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Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

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K. Schneider

E. Brinker-Meyendriesch

A. Schneider

Pflegepädagogik

Für Studium und Praxis

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K. Schneider

E. Brinker-Meyendriesch

A. Schneider

PflegepädagogikFür Studium und Praxis

2. überarbeitete und aktualisierte Auflage

Mit 50 Abbildungen

und 34 Tabellen

Page 4: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

Prof. Dr. K. SchneiderNorderfeld 2626919 Brake

Dr. E. Brinker-MeyendrieschMartinikirchhof 5–648143 Münster

Dr. A. SchneiderZerrennerstr. 3275172 Pforzheim

ISBN-10 3-540-25599-0 Springer Medizin Verlag HeidelbergISBN-13 978-3-540-25599-4 Springer Medizin Verlag Heidelberg

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Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keineGewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand ande-rer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden.

Planung: Barbara Lengricht, HeidelbergProjektmanagement: Ulrike Niesel, HeidelbergTitelbild: deblik, BerlinSPIN 11012566Satz: K. Detzner, SpeyerGedruckt auf säurefreiem Papier 22/2122/UN – 5 4 3 2 1 0

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V

Geleitwort

Motto: Der Mensch wird am Du zum Ich (M. Buber).

Dieses Wort des Philosophen Martin Buber besitzt Gültigkeit in der Lebenserfahrung jedesEinzelnen von uns. Zugleich findet sich sein Sinngehalt auch in allen Humanwissenschaftenwieder, am deutlichsten wohl in der Pädagogik, die sich mit den speziellen Interaktionspro-zessen auseinandersetzt, welche das Lehren und Lernen bestimmen.

Hier hat sich in den letzten eineinhalb Jahrzehnten ein Wandel vollzogen, der insbeson-dere die Person und Funktion des Pädagogen betrifft. Er ist nicht länger der wissenskompe-tente Experte, der seine Lerner »mit Lösungen wie mit einem Reiseproviant ausstattet«, son-dern er soll sie »zum ‘Reisen’ ermutigen, sie befähigen, die Chancen und Gefahren zu erken-nen,die auf sie warten,ihnen Maßstäbe geben und Zuversicht in die eigenen Möglichkeiten …«(v. Hentig 1996, S. 12).

Als »Reiseangebot« kann das vorliegende Fachbuch gelten, das, über einen engen pädago-gischen Bezug hinaus, die Leserinnen und Leser durch das Labyrinth der theoretischen An-sätze in den verschiedenen Referenzdisziplinen der Pflegepädagogik führt. Ihre spezifischenVerknüpfungen mit der Integrationswissenschaft Pflegepädagogik werden sowohl theore-tisch-fachwissenschaftlich als auch handlungsbezogen aufgearbeitet. Damit wird ihre Bedeu-tung für die unterschiedlichsten pflegepädagogischen Aufgabenbereiche erkennbar, die dietraditionellen Arbeitsfelder der Aus-, Fort- und Weiterbildung überschreiten und, in innova-tiver Weise, neue, erweiterte Perspektiven in den noch weniger erschlossenen Gebieten Bera-tung, Entwicklung und Forschung aus dem Handlungsfokus von Pflegepädagogen und Pfle-gepädagoginnen beleuchten.

Als »Reiseangebot« lädt der Band dazu ein, zunächst die erprobten Wege pflegepädagogi-schen Denkens und Wirkens zu betreten, um von dort aus selbstständig weiter zu experimen-tieren und den traditionellen Routen in der eigenen Lehr-,Beratungs-,Entwicklungs- oder For-schungspraxis neue individuelle Pfade hinzuzufügen.Als Anbieter verschiedener Touren undder für sie benötigten Ausrüstungen erschließt das Buch seinen Leserinnen und Lesern Zu-gangswege, die sie jedoch selbst ausgestalten müssen. Hierin liegt die Herausforderung, aberauch der Reiz der neuen,noch wenig bewanderten Arbeitsfelder auf einem sich permanent ver-ändernden Gesundheitsmarkt.

Ein interessiertes Fachpublikum, das sich vertieft mit pflegepädagogischen Fragestellun-gen auseinandersetzen möchte, das nach Anregungen für die Entwicklung eines eigenen, ver-änderten und zukunftsorientierten Blicks auf die Aufgaben von Pflegepädagogen sucht, dassich aber auch über bereits beschrittene Wege zur Klärung brennender Fragestellungen in-formieren möchte, findet in dem vorliegenden Werk eine Fülle von Anregungen, die Traditio-nelles mit Neuem verbinden.

Andrea Zielke-NadkarniMünster, im September 2002

Hentig, v H (1996) Behaltet bitte die Nerven! In: Kuenheim v H (Hrsg) Lust und Leid der Schule. ZEIT-punkte. Sonderdruck

aus DIE ZEIT. Hamburg, Heft 2: 10–12

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VII

Vorwort zur 2. Auflage

Die Raschheit, mit der nach nicht einmal 2 Jahren die 2.Auflage unseres Buches gedruckt wer-den muss, zeigt uns mindestens zweierlei an:4 Das Interesse an Bildung in den pflegepädagogischen Kreisen ist groß.4 Das Buch ist rezipierbar.

Beides freut uns gleichermaßen.Von beidem wünschen wir uns, dass es fortdauern und auchfür die 2.Auflage Gültigkeit haben möge.

Für diese 2.Auflage sind alle Beiträge von den Autoren bzw.Autorinnen durchgesehen undüberarbeitet worden.

Keine Veränderungen sind in folgenden Kapiteln vorgenommen worden:4 Kapitel 7:Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen (Hannelore Muster-Wäbs);4 Kapitel 10: Wie sich Wissenschaft ihr Wissens schafft (Jens Clausen);4 Kapitel 12: Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus (Märle Poser);4 Kapitel 13: Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit

(Manfred Muster);

Kleinere Überarbeitungen, Ergänzungen und Neuerungen sind in folgenden Kapiteln vor-genommen worden:4 Kapitel 1: Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit

(Margot Sieger);4 Kapitel 2: Geschichte der Pflege (Horst Rüller);4 Kapitel 3: Biographieforschung und Pflege (Kirsten Sander);4 Kapitel 5: Das Lernfeldkonzept – zwischen theoretischen Erwartungen und praktischen

Realisierungsmöglichkeiten (Kordula Schneider);4 Kapitel 6: Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung

(Kordula Schneider);4 Kapitel 8: Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters (Beate Blättner);4 Kapitel 9: Lernen in Theorie und Praxis (Elfriede Brinker-Meyendriesch);4 Kapitel 17:Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse – Auswahl

eines EDV-gestützten Schulverwaltungsprogramms (Sigrun Schwarz).4 Kapitel 15:Aufnehmen,Verarbeiten,Speichern und Abrufen: Grundlagen der biologischen

Informationsverarbeitung am Beispiel von Gehirn und Immunsystem (Friederike Störkel);4 Kapitel 11: Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft (Veit Thomas);4 Kapitel 14: Widersprüchliche Botschaften: Wie viel Gesundheitssoziologie brauchen Pfle-

gepädagoginnen, Pflegeexpertinnen und Pflegende? (Simone Kreher);4 Kapitel 16:Public Health in Deutschland – Entwicklungen in der Forschung,der Lehre und

Transfer in die Versorgungspraxis (Ulla Walter).

Das Kapitel 18,»Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall« (Alfred Schneider),hatdurch die neuen Gesetze für die Berufe in der Krankenpflege und in der Altenpflege sowiedurch die Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen einer grundlegenden Überarbeitung be-durft.

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VIII Vorwort zur 2. Auflage

Das Kapitel 4,»Personenzentrierte Beratung« (Michael Wörmann),wurde durch einen Auf-satz – »Beratung in der Pflege« – von Martina Harking, der stärker die pflegewissenschaftli-che Position betont, ersetzt.

K. Schneider, E. Brinker-Meyendriesch, A. SchneiderJanuar 2005Brake, Münster, Pforzheim

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IX

Vorwort der Herausgeber

Dieses Buch richtet sich an Studierende, Pflegepädagoginnen/Pflegepädagogen und Pflege-lehrer bzw.Pflegelehrerinnen sowie Hochschullehrende und alle anderen Interessierten im Bil-dungs- und Gesundheitsbereich. Es soll einen weiteren Beitrag leisten für die sich seit etwazehn Jahren entwickelnde Pflegepädagogik,die sich mit der Verwissenschaftlichung und Aka-demisierung der Pflege als eigene Teildisziplin auf der Nahtstelle von Pflegewissenschaft undPädagogik/Berufsfelddidaktik herausgebildet hat.

Unter dem Druck des Wandels im Sozial- und Gesundheitswesen und den Veränderungs-wünschen der Pflegenden und Pflegepädagogen selbst sind in den letzten Jahren zahlreichepflegepädagogische Studiengänge entstanden mit je unterschiedlichen Schwerpunktsetzun-gen.Entsprechend haben sich bis heute,eher praxis- und berufsgelenkt,verschiedene Arbeits-felder von Pflegepädagoginnen und Pflegepädagogen herausgebildet.

An erster Stelle ist der Bereich »Ausbildung« zu nennen.Nach der Altenpflege steht in neue-rer Zeit auch die Eingliederung der Kranken- und Kinderkrankenpflege in das klassische Be-rufsbildungssystem zur Debatte. Es werden bundesweite Umwandlungen der Pflegeschulenbzw.Fachseminare in Berufsfachschulen bzw.Fachschulen diskutiert,wie es bislang in einigenBundesländern schon der Fall ist.Andere Überlegungen gehen dahin,die Grundausbildung derPflegeberufe an Fachhochschulen mit dem akademischen Grad »Bachelor« abzuschließen.

Ferner hat die »Fort- und Weiterbildung« für in der Pflege Tätige einen hohen Stellenwert.Der Bedarf ist angesichts vielfältiger Veränderungen eklatant und durchzieht alle Teilgebieteder Pflege, der Pflegepädagogik selbst und des Pflegemanagements. Nicht erst seitdem derWandel im Sozial- und Gesundheitswesen einen Anpassungsbedarf besonders dringlich be-legt, messen auch Pflegende und Pflegepädagogen der Fort- und Weiterbildung einen hohenStellenwert bei. Noch bis vor einigen Jahren wurde der Qualifikationsbedarf von Pflegendeninnerhalb ihres gesamten Berufslebens nur auf diese Weise gedeckt.

Arbeitsfelder, in denen es um Entwicklungsaufgaben, Forschung und Evaluation geht so-wie um Beratungstätigkeiten, gehören eher zu den neueren und zukunftsorientierteren Auf-gabenfeldern von Pflegepädagogen. Beratungen sind von jeher Aufgabe von Pflegepädagogengewesen, insbesondere im Hinblick auf die lehrende Tätigkeit. Die Bedarfe gehen aber darü-ber hinaus, denn für die Zuschneidung neuer Aufgabensegmente und ihrer Institutionalisie-rung werden jetzt die Weichen gestellt.Diese vielgestaltigen Prozesse bedürfen beratender Be-gleitung durch ausgebildete und erfahrene Pflegepädagogen.

«Ausbildung« sowie »Fort- und Weiterbildung« sind in der langen Tradition der Pflege alsArbeitsfelder bereits vor der Verwissenschaftlichung Gegenstandsbereiche gewesen. Darankann die »neue und erweiterte« Pflegepädagogik anschließen.Diesen Anschluss gilt es, für diebereits Berufstätigen herzustellen und eine größere Partizipation der fachlichen sowie wis-senschaftlichen Ressourcen der eigenen und naheliegenden Disziplinen zu befördern. Pflege-pädagogisch zu wirken bedeutet somit,auf Hochschulebene mit den nachwachsenden Studie-renden zukunftsorientiert und konstruktiv zu arbeiten und gleichzeitig bzw. gleichermaßenden Zusammenschluss mit den bereits pflegepädagogisch Tätigen zu forcieren. Insofern gehtes hier um Innovation und Tradition gleichzeitig, denn Pflegepädagogik ist nicht losgelöst zusehen von den Personen, die schon lange in den Arbeitsfeldern tätig sind und nun die rasanteEntwicklung mit aufgreifen wollen, ja, sie eigentlich wesentlich mit angestoßen haben.

Vor allem fordern die gegenwärtigen Entwicklungen die Innovationskraft der Pfle-gepädagoginnen und Pflegepädagogen dort heraus,wo es darum geht,fachlich fundierte Kon-zepte zu entwickeln,sie umzusetzen und zu legitimieren. Nur wenn die Berufsangehörigen der

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X Vorwort der Herausgeber

Pflege dies selbst und aus dem reflektierten Selbstverständnis ihres Berufes heraus tun, kön-nen sie ihre wichtige Stellung im »Chor« der anderen Berufe des Sozial- und Gesundheitswe-sens ausweiten und qualitätsvoll behaupten.

Der Begriff Pflegepädagogik transportiert zwei Bedeutungen, die miteinander verbundensind: Pflege und Pädagogik. Während die Pädagogik bzw. die Erziehungswissenschaft bereitsüber eine längere wissenschaftliche Tradition verfügt, befindet sich die Pflegewissenschaft imfortgeschrittenen Anfangsstadium, wenngleich sie schon vielerlei Ergebnisse und Erkennt-nisse vorweisen kann. Die Pflegepädagogik kann somit von der bereits etablierten Erzie-hungswissenschaft und ihren Teilgebieten profitieren und gleichzeitig den noch weitgehendoffenen Raum der Pflegewissenschaft mit gestalten und ausfüllen.Der Pflegepädagogik obliegtsomit all das, was an Denk- und Arbeitsfeldern für sie vorstellbar ist und wessen sie sich zu-wendet und annimmt.

Beide Basiswissenschaften nutzen überdies hinaus weitere Bezugswissenschaften und de-ren Erkenntnisse und Technologien.

Das vorliegende Lehrbuch beinhaltet 18 Themenfelder, wobei deren Abfolge der Darstel-lung in . Abb. 0.1 folgt. Zu Beginn wird der Fokus auf die Pflegewissenschaft mit vier zentra-len Fragestellungen gelegt, gefolgt von der zweiten Basiswissenschaft Pädagogik/Berufsfeld-didaktik mit fünf Aufsätzen von verschiedenen Autorinnen. Die verbleibenden neun The-mengebiete sind den unterschiedlichen Bezugswissenschaften gewidmet, die wichtigeErkenntnisse und Beiträge für die Pflegepädagogik leisten.

Das vorliegende Buch wurde von uns so konzipiert, dass es den fachwissenschaftlichenStandards entspricht, aber gleichzeitig eine handlungsorientierte Rezeption erlaubt. Dies wareine wichtige Richtlinie für uns, denn für die Aufnahme und Anwendung des Wissens ist esimmer entscheidend, ob es gelingt, eine Brücke zur beruflichen Praxis zu schlagen. So hat unsder Gedanke getragen, dass es sich hier nicht lediglich um eine Sammlung von Aufsätzen mitFaktenwissen aus verschiedenen Fachgebieten handeln kann, sondern dass der Bezug zumBeruf erfahrbar wird. Diese Ansprüche haben wir eingelöst, einerseits mit einer bewussten

. Abb. 0.1. Aufbau des Buches

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Vorwort der HerausgeberXI

Steuerung der Beiträge durch die Festlegung von Basis- und Bezugswissenschaften der Pfle-gepädagogik und andererseits durch eine von uns vorgegebene allgemeine Struktur der Bei-träge selbst.

In der sinnvollen Konsequenz hat diese Herangehensweise bedeutet, dass jeder der 18 Bei-träge dieses Buches fachwissenschaftliche mit pädagogisch-didaktischen Aspekten in folgen-der Weise vernetzt:4 Am Anfang eines jeden Beitrags stehen entweder ein Fall, ein Problem oder z. B. Thesen,

die den gedanklichen Einstieg erleichtern.4 Im nächsten Schritt formulieren alle Autoren und Autorinnen berufliche Handlungskom-

petenzen, die mit der Rezeption des jeweiligen Beitrags erworben werden können. Diesesind dabei untergliedert in die Basiskompetenzen: Fach-, Personal- und Sozialkompetenzund in die instrumentellen Kompetenzen: Methoden- und Lernkompetenz sowie kom-munikative Kompetenz.

4 Anschließend folgt die Praxisrelevanz. Hier wird entweder von den Autoren die Bedeut-samkeit bzw. Brisanz der Thematik für die Praxis skizziert oder es werden Arbeitsfelderfür die jetzt tätigen und zukünftigen Pflegepädagogen vergegenwärtigt.

4 Eine grafische Darstellung der kognitiven Struktur jedes Beitrages, die so genannte Ver-fahrensstruktur, wurde aufgenommen. Sie erlaubt und ermöglicht es dem Leser, den Ge-dankengang der Autorin/des Autors nachzuvollziehen und die innere Logik des gesamtenBeitrags vor seinem geistigen Auge Revue passieren zu lassen. Hier kann es sich um un-terschiedliche Formen der graphischen Darstellung wie z.B.Flussdiagramme,Mind Mapsoder Ursache-Wirkung-Diagramme handeln.

4 Empfehlungen zum Weiterlernen werden gegeben. Dazu wird grundlegende, weiter-führende oder spezielle Literatur empfohlen,die teilweise auch kommentiert wird.Des wei-teren werden Internetadressen angegeben oder besonders empfehlenswerte Medien undMaterialien herausgestellt.

4 Methodische Vorschläge für eine Seminargestaltung sind zu finden,welche beispielhaft zei-gen, wie diese Thematik seminaristisch umgesetzt werden kann.

4 Die zuvor beschriebenen pädagogisch-didaktischen Aspekte finden sich in jedem Aufsatzwieder und binden sozusagen den zentralen fachwissenschaftlichen Teil eines jeden Bei-trages ein. Dieser thematisch-fachliche Teil wird jedem Aufsatz in Form einer Gliederungvorangestellt. Am Ende des fachwissenschaftlichen Teils findet sich eine kurze und präg-nante Zusammenfassung der Thematik. Beendet wird der Aufsatz durch ein Literaturver-zeichnis, das die verwendete Literatur ausweist.

Wir möchten Frau Hartmann vom Springer-Verlag für die sachkundige und konstruktive Be-gleitung und Beratung danken.

Darüber hinaus möchten wir uns bei Herrn Elmar Burbank (Student der Pflegepädagogik,5. Sem.) und Herrn Dipl.-Pflegepädagogen Stefan Albersmann für die Formatierung der Tex-te, ihre formale Zusammenführung und für Redigierungsarbeiten bedanken.

Ebenso gilt unser Dank Herrn Heinz Rüller, der mit großer Sorgfalt die Texte Korrekturgelesen hat.

In diesem Buch sind sprachlich die weibliche und die männliche Form genutzt worden. Inbeiden Fällen ist die jeweils nicht genannte Form mitgemeint.

K. Schneider, E. Brinker-Meyendriesch, A. SchneiderBrake, Münster, Pforzheim, 2002

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XIII

1 Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit   .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 1Margot Sieger

1.1 Pflege auf dem Weg zur Wissenschaft 2

1.2 Lern- und Handlungsfeldorientierung in den Pflegeausbildungen   .  .  .  .  . 9

1.3 Von der Pflegesituation zum Lernfeld 11

2 Geschichte der Pflege   .  .  .  .  .  .  . 19Horst Rüller

2.1 Überlegungen zur Darstellung der Pflegegeschichte   .  .  .  .  .  .  .  .  . 21

2.2 Sechs Entwicklungslinien einer thematischen Pflegegeschichte 23

2.3 Darstellung der Pflegegeschichte   .  . 25

3 Biographieforschung und Pflege 37Kirsten Sander

3.1 Biographien als Forschungs-gegenstand  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 39

3.2 Das biographisch-narrative Interview als Forschungsmethode   .  .  .  .  .  .  . 43

3.3 Biographieforschung in der Pflege   . 49

4 Beratung in der Pflege – Annäherungen an einen für das Handlungsfeld der Pflege spezifischen Zugang   . 59Martina Harking

4.1 Beratung in der Pflege   .  .  .  .  .  .  .  . 61

4.2 Beratung – ein dehnbarer Begriffmit mehrdeutigem Inhalt   .  .  .  .  .  . 65

4.3 Komponenten von Beratung  .  .  .  .  . 70

4.4 Beratung und Edukation   .  .  .  .  .  . 72

4.5 Rückblick und Ausblick   .  .  .  .  .  .  . 74

5 Das Lernfeldkonzept – zwischen theoretischen Erwartungen und praktischenRealisierungsmöglichkeiten   .  .  . 79Kordula Schneider

5.1 Entstehungshintergründe des Lernfeldkonzeptes   .  .  .  .  .  .  .  . 83

5.2 Der strukturelle und curriculare Zusammenhang zwischen Handlungsfeldern, Lernfeldern und Lernsituationen  .  .  .  .  .  .  .  .  . 86

5.3 Perspektivenwechsel durch das Lernfeldkonzept   .  .  .  .  . 88

5.4 Die vier wesentlichen Bestandteile des Lernfeldkonzeptes   .  .  .  .  .  .  .  . 90

5.5 Der Weg vom lernfeldstrukturierten Rahmenlehrplan bis zur didaktischen Umsetzung der Lernsituationen  .  .  . 100

5.6 Probleme der verschiedenen Implementierungsebenen   .  .  .  .  .  . 102

6 Orientierungshilfen für dieEinführung von Handlungs-orientierung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 115Kordula Schneider

6.1 Was ist handlungsorientierter Unterricht?  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 117

6.2 Welche Entwicklungsschritte bzw. Phasen sind für die Einführung von Handlungsorientierung wichtig? 126

7 Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen   .  .  .  .  .  .  . 147Hannelore Muster-Wäbs

7.1 Menschenbild und Grundhaltung als Basis für die Begleitung von Gruppen  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 148

7.2 Handlungsleitende Modelle und Konzepte für das Führen und Anleiten von Gruppen   .  .  .  .  . 151

Inhaltsverzeichnis

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XIV Inhaltsverzeichnis

7.3 Aufgaben der Leitung in den einzelnen Phasen der Gruppenentwicklung   .  .  .  .  .  . 157

7.4 Persönliche Anmerkungen   .  .  .  .  . 164

8 Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters   .  .  .  .  .  .  .  .  . 167Beate Blättner

8.1 Wovon sprechen wir eigentlich,wenn wir von Pädagogik, von Lernen oder von Wissen sprechen?   .  .  .  .  . 170

8.2 Wie erklären sich Beobachter Lernen?   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 182

8.3 Wie verändert sich die pädagogische Praxis durch theoretische Einsicht?   . 192

9 Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 197Elfriede Brinker-Meyendriesch

9.1 Strukturelle Gegebenheiten – Bildungssystem   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 199

9.2 Lernen unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive 200

9.3 Schwerpunkte theoretischen und praktischen Lernens – Ausblick 209

10 Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft   .  .  .  .  .  .  .  .  . 215Jens Clausen

10.1 Wissenschaftstheoretische Grundsätze   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 217

10.2 Skizzen zu verschiedenen wissenschaftstheoretischen Ansätzen 226

10.3 Hinweise zum wissenschaftlichen Arbeiten   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 237

11 Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft   .  .  .  .  .  .  . 247Veit Thomas

11.1 Die philosophische Ethik   .  .  .  .  .  . 249

11.2 Ethik und Recht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 253

11.3 Wer ist der Mensch: Anthropologie   . 255

11.4 Die unvollendete Ethik unserer Marktgesellschaft:Der Liberalismus   .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 258

11.5 Die Menschenwürde als höchstes Gut 260

11.6 Modelle ethischer Legitimation   .  .  . 264

11.7 Ethische Lösungsfindung durch Herrschaftsfreiheit   .  .  .  .  .  . 265

11.8 Ethisch-rechtlicher Frageleitfaden für Handlungskonflikte   .  .  .  .  .  .  . 266

11.9 Liste existierender ethischer Grundwerte   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 266

12 Identitätsentwicklung,Reifungsprozesse und Lebenszyklus   .  .  .  .  .  .  .  .  . 271Märle Poser

12.1 Auswahl der entwicklungs-psychologischen Phasenmodelle   .  . 273

12.2 Entwicklungs- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 277

13 Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunfts-unsicherheit   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 293Manfred Muster

13.1 Systemisches Pflegemanagement als Handlungsstrategie   .  .  .  .  .  .  . 295

13.2 Klärungsprozesse bei Führungspersonen   .  .  .  .  .  .  . 302

13.3 Die Strategie der lernenden Organisation als Antwort auf die Dynamik sozialer Systeme  .  .  .  .  .  . 308

14 Widersprüchliche Botschaften:Wie viel Gesundheitssoziologie brauchen Pflegepädagoginnen,Pflegeexpertinnen und Pflegende?   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 319Simone Kreher

14.1 Gesellschaftliche Erwartungen undHaltungen gegenüber der Soziologie 321

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InhaltsverzeichnisXV

14.2 Interaktion mit Schwerkranken und Sterbenden (Grounded Theory) 322

14.3 Was heißt denn schon Gesundheit? (Wissenssoziologische Ansätze)   .  .  . 325

14.4 Pflege und Pflegende in den Netzwerken flexibler Gesellschaften (Gesellschaftstheoretische Konzepte) 328

15 Aufnehmen,Verarbeiten,Speichern und Abrufen:Grundlagen der biologischenInformationsverarbeitung am Beispiel von Gehirn und Immunsystem   .  .  .  .  .  .  .  . 333Friederike Störkel

15.1 Das Gehirn  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 336

15.2 Das Immunsystem  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 347

16 Public Health in Deutschland –Entwicklungen in der Forschung,der Lehre und Transfer in die Versorgungspraxis   .  .  .  .  . 357Ulla Walter, Martina Plaumann

16.1 Was ist Public Health?   .  .  .  .  .  .  .  . 358

16.2 Entwicklung und Konsolidierung von Public Health in Deutschland   .  . 362

17 Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse – Auswahl eines EDV-gestützten Schulverwaltungsprogramms   .  . 371Sigrun Schwarz

17.1 Vorgehen der Kosten-Nutzwert-Analyse   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 373

17.2 Auswahl der Entscheidungskriterien 374

17.3 Bestimmung der Kriteriengewichte   . 374

17.4 Suche nach relevanten Alternativen   . 376

17.5 Bewertung der Alternativen   .  .  .  .  . 378

17.6 Nutzwertermittlung   .  .  .  .  .  .  .  .  . 380

17.7 Ermittlung der Kosten nach der Kostenvergleichsrechnung  . 381

17.8 Entscheidung mit Hilfe der Dominanzbetrachtung   .  .  .  .  . 384

17.9 Durchführung von Sensitivitätsanalysen   .  .  .  .  .  . 385

17.10 Kritische Reflexion des Verfahrens   . 385

18 Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall   . 391Alfred Schneider

18.1 Rechtliche Situation in der Pflegeausbildung   .  .  .  .  .  .  . 392

18.2 Gesetzgebungskompetenz für die Ausbildung in den Pflegeberufen  .  .  .  .  .  .  .  .  . 396

18.3 Das duale Bildungssystem   .  .  .  .  .  . 397

18.4 Gemeinsamkeiten und Unterschiede:Duale Ausbildung und Ausbildung in den Pflegeberufen  .  .  .  .  .  .  .  .  . 397

18.5 Pflegeausbildung »sui generis« und ihre Problemfelder   .  .  .  .  .  .  . 406

Stichwortverzeichnis   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 411

Page 14: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

XVII

Autorenverzeichnis

Blättner, BeateProf. Dr. phil.FH FuldaFachbereich Pflege und GesundheitMarquardtstr.3536039 Fulda

Brinker-Meyendriesch, ElfriedeDr.Martinikirchhof 5–648143 Münster

Clausen, Jens Melcherstr. 4148149 Münster

Harking, MartinaLeopoldstraße 3258089 Hagen

Kreher, SimoneProf. Dr.FH Neubrandenburg,Fachbereich Soziale Arbeit und GesundheitBrodaerstr. 217033 Neubrandenburg

Muster, ManfredDipl.-Psych.Kirchenstr. 922848 Norderstedt

Muster-Wäbs, HanneloreDipl.-Hdl.Kirchenstr. 922848 Norderstedt

Plaumann, MartinaDipl. oec. troph., MPHMedizinische Hochschule HannoverPrävention und Rehabilitationin der System- und VersorgungsforschungStiftungslehrstuhlAbt. Epidemiologie,Sozialmedizin undGesundheitssystemforschung30625 Hannover

Poser, MärleProf. Dr.Hochhauser Str. 2526121 Oldenburg

Rüller, Horst Norderfeld 2626919 Brake

Sander, Kirsten Mathildenstr. 9228203 Bremen

Schneider, AlfredDr.Zerrennerstr. 3275172 Pforzheim

Schneider, KordulaProf. Dr.Norderfeld 2626919 Brake

Schwarz, SigrunProf. Dr.FH Münster Röntgenstr. 7–948149 Münster

Sieger, MargotProf.Jägerstr. 3–545525 Hattingen

Störkel, FriederikeProf. Dr.Fachhochschule Münster,Fachbereich Pflege 12Röntgenstr. 7–948149 Münster

Veit,ThomasDr.Landgrafenstraße 10550931 Köln

Walter, UllaProf. Dr.Medizinische Hochschule HannoverPrävention und Rehabilitationin der System- und VersorgungsforschungStiftungslehrstuhlAbt. Epidemiologie,Sozialmedizin undGesundheitssystemforschung30625 Hannover

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XIX

Prof. Dr. phil. Beate Blättner

Studium in Erziehungswissenschaften mit Schwer-punkt Erwachsenenbildung in Bamberg (Dipl.päd.) und Hannover (Dr. phil.) 12 Jahre leitendeTätigkeiten in der Erwachsenbildung in Nieder-sachsen mit den Schwerpunkten Gesundheitspä-dagogik und Berufspädagogik für Gesundheitsbe-rufe. Seit 2003 Professorin für Gesundheitsförde-rung und Studiengangsleitung für die Studien-gänge Pflegemanagement, Gesundheitsmanage-ment und Public Health an der FachhochschuleFulda.

Dr. päd. Elfriede Brinker-Meyendriesch

Krankenschwester, Erziehungswissenschaftlerin;Lehramtsstudium,Promotionsstudium Soziologie;Tätigkeiten in Ausbildung,Fort- und Weiterbildungsowie Hochschulbildung der Pflege und Pflegepä-dagogik; Selbstständigkeit in Bildung, Forschung,Evaluation im Gesundheitswesen sowie wissen-schaftliche Begleitung bei der FachhochschuleMünster im Rahmen von Projekten.

Jens Clausen

Studium der Germanistik, Geschichte und Erzie-hungswissenschaften in Hamburg, York (GB) undFreiburg i. Br.; Dozent für psychiatrische Pflege inHamm/Westf. und an der Evangelisch-sozialpäda-gogischen Ausbildungsstätte in Münster; Lehrbe-auftragter der FH Münster, Fachbereich Pflege.

Martina Harking

Diplom-Pflegewissenschaftlerin (FH) Studien-schwerpunkte: Pflegewissenschaft, Forschung undBeratung.Derzeit tätig als wissenschaftliche Mitar-beiterin im Institut Pädea in Münster. Lehrerin fürPflegeberufe, Fachkrankenschwester für Intensiv-pflege und Anästhesie,Krankenschwester.Langjäh-rige Berufstätigkeit in der stationären und ambu-lanten Pflege sowie in der pflegerischen Aus-, Fort-und Weiterbildung.

Prof. Dr. Simone Kreher

Studium der Soziologie in Leipzig.Seit 1999 Profes-sorin für Soziologie und Gesundheitssoziologie,Fachhochschule Neubrandenburg,Fachbereich so-ziale Arbeit und Gesundheit,Studiengänge: Pflege-wissenschaft/Pflegemanagement und Gesund-heitswissenschaften.

Manfred Muster

Diplom-Psychologe in den Fachgebieten Arbeits-und Organisationspsychologie, Kommunikations-psychologie und Wirtschaftsmediation. Geschäfts-führer der IG Metall Bremen. Seit zwei Jahren alsfreiberuflicher Unternehmens- und Organisations-berater tätig.

Hannelore Muster-Wäbs

Diplom-Handelslehrerin,Hauptseminarleiterin imStaatlichen Studienseminar für die Lehrämter anHamburger Schulen – Abteilung Berufliche Schu-len.Lehrbeauftragte an der Fachhochschule Müns-ter im Fachbereich Pflegepädagogik für »Gruppen-pädagogik«.

Martina Plaumann

Dipl. Oecotrophologin, Postgraduiertenstudiumzum Master of Public Health (MPH). Seit 2003 wis-senschaftliche Mitarbeiterin an der MedizinischenHochschule Hannover.

Prof. Dr. phil. habil. Märle Poser

Studium der Sozialpädagogik und der Sozialwis-senschaften, Ausbildung als Psychoanalytikerin.Professorin für Personalwirtschaft an der Fach-hochschule Münster im Studiengang Pflegemana-gement.

Horst Rüller

2. Staatsexamen für Sekundarstufe I/II, Münster,Geschichte und Geographie; Leiter des Bildungs-zentrums für pflegerische Berufe am Erwin-Stauss-Institut in Bremen.Seit 1999 Leitung der Redaktiondes Prodos-Verlages in Brake/Unterweser.

Kurzbiografie der Autoren

Page 16: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

XX Bibliografie der Autoren

Kirsten Sander

Dipl.-Pädagogin, Schwerpunkt Erwachsenenbil-dung und Biographieforschung; Bremer Studien-preis 2000.Seit August 2000 wissenschaftliche Mit-arbeiterin Universität Osnabrück.

Dr. jur. Alfred Schneider

Rechtsanwalt, Schwerpunkt Medizinrecht, Lehrbe-auftragter an der Fachhochschule Münster, Fach-bereich Pflege, Autor des Lehrbuches Staatsbür-ger-, Gesetzes- und Berufskunde für Fachberufe imGesundheitswesen, Mitherausgeber der Loseblatt-sammlung Hygiene und Recht (HuR).

Prof. Dr. phil. Kordula Schneider

Dipl.-Oecotrophologin und Berufsschullehrerin.Seit 1996 Professorin an der Fachhochschule Mün-ster, Studiengang Pflegepädagogik mit dem Lehr-gebiet: Erziehungswissenschaften.

Prof. Dr. Sigrun Schwarz

Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Fried-rich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.Seit Mai 1998 Professorin für Betriebswirtschafts-lehre an der Fachhochschule Münster, FachbereichPflege.

Prof. Margot Sieger

Jahrgang 1944, Krankenschwester, Lehrerin fürPflegeberufe, Dipl.-Pädagogin, Schwerpunkt Er-wachsenenbildung von 1995 bis 2005 – Professorinfür Pflegewissenschaft, Evangelische Fachhoch-schule Rheinland – Westfalen – Lippe in Bochum,Fachbereich Pflege.

Prof. Dr. Friederike Störkel

Studium der Humanmedizin und der Gesund-heitswissenschaften in Mainz und Düsseldorf undPromotion in Medizin.Professorin am FachbereichPflege der Fachhochschule in Münster. Lehrgebie-te: Naturwissenschaftliche Grundlagen der Pflege;Gesundheitswissenschaften – Public Health.

Dr. phil. Veit Thomas

Jahrgang 1958,Studium der Philosophie,Germanis-tik, Geschichte; Promotion; Studium der Musik,Staatsexamen; Monographien zur Wirtschaftsethikder Menschenrechte, zur Rechtsphilosophie undEthik der Menschenwürde. Lehrbeauftragter FHDortmund – Lehrer für Philosophie.

Univ. Prof. Dr. phil. Ulla Walter

2. Staatsexamen für Biologie und Geographie, Se-kundarstufe II. Habilitation 2001, venia legendi inPublic Health. 2004 Berufung auf den Stiftungs-lehrstuhl »Prävention und Rehabilitation in derSystem- und Versorgungsforschung” an der Medi-zinischen Hochschule Hannover.

Page 17: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

1

Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit

Margot Sieger

1.1 Pflege auf dem Weg zur Wissenschaft 2

1.1.1 Warum will Pflege Wissenschaft sein? 2

1.1.2 Impulse zur Entwicklung 5

1.1.3 Pflegewissenschaft und Alltagshandeln 8

1.2 Lern- und Handlungsfeldorientierung

in den Pflegeausbildungen 9

1.2.1 Curriculare Entscheidung 9

1.2.2 Didaktische Orientierung 9

1.3 Von der Pflegesituation zum Lernfeld 11

1.3.1 Ziele 11

1.3.2 Eine begleitete Pflegesituation im Hospiz 12

1.3.3 Didaktische Bearbeitung 14

Page 18: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

1

2 Kapitel 1 · Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit

> Thesen5 1. Das Fachgebiet der Pflege beeinflusst ent-

scheidend die Perspektive der Lehre und die

Auswahl der Themen in allen relevanten Fä-

chern/Fachgebieten im Kontext pflegeberuf-

licher Bildung.

5 2. In einem curricularen Aufbau nach Lern-

bzw. Handlungsfeldern sind die Themen und

Fragestellungen der Pflege der Schlüssel, der

didaktisch die interdisziplinär zu bearbeiten-

den Themen erschließt.

5 3. Pflege braucht zum Aufbau der Wissen-

schaft die Ergebnisse von Forschung, aber

auch die Erfahrungen der professionell Pfle-

genden.

5 4. In einem curricularen Aufbau pflegerischer

Bildungsgänge nach Lern- bzw. Handlungs-

feldern liegt die Chance, didaktisch auf den

Erfahrungsschatz der Pflegenden zurückzu-

greifen und in der Abstraktion der Lernfelder

eine Systematisierung zu leisten.

3 Berufliche Handlungskompetenzen

2 FachkompetenzDen Entwicklungsstand der Pflegewis-senschaft und der Pflegepraxis kritischreflektieren, um daraus Handlungsop-tionen für die Pflege zu entwickeln.

2 PersonalkompetenzDie eigene Berufsidentifikation im Kon-text von Handlungssituationen stärken,indem die Komplexität pflegerischenHandelns erschlossen wird.

2 MethodenkompetenzDen Transfer pflegewissenschaftlicher Er-kenntnisse in das Pflegehandeln einleiten.

3 PraxisrelevanzAufgrund der gravierenden Veränderungen im Ge-sundheits- und Sozialsystem stehen die Pflegebe-rufe unter einem enormen Modernisierungsdruck.Die pädagogisch Tätigen in den Schulen und Aus-bildungsstätten sind gefordert, zukunftsweisendecurriculare Veränderungen vorzunehmen. Dabei

nimmt das Fachgebiet der Pflege eine Schlüssel-funktion wahr.Hier zeigt sich,ob und in wie weit esgelingt,das zukünftige Profil der Berufe zu entwer-fen, über dieses Fachgebiet die innere Bindung derPflegenden an den Beruf zu stärken. Aber auch zuerreichen, dass die Balance zwischen Ansprüchen,die sich aus der Wissenschaftsentwicklung erge-ben, und der Befähigung zum Alltagshandeln trag-fähig wird. Langfristig wird daraus eine neueStruktur des Fachgebiets erwachsen. Hierin liegtder Reiz für die Lehrenden sich auf einen solchenProzess der Veränderung einzulassen.

3 Verfahrensstruktur (. Abb. 1.1)

1.1 Pflege auf dem Weg zur Wissenschaft

1.1.1 Warum will Pflege Wissenschaftsein?

4 Weil sie den umfassenden Handlungsbereichmit spezifischen Fragen erschließen und pfle-gerisches Handeln über wissenschaftlich fun-dierte Ansätze erklären und begründen will.

4 Weil sie sich von einem diffusen Beruf zu einerProfession mit einer klar umrissenen Zustän-digkeit entwickeln will.

4 Weil sie, wie andere Berufe auch, Entwick-lungschancen und Karriereoptionen braucht,um die Attraktivität des Berufes auch für diejungen Menschen zu steigern.

4 Weil die Pflegebedürftigen das Recht auf einePflege haben, die dem neuesten Stand der Wis-senschaft entspricht.

Über viele Jahrzehnte galt die Pflege in Deutschlandals ein praktischer Beruf,der keinerlei Überhöhungdurch eine Theorie bedurfte. Pflege war konzipiertzur Vor- und Nacharbeit sowie Assistenz einer sichrasant entwickelnden Medizin (Bischoff 1999;Mühlum et al. 1997).

Diese Unterordnung der Pflege unter die Medi-zin vollzog sich mit der Einführung des ärztlichenEinheitsstandes 1852; dadurch wurde das Behand-lungsmonopol der Medizin festgeschrieben(Mayntz 1988; Huerkamp 1985). Die Pflege war zudiesem Zeitpunkt religiös motivierte Pflege,sie ver-

Page 19: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

1.1 · Pflege auf dem Weg zur Wissenschaft13

stand sich als Leib- und Seelenpflege und bedingtedamit eine doppelte Unterordnung, einmal unterdie Autorität des Arztes und zum anderen unter dieAutorität des Geistlichen (Schaper 1987, S. 165;Sticker 1960).

Damit erschöpft sich Pflege im handwerklichenTun, ganz im Gegenteil, jedes

7 Übermaß von Ausbildung und theore-

tischen Kenntnissen soll vermieden

werden, zumal die Gefahr besteht, daß

Krankenpfleger, die eine zu umfang-

reiche und zu vielseitige Ausbildung

erfahren haben … zu Übergriffen in

das Gebiet der Heilkunde neigen …

(Drucksachen zu den Verhandlungen

des Bundesraths des Deutschen Reiches,

1905, S. 2).

So sahen es die Gesetzgeber noch in ihren Bera-tungen zur ersten Prüfungsverordnung für Kran-kenpflegepersonen.Und da sich eh und je nicht aus-reichend Menschen finden, die diesen Beruf erler-nen wollen, muss die Eintrittshürde möglichstniedrig gehalten werden, so das politische Postulat(Drucksachen des Deutschen Reiches 1906; Bi-schoff 1999). Diese Argumentation, ausgehend voneinem permanenten Personalmangel in den Pfle-geberufen, bestimmt das Wechselspiel zwischenQualifikationsanforderungen und Personalgewin-nung bis heute.Vor dem Hintergrund dieser Argu-mentationen konnte in den Novellierungen zumKrankenpflegegesetz (1965/1985) eine Integrationder Ausbildungen in das Regelbildungssystem derLänder nicht erreicht werden. Damit blieben aufder Bildungsentwicklungsseite der Pflege die nor-mativen Möglichkeiten und Entwicklungen – ver-

. Abb. 1.1. Verfahrensstruktur

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1

4 Kapitel 1 · Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit

bunden damit auch der gesellschaftliche Status –als Konsequenz einer weiterführenden Qualifizie-rung versperrt (Kurtenbach et al. 1986).

