlich steht es Ihnen auch frei, ganz neue Arzt-praxen anzusprechen.“

„Nein, das könnte ich überhaupt nicht. Ich könnte ja auch nur Ihre Praxis beliefern!“

„Selbstverständlich. Auch das wäre möglich, dennoch denke ich, dass Sie das ohne Probleme schaffen würden, noch ein bis zwei Praxen zu beliefern. Was halten Sie davon, wenn Sie beispielsweise Frau Delft ansprechen würden? Das wäre dann auch nur eine Person und hier in der Praxis wären es nur drei.“

„Ja, das könnte ich machen. Frau Delft hat auch schon öfter eine Kostprobe Gekochtes von mir bekommen und es hat ihr immer geschmeckt. Zumindest hat sie das gesagt“, räumte ich ein.

„Wenn sie das gesagt hat, dann wird das auch stimmen. Also wären wir bei vier Personen für die Sie kochen können. Und wie sieht das mit Ihrem Hausarzt aus? Meinen Sie, er hätte auch Interesse daran?“

„Ich weiß nicht. Eigentlich reichen mir vier Personen für den Anfang.“

„Gut! Dann machen wir das doch so. Auf alle Fälle muss si-chergestellt sein, dass Sie dadurch nicht in gesundheitsschädli-chen Stress und eine körperliche und seelische Überforderung geraten. Und wenn Sie das Gefühl haben, alles klappt gut, können Sie immer noch Dr. Gerards, Ihren Hausarzt, fragen, ob er Interesse hat. Natürlich werden Sie auch entsprechend bezahlt. Einverstanden?“

Ich atmete tief ein.Sollte ich oder sollte ich nicht? Lust hätte ich schon dazu,

aber ob ich das wirklich schaffen würde?

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Dr. Pawlow sah mir an, dass ich noch unsicher war, deshalb schlug er vor, dass ich ihm in drei Tagen Bescheid geben sollte, wie ich mich entschieden hätte.

„Und haben Sie mehr Vertrauen in Ihre Fähigkeiten!“, sagte er, als er mich an der Rezeption verabschiedete. „Ich warte auf Ihre Nachricht. Denken Sie in Ruhe darüber nach. Ich glaube, dass Sie dies sehr gut schaffen können. Es ist aber Ihre Entscheidung und Sie können auch klar Nein sagen!“

Mit diesen Worten und einem festen Händedruck entließ mich Dr. Pawlow aus seiner Praxis.

Ich war hin- und hergerissen, was ich tun sollte.

Wieder zu Hause nahm ich mir ein Blatt Papier, um dort aufzuschreiben, was für und was gegen Dr. Pawlows Idee sprach. Ein wichtiges Argument dafür war, dass ich wirklich gerne kochte, und das konnte ich sogar recht gut. Auch war es immer ein gutes Gefühl, wenn ich etwas ausprobierte und es dann gut schmeckte, besonders wenn das Ganze mit viel Ar-beit verbunden gewesen war. Und Misserfolge, die es natürlich auch gab, schreckten mich dauerhaft nicht ab. Nachdem ich viele Jahre pädagogisch gearbeitet hatte, war es einfach schön, den Erfolg, das Resultat der Arbeit vor sich zu sehen und dies mit allen Sinnen genießen zu können. In der Pädagogik gab es nun einmal keine direkten sichtbaren Erfolgserlebnisse. Zudem würde ich auch gerne für mir bekannte Arztpraxen etwas zubereiten und deren Freude darüber würde ja auch mir wiederum Glücksmomente bescheren.

Natürlich gab es auch Gedanken, die mir Bauchschmerzen bereiteten. Was war, wenn das Essen nicht schmeckte? Wenn Reklamationen kämen, wenn nur gemeckert würde? Wenn ich zeitlich nicht wie vereinbart liefern könnte?

Ich nahm den Telefonhörer und wählte die Nummer meiner Psychotherapeutin Sanja Delft. Sie hatte mir zum Ende der Therapie zugesichert, dass ich im Notfall immer bei ihr an-rufen könne. Und dies war jetzt ein Notfall!

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Das Telefon klingelte ein paarmal, dann sprang der Anruf-beantworter an.

„Sie sind mit der psychotherapeutischen Praxis von Sanja Delft verbunden. Leider kann ich Ihren Anruf momentan nicht entgegennehmen. Bitte sprechen Sie Ihre Nachricht auf Band.“

Klar, zeitlich war sie gerade sicherlich in einer Therapiesit-zung und da war es natürlich wichtig, nicht gestört zu werden.

So kurz und informativ wie möglich sprach ich auf den Anrufbeantworter und hoffte, dass Sanja Delft im Laufe des Tages oder der folgenden Tage zurückrufen würde.

Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, ging ich zu mei-nem Bücherregal und musterte die Einbände. Ich zog nach und nach mehrere Bücher heraus und stapelte sie auf meinem Schreibtisch. Es waren alles Kochbücher unterschiedlichen Inhaltes. Vegetarische Küche, italienische Küche, Fischküche, ja auch ein Buch über die Kochkunst nach TCM, der tra-ditionellen chinesischen Medizin. Das reichte erst einmal. Dann legte ich einen Block und einen Stift daneben und be-gann, nach Rezepten Ausschau zu halten, die ich für meinen Mittagsservice für geeignet hielt. Auch wenn ich noch keine endgültige Entscheidung getroffen hatte, schaden konnte es ja nicht, sich schon einmal mit der Materie anzufreunden.

Sanja Delft rief am späten Nachmittag an, und als ich ihr alles erläutert hatte, war sie von Dr. Pawlows Idee begeistert.

„Das ist doch eine wunderbare Idee. Ich kann Ihnen nur dazu raten, es auszuprobieren. Sie können doch wirklich sehr gut kochen. Und Dr. Pawlow hat recht, die Ernährung in den Arztpraxen ist wirklich miserabel. Also, ich würde natürlich auch sehr gerne Ihren Lieferservice in Anspruch nehmen.“

„Ich finde die Idee ja auch gut, aber ich habe Angst, dass ich das nicht schaffe und alles falsch mache.“

„Frau Fischer, Sie schaffen das. Davon bin ich überzeugt. Für Ihr Selbstvertrauen wäre es nur von Vorteil. Und wenn

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wirklich irgendetwas schief gehen würde, dann ist das doch nicht dramatisch. Wir kennen Sie, Sie kennen uns. Sie be-finden sich in einem geschützten Rahmen! Aber letztendlich können nur Sie selbst eine Entscheidung fällen. Hören Sie auf Ihr Inneres und richten Sie sich nicht nach den Erwartungen anderer! Wichtig ist alleine, ob Sie das wollen oder nicht.“

„Ja, ich werde wohl noch einmal eine Nacht darüber schla-fen. Vielen Dank, dass Sie mir Mut zugesprochen haben. Jetzt geht es mir schon besser.“

Wir tauschten noch eine Weile Gedanken zu der Thematik aus, dann konnte ich mit gewonnener Zuversicht das Tele-fonat beenden. Wie hilfreich ein Gespräch sein konnte, wenn jemand wirklich zuhörte!

Am nächsten Tag teilte ich Dr. Pawlow telefonisch mein Ja mit. Hätte ich damals nur im Ansatz geahnt, was mich mit der Zusage erwartete, dann hätte ich lieber einen Schwur abge-legt, nie mehr zu kochen.

Aber so nahmen die Dinge ihren Lauf.

Ich begann zunächst zwei, dann nach einem Monat ins-gesamt drei Praxen mit Essen zu beliefern. Zweimal in der Woche die psychotherapeutische Praxis von Sanja Delft. Dies war die leichteste Übung, da hier nur eine Person zu bekochen war und ich in etwa auch den Geschmack meiner Therapeutin einschätzen konnte.

In der Praxis von Dr. Pawlow waren es neben dem Doktor selbst noch zwei Arzthelferinnen. Und in der dritten Praxis brauchte ich nur einmal in der Woche Essen zu liefern: für meinen Hausarzt Dr. Gerards und seine zwei Arzthelferinnen. Dies war somit für mich überschaubar, und dass mir die Arzt-praxen und das Personal vertraut waren, gab mir Sicherheit.

Ich lieferte nun regelmäßig frisch zubereitetes Essen immer mit saisonalen und regionalen Zutaten unter Berücksichti-gung von Vorlieben und Wünschen meiner Kunden in die Praxen. Das einzige, was mir nicht gefiel, war, dass ich auf

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Knoblauch als Gewürz verzichten musste. Nicht weil meine Kunden keinen Knoblauch schätzten, sondern einzig und alleine im Interesse ihrer Patienten.

Es dauerte eine Weile, bis sich alles eingespielt hatte, aber dann gab mir die Routine in der Planung genügend Raum, um mutiger im Ausprobieren und Kreieren von neuen Rezep-ten zu werden. Und ich merkte, dass mir diese Arbeit Freude bereitete und sich insgesamt positiv auf meinen körperlichen und seelischen Zustand auswirkte.

Hin und wieder erreichten mich sogar Anfragen anderer Praxen, ob ich auch sie beliefern könnte. Wie auch immer hatten sie von meinem Mittagsservice erfahren. Zwar schmei-chelten mir natürlich diese Anfragen, aber ich lehnte kate-gorisch ab, schließlich sollte dies nicht in Stress und Hektik ausarten und ich wollte auch kein Unternehmen daraus ent-wickeln mit zusätzlichen Angestellten. Nein, so, wie es war, war ich damit zufrieden. Dies reichte mir völlig. Zumindest im Moment. Und alles hätte so weiter in ruhigen Bahnen ver-laufen können, zur Zufriedenheit aller, bis ...

Wieder einmal war es ein Anruf, der mein Leben für einige Zeit auf den Kopf stellen sollte.

Diesmal bat mich Sanja Delft darum, zu ihr zu kommen, da sie etwas Wichtiges mit mir zu besprechen hätte und meine Hilfe benötigen würde. Ihre Nachricht hörte ich auf meinem Anrufbeantworter ab, als ich am Nachmittag von meinem wöchentlichen Einkauf auf dem Bauernhof in der Nähe zu-rückkam.

Das war keine Frage, durch den Anruf wusste ich, dass ich nichts falsch gemacht hatte, sondern dass ich jetzt sogar ein-mal die Gelegenheit bekam, meiner Therapeutin zu helfen.

Um 17:00 Uhr am folgenden Tag sollte ich, wenn möglich, in ihre Praxis kommen.

Am liebsten wäre ich sofort losgestürmt. Wie und wobei sollte ich wohl meiner Therapeutin helfen können? Es blieb

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mir nichts anderes übrig, als den kommen Tag abzuwarten, denn wie ich auch hin und her überlegte, so hatte ich nicht die geringste Idee, worum es gehen würde.

Voll gespannter Erwartung und innerer Aufgekratztheit kam ich am nächsten Tag zur angegebenen Zeit in die Praxis.

„Ich freue mich, dass Sie gekommen sind“, begrüßte mich Sanja Delft an der Eingangstür. „Nehmen Sie schon einmal Platz. Möchten Sie auch einen Tee oder lieber etwas anderes?“

„Tee ist immer gut!“ Ich ging in das Therapiezimmer und setzte mich auch die Couch. Hier hatte ich so viele Stunden gesessen und tief in mein Inneres blicken lassen.

„Hier, Ihr Tee!“ Sanja Delft stellte zwei Tassen Tee auf dem niedrigen Tisch ab, der zwischen der Couch und ihrem Stuhl stand.

Sanja Delft kam auch ohne Umschweife zur Sache. „Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich vorstellen können, mit mir zu-sammen ein Projekt durchzuführen. Ich habe nämlich vor, meine Praxis für zwei Monate zu schließen. Nicht, um Urlaub zu machen, sondern um einmal ganz anders therapeutisch zu arbeiten ...“

Und dann berichtete meine Therapeutin, was sie vorhatte. Sie plante, am Lago Maggiore ein Haus zu mieten, abgelegen in den Bergen inmitten der Natur. Dort wollte sie sechs Per-sonen einen Ort des Innehaltens, der Ruhe bieten. Mit Ein-zel- und Gruppengesprächen, geführten Wanderungen, Ent-spannungsübungen. Sie dachte dabei nicht an seelisch schwer erkrankte Patienten, sondern vielmehr an Menschen, die ein-fach mal für drei Wochen aus dem Alltag aussteigen wollten, um zu sich zu finden.

Eine Art Urlaub für Seele und Körper mit Begleitung.„Hört sich interessant und spannend an!“, sagte ich und

stellte mir dies wirklich als ein ansprechendes Angebot für ausgepowerte, gestresste Menschen vor. Nur welche Rolle soll-te ich dabei einnehmen? Sollte ich einer der sechs Teilnehmer sein?

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„Soll ich auch daran teilnehmen?“, fragte ich vorsichtig.„Nicht als Teilnehmer, sondern als meine Mitarbeiterin. Da

ich dies natürlich alleine nicht bewältigen kann“, fuhr Sanja Delft fort, „hatte ich an Sie gedacht. Könnten Sie die Ver-pflegung in den drei Wochen übernehmen? Es soll ja auch für das leibliche Wohl gesorgt werden. Und ich fände es auch wertvoll, mich dort mit Ihnen auszutauschen. Natürlich weiß ich nicht, ob dies alles so funktioniert, wie ich mir das vor-stelle, aber ein Versuch wäre es sicherlich wert. Sie wären eine Art Küchenfee.“

Ich musste zugeben, ich fühlte mich geschmeichelt, dass meine Therapeutin ausgerechnet mir dieses Angebot machte. Auf der anderen Seite kamen aber wieder meine Ängste, ob ich dieser Aufgabe gewachsen wäre und inwieweit ich mich auf ein solches Gruppenleben einlassen konnte. Sanja Delft kannte mich genügend aus der Therapie, sodass sie mit mei-nen Ängsten schon gerechnet hatte.