Die jüngste Diskussion in den 80er Jahren desletzten Jahrhunderts um den Personalmangel inder Pflege hatte aber eine etwas andere Qualität.Neben der Feststellung des Missverhältnisses zwi-schen Personalmenge und erhöhtem Bedarf anPflege konnte jedoch deutlich herausgearbeitetwerden, dass es sich nicht ausschließlich um einquantitatives Problem handelte, sondern mehr umein qualitatives: Der Personalnotstand wurde prio-ritär als ein Bildungsnotstand identifiziert (Zander1993). Damit wurden andere Antworten eingefor-dert als in den Jahren zuvor. Pflegende fordertenRaum für eine eigene Entwicklung um den eigenenHandlungsbereich schärfer zu konturieren,um dengesundheitlichen Problemlagen der Bevölkerungmit einem fundierten Wissen begegnen zu können.

Als eine zentrale Herausforderung für die Pfle-ge sind die chronischen Krankheiten zu benennen,sie begleiten den Menschen ein Leben lang. Diephasenhaften Verläufe erfordern ganz unterschied-liche Formen von Pflege. Chronische Krankheitenziehen oft andere Krankheiten nach sich,häufig alsNebeneffekt der Behandlung selbst (Hellige 2002,Corbin 1994). Eine solche Multimorbidität geradeim höheren Lebensalter verlangt ein höheres Maßan Begleitung, Beratung und Unterstützung derPflegebedürftigen (Sieger 2001, Deppe 1980). Gera-de der Bericht des Sachverständigenrates für dieKonzertierte Aktion im Gesundheitswesen weistsehr differenziert die Versorgungsdefizite nach undbelegt eindrucksvoll die daraus resultierende Un-ter-,Über- und Fehlversorgung insbesondere chro-nisch Kranker (SVR 2000/2001).

Nicht mehr zu ignorieren ist darüber hinaus diedemographische Alterung, ein Prozess der Zunah-me der Lebenserwartung bei gleichzeitiger Abnah-me der Geburtenrate. Die Singularisierung der Ge-sellschaft damit einhergehend ein langsames Weg-brechen traditioneller Familienstrukturen,in Folgehäufig auch ein Wegfall der gewohnten Pflegenetze.Damit rücken die Sicherung pflegerischer Versor-gung von hochaltrigen und chronischkrankenMenschen aus gesellschafts- und gesundheitspoli-tischer Sicht ins öffentliche Interesse, in Folge auchdie Arbeit der Gesundheitsprofessionen, insbeson-dere auch die der Pflegenden. Der Strukturumbau

des Sozial- und Gesundheitssystems als politischeAntwort auf diese Entwicklungen und auch alsAntwort auf die ökonomischen Zwänge, denen sich die Gesundheitseinrichtungen ausgesetzt se-hen, bringen die Pflege insgesamt unter einenModernisierungsdruck. Sie verlangen von denPflegenden eine erneute Reflexion über zukünftigeHandlungsfelder, Handlungsbereiche, Arbeitsor-ganisation und Qualifikationen.

Diese Vielfalt und Vielschichtigkeit der Ent-wicklungen mündete in eine enorme Aufbruch-stimmung bei den Pflegenden, in einen produkti-ven Prozess der inneren Entwicklung,hier verstan-den als beruflicher Reifeprozess und als Folgedieser öffentlich geführten Diskussion in eine poli-tisch gewollte »Qualifizierungsoffensive« für diePflegenden (Ministerium für Arbeit, Gesundheitund Soziales, NRW 1992; Mayntz 1989; Bock-Ro-senthal 1999). Die neue Qualität in den Bildungs-angeboten für Pflegende zeigte sich durch die Ein-richtung von Pflegestudiengängen (Sieger 2001).Damit war für die Pflege ein Ort gefunden,die kom-plexe Problemlage in eine systematische Diskus-sion um eine wissenschaftliche Fundierung derPflege, damit in einen Wissenschaftsaufbau undeine Wissenschaftsentwicklung zu überführen.

Der Blick über die eigenen Landesgrenzen zeigtsehr deutlich den Entwicklungsrückstand der deut-schen Pflege gegenüber einer Wissenschaftstradi-tion von fast einem Jahrhundert in den USA, aberauch in anderen europäischen Ländern wie Groß-britannien (1950–60er Jahren), Finnland, Däne-mark, Norwegen, Niederlanden (Mischo-Kelling u.Wittneben 1995,Moers u.Schaeffer, 1993,2000,undauch außereuropäischer Länder wie Island,die Phi-lippinen, Ägypten (El Fouly, König u. Sieger,1998)und die Türkei (Sieger 2000).

Im Zuge der politischen Anstrengungen, eineneuropäischen Hochschul- und Wirtschaftsraum zuforcieren, wird die Konfrontation mit dem Ent-wicklungsstand der Pflege in Europa für die deut-sche Pflege noch schärfer ausfallen. Denn es ist ge-plant und vom Europäischen Rat bereits beschlos-sen die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten unddynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraumder Welt zu machen. Dabei wird betont, dass der-artige Veränderungen nicht nur eine tiefgreifendeUmgestaltung der europäischen Wirtschaft, son-dern auch ein ambitioniertes Programm für die

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1.1 · Pflege auf dem Weg zur Wissenschaft15

Modernisierung der Sozial- und der Bildungssyste-me erfordert (Sieger u. Plenter 2005).

Somit müssen die Fragen, wie und durch wendie Berufsfelder in Zukunft zu besetzen sind, aufbreiter Ebene von Bildungsexperten,Wissenschaft-lern und Praktikern erörtert werden. Ziel aller Ver-ständigungsprozesse sollte dabei sein, den Pflege-beruf gemeinsam auf die zukünftigen Herausfor-derungen eines europäischen Bildungs- und Wirt-schaftsraumes vorzubereiten.

1.1.2 Impulse zur Entwicklung

Der Drang der Pflege,sich von den Denkstrukturenund der Wissenschaftssystematik der Medizin zudistanzieren, ist groß. Zu lange und allzu deutlichbestand die Ignoranz der Medizin gegenüber deninhaltlichen und therapeutischen Ansprüchen derPflege. Damit begründet sich ein erster Reflex zurEntwicklung einer eigenen Wissenschaft als Mo-ment der Negation der erlebten Verhältnisse. DiePflege kann beispielhaft beschreiben, worin genaudie neue Qualität der wissenschaftlich fundiertenPflege besteht, welchen Nutzen die Gepflegten ha-ben werden (Krohwinkel 1993). Aber ausgehendvon der positiven Kraft des Negativen,oder von der»negativen Macht des Faktischen« (Wenzel 1995,S. 1) werden Pflegende in die Lage versetzt, neueGedanken zu formulieren und neue Erkenntnis-wege zu beschreiten. Damit hat Pflege als wissen-schaftliche Disziplin die Chance, sich theoretischmit den Gegenständen zu beschäftigen, zu denensie sich bekennt.

In welcher Art und Weise Pflege sich zu einer ei-genständigen Disziplin entwickeln kann, ist auchabhängig davon, wie sie neben der Entwicklungund Akkumulation eigenen Wissens auch eine ge-sellschaftliche Machtposition zur Absicherung deseigenen Status erreichen kann (Wenzel 1995, S. 6).Gesellschaftliche Macht bedeutet in einer vom Wa-renaustausch bestimmten Gesellschaft Markt-macht.Für die Entwicklung der Pflegewissenschaftbedeutet das, neben der Erweiterung des »body ofknowledge« gleichermaßen auch in der Bearbei-tung der Praxisprobleme die eigene Funktion imgesellschaftlichen Kontext zu reflektieren (Wenzel1995, S. 7).

Eine wesentliche strukturelle Voraussetzung fürsolche Prozesse sind die Einrichtung der Studien-gänge und die Förderung von Pflegeforschung.4 In der Studiengangsentwicklung sind in den

letzten zehn Jahren Erfolge zu verzeichnen: ZurZeit gibt es ca.50 Studiengänge an Hochschulenin 15 Bundesländern mit den Schwerpunkten:Management, Lehrerinnen und Lehrern für dieunterschiedlichen Bildungseinrichtungen miteinem Diplom- aber auch mit dem Abschlussdes 1. Staatsexamens, pflegewissenschaftlicheStudiengänge mit einem Diplomabschluss aberauch mit dem Abschluss eines Masters und sog.grundständige Studiengänge, d. h. hier kannPflege direkt mit einer Hochschulzugangsbe-rechtigung studiert werden.Darüber hinaus be-steht inzwischen an mehreren Universitäten dasAngebot in Pflege zu promovieren.Neue Impulse zur Weiterentwicklung der Bil-dungsstrukturen gehen von Europa aus.Mit derErklärung von Bologna ( 1999) sollen die Vor-aussetzungen geschaffen werden, um bis zumJahr 2010 einen europäischen Hochschulraumzu realisieren.Zu diesem Zweck soll das Systemder akademischen Qualifizierungen strukturellverändert werden durch Einführung eines ge-stuften Systems von Studienabschlüssen wieBachelor (BA), Master (MA) und Doktorgrad(PhD),eines Leistungspunktesystems (Europe-an Credit Transfer and Accumulation System,ECTS) und durch die Modularisierung der Cur-ricula.Überträgt man diese hochschulpolitischen eu-ropäischen Entwicklungen auf die Pflegestudi-engänge so zeigt der internationale Vergleich dieSonderstellung der Pflegeberufe in den Struktu-ren des Berufs- und des Hochschulbildungssys-tems (EU Richtlinien 1977, 1992, 2001, Rennen-Allhoff u. Bergmann-Tyacke 2000, Sieger u.Plenter 2005).Um Kompatibilität im internatio-nalen Vergleich auch für die Pflegestudiengän-ge zu erreichen, sollte auch die Option eröffnetwerden die pflegerische Erstausbildung auf derHochschulebene zu erwerben. Einige Hoch-schulen haben diese Entwicklungen bereits auf-gegriffen und in Form eines dualen Studien-gangs kann sowohl der Abschluss einer Pflege-ausbildung als auch ein Bachelorabschluss inPflege erworben werden (Sieger 2001).

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1

6 Kapitel 1 · Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit

4 Ein zweiter wichtiger Impuls zur Erweiterung,zur wissenschaftlichen Fundierung des Wissensin der Pflege und zur Entwicklung von Konzep-ten für die Pflegepraxis bedarf es der For-schung. Auch auf diesem Gebiet sind enormeEntwicklungen zu verzeichnen. Von der For-schung über Pflege, hier insbesondere aus derPerspektive der Sozialwissenschaften in den60er–70er Jahren, zur Forschung in der Pflegeab den 80er Jahren. Anfangs durch einzelneForschungsprojekte (Bartholomeyczik 2000,Nauerth 2000), dann erweitert um die Qualifi-zierungsarbeiten der Studierenden und Pro-moventen der Pflegestudiengänge und Pfle-gende mit einem anderen Studienabschluss(beispielhaft Robert Bosch Stiftung 2002). In-zwischen haben sich mehrere pflegewissen-schaftliche Institute gegründet.Wesentliche Impulse sind durch einen neuenFörderschwerpunkt »Angewandte Pflegefor-schung« des Bundesministeriums für Wissen-schaft und Forschung (BMBF) zu erwarten. ImRahmen des Programms Forschung für denMenschen wird damit die Grundlage für einelange eingeforderte Pflege- und Hebammenfor-schung gelegt.Ziel der Förderung ist es,die Ent-wicklung der Pflegeforschung voranzutreibenund eine Infrastruktur aufzubauen. Vier For-schungsverbünde: Osnabrück-Hebammen,Bre-men (Verbund Nord), Halle (Verbund Mitte-Süd) und NRW mit insgesamt 25 Projekten ha-ben ihre Arbeit in 2004 aufgenommen. Dieübergeordneten Themen der Verbünde widmensich der Gesundheitsförderung im Geburts-prozess, der Optimierung des Pflegeprozessesdurch neue Steuerungsinstrumente, der Evi-dence-basierten Pflege chronisch Pflegebedürf-tiger in kommunikativ schwierigen Situationenund der Optimierung der Bewältigung chroni-scher Krankheit.(Schaeffer 2003, Sieger 2005b).

Das Nachvollziehen der Wissenschaftsentwicklungin den USA und Großbritannien,die Rezeption dervorliegenden Theorien, der Zugang zu den bislangvorliegenden Forschungsergebnissen hat die erstenEntwicklungsschritte der Pflegewissenschaft inDeutschland wesentlich bestimmt.Dabei kann zwi-schen mehreren Ebenen des Diskurses unterschie-den werden:

4 Zum einen geht es wissenschaftssystematischum die Position und die Bezüge der Pflege imWissenschaftssystem,

4 eines möglichen Ordnungssystems für den Auf-bau und die Struktur und zum anderen

4 um den Erklärungsgehalt pflegerischer Theo-rien für das Alltagshandeln

4 sowie um den Zugang zu den bereits vorliegen-den Forschungsergebnissen und deren Nut-zung in den bundesrepublikanischen Pflege-kontexten.

Die Diskussion zur wissenschaftssystematischenPositionierung zentriert sich um die Frage, inwie-weit sich die Pflege eher im sozialwissenschaftli-chen Paradigma denn im naturwissenschaftlichenansiedeln will. Dabei kristallisiert sich schon jetztheraus, dass dies kein entweder oder, sondern einsowohl als auch ist, obwohl es sicher einen Spagatbedeutet, die beiden sehr unterschiedlichen Er-klärungs- und Forschungsansätze zu verbinden(Bartholomeyczik 1999). Mit der Medizin teilt diePflege den unmittelbaren Körperbezug, allerdingsgeht der dem Pflegehandeln zugrunde gelegteHandlungsbegriff über die naturwissenschaftlichmedizinische Sichtweise weit hinaus.

Mit den Sozialwissenschaften verbindet diePflege die Bearbeitung des zentralen Gegenstands,die pflegerische Beziehung sowie die Problemstel-lungen, die sich aus der sozialen Kontextgebun-denheit von Pflege ergeben.Geht es um das Erlebenund Bewältigen von Einschränkungen und Krank-heit, ist der pflegerische Zugang z.B.gegenüber derPsychosomatik und der klinischen Psychologie zudifferenzieren.

Eine weitere eher wissenschaftstheoretischeDiskussion entzündete sich an der Frage, ob diePflege eher eine Praxiswissenschaft oder eher einetheoretische Wissenschaft sei.

Wenn Pflege stärker Praxisdisziplin ist, mussauch ihre Theoriebildung als Beitrag zur Problem-lösung verstanden werden und kann es sich nichtleisten, rein wissenschaftsimmanenten Fragennachzugehen (Moers in Schröck 1998).Die meistenPflegetheorien sind ungeeignet für eine Praxisdis-ziplin, sie dienen eher der Existenzberechtigungder Pflegewissenschaft denn der Pflegepraxis. Da-bei hat sich die Entwicklung universeller, umfas-sender Theorien als Sackgasse erwiesen. Sie eröff-

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1.1 · Pflege auf dem Weg zur Wissenschaft17

nen Perspektiven,doch sie lösen keine Probleme,sodie konfrontative Formulierung bei Schröck (1998,S. 22–35).

Demgegenüber stellen sich Dornheim u. a. dieFrage, »ob professionelle, theoriefundierte Pflege-praxis nicht mehr als Praxiswissenschaft, sondernals Handlungswissenschaft zu verstehen« (1999,S. 73) sei. Ausgangspunkt ist dabei ein erweiterterHandlungsbegriff,der mehr ist als kausal erklärba-re Handlung durch objektiv feststellbare und inter-subjektiv nachprüfbare Ereignisfolge, sondernauch die bewusst initiierte,zielorientierte Tätigkeit(Seiffert u. Radnizky in Dornheim et al. 1999, S. 74)einschließt. Ein solcher Handlungsbegriff umfasstdie Aspekte der Selbstdeutung und die normativeHandlungsbegründung durch das handelnde Sub-jekt selbst (Görres 1998). Die komplexen subjekti-ven Bedeutungen von Krankheit und Pflegebe-dürftigkeit bedürfen entsprechend vielfältiger Er-kenntniswege. Pflegewissenschaft muss diesePhänomene in ihrer Vielfalt sowohl in ihrer Praxis-als auch in ihrer Theoriedimension aufnehmen,be-schreiben und auch verstehbar machen.Ziel ist alsoeher eine, die Pflegepraxis reflektierende, analysie-rende und auf dieser Grundlage handlungsleitendePflegewissenschaft (Dornheim et al. 1999, S. 74).

Der zweite Aspekt,ob es sich eher um eine theo-retische Wissenschaft oder um eine praktische han-delt,wird von den Autorinnen dahingehend reflek-tiert, dass offen ist, ob eine solche Unterscheidungüberhaupt sinnvoll ist,da auch die praktischen Wis-senschaften sich den wissenschaftlichen Standard-forderungen unterwerfen müssen, wie »auf deranderen Seite theoretische Wissenschaften ohneprofessionelles Denken und Handeln nicht aus-kommen« (Dornheim et al. 1999, S. 78).

Somit erscheint es zum Jetzigen Zeitpunktsinnvoll und angebracht die Entwicklung von ge-genstandsbezogenen Theorien mit geringer Reich-weite, wie sie sich als Ergebnis konkreter For-schungsfragen entwickeln lassen, zu favorisieren.Sie sollten der klinischen Anwendung und der Lö-sung von Praxisproblemen dienen. Die pflegewis-senschaftliche Theoriebildung allerdings aus-schließlich aus der Pflegepraxis heraus normativ zuentwickeln und weitgehend auf innerwissenschaft-liche theoretische Diskurse zu verzichten, ist wedersinnvoll noch möglich. Theorien dienen, nebendem Gewinn an Wissen auch der kritischen Aus-

einandersetzung mit anderen Theorieperspektiven(Friesacher u. Rux-Haase 1998; Moers et al. 1997).Diese kritische und wenn nötig auch kontroverseDiskussion muss in der pflegewissenschaftlichen»scientific community« ihren Platz und ihren Kul-turrahmen finden (Stemmer 2004).

Notwendig wird somit neben der problembe-zogenen Praxisforschung eine Verknüpfung vonTheoriediskussion und Forschung zu erreichen(Moers u. Schaeffer 2000, S. 62). Dieser Schritt sollnach dem Vorliegen der Forschungsergebnisse ausden eingangs erwähnten Pflegeforschungsverbün-den eingeleitet werden.

Eine Ordnung des Gebäudes Pflegewissen-schaft liegt zur Zeit noch nicht vor. Hilfreich er-scheint aber eine Systematik pflegerischen Wissenswie sie von Kim 1990,2000) vorgeschlagen wird: Siegliedert in ihrer Typologie pflegerisches Wissen invier Bereiche: »Patient«, »Patient – Pflegende«,»Praxis« und »Umwelt«.»The typology is a concep-tual map upon which the disciplin can plot its phe-nomena of interest in a systematic, organized fash-ion in order to develop scientific knowledge« (Kim2000, S. 42). Da gerade die Pflegende – Patient In-teraktion das zentrale Medium ist über das der Pfle-gebedürftige von den Pflegenden Unterstützung er-fährt, in einem solchen Prozess Patientenerwar-tungen in professionelle Handlungsmuster trans-formiert werden, stellt dieser Bereich den Kern derPflege dar (Deutscher Pflegerat 1998, Sieger 2001).Ihre Zentrierung in dem Typologiemodell von Kimentspricht dieser Einschätzung.

Der Zugang zu den aktuellen Forschungsergeb-nissen wird neben dem Interesse an Ergebnissen alsVoraussetzung weiterer Forschungsvorhaben inder Regel bestimmt von ihrem Nutzen für die Pfle-gepraxis. Dabei ist es das Ziel, das praktische Han-deln auf evidence basierenden Forschungsergeb-nissen zu fundieren. Mit evidence, als englischerBegriff ist dabei gemeint »Fakten und Belege, dieeinen »nicht evidenten« (augenscheinlich, offen-sichtlich … Anm. der Autorin) Sachverhalt erhär-ten oder widerlegen«(SVR 200/2001, S. 135).DiesePrinzipien und Regeln einer,aus der Medizin stam-menden,evidence ist im Laufe der Zeit von der Pfle-ge und anderen Gesundheitsberufen weitgehendübernommen worden. Dabei ist eine wichtige Be-griffserweiterung festzustellen: EBN (evidence ba-sed nursing) wird eher als Prozess definiert, … »in

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1

8 Kapitel 1 · Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit

dem Pflegende klinische Entscheidungen treffenauf der Basis der besten vorliegenden Forschungs-ergebnisse sowie ihrer eigenen klinischen Erfah-rung, der Vorlieben der Patienten und den vorhan-denen Mitteln« (Cullum 2000 in Grypdonck 2004,S. 35). EBN erfordert ein aktives Informationsma-nagement und zwar in der Hinsicht, dass sich Pfle-gende um aktuelle und relevante Informationenaus unterschiedlichen Erkenntnisquellen und ver-schiedenen Forschungsarten bemühen Dieses ge-wonnen Wissen muß systematisch bewertet undgenutzt werden (SVR 200/2001, S. 137, Grypdonck2004,S.40).Als besonders gelungene Beispiele sindhier die nationalen Expertenstandards zu nennenund auch die ganze Bandbreite um die Qualität bzw.Klassifikation der jeweiligen Evidence lässt sich ander Diskussion um die Bewertung der Forschungs-ergebnisse gut nachvollziehen (Deutsches Netz-werk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (Hrsg.)2004a,b,c, 2005, SVR 200/2001)

Damit ist der Grundstein gelegt, um das Ziel,Pflegehandeln wissenschaftlich zu fundieren,zu er-reichen und so hoffentlich auch, gemessen an dergesellschaftlichen Relevanz ihrer Forschungser-gebnisse und des Pflegehandelns in der Praxis, dengesellschaftlichen Status zu stärken.

1.1.3 Pflegewissenschaft und Alltagshandeln

Im Anwendungsbereich gibt es erhebliche Schwie-rigkeiten. Die Pflegenden weisen nur in geringemUmfang Begründungskompetenz auf (Käppeli1999, S. 155). Gemeint ist eine Kompetenz, die nichtnur auf eine reine Erläuterung von Handlungsab-läufen zielt, sondern theoriegelenkte Bezüge her-stellt und falls auffindbar auch Forschungsergeb-nisse berücksichtigt. In der Pflegepraxis geht nichtimmer das Denken dem Handeln voraus (Käppeli1999), das Gedankenmuster in der Problemwahr-nehmung und Problemlösung folgt nicht primärpflegerischen Zugängen. Die Wahrnehmung undBearbeitung einer komplexen Pflegesituation folgteher monokausalen, häufig medizinischen Denk-kategorien, als mehrdimensional die Ebenen desPflegeanspruchs auszuweisen, den Zielen der Pfle-ge verpflichtet zu sein (Felder u.Kerle 2001). Befragtman die Pflegenden direkt nach dem Handlungs-

repertoire und nach ihren Vorstellungen, wie siekomplexe Pflegesituationen wahrnehmen und wel-chen Begründungen ihre Interventionen folgen, soist ein valides Erfahrungswissen festzuhalten(Knigge-Demal u.Sieger 1996; Käppeli 1999).Es be-stimmt aber offensichtlich in der Situation nichtdas Pflegehandeln.

Erklärt wird dies mit einer Praxis,die auf der ei-nen Seite aktive Schritte zur Deprofessionalisie-rung des Berufes unternimmt, z. B. weitergehendeFragmentierung der Arbeit, Einsatz von Hilfskräf-ten etc. und auf der anderen Seite theoriegeleitetesund fundiertes Fachwissen einfordert, z. B. die An-forderungen im Pflegeversicherungsgesetz (SGBXI§ 80, MDS 2000), aber auch die Anforderungen derneuen Berufsgesetze Pflegehandeln wissenschaft-lich zu fundieren (KrPflG und KrPflAPrV 2003).Der Strukturumbau im Gesundheits- und Sozial-wesen führte darüber hinaus zu erweiterten Hand-lungsfeldern und komplexeren Handlungsprofilenfür die Pflegeberufe (Sieger 2001). Dazu ist die Ver-änderung des Pflegebedarfs sowohl qualitativ wiequantitativ und damit ein steigender Bedarf anprofessioneller Pflege in allen Tätigkeitsfeldern undbei allen Zielgruppen zu verzeichnen.

Anknüpfend an die eingangs skizzierten Prob-lemlagen wird deutlich, dass das derzeitige Profilden immer komplexer werdenden Pflegesituatio-nen und Pflegebedürfnissen nicht mehr entspricht.Zu beachten ist auch, dass die Grenzen zwischenambulanten und stationären Sektoren sich zuneh-mend verschieben,die Übergänge fließend sind,so-mit Konzepte gefordert sind,die die Klienten in denMittelpunkt der Organisation der Arbeit stellen..

Die Reduzierung der Gesundheitspolitik auf dieKrankenversorgung, wie es das Gutachten desSachverständigenrates 2000/2001 eindrucksvollbelegt, führt dazu, dass Bereiche von Prävention,Gesundheitsförderung sowie zentrale Aspekte desgesellschaftlichen Umgangs mit Gesundheit undKrankheit nicht genügend Berücksichtigung fin-den.

Die zunehmende Orientierung, z. B. der Kran-kenkassen an Markt- und Wettbewerbsprinzipienzeigen einen grundlegenden Paradigmenwechselim Versorgungssystem auf,der kritisch zu betrach-ten ist: Dieser schleichende Paradigmenwechsel hinzu einer ökonomischen Ausrichtung als Wertmus-ter führt zu einer Stabilisierung der von Marktme-

Page 25: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

1.2 · Lern- und Handlungsfeldorientierung in den Pflegeausbildungen19

chanismen beherrschten und nach kurzfristigenMaßstäben strukturierten Verwaltung des Man-gels, insbesondere in der Pflege. Sollte die Gesund-heitspolitik in der Tendenz weiter der aktuellenWirtschaftspolitik untergeordnet werden, so sindnicht nur die Klientel, sondern auch die im Ge-sundheitswesen abhängig Beschäftigten, zu demdie Pflege gehört, unmittelbar betroffen.

Zudem gewinnt man den Eindruck dass die Ab-solventen der neuen Studiengänge, und hier insbe-sondere die Experten und Expertinnen für Pflege-wissenschaft, nicht unmittelbar in den bestehen-den Gesundheitseinrichtungen einen adäquatenPlatz finden. Noch viel zu selten werden Pflegewis-senschaftlerinnen und Pflegewirtinnen mit spezifi-schen Projekten einer Pflegedirektion beauftragt(beispielhaft Bredfeld 2002). Demzufolge ist eineSystematik,das Beherrschen wissenschaftlicher Ar-beitsmethoden um im Sinne von evidence basier-tem Handeln im Pflegealltag zu agieren deutlich er-schwert. Dieses Transferproblem muss vordring-lich gelöst werden und zwar primär im Sinne einerPatientenversorgung nach dem neuesten Stand derWissenschaft.

1.2 Lern- und Handlungsfeld-orientierung in denPflegeausbildungen

1.2.1 Curriculare Entscheidung

Da zurzeit die beiden Prozesse, die der Wissen-schaftsentwicklung und der Neubestimmung pfle-gerischer Ausbildung aufgrund der oben skizzier-ten Veränderungen parallel verlaufen, kann in dercurricularen Arbeit nicht unmittelbar auf eine wis-senschaftlich fundierte Antwort aus der Pflegewis-senschaft zurückgegriffen werden. Aber es liegenausreichend Arbeiten für eine zukunftsorientiertePflegeausbildung vor (Ertl-Schmuck 2000; Oelke etal. 2000; Sahmel 2001; Sieger 2001; Mischo-Kellingu.Wittneben 1995).

Lernfeldorientierung ist eine curriculare Vo-raussetzung,um die gesamte Ausbildung nach Auf-gabenstellungen und Handlungsabläufen zu konzi-pieren (Dubs 2000). Dies kann in diesem Beitragnicht geleistet werden.Somit kann auch die These 1in ihren Konsequenzen für den Aufbau und die Ge-

staltung des Curriculums lediglich beispielhaft be-legt werden.Allerdings halte ich einen curricularenAnsatz, der vom realen Erfahrungsbezug ausgeht,für die Pflegeausbildungen als entscheidende Vor-aussetzung, um das zukünftige berufliche Profil zukonturieren und auch den Widerspruch zwischendem Alltagshandeln und dem eigenen und kollegialwenig genutzten Erfahrungswissen durch eine cur-riculare Einheit von schulischer und berufsprakti-scher Ausbildung produktiv zu bearbeiten.

1.2.2 Didaktische Orientierung

In Konsequenz zur Lernfeldorientierung bei dercurricularen Entscheidung sollte auch die didakti-sche Entscheidung für eine Bereichsdidaktik in Ab-grenzung zur Didaktik des Faches sprechen, bzw.sich für eine Didaktik des Berufsfeldes Pflege ent-schieden werden. Da diese Didaktik zurzeit nochnicht in ausgereifter Form vorliegt, wird hier derBegriff Pflegedidaktik gewählt (Sieger 2001,S. 88 ff.).

Um aber bereits heute schon spezifische didak-tische Orientierungen herauszuarbeiten, die hilf-reich erscheinen, um den Lehrenden und Lernen-den einen Zugang zu den spezifischen Aufgaben-,Problem- und Sachbereichen der Pflegeberufe zuverschaffen, muss eine Entscheidung darüber ge-troffen werden, nach welchen didaktischen Krite-rien ausgewählte Bereiche der Wirklichkeit in Lern-gegenstände für Unterricht und Ausbildung über-führt werden können (Kaiser u. Kaiser 1998 inSieger 2001, S. 89 ff.). Der erste Filter zur Wahrneh-mung der Wirklichkeit erwächst aus der curricula-ren Entscheidung für das Lernfeldkonzept. Damitist der Blick auf die Handlungsfelder gerichtet, aufbestimmte Aufgabenkomplexe, aber auch auf be-deutsame Handlungssituationen, die didaktischbearbeitet werden sowohl im Handlungsfeld selbstals auch durch den Prozess der Transformation inschulische Lernfelder (Bader u. Schäfer 1998).

Für die Pflege präferiere ich aufgrund des auf-gezeigten Entwicklungsstandes die folgenden di-daktischen Prinzipen:4 Wissenschaftsorientierung,4 Handlungsorientierung und Handlungsbefähi-

gung,4 Situationsbezogenheit.

Page 26: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

1

10 Kapitel 1 · Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit

Das Prinzip der Wissenschaftsorientierung fordertein, pflegerische Themen auf den Kenntnisstandder Pflegewissenschaft zu beziehen. Obwohl dieserBezug unter dem didaktischen Fokus nicht un-problematisch ist (Abbilddidaktik), ist er doch fürdie Pflegedidaktik absolut erforderlich, um Lern-prozesse an Inhalten und Verfahren der Wissen-schaft auszurichten (Klafki 1994).Das kann im Ein-zelnen heißen:4 Neben dem inhaltlichen Aspekt einen Zugang

zu den Verfahren und Methoden zu verschaffen.4 Dazu gehört aber auch die Reflexion der Mög-

lichkeiten und Grenzen von Wissenschaft (Kai-ser u. Kaiser 1998). Der kritische Umgang mitWissenschaft verlangt,sich selbst eine Meinungzu bilden, mit der sinnlichen Alltagserfahrungabzugleichen und unter Umständen Gegenar-gumente zu dem Dargestellten zu finden (Sie-ger 2001, S. 93 ff.)

4 sowie mit absoluter Priorität zu lernen, in wel-cher Art und Weise, bis zu welchem Grad derDurchdringung pflegetheoretische Kenntnisseund Forschungsergebnisse in das Pflegehan-deln integriert werden können.

Wissenschaftsorientierung als didaktisches Prin-zip verdeutlicht aber auch die Verantwortung derLehrenden, mit einer hohen Sensibilität die Ent-wicklungen und Ergebnisse der Pflegewissenschaftzu begleiten. Über allgemeine und fachspezifischewissenschaftspropädeutische Übungen kann gera-de in der Ausbildung der Dialog mit der Wissen-schaft eingeleitet werden. Gemeint ist insbesonde-re der methodische Zugriff zur Identifizierung undWeiterentwicklung des Pflegewissens:4 Begründetes und systematisches Vorgehen,4 Arbeiten mit Texten,4 lernen, Fragen zu stellen,4 die jeweiligen, oft noch vagen Ausgangsfragen

schrittweise zu differenzieren und zu präzisie-ren, sodass sie sich schließlich methodisch un-tersuchen bzw. diskutieren lassen. Oder auch

4 Beobachtungen nach bestimmten Gesichts-punkten,

4 gezieltes Erkunden,4 Experimente durchführen,4 Texte unter bestimmten Aspekten vergleichen,4 Mitschülerinnen,Berufspraktikerinnen,Exper-

tinnen gezielt befragen,

4 verschiedene Rollen durchspielen,4 eine Sache aus verschiedenen Perspektiven dar-

stellen.

Die Lernenden können in abgestuften Graden indie Lage versetzt werden, sich eben dieser Wissen-schaftsbestimmtheit bewusst zu werden und dieKenntnisse kritisch in das eigene Pflegehandelnaufzunehmen.

Zum Prinzip der Handlungsorientierung: Hierist gemeint, dass Lernende auf Situationen vorzu-bereiten sind, in denen später gehandelt werdensoll,während Handlungsbefähigung den Wandel inGesellschaft und Pflege im Blick hat,was am bestengeeignet erscheint, der Komplexität der Berufssi-tuationen gerecht zu werden.

Da sich Handeln stets in konkreten Situationenkonstituiert und umgekehrt auch die Eigenart einerSituation das konkrete Handeln bestimmt,ist es na-heliegend, das zu erlernende Handeln in der Pflegein den Kontext der Berufssituation zu stellen oderauch aus der Situation heraus zu generieren. Dem-zufolge bietet es sich an, als drittes Prinzip das derSituationsorientierung aufzugreifen.

Die Situationen sind in ihrer typischen Struk-tur objektiv (Kaiser 1985). Kaiser knüpft diese Ty-pisierung an Merkmale wie die Rollenstruktur unddie Handlungsmuster der agierenden Menschen,den Situationszweck und die Ausstattung. Solcheine Charakterisierung unterstreicht die Tatsache,dass sich das Individuum beim Handeln an vor-findlichen Gegebenheiten ausrichtet,diese in ihremZusammenhang und in ihrer Wirkung kennenmuss, um erfolgreich handeln zu können (Kaiser1985, S. 37 ff.).

Diese Merkmale können nur zum Zwecke derAnalyse getrennt werden, in der konkreten Situa-tion sind sie in Beziehung zu bzw. in der Abhängig-keit voneinander zu sehen. Diese konstitutivenMerkmale sind stets die gleichen, sie stellen sichaber in unterschiedlichen Ausprägungen dar. So-mit beruht auch das Handeln in Situationen nichtauf Gesetzen, sondern eher auf Wahrscheinlichkei-ten.Vom Handelnden erfordert dies die Abwägungverschiedener Gesichtspunkte, unter denen die Si-tuation betrachtet werden kann,sowie das Erfassender Aspektvielfalt einer Situationskonstellation unddamit die Aktivierung von unterschiedlichem, si-tuationsspezifischem Wissen (Kaiser 1985, S. 43).

Page 27: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

1.3 · Von der Pflegesituation zum Lernfeld111

Gelenkt durch dieses Verständnis von Situa-tionsorientierung lassen sich die konstitutivenMerkmale zur Bestimmung von Pflegesituationenherausarbeiten:4 Die objektiven Pflegeanlässe, die den Pflegebe-

darf des Menschen begründen.4 Die Rollenstruktur, die bestimmt ist von den

Erwartungen, die in diesem Kontext die/der zuPflegende und die Pflegeperson aneinanderstellen.

4 Die Interaktionsstrukturen und das Interak-tionsgefüge, die in diesem Kontext das Hand-lungsmuster entwerfen.

4 Die Tätigkeitsfelder, das soziale Setting, undihre kontextuelle Einbettung, die die Ausstat-tung der jeweiligen Pflegesituation lenken (Mi-nisterium für Frauen, Jugend, Familie und Ge-sundheit NRW 1999; Knigge-Demal u.Hunden-born 1999).

1.3 Von der Pflegesituation zum Lernfeld

1.3.1 Ziele

Da Ausbildung immer auf Zukunft gerichtetes Han-deln ist, müssen die Ergebnisse dieser Überlegun-gen die aktuellen gesundheits- und berufspoliti-schen Entwicklungen antizipieren und mit Hilfedes curricularen und didaktischen Handwerks-zeugs bereits heute die zukünftig Pflegenden pri-mär aus der Perspektive der Pflege befähigen:4 über ein Verstehen von Pflege zu verfügen, das

eine pflegespezifische Analyse der Pflegesitu-ation erlaubt;

4 eine Pflegesituation kriteriengelenkt zu bewer-ten;

4 zur angemessenen Intervention die zur Verfü-gung stehenden Erfahrungen reflektiert zu nut-zen und deren Wirkungen zu evaluieren. Aberauch befähigt werden, sich Zugang zu For-schungsergebnissen zu verschaffen und dieseErkenntnisse in den Pflegealltag einzubringen;

4 den Kontext, in dem Pflege stattfindet, zu re-flektieren und vor dem Hintergrund der be-rufs- und gesellschaftspolitischen Auseinan-dersetzungen zu bewerten.

Da noch kein empirisch erhärteter Pflegebegriffvorliegt,man aber in der Bildungsarbeit von einemgemeinsamen Verständnis von Pflege ausgehenmuss, wird hier ein Auszug aus dem ersten Beitragder Pflege zur Gesundheitsberichterstattung fürden Sachverständigenrat der konzertierten Aktionim Gesundheitswesen zugrunde gelegt.Dieser Textbringt einen breiten Konsens des Berufsfeldes Pfle-ge zum Ausdruck.(Deutscher Pflegerat 1998; s.auchMüller 2001):

7 Pflege ist eine Dienstleistung für den pflegebedürf-

tigen Menschen in seinen verschiedenen Lebens-

situationen. Sie wird erbracht mit dem Ziel, die Selbst-

ständigkeit des Pflegebedürftigen zu erhalten, so

bald als möglich wieder herzustellen oder diesen zu

befähigen, mit Einschränkungen in der eigenen Le-

bensgestaltung umzugehen bzw. trotz der Einschrän-

kungen neue Lebensqualitäten für sich zu entdecken.

Die Entscheidungsfähigkeit und Handlungsautono-

mie des Pflegebedürftigen gilt es zu sichern, seine

emotionale Betroffenheit zu verstehen.

7 Die Ziele der Pflege erschließen sich aus der Aus-

einandersetzung zwischen gesellschaftlichen An-

forderungen und dem Bedarf an kompetenter Hilfe

in den Lebenssituationen, in denen die eigene Kom-

petenz, die eigenen Kräfte nicht ausreichen, um

Gesundheitsprobleme sowie körperliche und psychi-

sche Einschränkungen zu bewältigen.

7 Ziele und Interventionen der Pflege sind jeweils aus-

gerichtet auf die individuelle Situation eines Men-

schen und auf die jeweils spezifische Problemlage.

Durch die Begleitung in der Auseinandersetzung, Be-

arbeitung und möglichen Bewältigung von Krank-

heitsprozessen schaffen die Pflegenden Entlastung

für das Individuum und ermöglichen eine Verbin-

dung von Individuum und Gesellschaftlichkeit. Pfle-

gerische Konzepte werden entwickelt mit und nicht

gegen den Willen und die Bedürfnisse des Individu-

ums. Dadurch wird die Compliance zwischen Betrof-

fenen und Pflegenden entwickelt und gestärkt – die

Hilfe wird effizienter.

7 Pflegerische Arbeit wird sichtbar im unmittelbaren

Handeln an der Person und in der handwerklichen

Unterstützung des Pflegebedürftigen bei der alltäg-

lichen Lebensbewältigung. Dieser sichtbare Anteil

pflegerischer Arbeiten leitet sich ab aus dem Aufbau,

der Entwicklung und Gestaltung einer professionel-

len Beziehung als Kern pflegerischer Arbeit.

Page 28: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

1

12 Kapitel 1 · Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit

7 Hilfe und Unterstützung werden dann notwendig,

wenn die Selbstpflegekompetenz eingeschränkt ist

durch körperliche Beeinträchtigung, durch Schmerz,

Funktionseinschränkungen, durch psychische Verän-

derungen und/oder Prozesse des Alterns oder durch

besondere Lebensereignisse. Dabei wird häufig das

kulturell vermittelte und gelernte Verhältnis von

Nähe und Distanz überschritten. Diese zeitweise not-

wendig werdenden Grenzüberschreitungen können

nur mit der Notwendigkeit, unmittelbar Hilfe zu leis-

ten und weitere Schädigungen zu verhindern, sowie

durch eine berufsethische Verpflichtung dem Men-

schen gegenüber legitimiert werden.

7 Um überhaupt angemessene Hilfen anbieten zu

können, brauchen die Pflegenden Informationen

über die Fähigkeiten des Pflegebedürftigen, seine

Problemsicht, über seine eigenen Ziele auf dem Weg

zur Gesundheit, über seine Vorstellungen von Lebens-

qualität und auch über seine Wahrnehmung des

Bedarfs von Pflege. Dieser Position des Pflegebedürf-

tigen stehen das Wissen über Gesundheit und Krank-

heit, über Gesundungsbedingungen und Gesun-

dungsprozesse sowie das Können und die Fertigkei-

ten, den Pflegebedürftigen zu pflegen und dessen

Belastungen zu mindern, gegenüber. Das Span-

nungsverhältnis von Bedürfnisäußerung und profes-

sionell bewertetem Bedarf bestimmt dieses dialogi-

sche Verhältnis.