„Ich traue Ihnen das wirklich zu, Frau Fischer. Das Kochen wird keinerlei Problem darstellen. Und Sie haben dort ja alle Freiheiten. An den Aktivitäten, die die Teilnehmer mit mir durchführen, nehmen Sie ja nicht teil, sodass Sie ausreichend Raum und Zeit für sich haben. Allerdings müssten Sie sich mit mir ein Zimmer teilen.“

Ich fasste all meinen Mut zusammen, diesmal wollte ich nicht wieder stundenlang über Pro und Contra grübeln. Dies-mal wollte ich über meinen Schatten springen. „Ich komme mit!“, sagte ich mit fester Stimme. Meine Entscheidung war gefallen. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Dann ging alles recht schnell. Am Lago Maggiore hatte Sanja Delft ein für ihr Vorhaben geeignetes Rustico gemietet. Einfach ausgestattet, aber mit fließend Wasser und Strom, was nicht unbedingt Standard war für diese Art von abseits gelegenen Rusticos auf den Berghängen oberhalb des Lagos.

Die Besitzer, ein Ehepaar, sie Schweizerin aus dem Tessin, er

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Italiener gebürtig aus Varese, hatten es erst kürzlich komplett renoviert, um es vermieten zu können. In dem kleinen Ort betrieben sie ein gut gehendes Maklerbüro.

Um das Rustico zu erreichen, war man gezwungen, sein Auto unten im Dorf zu parken. Auf einen Fußweg ging es immer bergauf, zunächst vorbei an vier nah beieinander-liegenden Villen mit freier Sicht auf den Lago Maggiore. Je höher man kam, umso einsamer wurde es. Der schmale Weg führte vorbei an einer Kapelle und durch die dort typischen Kastanienwälder.

Weit und breit gab es hier keine bewohnten Häuser mehr, nur vereinzelt aus Steinen zusammengefügte Stallungen, die aber anscheinend nicht mehr genutzt wurden.

Nach dem ungefähr zehn Minuten dauernden Aufstieg er-reichte man ein Plateau und hier lag, von Bäumen und Sträu-chern umwuchert, das Rustico.

Eine von Weinreben umrankte Pergola ragte ein Stück frei über den Berghang hinaus. Zwar gab es am Rande eine Art Brüstung, die aber einen recht morschen Eindruck vermittel-te. Immerhin wurde sie durch wuchernden Efeu festgehalten und ein überwältigender Blick auf den Lago Maggiore und das gegenüberliegende Ufer mit den Bergen ließ alle Sicher-heitsbedenken verblassen.

Drei Schlafzimmer standen uns zur Verfügung. In jedem der Zimmer gab es ein Etagenbett und ein einzeln stehendes Bett. Die Gäste würden sich also jeweils zu dritt in zweien der Zimmer einrichten müssen.

Meine Therapeutin und ich waren ein paar Tage vor An-kunft der Gäste in das Rustico eingezogen, um uns mit dem Haus und der Umgebung vertraut zu machen. Und wir waren beide begeistert von der Lage des Hauses, die genau dem ent-sprach, was sich meine Therapeutin vorgestellt hatte. Hier war wirklich ein Ort, um der Hektik des Alltages zu entfliehen, und zu innerer Ruhe zu finden.

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Am Abend vor der Ankunft der Gäste genossen wir die noch herrschende Stille. Wir machten es uns unter der Per-gola, in gebührenden Abstand zur Brüstung, gemütlich. Re-den brauchten wir nicht, wir blickten fasziniert auf das vom Mondlicht glitzernde Wasser des Lago Maggiore und die zahl-reichen Lichter am anderen Ufer. Romantischer konnte solch ein Sommerabend nicht sein.

„Mein Gott, ist das schön!“, schwärmte Sanja Delft und nippte an ihrem Glas Rotwein.

„Traumhaft schön!“, stimmte ich zu. „Und diese himm-lische Ruhe.“

„Hoffen wir mal, dass sich unsere Gäste auch von diesem Flair einfangen lassen.“

„Bestimmt, dem kann sich keiner entziehen.“So träumte jeder von uns weiter vor sich hin und nur schwer

konnten wir uns dann doch zu später Stunde von diesem An-blick lösen.

Aber es wurde wirklich Zeit, wenigstens noch ein paar Stun-den zu schlafen, denn der kommende Tag erforderte von uns vollen Einsatz.

Im Verlauf des späten Vormittags trafen dann nach und nach die Gäste ein und schon die Art, wie sie hier ankamen, gab ein wenig Aufschluss über ihr Wesen.

Ich kam gerade aus der Küche, als die erste der Frauen an-kam. Ihr durchtrainierter Körper steckte in einem hautengen Radleroutfit. Und sie schob auch tatsächlich ein Mountain-bike mit, das sicherlich einige Tausender gekostet hatte.

„Hi“, flötete sie und nahm ihre Radprofisonnenbrille in Stahlblau ab, „ Sie sind sicher Sanja Delft!“

Ein fester Händedruck quetschte kurz meine Finger.„Da liegen Sie leider falsch. Ich bin die Köchin“, sagte ich

und konnte ein Grinsen trotz schmerzender Hand nicht ver-kneifen. Sofort drehte sich Hifi, diesen Namen verpasste ich ihr spontan, ein Mix aus Hi und Profi, zu Sanja Delft um,

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die gerade aus dem Haus trat. Überschwänglich begrüßte die Frau meine Therapeutin, die zumindest nicht erkennen ließ, ob Hifi ihre Hand auch fast gebrochen hatte.

„Ich bin Birgit Schneider, und Sie sind Sanja Delft. Wir haben ja auch schon miteinander telefoniert. Bin ich etwa die Erste?“

Sanja Delft begrüßte Birgit Schreiber gekonnt herzlich. „Willkommen, Frau Schneider, schön, dass Sie hergefunden haben. Ja, Sie sind die Erste unserer Gäste. Vielleicht haben Sie Lust, dass ich Ihnen erst einmal die Zimmer zeige und dann kann ich Sie hier auf dem Grundstück rumführen.“

„Dann mal zu. Hoffe, dass es heute schon losgeht mit Ak-tivitäten“, sagte Birgit Schneider.

Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie mir noch den Auf-trag gegeben hätte, ihr Gepäck ins Haus zu tragen. Stattdessen blieb ich mit dem Supermountainbike zurück und stellte mir vor, dass ein guter Platz zum Abstellen des Fahrrads das mor-sche Geländer der Pergola sein würde. Aber Birgit Schreiber, ich schätzte sie auf Anfang fünfzig, kam plötzlich aus dem Haus und wollte doch tatsächlich ihr Bike mit in das von ihr in Beschlag genommene Zimmer nehmen. Hier schritt Sanja Delft aber ein. Schließlich sollten drei Personen in dem Zim-mer wohnen und da sei nun einmal kein Platz für ein Fahrrad.

„Dann bleibt es eben draußen“, sagte Birgit Schneider schnippisch. „Auf Ihre Verantwortung!“

„Die Verantwortung für Ihr Fahrrad tragen Sie ganz allei-ne!“, konterte Sanja Delft und damit war diese Sache für sie erledigt.

„Jeder hat eben so seine Vorlieben, was oder wen er mit ins Bett nimmt“, murmelte ich, was mir einen tadelnden Blick meiner Therapeutin einbrachte.

Birgit Schneider hatte dies anscheinend nicht gehört. Sie ging nun zusammen mit Sanja Delft ins Hausinnere zurück, ohne ihr Bike.

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Eine halbe Stunde später kamen zwei Frauen zusammen an. Beide traten lächelnd, wenn auch von dem Aufstieg ermüdet, auf mich zu.

„Wir haben uns durch Zufall unten im Dorf getroffen“, sagte die Kleinere von ihnen. „Ich bin Jennifer Bachmann. Ein Glück, dass ich Frau Pohl getroffen habe. Ich hätte das Rustico hier nie gefunden.“ Und sie schenkte ihrer neuen Be-kanntschaft ein charmantes Dankeslächeln.

„Hallo, ich bin Vanessa Pohl. Ziemlich anstrengender Weg hier hoch in der Hitze, aber so beeindruckende Natur“, sagte die andere Frau.

Während Jennifer Bachmann mit einem luftigen, gelb ge-blümten Sommerkleid angezogen war, trug Vanessa Pohl eine ausgeblichene, verschlissene Jeans und ein einfaches T-Shirt. Mir waren diese Frauen direkt sympathisch, besonders im Vergleich zu Birgit Schneider.

„Ja, dann ein herzliches Willkommen“, grüßte ich und auch Sanja Delft erschien und nahm sich der beiden Frauen an. Beide konnten gar nicht aufhören, von der traumhaft schönen Landschaft zu schwärmen.

Birgit Schneider trat in dem Moment aus dem Rustico, als Sanja Delft den beiden Frauen die vorerst nötigsten Informa-tionen gab. Das Radleroutfit hatte sie gegen einen sehr kurzen olivfarbenen Leinenrock und ein hellbraunes Trägerhemd ge-tauscht. Forsch begrüßte sie die Neuankömmlinge, so als wäre sie hier schon immer zu Hause. „Hi, wir müssen uns zu dritt ein Zimmer teilen. Ihr könnt ja mit zu mir ins Zimmer.“

Ich beobachtete, wie Jennifer Bachmann und Vanessa Pohl sich kurz anschauten und wusste, dass sie garantiert nicht mit Birgit Schneider ein Zimmer teilen würden. Ihnen schien die bestimmende Art der Frau nicht zu behagen.