7 Vor diesem Hintergrund lässt sich das Spezifische der

Pflege darin sehen, dass sich pflegerisches Handeln

im Aushandlungsprozess zwischen den fachlichen

Notwendigkeiten, den professionellen Ansprüchen

und den Zielen und Möglichkeiten des Betroffenen

entwickelt. Diese Balance zwischen Förderung zur

Selbständigkeit, Akzeptanz der Lebenssituation und

den Notwendigkeiten pflegerischer Unterstützung

gilt es vor dem Hintergrund der körperlichen, geisti-

gen und seelischen Möglichkeiten und der sozialen

Konstellation des Individuums zu beherrschen. Auf

der Basis dieser professionellen Beziehung begleiten

und unterstützen die Pflegenden Menschen in der

individuellen Auseinandersetzung mit Krankheit, Be-

hinderung und Leiden bis hin zum Sterben und inter-

venieren im Notfall, ohne sich des Einverständnisses

vergewissern zu können, zum Wohle des Betroffenen.

7 Diese Fähigkeit, konstruktiv und partnerschaftlich

Angebote auszuhandeln sowie das Recht auf selbst-

bestimmte Entscheidungen zu akzeptieren, bezieht

sich gleichwertig auf die Zusammenarbeit mit An-

gehörigen bzw. entsprechenden Bezugspersonen der

Pflegebedürftigen.

7 Um die Zusammenarbeit mit den Pflegebedürftigen

systematisch, begründet und reflexiv zu gestalten,

arbeiten die Pflegenden mit der Prozessmethode.

Ausgehend von einer Erhebung des jeweils spezifi-

schen Pflegebedarfs wird pflegerisches Handeln zie-

lorientiert geplant, durchgeführt, dokumentiert und

evaluiert. Damit ist der pflegerische Arbeitsprozess

für alle an der Behandlung und Betreuung Beteiligten

nachzuvollziehen.

7 Die Form des Zusammenwirkens von Pflegendem

und Gepflegtem bringt u. U. erhebliche psychosoziale

Belastungen für die Pflegenden mit sich und beinhal-

tet auch die Gefahr, neue psychische Abhängigkeiten

zu schaffen. Um sich selbst vor Gefährdungen und

psychosozialen Verletzungen zu schützen, muss die

Pflegekraft befähigt werden, diese berufliche Bezie-

hung zu reflektieren und aufzuarbeiten. Damit wird

sie auch in die Lage versetzt, mögliches abhängiges

Verhalten frühzeitig zu erkennen und entsprechend

zu handeln.

1.3.2 Eine begleitete Pflegesituation im Hospiz

Die Einschätzung der Pflegenden zum vordringlichen Pflegebedarf

Vor Eintritt in die zu beobachtende Pflegesituationdurch die Lehrerin erläutert die verantwortlichePflegekraft den vordringlichen Pflegebedarf aus ih-rer Perspektive nach dem eigenen Ordnungssche-ma. In einem zweiten Schritt wird dargestellt, wel-che pflegerische Intervention in dieser Situation imVordergrund steht und welche Ziele damit verfolgtwerden:

Zum PflegebedarfFrau G., Geburtsjahr 1914, ist seit 14 Tagen im

Hospiz. Die medizinischen Diagnosen vermer-

ken Darm-CA, Refluxösophagitis, IIeus, Tumor-

anämie. Sie hat 30 kg an Körpergewicht verlo-

ren, demzufolge ist sie kachektisch, ist aber bei

Bewusstsein und klar orientiert.

Beispiel

Page 29: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

1.3 · Von der Pflegesituation zum Lernfeld113

In der Körperpflege ist darauf zu achten, dass

Frau G. eine Jod- und Cortisonallergie hat. Sie

hat ein Dekubitalgeschwür im Analbereich und

Beinödeme.

Was die Bewegung betrifft: Frau G. kann einige

Schritte im Zimmer laufen, sitzt sonst im Roll-

stuhl und erhält Schmerzmittel.

Zum Essen werden ihr kleine Portionen ange-

boten. Beim Ausscheiden liegen die Probleme

bei dunklen und übel riechenden Durchfällen.

Zur sozialen Situation: Frau G. war über ein Jahr

alleine zu Hause. Nach ihren eigenen Aussagen

war es schrecklich, es gab nichts zu essen, das

Waschen fiel schwer, sie erbrach häufig – Mise-

rere.

Im Mai sei sie operiert worden in R. – sie wollte

eigentlich nach M. – habe dort als Kranken-

schwester gearbeitet, aber das ging so schnell,

sie konnte das nicht beeinflussen. Die »Fürsor-

gerin« hat sich gekümmert, dass sie hierher ins

Hospiz kam – »hier ist ein freundlicher Ort, ich

fühle mich im siebten Himmel. Alle Pflegenden

habe ich gern – ich lasse mich von den Händen

gern anfassen – das ist wichtig, wer mich anfas-

sen darf… Ich gehöre zu den Schönstätter

Schwestern – habe alle meine Schlechtigkeiten

Pater K. mitgeteilt – habe gebetet, dass er mich

an einen sicheren Ort bringt, wo ich mich hin-

kuscheln kann – das ist so wichtig.«

Frau G. beschäftigt sich mit den Besuchen der

Verwandten, sie will nur bestimmte Menschen

als Besuch. Sie wirkt nachdenklich und traurig,

wenn sie von den Kindheitserinnerungen be-

richtet.

Es existiert eine Patientenverfügung.

Geplantes Pflegehandeln

In der beobachteten Pflegesituation soll Frau G.körperlich versorgt,falls möglich geduscht werden.Wichtig ist für die Pflegende den Stand des Deku-bitalgeschwürs festzuhalten,eine entlastende Lage-rung zu erreichen und die Wünsche nach der rich-tigen Kleidung (Angora) aufzugreifen und diesenWünschen zu entsprechen.

Beobachtung während der Pflegesituation

Frau G.ist wach und ansprechbar,sie ist in der Lage,sich selbst mit leichter Hilfe auf die Bettkante zu

setzen und kann sich aufrecht halten,sie sitzt sicher.Beim Aufstehen braucht sie Hilfe,sie wird beim Ge-hen von hinten gestützt und läuft dann über denFlur ins Bad.Auf dem Flur registriert sie ein Teelichtvor einer anderen Tür – dies ist ein Zeichen dafür,dass ein Gast dieses Hauses starb – spricht abernicht darüber.

Bei der Körperpflege seift sie sich mit sicherenBewegungen Hals, Ohren und Brust ein und bittetdie Pflegekraft, ihr den Rücken und die Beine undFüße fest zu »rubbeln«. Beim Aufstehen sucht sieHalt an dem Griff, steht sicher, nimmt den Dusch-kopf in die Hand und braust sich selber ab. Dabeischaut sie aufmerksam an sich herunter und kom-mentiert: »Jetzt ist die Katzenwäsche vorbei,das warschrecklich.Ich bin schon voller geworden,fröhlicheMenschen um mich herum machen viel aus.«

Die Pflegekraft begutachtet die geschädigte Stel-le am Steiß, Frau G. will wissen, ob eine Besserungeingetreten ist. Die Stelle wird pflegerisch versorgt.Frau G. putzt sich selbständig die Zähne und wähltkritisch die Creme fürs Gesicht, die sie selbständigaufträgt und »einklopft«. Beim Kämmen freut siesich darüber, dass die Haare nicht mehr ausgehenund wertet dies als Zeichen, dass es besser wird. Siewählt die Kleidung sorgfältig aus, bindet sich einHalstuch um, legt Schmuck und Brille an und ach-tet insbesondere bei den Strümpfen darauf,dass sienicht einschnüren wegen der Beinödeme.

Zum Frühstück benennt sie detailliert ihreWünsche, isst mit Lust und erbricht, zumindestwährend des Beobachtungszeitraums, nicht.

Reflexion nach der Pflegesituation

Für die Pflegende war dies eine typische Pflegesi-tuation. Frau G. lobt immer gern und verbreitetauch für Pflegende gute Stimmung, sie ist dankbarund kann sich erfreuen,z.B.an der Natur (Blick ausdem Fenster). Die eigenen pflegerischen Intentio-nen konnten umgesetzt werden.

Analyse der Pflegedokumentation

Hier ist festzustellen, dass die eindrucksvollen kla-ren Aussagen zur Selbstbestimmung von Frau G.nicht erscheinen. Aussagen zur Mobilität, zurSelbstversorgungsfähigkeit sind nicht extra erho-ben, obwohl sie deutlich den Pflegebedarf bestim-men. Zum Kommunikationsverhalten oder auchdem Kontaktbedürfnis und sozialen Netz finden

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1

14 Kapitel 1 · Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit

sich keine Informationen, obwohl diese Frau G.stark beschäftigen. Veränderungen im Ausschei-dungsverhalten, der Stuhlqualität sind nicht nach-vollziehbar.

1.3.3 Didaktische Bearbeitung

Charakteristika der Situation

Eine mögliche didaktische Bearbeitung einer sol-chen Situation in einem Lernfeld der Pflege folgtdem oben dargelegten Verständnis von Pflege undverpflichtet sich der prinzipiellen Wertorientie-rung, alles pflegerische Handeln auf den individu-ellen Bedarf des Individuums zu beziehen.

In der Charakterisierung der Situation (Knig-ge-Demal 1999) ergeben sich die objektiven Pflege-anlässe dadurch, dass Frau G. selbst den Wunschgeäußert hat, an »einen sicheren Ort« gebracht zuwerden. Die Erwartungen, die die Pflegenden undFrau G. aneinander stellen, können anhand dieserSituation gut herausgearbeitet werden,z.B.»ich las-se mich von den Händen gern anfassen«.Die klarenWünsche und Vorstellungen von Frau G. und ihreEntscheidungen für die eigene Lebenssituation,denAlltag, bestimmen das Interaktionshandeln. Be-merkenswert ist ebenfalls die Fähigkeit von FrauG., Lebensqualität zu erleben und als solche auszu-weisen.

Das soziale Setting ist bestimmt durch die all-gegenwärtige Präsenz des Todes,mit dem sich Pfle-gende und Gepflegte auseinander setzen müssen.

Was sind die Aufgaben-, Problem- und Sachbereiche der Pflege in dieser Situation?Pflegehandeln in der körperlichen Versorgung

Aus der Perspektive der Pflegenden können detail-liert pflegerische Fertigkeiten herausgearbeitetwerden, sei es in der Unterstützung bei der Mobili-sation, sei es bei der Körperpflege und beim An-kleiden, sei es im Schutz vor Sekundärschäden, seies in der Unterstützung bei der Ernährung, bei denAusscheidungen im Kontext dieser spezifischen Si-tuation.Hervorstechendes Moment ist aber die lin-dernde und wohltuende Komponente der körperli-chen Berührung. Die Verknüpfung des Situations-kontextes mit den Zielen der Pflege und eine

mögliche Fundierung durch Forschungsergebnissekennzeichnen die Qualität einer daraus zu ent-wickelnden Unterrichtssequenz.

Weiterführende Themen und ergänzende Per-spektiven liegen primär in der Erweiterung despflegerischen Handlungsrepertoires, im Umgangmit dem Körper aber auch mit der erweiterten Be-trachtung auf die Dimension des Leibes sowie in ei-ner kritischen Auseinandersetzung mit dem Ver-hältnis von Nähe und Distanz. An Fachgebietensind gefordert die Pflege, pflegerelevante Aspekteder Sozialwissenschaften, der Anatomie und Phy-siologie und auch der Krankheitslehre.

Konstrukt Lebensqualität

Die Nähe des Todes, die immer wieder neu zu be-stimmende subjektive Befindlichkeit zwischen denPolen gesund und krank fühlen, machen es erfor-derlich sich mit diesem Konstrukt zu beschäftigen(Petermann 1996), deren Kriterien aus der Per-spektive der Pflegewissenschaft zu identifizieren,aus dem Kontext des Beispiels eigene Fragen an dieWissenschaft zu entwickeln.

Gleichermaßen sind weiterführend zu themati-sieren: Belastungen für die Pflegenden,die sich ausder Arbeit in diesem Handlungsfeld ergeben.Es las-sen sich Fragen der Berufsethik mit dieser Situationverknüpfen, aber auch gesundheitspolitische Fra-gen im Spannungsfeld zwischen Verpflichtung zurHumanität und Finanzierung.Daraus ergeben sichdie Fachgebiete: Primär die Pflege, pflegerelevanteAspekte der Anthropologie und Ethik,der Gesund-heitswissenschaften aber auch der Sozialwissen-schaften und der Gesundheitspolitik.

Arbeit mit dem Pflegeprozess

Unter dem Gesichtspunkt pflegespezifischer Ar-beitsmethoden kann gut herausgearbeitet werden,wie die einzelnen Arbeitsschritte des Pflegeprozes-ses zu gestalten sind, wie sich eine Systematik er-schließt und wie sich Ziele für den Pflegebedarf vonFrau G. entwickeln, begründen und legitimierenlassen. Welche Konsequenzen es hat, wenn zwi-schen Dokumentation und erbrachter Leistung un-terschieden wird. Hier sehe ich lediglich die Pflegeals Fachgebiet gefordert.

Page 31: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

1.3 · Von der Pflegesituation zum Lernfeld115

Die Entwicklung der Pflege zu einer eigen-ständigen Disziplin, die sich von den Denk-strukturen der Medizin abhebt, erfordertdie wissenschaftliche Fundierung der Pfle-ge. Im Spannungsfeld von Theorie und Pra-xis, Sozial- und Naturwissenschaften zeich-net sich ab, dass die Pflegewissenschaft so-wohl problembezogene Praxisforschungals auch den innerwissenschaftlichen theo-retischen Diskurs leisten muss.Für die Weiterentwicklung des Profils derPflegeberufe sind curriculare Veränderun-gen in den Pflegeausbildungen notwendig,damit die Pflegenden für die zukünftigenqualitativen Anforderungen vorbereitetsind. Aufbauend auf Lernfeldorientierungals curriculare Voraussetzung sind Wissen-schaftsorientierung, Handlungsorientie-rung und Handlungsbefähigung und Situa-tionsbezogenheit die drei wichtigsten di-daktischen Prinzipien für die Pflegedidaktik.Abschließend wird angesichts einer Pflege-situation im Hospiz beispielhaft darge-stellt, wie eine Pflegesituation analysiertund welche Ansätze sie für die Umsetzungin ein Lernfeld bietet.

3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung

Die methodischen Vorschläge beziehen sich auf dieGenerierung der Themen aus der oben geschilder-ten Handlungssituation. Da bei der Methodenwahlgenerell die Ziel-Inhalts-Methoden-Interdepen-denz bedacht werden soll,verstehen sich diese Vor-schläge lediglich als Anregung. Ein Weiterdenkenbzw. alternative Überlegungen sind ausdrücklichgewünscht.

Für diese Unterrichtssequenz zum Pflegehan-deln in der körperlichen Versorgung erscheint esmir als wichtigstes Ziel bei den einzelnen Themen-bereichen, z. B. der Mobilisation, der Ernährungusw., einen neuen Betrachtungswinkel zu errei-chen, durch Aufgreifen und Aktualisieren des vor-handenen Erfahrungswissens. Die Vielfalt reprä-sentiert sich, je nach Ausbildungsstand, durch dieMenschen in der Lerngruppe (Gruppen- oder Part-

nerarbeit) oder aber auch durch Befragung der er-fahrenen Pflegekräfte. Nach vorher entwickeltenKriterien kann die Variabilität und Vielfalt derHandlungsabläufe in der Praxis erfasst (Beobach-tungsaufgaben) und anschließend im Unterrichtsystematisiert werden.

Die Methode zur Systematisierung der gewon-nenen Erkenntnisse kann selbst zum Unterrichts-gegenstand gemacht werden.Gleichermaßen bietetes sich an, mit Hilfe des Pflegeprozesses die ange-botenen Lösungen auf ihren Nutzen für den kon-kreten Bedarf von Frau G.zu prüfen und diese fun-diert zu begründen. Dies kann exemplarisch imPlenum oder aber auch bei entsprechendem Kennt-nisstand arbeitsteilig in Gruppen erfolgen.

In der Phase des Einübens und Erprobens vonFertigkeiten sowohl im Demonstrationsraum oderauch direkt im Handlungsfeld sollte unbedingt dar-auf geachtet werden, nicht nur ein Verfahren ein-zuüben, sondern dass bewusst Handlungsalterna-tiven entwickelt und erprobt werden.

Der Transfer des Gelernten auf andere Hand-lungssituationen kann als Aufgabe für die Lernen-den gestaltet oder im Lernfeld als Diskussion imKontext einer anderen Situation geleistet werden.

Zum Konstrukt Lebensqualität

Der Themenbereich kann über erzählte »Geschich-ten« aber auch über eine Auswahl lesbarer – in Ab-hängigkeit zum Ausbildungstand – Forschungser-gebnisse erschlossen werden.Für eine Erweiterungund Vertiefung eignet sich eine Podiumsdiskussionmit Vertretern aus unterschiedlichen Fachgebieten,wobei die Lernenden unterschiedliche Rollen über-nehmen, z. B. als Diskutant, als Moderator oderauch als Fragesteller aus dem Publikum in der Rol-le des Patienten, des Politikers, des Arztes usw. Ineiner solchen Diskussion kann das Spannungsfelderöffnet werden zwischen dem humanitären An-spruch und der politischen Bewertung der Finan-zierung, zwischen den eingangs skizzierten All-tagsbedingungen in der Pflege und der individuel-len Ausprägung von Lebensqualität und/oder derindikatorengestützten Berechnung von Risiken.

Zum Pflegeprozess

Hier ist mit absoluter Priorität die Handlungsbe-fähigung zu verfolgen, da es bis heute erheblicheProbleme gibt, diese pflegerische Arbeitsmethode

Zusammenfassung

Page 32: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

1

16 Kapitel 1 · Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit

im Alltag zu implementieren. Präferiert wird vordiesem Hintergrund die Leittextmethode,da sie dieHandlungsbefähigung als Ziel deutlich ausweist.Entwickelt wird die Lernaufgabe aus den berufli-chen Anforderungen im Handlungsfeld, hier derPflegeplan von Frau G., entsprechend kann dannein Arbeitsplan entwickelt werden.Die Leittextme-thode stellt darüber hinaus eine gute Möglichkeitdar, das Lernen im Lern- und im Handlungsfeldüber eine Aufgabe zu verbinden (Ertl-Schmuck2001; Rottluff 1992).

3 Empfehlungen zum WeiterlernenEinen guten Überblick über den Stand der Pflege-wissenschaft geben 4 Behrens J, Langer G (2004) Evidence – based

Nursing. Huber, Bern4 Nerheim H (2001) Die Wissenschaftlichkeit der

Pflege. Huber, Bern4 Rennen-Allhoff B,Schaeffer D (2000) Handbuch

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4 Stemmer R (2001) Grenzkonflikte in der Pflege:Patientenorientierung zwischen Umsetzungs-und Legitimationsschwierigkeiten. Mabuse,Frankfurt

sowie das kontinuierliche Studium der Beiträge in:4 Pflege. Die wissenschaftliche Zeitschrift für Pfle-

geberufe. Bern4 Pflege und Gesellschaft. Duisburg

Das Weiterlernen vollzieht sich auch im Diskursmit den Kolleginnen und Kollegen sowie mit der re-levanten Fachöffentlichkeit.

Zu den Themen der curricularen und didakti-schen Entscheidungen verweise ich auf die Beiträ-ge von Oelke, Scheller u. Ruwe 2000, Sahmel 2001,Sieger 2001, s. Literaturverzeichnis, sowie auf4 Wagner F,Osterbrink J (2000) Integrierte Unter-

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Page 34: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

2

Geschichte der Pflege

Horst Rüller

2.1 Überlegungen zur Darstellung

der Pflegegeschichte 21

2.2 Sechs Entwicklungslinien

einer thematischen Pflegegeschichte 23

2.3 Darstellung der Pflegegeschichte 25

2.3.1 Pflege von Menschen und christliche Karitas 25

2.3.2 Diätetik und Gesundheitsförderung 26

2.3.3 Pflege und Medizin 27

2.3.4 Spezialisierung in der Pflege 28

2.3.5 Pflege wird zum Beruf 28

2.3.6 Pflege professionalisiert sich 30

Page 35: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

2

20 Kapitel 2 · Geschichte der Pflege

> ThesenSchreiner, Maurer, Kaufleute und viele andere Be-

rufe verzichten in der Ausbildung ihrer Nach-

wuchskräfte auf die Auseinandersetzung mit der

Geschichte ihres Berufes.

Beschreitet der Berufsstand Pflege mit seinen In-

halten zur Pflegegeschichte in Aus-,Fort- und Wei-

terbildung damit einen möglicherweise unnöti-

gen Sonderweg?

Auf die Frage, ob dieser Sonderweg vor dem Hin-

tergrund einer in die Gegenwart hineinredenden

Vergangenheit sinnvoll ist,und wie er beschritten

werden kann, erhalten Sie im folgenden Beitrag

wesentliche Entscheidungshilfen.

3 Berufliche Handlungskompetenzen

2 FachkompetenzDie historisch gewachsenen Strukturenin der Pflege verstehen und auf dieser Ba-sis mit Widerständen umgehen.Verlauf und Ursachen der Entwicklungdes von medizinischem Denken gepräg-ten Berufs wahrnehmen, um die Grat-wanderung zwischen eigenständigenpflegerischen Entscheidungen und ärzt-licher Weisungsbefugnis situationsge-recht zu leisten.

2 MethodenkompetenzDurch die Analyse von Zeitzeugnissenden Umgang mit Texten zur Erschließungvon Inhalten und Steigerung der Lese-fähigkeit fördern.Problemlösende Ansätze zur Untersu-chung von Sachverhalten anwenden.

2 Kommunikative KompetenzZusammenhänge und Widersprüchesprachlich erfassen, Sachverhalte hinter-fragen und sprachlich Entwicklungenund Zustandsberichte darstellen.

3 PraxisrelevanzDie Vorstellungen von dem, was Geschichte leistenkann und soll, haben sich im Laufe vergangener

Jahrhunderte, auch unter verschiedenen ideologi-schen Blickwinkeln,mehrfach gewandelt.Heute be-steht unter Geschichtswissenschaftlern weitgehendÜbereinstimmung darin, dass der Geschichte imWesentlichen zwei Aufgaben zukommen (z.B.Carr1974, S. 54):4 Die eine besteht darin, ein Verstehen dessen zu

erreichen, welche Motive die Menschen zuihrem Handeln bewogen haben.

4 Die andere Aufgabe besteht in der Hilfe für eineZukunftsbewältigung.

Diese beiden Aufgaben sind naturgemäß eng mit-einander verknüpft. So schreibt der englische His-toriker Eward Hallett Carr in seinem Werk »Was istGeschichte?«: »Die Vergangenheit wirft Licht aufdie Zukunft und die Zukunft wirft Licht auf die Ver-gangenheit« (Carr 1974,S.120).Anders ausgedrücktliegen demnach die Aufgabe und damit der Sinnder Geschichte darin, Antworten auf die Fragen»Wohin gehen wir?« und »Wie kam es dazu?« zu su-chen (Löwith 1974, S. 38 f).

In diesem Sinne ist auch das eigene Pflegehan-deln nicht losgelöst von pflegehistorischen Tradi-tionen zu sehen, die immer auch in die Gegenwartreichen und Handeln damit unbewusst beeinflus-sen. Als Schlüssel für das Verständnis des gegen-wärtigen Handelns im Pflegealltag ist die Praxis-relevanz einer »Pflegegeschichte« ein wichtigerBaustein. Erst mit dem Erkennen der Vergangen-heitsspuren in der heutigen Berufssituation kannein »Paradigmenwechsel« angestrebt bzw. nach-vollzogen werden.

Selbstverständlich genügt die Kenntnis der Ent-wicklungsstrukturen nicht, erforderliche Innova-tionen durchzusetzen, aber sie sind die Grundvor-aussetzung, eine Einsicht in die Notwendigkeit zuerleichtern und Ansätze für Veränderungen zu ent-wickeln bzw. sie nachvollziehen zu können.

3 Verfahrensstruktur. Abbildung 2.1 beinhaltet im »inneren Kreis« dieThemen, die als Leitlinien zur Vermittlung einerGeschichte der Pflege tauglich sind (s. unter 2.3).Der »äußere Kreis« lässt den Bezug der didakti-schen Ebene der Vermittlung erkennen, durch denerst das Erreichen wichtiger Kompetenzen möglichwird (s. unter »Methodische Vorschläge für die Se-minargestaltung«).

Page 36: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

2.1 · Überlegungen zur Darstellung der Pflegegeschichte221

2.1 Überlegungen zur Darstellung der Pflegegeschichte

Die Darstellung einer Geschichte der Pflege ist wiealle anderen historischen Entwicklungen nie freivon gesellschaftlichen Einflüssen und Positionen:So hätte ein Ordensmitglied vor 100 Jahren die Be-deutung des Dienens in den Vordergrund gestellt.Ein Arzt oder Medizinhistoriker hätte vor 50 Jahrendie enge Anbindung an die Entwicklung der Medi-zin hervorgehoben. Bis vor 10 Jahren gab es nureine »Geschichte der Krankenpflege« (nicht derPflege!), obwohl sich diese in ihrer Spezialisierungals ärztlicher Hilfsberuf erst ab dem 18.Jahrhundertlangsam abzeichnete.

Um eine Annäherung an eine möglichst objek-tive Betrachtung zu erleichtern, zeigt die . Tabelle

2.1 wichtige Ereignisse und Entwicklungen inner-halb der Pflege in ihrer Abhängigkeit/Zuordnungzu gesellschaftlichen Bedingungen und medizini-schen Fortschritten. In der letzten Spalte erfolgt

eine Einschätzung des gesellschaftlichen Stellen-wertes der Pflege.

Die Übersicht (. Tabelle 2.1) geht hier bewusstnicht detailliert auf Jahreszahlen und Personen ein.Der Schwerpunkt liegt vielmehr in einer Verdeutli-chung der Abhängigkeiten von Entwicklungen in-nerhalb der Pflege und gesamtgesellschaftlichenVorgängen und Beurteilungen.Zum Aspekt »Medi-zin« wurde deshalb eine eigene Spalte eingerichtet,weil es hier immer besonders enge Verknüpfungengab, die allerdings im Laufe der Jahrhunderte er-heblichen Veränderungen unterworfen waren.

Es muss hier nicht betont werden, dass dieÜbergänge im Verlauf der Jahrhunderte fließendwaren und eine Reihe von Phänomen und Ent-wicklungen auch mehrere Jahrzehnte bzw. mehre-re Jahrhunderte umspannten. Die Jahreszahlenganz links können daher auch nur eine ungefährezeitliche Einordnung des Beginns einer neuen Ent-wicklung markieren.

. Abb. 2.1. Verfahrensstruktur

Page 37: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

2

22 Kapitel 2 · Geschichte der Pflege

. Tabelle 2.1. Pflegegeschichte in ihrem thematisch/chronologischem Verlauf

Gesellschaftliche Ereignisse/Entwicklungen Ereignisse Gesellschaftlicher Bedingungen der Pflege der Medizin Stellenwert der Pflege

Organisation in Familien- Pflegende üben gleichzeitig Priesterärzte/Ärzte der Heilkundliches Wissen und Stammesverbänden Heilkunde aus Antike entwickeln erste und pflegerische Für-

Diagnose- und Thera- sorge sind Bestandteil Priesterärzte genießen eine pieformen familiärer Bindungenherausgehobene Stellung

Heilkunde und Religion sind Die Haltung der Pflegendenuntrennbar verbunden wird durch den karitativen Pflege wird entsprechend

Gedanken (im Hilfesuchenden der Werke der Barmher-Die christliche Religion brei- Christus sehen, der Lohn für zigkeit allumfassend als tete sich verstärkt aus gute Taten ist nicht von Hilfeleistung jeder Art für

dieser Welt) bestimmt Notleidende ausgeübt

Die christliche Religion wird Gedanken der Diätetik (beson- Die Erkenntnisse von Systematische Versorgung zum staatstragenden Ele- dere Speisen für Kranke zube- Ärzten der Antike wer- bedürftiger Bevölkerungs-ment der König- und Kaiser- reiten, eine angemessene Be- den in den Klöstern gruppen mit pflegerischen reiche in Europa schäftigung verschaffen u. a.) tradiert und medizinischen Leis-

und der Säftelehre mit ent- tungen in Klöstern und Die sich entwickelnden sprechenden therapeutischen Hospizen. Der karitative Städte fördern den Bau Praktiken wie Aderlass und Gedanke übernimmt eine von Hospizen Laxieren gehen in das Pflege- wichtige soziale Funktion

handeln ein, gleichzeitig wer-den überlieferte »Rezepte« der Volksmedizin angewendet

Reformation1517 Thesenanschlag – Erster »Pflegenotstand« auf- Die Medizin in Teilen Deutschlands grund einer ungenügenden entwickelt beginnt der Einzug von Anzahl qualifizierter bzw. sich zur einer Kirchengütern und der motivierter Pflegekräfte Wissenschaft Rückgang von Ordens- auf natur-gemeinschaften wissenschaft-

Die Frau ist die geborene Pfle- licher Grund- Mangelhafte hygienische Landesfürsten übernehmen gerin, eine fachlich fundierte lage Verhältnisse und feh- die Verantwortung für Ausbildung wird als nicht lende Motivation der »Wohlfahrtspflege« und nötig erachtet, die charakter- Kranken- Pflegekräfte führen Gesundheit ihrer liche Schulung der Aufopfe- haus- regional zu einem »Untertanen« rung und Duldsamkeit wird ärzte Vertrauensschwund

betont, hauswirtschaftliche greifen Beginn der Industrialisie- Fähigkeiten gehören zur ver- Zunehmender Bedarf an rung mit ansteigenden Pflegeausbildung und mehrt Pflegekräften wird aus Bevölkerungszahlen, Auflö- Pflegeausübung auf die untersten Bevölkerungs-sung bestehender Familien- Unter- schichten rekrutiertstrukturen und beginnender Assistenz zur Unterstützung stützung Verelendung von altersbe- ärztlicher Heilkunst sowohl von dingt oder gesundheitsbe- im Bereich der Behandlungs- Pflege-dingt gehandikapten Bevöl- assistenz als auch im Sinne kräften kerungsteilen diätetischer Lebensführung zurück

vor

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urt

1000

1500

1800

Page 38: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

2.2 · Sechs Entwicklungslinien einer thematischen Pflegegeschichte223

2.2 Sechs Entwicklungslinien einerthematischen Pflegegeschichte

Da derartige chronologisch orientierte Darstellun-gen wie in Tabelle 2.1 eng an Daten,Namen und be-stimmte Ereignisse gebunden sind, geht mit ihnender Nachteil einher, dass bestimmte zeitüber-schreitende Entwicklungslinien nicht deutlich ge-nug hervortreten können.

Um dem entgegenzuwirken, orientiert sich diefolgende Darstellung einer Pflegegeschichte an Ent-wicklungslinien, die in sich geschlossene thema-tische Einheiten ergeben. Daraus erwächst einOrientierungsrahmen, der auf eine thematische

Pflegegeschichte hinausläuft. Unter diesem Ge-sichtspunkt zeichnen sich aufgrund der heutigenQuellenlage thematische Einheiten und Erkennt-nisse ab, wie sie in der folgenden Übersicht aufge-listet sind.

5 Thema 1: Pflege wird seit fast zwei Jahr-

tausenden von Idealen der christlichen

Nächstenliebe geprägt und getragen.

5 Thema 2: Pflege setzt Denkweisen der

Diätetik um und praktiziert bis ins 18. Jahr-

hundert heilkundliches Wissen der Volks-

medizin.

. Tabelle 2.1. Fortsetzung

Gesellschaftliche Ereignisse/Entwicklungen Ereignisse Gesellschaftlicher Bedingungen der Pflege der Medizin Stellenwert der Pflege

Kriegerische Auseinander- Religiös motivierte Pflege- Mediziner sehen in der Der Bedarf an Pflegesetzungen werden zu Neubelebung der ausbil- Frau die ideale »Assis- betten steigt auch infolge »Massenkriegen« karitativen Pflege- dungen tenzkraft«, da sie Vo- einer Zunahme älterer

orientierung durch mit ho- raussetzungen wie auf Pflege angewiesener Die soziale Frage tritt poli- Fliedner hem »Aufopferungsgabe«, Menschentisch in den Vordergrund Praxis- »Unterordnung«, »Ein-und führt zum Einstieg in Rotkreuzschwes- anteil fühlsamkeit« mitbringt Der Eintritt in Pflege-die Sozialgesetzgebung tern unter humani- werden organisationen bringt

tären und karitati- von den Die physiologische Be- für Frauen aus bäuerli-Gewerkschaften etablieren ven Leitmotiven diversen trachtung verdrängt chen Familien und be-sich Pflegeor- zunehmend die ganz- nachteiligter Herkunft

Friedrich Zimmer ganisati- heitliche Betrachtung einen sozialen Aufstieg Vor allem Frauen aus bür- gründet den Ev. onen an- des Menschen mit sichgerlichen Kreisen setzen Diakonieverein mit gebotensich für die Gleichberechti- Ausbildungs- und gung der Frau in der Gesell- Bildungschancen schaft ein für Frauen

Pflege ist einer der wenigen Gründung einer beruflich »Messwerte« und phy- Bedarf in der Versorgung Frauenberufe orientierten Pflegeorganisa- siologische Befunde ste- verwundeter Soldaten

tion (BO) hen im Vordergrund wird für die Kriegführung »Obrigkeitliches« Denken bedeutender, in der Folge bestimmt das Handeln Nicht religiös gebundene steigt der Stellenwert

Mutterhausschwestern, frei- einer KrankenschwesterErster und zweiter Weltkrieg berufliche Pflegekräfte und erfordern eine gut organi- sozial abgesicherte Pflege-sierte »Kriegskrankenpflege« kräfte (BO) nehmen zu

Arbeitszeit und Bezahlung geraten zunehmend in die Tarifvereinbarungen der Gewerkschaften

1900

1950

Page 39: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

2

24 Kapitel 2 · Geschichte der Pflege

. Tabelle 2.1. Fortsetzung

Gesellschaftliche Ereignisse/Entwicklungen Ereignisse Gesellschaftlicher Bedingungen der Pflege der Medizin Stellenwert der Pflege

Wirtschaftlicher Auf- Altenpflege wird zu einem Die Fortschritte in der schwung in Deutschland sozialpflegerisch ausgerich- Medizin führen zu einer nach dem 2.Weltkrieg teten Pflegeberuf immer stärkeren Spezia-

lisierungIn Europa strahlt der politi- Zusatzausbildungen tragen sche Integrationsprozess in dem medizinischen Speziali-viele Alltags- und Berufsbe- sierungsbedarf Rechnungreiche aus

In den USA führt die Akade-Demokratisierungsprozesse misierung der Pflege zur Ent-erfassen die Gesellschaft wicklung von Pflegetheorien, Das Gesundheitssys-

Deutschland bleibt hiervon tem wird nicht zuletztDer Kostendruck auf die zunächst unberührt wegen der rasant ge-Gesundheitseinrichtungen stiegenen Diagnose- nimmt zu, Kostendämp- und Therapiemöglich- Altenpfleger, Kranken-fungsgesetze in der Kran- keiten immer teurer und Kinderkranken- kenversicherung sind die und droht unbezahlbar schwestern tragen perso-Folge zu werden: medizini- nell im ambulanten wie

sche und pflegerische im stationären BereichLeistungen werden ver- das sozialpolitische Kon-stärkt in den ambulan- zept einer umfassendenten Bereich geleitet Gesundheitsversorgung

Während Kranken- undDer enorme Kostenanstieg Ausweitung der Angebote in Kinderkrankenpflege zuin der Sozialhilfe durch der ambulanten Pflege einem relativ hohen ge-Pflegeleistungen führt zur sellschaftlichen AnsehenEtablierung der Pflege- Geplante Pflege, weitere Pfle- gefunden haben, ringtversicherung getheorien und Pflegeprozess die Altenpflege um An-

nehmen inhaltlich Einfluss; erkennung; formal wirdPflege beginnt sich als Wis- Pflegeleitbilder orientieren ihr diese durch die finan-senschaft zu etablieren sich an Pflegetheorien zielle Gleichstellung bei

der tariflichen Eingrup-Agrar- und Lebensmittel- Über eine stärker an wissen- pierung zuteilskandale lösen ein gesund- schaftlichen Normen orien-heitsbewussteres Verbrau- tierte Pflegeausbildung cherverhalten aus halten neuere Pflegekonzepte

Einzug in den Pflegealltag

Pflegestudiengänge etab- Mitarbeiter von Pflege-lieren sich an deutschen Die »Genmedizin« diensten übernehmen Hochschulen steht in ihren Anfängen Beratungsfunktionen

1950

Geg

enw

art

Page 40: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

2.3 · Darstellung der Pflegegeschichte225

5 Thema 3: Pflege wird seit dem 18. Jahr-

hundert in den Dienst der Medizin ge-

stellt.

5 Thema 4: Pflege spezialisiert sich seit dem

19. Jahrhundert zur Kranken- und Kinder-

pflege, psychiatrischen Pflege und Alten-

pflege.

5 Thema 5: Pflege entwickelt sich seit ca.

100 Jahren zum Beruf.

5 Thema 6: Pflege erhält seit der Mitte des

20. Jahrhunderts inhaltlich neue Impulse.

Der folgende Text zur »Darstellung der Pflegege-schichte« bezieht sich auf die in der Übersicht an-gegebenen Entwicklungslinien, die in der . Tabelle

2.1 in ihrer gesellschaftlichen Einbindung wieder-gegeben sind.

2.3 Darstellung der Pflegegeschichte

2.3.1 Pflege von Menschen und christliche Karitas

Für mehr als 19 Jahrhunderte wurde die Pflege imAbendland durch die christliche Religion entschei-dend geprägt. »Was ihr einem dieser meiner ge-ringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir ge-tan.« (Matthäus 25, 40) Mit diesem Satz aus demWeltgericht wird der Stellenwert der dort beschrie-benen »Werke der Barmherzigkeit« für jeden un-missverständlich. Hier erhielt jeder Christ eindeu-tige Anweisungen, wie das Wort von der Nächsten-liebe in Taten umsetzbar war. Die Werke derBarmherzigkeit stellten für einige hundert Jahre ei-nes der Ideale christlichen Lebens dar. Nach jüdi-scher Tradition war vor allem die Hilfe für denGlaubensbruder wichtig; der Reformer, Jesus vonNazareth, sah diesen Anspruch im Alltag jedochnicht realisiert und weitete ihn unter dem Gleich-heitsanspruch vor Gott auf alle Menschen aus.

Nach den Evangelisten waren es vor allem diesich in der ersten Hälfte des nachchristlichen Jahr-hunderts gründenden Klostergemeinschaften, diediesen Teil der christlichen Botschaft, zum Teildurch Aufnahme in ihre Ordensregeln, weitertru-gen. Die wohl bekannteste Ordensregel ist die vonBenedikt von Nursia (480–547) verfasste Benedik-

tinerregel.Das 36.Kapitel dieser Regel legt den Um-gang mit kranken Menschen fest. Diese frühen»Pflegeregeln« sind in direktem Bezug zum Welt-gericht und den Werken der Barmherzigkeit zu se-hen. Heißt es doch in Satz 1 dieser Regel: »Die Sor-ge für die Kranken muss vor und über allem stehen:man soll ihnen so dienen, als wären sie wirklichChristus« (zit. n. Salzburger Äbtekonferenz 1996,S.163).Zum Dienst an Christus kommt ein weiteresPrinzip, das die karitative Pflege kennzeichnet:Zwar wird von den zu pflegenden Menschen er-wartet, dass sie keine »übertriebenen Ansprüche«stellen, aber wenn sie sich als schwierig erweisen,müssen sie »in Geduld ertragen werden; denndurch sie erlangt man größeren Lohn« (zit. n. Salz-burger Äbtekonferenz 1996, S 163). Der in Aussichtgestellte Lohn bezog sich allerdings nicht auf irdi-sche Güter, sondern auf das Leben nach dem Tod,dem Leben im himmlischen Paradies.Pflege ist alsoDienst an Gott und wird nicht auf Erden entlohnt.Diese Pflegeideologie erwies sich als äußerst er-folgreich, bildete sie doch bis weit ins 20. Jahrhun-dert hinein im christlich geprägten Abendland dieherausgehobene Motivation für die Pflege verwais-ter Kinder,kranker Erwachsener und Kinder sowiealter gebrechlicher Menschen. Wie wichtig dieseGrundlage war, erwies sich im 18. Jahrhundert, alsmit der Reformation in einigen von Ordensge-meinschaften entblößten Gebieten der erste Pfle-genotstand ausbrach. In protestantischen Gebietenkonnten Pflegeleistungen in den neu entstehendenKrankenhäusern nicht mehr durch Mitglieder vonOrdensgemeinschaften sichergestellt werden, sodass ein Rückgriff auf Menschen aus unteren so-zialen Schichten erfolgte. Die Angehörigen dieserSchichten,die im Gegensatz zu den Mitgliedern derin der Regel aus adeligen oder anderen wohlha-benden Kreisen stammenden Ordensmitgliedernhart am Rand des Existenzminimums lebten, ver-richteten die ihnen aufgetragene Arbeit in denKrankenhäusern aus materieller Not.Der nicht sel-ten fehlende Eifer, aber auch die eigene Sozialisa-tion hinsichtlich hygienischer und anderer mate-rieller Lebensbedingungen führten in vielen Häu-sern zu Bedingungen, die ein Überleben in denKrankenhäusern zum Glücksspiel werden ließen.Hinzu kam natürlich die ärztliche Ohnmacht vorKrankheitserregern und Infektionen.

Page 41: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

2

26 Kapitel 2 · Geschichte der Pflege

Um die durch die Reformation entstandenenLücken in der pflegerischen Versorgung zu schlie-ßen, wurden im 19. Jahrhundert neue Pflegege-meinschaften ins Leben gerufen. Eine der erstendieser neuen Gemeinschaften war die von dem pro-testantischen Geistlichen Theodor Fliedner ge-gründete »Pflegerinnenanstalt« in Kaiserswerth beiDüsseldorf. Die Organisation gestaltete Fliednernach dem Vorbild katholischer Mutterhausorgani-sationen wie dem Orden der Barmherzigen Schwe-stern. Das Mutterhaus sorgte in allen existentiellenBelangen für die eingetretenen Schwestern,die vomMutterhaus an Krankenhäuser entsandt wurdenoder in deren Auftrag ambulant tätig wurden. DasMutterhaus schloss Verträge über die Arbeitsleis-tung und finanzielle Vergütung mit den Beziehernder Pflegeleistung ab.Die vereinbarte Vergütung er-hielt das Mutterhaus, das seinerseits seine An-gehörigen bei Krankheit, Invalidität oder altersbe-dingt aufnahm.