„Ich führe Sie einfach mal in das Rustico und dann können Sie sich aussuchen, wo Sie schlafen möchten!“, sagte Sanja Delft schnell, bevor Birgit Schneider dies übernehmen würde.

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Zu mir gewandt sagte sie: „Frau Fischer, vielleicht könnten Sie in der Zeit etwas zu trinken bereitstellen.“ Damit gab sie mir die Gelegenheit, auch ins Hausinnere zu verschwinden.

„Übrigens hat eben eine Teilnehmerin abgesagt. Das heißt, dass wir eine Person weniger sind als eingeplant.“

„Besser als eine Person mehr“, antwortete ich. „Dann war-ten wir jetzt nur noch auf zwei Frauen.“ Sollte mir auch recht sein.

Ich stellte ein Tablett mit einer Kanne Pfefferminztee und Gläsern vor dem Haus ab. Den Pfefferminztee hatte ich selbst-verständlich aus frischen Blättern zubereitet, bei der Hitze war er recht erfrischend und durstlöschend. Auf dem Grundstück gab es nämlich ein Kräuterbeet und das war für meine Küche wunderbar. Während ich das Tablett so stellte, dass Gläser und Kanne im Schatten standen, tauchte mit hochrotem Kopf und nass geschwitzt eine Frau auf, die sich als Claudia Schmidt vorstellte. Sie schien mit ihren Kräften ziemlich am Ende, was angesichts ihrer mindestens dreißig Kilo Überge-wicht nicht verwunderlich war.

„Ich kann nicht mehr. Wenn ich das gewusst hätte ...“ Mit letzter Kraft zog sie ihren prall gefüllten Trolley vor das Haus und plumpste auf einen der Stühle, die um einen lang gezo-genen Holztisch standen. „Ich habe gedacht, dass ich das nie schaffe!“, keuchte sie und lüftete ihr Käppi.

„Herzlich willkommen! Und trinken Sie erst einmal einen Schluck!“, sagte ich und reichte ihr eines der Gläser mit dem Pfefferminztee. Gierig leerte sie das Glas in einem Zug.

„Das tat gut. Vielen Dank.“ Ich erklärte ihr kurz, wer ich war und stellte ihr Birgit

Schneider vor, die nur abschätzende Blicke für sie hatte. Klar, dass sie keinerlei Verständnis für jemanden hegte, der seinen Körper gewichtsmäßig derart verunstaltet hatte. Dabei hatte Claudia Schmidt, nachdem ihr Kopf nicht mehr ganz so rot war, ein recht hübsches Gesicht.

„Jetzt habe ich bestimmt mindestens ein Kilo abgenom-

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men“, freute sie sich. „Aber ich muss jetzt unbedingt etwas essen, sonst unterzuckere ich noch.“ Und schon war ein Scho-koriegel, soweit diese durch die Hitze verformte Süßigkeit noch zu erkennen war, in ihrem Mund verschwunden. Sobald sie die Schokolade aufgenommen hatte, kehrte auch wieder mehr Energie in sie zurück.

„Besser ein Schokoriegel im Bett als ein Mountainbike“, dachte ich und führte Claudia Schmidt nach drinnen. Viel-leicht würde sie ja mit zu Hifi ins Zimmer ziehen. Die wäre sicherlich hocherfreut darüber!

Am frühen Abend war schließlich auch die letzte Frau, Susanne von Dussen, eingetroffen. Von Kopf bis Fuß trug sie Designerkleidung und stellte bewusst ihren materiellen Reichtum zur Schau – und natürlich fühlte sich Hifi sofort zu ihr hingezogen. Na, da hatten sich wohl zwei Seelenverwandte gefunden.

Zum Abendessen hatte ich einfache Kost vorbereitet. Als Vorspeise sollte es Melone mit Bergkäse aus der Region geben. Als Hauptgang Spaghetti mit einer selbst hergestellten fruch-tigen Tomaten-Basilikum-Soße und als Dessert Pfirsichsalat. Selbstverständlich wurde auch, wie in Italien üblich, Brot dazu gereicht und als Getränk standen ein leichter Rotwein und Wasser zur Auswahl.

Zunächst begrüßte Sanja Delft aber erst einmal alle Frauen, die an dem langen Holztisch Platz genommen hatten. „Ich freue mich, dass Sie nun alle hier angekommen sind. Mein Vorschlag wäre, dass wir nach dem Essen eine Vorstellungs-runde durchführen, sodass jeder ein wenig von sich erzählen kann und welche Erwartungen jeder an dieses Seminar hat.“

„Muss ich das?“, wollte Jennifer Bachmann wissen und Un-sicherheit schwang in ihren Worten mit.

Bevor Sanja Delft eine Antwort geben konnte, preschte Hifi dazwischen. „Warum denn nicht? Oder haben Sie Geheim-nisse?“

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„Moment bitte! Jeder hat das Recht, frei zu entscheiden, ob und was er erzählen möchte“, beruhigte Sanja Delft Jennifer. „Niemand wird hier zu irgendetwas gezwungen oder gedrängt. Sie können sich auch jederzeit zurückziehen. Und wer nur mit mir alleine sprechen möchte, hat dazu auch die Gelegenheit.“

„Danke!“ Jennifer Bachmann atmete erleichtert auf.„Und was ist für morgen geplant?“ In Hifis Stimme schwang

Ungeduld mit, sie lebte immer noch in ihrem Arbeitstempo. Meine Therapeutin war Profi genug, um sich nicht hetzen

zu lassen. „Zuerst müssen Sie alle sicher einmal richtig hier ankommen. Deshalb schlage ich für morgen einen längeren gemeinsamen Spaziergang vor. Nach der Mittagszeit, also der Siesta, kann dann, wer möchte, mit nach unten an den See zum Baden gehen.“

Außer bei Hifi erntete dieses Vorhaben allgemeine Zustim-mung.

„Und morgen früh um 6:30 Uhr biete ich eine Meditation im Freien an. Hinter dem Haus ist eine Liegewiese und diese eignet sich sehr gut dafür.“

„Um 6:30 Uhr!“, stöhnte Susanne von Dussen, nahm ihre Gucci-Sonnenbrille ab und verdrehte die Augen. „Das ist ja mitten in der Nacht.“

„So, wie ich das verstanden habe, ist das ja wohl freiwil-lig“, warf Vanessa Pohl ein. „Ich finde das ein tolles Angebot. Schließlich ist es um diese Zeit auch noch nicht zu heiß.“

„Natürlich, die Meditation ist ein Angebot von mir und nicht verpflichtend. Um 7:30 Uhr können Sie frühstücken und es wäre schön, wenn wir alle zusammen frühstücken würden“, fuhr Sanja Delft fort und blickte dabei reihum alle Frauen an.

„Und wann müssen wir ins Bett?“, piepste Susanne von Dussen und ahmte dabei eine Kinderstimme nach.

Ich war drauf und dran, eine Bemerkung fallen zu lassen. Dieses blöde Getue von Dussel ging mir auf die Nerven.

„Ich denke, dass Sie alle Frau genug sind, selbstbestimmend

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den Tag zu beenden“, erwiderte Sanja Delft. Ich bewunderte sie, dass sie sich nicht provozieren ließ.

Natürlich musste nun Birgit Schneider wieder einmal von sich reden machen. „Ich werde jedenfalls mittags mit meinem Bike losfahren“, kündigte sie an, erhielt aber nicht, wie von ihr wohl erwartet, Beifallsstürme.

„Typisch Tourist!“, murmelte ich, aber so, dass es wohl doch die mir am nächsten sitzende Claudia Schmidt gehört hatte und daraufhin losprustete.

„Was ist denn daran so komisch?“, fragte Hifi ärgerlich.Ich kam Claudia Schmidt schnell zu Hilfe: „Nichts, Frau

Schmidt hat sich verschluckt.“ Und ich klopfte ihr sicher-heitshalber noch auf den Rücken, woraufhin sie noch mehr losprustete.

Jeder vernünftige Mensch würde in der Mittagszeit jede An-strengung und die Sonne meiden.

„Das steht Ihnen frei, Frau Schneider“, sagte Sanja Delft. „Wir sollten jetzt erst einmal essen. Und wenn wir die Vorstel-lungsrunde machen, können Sie ja alle noch Fragen stellen. Dann wünsche ich uns allen jetzt einen guten Appetit.“

Das Essen verlief erstaunlicherweise recht harmonisch, wo-bei Susanne von Dussen natürlich kundgeben musste, dass dies doch eine recht einfache Kost sei, die ich ihnen vorgesetzt hätte.

„Interessant!“, bemerkte sie fachmännisch. „Melone mit Käse. Ich nehme dazu immer besten Parmaschinken. Der ist natürlich um einiges teurer als Käse.“

Wie dankbar ich war, dass sie sich dennoch herabließ und meine Kombination aß.