Die Bezeichnung »Diakonisse« wurde von Flied-ner in Anlehnung an das unter den frühen Christengeschaffene Ehrenamt des Diakons, der Diakonisse(neutestamentl. Griech.: diakonos = Diener) ge-wählt, die das Leben der frühen Christen in ihrenGemeinden unterstützen sollten. Der Dienst amkranken Menschen wurde von Fliedner demnachim urchristlichen Sinn definiert und um eine seel-sorgerisch-werbende Komponente erweitert, soheißt es in § 26 seiner Haus- und Dienstanweisung:

7 Da sie aber Mägde der Kranken sind,

nicht um der Kranken willen, sondern

nur um Jesu willen, haben sie ihnen alle

Liebe und Geduld nicht in der Absicht zu

erweisen, um von ihnen Lob zu erlan-

gen, … sondern stets mit dem End-

zweck, daß sie dem Herrn ihre Seelen

gewinnen (zit. n. Sticker 1960, S. 250).

Vergleicht man diesen Anspruch mit dem WertAutonomie, der für den modernen Menschen des21. Jahrhunderts ganz weit nach vorn gerückt ist,wird begreiflich, welch schwieriger Umdenkungs-prozess unter den Pflegenden in den letzten Jahr-zehnten geleistet werden musste und immer nochzu leisten ist. Tragischerweise erschwerte es derüber viele Jahrhunderte erfolg- und segensreicheKaritasgedanke der Pflege im späten 20. Jahrhun-

dert mit der gesellschaftlichen Entwicklung Schrittzu halten.Abgesehen von der lange quälenden Neu-orientierung von der Berufung zum Beruf hat derchristlich motivierte Dienst am Nächsten mit klardefinierten gebenden und empfangenden Rollenauch die Zulassung partnerschaftlichen Agierensübersehen. So wundert es nicht, dass es noch heutevielen Pflegenden schwer fällt, in ihrer Arbeit einenProzess zu sehen,der in enger Kooperation und Re-flexion mit den Bedürfnissen des zu pflegendenMenschen geschieht.

2.3.2 Diätetik und Gesundheitsförderung

Diätetik kommt aus dem Griechischen und bedeu-tet »Lebensweise«. Heute wird dieser Begriff in derRegel einseitig auf bestimmte Ernährungsformenangewendet, in der Antike und den nachfolgendenJahrhunderten hatte er eine umfassendere Bedeu-tung, die das gesamte Leben umspannte. Die Er-fahrung hatte die Ärzte der Antike gelehrt, dassSelbstheilungskräften des Menschen,auf die Medi-ziner in noch größerem Maße angewiesen waren,als dies heute der Fall ist, eine vorbeugende wieauch eine heilende Wirkung zukommt. Ausrei-chender Schlaf und hinreichende Bewegung zähl-ten genauso zu den die Gesundheit und damit dieSelbstheilungsfähigkeit fördernden Faktoren wieentspannende und körperpflegende Tätigkeitenund natürlich auch Regeln für eine gesunde Ernäh-rung. Darstellungen über entsprechende Zusam-menhänge finden wir unter anderem in den Wer-ken des Hippokrates, beispielsweise in seinen Ab-handlungen über die »Umwelt« (Hippokrates 1994,S.123–160) oder in »Die Regelung der Lebensweise«(Hippokrates 1994, S. 270–318).

Nicht nur die Benediktinerregel oder die Ab-handlungen der Äbtissin Hildegard von Bingen(1098–1179) belegen, dass die Gedanken der Diäte-tik im Mittelalter und bis weit in die Neuzeit fort-wirkten.Im ausgehenden 18.und dem beginnenden19. Jahrhundert propagierte der Arzt und Univer-sitätsprofessor Franz Anton Mai (1742–1814) die Be-deutung günstiger Lebensbedingungen als vorbeu-gende und heilende Stütze gegen Krankheiten. ImKrankenhausbereich forderte er daher den Einbe-zug entsprechender Maßnahmen, die von Pflegen-den, den Wärterinnen und Wärtern, umgesetzt

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2.3 · Darstellung der Pflegegeschichte227

werden sollten. Auf Mai geht eine der ersten Schu-len für »Krankenpflegewärter« zurück.

Angesichts der immer mehr auf messbare Wer-te zurückgreifenden Medizin gerät dieser Teil derHeilkunde allerdings spätestens seit dem 19. Jahr-hundert immer weiter ins Hintertreffen. Erst mitder Definition der WHO von 1946,dass Gesundheitnicht nur das »Freisein von Krankheit und Gebre-chen« darstellt, sondern »einen Zustand des voll-kommenen körperlichen, sozialen und geistigenWohlbefindens« darstellt, wurde wieder das sub-jektive Empfinden des Menschen in den Vorder-grund gestellt. Gesundheit wird damit wieder alsein Prozess verstanden, der durch eine gesunde Le-bensführung beeinflussbar ist. Eine entsprechendeGesundheitsförderung ist also auch ohne eine dro-hende mögliche Erkrankung wichtiger Bestandteildes täglichen Lebens und wird mittlerweile imAltenpflegegesetz wie im Krankenpflegegesetz alsZiel formuliert. Im Unterschied zur Gesundheits-förderung spricht man von sekundärer Präventionoder Prophylaxe, wenn ein bestimmtes Gesund-heitsrisiko erkennbar wird, also z. B. eine Dekubi-tusprophylaxe.

Während sich die Prävention bereits einensicheren Platz im pflegerischen Denken gesicherthat, findet die Umsetzung der Gesundheitsförde-rung bislang nur zögerlich ihre Rückkehr in denpflegerischen Alltag.

2.3.3 Pflege und Medizin

7 Da nahm die alte Königin das Wund-

heilkraut Diptam und warmen Wein

und ein Stück blauen Linnens. Damit

wischte sie die Blutstropfen aus den

Wunden, wo welche waren, und sie

verband ihn so, dass er genesen konnte

(zit. n. Schipperges 1990, S. 139)

Dieser Auszug aus dem Werk Parzival von Wolframvon Eschenbach (etwa 1170/80–1220) ist ein Beispielfür die heilkundliche Tätigkeit von Frauen, die mitihrer »Hausapotheke« geschickt umzugehen wuss-ten. Die fachkundige Behandlung und Pflege desverwundeten Ritters der Tafelrunde, Parzival, ge-hörte allgemein zur Alltagsarbeit von Frauen beiKrankheiten und Verwundungen aller Art.

Diese Fähigkeiten scheinen allerdings nicht aufFrauen beschränkt gewesen zu sein. So gibt es z. B.Darstellungen, auf denen der Held Achilles dieWunden seines Freundes Patroklos verbindet.Heil-kundliches Wissen war Alltagswissen; als beson-ders heilkundig geltende Frauen wurden auch als»weise Frauen« bezeichnet.Heilkundliche und pfle-gerische Tätigkeiten gingen Hand in Hand.

Neben den »Volksheilern« existierten die hochangesehenen Priesterärzte, wie wir sie von denÄgyptern oder auch aus Griechenland in den As-klepios-Heiligtümern kennen.Daneben entwickel-te sich ein »weltlicher« Ärztestand, der in Grie-chenland mit Hippokrates einen seiner bekannte-sten Vertreter hervorbrachte. Nach dem Untergangder griechisch-römischen Kultur in der Völker-wanderung fand die ärztliche Tradition in Europaein vorläufiges Ende.Träger und Bewahrer der me-dizinischen Kenntnisse aus dem Altertum warendie Klöster, in denen die antiken Schriften aufbe-wahrt, gelesen und abgeschrieben wurden. Einigegebildete Mönche hatten sich auf die Schriftenberühmter Ärzte wie Galen (Galenus) verlegt.Vor-nehmliche Behandlungsmethoden bestanden ent-sprechend der Säftelehre im Aderlass oder demAbführen.Zu jedem Kloster gehörte auch ein Kräu-tergarten zur Kultivierung verschiedenster Heil-pflanzen. Außerhalb der Klöster waren es weitge-hend die vielen heilkundigen Frauen, die weisenFrauen, die vorwiegend auf der profunden Kennt-nis der Anwendung von Heilpflanzen eine medizi-nische Versorgung der Bevölkerung sicherstellten.Einer der Gründe, warum diese Frauen später zuden Opfern der Hexenverfolgung wurden,ist wahr-scheinlich in der Anwendung überlieferter heidni-scher Sprüche zu sehen. Diese die Heilung beglei-tenden Sprüche waren seit Generationen überlie-fert worden und wurden, da sie nicht an Gottgerichtet waren, als Zeichen einer Verbindung mitdem Teufel gedeutet. In dieser Erklärung ist aller-dings nur ein Teilaspekt des Phänomens »Hexen-verfolgung« zu sehen.

Änderungen hinsichtlich ärztlicher Aktivitätentraten in Deutschland ab dem späten Mittelalter miteinem vermehrten Auftreten von »studierten« Ärz-ten ein.Vom arabischen Raum hatte sich über Süd-italien ärztliches Wissen auch an deutschen Uni-versitäten etabliert. Neben dem Begriff »medicus«galt vor allem die Bezeichnung »physicus« als Eh-

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28 Kapitel 2 · Geschichte der Pflege

rentitel für Ärzte, die mit dem Wissen der hochge-schätzten arabischen Medizin vertraut waren. DaÄrzte nicht nur für die meisten Menschen unbe-zahlbar waren, sondern auch als eher theoriebelas-tet denn praktisch heilkundlich galten, wurde dieVolksmedizin weiterhin von weisen Frauen undden Badern sowie den nicht studierten, als Hand-werker geltenden Wundärzten ausgeführt. DerChirurgenstand ist auf das kirchliche Verbot chi-rurgischer Eingriffe durch Klosterärzte zurück-zuführen: Die Hand, die Hostien reichte, sollte alsVertreter Gottes kein Blut vergießen.

Staatliche Regelungen über Studium, Prüfungoder Zulassung und die Vereinheitlichung des Ärz-testandes wurden in verschiedenen deutschen Staa-ten erst im 19. Jahrhundert erlassen, in Preußen imJahre 1852. Etwa die Hälfte der Ärzte wurde öffent-lich angestellt und unter anderem zur BehandlungBedürftiger verpflichtet.

Nach und nach war es den Ärzten gelungen,die alleinige Behandlungsbefugnis durchzusetzen.Eine der letzten nichtärztlichen Bastionen hieltendie Hebammen,deren Behandlungsprivilegien erstetwa ab dem 17. Jahrhundert durch zahlreiche Ver-ordnungen mehr und mehr eingeschränkt wurden.

An den ab dem 18. Jahrhundert vermehrt ge-bauten Krankenhäusern waren zunehmend mehrÄrzte hauptamtlich angestellt worden. Neben ih-nen gab es dort weiterhin die in Orden organisier-ten Frauen oder die Arbeit wurde von den als»Krankenwärterin« in Dienst genommenen, in derRegel in der Volksheilkunde bewanderten Frauen,durchgeführt. Kompetenzgerangel zwischen Ärz-ten und »Laien« schienen an der Tagesordnung ge-standen zu haben: So beklagte der Arzt und Uni-versitätslehrer Franz Anton Mai,der 1781 eine Kran-kenwärterschule eröffnet hatte, dass sich viele derKrankenwärterinnen »über Heilarten rechtschaffe-ner Ärzte« lustig machten, »abergläubische Mittelund allerhand Quacksalbereien« anwendeten undden Arzt »zum Nachteile des Kranken« hintergin-gen (zit. n. Rüller 1999a, S. 140). Aber auch gegen-über Pflegekräften aus Ordensgemeinschaftenschien es Ressentiments gegeben zu haben. So er-scheint 1856 in der Zeitschrift Wiener MedizinischeWochenschrift Kritik an den eben erst für das Wie-ner Allgemeine Krankenhaus gewonnenen Barm-herzigen Schwestern, unter anderem die Kritik,dass sie alternative Heilmethoden gegenüber Me-

dikamenten bevorzugen würden und außerdem dieTendenz aufwiesen, über die Leitung des Hausesmit der Ärzteschaft in Konflikt zu geraten (Seidl u.Walter 1998, S. 226 f).

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts schienendie Kompetenzen nicht völlig geklärt,heißt es dochin § 2 eines Vertrages zwischen einem Krankenhausund dem den Pflegedienst stellenden Diakonissen-mutterhaus: »Diese [die Diakonissen] haben denAnordnungen der Direktion unbedingt, den An-ordnungen der Ärzte in Beziehung auf die Pflegeund Behandlung der Kranken unbedingt Folge zuleisten« (Stadtarchiv Oldenburg 136 Nr. 5039, zit. n.Rüller 1999a, S. 58).

Während Krankenwärterinnen und Ordens-schwestern promovierte und nicht promovierteÄrzte mit Anspruch auf Weisungsbefugnis gegen-überstanden, entwickelte sich eine dritte Gruppeim Gesundheitswesen des 19. Jahrhunderts, derStand der »Heildiener« bzw. der »Heilgehilfen«. Eshandelte sich um Berufsgruppen, die sich auf der»Männerseite« weitgehend auf die Aufgabenstel-lung der Bader konzentrierte,auf der »Frauenseite«auf die der Hebammen. In den »Vorschriften überdie Prüfung und Beaufsichtigung der staatlich ge-prüften Heilgehilfen und Masseure vom 18.Februar1903«, veröffentlicht im Ministerialblatt für Medi-zinangelegenheiten von 1903, wurden Aufgabenund Stellung geregelt:

7 13. Die »staatlich geprüften Heilgehilfen

usw.« sind verpflichtet, auf Anordnung

des Arztes diejenigen Verrichtungen

vorzunehmen, auf welche ihr Befähi-

gungsausweis lautet, sie haben hierbei

Weisungen des Arztes unbedingt Folge

zu leisten (zit. n. Steppe 1998, S. 31).

Hier wie auch einige Jahre später bei der Verab-schiedung des Krankenpflegegesetzes in Preußenwird die Unterscheidung zwischen ärztlichen undnichtärztlichen Heilberufen klar gezogen, wobeialle »eigenständigen Anteile nach und nach aus-schließlich der Medizin zugeordnet werden« (Step-pe 1998, S. 35). Innerhalb von weniger als 200 Jah-ren war aus der heilkundlich und pflegerisch ei-genverantwortlichen Frau die ausschließlich aufAnweisung pflegende Frau geworden.

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2.3 · Darstellung der Pflegegeschichte229

Bei dieser Entwicklung hatte sicherlich einewichtige Rolle gespielt, dass der Medizin vor allemim 19. Jahrhundert gewaltige Fortschritte gelungenwaren: Mit Pasteur (1822–1895) und Koch (1827–1912) wurde die Bakteriologie der Medizin nutzbargemacht,Lister (1827–1912) hatte das »antiseptischePrinzip« eingeführt. Die Frau war mit diesen undanderen immensen Fortschritten der Medizin zur»Gehilfin« des Arztes geworden. Die Schwesternhatten dabei »wesentliche Dienste« beim Aderlas-sen, Schröpfen, Ansetzen von Blutegeln und ande-ren Hilfen bei jetzt ausschließlich ärztlichen Tätig-keiten zu leisten; geschätzt wurde dabei vor allemihre »praktische Gewandtheit, Ausdauer, Uner-schrockenheit und das zarte sanfte Benehmen der-selben im Umgang mit den Kranken …« (JosephBuß 1844, zit. n. Sticker 1960, S. 170).

2.3.4 Spezialisierung in der Pflege

Im Abschn.2.3.3 klang bereits die assistenzärztlicheFunktion der Schwester an.Der auch heute noch ge-bräuchliche Begriff »Schwester«, mit denen weib-liche Pflegekräfte in Altenheimen, Kranken- undKinderkrankenhäusern angesprochen werden, hatseinen Ursprung in den christlichen Gemeindenund Ordensgemeinschaften. Dort verstand mansich als Bruder und Schwester vor dem Herrn. DieSchwester des Mittelalters und der frühen Neuzeitleistete ihre oben beschriebene umfassende Hilfevor allem in Hospizen, die von kirchlichen oderweltlichen Stiftern gegründet und unterhalten wur-den. Solche Hospize umfassten manchmal nur we-nige Betten,andererseits konnten sie die Größe rie-siger Hallen mit 50 und mehr Betten erreichen.

Für die Aufnahme war nicht eine bestimmte Er-krankung entscheidend, sondern in der Regel eineHilflosigkeit, die nicht aus eigener Kraft überwun-den werden konnte.Diese Hilfsbedürftigkeit reich-te vom Findelkind über den erkrankten Reisendenund gebrechlichen alten Menschen bis hin zu de-nen, die aufgrund eines zeitweiligen oder dauer-haften psychischen oder physischen Schadensnicht in der Lage waren, ihren Lebensunterhalt zuerbetteln.Da die überwiegende Mehrzahl der Men-schen im Notfall auf eine Einbindung in verlässli-che Familienbande vertrauen konnte, hielt sich dieAnzahl der benötigten Hospizplätze in überschau-

baren Größenordnungen.Dies änderte sich erst mitBeginn der Industrialisierung, die ein gewaltigesAnwachsen der Städte mit lockerer werdenden Fa-milienstrukturen zur Folge hatte. Die Anzahl ver-waister Säuglinge und Kinder nahm rapide zu, sodass erste Spezialhäuser wie das 1802 eröffnete»l’hôpital des enfants malades« in Paris oder die1830 gegründete Kinderkrankenabteilung in derCharité in Berlin eröffnet wurden. Insgesamt setz-ten sich spezielle Kinderkrankenhäuser nur zöger-lich durch. Anders verhielt es sich beim Kranken-hausbau, der sich den Regierenden als dringendeAufgabe auch im Sinne einer qualifizierten und or-ganisierten Ausbildung von Medizinern stellte. Diebisherigen Hospize,Armenbaracken oder Siechen-häuser übernahmen mehr und mehr die Funktionvon Altenheimen, während Kranke in den neu er-richteten Krankenhäusern aufgenommen wurden.Die spezialisierten Institutionen,dazu zählten auchspezielle Häuser für psychisch Kranke, wiesen be-reits Ende des 19. Jahrhunderts klare Konturen auf.Konsequenterweise folgten spezialisierte Ausbil-dungen und Berufsbezeichnungen. Die erste ge-setzliche Regelung für die Krankenpflegeausbil-dung wurde in Preußen im Jahre 1907 erlassen; diegesetzlich geschützte Berufsbezeichnung für dieKinderkrankenschwester wurde erstmalig imKrankenpflegegesetz von 1957 festgeschrieben; diestaatlich geschützte Berufsbezeichnung Altenpfle-ger, Altenpflegerin wurde erst im Jahre 2000 mitdem Altenpflegegesetz erlassen (z. Z. der Druckle-gung wegen einer Verfassungsbeschwerde des Lan-des Bayerns noch nicht in Kraft), bis zur Inkraft-setzung wird der Beruf der Altenpflege von den ein-zelnen Bundesländern in ihren bereits bestehendenAusbildungsordnungen geregelt.

2.3.5 Pflege wird zum Beruf

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten Ange-hörige katholischer Ordensgemeinschaften undder Mutterhausorganisationen durch ihre qualifi-zierte Mitarbeit wieder zu vermehrter gesellschaft-licher Anerkennung der Pflegetätigkeit beige-tragen; diese Entwicklung wurde durch die zu-nehmend professioneller werdende ärztlicheBehandlung in den Krankenhäusern und der Be-deutung Pflegender als wichtige ärztliche Assis-

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30 Kapitel 2 · Geschichte der Pflege

tenzkraft begünstigt. Für viele Zeitgenossen gab eskeinen Zweifel daran, dass »gründliche Kenntnisder Religion und tiefer religiöser Sinn« die Bedin-gung ist, ohne die eine Krankenpflegerin ihre Ar-beit nicht versehen kann. (Johannes EvangelistaGossner um 1837, zit. n. Sticker 1960, S. 186). Es gabjedoch auch andere Stimmen wie die des BerlinerPathologen, Rudolf Virchow (1821–1902), der in ei-ner Rede aus dem Jahre 1869 deutlich zum Aus-druck brachte, dass Pflegetätigkeit nicht mehr auschristlicher Liebestätigkeit, sondern als Aufgabebürgerlicher Wohlfahrtspflege zu betrachten sei(Seidler 1966, S. 165).

Neben der auch weiterhin weitgehend gefor-derten religiösen Anbindung der Pflegenden war esvor allem das erfolgreiche Mutterhausmodell, daszunächst die Ausübung von Pflegetätigkeiten alsnormale berufliche Betätigung verhinderte.Sowohlchristliche Motivation als Liebesdienst wie auch dieOrganisationsform widersprachen einer Bezahlungvon Pflegetätigkeit.Viele Frauen ertrugen die Engeder Mutterhaushierarchien mit der als unangemes-sen empfundenen eingeschränkten Bewegungs-freiheit nicht. So schrieb die damalige Probe-schwester eines Rot-Kreuz-Verbandes,Agnes Karll,im Jahre 1887 in einem Brief an ihren Onkel: »Diehiesigen Verhältnisse sind einfach unhaltbar, weilFrau Oberin durch ihre grenzenlose Heftigkeit,Strenge und Hochmut es dahin bringen wird, dassauch nicht eine Schwester im Haus bleibt« (Sticker1994, S. 33).

Neben dem Konfliktfeld Mutterhausschwes-tern/Freie Schwestern soll nicht unerwähnt blei-ben, dass es auch Anzeichen für einen »Kriegs-schauplatz« zwischen den Krankenwärterinnen ausder Unterschicht und den Schwestern aus dem bür-gerlichen Milieu gab. So weist Hilde Steppe (1998)in ihrem Aufsatz »Mrs. Gamp und die Folgen – Vonder Wärterin zur Krankenschwester« darauf hin,dass nicht nur im angloamerikanischen RaumVerdrängungstendenzen der Krankenwärterin, imRoman von Charles Dickens über die unsympathi-sche Figur der Mrs. Gamp personalisiert, sondernauch im deutschsprachigen Raum zu vermutensind (Steppe 1998, S. 24 f).

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Zeitdann reif für eine von Mutterhausstrukturen ge-lockerte Organisation der Pflegearbeit.Da eine rein

freiberufliche Pflegetätigkeit nicht denkbar war,unter anderem auch deshalb, weil jegliche sozialeAbsicherung gefehlt hätte, wurde unter Feder-führung der inzwischen »Wilden Schwester«, d. h.nicht mutterhausgebundenen Schwester AgnesKarll, die »Berufsorganisation der Krankenpflege-rinnen Deutschlands sowie der Säuglings- undWohlfahrtspflegerinnen«, kurz BO, im Jahre 1903ins Leben gerufen. Die BO schloss für ihre Mitglie-der privatrechtliche Krankenversicherungen abund vermittelte ihren Mitgliedern Arbeitsverträgemit Krankenhäusern. Die Arbeitsbelastung derSchwestern blieb aufgrund der traditionellen Auf-opferungswilligkeit mit der Folge eines verkürztenVerbleibs im Beruf sehr hoch. Erst ab dem Jahre1927 wurde eine 11-stündige Arbeitszeit durchge-setzt! Vor allem war es dem beharrlichen Wirkender Gewerkschaften zu verdanken,dass auch gegenden Widerstand der Mutterhausorganisationennach und nach arbeitsphysiologische und rechtli-che Verbesserungen erreicht wurden,die den Berufder Schwester/des Pflegers für eine ausreichendeAnzahl junger Menschen hinreichend attraktivwerden ließ.

2.3.6 Pflege professionalisiert sich

Heute verstehen wir unter Professionalisierung diequalifizierte Ausführung einer beruflichen Tätig-keit. Im Sinne dieser Definition verbietet sich eineentsprechende Betrachtung für zurückliegendeEpochen. In der folgenden Betrachtung soll derProfessionalisierungsgedanke allerdings zunächstfrei vom Kriterium »berufliche« Tätigkeit betrach-tet werden, da es auch bei der heutigen Professio-nalisierungsdebatte weniger auf den formalrechtli-chen Berufsstatus ankommt, sondern vielmehr aufdie Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität, dievon Angehörigen der Pflegeberufe geleistet wird.

Betrachten wir einige Stationen der Pflegege-schichte unter diesem Blickwinkel,dann handelt essich um keine Errungenschaft der Gegenwart, son-dern um einen weit zurückverfolgbaren Prozess.Gehen wir auf diesem Weg zurück ins Mittelalter,sobegegnet uns beispielsweise die bereits in Ab-schn.2.3.1 erwähnte Benediktinerregel.Darin heißtes in Kapitel 36, Satz 8:

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2.3 · Darstellung der Pflegegeschichte231

7 Man biete den Kranken sooft es ihnen

guttut, ein Bad an; den Gesunden je-

doch und vor allem den Jüngeren erlau-

be man es nicht so schnell. Die ganz

schwachen Kranken dürfen außerdem

zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit

Fleisch essen. Doch sobald es ihnen bes-

ser geht, sollen sie alle nach dem glei-

chen Brauch auf Fleisch verzichten (zit.

n. Salzburger Äbtekonferenz 1996,

S. 165).

Ein Bad zu nehmen, war im Mittelalter mit einemhohen Aufwand verbunden: Wasser musste vomBrunnen zum Badezuber transportiert, Feuerholzzur Erwärmung des Wassers herbeigeschafft wer-den. Auch gehörte das Fleisch nicht jeden Tag aufden Tisch, sondern war Festtagen vorbehalten. BeiBedarf wurden also außergewöhnlich hohe An-strengungen unternommen, um zu einer Steige-rung des Wohlbefindens und damit zur Heilungbeizutragen. Wir würden heute von individuellerganzheitlicher Pflege sprechen, die hinter diesenVorschriften zu sehen ist.

Ein anderes Beispiel für Professionalisierungs-bestrebungen,diesmal aus der Neuzeit,können wirbeispielsweise der Anleitung zur Krankenwartungdes Arztes Johann Friedrich Dieffenbach (1792–1847) entnehmen: Die Gestaltung äußerer Bedin-gungen wird hier genauso geschildert wie qualifi-zierte pflegerische Hilfen z.B.gegen das »Durchlie-gen« oder die erwartete Unterstützung ärztlicherTätigkeit.Dieffenbach betont immer wieder,dass essich um eine zu erlernende differenzierte Tätigkeithandelt, auf die er immer wieder hinweist:

7 Es sind viele hundert Kleinigkeiten

mehr, die eine gute Krankenwärterin

wissen muß, und man sollte billig kei-

nem den Zutritt zu Kranken gestatten,

der nicht vorher in dieser Kunst wohl

unterrichtet worden wäre (zit. n. Sticker

1960, S. 91).

War es im Mittelalter das religiöse Motiv, das auchdie Pflege erfasste, oder in der Neuzeit die Ärzte-schaft als treibende Kraft einer sich weiter qualifi-zierenden Pflegearbeit, so ist diesen Professionali-sierungsbestrebungen ein von außen initiiertes

Handeln gemeinsam. Hier ist der eigentliche Un-terschied zur Gegenwart zu sehen, in der von An-gehörigen der in der Pflege Tätigen oder ehemalsTätigen eine innere Qualifizierung angestrebt wird.Die erste aus dem Kreis der Pflegenden, die in derPflege mehr sah, als »die Verabreichung von Medi-kamenten und die Anwendung von Umschlägen«war die Engländerin Florence Nightingale (1820–1910); ihr war klar, dass »die eigentlichen Elemen-te« der Pflege noch auf ihre Entdeckung warten unddaher weiter professionalisiert werden müssen(Rüller 1999a, S. 62).

Das Denken und Umsetzen einer Pflegetätig-keit als Prozess, die Orientierung am Grad der Un-terstützungsbedürftigkeit oder die Bedeutung derBiographie und der Autonomie eines Menschen,wie sie uns von diversen Pflegemodellen und Pfle-getheorien nahegebracht werden,stehen in der Pra-xis erst am Beginn, das Pflegehandeln maßgeblichzu beeinflussen oder gar zu prägen. Zu den behin-dernden Strukturen zählen sicherlich traditionellehierarchische Strukturen ebenso wie die dogmati-sche Verteidigung eines funktionalistischen Sche-mas der Pflegearbeit, das die Sicherheit einer for-mal erledigten Arbeit vermittelt. Ein äußerlicherZwang, wie er durch die im Krankenpflegegesetzwie im Altenpflegegesetz geforderte prozessorien-tierte und gesundheitsfördernde Pflege verlangtwird, hat diese Denk- und Handlungsmuster je-denfalls auch nach 15 Jahren nicht beseitigen kön-nen. Erleichtert wurde dieses beharrliche »weiterso, wie wir es immer gemacht haben« sicherlichauch durch das markwirtschaftlich untypischekonkurrenzfreie Nebeneinander bei Krankenhäu-sern wie bei Altenheimen.

Andererseits gibt es objektiv noch keinenGrund in Ungeduld zu erstarren, da sich neueGedanken noch nie in wenigen Jahren durchgrei-fend verbreitet haben. Auch dies lehrt uns die Ge-schichte.

Die Entwicklung des Pflegeberufs ist mehr-dimensional zu betrachten, wenn dieverschiedenen Facetten sichtbar werdensollen. Um diesem Anspruch einerseitsübersichtlich, andererseits didaktisch um-

Zusammenfassung

Page 47: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

2

32 Kapitel 2 · Geschichte der Pflege

setzbar nachgehen zu können, erfolgte dieDarstellung der Pflegegeschichte nicht inder gewohnten chronologischen Abfolge,sondern über sechs »Entwicklungslinien«,die eine thematische Herangehensweiseimpliziert. Jede der sechs Entwick lungsli-nien wird von seinen Anfängen bis hin zuheutigen Auswirkungen bzw. Veränderun-gen dargestellt. Dadurch ist gewährleistet,dass Geschichte einen Beitrag zum Ver-ständnis der Gegenwart leisten kann.Diese Herangehensweise wird auch für dieVermittlung der Gesamtthematik vorge-schlagen, da hierdurch auch im Unterrichtleichter Entwicklungen und Begründungs-zusammenhänge erschlossen werden kön-nen. Außerdem bietet diese Herangehens-weise den Vorteil,das Interesse und die Mo-tivation für Geschichte der Pflege zuerhalten, da statt eines Dschungels vonZahlen und Ereignissen Zusammenhängenachvollzogen und eigene Schlussfolge-rungen gezogen werden können.

3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung

Geschichtsdidaktik

Geschichtsdidaktik bemüht sich darum, wichtigeErkenntnisse der Geschichtswissenschaft auf eindem zeitlichen Rahmen von Unterricht angepas-sten Niveau zu vermitteln. Dabei kommen ihr imWesentlichen zwei Aufgaben zu:4 1. Den Erkenntnisstand der Geschichtswissen-

schaft in seiner Qualität zu erhalten. Dies ist inder Regel nur durch eine sinnvolle Auswahl vonPhänomenen möglich. Eine Wiedergabe mög-lichst sämtlicher Ereignisse in gekürzter Formwäre für die Grundausbildung völlig ungeeig-net, da der Unterricht dann nur unwesentlichüber die Rezeption von Fakten hinausgehenkönnte.

4 2.Methoden zu kreieren,die dazu geeignet sind,den Lernenden zu Erkenntnissen zu führen,diedas Verstehen der Vergangenheit und die Ein-schätzung der Gegenwart ermöglichen.

Beiden Ansprüchen wird eine Unterteilung derPflegegeschichte in thematische Einheiten in ho-hem Maße gerecht, so dass für die inhaltliche Aus-wahl die im vorangegangenen Kapitel vorgestelltenInhalte relevant sein können.Damit es auch hierbeinicht zu einer undurchschaubaren Datenfülle, son-dern zur Konzentration auf die wesentlichen Aus-sagen/Erkenntnisse kommen kann, wird eine ex-emplarische Herangehensweise vorgeschlagen,wiesie von Wagenschein (1991) und Klafki (1993) pro-pagiert werden. Exemplarität bedeutet hier z. B.,dass der Karitasgedanke an der Klosterpflege imMittelalter oder auch an der Biographie Elisabethsvon Thüringen verdeutlicht werden kann.

Des weiteren wird hier als eine Methode,die einhandlungsorientiertes Vorgehen ermöglicht, dasentdeckende Lernen vorgeschlagen. Medien sindQuellenauszüge mit möglichst hohem Motiva-tionsgrad und möglichst hoher Repräsentanz füreinen erkenntnisorientierten Lernzuwachs; für dieKlosterpflege gewährleistet dies beispielsweise das36. Kapitel aus der Benediktinerregel.

Phasenkonzept

Das im folgenden vorgestellte Phasenkonzept istam entdeckenden Lernen orientiert. Entdecken be-deutet hier die eigenständige Auseinandersetzungmit den historischen »Fakten«, die in Form vonQuellen untersucht werden. Ein näheres Eingehenauf den »Akt der Entdeckung« erfolgt in der sichanschließenden Erläuterung des in fünf Schrittenvorgestellten Phasenmodells zum entdeckendenLernen (. Tabelle 2.2).

Das Phasenschema zielt zudem auf exemplari-sches Lernen. Zwar gibt es in der Geschichte keineexakt gleichartigen Erscheinungen,dennoch lassensich einige übergeordnete Einsichten festmachen,die sich an den Leitlinien der Übersicht in Ab-schn.2.2 orientieren.Insgesamt verbergen sich hin-ter der vorliegenden Phasierung drei didaktischeSchwerpunkte:4 1. die Planungsbeteiligung der Lernenden,4 2. das entdeckende oder forschende Lernen,4 3. die Entwicklung von Haltungen/Einsichten.

Zu Punkt 1. Eine Planungsbeteiligung von Lernen-den ist möglichst häufig anzustreben,da hierdurchwichtige Lern- und Methodenkompetenzen wie die

Page 48: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

2.3 · Darstellung der Pflegegeschichte233

. Tabelle 2.2. Phasenschema zum entdeckenden Lernen. (Aus Rüller 1999, S. 9)

Unterrichtsphasen Lernschritte Kommentare

Einstieg/ Bekanntgabe des Dient der Groborientierung über den Unterrichts-Materialimpuls Themenbereichs inhalt

Über Bilder/Texte (bei historischen Der Einsatz von Originalmaterial ermöglicht einer-Themen möglichst Primärquellen) / seits die vertiefte Beschäftigung mit der Thematik,Urkunden oder andere Material- andererseits erhalten Lernende die Möglichkeit impulse werden die Lernenden mit der eigenen Prüfung von Sachverhalten (erfolgt dem Inhalt oder Teilaspekten des ohne vorangehende Erläuterung, da sonst kein Themas konfrontiert. Entdecken möglich ist).

Die Begegnung mit dem Inhalt kann durch denLehrenden über Anschauungsmaterial eingeleitetwerden. Dies sollte nur dann der Fall sein, falls eingewisses Vorverständnis geschaffen werdenmuss, dies kann vor allem bei historischen The-men (soziale, kulturelle oder politische Situation)der Fall sein.

Fragebildung Die Lernenden artikulieren ihr Inte- Falls es zu keinen Fragestellungen durch die resse an einzelnen Aspekten des Lernenden kommt, kann diese vom Lehrenden Lerngegenstandes. eingebracht werden. In jedem Fall muss es sich

um Fragen handeln, die durch die Bearbeitung bereitgestellter Texte, Bilder oder andere Medien geklärt werden können.

Eine oder mehrere Leitfragen Ist in jedem Fall erforderlich, um jederzeit eine werden fixiert. Transparenz über die Fragestellung(en) zu ermög-

lichen.

Planungsgespräch Lehrende bieten Möglichkeiten zur Die Präsentation der zur Bearbeitung geeigneten Lösung/Bearbeitung der Problem- Medien eröffnet den Lernenden die Möglichkeit,oder Fragestellung an. Lernende kön- z. B. über die Sozialform mitzuentscheiden.nen eigene Vorstellungen über Lö- Darüber hinaus können die Lernenden über eige-sungsstrategien einbringen, ein- ne Recherchen (Interview, Erkundung, Einladung schließlich arbeitsteiliger oder von Zeitzeugen, Experten, Bibliothek, Internet) arbeitsgleicher Verfahren. ihre Methodenkompetenz fördern sowie sich an

der Planung der Ergebnispräsentation beteiligen.

Falls das Thema eine breit gestreute Palette vonFragen in sich trägt, muss an dieser Stelle evtl. eineUnterrichtsunterbrechung eingeplant werden, umdie nötigen medialen Voraussetzungen zu ermög-lichen.

Bearbeitung Anhand eigener Untersuchungen, Bei Texten oder anderen Quellen erhalten die Textanalysen, Bildinterpretation oder Lernenden nach erster Lektüre die Möglichkeit,anderer Quellen (bei historischen unbekannte Begriffe oder unverstandene Sach-Themen möglichst Primärmaterial) verhalte zu erfragen. Der Lehrende hat diese Fra-werden Lösungsansätze (selbst- gen in der Regel vorhergesehen und sich entspre-ständig oder frontal) entwickelt und chend vorbereitet.nachvollziehbar dargestellt.

Die Präsentation/Auswertung der Materialinhaltekann frontal im Klassenverband geschehen, ein-zeln in Gruppen besprochen werden oder vonGruppen im Plenum vorgestellt werden.

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34 Kapitel 2 · Geschichte der Pflege

Planung von Arbeits- und Lernprozessen oder sys-tematische Vorgehensweisen gefördert werden.

Zu Punkt 2. Entdeckendes oder forschendes Lernenist mit dem ihm innewohnenden Transfergedan-ken untrennbar mit selbstständigem Handeln ver-bunden.Aktives selbstständiges Lernen wird durchdie eigenständige Auseinandersetzung (Entde-ckung) mit den Inhalten gefördert, die im Ge-schichtsunterricht medial überwiegend durch Text-und Bildmaterial repräsentiert werden.Dieses Ent-decken der Inhaltlichkeit wird durch den Mate-rialimpuls im Einstieg eingeleitet und durch die fol-genden Bearbeitungsschritte weitergeführt. NachJerome S. Bruner, einem der Päpste des »entde-ckenden Lernens«, ist »Entdeckung nicht auf denAkt (beschränkt), durch den man etwas herausfin-det,das der Menschheit vorher unbekannt war,son-dern (es sind) fast alle Formen des Wissenserwerbsmit Hilfe des eigenen Verstandes« eingeschlossen.Weiter heißt es: »Stets werde ich von der Annahmeausgehen, dass Entdeckung ihrem Wesen nach einFall des Neuordnens oder Transformierens des Ge-gebenen ist« (Bruner 1973, S. 16). Vorteile des Ent-deckens werden von Bruner wie von anderen Di-daktikern gleich in mehrfacher Hinsicht gesehen.Die folgende Aufzählung ist nicht hierarchisch zuverstehen:4 Durch die intensive geistige Auseinanderset-

zung mit einem Inhalt kann das Gedächtnis dieneuen Informationen besser speichern.

4 Die erhöhte geistige Aktivität trainiert und er-höht die intellektuellen Fähigkeiten.

4 Das Vermögen,systematisch Informationsquel-len zu nutzen, wird gefördert.

4 Durch den auf eigenes Denken zurückführba-ren Lernerfolg nimmt die Lernfreude (intrinsi-sche Motivation) insgesamt zu.

Zwei Vorgehensweisen können sich dabei eröffnen:4 Der Materialimpuls führt zu Fragestellungen,

die nicht mit diesem Material beantwortbarsind. Ein anschließendes Planungsgesprächführt zur Bearbeitung mit weiterem Materialund damit zum Transfer/zur Beurteilung.

4 Der Materialimpuls führt zum Gespräch überdie Inhalte dieses Materials unter einer Fra-gestellung. Ein anschließendes Planungsge-spräch führt zur vertieften Bearbeitung des be-reits verwendeten Materials und damit zumTransfer/zur Beurteilung.

Zu Punkt 3. Transfer und die dem Transfer inne-wohnende oder ihm folgende Bewertung bilden dieVoraussetzung für die Erreichung übergeordneterZiele, nämlich der Erzeugung von Haltungen undEinstellungen in der »Berufskunde« zum eigenenBeruf und seiner Ausübung. Diesem Anspruchkann ein systematischer Wissensaufbau nicht ge-recht werden. Zudem widerspräche eine versach-lichte Vermittlungsebene nicht nur den individuel-len Erlebniswelten von Auszubildenden, sondernauch dem Anspruch von Schule und Ausbildung,den beruflichen Alltag einschließlich seiner mit-menschlichen Beziehungsebenen in lernfördern-der Weise einzubinden.

. Tabelle 2.2. Fortsetzung

Unterrichtsphasen Lernschritte Kommentare

Transfer/Beurteilung Historische wie gegenwärtige Tat- Diese beiden Phasen sind in der Regel nicht trenn-bestände werden hinsichtlich eige- bar, da bei einer Rückbesinnung auf die eigene ner Erfahrung befragt. Ähnlichkeiten/ Situation fast immer auch gleichzeitig eine Bewer-Unterschiede werden erfasst. tung erfolgt. Auch ein anderes als das erwartete

Ergebnis muss akzeptiert werden!

Die eigene Berufssituation wird vor Beide Phasen sind äußerst wichtig, da sie den dem Hintergrund der vorangegange- Aufbau eigener Grundhaltungen und Beurtei-nen Analyse bewertet. lungskriterien fördern. Bei unzureichend empfun-

dener Situation kann eine eigene Zielsetzung mit möglichen Umsetzungsstrategien erfolgen.

Page 50: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

2.1 · Darstellung der Pflegegeschichte235

In der Vermittlung von Pflegegeschichte sinddaher möglichst immer Anknüpfungspunkte zwi-schen historischen oder gegenwärtigen Sachver-halten zur Erlebniswelt der Auszubildenden in ei-nem Gegenwartsbezug zu suchen.Bei historischenThemen ist der Gegenwartsbezug der Transfer, derwiederum eine eigene Beurteilung durch die Ler-nenden provoziert.

3 Empfehlungen zum WeiterlernenDie weitere Einarbeitung ins Thema kann auf zweiEbenen erfolgen:4 a) der inhaltlichen Vertiefung der Pflegege-

schichte,4 b) der Auseinandersetzung mit Möglichkeiten

zur Vermittlung.

Zur inhaltlichen Vertiefung

Die hier erwähnte Literatur ist im Literaturver-zeichnis enthalten,daher erfolgen die Angaben hiernur unter Nennung des Autors,der Autorin und desErscheinungsjahres wie im Literaturverzeichnisangegeben,zum Teil sind inzwischen neuere Aufla-gen erschienen. Um die Lektüre weiterführenderLiteratur in überschaubaren Grenzen zu halten,möchte ich lediglich auf einige Werke verweisen,die eine spezielle Ausrichtung aufweisen.

Die nach wie vor wichtigste Sammlung vonQuellenstücken ist die von Sticker (1960) betriebe-ne Sammlung. Manko dieser Sammlung ist aller-dings, dass sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts en-det. Eine Fortführung wartet noch auf entspre-chende Bearbeiterinnen.

Wer sich für Pflegegeschichte aus der Sicht einerengen Verbindung mit der Medizin interessiert,dem ist das Werk von Eduard Seidler (1980, weite-re Auflagen) Geschichte der Pflege des kranken Men-schen zu empfehlen. Im Anhang werden einige fürdie Pflegegeschichte wichtige Quellen bzw. Quel-lenauszüge abgedruckt.

Anna Paula Kruse (1987) hat mit ihrem Werküber die Krankenpflegeausbildung seit der Mittedes 19.Jahrhunderts,die sie in ihrer Einbindung vorallem religiöser gesellschaftlicher Bedingungenund Entwicklungen darstellt, ein auch heute nochwichtiges Werk geschaffen.

Sehr speziell, dafür aber nicht unwichtiger istdie Krankenpflege im Nationalsozialismus von Hil-de Steppe (1993). Auch dieses Werk enthält eine

Reihe wichtiger Dokumente, die das Bild der Pfle-ge bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts deutlich wer-den lässt.

Ein wichtiges Werk ist auch das von ClaudiaBischoff (1992), das die Pflege in ihrer Eingebun-denheit zwischen gesellschaftlicher Rolle der Frauund der Entstehung eines Berufs für Frauen im19. und 20. Jahrhundert beleuchtet.

Wer sich selber über Dokumente in Archivenein genaueres Bild über Ausschnitte der Pflegege-schichte verschaffen möchte, für den sind Kennt-nisse über historische Hilfswissenschaften unver-zichtbar. Ein Standardwerk in dieser Hinsicht, dassich immer weiterer unveränderter Neuauflagenerfreut, ist das von Ahasver von Brandt, Werkzeugdes Historikers, Kohlhammer/Urban Taschenbü-cher.

Zur Vermittlung

Die Tradition einer Didaktik für Pflegegeschichteist noch sehr jung.Aber zu wesentlichen Fragen derBedeutung, Zielsetzung sowie didaktischen Ansät-zen kann hier auf eine Reihe von Werken zur Ge-schichtsdidaktik verwiesen werden: Dazu gehören:4 Bergmann K et al. (Hrsg) (1997) Handbuch der

Geschichtsdidaktik, 5. Aufl. Kallmeyersche Ver-lagsbuchhandlung, Seelze

4 Reinisch L (Hrsg) (1974) Der Sinn der Geschich-te, 5.Aufl. Beck, München

4 Rohlfes J (1971) Umrisse einer Didaktik der Ge-schichte, 4.Aufl.Vandenhoeck & Ruprecht, Göt-tingen

4 Süssmuth H (Hrsg) (1980) Geschichtsdidakti-sche Positionen. Bestandsaufnahme und Neuo-rientierung. Schöningh, Paderborn

Bibliographien zu Themen wie: Bearbeitung/Inter-pretation schriftlicher Quellen im Geschichtsun-terricht,problemorientierter Geschichtsunterricht,handlungsorientierter Geschichtsunterricht,Bilderim Geschichtsunterricht und andere mehr sind imInternet beispielsweise über die Adresse http://www.phil.uni-erlangen.de/~plges/geschichtsdi-daktik/bibliographien/body_bibliogra abrufbar.

Eine der wichtigen Zeitschriften ist die Ge-schichte in Wissenschaft und Unterricht (GUW).

Ich möchte an dieser Stelle jedoch nicht ver-säumen, auf eigene Beiträge zu verweisen, die sichsehr konkret mit der Auswahl von Inhalten wie mit

Page 51: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

2

36 Kapitel 2 · Geschichte der Pflege

der Vermittlung durch exemplarisches/entdecken-des Lernen beschäftigen. Hier wäre zum einen Ex-emplarisches Lehren und Lernen – im Berufskun-deunterricht (Rüller 1996) zu nennen.Zum anderengibt es in der Zeitschrift Unterricht Pflege (ISSN1615–1046) Heft 1/1999, Schwerpunkt »Geschichteder Pflege und ihre Didaktik«, den Aufsatz »Ge-schichte der Pflege im Unterricht« (Rüller) sowie ei-nen »Unterrichtsentwurf zum entdeckenden Ler-nen – am Beispiel Gemeindepflege« (Steinhorst).Ineinem weiteren Aufsatz dieser Zeitschriftenausga-be werden im Beitrag »Arbeitsaufträge zur Pflege-geschichte« Aufgabentypen für den Unterricht inihrer Abhängigkeit von Unterrichtsphasen vorge-stellt.

Literatur

Bischoff C (1992) Frauen in der Krankenpflege. Zur Entwicklung

von Frauenrolle und Frauenberufstätigkeit im 19. und 20.

Jahrhundert. Campus, Frankfurt a. M. New York

Brandt A v (1973) Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die

historischen Hilfswissenschaften, 7. Aufl. Kohlhammer, Stutt-

gart Berlin Köln Mainz

Bruner JS (1973) Der Akt der Entdeckung. In: Neber H (Hrsg) Ent-

deckendes Lernen. Beltz, Weinheim Basel, S 15–27

Carr EH (1974) Was ist Geschichte, 4. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart

Köln Mainz

Hippokrates (1994) Ausgewählte Schriften. Aus dem Griechischen

übersetzt und herausgegeben von Hans Diller. Reclam, Stutt-

gart

Klafki W (1993) Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik.

Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Di-

daktik, 3. Aufl. Beltz, Weinheim Basel

Kruse AP (1987) Die Krankenpflegeausbildung seit der Mitte des

19. Jahrhunderts. Kohlhammer, Stuttgart Berlin Köln Mainz

Löwith K (1974) Vom Sinn der Geschichte. In: Reinisch L (Hrsg) Der

Sinn der Geschichte, 5. Aufl. Beck, München, S 31–49

Rüller H (Hrsg.) (1994) Pflege gestern und heute. Prodos, Brake

Rüller H (1996) Exemplarisches Lehren und Lernen – im Berufs-

kundeunterricht. In: Martens M, Sander K, Schneider K (Hrsg)

Didaktisches Handeln in der Pflegeausbildung.Prodos, Brake,

S 162–175

Rüller H (Hrsg) (1999a) 3000 Jahre Pflege.Von den ersten Schritten

zum Pflegeprozess, 3. Aufl. Prodos, Brake

Rüller H (1999b) Geschichte der Pflege im Unterricht. Unterricht

Pflege Heft 1: 2–13

Salzburger Äbtekonferenz (Hrsg) (1996) Die Benediktusregel,

2. Aufl. Beuroner Kunstverlag, Beuron

Schipperges H (1990) Die Kranken im Mittelalter. Beck, München

Seidl E,Walter I (1998) Pflege im Wiener Allgemeinen Krankenhaus

zwischen 1856 und 1913. In: Pflegewissenschaft heute, Bd 5.

Maudrich, Wien München Bern, S 223–257

Seidler E (1980) Geschichte der Pflege des kranken Menschen,

5. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Berlin Köln Mainz

Steppe H (1998) Mrs. Gamp und die Folgen – Von der Wärterin zur

Krankenschwester. In: Pflegewissenschaft heute, Bd 5. Maud-

rich, Wien München Bern, S 23–41

Sticker A (Hrsg) (1960) Die Entstehung der neuzeitlichen Kranken-

pflege. Deutsche Quellenstücke aus der ersten Hälfte des

19. Jahrhunderts. Kohlhammer, Stuttgart Berlin Köln Mainz

Sticker A (1994) Agnes Karll: die Reformerin der deutschen Kran-

kenpflege, 3. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Berlin Köln Mainz

Wagenschein M (1991) Verstehen lernen. Genetisch – sokratisch –

exemplarisch, 9. Aufl. Beltz, Weinheim Basel

Page 52: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

3

Biographieforschung und Pflege

Kirsten Sander

3.1 Biographien als Forschungsgegenstand 39

3.1.1 Differenzierung des Gegenstandsbereichs »Biographie« 40

3.1.2 Biographie als soziale Konstruktion 42

3.2 Das biographisch-narrative Interview

als Forschungsmethode 43

3.2.1 Eigenschaften einer Erzählung 44

3.2.2 Durchführung eines biographisch-narrativen Interviews 46

3.2.3 Prozessstrukturen des Lebensablaufs (Fritz Schütze) 47

3.3 Biographieforschung in der Pflege 49

3.3.1 Analyse- und Handlungsfelder 50

3.3.2 Studie: Leben im Altenheim als biographische (An-) Passung 50

Page 53: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

3

38 Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege

Ein biographisches Portrait:»Frau Sophie Schaumburg« (98 Jahre)

Frau Sophie Schaumburg wird 1899 als Jüngste

von sechs Kindern geboren. Sie wächst in einem

großbürgerlichen Haushalt mit Kinderfräulein und

Dienstmädchen auf. Der älteste Bruder ist zum

Zeitpunkt ihrer Geburt bereits Kaufmannslehrling

in London;ein anderer Bruder ist Kapitän der Han-

delsschifffahrt. Die Familie lebt im Sommer auf

ihrem Gut in A-Dorf und im Winter in einer Villa in

E-Stadt:»Und das war so schön,das glauben Sie gar

nicht«. Es ist immer Besuch im Haus. Aufgrund ei-

ner Bürgschaft verliert der Vater 1909 das ganze

Vermögen; die Mutter erkrankt und kann sich

nicht mehr selbst um die Kinder kümmern. Der

»Kladderadatsch« führt dazu,dass der ganze Besitz

verkauft und das Personal entlassen werden

muss. Die Familie zieht in ein kleineres, angemie-

tetes Haus in E-Stadt.Ein Kinderfräulein bleibt bei

der Familie und wird zur »zweiten Mutter« für das

Mädchen.Als Schulmädchen mag sie nicht still sit-

zen und Handarbeiten machen. Auf eigenen

Wunsch kann sie mit 16 Jahren mit anderen

Mädchen »aus landwirtschaftlichen Kreisen« auf

einer Landwirtschaftsschule alles lernen,was man

benötigt,um dem »Chef in der Landwirtschaft« mit

dem »Köpfchen« zu helfen.Bei ihrer ersten Anstel-

lung als »Gutshofsekretärin« in Hinterpommern

kann die junge Frau gemeinsam mit einem In-

spektor auf einem großen Gutshof »ein bisschen

aufräumen.« Sie hat auf dem »Hof das Sagen« und

erteilt »Befehle« an Arbeiter.Ein Stellenwechsel auf

einen kleineren Hof in Ostfriesland, auf dem sie

eher für die praktische Arbeit zuständig ist, miss-

fällt ihr: Dort war es »nicht großzügig genug … da

konnt’ ich nicht mit zurechtkommen.« Sie wechselt

erneut die Stelle zu einem Hof in Schleswig-Hol-

stein und übernimmt wieder Aufsichts- und Koor-

dinationstätigkeiten »Da konnt’ ich denn wirken,

wieder wirken«. Bei einem Urlaubsaufenthalt lernt

sie 1928 ihren Mann kennen. Durch die Vermitt-

lung einer Tante wird die Eheschließung möglich.

»Ein Jahr Verlobung, dann Hochzeit und von da an

Glück«. Frau Schaumburg beschreibt ihren Mann

als »rührend«. Das Ehepaar lebt in der Wohnung

der Schwiegereltern. Es gibt nur ein kleines Zim-

mer für die Eheleute mit einer Wohnecke.Die »be-

fehlsgewohnte« Schwiegermutter teilt der jungen

Ehefrau die Küche zu. Für sie ist Hausarbeit sehr

ungewohnt und »furchtbar langweilig … Ich war ja

immer im Kontor gewesen«. Das Zusammenleben

mit der Schwiegermutter ist »sehr, sehr schwierig«

und muss »zehn Jahre ausgehalten« werden. 1942

zieht das Ehepaar nach E-Stadt, zurück in die Villa

ihrer Kindheit,die inzwischen vermietet und in ei-

ner Etage von der Familie bewohnt wird.Der Ehe-

mann erkrankt und wird in der Nachkriegszeit von

Frau Schaumburg gepflegt,er verstirbt 1972.Mie-

terwechsel im Haus und zu viele Pflichten veran-

lassen Frau Schaumburg zu einem Umzug in ein

kleines Apartment des Altenheims. Sie lebt zum

Zeitpunkt der autobiographischen Erzählung be-

reits über zehn Jahre dort.

Zum Leben im Altenheim schildert Frau Schaum-

burg u. a. folgendes:

»Erst musst ich mich auch sehr,sehr gewöhnen.Also

will mal sagen,man ist ja eingebettet in den Betrieb,

nich. Ne gewisse Ordnung muss ja sein. Also pünkt-

lich zum Essen runter.«

»Ich hatte mir n’ extra kleines Bett ausgesucht, ich

bin ja klein und brauch’ nicht so viel Platz – so dass

ich da in dem Zimmer etwas Raum gewinne.Das ist

sowieso: Bett, Schr-, Bett, Nachtisch, Schrank – aus.

Aber es reicht – es reicht, nich. Man muss sich nur

dran gewöhnen, wenn man weitläufiger gewöhnt

ist, nicht…. Ich meine, – das kleinste Zimmer, was

wir hatten [in der Villa],das war vielleicht – von hier

bis da und so – [zeigt die Abmaße im Raum] – das

war das kleinste Zimmer.«

»Die Angestellten sind also ganz reizend hier – ganz

reizend.Da kann ich nicht – kein einziges böses Wort

drüber sagen.Das hat man selten,nich? – Ich möch-

te beinahe sagen, man ist mit den Angestellten

direkt ein bisschen befreundet. Weil die – weil die

auch auf einen eingehen und die sehen, was einem

Not tut und denn bewerkstelligen sie das – jeden-

falls für mich, also.«

5 Wie interpretieren Sie die Aussagen von

Frau Schaumburg zum Leben im Heim an-

hand der Informationen, die Sie über sie aus

dem biographischen Portrait erhalten ha-

ben? Wie versteht Frau Schaumburg ihr Le-

ben im Altenheim?

5 Was ist für die Pflege dieser alten Dame Ihrer

Meinung nach besonders wichtig? Formu-

lieren Sie übergeordnete Prinzipien.

Beispiel

Page 54: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

3.1 · Biographien als Forschungsgegenstand339

3 Berufliche Handlungskompetenzen

2 FachkompetenzTheoretische Grundlagen der Biographie-

forschung nachvollziehen und den Gegen-

stand »Biographie« differenzieren.

Fragehorizont zum Zusammenhang von

Biographie und Pflege entwickeln, die in

zukünftigen Forschungsvorhaben umge-

setzt werden könnten.

2 Personal- und SozialkompetenzSich auf die Subjektperspektive als biogra-

phisches Konstrukt einlassen und sich im

Fremdverstehen anhand von biographi-

schen Erzählsegmenten üben.

2 MethodenkompetenzDie Phasen eines biographisch-narrativen

Interviews unterscheiden und die jeweili-

gen Aktivitäten von Erzählerin und Inter-

viewerin analysieren.

Beispielhaft eine biographieanalytische

Studie in ihrem Aufbau, ihren Zielsetzun-

gen und den Ergebnissen nach ihrer Rele-

vanz für die Pflege und Pflegebildung be-

werten.

3 Praxisrelevanz

Biographieforschung kann für die Lehr-/Lernfor-schung wie für die Interventionsforschung im Ge-sundheitssektor einen wichtigen Zugang eröffnen.Die Analyse und Interpretation von Biographienkann die Sinngehalte von Gesundheit und Krank-heit, Pflegen und Gepflegtwerden rekonstruierenund dazu beitragen, dass sowohl Lehr-/Lern- wieInterventionsangebote sich verbessern. Biogra-phieforschung, als ein an Bedeutung in der qua-litativen Sozialforschung zunehmender For-schungsansatz,kann für die Zukunft der Pflegewis-senschaft und -bildung wichtige Erkenntnisse zueiner an Selbstkompetenzentwicklung orientiertenPflege liefern.Die folgenden Ausführungen könnenauch als eine Hilfestellung verstanden werden, umsich für oder gegen eine qualitative Forschung mitBiographien zu entscheiden.

3 Verfahrensstruktur (. Tabelle 3.1)

3.1 Biographien als Forschungsgegenstand

Biographieforschung ist heute eine etablierte Formqualitativer Sozialforschung. In unterschiedlichenFachdisziplinen wird der Ansatz in Konzepten undmethodologischen Entwürfen ausformuliert. Ne-ben der in den 70er Jahren in der Soziologie ent-wickelten Biographieforschung hat sich im bun-desdeutschen Kontext eine pädagogische und psy-chologische Biographieforschung etabliert. Alsgemeinsamer Ursprung wird die von den Chicago-er Soziologen William Isaac Thomas und FlorianZnaniecki bereits 1919/1920 durchgeführte StudieThe Polish Peasant in Europe and America verstan-den. Thomas und Znaniecki analysierten dieSelbstbeschreibung eines immigrierten Polen, umdie sozialen Probleme der Migration und die mitder Migration verbundene Individualisierung derLebensführung zu erfassen (Fuchs 1985). Die For-scher entwickelten die Vorstellung, dass für eineErklärung sozialer Phänomene sowohl subjektiveals auch objektive Faktoren berücksichtig werdenmüssen. In der Chicagoer School wurde die Vorge-hensweise aufgegriffen und evozierte eine Vielzahlvon biographischen Forschungen (Fuchs-Heinritz1999, S. 3 f.).

Ansatzpunkte und Zielsetzungen der Biogra-phieforschung sind eng mit den gesellschaftlichenWandlungsprozessen verbunden. In der Modernewurde und wird die biographische Selbstbeschrei-bung zunehmend bedeutsamer. Die durch die Auf-lösung von Gruppenzugehörigkeiten bedrohteIdentitätsbildung und -sicherung lässt sich nurnoch in biographischen Selbstbeschreibungen her-stellen. Das soziologische Identitätskonzept kanndiese fortlaufenden Prozesse der Selbstverortungnicht umfassend beschreiben (Fischer-Rosenthal u.Rosenthal 1997, S. 408).Wir sind aufgefordert, trotzbestehender und neuer institutioneller Ordnungs-dimensionen unseren Lebensablauf,und damit daspotentielle Scheitern oder Glücklichwerden darin,selbst in die Hand zu nehmen.Mit der Bezeichnung»Risikogesellschaft« wurde diese Zeitdiagnose zu-gespitzt: Die zunehmende »Individualisierung« desLebensablaufs birgt Gefahren in sich (Beck 1986).Zwischen der in den Sozialwelten vorgegebenen

Page 55: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

3

40 Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege

Geordnetheit und den multioptionalen Wahlmög-lichkeiten liegt eine Widersprüchlichkeit, die aufder Ebene des Subjekts in einer Biographie beant-wortet werden muss.Biographieforschung kann alstheoretische und methodische Konzeption die bio-graphischen Strukturierungen des gesellschaftli-chen Wandels erfassen.

Als zentrale Analyseperspektiven der Biogra-phieforschung können folgende Fragestellungenformuliert werden:

7 Welchen Sinn und welche Bedeutung

hat Biographie für Gesellschaftsmitglie-

der im Laufe sozialisatorischer und so-

zio-historischer Entwicklungen erlangt?

Welche Funktionen nimmt sie ein auf

der lebensweltlichen Ebene des sozialen

Handelns und welche im Gesamtgesell-

schaftlichen? Wie werden biographi-

sche Strukturen erzeugt, erhalten und

verflüssigt? (Fischer-Rosenthal 1990,

S. 13, Hervorhebungen des Verf.)

3.1.1 Differenzierung desGegenstandsbereichs »Biographie«

Der Forschungsschwerpunkt Biographie ist ein insich zu differenzierender Gegenstandsbereich,wel-cher mit unterschiedlichem Erkenntnisinteressebefragt werden kann.Schulze (1997) schlägt vor,diePerspektiven auf den Begriff Biographie wie folgtzu unterscheiden:

Mit dem Begriff Biographie meinen wir die Ge-schichte eines einzelnen Menschen, die sich erzäh-len oder beschreiben lässt.Der Begriff umfasst hierBiographie als Text. Wir meinen mit Biographieauch das Leben selbst, welches in dieser Geschich-te in Teilen dargelegt wird.Der Begriff umfasst hierBiographie als Leben. Beides setzt voraus, dass esein biographisches Subjekt gibt, einen Biographie-träger, der in der Geschichte als Hauptfigur vor-gestellt wird.

Das Erkenntnisinteresse an der Biographie alsLeben kann sich u.a.auf den Lebenszyklus,d.h.diebiologischen und psychologischen Entwicklungen,

. Tabelle 3.1. Verfahrensstruktur

Biographie als Biographisch-narratives Biographieforschung Forschungsgegenstand Interview in der Pflege

Fragerichtungen – Welche Ziele verfolgt – Warum ist das Erzählen – Welche Ansatzpunkte bietet Biographieforschung? in der Biographieforschung die Biographieforschung

– Wie ist der Gegenstand wichtig? für die Pflege?definiert? – Wie wird ein biographisch- – Wie können mit Biographie-

– Was kennzeichnet Bio- narratives Interview forschung Pflege- und Krank-graphien aus der For- erhoben? heitsverläufe analysiert schungsperspektive? – Was lässt sich an diesem werden?

Datenmaterial analysieren? – Welche Relevanz hat die Bio-graphie für das Leben im Heim?

Zielsetzungen – Ein theoretisches Ver- – Die qualitative Forschungs- – Biographieforschung als einen ständnis von Biogra- methode »narratives Inter- systematischen Zugang für phien als Forschungs- view« in ihren Verfahrens- Fragestellungen in Pflege- und gegenstand erhalten schritten kennen lernen Gesundheitswissenschaften

erörtern

Schwerpunkte – Biographien als – Methode der Erhebung, – Forschungsbeispiele, in denen Konstruktionen von Analyse und Auswertung mit Biographien Pflege- und Wirklichkeit von autobiographischen Krankheitshandeln analysiert

Erzählungen wurde

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3.1 · Biographien als Forschungsgegenstand341

auf den Lebenslauf, d. h. auf Laufbahnen, gesell-schaftliche Vorgaben und Regelungen und auf dieLebensgeschichte, d. h. auf die individuellen Erfah-rungen beziehen.

Weitere Unterscheidungen des Gegenstandsbe-reichs liegen in der Präsentationsform der Biogra-phie als Text: Eine Biographie kann mündlich oder

schriftlich dargestellt werden,sie kann von anderenoder vom Biographieträger selbst in Form einerAutobiographie präsentiert werden.An biographi-schen Materialien können neben Interviews undschriftlichen Lebensbeschreibungen auch Briefeund Fotos ausgewertet werden (Schulze 1997,S. 323 f), vgl.. Abb. 3.1.

. Abb. 3.1. Differenzierung des Gegenstands »Biographie«. (Vgl. Schulze 1997, S. 14)

Page 57: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

3

42 Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege

3.1.2 Biographie als soziale Konstruktion

Die Begriffe Biographie und Lebenslauf werden all-tagssprachlich oft synonym verwendet.Aus sozial-wissenschaftlicher Perspektive ist eine Unterschei-dung notwendig und sinnvoll: Biographien sindsubjektive Selbstbeschreibungen. Im Unterschiedzu einem Lebenslauf, der »ein Insgesamt von Er-eignissen, Erfahrungen, Empfindungen usw. mitunendlicher Zahl von Elementen ist« macht in derBiographie »ein Individuum den Lebenslauf zumThema« (Hahn 2000, S. 101). Die Differenz zwi-schen Lebenslauf und Biographie ist unaufhebbar.Eine Biographie ist nicht das Spiegelbild des Le-benslaufs, sondern eher ein gemaltes, in Prozessendes Erzählens oder Schreibens gestaltetes Selbst-bild. Biographische Selbstpräsentationen zeigennicht, was wirklich »wirklich« ist, sondern das, wasals wirklich erfahren und erinnert wird. In einerBiographie wird höchst selektiv die persönlicheEntwicklung über Raum und Zeit gegenwärtig undals lebensgeschichtliche Erfahrung präsentiert.Da-mit sind zwei grundlegende theoretische Perspek-tiven auf Biographien bereits angedeutet.Sie sollenim Folgenden erörtert werden.

Biographie als Wirklichkeitskonstruktion

Biographien sind immer erst das Ergebnis von (Re-)Konstruktionsarbeit durch das Selbst. Wiestark diese Erinnerungsarbeit von eigenen Emp-findungen geprägt ist, zeigt sich sehr leicht dann,wenn wir uns gemeinsam mit anderen an einen ge-teilten Lebensabschnitt erinnern.Im Erinnern liegtauch immer das Vergessen.Nur durch Relevanzset-zung und Marginalisierung lassen sich Ereignissezu biographischen Erfahrungen verdichten.

7 Die eigentliche Leistung der Lebens-

erfahrung besteht darin, dass sie aus

der unübersehbaren Menge der Lebens-

momente einige auswählt und mit Be-

deutung versieht. Die erinnerten Erleb-

nisse erzeugen Kraftzentren und Kraft-

felder der Anziehung, Abneigung und

Gleichgültigkeit. Sie bilden im Subjekt

ein Potential von Sinnressourcen,

aus dem die Biographie hervorgeht

(Schulze 1997, S. 326).

Erst der retrospektive Blick auf das gelebte Lebenkonstruiert ein Ganzes, in dem wir uns als »selbst-gleiche Person« (Goffman 1967,S.73) erkennen.Jeg-liche Form biographischer Konstruktion ist im Sin-ne einer Selbstgestaltgebung nicht nur reflexiv wirk-sam, sondern ermöglicht uns eine Orientierung,eine Selbstvergewisserung für das zukünftige Le-ben.

In der Biographie liegt ein Sinnüberschuss, derin lebenslangen Prozessen des Konstruierens, desUmdeutens und Neuverstehens Entwurf wie Ver-werfung ermöglicht. Um Kontinuität und Identitätzu sichern,müssen ständig Anschlussleistungen er-bracht werden, »die Vergangenes mit Gegenwärti-gem,Altbewährtes mit Neuem,Struktur mit Hand-lung verbinden« (Egger 1995, S. 53). Der reflexiveBezug auf ein biographisches Selbst,in dem wir unswiedererkennen, ermöglicht trotz Umbrüche undVeränderung ein »Und-so-weiter« (ebd. S. 51).

Können oder müssen wir uns nun beständigneu erfinden? Biographische Konstruktionen sindkeine freien kognitiven Leistungen, sondern engmit den subjektiven Erfahrungen, Kontexten undkonkreten Bedingungen verbunden, in denen siestattfinden und auf die sie sich beziehen.Sie sind anSituationen, Zeit und Raum gebunden und ziehenKonsequenzen nach sich (Dausien 1996, S. 573).

Der Prozess der Individualisierung als Be-schreibung von gesellschaftlichen Veränderungenlässt sich aus der Subjektperspektive als »Biogra-phisierung« von Lebens- und Alltagswelten be-schreiben. Mit dem Begriff »Biographisierung«wird deutlich,dass das Individuum mit der lebens-langen Herausforderung von Integrations- undIdentitätsleistungen konfrontiert ist (Alheit u.Dau-sien 1999, S. 417). Es besteht die Notwendigkeit,selbst einen sinnvollen Zusammenhang zu »erfin-den«, der das Gestern mit dem Heute und Morgen,die strukturellen Bedingungen mit den subjektivenPotentialen biographisch vereint.Die erforderlichebiographische Konstruktionsarbeit muss An-schlüsse herstellen, die immer wieder neue Ausle-gungen und Deutungen für unser Leben ermögli-chen. Alheit (1992) bezeichnet die hierfür notwen-dige Kompetenz als »Biographizität«:

7 Biographizität bedeutet, dass wir unser

Leben in den Kontexten, in denen wir es

verbringen (müssen), immer wieder neu

Page 58: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

3.2 · Das biographisch-narrative Interview als Forschungsmethode343

auslegen können, und dass wir diese

Kontexte ihrerseits als »bildbar« und

gestaltbar erfahren (Alheit 1992, S. 77).

Biographie als Synthese von Struktur und Subjektivität

Biographische Konstruktionen sind in einem so-zialen Raum und einer historischen Zeit eingebet-tet.Sie lassen sich nicht ohne diesen Bezugsrahmendarstellen und/oder analysieren. Die Außenseite,die in der Innenseite und durch sie miterinnertwird, generiert die Verbindung zwischen dem so-zial-historischen Kontext und dem individuellenErleben. Biographien – und das macht sie für diesozialwissenschaftlichen Analysen besonders wert-voll – sind Synthesen zwischen gesellschaftlichenStrukturen und den darin (er-)lebenden Subjekten.Die für die Analyse von Wirklichkeit ansonstenzusammengeführten Erfahrungs-,Handlungs- undStrukturaspekte sind in der sozialen Konstruktioneiner Biographie bereits integriert (Fischer u.Kohli1987, S. 31).

7 Eine Biographie ist einerseits die soziale

»Hülle« des Individuums, eine Art äußer-

liches Ablaufprogramm, ohne das eine

moderne Lebensführung unmöglich ge-

worden ist, und andererseits eine ganz

spezifische und intime Binnensicht des

Subjekts, die Synthese einer einzigarti-

gen Erfahrungsaufschichtung (Alheit

1992, S. 59).

In Lebensgeschichten wird das Wechselverhältniszwischen dem eigenen, individuellen Entwurf undden gesellschaftlichen Möglichkeiten deutlich. Ne-ben den höchst unterschiedlichen Selbsteinschrei-bungen offenbaren sich auch immer die in einemspezifischen sozialen und historischen Rahmenverinnerlichten Fremdeinschreibungen. Die sozia-le Struktur wird durch die individuelle Struktur derAkteure beständig reformuliert, verflüssigt undverfestigt. Das Individuum

7 setzt sich selbst, seine eigene Vergangen-

heit rekonstruierend durch biographi-

sche Konstruktionen in Bezug zur Gesell-

schaft, und gesellschaftliche Institutio-

nen entwickeln Lebenslaufschemata,

denen der einzelne folgen kann oder

muss (Fischer-Rosenthal u. Rosenthal

1997, S. 406).

Dausien (1996) hat dieses spannungsreiche Wech-selverhältnis an Lebensgeschichten von Frauen her-ausgearbeitet. In ihrer Analyse wird z. B. deutlich,dass Frauen ihr Leben »anders« erzählen als Män-ner. Die eigenen lebensgeschichtlichen Entwürfesind stark in Beziehung zu setzen und zu modifi-zieren.Sie zeigen die im Widerspruch von »doppel-ter Vergesellschaftung« liegenden Konflikte zwi-schen Erwartungen des sozialen Umfeldes und ei-genen biographischen Perspektiven z.B.als »Kampfum das eigene Leben« (Dausien 1996, S. 136 ff).

3.2 Das biographisch-narrativeInterview als Forschungsmethode

In der Biographieforschung hat sich das biogra-phisch-narrative Interview als eine wichtige Formder Erhebung und Auswertung von Lebensge-schichten etabliert.

Diese Interviewform ermöglicht einen weit-gehend hypothesenfreien Zugang zu lebensge-schichtlichen Selbstpräsentationen. Ausgangs-punkt ist die durchaus voraussetzungsreiche An-nahme,dass die befragte Person trotz aller Wechsel,Brüche und grundlegenden Veränderungen überRaum und Zeit, ihr Leben als eine Geschichte er-zählen kann. In einem sehr bekannt gewordenenArtikel kritisiert der französische Soziologe PierreBourdieu diese Grundannahme der Biographiefor-schung als ein überholtes und normatives gesell-schaftliches Konstrukt, welches lediglich Ausge-staltungsformen einer in der Erzählung erst her-gestellten »biographischen Illusion« befördere(Bourdieu 1990).

Die Erhebung und Auswertung von biogra-phisch-narrativen Interviews ist anspruchsvoll underfordert komplexe methodologische Überlegun-gen, die Erhebungs- wie Auswertungsschritte miteinem theoretischen Forschungskonzept verbin-den. Prämisse der mit dieser Interviewform ver-knüpften Forschungshaltung ist, dass wir die »Di-mensionen der Wirklichkeit« vorab nicht kennen.In der Lebensgeschichte wird nicht eine individu-

Page 59: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

3

44 Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege

elle Variante der bereits bekannten, sondern einebisher fremde Realität dargelegt (Dausien 1994,S. 148). Ein methodologisches Rahmenkonzept zurErhebung und Auswertung der Interviews liefertdie von Glaser und Strauss entwickelte GroundedTheory (Glaser u. Strauss 1967; Strauss 1991). ZurEntwicklung einer auf den Gegenstand – hier derBiographie – bezogenen Theorie mittlerer Reich-weite wird der Forschungs- und Erkenntnisprozessals eine spiralförmige Hin- und Herbewegung zwi-schen der Empirie und der Theorie gestaltet(Strauss 1991; Corbin u. Strauss 1998).

Eine biographische Erzählung folgt häufig nichteinem linearen, der zeitlichen Abfolge der Ereig-nisse folgenden Aufbau.Vielmehr ist der »Text« (lat.Gewebe,Geflecht) im wahrsten Sinne als ein Gewe-be zu verstehen,welches Vordergründiges mit Hin-tergründigem, Ereignis mit Erleben verbindet.Rückgriffe,Vorgriffe und Querbindungen folgen ei-ner eigenen biographischen Konstruktionslogik.Im Gegensatz zu einem an einem Leitfaden orien-tierten Interview bestimmt die erzählende PersonInhalte und Reihenfolge der Selbstpräsentation.Dieautobiographische Erzählung fordert zur autono-men Gestaltentwicklung auf (Fischer-Rosenthal u.Rosenthal 1997, S. 415).

Mit einem biographisch-narrativen Interviewsollen Erzählungen erhoben werden. Autobiogra-phisches Erzählen – so die grundlegende Annahme– erzeugt eine eigene konstitutive Wirklichkeit, diesich von reflexiven Selbstbeschreibungen, Argu-mentationen und Interpretationen grundlegendunterscheidet. Eine autobiographische Erzählungverweist auf den subjektiven Sinngehalt. Der Sinnist mit der zeitlichen Struktur, in der die Erfahrun-gen gebildet wurden, verbunden. Diese Auffassunggeht auf die Soziologen Alfred Schütz und ThomasLuckmann und ihre in der Theorie der »Lebens-welt« (Schütz u. Luckmann 1979) geprägte Wirk-lichkeitsvorstellung zurück:

7 Der »Sinn« menschlicher Erfahrungen

ist, wie Schütz verdeutlicht, ganz wesent-

lich zeitlicher Natur. Zeitliche Strukturen

der Erfahrungsbildung sind es auch, die

die soziale Fundierung unserer Wirklich-

keit begründen.Wie Schütz u. Luckmann

(1979, 1984) ausführen, vollzieht sich die

Konstitution von Erfahrungen grund-

sätzlich in der rückschauenden Verge-

genwärtigung, über eine nachträglich

erfolgende reflexive Erfassung subjektiv

bedeutsamer Erlebnisabfolgen (Appels-

meyer 1999, S. 232, Hervorhebungen des

Verf.).

In der Biographieforschung wird die Konstitutionvon Erfahrungen anhand der autobiographischenErzählungen rekonstruiert. Die in der Rückschauauf das gelebte Leben vollzogene Vergegenwärti-gung wird durch eine eigene Konstruktionslogikstrukturiert, die sich als »kognitive Figuren«(Schütze 1984) analysieren lassen.

3.2.1 Eigenschaften einer Erzählung

Erzählen (lat. narrare) hat spezifische Eigenschaf-ten.Um erkennen zu können,wann in einem Inter-view erzählt, wann eher beschrieben oder argu-mentiert wird, müssen die Merkmale der Textgat-tung bekannt sein.

Eine Erzählung weist eine Kette von Ereignis-sen auf. Diese Kette wird entlang einer Zeitachseaufgebaut. Durch sprachliche Hinweise wird derZeitfluss markiert,z.B.durch »und dann«,»schon«,»bereits« oder »plötzlich«. Zudem werden die Er-eignisse verknüpft, z. B. durch »weil« oder »dage-gen«.

Die Geschichte zeigt eine Abfolge von Zu-standsveränderungen, wobei innere und äußereVeränderungen dargestellt werden können. In bei-den Fällen gibt es immer einen Zustand des »Vor-her« und des »Nachher«. Innerhalb der Geschichtegibt es eine oder mehrere handelnde Personen,Ge-genstände bzw. sog. soziale Einheiten, z. B. einenBetrieb.Diese sind mit Eigenschaften gekennzeich-net und eingeführt.

Eine Geschichte wird durch eine spezifische Si-tuation gerahmt. Die als sozial-räumlicher Schau-platz ausgestaltete Szene ermöglicht den Aufbau ei-nes Spannungsbogens (Glinka 1998, S. 53; Schütze1984).

7 Als Minimalanforderung an das Erzäh-

len einer Geschichte muss sichergestellt

sein, dass 1. Die Handlungsträger (sozia-

le Einheiten) eingeführt werden, 2. In der

Page 60: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

3.2 · Das biographisch-narrative Interview als Forschungsmethode345

Abfolge von Ereignissen die Zustandsän-

derungen dieser sozialen Einheiten dar-

gestellt wird, und dass 3. Situations-

höhepunkte herausgearbeitet werden

(Glinka 1998, S. 60).

Eine Erzählung folgt einer eigenen dramaturgi-schen Logik. Kallmeyer und Schütze (1977) defi-nierten die Regeln als »Zugzwänge des Erzählens«.In jeder Narration – nicht nur der autobiographi-schen – können diese nicht »ungestraft« übergan-gen werden. Als Zugzwänge wirken der Gestalt-schließungszwang, der Detaillierungszwang sowieder Relevanzfestlegungs- und Kondensierungs-zwang (Kallmeyer u. Schütze 1977, S. 188 ff.; Alheit1994).

In einer »gelungenen« Erzählung wird eine ein-mal begonnene Geschichte zu Ende erzählt, sienimmt eine Gestalt an. Um die Zuhörer zufriedenzu stellen, muss der Erzähler »auf den Punkt kom-men«,d.h.das einmal Angefangene muss zu einemsinnvollen Schluss kommen.Zudem muss erkennt-lich werden, worum es eigentlich gehen soll. EineGestalt eröffnet sich durch die Einleitung der Ge-schichte mit einer Erzählpräambel; sie verdeutlicht,um was für eine Art Geschichte es sich handelt,z.B.»Ja, also da fällt mir noch ein – das war eher nocheine komische Sache.« In der Geschichte selbst wirddargelegt,was eigentlich geschah.Am Ende wird inForm einer Ergebnissicherung die Geschichte ab-geschlossen,z.B.»Also – ich war dann froh,dass ichda so durchgekommen bin.« Mit einem bewerten-den Kommentar kann eine weitergehende Gestalt-gebung vorgenommen werden,beispielsweise »Dasist dann eigentlich immer so geblieben« (Glinka1998, S. 148 f.).

Die erzählerisch dargestellte Handlung soll fürdie Zuhörer nachzuvollziehen sein oder es sogarermöglichen, sich in die Geschichte »hineinzuver-setzen«. Die hierfür eingebrachten Details zeigenVorder- und Hintergrundinformationen zum ei-gentlichen Ereignis, unterschiedliche Akteure undderen Eigenschaften, Orte und Gegenstände, diedas Geschehen verdeutlichen. Eine grobe Skizzeoder Beschreibung dessen, was passierte, reicht füreine Erzählung nicht aus.

Um sich jedoch nicht in diesen Details zu ver-lieren, ist ein Erzähler gezwungen, Schwerpunkte

zu setzen, Vordergründiges muss von Hintergrün-digem zu unterscheiden sein. Erst durch Relevanz-festlegungen und Kondensierungen können dieeinzelnen Erzählsegmente gerahmt und in einenZusammenhang zur Gesamterzählung gesetzt wer-den. Nur so lässt sich die Aufmerksamkeit derZuhörer über eine längere Zeit erhalten (Alheit1994).

Beispiel für ein Erzählsegment»Na ja und dann bin ich – hatte ich einen Unfall.

Ich hatte – wir hatten zusammen sieben, acht

Jahre bei der Bahnhofsmission gearbeitet. Und

dann hatt’ ich’s mal furchtbar eilig zum Zug zu

kommen und irgendwen zu betreuen und bin

dann da die Steintreppe runtergerauscht. Und

hab mir meinen linken Fuß total zertrümmert,

das Fußgelenk und hab dann ein viertel Jahr in

der St. Annaklinik gelegen und da – (2 Sekun-

den). Ja, da konnte ich ja nun nicht mehr da

oben im zweiten Stock wohnen bleiben. Das

Haus gehörte ‘n jungen Ehepaar, von denen

konnte ich nicht erwarten, dass die mich nun

betreuen. Und dann bin ich – äh – nach einem

Jahr, ich weiß nicht mehr recht, wie dies Jahr ei-

gentlich rum gegangen ist, bin ich hier in die

»Stiftung für Altenbetreuung« gezogen.Weil ich

ja schon – äh – vorausgezahlt hatte«. (Aus ei-

nem autobiographischen Interview mit Frau

Elisabeth Busse, 87 Jahre)

4 1. Analyse der Struktur des Erzählsegments:

Wie wird der/die Handlungsträger einge-

führt? Welche Worte markieren den Zeit-

fluss? Welche Zustandsänderungen des/

der Handlungsträger werden verdeutlicht?

In welchem Erzählsatz liegt der Situations-

höhepunkt der Geschichte?

4 2. Analyse der Zugzwänge im Erzählseg-

ment:Wie öffnet bzw.schließt die Erzählerin

eine Gestalt? Welche Aussagen bewerten

Sie als Details, die die Geschichte aus-

schmücken? Welche Sätze sind hintergrün-

dig, welche vordergründig wichtig, um die

Geschichte zu verstehen?