„Ich kenne Melone auch nur mit Schinken. Aber der Par-maschinken ist mir zu teuer“, erwiderte Claudia Schmidt kauend.

„Ist doch mal was anderes“, mischte sich Vanessa Pohl ein. „Ich finde die Kombination von Käse und Melone sehr

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schmackhaft. Muss ja nicht immer Fleisch sein!“ Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu.

Die Spaghetti, so weit das bei der Menge möglich war, al dente gekocht, waren dank der Tomaten-Basilikum-Soße eine leicht bekömmliche Kost.

„Sehr lecker!“, lobte Sanja Delft, „Da haben Sie uns ein wirklich köstliches sommerliches Menü gezaubert.“

Alle erhoben daraufhin ihre Gläser und prosteten mir zu. Da konnte die Bemerkung von Susanne von Dussen, dass sie Pasta entweder mit Lachs oder Scampi bevorzugen würde, keinen weiter interessieren.

Auch der Pfirsichsalat mundete und alle schienen gesättigt.Meine Therapeutin und sogar Hifi halfen mir, den Tisch ab-

zuräumen, und Jennifer Bachmann ließ es sich nicht nehmen zu spülen. Und so fand jeder eine Möglichkeit mitzuhelfen und schnell waren alle Spuren des Mahls beseitigt.

Da ich nicht an der Vorstellungsrunde teilnehmen muss-te, ging ich in unser Zimmer, um mein Buch zu holen. Vor der Badezimmertür stieß ich fast mit Claudia Schmidt zu-sammen. Ihre Wangen waren unnatürlich aufgebläht und als hätte ich sie bei etwas Verbotenem ertappt, hielt sie sich die Hand vor den Mund und verschwand im Badezimmer, dabei fiel ein Stück Papier aus ihrer Hosentasche.

Ich wollte ihr schon nachrufen, dass sie etwas verloren hat-te. Als ich das Papier aufhob, entpuppte es sich als Stanniol-papier mit eindeutigen Schokoladenspuren. Daher also die aufgeblähten Wangen. Sie hatte sich schnell mit Schokolade vollgestopft.

Ob sie nicht satt geworden war? Na ja, sie konnte von Glück sagen, dass sie nicht Hifi und von Dussel in die Arme gelaufen war.

Mit meinem Buch verzog ich mich auf die Liegewiese hin-ter dem Haus und versank in einem der Liegestühle. Welch Luxus! Jetzt konnte ich endlich einmal in Ruhe entspannen.

***

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Alle Frauen hatten sich schließlich, nachdem sie sich etwas frisch gemacht hatten, wieder um den langen Holztisch ver-sammelt. Also war keiner dabei, der sich absonderte, stellte Sanja Delft zufrieden fest, obwohl sie inzwischen ahnte, dass die Gruppe wohl kaum in Harmonie zueinander finden wür-de.

Sanja Delft selbst eröffnete die Vorstellungsrunde, wobei sie sich verständlicherweise auf die berufliche Qualifikation be-schränkte. Als Psychotherapeutin war sie es gewohnt, keine privaten Informationen herauszugeben. Auch wenn dies hier nicht mit ihren Therapiestunden in der Praxis zu vergleichen war, hielt sie eine gewisse Distanz zu den Frauen für notwen-dig.

„Wer von Ihnen möchte die Vorstellungsrunde weiterfüh-ren? Wichtig wäre noch Folgendes zu beachten. Alles, was hier gesagt wird, bleibt bitte auch nur in diesem Kreis und wird nicht weitergetragen. Fragen sind zulässig, aber es steht demjenigen frei zu antworten oder nicht zu antworten. Auch verletzende Kommentare sind zu unterlassen.“ Im Grunde war das selbstverständlich, aber Sanja Delft glaubte, dass es notwendig war, es noch einmal zu betonen.

Keine der Frauen meldete sich spontan; jede hoffte, dass zunächst eine der anderen beginnen würde. Niemand sagte etwas und Sanja Delft wartete geduldig.

Birgit Schneider schien diese Stille nicht ertragen zu kön-nen. „Mein Gott, das ist ja wie im Kindergarten. Dann fange ich eben an. Ich heiße Birgit Schneider, bin 54 Jahre alt und arbeite in führender Position bei einem Marketingunterneh-men. Vor einem halben Jahr habe ich erneut geheiratet. Mein Mann hat die führende Anwaltskanzlei in Hessen. Ich bin hier, da ich unbedingt meine Fitness erhöhen muss. Zudem wollte ich auch checken, inwieweit sich das hier für unsere Marketinggesellschaft eignet, um hier Führungskräfte noch teamfähiger werden zu lassen. Von daher erwarte ich auch entsprechende Aktivitäten!“