Beispiel

Page 61: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

3

46 Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege

3.2.2 Durchführung eines biographisch-narrativen Interviews

Die grundlegende Voraussetzung für das Gelingeneines biographisch-narrativen Interviews ist derAufbau einer Vertrauensbeziehung. So möglich,sollte ein paar Tage vor dem eigentlichen Termin ineinem telefonischen oder besser face-to-face statt-findendem Vorgespräch das Anliegen, das Proze-dere sowie der Zeitumfang erörtert werden. Es istwichtig, vorher mit der Interviewpartnerin zubesprechen, dass während der Erzählung der Le-bensgeschichte zunächst keine Rückfragen gestelltwerden. Entsprechend unseren gewöhnlichen Kom-munikationsmustern, in denen Nachfragen oderKommentare häufig unmittelbar an Erzählungenangeschlossen werden, ist dieses sowohl für die in-terviewte Person als auch für die Interviewerin eineneue Erfahrung. Es sollte zudem deutlich werden,wofür das Interview erhoben wird und dass es auf-genommen werden soll. Die Anonymisierung derAufzeichnung muss gewährleistet werden. Ent-scheidend für eine weitere Bearbeitung der Inter-viewaufzeichnung ist eine gute Aufnahmequalität.Sie soll über das entsprechende technische Gerätsowie über einen ruhigen, ungestörten Raum si-chergestellt werden. Wichtig ist, zunächst keineengen Zeitvorgaben zu haben, häufig dauert einbiographisches Interview weit über zwei Stunden.Sollte die zur Verfügung stehende Zeit nicht ausrei-chen, kann ein weiterer Termin vereinbart werden.Das unmittelbar vor dem Interview stattfindendeVorgespräch wird bereits mit aufgezeichnet. Eszeigt später grundlegende Interaktionsmuster zwi-schen Interviewten und Interviewerin.Auch für dasgegenseitige Fragen und Informieren, das Berich-ten von Alltäglichem als »warming up« soll sichZeit genommen werden.Eine möglichst ruhige undentspannte Atmosphäre ist wichtig: Erzählen, zu-mal biographisches, braucht Muße.

Das Interview beginnt mit der Erzählaufforde-rung durch die Interviewerin. Die idealtypischeForm einer erzählgenerierenden Eingangsfragekann z. B. wie folgt lauten: »Ich möchte Sie bitten,mir Ihre Lebensgeschichte zu erzählen, all die Er-lebnisse, die Ihnen einfallen. Sie können sich dazusoviel Zeit nehmen wie sie möchten« (Fischer-Ro-senthal u. Rosenthal 1997, S. 414).

Entscheidend für den eigentlichen Erzählbe-ginn ist die Ratifizierung der Erzählung durch dieInterviewpartnerin (Alheit 1994, S. 6). Durch eineErzählkoda wird verdeutlicht,dass die befragte Per-son einverstanden ist und mit der autobiographi-schen Erzählung beginnt z. B. sagt: »Ja, dann fangich mal an.« Diese Einverständniserklärung gleichteinem Vertrag.

Ab hier beginnt die Haupterzählphase,die (ide-altypisch) in der Form eines erzählerischen Span-nungsbogens ausformuliert wird. Die Interviewe-rin hält sich in dieser Phase völlig zurück.Durch ge-stische und mimische Reaktionen oder auch durchparasprachliche Ausdrücke wie »hm« und »ja?«kann der Erzählfluss positiv unterstützt werden.Zudem macht sie sich zu einzelnen Aussagen Stich-punkte.

Erst nachdem die interviewte Person durch dasSetzen einer eindeutigen Schlusskoda, z. B. mit»Das war’s eigentlich soweit«, ihre Erzählung been-det hat, beginnt die Phase des erzählgenerierendenNachfragens anhand der Stichpunkte.

Nachfragen können sich auf die dargestelltenLebensphasen beziehen, auf einzelne Erzählsätze,bei denen nach der Geschichte darin gefragt wirdund auf Argumente,die mit Belegerzählungen wei-ter ausgeführt werden können (Fischer-Rosenthalu. Rosenthal 1997, S. 418). Ein Beispiel: »Sie sagtenvorhin, dass Sie erst eine andere Ausbildung be-gonnen hatten, können Sie davon bitte noch aus-führlicher erzählen?«

Erst im Anschluss an diesen Nachfrageteil wer-den forschungsbezogene Fragen formuliert, z. B.»Erzählen Sie mir bitte von Ihren ersten Erlebnis-sen auf einer Pflegestation«. Grundsätzlich ist eswichtig, dass narrationsgenerierende Fragen ge-stellt werden,d.h.es werden Fragen gestellt,die zurWiederaufnahme des Erzählvorgangs,nicht zur ar-gumentativen oder evaluierenden Darstellung auf-fordern (Schütze 1983, S. 285).

Der Nachfragephase kann sich – wenn diesesfür das Forschungsanliegen sinnvoll erscheint –eine Deutungsphase anschließen, in der die inter-viewte Person explizit nach ihren Einstellungenund Haltungen zu bestimmten, im Interview the-matisierten, Erfahrungen befragt wird. Erst in die-ser Phase des Interviews sind theoretische Warum-Fragen erlaubt. Es wird vom Erzählmodus zur Ar-gumentation gewechselt.

Page 62: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

3.2 · Das biographisch-narrative Interview als Forschungsmethode347

In jedem Fall soll ein Feedback zur Interviewsi-tuation ermöglicht werden. Dieses fällt leichter,wenn das Tonband bereits abgestellt ist. Die Rück-schau auf das eigene Leben, die Bilder der Erinne-rung bringen oftmals vieles in Bewegung.Es ist des-halb angebracht, einen weiteren Kontakt anzubie-ten und ggf. nach Tagen oder Wochen noch malüber das Interview zu sprechen (. vgl. Abb. 3.2).

3.2.3 Prozessstrukturen des Lebensablaufs (Fritz Schütze)

Für die Analyse und Interpretation von biogra-phisch-narrativen Interviews eröffnen die »Kogni-tiven Figuren des autobiographischen Stegreifer-zählens« von Fritz Schütze (Schütze 1984) einensystematischen Zugang. Schütze geht davon aus,dass eine frei durch den Biographieträger be-stimmte autobiographische Erzählung durch for-male sowie inhaltliche Strukturen der Erfahrungs-rekapitulation bestimmt wird. Die eine Erzählungals »elementarsten Orientierungs- und Darstel-lungsraster« (Schütze 1984,S.80) strukturierendenkognitiven Figuren sind homolog zur »Ordnungder Erfahrung«. Erzählen ist in diesem Sinne eine»Als-ob-Handlung« (Alheit 1990, S. 22), sie iststrukturidentisch mit den darin erinnerten Erfah-rungen. Die spannende These lautet, dass wir ent-

sprechend der in der Erzählung erinnerten Erfah-rungen die Erlebnisse schildern.Ausgegangen wirdalso von einer »Korrespondenz der Erzählstrukturmit den Erlebensstrukturen,der Strukturen der Er-fahrungsaufschichtung mit denen des Erzählauf-baus«,nicht aber – und hier liegt ein Missverständ-nis, welches eine kritische Diskussion auslöste(Nassehi 1994) – »eine Homologie von Erzähltenund Erlebten« (Fischer-Rosenthal u. Rosenthal1997, S. 411). Die kognitiven Figuren bilden einenSchlüssel für das Verständnis der in der Erzählungliegenden biographischen Erfahrungsaufschich-tung (Schütze 1984, S. 81).

An dieser Stelle soll mit den »Prozessstrukturendes Lebensablaufs« (Schütze 1981, 1984,S.93 ff.) nurein besonders weitreichender Aspekt der Erfah-rungsrekapitulation thematisiert werden. Die Pro-zessstrukturen zeigen die grundlegende Haltungdes Biographieträgers gegenüber den in der Erzäh-lung zusammengefügten Erlebnissen. Im Fluss ei-ner autobiographischen, spontanen Erzählung of-fenbaren sich die mit den Ereignissen verbundenenErfahrungshaltungen. Es sind – so die Annahme –vorrangig nicht unsere an Alltagstheorien und ide-alisierten Selbstbildern orientierten Auslegungenzu bestimmten Ereignissen und/oder Lebenspha-sen, die die Erzählung strukturieren, sondern diemit der Erzählung verbundenen Haltungen desBiographieträgers: Sie

. Abb. 3.2. Verlauf eines biographisch-narrativen Interviews

Page 63: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

3

48 Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege

7 ordnen systematisch Phasen der Le-

bensgeschichte unter generelle Erfah-

rungsprinzipien. … Die Lebensphase,

die in den zeitlichen Grenzen der so

gestalteten Erzählstruktur dargestellt

wird, soll Prozessstruktur des Lebens-

ablaufs genannt werden (Schütze 1984,

S. 93, Hervorhebung des Verf.).

Eine Aufdeckung und Analyse der Prozessstruktu-ren erfordert eine sequenzierende, mehrschrittigeRekonstruktion am Text (Schütze 1983, 1984). FürSchütze (1983) sind die von dem Biographieträgerselbst produzierten Deutungsmuster und Interpre-tationen erst im Zusammenhang mit den vom For-scher rekonstruierten Prozessstrukturen ein Er-kenntnisgewinn:

7 Die Fragestellung »Wie deutet der Bio-

graphieträger seine Lebensgeschichte?«

ist meines Erachtens erst dann zufrie-

denstellend zu erklären, wenn der

Forscher die interpretierenden theoreti-

schen Anstrengungen des Biographie-

trägers in den Zusammenhang fakti-

scher Prozessabläufe seines Lebens ein-

betten kann (Schütze 1983, S. 284).

Es wird an dieser Stelle deutlich, warum in einembiographisch-narrativen Interview zunächst nachErzählungen gefragt wird und erst in der letztenPhase des Interviews Selbstdeutungen und Argu-mentationen zur eigenen Lebensgeschichte in denVordergrund rücken.Das entsprechend den gesell-schaftlichen Konventionen formierte Selbstbild,z.B.die Erfahrung einer unbeschwerten und glück-lichen Kindheit, ist die Folie, auf der sich lebensge-schichtliche Erfahrungen erzählen lassen. Jenseitsdieser gesellschaftlich präformierten Deutungs-muster können im Erzählen von Erlebnissen ausder Kindheit auch andere Erfahrungshaltungenstrukturgebend wirken.

Es werden vier Formen der grundlegenden Er-fahrungshaltung unterschieden: »BiographischeHandlungsschemata«, »institutionelle Ablaufmus-ter«, »Verlaufskurven« und »Wandlungsprozesse«(Schütze 1984,S.92 ff.).Die formale Analyse der au-tobiographischen Erzählung ermöglicht eine Glie-

derung des Textes entsprechend der Erfahrungs-haltung des Biographieträgers in sog. Supraseg-mente (ebd., S. 108). Durch die Analyse der in un-terschiedlichen Lebensphasen »wirksamen« Pro-zessstrukturen, ihrer Dominanz und Kombinationüber den Verlauf der Lebensgeschichte eröffnet sicheine systematische Analyse und Interpretations-perspektive auf autobiographische Erzählungen (. Abb. 3.3).

Das Verständnis von Krankheitsprozessen als»Verlaufskurve« oder »trajectory« wurde insbeson-dere von Corbin und Strauss (Corbin 1994; Corbinu. Strauss 1998) anhand von Untersuchungen derBewältigungsstrategien bei chronischer Krankheitentwickelt. Die unterschiedlichen Trajectory- undManagementphasen wurden von Corbin undStrauss (1998) als Pflegemodell ausformuliert(Woog 1998; Sander u. Schneider 2001).

Höhmann (1999) nutzt für eine empirische Stu-die die Trajectory-Phasen,um Interviews mit chro-nisch Kranken zu analysieren, die in unterschiedli-chen Einrichtungen des Gesundheitswesens dieChronifizierung ihrer Leiden erlebten.Ziel der Stu-die ist es, in Kenntnis der Verlaufskurve die spezifi-schen Aufgaben der Gesundheits- und Pflegeberu-fe zu bestimmen und so die Kooperation zwischenden unterschiedlichen Professionellen zu verbes-sern (Höhmann 1999).

An dieser Stelle sollen die Stadien der Verlaufs-kurve in Anlehnung an Schütze (1999) nur kurz auf-geführt werden:

5 Aufschichtung des Verlaufskurvenpoten-

tials, z. B. durch das Leben mit einer chroni-

schen Erkrankung

5 Plötzliches Ereignis löst Verlaufskurve aus,

z. B. plötzliche Verschlechterung

5 Versuch ein labiles Gleichgewicht aufzu-

bauen, z. B. mit veränderten Aktivitäten

5 Erschöpfung der Handlungskapazität

5 Entwicklung von Problemen »zweiter Ord-

nung«, z. B. Sekundärerkrankungen

5 Entstabilisierung: das labile Gleichgewicht

gerät »ins Trudeln«

5 Zusammenbruch der Alltagsorganisation

und Selbstorientierung (Sander u. Schnei-

der 2001).

Page 64: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

3.3 · Biographieforschung in der Pflege349

Fragen

4 1. Biographische Selbstreflexion: Mit welchenEreignissen oder Phasen Ihres Lebens verbin-det sich in Ihrer Selbstsicht eine besondershandlungsschematische Haltung?

4 2. Übertragung »Verlaufskurve«: Formulierungvon beispielhaft idealtypischen Stadien einerVerlaufskurve. Welche Bewältigungsstrategieneines Menschen mit einer chronischen Krank-heit,deren Auswirkungen Sie kennen (z.B.Dia-betes mellitus), könnten in den unterschiedli-chen Stadien deutlich werden? Welche Aufgabe

käme der professionellen Pflege zu,um ein wei-teres »Trudeln« zu verzögern oder sogar zu ver-hindern?

3.3 Biographieforschung in der Pflege

Die am Anfang des Aufsatzes als grundlegende Fra-gehorizonte der Biographieforschung vorgestelltenPerspektiven lassen sich in gesundheits- und pfle-gewissenschaftlichen Themenfeldern konkretisie-ren. Ein Beispiel: Das im Laufe der (beruflichen)

. Abb. 3.3. Prozessstrukturen des Lebensablaufs. (Nach Schütze 1981, 1984)

Das gelebte Leben (und /oder einLebensabschnitt) wird als planbarerfahren. Eigene Potentiale könnenin die Verwirklichung oder denVersuch zur Verwirklichung vonPlänen eingebracht werden. DerBiographieträger hat den Eindruck,das Leben selbst ,in der Hand‘ zuhaben.

Das gelebte Leben (und/oder einLebensabschnitt) wird durch über-mächtige Ereignisse erfahren. DieEreignisse lähmen den Biographie-träger und führen zu Kontrollverlus-ten. Das Leben gerät ,in’s Trudeln‘.Impulse zur Gegenwehr müssen ent-wickelt werden (siehe unten).

Page 65: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

3

50 Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege

Sozialisation angeeignete Pflegeverständnis zu-künftiger Pflegepädagoginnen könnte unter folgen-den Fragestellungen Gegenstand einer biographie-analytischen Untersuchung von Studentinnen sein:4 Sinn: Welche Bedeutung haben die biographi-

schen Erfahrungen, z. B. eigene Gesundheits-und Krankheitserfahrungen und Bildungser-fahrungen, für das Verständnis von Pflege?

4 Funktionen: Wie wirken sich die eigenen bio-graphischen Erfahrungen auf die Vorstellungenvon Lehrtätigkeiten in der Fachpraxis undTheorie der Pflege aus?

4 Strukturen: Welche biographischen Strukturen(z. B. Dispositionen, Haltungen, Präskripte)sind durch die berufliche Weiterentwicklungzur Pflegepädagogin in Frage gestellt oder mo-difiziert, welche sind verfestigt oder bestätigt?

3.3.1 Analyse- und Handlungsfelder

Eine weitere Auffächerung von möglichen Frage-horizonten lässt sich durch die Dimensionen derSelbst-, Mit- und Umwelt verdeutlichen. Biogra-phieforschung setzt zunächst an der Selbstwelt derAkteure an. Durch Selbstbeschreibungen der Pfle-genden oder Gepflegten wird eine biographischePerspektive ermöglicht.

Die spezifischen Fragestellungen können sichauf die unterschiedliche Mitwelt der Akteure, z. B.auf die Pflegebeziehung zwischen Eltern und Kin-dern oder Patienten und professionell Pflegendensowie auf die unterschiedliche Umwelt, in denen dieInteraktion stattfindet,z.B.auf das Altenheim oderdas Krankenhaus beziehen (. Abb. 3.4).

Zur Verdeutlichung sollen hier einige Beispielebereits umgesetzter Forschungen, die die biogra-phische Selbstwelt der Pflegenden oder Gepflegtenzum Ausgangspunkt ihrer Fragestellungen neh-men, kurz benannt werden:

Dunkel (1994) untersucht in einer qualitativenStudie die Berufstätigkeit von Altenpflegerinnen alsBestandteil ihrer Lebensführung (Dunkel 1994).Fragestellungen, die sowohl die Berufsgruppe, z. B.Auszubildende und Berufserfahrene, als auch spe-zifische Aspekte des professionellen Handelns, z. B.Konflikte und Selbstverständnis, unterscheiden,könnten sich anschließen. Auch ein Vergleich derErkenntnisse aus dem Altenheim mit anderen Pfle-

gesystemen wie z. B. der ambulanten Altenpflegewäre möglich.

Kölkebeck (2000) wendet sich in ihrer an derUniversität Bielefeld entstandenen Diplomarbeitdem Bereich der häuslichen Laienpflege zu. An-hand von biographischen Fallstudien wird das Er-leben und Handeln von pflegenden Töchtern un-tersucht. Es wird deutlich, wie die Pflegesituationdurch das eigene Leben der Tochter und die lebens-geschichtliche Verwobenheit der Biographien mitdem pflegebedürftigen Elternteil bestimmt wird(Kölkebeck 2000). Eine Weiterführung der Unter-suchung mit biographischen Interviews der ge-pflegten Elternteile wäre denkbar.

Die an der Selbstwelt der Gepflegten ansetzen-den Studien untersuchen das spezifische Krank-heits- und Gesundungserleben. Zwei Beispiele: Sountersucht Griesehop (2003) anhand biographisch-narrativer Interviews die Lebensgestaltung vonMultiple-Sklerose-Erkrankten. Hanses (1996) un-tersucht die Erkrankungs- und Gesundungspro-zesse von an Epilepsie erkrankten Menschen alseine biographische Konstruktion. An die grundla-gentheoretischen Arbeiten, die ein biographischesVerständnis von Krankheit und Gesundheit eröff-nen, lassen sich für die Pflege Fragen der biogra-phischen Erfassung von Hilfs- und Pflegebedürf-tigkeit anschließen.

In einem Forschungsprojekt in Gloucester/UKwurde von Gearing und Coleman (1996) ein Inter-viewverfahren entwickelt, welches in der Gemein-depflege einen biographischen Zugang zu verwirr-ten, alten Menschen ermöglichen soll. Es wird als»Biographical Assessment in Community Care«(Gearing u. Coleman 1996) vorgestellt. In einemÜberblick erörtert Pitzschke (1990) Möglichkeitenwie Grenzen der biographieorientierten Erfassungvon Pflege- und Hilfsbedürftigkeit im Alter(Pitzschke 1990).

3.3.2 Studie: Leben im Altenheim als biographische (An-) Passung

Eine von der Autorin selbst durchgeführte biogra-phieanalytische Studie soll im Folgenden ausführ-licher vorgestellt werden. Die Analyse setzt vorallem an der Selbstwelt der Gepflegten an. Durchbiographische Selbstpräsentationen wird die Inter-

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3.3 · Biographieforschung in der Pflege351

aktionsordnung der Institution Altenheim unter-sucht.Auch hier wären vergleichende Fragestellun-gen für das Krankenhaus oder die ambulante Pfle-ge möglich.

Die Studie wurde als Diplomarbeit an der Uni-versität Bremen in den Erziehungs- und Gesell-schaftswissenschaften angefertigt.Sie trägt den Ti-tel »Biographie und Interaktion in der Pflege« (San-der 2003).

In den letzten Jahren etablierte sich in der pro-fessionellen Altenpflege die Idee, dass Kenntnisseüber die Lebensgeschichte der Bewohnerinnen fürdie Qualität der Pflege bedeutsam sind. Unter an-derem mit sog. »Biographiebögen« in den Doku-mentationssystemen soll die »Jetztzeit« durch dieVergangenheit aufgeschlüsselt und in der alltägli-chen Pflege berücksichtigt werden. Die Bewohne-rinnen sollen bei der Fortführung ihres individuel-len Lebens unterstützt werden, sie sollen sich imbesten Fall bald »wie Zuhause« fühlen können.

Dieses positive Anliegen professioneller Alten-hilfe ist voraussetzungsreich, es soll mit der Studiegenauer geprüft und kritisch hinterfragt werden.Eine grundlegende theoretische Annahme der Un-tersuchung versteht das Altenheim als eine Institu-tion, in der ein spezifischer Interaktionsrahmenunabhängig von den einzelnen Bewohnerinnenund Mitarbeiterinnen vorgegeben ist. Der Interak-tionsrahmen ist durch Eigenschaften gekennzeich-net, die das bisherige biographische Selbstver-ständnis der Bewohnerinnen herausfordern, inFrage stellen und potentiell bedrohlich oder sogarzerstörerisch wirken. In der Studie wird genauernach den durch die alltägliche Interaktion verur-sachten Bedrohungen für das biographische Selbstder Bewohnerinnen gefragt. Der für das Vorhabengewählte Blick auf die Biographie einzelner Be-wohnerinnen ermöglicht die Analyse von biogra-phisch geprägten Ressourcen wie auch Verlet-zungsdispositionen,die die Ein- und Anpassungen

. Abb. 3.4. Analyse- und Handlungsfelder »Biographieforschung in der Pflege«

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3

52 Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege

von neuen Heimbewohnerinnen an die vorgegebe-ne Ordnung der Institution gestalten.

Folgende Fragestellungen waren für das Vorha-ben zentral:

Welche Erlebnisse sind für die Bewohnerinnenbeim Einzug in das Heim bedeutsam? Mit welchenDeutungsmustern interpretieren die Bewohnerin-nen die Erlebnisse im Heim? Übertragen sie ihrebiographischen Erfahrungen auf die institutionel-le Welt »Altenheim«? Gelingt ihnen eine biographi-sche (An-) Passung an die Institution »Altenheim«?Wie lässt sich dieser Prozess aus biographischerund institutioneller Perspektive rekonstruieren?Und: Wie verstehen Altenpflegerinnen die von denBewohnerinnen geschilderten Situationen? Mitwelchen Deutungsmustern interpretieren sie dasdarin stattfindende alltägliche Interaktionsgesche-hen?

Der empirischen Studie liegen biographisch-narrative Interviews mit drei Bewohnerinnen einesAltenheims sowie mit drei Altenpflegerinnen undeinem Altenpfleger zugrunde. Die Interviews wur-den vollständig transkribiert, anonymisiert und inVerlaufprotokollen segmentiert. Die Dauer der In-terviews betrug zwischen einer und drei Stunden.

Die einzelnen Segmente, die für die Fragestel-lungen bedeutsam erschienen,wurden im Rahmeneiner Forschungswerkstatt mit explorativen Inter-pretationsverfahren ausgewertet. In der weiter-gehenden systematischen Feinanalyse wurde vorallem das Interview einer Bewohnerin bearbeitetund mit Aussagen aus dem Interview einer Alten-pflegerin kontrastiert. Für die Feinanalyse wurdeein rahmenanalytisches Kodierparadigma ent-wickelt,welches es zuließ,sowohl die biographischeSelbstkonstruktion der Befragten wie auch die In-teraktionsordnung des Altenheims zu analysieren.Die Ergebnisse wurden auf zwei weitere Interviewsmit Altenheimbewohnerinnen übertragen.

Die Studie greift auf das umfangreiche theore-tische Programm des amerikanischen SoziologenErving Goffman (1922–1982) zurück. Es wird imtheoretischen Teil der Arbeit ausführlich vorge-stellt.Das für die Forschungsarbeit entwickelte Ko-dierparadigma verwendet zentrale Konzepte Goff-mans für die Auswertung der Interviews. EinigeBeispiele:

Die alltäglichen Interaktionen innerhalb derInstitution »Altenheim« werden als »totale Institu-

tion« analysiert. Die »Welt der Insassen bzw. Be-wohnerinnen« wird grundlegend von der »Welt desPersonals« unterschieden (Goffman 1972). Die au-tobiographische Erzählung wird mit der Goffman’-schen Identitätskonzeption als Ausdruck einesIdentitätsmanagements (Goffman 1967) verstan-den und aufgeschlüsselt. Sie wird in Szenen rekon-struiert, in denen sich die Erzählerin selbst als»Darstellerin« auf unterschiedlichen »Bühnen« ih-res Lebens vorstellt. Dieses Vorgehen nutzt die vonGoffman für die Interaktionsanalyse entwickelteTheateranalogie (Goffman 1969). Für die Auswer-tung der Erzählsegmente, die sich unmittelbar aufdas Leben im Heim beziehen, wird insbesonderedie Konzeption »Territorien des Selbst« (Goffman1974) genutzt.

In der Feinanalyse der lebensgeschichtlichenErzählung von Frau Schaumburg wird deutlich,dass die Bewohnerin in den Erlebnisschilderungen,die sich auf das Leben im Heim beziehen, zentralebiographische Deutungsschemata aus ihrer Kind-heit und ihrem Berufs- und Eheleben integriert.Ei-nige bereits in Teilen am Beginn des Aufsatzes dar-gestellte Sequenzen aus ihrer Lebensgeschichte sol-len hier als Ausschnitte wiederholt und mit den vonmir vorgenommenen Interpretationen als biogra-phische Ressourcen bzw. biographische Verlet-zungsdispositionen vorgestellt werden:

Die inzwischen seit zehn Jahren im Altenheim

lebende, fast hundertjährige Frau Schaumburg

nimmt nach wie vor die gemeinsamen Mahlzei-

ten mit anderen Bewohnerinnen als eine Ein-

schränkung wahr,die nicht mit ihrem Verständ-

nis von sich selbst übereinstimmt.Sie begegnet

dieser – sowie anderen ihr unangenehm und

bedrohlich erscheinenden – Reglementierun-

gen mit der Wahrnehmung und Deutung des

»Altenheims als Betrieb«. So sagt sie z. B.: »Erst

musst ich mich auch sehr, sehr hier eingewöhnen.

Also will mal sagen, man ist ja eingebettet in den

Betrieb, nich. Ne gewisse Ordnung muss ja sein«.Nach einer überstandenen Krankheit will sie

sich zum Essen »wieder unten einreihen«.In der Erzählung lassen sich biographische Er-

fahrungen auffinden, die das Leben und Arbei-

Beispiel

Page 68: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

3.3 · Biographieforschung in der Pflege353

ten in einem größeren Betrieb mit Sinngehalt

füllen: Die Erzählerin stellt sich in besonders ak-

tiver,handlungsschematischer Haltung (s.unter

3.2.3) als leidenschaftliche Gutshofsekretärin

dar. Die junge Frau ist bis zu ihrer Heirat auf

großen landwirtschaftlichen Betrieben für die

gesamte Arbeitsorganisation verantwortlich,

z. B. erzählt sie:

»Hatt’ ich auch wieder ‘ne große Hofaufsicht,

musst ich sehen, ob der Schmied die Arbeit fertig

hatte, die er machen sollte. Und so bin ich denn

immer über den Hof ge- gestolpert und hab ge-

kuckt –. Hier gekuckt und da gekuckt, damit die

Arbeit da flüssig wurde.«

Mit der Übernahme der Perspektive auf das Al-

tenheim als einem bestimmten Handlungs-

zwängen unterliegenden Betrieb kann Frau

Schaumburg an eine wichtige biographische

Sinnressource anknüpfen.

Ein zweites Beispiel: Frau Schaumburg gelingt

es, die Rolle der Altenpflegerinnen in ihre Sinn-

welt einzubinden.

»Und hier im Hause – hab ich lauter Freunde. Also

ich kann nich sagen, dass ich irgendwelche

Schwierigkeiten hier habe. Die Angestellten sind

also ganz reizend hier, – ganz reizend. Da kann

ich nicht – kein böses Wort drüber sagen. Das hat

man selten, nich?«

Diese sicherlich nicht unmittelbar im Einklang

mit dem professionellen Selbstverständnis von

Altenpflegerinnen stehenden Bedeutungszu-

schreibungen verbindet ebenfalls eine biogra-

phisch sehr positiv besetzte Zeit mit dem

Heute:

Frau Schaumburg wächst in einem großbür-

gerlichen Haushalt auf. Als die Erzählerin neun

Jahre alt ist, zerbricht plötzlich die als glücklich

erlebte großbürgerliche Welt durch eine hohe

Verschuldung des Vaters;die Mutter wird krank,

zudem muss das Personal der Großfamilie ent-

lassen werden.In dieser dramatischen Situation

wird eine Angestellte zur Bezugsperson des

Mädchens: »Und von da an, da hatten wir noch

ein Kinderfräulein, das ich also heiß geliebt habe,

und die ist uns treu geblieben«. In ihrer lebensge-

schichtlichen Erzählung ist es ein Kinderfräu-

lein, mit dem die Erzählerin eine Freundschaft

verbindet, heute sind es Altenpflegerinnen, de-

nen sie die gleiche Position zuerkennt. Die Be-

nennung der Altenpflegerinnen als »reizende

Angestellte« verknüpft die positiven Erfahrun-

gen mit dem »treuen Kinderfräulein«, das dem

hilflosen Kind beistand, mit dem Heute, in dem

die hochaltrige Bewohnerin zunehmend auf

Hilfestellungen durch das Pflegepersonal ange-

wiesen ist.

Das dritte Interpretationsbeispiel soll zeigen,

wie neben der dargestellten Anknüpfung an

biographische Ressourcen die mitgebrachten

Verletzungsdispositionen das Leben im Heim

bestimmen können:

Immer wieder schildert Frau Schaumburg die

räumlichen Einschränkungen, die für sie mit

dem Umzug in das Heim verbunden sind. Im

Rückgriff auf ihre Kindheit sagt sie: »Das kleinste

Zimmer was wir hatten, das war vielleicht genau-

so groß wie das ganze Apartment hier«. Mit dem

Vergleich der Räume wird das Gestern mit dem

Heute verbunden.Ein Anschluss an die Lebens-

geschichte ist möglich. Frau Schaumburg weist

auf ihre mitgebrachten Möbel, die aus der Zeit

des großbürgerlichen Reichtums ihrer Familie

stammen und auf ein Gemälde. Sie sagt: »Das

waren die Wiesen vor unserem Gütchen. Das war

so schön, das glauben sie gar nicht«. Es wird deut-

lich,dass sich ihr biographisches Selbst,das »Je-

mand-von-einer-Art« (Goffman 1967,S 74) sein,

besonders mit dem Raum und dessen Ausstat-

tung darstellen lässt. Die Maße des Apartments

sind existenziell, sie sind Umrisse eines »Territo-

rium des Selbst« (Goffman 1974). Als die Alten-

pflegerinnen aufgrund einer kurzfristigen Bett-

lägerigkeit ein Spezialbett mitten in den Raum

stellen,durchlebt die Bewohnerin eine existenz-

gefährdende Grenzüberschreitung. Sie kann

diese nur durch einen völligen Rückzug in sich

selbst durchhalten.

In den Ausschnitten aus dem Interview der Al-

tenpflegerin wird deutlich,dass in der Logik der

Institution das Apartment als Nutzungs- und

Versorgungsoberfläche definiert ist. Die Bruta-

lität dieser Logik ergibt sich weniger aus einem

mangelhaften Pflege- und Betreuungsver-

ständnis Einzelner als vielmehr aus den Merk-

malen der totalen Institution. In ihnen sind die

Bewohnerinnen eben weniger als Subjekte son-

Page 69: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

3

54 Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege

dern als Versorgungsobjekte definiert. Der

Raum wird entsprechend der Versorgungsan-

forderungen optimal gestaltet, wogegen die

Frage nach dem biographischen Sinn des Terri-

toriums keine hohe Priorität aufweist.

Ein weiteres Beispiel aus einem anderen auto-

biographischen Interview mit einer Bewoh-

nerin: Die Heimbewohnerin Frau Förster ist als

junges Mädchen im Kaiserswerther Schwes-

ternverband zur Ausbildung.Kurz vor ihrer Auf-

nahme in den Verband als Diakonissin tritt sie

durch die Kriegsumstände aus. Die heute fast

völlig erblindete, stark schwerhörige Frau Förs-

ter kehrt in ihrer Erzählung in das »Sinnreich«

(Goffman 1977) ihrer Jugend zurück. Bei den

Diakonissinnen »war auch eine geistige – geisti-

ge Zucht und die behält man bis ins Leben«, sagt

sie. Leben in einer die alltäglichen Abläufe ord-

nenden Institution ist für diese Bewohnerin mit

den Erfahrungen als Schwesternanwärterin ver-

bunden.Mit dem Leben im Heim ist so – trotz der

eigenen Schwächen – ein diakonischer Auftrag

gegeben,dem Frau Förster so gut sie kann nach-

kommt. Es ist ein wesentlicher Ausdruck ihres

biographischen Selbst-Seins,sich nicht als Hilfs-

bedürftige, sondern als Helferin zu verstehen.

Die Analyse der biographisch-narrativen Inter-views zeigt (An-) Passungsprozesse, die als biogra-phische Sinntransformationen zu verstehen sind.Sie sind strukturell mit den im institutionellen Rah-men eines Altenheims liegenden Organisations-prinzipien gekoppelt. Die von den Bewohnerinnengeschilderten Szenen zum Leben im Heim lassensich in Kenntnis der Lebensgeschichte tiefergehendverstehen.Sie verdeutlichen,wo biographische Res-sourcen und Verletzungsdispositionen liegen undwie eine biographische An- bzw. Einpassung an dieInstitution »Altenheim« vollzogen wird.Es wird zu-dem deutlich, wie die in den alltäglichen Interak-tionen liegenden Sinnsetzungen des Personals diebiographische Existenz gefährden können.

Biographiebögen können diese Gefahr nichtaufheben, sie verstärken sie meines Erachtens nur,da sie ausschließlich Lebenslaufdaten und -ereig-nisse fixieren. Es entsteht allzu leicht der Eindruck,dass man »mehr« oder sogar »Wichtigeres« überden Menschen weiß. Eine standardisierte Befra-

gung ist nicht geeignet, den in den Informationenliegenden biographischen Sinn zu erfassen. DasAuffinden von Sinnressourcen benötigt das offene,vertrauensvolle Gespräch,in dem Erzählen,Fragen,Zuhören im Dialog stattfinden kann. Vorausset-zung hierfür ist das grundlegende Verständnis,dasssich biographischer Sinn über Zeit und Raum ver-ändert.

Soll ein biographischer Ansatz in der Pflegear-beit umgesetzt werden, so sind zunächst hohe An-forderungen an die Aus-, Fort- und Weiterbildungvon Altenpflegekräften zu stellen. Kompetenzenwie das »sich Einlassen können«, das Zuhören und»interpretierende Verstehen« müssen immer wie-der geübt werden, z. B. an erzählten Lebensge-schichten, in Praxisbegleitungen und Praxisrefle-xionen.

Pflege,die innerhalb eines institutionellen Rah-mens durchgeführt wird, ist durch die institutio-nelle Geordnetheit wesentlich bestimmt. Die Pro-fessionellen werden daher erkennen,dass die Insti-tution, in der sie arbeiten, – ungewollt – einen diebiographische Existenz potentiell bedrohendenCharakter hat. Sie werden ihre Handlungen dem-entsprechend hinterfragen.

Die für die biographieorientierte Pflege benö-tigte berufliche Handlungskompetenz lässt sich alsdoppelseitige Rahmungskompetenz zusammenfas-sen: Einerseits müssen die Pflegenden die Rah-mungen, d. h. die biographischen Sinnsetzungen,die die Pflegebedürftigen selbst vornehmen, de-chiffrieren, andererseits müssen sie ihre Pflege-handlungen so rahmen, d. h. mit Sinn versehen,dass sie die biographische Existenz derjenigen, fürdie sie sein soll, so wenig wie möglich gefährden.Pflegerische Rahmungskompetenz ist somit sowohleine reflexive als auch eine gestalterische Fähigkeit.

Vorschlag für die Praxis der Altenpflege:Ein »Lebensbuch« gestaltenStatt der in den Aktenschränken verschwin-

denden Biographiebögen können »Lebens-

bücher« gemeinsam mit den Bewohnerinnen

und/oder Angehörigen erstellt werden. Sie

sollen bei den Bewohnerinnen bleiben und

sie unterstützen, ihr biographisches Selbst

Wichtig

Page 70: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

3.3 · Biographieforschung in der Pflege355

anderen, z. B. neuen Mitbewohnerinnen oder

Auszubildenden, vorzustellen. Hierin können

Fotografien eingeklebt und Erlebnisse aufge-

schrieben werden.Lebensorte in Bild und Text

können durch Bilder und Anekdoten, z. B. von

Reisen, ergänzt werden. Das Verwandt-

schaftsnetz oder ein Stammbaum kann auf-

gezeichnet und/oder mit Fotos bebildert wer-

den. Dabei sollten keine Vorgaben, z. B. ein

Bestehen auf Angaben zum Lebenslauf, den

biographischen Rahmen strukturieren. Es

kommt vielmehr darauf an, entsprechend der

Möglichkeiten der Bewohnerin, der Angehö-

rigen und der Pflegenden kreativ eine dauer-

hafte Darstellung des biographischen Selbst

zu gestalten. Der besondere Wert dieses Bu-

ches liegt darin,dass die Bewohnerinnen es in

Händen behalten oder aber neben sich liegen

haben, um sich selbst und anderen die Mög-

lichkeit zu geben, ihre biographische Selbst-

darstellung zu Kenntnis zu nehmen.Dies wird

insbesondere dann relevant, wenn die Fähig-

keiten etwas von sich selbst zu zeigen, z. B.

ausführlich zu erzählen, nachlassen.

Fragen

4 1. Diskussion der Ergebnisse der vorgestelltenStudie: Welche Konsequenzen sind nach IhrerEinschätzung daraus für die professionelle Al-tenpflege zu ziehen?

4 2. Bewertung der Nutzung von sog. Biogra-phiebögen:Wie schätzen Sie die Vor- bzw.Nach-teile dieser Dokumentationsform ein?

4 3. Entwicklung eines methodischen Vorschlags,wie sich in einem/Ihrem Praxisfeld eine biogra-phieorientierte Perspektive einbringen lassenwürde.Wo sehen Sie Möglichkeiten, welche Ge-fahren und Grenzen müssen bedacht werden?

3 ZusammenfassungDer Aufsatz erörtert Biographien als einen spezifi-schen Forschungsgegenstand, der für die Pflege-und Pflegebildungsforschung von großem Interes-se ist. Im ersten Teil wird nach einer Differenzie-rung des Begriffs die theoretische Perspektive aufBiographien als eine soziale Konstruktion erläu-tert.Der zentrale Punkt der Ausführungen umreißtdie Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftli-

chen Strukturen und subjektivem Erleben, die sichin Biographien auffinden lassen. Im zweiten Teilwird das biographisch-narrative Interview vorge-stellt. Die qualitative Forschungsmethode wird inihren Zielsetzungen erklärt. Hierfür müssenzunächst die Eigenschaften von Erzählungen dar-gelegt werden.Im Anschluss daran wird der Verlaufeines biographisch-narrativen Interviews erörtert.Es wird deutlich, dass die Durchführung dieser In-terviewform eine sorgfältige Vorbereitung benö-tigt. Mit den Prozessstrukturen des Lebensablaufsvon Fritz Schütze wird ein bedeutender Analyse-und Interpretationsansatz für die Bearbeitung vonbiographischen Interviews vorgestellt. Im drittenTeil werden beispielhaft Studien genannt, in denenBiographieforschung im Gesundheitswesen bereitsumgesetzt wurde. Eine von der Autorin selbstdurchgeführte Studie wird ausführlicher vorge-stellt, um zu verdeutlichen, welche Potentiale sichdurch Biographieforschungen für die professionel-le Pflege- und Pflegebildung ergeben könnten.

3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung

Teilnehmerinnenorientierter Einstieg

Einen Einstieg in die Thematik ermöglicht die Me-thode »Lebenskurve«.Das selbstreflexive Vorgehenfordert eine Verdichtung/Verknüpfung von biogra-phischen Ereignissen auf einer Zeitskala,wobei dieEreignisse eine positive oder negative Bewertungerhalten. Um den Frage- und Reflexionshorizontauf das Seminarthema zu beschränken, könnte dieEinstiegsfrage z. B. lauten: »Welche Ereignissekennzeichnen meine berufliche Pflegegeschichte?«oder »Welche Ereignisse kennzeichnen meineLerngeschichte?« Die Auswertung der Skizze kannin Partner- oder Kleingruppenarbeit erfolgen undzur Frage nach der »Konstruktion« von biographi-scher Wirklichkeit überleiten. Ausführlicher zurMethode siehe Ruhe HG (1998) Methoden der Bio-graphiearbeit. Lebensgeschichte und Lebensbilanzin Therapie, Altenhilfe und Erwachsenbildung.Beltz,Weinheim Basel, S. 26 f.

Expertinnengespräche

Im Rahmen von Seminaren, die in die qualitativeSozialforschung einführen, können Biographiefor-

Page 71: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

3

56 Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege

scherinnen eingeladen werden, um ihre Fragestel-lungen, Erhebungsmethoden und Auswertungs-verfahren vorzustellen. Kontakte lassen sich überForschungswerkstätten herstellen z. B. durch dasINBL (Interuniversitäre Netzwerk Biographie- undLebensweltforschung, www.inbl.de).

Textinterpretation

Als eine Einübung von hermeneutischen Verfahrenkönnen Ausschnitte aus biographisch-narrativenInterviews gemeinsam interpretiert werden. Die inder Auslegung der Textsequenzen produzierten»Lesarten« können genutzt werden,um ein eigenesForschungsinteresse an den Zusammenhängen vonBiographie und Pflege zu fördern. Als Ausschnittekönnen die in biographieanalytischen Studien zi-tierten Interviewpassagen genutzt werden. DiesesVorgehen hat den Vorteil,dass die Studierenden dievon den Autorinnen vorgenommene Interpretationnachlesen und den Kontext der Untersuchung ken-nen lernen können.

3 Empfehlungen zum WeiterlernenKrüger HH, Marotzki W (Hrsg) (1999) Handbuch er-ziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Le-ske & Budrich, Opladen

Das Kompendium gibt einen guten Überblickzur erziehungswissenschaftlich orientierten Bio-graphieforschung. Neben grundlegenden metho-dischen Fragen werden Ansätze der Biographie-forschung zu unterschiedlichen Lebensphasen wie»Biographieforschung und Schülerinnenfor-schung« (Helsper u. Bertram), »Biographiefor-schung und Altersforschung« (Schweppes) und inunterschiedlichen Teildisziplinen der Pädagogikz. B. »Biographieforschung in der Erwachsenenbil-dung« (Alheit u. Dausien) und »Biographiefor-schung in der Berufspädagogik« (Harney u. Eb-bert) erörtert.

Woog P (Hrsg) (1998) Chronisch Kranke pflegen:Das Corbin-und-Strauss-Pflegemodell. Ullstein,Wiesbaden

Das Buch bietet eine kurze Einführung von Ju-liet Corbin und Anselm Strauss in die Krankheits-verlaufskurve.Der Ansatz wird als ein Pflegemodellzur Bewältigung chronischer Krankheiten vorge-stellt. Anhand von exemplarisch ausgewähltenchronischen Pflegesituationen beschreiben US-amerikanische Pflegewissenschaftlerinnen die

Umsetzung des Modells z.B. in der Pflege von Men-schen mit Diabetes mellitus (Walker), Herzerkran-kungen (Hawthorne) und Aids-Erkrankungen(Nokes).

Um sich für eine Erhebung,Analyse und Inter-pretation von biographisch-narrativen Interviewsgut vorzubereiten, könnten Sie mit anderen, erfah-renen Forscherinnen zusammenarbeiten, z. B. inForschungswerkstätten.Eine gut lesbare Vertiefungder hier dargestellten Verfahrensschritte bietetGlinka HJ (1998) Das narrative Interview. Eine Ein-führung für Sozialpädagogen. Juventa, WeinheimMünchen.

Einblicke in die Biographieforschung der ver-schiedenen Fachdisziplinen bekommen Sie unterfolgenden Internetseiten:4 Interuniversitäres Netzwerk Biographie- und

Lebensweltforschung: www.inbl.de4 Zentrum für qualitative Bildungs-, Beratungs-

und Sozialforschung: www.zbbs.de4 Kommission Erziehungswissenschaftliche Bio-

graphieforschung der Deutschen Gesellschaft fürErziehungswissenschaft: http://www.paedsem.gwdg.de/dozenten/alheit/biogra.shtml

4 Institut für angewandte Biographie- und Le-bensweltforschung: www.ibl.uni-bremen.de

Literatur

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reihe des Forschungsschwerpunktes »Arbeit und Bildung«,

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theoretische Perspektiven biographischer Ansätze. Werk-

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pädagogisk Teoriudvikling. Roskilde, S 4–12

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Alheit O, Hanses A (2004) Institution und Biographie. Zur Selbstre-

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Page 72: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

3.3 · Biographieforschung in der Pflege357

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tik. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB),

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Page 73: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

3

58 Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege

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tiver Sozialforschung. Psychologie Verlags Union, Weinheim

Woog P (Hrsg) (1998) Chronisch Kranke pflegen: Das Corbin-und-

Strauss-Pflegemodell. Ullstein, Wiesbaden

Page 74: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

4

Beratung in der Pflege – Annäherungen an einen für das Handlungsfeld der Pflege spezifischen Zugang

Martina Harking

4.1 Beratung in der Pflege 61

4.1.1 Eine Beratungsszene aus dem Pflegealltag 61

4.1.2 Beratung in den Handlungsfeldern der Pflege – ein Situationsaufriss 63

4.2 Beratung – ein dehnbarer Begriff mit mehrdeutigem Inhalt 65

4.2.1 Zu den vielseitigen Verwendungsformen von Beratung 65

4.2.2 Annäherung an ein Verständnis von Beratung 65

4.2.3 Beratungstheorien 68

4.2.4 Transfer der Beratungsansätze in die Pflege 68

4.3 Komponenten von Beratung 70

4.3.1 Beratungsbeziehung und Beratungsmethode 70

4.3.2 Ziel von Beratung 70

4.3.3 Förderliche Beratungsinterventionen 71

4.4 Beratung und Edukation 72

4.4.1 Patientenedukation als neues Handlungsfeld der Pflege? 72

4.4.2 Der Stellenwert von Beratung 73

4.5 Rückblick und Ausblick 74

Page 75: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

4

60 Kapitel 4 · Beratung in der Pflege

> Thesen5 Beratung in der Pflege ist jederzeit und aller-

orts möglich.Entscheidend ist,dass Pflegende

ein Bewusstsein dafür entwickeln.

5 Beratung ist in der Alltags- und Fachsprache

ein häufig verwendeter, zuweilen diffuser Be-

griff. Ähnlich vielgestaltig und wenig geklärt

ist die Verständigung über Beratung im Hand-

lungsfeld der Pflege.

5 Beratung in der Pflege ist mehr als das freund-

lich zugewandte Wort und die Anwendung

von Gesprächstechniken. Beratung ist ein Ge-

staltungselement der pflegerischen Bezie-

hung, eingebettet in den Pflegeprozess.

5 Beratung und Edukation sind zwei ungleiche

Schwestern. Es ist daher problematisch, die

Begriffe und damit verbundene Aktivitäten

synonym zu verwenden.

3 Berufliche Handlungskompetenzen

2 FachkompetenzTheoretische Modelle menschlicher Kom-

munikation und Interaktion kennen und

ihre Bedeutsamkeit für die Pflege prüfen.

Die Komponenten einer professionellen

Beratung verstehen und Beratungsanlässe

in der Pflege entdecken.

2 SozialkompetenzenProfessionelle Beziehungen aufnehmen,

gestalten und beenden können.

Die Entwicklung professioneller Bezie-

hungsfähigkeit als fortlaufenden Prozess

der Entfaltung stabiler und ethisch fundier-

ter Werthaltung leben (Respekt,Akzeptanz,

Ehrlichkeit, ausgewogenes Verhältnis zwi-

schen Nähe und Distanz).

2 PersonalkompetenzEin reflektiertes Engagement sich selbst

und der Arbeit gegenüber entwickeln, in-

dem eigene Belastungsgrenzen erkannt

und ausgedrückt werden.

Die Fähigkeit zur Reflexion von Beratungs-

situationen durch vorübergehende Distanz

und Metakommunikation erwerben (z.B.im

kollegialen Austausch oder durch Supervi-

sion).

Persönliche Beratungsfähigkeiten durch

Fortbildungen oder fachlichen Austausch

weiterentwickeln und vertiefen.

2 MethodenkompetenzDie verbalen und nonverbalen menschli-

chen Ausdruckformen als individuelles Be-

findlichkeitskonzept verstehen und dessen

Bedeutungsgehalt in den Kontext von Ge-

sundheits- und Krankheitsprozesse stellen.

Die im Beratungsprozess angewandten

Methoden als Hilfsmittel auffassen, die Be-

wusstheit und Einsicht ermöglichen und

die Entfaltung von Selbsthilfemöglichkei-

ten unterstützen.

2 SprachkompetenzBeratung verstehen als Reflexionsarbeit, als

Anleitung zur Selbst- und Fremdbeobach-

tung und als Prozess des Suchens und Ent-

deckens. Dazu ist ein waches Bewusstsein

für die Wirkung von körperlichen und

sprachlichen Ausdrucksformen bedeutsam.

3 PraxisrelevanzWorum handelt es sich, wenn von Beratung in derPflege die Rede ist? Diese Frage wird in Pflegewis-senschaft und Praxis seit Jahren vielfältig disku-tiert.Obwohl Beratung in der Pflege mittlerweile zueinem anerkannten Thema geworden ist, herrschtviel Unsicherheit, wenn es darum geht, das Wesenvon Beratung zu beschreiben.Das Verständnis um-fasst ein weites Spektrum: angefangen vom einfa-chen Ratgeben und Informieren, über Patienten-edukation und Anleitung bis hin zu entfalteten,theoretisch fundierten Beratungsansätzen.

Die inhaltliche Diskussion um den Stellenwertvon Beratung in der Pflege wurde durch die Sozial-gesetzgebungen der 1990er Jahre angestoßen undpflanzt sich derzeit v. a. durch die Vorgaben derjüngst verabschiedeten Berufsgesetze (Kranken-und Altenpflegegesetz) fort.Gegenwärtig stehen so-wohl die Berufsangehörigen in der Pflegepraxis alsauch diejenigen in den pflegerischen Ausbildungenund Studiengängen vor der Frage,wie sie ihren Be-ratungsauftrag wahrnehmen oder das Thema in

Page 76: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

Zusammenführung der charakterisierenden Eigenschaften

4.1 · Beratung in der Pflege461

Frau Segert1, eine 55-jährige Patientin, soll sichderzeit auf einer chirurgischen Allgemeinstationvon zahlreichen Darmoperationen erholen. Sie istkörperlich geschwächt und benötigt vielfältige pfle-gerische Unterstützungsleistungen. Ein großesProblem stellt die vorläufige Anlage eines Ileosto-mas dar, das in einigen Wochen zurückverlegt wer-den soll. Die inneren wie auch die äußeren chirur-gischen Nahtstellen mussten mehrfach revidiertwerden, sodass ihr Bauch mit vielen nässendenWunden,Narben und Drainagen übersät ist.Zudemkann ihr Verdauungssystem die oral zugenommeneNahrung nur unzureichend verwerten, sodass sieüber den Anus praeter große Mengen dünnflüssigenund übel riechenden Stuhls ausscheidet.

Frau Segerts Stimmungslage ist labil. Sie ärgertsich über den »Gestank des Beutels« und den voll-kommen »vermackten Bauch«. Sie klingelt häufig,damit der Beutel so schnell wie möglich entleertund der Inhalt so geruchlos wie möglich entsorgtwird. Inzwischen wählt sie Pflegende aus, die ihre

1 Der Name dieser Patientin ist frei erfunden, die Pflegesitua-tion hat sich tatsächlich so ereignet.

. Abb. 4.1.Verfahrensstruktur Beratung

Annäherung an einen diffusen Begriff mit vielseitigenVerwendungsformen und mehrdeutigen Inhalten

Analyse der wesentlichenEigenschaften

Auslagerung weniger bzw. nicht zugehöriger

Eigenschaften

UmgangssprachlichesVerständnis

FachsprachlichesVerständnis

Annäherung an ein Verständnisvon Beratung und Pflege

Wichtig

Seminaren und im Unterricht didaktisch behan-deln sollen. Ziel des folgenden Beitrags ist es, denumfassenden Begriff »Beratung in der Pflege« zuerhellen und Chancen zur Entwicklung pflegeri-scher Beratungskompetenzen aufzeigen.

3 VerfahrensstrukturSiehe hierzu . Abb. 4.1.

4.1 Beratung in der Pflege

4.1.1 Eine Beratungsszene aus dem Pflegealltag

These 1: Beratung in der Pflege ist jederzeitund allerorts möglich. Entscheidend ist,dass Pflegende ein Bewusstsein dafür ent-wickeln.

Page 77: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

4

62 Kapitel 4 · Beratung in der Pflege

»Verbände ordentlich machen können« und ver-liert leicht die Fassung, wenn Abläufe ungeregelt,d.h.verzögert oder andersartig gestaltet,verlaufen.Ihre Stimmung schwankt zwischen offener undfreundlicher Zugewandtheit, Weinen, Schimpfen,argwöhnischen Kommentaren sowie Rückzugsfor-men wie Schlafen oder Schweigen. Die Pflegendenhaben größtenteils Verständnis für die unter-schiedlichen Stimmungslagen und reagieren in Ge-genwart der Patientin vielfach beherrscht,geduldigund zurückhaltend.Im Team tauschen sie sich überihre Gefühle aus und wechseln die Zuständigkeitder Betreuung nach einigen Tagen ab.

So zieht sich die Pflege der Patientin über meh-rere Wochen hin. Eines Abends schreit Frau Segertdie zuständige Pflegende beim Austeilen des Essensan: »Was ist das denn wieder für ‘ne Jauche!« Nunverliert auch die Pflegende ihre Beherrschung undentgegnet entrüstet: »Das ist doch die von Ihnenbestellte Wunschkost! Ich weiß nicht mehr,wie manes Ihnen Recht machen kann.Jetzt hab ich auch kei-ne Lust mehr!« Erregt verlässt sie das Zimmer.

Was ist hier passiert, und hätte eine beratendeIntervention die Situation vielleicht frühzeitigerentspannen können? Sicherlich ist den Pflegendenzunächst nichts vorzuwerfen.Sie führten die Pflegegewissenhaft,fachlich korrekt und überdies höflichund beherrscht durch. Fachsprachlich könnte mansagen, der objektive Pflegebedarf – also all das, wasaus pflegerischer Sicht begründbar, hilfreich undheilsam erschien – wurde erfüllt. Und wie steht esum die subjektiven Bedürfnisse der Patientin? Auchhier zeigte sich die Pflege sensibel und überaus fle-xibel, um den individuellen Wünschen der Patien-tin gerecht zu werden. Was könnte die kurze Eska-lation beim Austeilen des Essens denn bedeutet ha-ben? Nur eine Überempfindlichkeit der Patientinoder eine flüchtige Unbeherrschtheit der Pflegen-den? Das folgende Gespräch gibt Aufschluss überdie tiefer liegenden Probleme der Patientin.

Die Pflegende betritt nach einer Weile das Zim-mer der Patientin, um die Wunschkost für dennächsten Tag in Erfahrung zu bringen. In diesemZusammenhang erkundigt sie sich eher beiläufig,wenn auch gezielt: »Was meinten Sie eigentlicheben mit Jauche?« Daraufhin beginnt die Patientinheftig zu weinen und erklärt, dass das Essen garnicht so schlecht schmecke, aber dass die Wunsch-kost nicht erfüllt werde, und das ärgere sie maßlos.

Die Pflegende erkennt noch keinen Zusammen-hang und fragt erneut nach dem Wort Jauche. Undnun erklärt die Patientin, dass alles, was sie esse,»wie Jauche aus ihr rauskommt« und sie sich in-nerlich »wie eine Jauchegrube fühlt«.

Die Pflegende hat nun deutliche Zeichen der in-neren wie äußeren Verfassung der Patientin erhal-ten. Es entwickelt sich ein längeres Gespräch überdie begleitenden Sorgen und Nöte der Patientin,dievon der Furcht vor der nahenden Operation undder Sorge um das Überleben gekennzeichnet sind.Die Pflegende versteht schließlich, dass das Essenlediglich eine Projektionsfläche für den innerenUnmut und die Nöte der Patientin war, und sie er-kundigt sich, was der Patientin zu einem früherenZeitpunkt hätte helfen können. Die knappe Ant-wort der Patientin lautet daraufhin: »Fragen Siemich doch ganz einfach mal, wie es mir mit soeinem ‘Ding’ geht oder wie es in mir aussieht.« Ineinem gemeinsamen Gespräch unter Kolleginnenerkennen die Pflegenden schließlich, dass sie dieleisen und manchmal auch lauten Hilferufe dieserPatientin trotz intensiver Begleitung nicht hattenheraushören können oder auch wollen. Das Leiddieser Patientin war ihnen scheinbar so offensicht-lich, ja so selbstverständlich geworden, dass sie esverpasst hatten, dieses gemeinsam mit der Patien-tin zum Thema zu machen. Gleichzeitig wurde diePflegesituation für die Beteiligten derart ange-spannt und verstrickt, dass alle ein Vermeidungs-verhalten entwickelten und das zentrale Thema ausden Augen verloren.

Anhand dieses Fallbeispiels wird offenkundig,dass ein freundlich zugewandtes Wort allein keineBeratung ausmacht.In diesem Fall verschleierte dieGeduld der Pflegenden sogar die Situation. Den-noch war die Qualität der Beziehung zwischen derPflegenden und der Patientin so tragfähig, dass diePatientin ihre echten Gefühle zeigen konnte undschließlich auch an entscheidender Stelle von derPflegenden wahrgenommen wurde. Die Pflegendeknüpft schließlich,nach den zuvor ungehörten undübersehenen Fingerzeigen der Patientin, an einedeutlich leibliche Metapher an.

In der Beratungssprache – wie im »TetradischenModell« (vgl. Kap. 3) ausgewiesen – dürfte es sichum die zweite Phase, die Aktionsphase, eines Bera-tungsprozesses handeln. Das eigentliche Problempräsentierte sich ohne Schleier und trat aus den

Page 78: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

4.1 · Beratung in der Pflege463

mittlerweile schwierigen und verworrenen Zusam-menhängen heraus. So konnte die Pflegende einendirekten Zugang zum gegenwärtigen Erleben derPatientin gewinnen. Sie stand der Patientin im ent-scheidenden Moment so nahe, dass sie ihre echtenSorgen verstehen konnte. Schließlich – so lassensich die Phasen des Beratungsprozesses fortführen– hat ein aufmerksames und einfühlendes Gesprächdie Patientin entlastet. Zwar löste sich damit dasProblem der Patientin nicht völlig auf – die Sorgevor der nahenden Operation blieb. Dennoch hattedie Patientin ihre Befürchtungen ausdrücken kön-nen und benötigte keine Projektionsfläche mehr,um ihrem inneren Erleben Aufmerksamkeit zu ver-leihen. Gleichzeitig führte dieses Gespräch aus derinzwischen angespannten Situation zwischen Pa-tientin und Pflegenden heraus,sodass sich auch aufSeiten der Pflege eine Entlastung einstellte.

Nachdem nun eine Szene aus dem pflegeri-schen Alltag erste Einblicke in mögliche Bera-tungssituationen der Pflege gewährte – dessen Ele-mente in Kap. 3 vertiefend dargestellt sind –, sollzum derzeitigen Diskussionsstand zur Beratung inder Pflege übergeleitet werden. Hier zeigt sich einweites Spektrum möglicher beraterischer Aktivitä-ten der Pflege,wobei das Verständnis von Beratungdurchaus unterschiedlich ist. Daher wird im an-schließenden Kapitel der Blickwinkel erweitert,umden Wesenskern von Beratung aufzuspüren.Diesesist erforderlich, da Beratung offenbar ein häufigverwendeter Begriff für eine Vielzahl unscharf ab-zugrenzender Tätigkeiten ist.Anschließend werdendie Komponenten einer professionellen Beratungvorgestellt,die als Orientierungslinie für den dyna-mischen Entwicklungsprozess beraterischer Kom-petenzen in der Pflege dienen können.

4.1.2 Beratung in den Handlungsfeldernder Pflege – ein Situationsaufriss

In pflegefachlichen Publikationen zum Thema –deren Zahl seit Jahren deutlich steigt – wird Bera-tung einerseits als besondere sozialkommunikativeKompetenz dargestellt, die Pflegende in den Hand-lungsfeldern der ambulanten und stationären Pfle-ge täglich ausüben, die also integraler Anteil derpflegerischen Arbeit ist (Koch-Straube 2001; Zege-lin-Abt u. Huneke 1999). Andererseits ist Beratung

auch eine Spezialtätigkeit von Pflegenden in Ein-richtungen oder neuen Handlungsfeldern der Pfle-ge, wie Pflegeüberleitung oder Pflegeberatungs-büros, Patienteninformationszentren und im Be-reich des Case-Managements. Daneben existierenzahlreiche Modellprojekte, die Beratungsansätzefür eine spezifische Klientel konzipieren, wie dieBeratung bei Wachkomapatienten (Prietz u. Koch-Straube 2004) oder die kultursensible Beratung(Piechotta 2004).

In den Sozialgesetzgebungen – hier insbeson-dere im Sozialgesetzbuch (SGB), XI Buch – drücktsich ein Beratungsverständnis überwiegend in derAddition von Tätigkeiten aus, wie die Vermittlungvon Sachinformationen,Anleitungs-,Aufklärungs-und Koordinie- rungsaufgaben oder gar im Sinneeiner Kontrollfunktion wie im »Pflegepflichtein-satz« des Pflegeversicherungsgesetzes (§ 37 Abs. 3SGB XI) ausgewiesen.In den normativen Vorgabender Berufsgesetze – hier exemplarisch das Kran-kenpflegegesetz – wird im Ausbildungsziel (§ 3Abs. 2c) die »Beratung ... von Patientinnen undPatienten und ihrer Bezugspersonen in der indivi-duellen Auseinandersetzung mit Gesundheit undKrankheit« ausgewiesen (Bundesgesetzblatt I,2003,1442 ff). Eine vertiefende, inhaltliche Differenzie-rung dieser kommunikations- und interaktionsin-tensiven Kompetenz erfolgt jedoch nicht.

Weiterhin wird Beratung im Zusammenhangmit einem für die deutsche Pflege und Pflegewis-senschaft relativ jungen pflegerischen Handlungs-feld – die Patientenedukation – angeführt.Deutsch-sprachige Veröffentlichungen erklären Patienten-edukation beinahe übereinstimmend mit denpflegebezogenen Aktivitäten des Informierens,Schulens und Beratens (Evers 2001; Müller-Mundtet al. 2000; Renneke 2000; Zegelin-Abt 1999,2003a,b). Augenfällig ist, dass diese Veröffentli-chungen keine einheitliche Begriffswahl erkennenlassen. Hier ist die Rede von »Patientenschulung«(Müller-Mundt u. Schaeffer 2001), »Patientenanlei-tung« (Evers 2001), »Patientenedukation« (Müller-Mundt 2001) und »Beratungspflege« (Müller-Mundt et al. 2000) sowie von »Patientenanleitungund -beratung« (Pinkert u. Renneke 2000). DieseBegriffe werden synonym und auch als Begriffs-kombinationen oder einzeln verwendet. In einemähnlichen Verständnis reiht Georg (2004) Beratungin den Kontext des Pflegeprozesses ein und meint

Page 79: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

4

64 Kapitel 4 · Beratung in der Pflege

mit Beratung die Vermittlung von Wissen insbe-sondere bei der Pflegdiagnose »Wissensdefizit«.

Äußern sich Pflegende darüber,was sie unter Be-ratung verstehen und ob sie Beratung als ihre Auf-gabe anerkennen, zeigen die Untersuchungsergeb-nisse von Hösl-Brunner u. Herbig (1998) ein klaresGefälle zwischen der stationären und der ambulan-ten Pflege: Im stationären Bereich ist die Beratungs-aufgabe weniger im Bewusstsein der Pflegenden ver-ankert als in der häuslichen Pflege.Insgesamt zeich-net sich ab, dass Pflegende zum Zeitpunkt derErhebung sprachlich weniger mit dem Beratungs-begriff operierten.Sie verstehen unter beraterischenAktivitäten eher die Vermittlung von kognitiven In-halten und manuellen Fähigkeiten, wie krankheits-spezifische Information, Aufklärung beispielsweisezur Wohnraumanpassung oder Anleitung von An-gehörigen etwa zur Pflege im häuslichen Umfeld.Dabei orientiert sich das Thema »Beratung« häufigan der Einschätzung und den Sichtweisen der Pfle-genden: »Pflegeberatung beinhaltet das, was diePflegefachkraft für wichtig erachtet« (Hösl-Brunneru. Herbig 1998, S. 781). Zumeist wird die Beratungsituativ und ungeplant gestaltet,d.h.intuitiv und »soaus’m Stehgreif heraus« (Hösl-Brunner u. Herbig1998, S. 780).

Auch Knelage u. Schieron (2000) belegen, dassBeratung nicht durchgängig als pflegerische Kom-petenz anerkannt wird und je nach Tätigkeitsfeldunterschiedlichen Auffassungen unterliegt. In derstationären psychiatrischen Pflege, so Knelage u.Schieron,zeigt sich,dass Beratung als kommunika-tiver Aufgabenbereich akzeptiert und inhaltlich wieauch methodisch durch Fachweiterbildungen ge-stützt ist.Dennoch wird Beratung auch von den Be-fragten der psychiatrischen Pflege überwiegend alsinformatives Gesprächsangebot, als Tipp oder alsRatschlag verstanden.Nach Schieron ist den Berufs-angehörigen der allgemeinen stationären Pflegeder Beratungsbegriff kaum geläufig. Sie verstehenBeratung eher umgangssprachlich als »Schwätz-chen halten,Hilfe geben oder auf den Patienten ein-gehen« (Schieron 2000, S. 7). Die Pflegenden derallgemeinen stationären Pflege haben entspre-chende Fähigkeiten in ihrer pflegerischer Ausbil-dung schließlich nicht erworben, sondern fühlensich aufgrund ihrer Lebens- und Berufserfahrungoder durch persönliche Veranlagungen dazu fähig.Ein übereinstimmendes Ergebnis der beiden letzt-

genannten Untersuchungen ist, dass Pflegende tie-fer gehende Beratungssituationen – auch unterdem Druck von Arbeitsdichte und Arbeitsorgani-sation – als eher belastend erleben und zum Schutzvor Überforderung vermeiden möchten.

Abgesehen von der begrifflichen Vielfalt undden unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungenwird ersichtlich,dass Beratung in die deutsche Pfle-ge und Pflegewissenschaft Einzug gehalten hat.Wiesteht es aber um die methodische Gestaltung vonBeratungssituationen? Wer ist für Beratung zu-ständig? Ist Beratung dasselbe wie Patienteneduka-tion oder Patientenanleitung oder eben auch nurdas freundliche zugewandte Wort? Gerade bei die-sen Fragen ist ein Großteil der Pflegefachliteraturwenig aussagekräftig. Die Notwendigkeit, diesespflegerische Handlungsfeld professionell zu er-schließen, wird zwar eingehend und nachvollzieh-bar umrissen, und übereinstimmt wird der selbst-bewusste, befähigte und kompetente Patient imUmgang mit seinen Gesundheits- und Lebenspro-blemen beschrieben – der Beratungsprozess als sol-cher bleibt aber eher dünn und schemenhaft.

Grundlegend zum Thema »Beratung in derPflege« äußert sich Koch-Straube (2001), die sichschon seit Jahren konzeptionell mit diesen Fragenbeschäftigt. Sie versteht Beratung in Anlehnung andie integrative Beratung als einen »Lernprozess …der persönliches Wachstum und die Veränderungvon als belastend erlebten oder unauflöslich er-scheinenden Situationen zum Ziel hat« (Koch-Straube 2001, S. 114). Dieser Prozess ist in sich ent-deckend, gestaltend und ergebnisoffen, d. h. weni-ger von lenkenden oder beeinflussenden Vorgabender Gesundheitsexperten bestimmt. Im Zentrumeiner Beratung stehen die gleichberechtigte und ge-meinsame Suche sowie das Aushandeln und Ge-stalten einer Situation. Dabei ist der Berater ver-antwortlich für den Beratungsprozess, indem ereine hilfesuchende Person darin begleitet,Bewusst-heit und Einsicht in ein Problem zu gewinnen undsie darin unterstützt, Veränderungsmöglichkeitenzu finden,abzuwägen und auszuprobieren.Die hil-fesuchende Person wird als gleichberechtigter Dia-logpartner anerkannt und bleibt Experte und ver-antwortlich für ihr Leben. Beratungsanlässe, dieeine professionelle Unterstützungsleistung derPflege erfordern, sieht Koch-Straube nicht nur inden offenkundig schwierigen Lebenskrisen eines

Page 80: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

4.2 · Beratung – ein dehnbarer Begriff mit mehrdeutigem Inhalt465

oder Verkaufsberatung die Rede. Zudem werdenBegriffe wie »Consulting« und »Counseling« imManagement oder in der Erwachsenenbildung ver-wendet (Stichwortrecherche Google 2004). Auchim Gesundheitswesen spielt Beratung als gesondertherausgestelltes Dienstleistungsangebot eine Rolle.So taucht der Begriff in den Gesundheitswissen-schaften und in der Medizin auf – hier als Gesund-heitsberatung (Brinkmann-Göbel 2001) –, zudemin Pflege und Pflegewissenschaft sowie in den So-zialgesetzgebungen (insbesondere SGB XI) als Pa-tientenberatung oder Pflegeberatung. Diese Be-griffskombinationen belegen, dass die Bandbreitevon Beratungsaktivitäten weitläufig und sowohl inalltagssprachlichen als auch in fachspezifischen Zu-sammenhängen zu finden ist. Die unterschiedli-chen Beratungsaktivitäten werden durch das Hin-zufügen des betreffenden Dienstleistungsangebots,der Adressatengruppe oder einer menschlichen Zu-standsform näher bestimmt.

Die vielseitige Verwendung des Beratungsbe-griffs deutet auf einen gestiegenen gesellschaftli-chen Beratungsbedarf hin (Belardi et al.1999; Nest-mann u. Engel 2002). Andererseits könnte der Be-griff »Beratung« so offen und unverbindlich sein,dass er als Sammelbegriff bzw. Allgemeinplatz füreine Vielzahl unscharf abzugrenzender Aktivitätendient. Problematisch ist dies dann, wenn Benutzerund Empfänger ihm eine unterschiedliche Bedeu-tung geben. Darunter leidet die Kommunikation.Fachbegriffe sollten möglichst genau geklärt undbeschrieben, im Idealfall definiert werden. Einederartige Normierung der Fachsprache ist für eineinnerberufliche und interdisziplinäre Kommunika-tion unabdingbar (Oertle Bürki 1997).Mit Blick aufdie in Deutschland noch junge Pflegewissenschaftist festzustellen,dass es zahlreiche Beispiele für un-scharfe Begriffsbestimmungen gibt. Auch der Be-griff »Beratung« ist hier anzuführen.Es handelt sich,wie Koch-Straube (2001, S. 63) schreibt, um einen»multifunktionale[n] und schillernde[n] Begriff«.

4.2.2 Annäherung an ein Verständnis von Beratung

Beratung im umgangssprachlichen Sinn

Schon alltägliche Beratungssituationen geben Hin-weise auf Reichweite und Grenzen des Beratungs-

Wichtig

Menschen. Für sie ist Beratung vielfach in den all-täglichen, kleinen und oftmals unspektakulärenSzenen der Pflege beheimatet.

So zeigen die Ergebnisse ihrer Feldstudie»Fremde Welt Pflegeheim« (1997),dass die Interak-tionen zwischen Bewohnern und Pflegenden häu-fig an der Oberfläche bleiben. Vielfach schenkenPflegende den sichtbaren, »handfesten« pflegeri-schen Tätigkeiten mehr Aufmerksamkeit als den»unsichtbaren« und die Gefühlsarbeit betreffen-den. Die Szenen aus dem Pflegealltag legen nahe,dass es oftmals die kleinen Fingerzeige eines Pati-enten, Bewohners oder Pflegebedürftigen sind, dieauf ein drängendes Problem verweisen.Diese leisenHilferufe – die sich in einfachen »Tür-Angel-Gesprä-chen«, Gesten oder Widerständen äußern – stehenbei genauem Hinsehen, Hinhören und Hinspürenoftmals als Hinweis auf tiefer liegende Fragen,Zweifel, Sorgen und Ängste. Insofern bestünde dererste Schritt zur Entwicklung pflegerischer Bera-tungskompetenzen darin,dass Pflegende Beratungals ihren professionellen Auftrag verstehen.

Nach dieser Standortbestimmung zum Ver-ständnis von Beratung in der Pflege soll der Blick-winkel erweitert werden. Es geht um den Bedeu-tungsgehalt des Beratungsbegriffs.Dieser soll übereine Analyse alltagssprachlicher Verwendungssi-tuationen hin zu fachsprachlichen Kontexten auf-gedeckt werden.

4.2 Beratung – ein dehnbarer Begriffmit mehrdeutigem Inhalt

These 2: Beratung ist in der Alltags- undFachsprache ein häufig verwendeter, zu-weilen diffuser Begriff. Ähnlich vielgestal-tig und wenig geklärt ist die Verständigungüber Beratung im Handlungsfeld der Pflege.

4.2.1 Zu den vielseitigenVerwendungsformen von Beratung

Beratung ist »in« – das zeigt schon ein flüchtigerBlick in die Zeitungen oder ins Internet. Hier istvon Farb- und Stilberatung, Immobilienberatung

Page 81: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

4

66 Kapitel 4 · Beratung in der Pflege

begriffs und die damit verbundenen Aktivitäten.Im Folgenden wird zunächst die etymologische Be-deutung des Begriffs erörtert, daran anschließenddas Wesen von Alltagsberatung skizziert und amBeispiel einer alltäglichen Verkaufsberatung veran-schaulicht.

Im Herkunftswörterbuch (Duden 2001,S.652 ff.)wird der Bedeutungsgehalt der Wortbestandteile»be« und »Rat« folgendermaßen aufgeschlüsselt:Rat,ein altgermanisches Wort,meinte ursprünglich»Mittel, die zum Lebensunterhalt notwendig sind«.Aus diesem Verständnis von »Vorrat« oder »Haus-rat« entwickelte sich der Begriff »beratende Ver-sammlung«, die durch das Verb »ratschlagen« aus-gedrückt wird und vom Mittelhochdeutschen »rät-slagen«” stammt. Ratschlagen steht in dieser Zeitdafür, »den Kreis für die Beratung abg[zu]renzen«wie dies in Persona durch die »Ratsversammlung«oder rein äußerlich in einem »Rathaus« geschieht.Inder heutigen Zeit bedeutet »Rat« bzw. »Beratung«schließlich der »gut gemeinte Vorschlag«,eine »Un-terweisung« oder eine »Empfehlung«.

Gleichermaßen interessant ist in diesem Zu-sammenhang die Bedeutung der Vorsilbe »be«, diein Verbindung mit Verben, Substantiven oder Ad-jektiven verwendet wird. So weist »be« sowohl aufeine räumliche Verhältnismäßigkeit hin, wie »dieRichtung eines Vorgans«, z. B. sich einander begeg-nen,als auch auf die »zeitlich begrenzte Einwirkungauf eine Sache oder Person«,z.B.beginnen oder be-enden. Die Vorsilbe »be« betont das »Versehen miteiner Sache oder das Zuwenden einer Fähigkeit«(Duden 2001, S. 75). Diese etymologische Betrach-tung macht zweierlei deutlich: Erstens reiht sich derWesenskern von Beratung um das Merkmal »sicheiner Sache oder Person in besonderem Maße zu-wenden«. Und obwohl der Gegenstand der Bera-tung nicht mehr so scharf umrissen ist wie zufrüheren Zeiten, ist zweitens ersichtlich, dass überein Thema, eine Sache oder eine Begebenheit einPersonenkreis ratschlagt, der dazu in besondererWeise geeignet scheint.

Alltagsberatung findet im täglichen Miteinan-der häufig statt: So drückt der gute Rat eines Freun-des, der praktische Tipp einer Kollegin oder derwohlgemeinte Vorschlag eines Bekannten das Ge-fühl von Anteilnahme und Beistand aus.Diese For-men des Ratgebens bzw. Beratens sind weit ver-breitet und werden im täglichen Miteinander so-

wohl sprachlich als auch inhaltlich selten hinter-fragt. Zur Abgrenzung von Alltagsberatung undprofessioneller Beratung soll bereits an dieser Stel-le auf zwei von Koch-Straube (2001, S. 66) identifi-zierte Merkmale verwiesen werden. Demnach istAlltagsberatung eher »situativ und ungeplant«,während eine professionelle Beratung »zielorien-tiert und methodengeleitet« (Koch-Straube 2001,S. 66) stattfindet. Demzufolge stellen die oben an-geführten pflegerischen Beratungsaktivitäten inder Untersuchung von Hösl-Brunner u. Herbig(1998) eher Formen der Alltagsberatung dar.

Um das Spektrum des umgangssprachlichenGebrauchs von Beratung zu erweitern, wird folgen-des Beispiel konstruiert: Man stelle sich eine Ver-kaufsberatung in einem Haushaltswarengeschäftvor. In der Regel sucht der Kunde bzw.Verbraucherein Fachgeschäft auf, um sich ein erstes Bild von ei-nem gewünschten Artikel zu machen,ggf.möchte erdiesen Artikel kaufen. Den Kunden interessierenbeispielsweise Materialeigenschaften, Bedienungs-elemente und Vorzüge des Artikels im Vergleich zuanderen bis hin zu Preisauskünften. Üblicherweiseist diese Fachberatung nicht an einen Kaufzwanggebunden. Der Interessent kann das Fachgeschäftdurchaus verlassen,ohne gekauft zu haben.Der An-spruch an eine Verkaufsberatung besteht zumindestaus Sicht des Kunden darin, Informationen zu er-halten, die ihm ein Abwägen ermöglichen undschließlich eine Entscheidungshilfe für den mögli-chen Kauf liefern. Dieses Beispiel zeigt, dass Bera-tung etwas mit Unverbindlichkeit,Freiwilligkeit undEntscheidungshilfe zu tun hat. Weiterhin reiht sichBeratung um die Aktivitäten des Auskunftgebens,Aufklärens,Zeigens und Informierens,mit dem Ziel,sich ein Bild zu machen. Demzufolge ist Beratungein Sammelbegriff oder Oberbegriff für relativ un-verbindliche Aktivitäten, die in der Regel ohne Ent-scheidungszwang einhergehen.

Diese Feststellung ist wichtig, will man dieGrenzen des Begriffs oder dessen, was ihm nichtzugehörig ist,erkennen.In diesem Zusammenhangempfiehlt es sich, das Gegenteil von Freiwilligkeit,Unverbindlichkeit und Wahlfreiheit anzuschauen:Dies sind Komplementärbegriffe wie »Zwang«,»Be-fehl«,»Gehorsam« oder »Druck«.Sie zeigen sich amehesten in direktiven Verhaltensweisen,wie verord-nen,verfügen,anweisen und auffordern.Im Fall einesKunden-Verkäufer-Verhältnisses sind diese direkti-

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4.2 · Beratung – ein dehnbarer Begriff mit mehrdeutigem Inhalt467

ven Verhaltensweisen – wollen beide miteinanderins Geschäft kommen – wohl eher fehl am Platz. Inwelchen Fällen wird jedoch verordnet, angewiesenoder verfügt? In der Regel nur dann, wenn ein Au-toritäts- oder Verantwortungsgefälle zwischen dem»Anordnenden« und dem »Befolgenden« besteht.Dies dürfte beispielsweise in einem erzieherischenFürsorgeverhältnis zwischen Eltern und ihren min-derjährigen Kindern der Fall sein. Ein gewisses Ab-hängigkeitsverhältnis besteht ebenso im Arbeits-verhältnis oder auch in einem Autoritäts- und Ab-hängigkeitsverhältnis,z.B.durch den Wissens- undErfahrungsvorsprung von Experten gegenüberLaien.Dahingehend wird im Gesundheitswesen v.a.die Arzt-Patient-Beziehung als »paternalistisch-autoritativ« bezeichnet (Rosenbrock 2001, S. 25).

Anhand dieser fiktiven Konstruktion von Ge-gensätzen dürfte klar geworden sein, was Beratungim weitesten Sinne nicht ist – nämlich die Aus-

übung von Zwang und Druck unter Verwendungdirektiver Verhaltensweisen. Auch wurde anhandder Konstellation der Interakteure und ihrer Bezie-hungen zueinander klar, dass bei Autoritäts- undAbhängigkeitsverhältnissen die Entscheidungs-kompetenzen eher bei der autorisierten Person undweniger beim abhängigen Individuum liegen. Einederartige Asymmetrie in der Beziehung ist keinegute Voraussetzung für ein gelingendes, d. h. aufAbwägen und Entscheidungsfreiheit beruhendes,Miteinander.Die Systematisierung eines umgangs-sprachlichen Verständnisses von Beratung ist in . Tabelle 4.1 dargestellt.

Beratung im fachsprachlichen Sinn

Folgt man diesen umgangssprachlichen Überle-gungen, ist es nahe liegend, für eine fach- oder be-rufsgruppenspezifische Beratung zu schlussfol-gern, dass Beratung bestimmten BerufsgruppenKraft ihrer Sachkunde zuzuordnen ist. So ist einSteuerberater Experte seines Faches. Er wird vonMandanten aufgesucht,weil er in Steuerangelegen-heiten spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt.Dies gilt etwa auch für die Berufsberatung, die Fi-nanzberatung usw. Ob diese Beratungen nun me-thodengeleitet stattfinden – ein Merkmal profes-sioneller Beratung –, ist hier nicht zu behandeln.Vielmehr geht es um die sozialen bzw. helfendenBerufe, zu denen die Pflege gehört.

Beratung im Zusammenhanghelfender/sozialer Berufe

Wie steht es um den Beratungsaspekt, speziell beiden sozialen bzw. helfenden Berufen im Allgemei-nen und in der Pflege im Besonderen? Sicherlichkönnte das Beispiel der Steuerberatung auch aufdie soziale Arbeit oder die Pflege übertragen wer-den. Ein Sozialarbeiter, der in der Drogenberatungtätig ist, kennt üblicherweise das Milieu, die Abläu-fe von der Drogenbeschaffung bis zur Abhängigkeitund schließlich Therapieansätze sowie Möglich-keiten der individuellen Begleitung.In der Pflege istes ähnlich: Pflegende sind Experten ihres Fachesund können in pflegefachlichen Angelegenheiteninformieren und aufklären sowie in konkretenLebenssituationen helfen, bestimmte Unterstüt-zungsangebote zu prüfen und anzubieten.

Soziale Berufe sind aber insbesondere dadurchgekennzeichnet, dass es sich um eine interaktions-

. Tabelle 4.1. Systematisierung eines umgangs-sprachlichen Verständnisses von Beratung

Anlass Thema, Frage, Bedürfnis

Voraussetzungen Kreis für die Beratung abgrenzen(geeigneter Personenkreis)

»be«: sich einer Sache oder Fähig-keit in besonderer Weise zuwen-den

Freiwilligkeit, Unverbindlichkeit,freie Auswahl

Merkmale Ungeplant und situativ Auskünfte geben, vergleichen,aufklären, informieren, Rat ertei-len, gut gemeinten Vorschlag/Empfehlung

Ergebnis Sich ein Bild machen, Entschei-dungshilfe geben, Beistand leis-ten

Ähnliche Begriffe und Aktivitäten, die offenbar nicht zu-gehörig sind

Schwierige Autoritäts- und Abhänhig-Voraussetzungen keitsverhältnis,Verantwortungs-

gefälle

Nicht zugehörige Direkte Verhaltensweisen,Aktivitäten z. B. Zwang oder Druck

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4

68 Kapitel 4 · Beratung in der Pflege

intensive und damit zwischenmenschliche Dienst-leistung handelt. Das Besondere liegt in der Ausge-staltung zwischenmenschlicher Begegnungen, denInteraktionsbeziehungen,die den Angehörigen so-zialer Berufe besondere professionelle Kompeten-zen abverlangen.Beratung stellt sich hier als »Ober-begriff für die Form der Interaktion zwischen Hel-ferInnen und KlientInnen« dar und zieht sich »als‘Querschnittsmethode’ durch nahezu alle anderenHilfeformen wie Betreuung, Pflege, Einzelfallhilfe,Gruppen und Gemeinwesenarbeit, Bildungsmaß-nahmen, Erziehung etc.« (Sickendiek et al. 1999,S. 13). Demzufolge ist Beratung in sozialen Berufensowohl eine methodisch gestützte, professionelleHilfe- bzw.Kommunikationsform als auch elemen-tarer Bestandteil des professionellen sozialen Han-delns.

4.2.3 Beratungstheorien

In den Sozialwissenschaften liegen fundierte Bera-tungstheorien und Konzepte vor (Belardi et al.1999;Nestmann u. Engel 2002; Rahm 2004; Rahm et al.1999; Sickendiek et al. 1999). Sie vermitteln einebreite Anerkennung beraterischer Kompetenzen inden jeweiligen beruflichen Handlungsfeldern. Denvielfältigen Beratungsdiskursen der Wissen-schaftsdisziplinen ist zu entnehmen, dass es ange-sichts dieser professionellen Bedeutsamkeit wedereine allgemeingültige Definition von Beratung gibt(Tiefel 2004) noch dass sich die Beraterpraxis einereinzigen theoretischen Denkschule verpflichtetsieht (Belardi et al. 1999; Nestmann u. Engel 2002;Sickendiek et al. 1999). Belardi et al. (1999) sowieNestmann u. Engel (2002) bezeichnen das multi-methodische und integrative Einbinden unter-schiedlicher Ansätze und Methoden als »pragmati-schen Eklektizismus«. Dieser könne der Komple-xität menschlicher Problemlagen und Verhaltens-weisen eher gerecht werden als eine rigide Konzept-und Methodenbindung.Nachstehend ist eine Über-sicht zu den wichtigsten Theorierichtungen undihren Hauptvertretern aufgeführt (in Anlehnungan Koch-Straube 2001 und Hoh 2003):4 tiefenpsychologische Konzepte: Psychoanaly-

se (Freud);4 humanistische Konzepte: klientenzentrierte

Beratung (Rogers), themenzentrierte Interak-

tion (Cohn),Gestalttherapie (Perls), integrativeTherapie (Petzold), Psychodrama (Moreno),Transaktionsanalyse (Berne);

4 lern- und verhaltenswissenschaftliche Konzep-te: Verhaltensanalyse und -modifikation (Skin-ner,Watson), kognitive Ansätze (Bandura);

4 systemtheoretische Konzepte: überwiegendeine Verbindung aus Theorieansätzen der Ky-bernetik (Bertalanffy), der Erkenntnistheorie(Glasersfeld), der Neurobiologie (Maturanaund Varela) und der Soziologie (Luhmann),wiesie in der Paar- und Familienberatung, der Sys-temberatung und der Organisationsentwick-lung genutzt werden.

Bei den einzelnen Beratungsansätzen und Defini-tionen psychologischer, sozialer, sozialpädagogi-scher, pädagogischer und psychosozialer Beratunggibt es neben unterschiedlichen Schwerpunktset-zungen auch zentrale Übereinstimmungen. Diesesind nach Koch-Straube (2001, S. 107) »die Lebens-welt- und Alltagsweltorientierung, Ressourcen-und Kompetenzorientierung, Aufbau einer sym-metrischen, offenen Beziehung, Vermittlung vonExpertenwissen, Auseinandersetzung mit konkre-ten Fragestellungen im Hier und Jetzt« wie auch dieErhöhung von persönlicher »Autonomie und Mün-digkeit«.

4.2.4 Transfer der Beratungsansätze in die Pflege

Die professionelle Beziehung als Kern pflegerischer Arbeit

Einem modernen Pflegeverständnis folgend stehtim Zentrum der Pflege die pflegerische Beziehungmit den darin stattfindenden Aushandlungspro-zessen zum Gesundsein wie auch zum Krankseinmit dessen möglicher Folge, der Pflegebedürftig-keit (Sieger u. Kunstmann 1998). Die pflegerischeBeziehung »bildet das ‘Herz’ der pflegerischen Pra-xis und findet ihren Ausdruck in der Zuwendungund Anteilnahme an der individuellen Situationder zu betreuenden Menschen« (Zang 2003, S. 45).Pflegerisch-professionelles Handeln ist daher maß-geblich am Befindlichkeitskonzept eines Menschenorientiert; am individuellen Erleben, Fühlen undDenken.

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4.2 · Beratung – ein dehnbarer Begriff mit mehrdeutigem Inhalt469

Diese innerliche wie auch äußerliche zwi-schenmenschliche Verständigung ist als Dialogoder als »Wechselrede« zwischen Pflegenden undGepflegten zu verstehen. Wenn es Pflegenden ge-lingt, am individuellen Bedeutungsgehalt vonKranksein, Behindertsein oder Eingeschränktseinder zu pflegenden Menschen anzuknüpfen,könnendie tatsächlichen Bedürfnisse nach pflegerischerHilfe und Unterstützung ermittelt und schließlichals ein wirksames und pflegerisch begründbaresUnterstützungsangebot vermittelt werden.Das hiererwähnte Aushandlungsgeschehen gestaltet sich imSinne des Pflegeprozesses als einvernehmliches Ab-wägen und Abstimmen der Sichtweisen des zu pfle-genden Menschen mit denen der Pflegenden. Indiesem – von Pflegenden initiierten – Abstim-mungs- oder Aushandlungsprozess finden sowohldie Einstellungen und Erfahrungen des pflegebe-dürftigen Menschen als auch die der professionellPflegenden (berufliches Wissen, Können und Er-fahrung) Berücksichtigung. Erst durch einegleichberechtigte Integration beider Sichtweisenund durch die Einbindung aller Facetten mensch-lichen Erlebens und Handelns können der indivi-duelle Pflegebedarf erfasst und ein auf Verstän-digung ausgerichtetes, sinnvolles Pflege-Arrange-ment geplant, durchgeführt und ausgewertet wer-den.

Der Leibbezug von Pflege

Pflegerisch-professionelle Beziehungsarbeitkommt dem Wesen professioneller Beratungsarbeitsehr nahe. Grosse (2004, S. 83) deckt zentrale Ge-meinsamkeiten beider Beziehungen auf und stelltfest,»dass Beratung ein Gestaltungselement für diepflegerische Beziehung sein kann«. Mit Blick aufdie vorstehenden Beratungstheorien und Ansätzeist zunächst festzustellen, dass diese vornehmlicheine sprachgebundene Kommunikationsform bzw.Unterstützungsleistung darstellen. Die Pflege un-terscheidet sich von anderen sozialen Berufen v. a.dadurch, dass sie ein berührungsintensiver Berufist. Die zwischenmenschlichen Begegnungen sindvon einer besonderen körperlichen Nähe, ja, voneinem legitimierten Zugang zur Körperlichkeit despflegebedürftigen Menschen geprägt. Damit istpflegerisches »In-Beziehung-Sein« als äußerlicheswie auch innerliches, Leib und Seele betreffendesBerühren und Berührtwerden zu verstehen. Ein

rein sprachgebundener Beratungsansatz würde dieBesonderheit pflegerischer Interaktionen nichtausreichend abbilden. An dieser Stelle soll dahereine Beratungstheorie skizziert werden, die für diepflegerische Beratungsarbeit bereichernd seinkann. Es handelt sich um die integrative Beratung.Eine ihrer zentralen Konzepte ist die Leiblichkeit.

Die integrative Beratung

Die integrative Beratung knüpft an die Grundzügeder integrativen Therapie an, dessen theoretischeFundierung auf Petzold (1988) und Perls et al.(1979)zurückgeht. Die integrative Beratung zeichnet sichdadurch aus,dass sie eine Verbindung unterschied-licher theoretischer Konzeptionen leistet und da-rüber hinaus das Beratungsgeschehen selbst als In-tegrationsprozess versteht. Integration bedeutet,belastende Situationen nicht nur als biographischesEreignis anzunehmen, nach Defiziten oder Ursa-chen zu forschen oder gar durch alleiniges Hinzu-fügen eines neues Verhaltens zu verändern,sondern will den Menschen darin begleiten, dasbelastende oder krisenhafte Ereignis in das Le-bensganze zu integrieren.

Rahm et al. (1999, S. 75) beschreiben das(schwierig zu fassende) Konzept des Leibes als »derbeseelte lebendige Körper« oder »der erlebendeund sich selbst erlebende Körper«. In ihrem Ver-ständnis ist es nicht möglich, menschliches Sein inkörperliche, seelische oder geistige Dimensionenzu trennen, vielmehr bedingen diese einander. Soist der menschliche Körper mehr als ein anatomi-scher Zellverbund oder das physiologische Zusam-menspiel von Organsystemen. Der Körper ist dasFundament aller Gefühle und Regungen, er ist dieVoraussetzung, um sich selbst wie auch anderewahrzunehmen.Im so beseelten Körper verschrän-ken sich Fühlen, Denken und Handeln zum Leibbzw. zur Leiblichkeit eines Menschen.

So schreibt Milz (1992,S.173): »Unser Körper istals Leib Versammlungsstätte unserer Gestimmthei-ten, Gebärden und Gedanken, Mittelpunkt unseressubjektiven Erlebens und Orientierungspunkt un-serer Wahrnehmungen. Mit ihm und durch ihndrücken wir uns aus und stellen Verbindungen zwi-schen uns und der Umwelt her. In ihm versammelnsich unsere Aufnahme- und Handlungsmöglich-keiten.Er vermittelt Botschaften von uns,über uns,für uns und für andere.«

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4

70 Kapitel 4 · Beratung in der Pflege

die kommunikativen oder methodischen Fähigkei-ten des beraterischen Vorgehens« verfügen. Belar-di et al. (1999, S. 37) ergänzt diese professionellesHandeln kennzeichnenden Merkmale um folgendeAspekte: »Erreichbarkeit, Uneigennützigkeit,Nichtverstrickung sowie Vermittlungsmöglichkei-ten bezüglich weiterer Hilfsquellen«.

Beratung als kommunikatives Handeln,das me-thodisch gestützt, d. h. unter Nutzung bestimmterkommunikativer Methoden und Techniken stattfin-det, ergibt nur ein unvollständiges Bild. Ausschlag-gebend für eine gelingende Beratung ist nicht alleindas Beherrschen von Gesprächsführungstechnikenoder das Bereitstellen von Fachwissen,sondern auchdie Qualität der Beratungsbeziehung. Die Bera-tungsforschung zeigt, dass der entscheidende undüberdauernde Wirkfaktor von Beratungsprozessendie Beratungsbeziehung ist (Sickendiek et al. 1999,S.113).Sie ist nach Rahm et al.(1999,S.351) »Rahmen,Basis und auch Medium des therapeutischen Ent-wicklungsprozesses«.

Eine hilfreiche Beratungsbeziehung ist bis heutevon den drei Basisvariablen Rogers’ (1983) gekenn-zeichnet: Empathie, Akzeptanz, Authentizität. Ne-ben diesen Basisvariablen formulieren Belardi et al.(1999, S. 48) die »Konkretheit« und den »Gegen-wartsbezug« als weitere Grundelemente der helfen-den Beziehung.»Konkretheit« bedeutet in der Bera-tung,dass die hilfesuchende Person dabei unterstütztwird,die häufig als verstrickt erlebten Probleme zusortieren und die vordergründig belastende Situa-tion zu erkennen. »Gegenwartsbezug« kennzeich-net das Verweilen im »Hier und Jetzt« (vgl. auchRahm et al. 1999, S. 139). Das aktuelle Erleben derProblemsituation sowie die begleitenden Gefühle,Einstellungen,Verhaltensweisen und Wahrnehmun-gen stehen im Zentrum der Beratungssituation.

4.3.2 Ziel von Beratung

Ein zentrales Beratungsziel besteht darin, die hilfe-suchende Person im Laufe des Beratungsprozessesso zu begleiten, dass sie Entlastung erfährt undschrittweise mit dem Problem selbst umzugehenlernt. Diese Hilfe zur Selbsthilfe – fachsprachlichauch »Selbstermächtigung« oder »Empowerment«– steht für die professionelle Anleitung zur weitge-henden Unabhängigkeit.Diesem Beratungsziel fol-

2 Derzeit wird der leiborientierte Beratungsansatz von einerArbeitsgruppe des Vereins »Beratung in der Pflege e. V.« aufPflegerelevanz und Umsetzbarkeit geprüft.Näheres dazu:s.un-ter www.beratunginderpflege.de.

Wichtig

Für die Pflege kann dieser Beratungsansatz hilf-reich sein,zumal Pflegende tagtäglich mit Menschenin engen »zwischenleiblichen« Kontakten stehen.Über den Zugang zum menschlichen Leib stehender Pflege vielfältige Wahrnehmungsoptionen zurVerfügung. Diese vermitteln ein tiefes Verständnisvon der Gesamtsituation eines Menschen2.

4.3 Komponenten von Beratung

These 3: Beratung ist mehr als das freund-lich zugewandte Wort und die Anwendungvon Gesprächsführungstechniken. Bera-tung ist ein Gestaltungselement der pfle-gerischen Beziehung, eingebettet in denPflegeprozess.

Um die Komponenten von professioneller Beratungdarzustellen, wird im Folgenden auf bereits vorlie-gende Konzeptionen der Sozialwissenschaftenzurückgegriffen. Diese bieten einen guten Orien-tierungsrahmen für die professionelle Gestaltungberaterischer Interventionen in der Pflege an.

4.3.1 Beratungsbeziehung und Beratungsmethode

Die Beratung in sozialen Berufen betrifft ein weitesSpektrum materieller, beruflicher, partnerschaftli-cher,gesundheitlicher,psychischer und/oder sozia-ler Belastungen und Lebensprobleme. Häufig sindes drängende Fragen, unklare Probleme oder garkrisenhafte Situationen,die Menschen dazu veran-lassen,professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.Dieser Schritt wird häufig erst dann vollzogen,wenn die Notlage aus eigener Kraft nicht überwun-den werden kann oder das informelle soziale Netz-werk mit der Hilfestellung überfordert ist. Perso-nen, die professionell beraten, zeichnen sich nachSickendiek et al. (1999, S. 22) dadurch aus, dass sie»über spezialisiertes inhaltliches Fachwissen ...und

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4.3 · Komponenten von Beratung471

gend, kann das Selbstverständnis eines Beratersnicht davon geprägt sein, ein Problem stellvertre-tend für die hilfesuchende Person zu lösen,diese zuüberreden, zu bevormunden oder gar zu belehren.

Nestmann u.Engel (2002,S.170) schreiben,dassbei der psychosozialen Arbeit ein Spannungsfeldzwischen Machtausübung und Autonomiebestre-bungen bestehe: »Beratungskonstellationen sindimmer durch die mehr oder weniger große Un-gleichverteilung von Einfluss und Macht geprägt.«Asymmetrien in der Beratungsbeziehung entste-hen ihren Ausführungen zufolge bereits dadurch,dass Berater als professionelle Fachleute überdrei wesentliche Machtfaktoren verfügen: Infor-mationsmacht (sie besitzen Informationen undkönnen entscheiden, ob sie diese weitergeben odernicht), legitime Macht (aufgrund von Statuszu-schreibungen, die ihnen Autorität verleihen) sowieExpertenmacht (spezialisiertes Wissen und Kön-nen). Allein die Tatsache, dass sich eine hilfesu-chende Person dem Berater zuwendet, mache diehilfesuchende Person verletzlich, durchlässig undleicht beeinflussbar. Sie habe die eigene Stärke inTeilen ihres Lebensalltags verloren.Gleichwohl plä-dieren Nestmann und Sickendiek für die Beibehal-tung des Beratungsziels »Empowerment«. Hierzusei aber ein bewusster und kritisch-reflexiver Um-gang mit Machtdifferenzen und Ungleichheiten inBeratungsbeziehungen erforderlich. Unter demderzeitigen Druck von Ökonomisierung und Effi-zienzorientierung bestehe jedoch die Gefahr, diesaus den Augen zu verlieren.

4.3.3 FörderlicheBeratungsinterventionen

Ein förderliches Beratungsverhalten ist in erster Li-nie durch nichtdirektive Interaktionsformen ge-kennzeichnet, wie das Sich-Zurück-Nehmen, dasSich-Zurück-Halten,gleichzeitig das Aufmerksam-machen und das Zu-Reflexionen-Anregen. DieseInteraktionsformen erfordern gleichwohl die un-geteilte Wachsamkeit des Beraters,um im richtigenAugenblick, am rechten Ort und mit der rechtenGeste zur Stelle zur sein. Um es bildlich auszu-drücken:Der Berater bleibt einen kleinen Schritt hin-ter der hilfesuchenden Person,er eilt ihr auch nichtvoraus; denn die hilfesuchende Person ist Experte

für ihr inneres Erleben und ihre Lebenswelt, an dieder Berater versucht anzuknüpfen und teilzuhaben.

Die Gestaltungsmöglichkeiten von Beratungs-prozessen sind vielfältig, wenn man bedenkt, dassBeratung ein »eklektisch-integratives« Handeln ist.Insofern liegt – je nach Problem- und Bedarfslageder hilfesuchenden Person, aber auch je nach Aus-bildung des Beraters – häufig ein Methodenmix vor.Zentrale Intention dieser Methoden ist es,so Koch-Straube (2001, S. 119), »Bewusstheit und Einsichtüber die eigene Situation zur fördern und Mög-lichkeiten und eigene Potenziale zur Veränderungder Situation zu entdecken.In erster Linie geschiehtdies durch Methoden, die eine vorübergehendeDistanz zur eigenen Situation herstellen, den Kon-flikt, das Problem sozusagen mit den Augen einesanderen betrachten (z. B. Perspektive des Konflikt-partners einnehmen durch Wechsel der Rollen)oder die unlösbar erscheinende Situation aus an-derer räumlicher oder zeitlicher Perspektive anzu-schauen (z. B. sich eine Situation vorstellen, wie siein 10 Jahren gestaltet sein wird, welche Gedankenund Gefühle damit verbunden sind).«

Phasen eines Beratungsprozesses

Um den Ablauf, die Struktur und die damit einher-gehende Dynamik eines Beratungsprozesses zuveranschaulichen, wird hier das »Tetradische Mo-dell« von Petzold vorgestellt. Seinen Ursprung hatdieses vier Schritte aufweisende Modell in der inte-grativen Therapie. Es wird mittlerweile in vielenBereichen der Gestaltberatung genutzt (Rahm2004; Rahm et al 1999). Es lassen sich vier Phasenabgrenzen:4 Initialphase: Diese Phase umfasst das Kennen-

lernen, den Aufbau einer vertrauensvollen undtragfähigen Beziehung sowie die Eröffnung desbelastenden Themas.Allein durch die Explora-tion des Themas (z. B. durch das ungefilterteSprechen oder eine szenischen Darstellung)und insbesondere durch das Angenommen-und Ernstgenommenwerden treten bereits er-ste entlastende Effekte bei der hilfesuchendenPerson ein. So schreiben Rahm et al. (1999,S. 24), dass »Verstehen und das Verstanden-Werden in sich selbst heilsam ist«.

4 Aktionsphase: In dieser Phase wird die alteOrdnung aufgebrochen und die problematischeSituation entfaltet.Mit Hilfe erlebnisaktivieren-

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4

72 Kapitel 4 · Beratung in der Pflege

der Methoden werden aufgestaute und wider-streitende Gefühle, verkrustete Erinnerungenwie auch eingefahrene Denk- und Verhaltens-weisen aufgespürt und nacherlebt (zahlreicheMethodenbeispiele dazu in Rahm 2004).

4 Integrationsphase:In dieser Phase bilden präg-nante Erfahrungen der Aktionsphase, Schlüs-selszenen bzw. deutlich spürbare Nachwirkun-gen auf körperlicher,emotionaler oder kogniti-ver Ebener die Basis für eine Neuorientierung.In gemeinsamer Reflexion wird nach Verän-derungsmöglichkeiten gesucht und eine Ent-scheidung vorbereitet.

4 Neuorientierungsphase:Diese Phase leitet eineVeränderung ein, indem die gewonnene Ein-sicht, die umgestaltete Ordnung durch neuesVerhalten ausprobiert und abschließend reflek-tiert wird. Die so gewonnene Erfahrung lässtsich mit der vorherigen vergleichen und u. U.abwandeln,sodass schließlich eine heilsame In-tegration in Selbstbild und Lebensganzes mög-lich wird.

Sicherlich sind diese Ansätze für die Pflege loh-nend, um die vielen Pflegesituationen in ein aufVerstehen und Verständigung orientiertes Gesche-hen und schließlich in eine echte Hilfe zur Selbst-hilfe zu überführen.Betrachtet man die vier Phasendes »Tetradischen Modells«, dürfte ein Vorzug derPflege darin bestehen,dass das aktuelle Erleben be-reits so augenfällig und präsent ist, dass pflegeri-sche Beratungsinterventionen relativ direkt an derschwierigen Lebenssituation ansetzen können.Ausprofessioneller Sicht wird es bedeutend sein, wiedie Beratung als pflegerische Intervention in denPflegeprozess aufgenommen werden kann. Stellender Beratungsprozess und der Pflegeprozess derzeitnoch getrennte bzw. parallel verlaufende Aktivitä-ten dar,so sollten künftig beide Prozesse miteinan-der verbunden werden. Ähnlich verhält es sich mitder unzureichenden Verbindung von Lehr-Lern-Prozessen und Pflegeprozess, wie der folgende Ab-schnitt zur Patientenedukation zeigt.

Wichtig

4.4 Beratung und Edukation

These 4: Beratung und Edukation sind zwei

ungleiche Schwestern. Es ist daher proble-

matisch, die Begriffe und damit verbundene

Aktivitäten synonym zu verwenden.

4.4.1 Patientenedukation als neuesHandlungsfeld der Pflege?

Seit etwa fünf Jahren ist auch in deutschsprachigenFachpublikationen von Patientenedukation – undin diesem Zusammenhang auch von Beratung – dieRede. Patientenedukation bedeutet, dass Patientenund ihre Bezugspersonen möglichst frühzeitig,planvoll und zielgerichtet lernen, ihre veränderteLebenssituation weitgehend selbstbestimmt undunabhängig von den Gesundheitsexperten zu ge-stalten. Damit rückt ein Thema ins Blickfeld, dasden Charakter einer pädagogisch gestalteten, pfle-gerischen Intervention hat (Harking 2004).

Bereits seit vielen Jahren nehmen Pflegende imAusland diesen pädagogischen Auftrag unter demStichwort »nursing is teaching« wahr. Pflegendeverstehen sich insofern als Lehrende, als sie inGruppen- oder Einzelkursen Unterricht zu ausge-wählten pflegerischen Themen und dies in klini-schen wie auch außerklinischen Settings (z. B.Schule, Arbeitsplatz, Community) anbieten. Beinäherer Betrachtung der vielfach zitierten anglo-amerikanischen Grundlagenwerke (Canobbio1998; Klug-Redman 1996) entsteht der Eindruck,dass die edukativen Maßnahmen dazu dienen, Pa-tienten an die Erfordernisse ihrer Krankheit anzu-passen. Exemplarisch weist Canobbio (1998) kon-krete Handlungsempfehlungen der Pflege für viel-fältige, alphabetisch geordnete Krankheitsbilderaus. Diese sind in der Formulierung der Maßnah-men deutlich expektokratisch und häufig an medi-zinische Notwendigkeiten ausgerichtet. Dem lägejedoch eine erzieherische Absicht zugrunde, wo-nach ein Gesundheitsexperte bestimmt, was fürden Betroffenen in seiner augenblicklichen Situa-tion wichtig, richtig und angemessen ist.

In der Medizin steht für eine solchermaßen an-zustrebende Therapietreue der Terminus »Compli-

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4.4 · Beratung und Edukation473

ance«, in einem verengten pädagogischen Ver-ständnis die »Edukation«,also die Erziehung.Dem-nach wäre der Begriff »Patientenedukation« wohlgewählt – ginge es um die Vermittlung schlichtertherapeutischer und präventiver Maßnahmen –,wobei die Pflege gewissermaßen als verlängerterArm der Medizin fungierte.

An diesem Punkt wollen sich die deutschspra-chigen Konzeptionen zur Patientenedukation vonstrikten, expektokratischen Verhaltensvorgabenoder rigiden klinischen Schulungsprogrammen ab-setzen, da diese vielfach nicht die wirklichen Be-dürfnisse der Patienten und ihrer Lebenswelt trä-fen. So weisen die Protagonistinnen des Themasausdrücklich darauf hin, dass Edukation in einemweiten Verständnis, nämlich als »Bildung« (Zege-lin-Abt 2003b, S. 21) oder als “Unterstützung zumSelbstmanagement”, zu verstehen sei (Müller-Mundt 2001, S. 94). Als Leitvorstellung dafür stehtder Empowerment-Ansatz. Diese Vorstellungenvon Patientenedukation sind weitgehend nachvoll-ziehbar und sowohl für die Bestrebungen eines Pa-tienten nach persönlicher Unabhängigkeit undSelbstbestimmung als auch für die Bestrebungender Pflege nach Professionalisierung (z. B. in Formklarer Kompetenz- und Verantwortungsbereiche)begrüßenswert.

Neben diesen idealisierten Auffassungen vonPatientenedukation auf der Zielebene haben dievorgestellten Konzeptionen inhaltlich und metho-disch aber noch einen anderen Ansatz. Die Ein-zelaktivitäten des Informierens, Schulens oderTrainings – hier z. T. als standardisierte Lernpro-gramme ausgewiesen – enthalten eng umrisseneQualifizierungsmaßnahmen im Sinne der Wissens-vermittlung und des Fertigkeitentrainings. Zudemsind die derzeit veröffentlichten Inhalte vorwie-gend am objektiven Bedarf bestimmter Krank-heitsgruppen (z. B. »Epilepsiekranke und Kehl-kopfoperierte«; Zegelin-Abt 2003a, S. 113) oder anspezifischen Verhaltensweisen ausgerichtet, die»häufig zu erlernen sind« (Zegelin-Abt 2000,S.58).Beispielhaft dafür sind die subkutane Selbstinjek-tion,der Umgang mit einem Dosieraerosol und dieAnwendung von Kompressionsstrümpfen.

Zwar sollen die Aktivitäten auf den individuel-len Lernbedarf zugeschnitten sein, dennoch ist ausden derzeitigen Publikationen nicht ersichtlich,wiedie Anbindung an die individuelle Lebenssituation

und v. a. an den professionell erhobenen Pflegebe-darf erfolgt. Und genau an dieser Stelle wäre eineIntegration beider Prozesse zu leisten, damit edu-kative Interventionen – verstanden als pflegerisch-pädagogisches Handeln – professionell ausgeübtwerden. Nicht die Orientierung an einem Krank-heitsbild oder die Ausrichtung an einem zuvoridentifizierten Thema, wie z. B. eine häufig zu er-lernende Tätigkeit, ist ausschlaggebend für diepädagogische Gestaltung einer Pflegesituation,sondern die Anbindung an den professionell erho-benen, individuellen Pflegebedarf.

4.4.2 Der Stellenwert von Beratung

In den deutschsprachigen Veröffentlichungen er-scheint die Beratungskomponente entweder als»weicher« Einzelaspekt edukativer Tätigkeiten,derinsbesondere auf die psychosoziale Situation desPatienten gerichtet ist, oder als das andere Extrem:Die Begriffe »Beratung« und »Edukation« werdensynonym verwendet, also beliebig austauschbar.Um hier Klarheit zu gewinnen, grenzt Zegelin-Abtdie Einzelaktivitäten der Patientenedukation von-einander ab, wobei sie die Patientenedukation – jenach Bedürfnis – sowohl als eine Kombination derEinzelaktivitäten als auch als isoliertes Angebotversteht. Sie definiert Beratung als »ergebnisoffe-ne[n], dialogische[n] Prozess, in dem eine indi-viduelle und bedürfnisgerechte Problemlösungvorbereitet wird«. Unter Schulung versteht sie ein»zielorientiertes, strukturiertes und geplantes Ver-mitteln von Wissen/Fertigkeiten«.Die Informationist für sie »die gezielte Mitteilung, Bereitstellungverschiedener Medien, Vermittlung relevanterAdressen in einem offenen Angebot, Recherchehil-fen« (Zegelin-Abt 2003a, S. 103).

Anhand Zegelin-Abts Definition zur Schulungwird deutlich, dass diese auf ein intentionales, alsoabsichtsvolles Geschehen abhebt. Die Lernpro-gramme sind von außen geplant und strukturiert.Insofern ist Beratung nicht mit Schulung oder Trai-ning gleichzusetzen; denn die Beratung orientiertsich an dem Thema, das eine hilfesuchende Personbeschäftigt und ist v. a. durch das prägende Merk-mal der Ergebnisoffenheit gekennzeichnet. Sowohlder Weg als auch das Ziel werden in einem gemein-samen Prozess der Orientierung,Planung und Ent-

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4

74 Kapitel 4 · Beratung in der Pflege

scheidung gestaltet.Angesichts dieser Merkmale istes ratsam,von getrennten Aktivitäten,nämlich vonEdukation und Beratung, zu sprechen.

Nicht weniger problematisch ist die Verwen-dung des Schulungsbegriffs. Er ist aus erziehungs-wissenschaftlicher Sicht wegen seiner zweckratio-nalen und funktionalen Ausrichtung umstritten(Ipfling 1974).Auch bei der pflegerischen Anleitung

von Patienten und/oder ihren Bezugspersonen istzu bedenken, dass eine instrumentelle Anleitungallein – ohne Berücksichtigung der Erlebensebenebzw. des sozialen wie auch des ökologischen Kon-textes – wahrscheinlich zu keiner nachhaltigen All-tagskompetenz oder gelingenden Bewältigungs-form führen wird. An dieser Stelle greift Beratung– verstanden als »biopsychosoziale« Beratung oderals leiborientierte Beratung weiter.

Das »Plus« von Beratung in der Pflege ist nachKoch-Straube (2001, S. 35) die »Unterstützungsleis-tung bei der sinngebenden Integration von Krank-heit und Behinderung ins Lebensganze, für denProzess des persönlichen Wachstums,für die Über-nahme von Verantwortung und den Erhalt derSelbstbestimmung«. Ein Beratungsprozess kannzwar informierende, aufklärende oder anleitendeElemente enthalten – deshalb besteht eine gewisseNähe zur Patientenedukation –, er kann aber darü-ber hinaus in eine Beratungssituation überführen.Für sich allein genommen sind Information,Anlei-tung undAufklärung aber noch keine entfaltete Be-ratung im oben genannten Verständnis.

Die Systematisierung eines fachsprachlichenVerständnisses von Beratung ist in .Tabelle 4.2 dar-gestellt.

4.5 Rückblick und Ausblick

Anhand der eingangs geschilderten Falldarstellungdürfte der besondere Vorzug von Pflege mit Blickauf Beratungssituationen deutlich geworden sein.Pflege verfügt aufgrund ihrer Nähe zum Patien-ten/Pflegebedürftigen und des legitimen Zugangszur Leiblichkeit über vielfältigste verbale und non-verbale Ausdrucksformen. Das Erleben dieserMenschen ist derart präsent, dass es in der Reich-haltigkeit und Fülle manchmal schwierig erscheint,an der richtigen Stelle innezuhalten, um dem Be-deutungsgehalt nachzugehen. Sicherlich möchtenicht jeder kranke oder pflegebedürftige Menschüber seine innere Verfasstheit sprechen oder er er-lebt Situationen weniger problematisch. Dennochsind es oftmals ganz einfache Fragen oder kleineGesten, die auf ein echtes und tiefes Problem ver-weisen. In diesem Fallbeispiel verstrichen zahlrei-che Gelegenheiten, um einen Beratungsbedarf zuerkennen und das entlastende Gespräch zu führen.

. Tabelle 4.2. Systematisierung eines fachsprach-lichen Verständnisses von Beratung

Anlass Beratungsbedarf: gesundheit-liche, psychische und/oder soziale Belastungen und Lebensprobleme

Voraussetzungen Professionelle Beziehungs-fähigkeit Gleichberechtigter,partnerschaftlicher Dialog;Berater ist verantwortlich fürden Beratungsprozess, hilfesu-chende Person ist Experte undverantwortlich für ihr Leben;Basis: stabile Werthaltungen

Kommunikative und interakti-ve Fähigkeiten des berateri-schen Vorgehens

Fachwissen und -können

Merkmale Ergebnisoffen

Zielorientiert und methoden-geleitet

Interaktiver, reflexiver Prozess

Ergebnisse Empowerment

Veränderung von als belas-tend erlebten oder unauflös-lichen Situationen

Integration einer schwierigenSituation in das Lebensganze

Ähnliche Begriffe und Aktivitäten, die offenbar nichtzugehörig sind

Alltagsberatung

Direktive Verhaltensweisen

Schulung,Training (Edukation)

Auf Anpassung ausgerichtete Verhaltensweisen,z. B. Compliance

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4.5 · Rückblick und Ausblick475

Möglicherweise hätte eine umfassende Pflege-bedarfserhebung frühzeitig das drängende Pro-blem aufgedeckt. Vielleicht entwickelten sich dieSorgen auch schleichend und traten erst später andie Oberfläche. Sicher war die Aussage der Patien-tin hilfreich,um Ansatzpunkte für beratende Inter-ventionen in der Pflege herauszuschälen: Das Ver-halten dieser Patientin ermutigt Pflegende, be-wusst nachzuspüren und nachzufragen, welcheBedeutung Kranksein für Patienten, Abhängigkeitfür Behinderte oder Pflegebedürftigkeit für alteMenschen haben kann.Dazu bedarf es oftmals kei-ner großen Worte oder gar ausgefeilter Kommu-nikationstechniken, sondern eher eines wachenGeistes und eines sensiblen Gespürs für die Ge-samtsituation eines Menschen.

Beratung in der Pflege ist nicht etwas ganz Neu-es. Beratung ist aber mehr als das informierendeAufklären über pflegerische und medizinische Zu-sammenhänge oder die Auskunft über ein optima-les Versorgungsangebot bzw.das »Schwätzchen hal-ten«. Beratung ist nicht Edukation, Schulung oderTraining. Beratung ist ein interaktionsintensiverProzess, gekennzeichnet v. a. durch die Merkmaleder Freiwilligkeit der Beratungsbeziehung, denpartnerschaftlichen Dialog und ein ergebnisoffe-nes Geschehen.Beratung in der Pflege will den pfle-gebedürftigen Menschen darin begleiten, die bela-stende Situation zu verstehen, Wahlmöglichkeitenzu entdecken und das krisenhafte Erleben in dasLebensganze zu integrieren. Beratungsansätze fürdie Pflege müssen nicht völlig neu erarbeitet wer-den. Hier halten die Sozialwissenschaften bereitsgut fundierte Konzepte bereit. Dennoch sollte diezukünftige Entwicklungsarbeit davon bestimmtsein, einen für das Handlungsfeld der Pflege spezi-fischen Zugang auszuweisen, um so Beratung alsoriginäre pflegerische Aufgabe auszuweisen.

3 Methodische Hinweise für die Seminargestaltung

Für eine Seminargestaltung zum Thema »Beratungin der Pfleg« bieten sich in erster Linie erfahrungs-orientierte Methoden an; denn Beratungskompe-tenzen können nicht über ein Literaturstudiumerworben werden. Zur theoretischen Einführungeignen sich kommunikationstheoretische Publika-tionen wie beispielsweise von Schulz von Thun,Watzlawik und Rogers. Diese sind überwiegend

verständlich geschrieben und halten handlungs-orientierte Elemente für die Unterrichtsgestaltungbereit. Das Wesen von Beratung in der Pflege ließesich gut über eine kritische Analyse der zahlreichenVerwendungskontexte des Beratungsbegriffs inden diversen Handlungsfeldern der pflegerischenPraxis erarbeiten (Beispiel: gesetzliche Vorgabenoder Beratung in institutionalisierter Form, z. B.Pflegeüberleitung oder in Pflegeberatungsbüros).Zielführend sollte schließlich sein, mit der Formu-lierung eines enger umrissenen Beratungsver-ständnisses zu enden.

Das Kernstück des Seminars stellt jedoch daseigene Erleben und Gestalten von Beratungssitua-tionen dar. Hier bieten sich bereits alltägliche Sze-nen aus Unterrichtsgesprächen an, um die Grund-regeln einer nichtdirektiven Kommunikation zuverstehen und anzuwenden. Von großer Bedeut-samkeit für die Entwicklung beraterischer Kompe-tenzen ist jedoch die fallorientierte Arbeit. RealeFallbeispiele aus dem Pflegealltag lassen sich her-vorragend durch Rollenspiele oder Imaginations-übungen in Szene setzten. Über das Wiedereintau-chen in die erlebte Situation – unterstützt durch dieaufmerksamen Beobachtungen der Gruppe wieauch das Ausdrücken begleitender Gefühle und Er-fahrungen – können die Komponenten einer Bera-tungssituation erarbeitet und reflektiert sowieschwierige Passagen durch neue oder abgewandel-te Verhaltensweisen erlernt werden.

Vorsicht vor der Expertenfalle! Immer wiedersind Pflegende aufgrund ihres umfangreichen Fach-wissens geneigt,einer hilfesuchenden Person eigeneAnnahmen, Lösungen, Tipps oder gar Verhaltens-vorgaben nahezulegen. So definieren sie stellver-tretend die Situation mit den anzustrebenden Zie-len, während die hilfesuchende Person relativ pas-siv bleibt. Diese Ratschläge und Vorgaben sindjedoch fremde Antworten auf individuelle Problem-lagen.Sie ändern an dem vorhandenen Problem we-nig oder schaffen nur kurzfristig Entlastung. Des-halb ist eine auf Verstehen und Verständigung aus-gerichtete Beratung eher sparsam, ja nahezu ent-haltsam mit Worten (Fragen und Informationen).Will Beratung in der Pflege Patienten oder Pflege-bedürftige zu einer reflexiven Auseinandersetzungmit ihren Erfahrungen, Wahrnehmungen und Be-dürfnissen begleiten, ist Beratung die Kunst des at-mosphärischen Verstehens,des sorgsamen und be-

Page 91: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

4

76 Kapitel 4 · Beratung in der Pflege

dachtsamen Einsatzes von Sprache und der bewuss-ten Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen.

3 Empfehlungen zum Weiterlernen4 Belardi N, Akgün L, Gregor B, Neef R, Plütz T,

Sonnen F (1999) Eine sozialpädagogische Ein-führung, 2.Aufl. Beltz,Weinheim Basel.Eine gut strukturierte und verständliche Ein-führung in die sozialpsychologische Beratungmit Anwendungsbeispielen aus 7 verschiede-nen Beratungsfeldern.

4 Koch-Straube U (1997) Fremde Welt Pflege-heim. Huber, Bern Göttingen Toronto Seattle.Eine ethnologische Studie über den Alltag unddie Qualität zwischenmenschlicher Begegnun-gen in einem Pflegeheim. Für Berufseinsteiger,Pflegende und Studierende eine sehr zu emp-fehlende, gehaltvolle Untersuchung.

4 Koch-Straube U (2001) Beratung in der Pflege.Huber, Bern Göttingen Toronto Seattle.Das erste grundlegende Werk, dass sich umfas-send und gut verständlich mit der Gestaltungpflegerischer Beratungssituationen beschäftigt.Daneben leistet die Autorin sowohl eine pflege-theoretische als auch eine beratungstheoreti-sche Fundierung.

4 Nestmann F, Engel F (2002) Die Zukunft derBeratung. dgvt, Tübingen.Renommierte Beratungsforscher stellen Zu-kunftsentwürfe der psychosozialen Beratungvor.Eher für Fortgeschrittene geeignet,die sichmit dem Thema »Beratung« kritisch-reflexivauseinandersetzen möchten.

4 Rahm D (2004) Gestaltberatung. Grundlagenund Praxis integrativer Beratungsarbeit. Jun-fermann, Paderborn.Ein verständlich geschriebenes Buch über viel-fältigste Aspekte der Beratungsarbeit mit an-schaulichen Methodenbeispielen.

4 Rahm D, Otte H, Bosse S, Ruhe-Hollenbach H(1999) Einführung in die Integrative Therapie.Junfermann, Paderborn.Ein umfangreiches Werk für eine schulenüber-greifende Beratungs- und Therapiearbeit. Dar-stellung wissenschaftlicher Hintergründe zurVorstellung vom Menschen, wie das Leiblich-keitskonzept, Ko-respondenz und Bewusstheit.

4 Sickendiek U,Engel F,Nestmann F (1999) Bera-tung.

Eine Einführung in sozialpädagogische undpsychosoziale Beratungsansätze. Am Thema»Beratung« Interessierte erhalten eine gutstrukturierte und sprachlich leicht eingängigeEinführung zu den wichtigsten Aspekten vonBeratungstheorie und Beratungspraxis.

4 Verein Beratung in der Pflege e. V. (gegründet2003).Die Gründer und Mitglieder dieses Vereins ha-ben sich zum Ziel gesetzt, Beratung in der Pfle-ge konzeptionell weiterzuentwickeln und in derPraxis zu verankern. Aktuelle Entwicklungen,Veranstaltungstermine und weiteren Aktivi-täten finden sich unter www.beratunginder pflege. de.

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Page 93: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

5

Das Lernfeldkonzept – zwischen theoretischen Erwartungenund praktischen Realisierungs-möglichkeiten

Kordula Schneider

5.1 Entstehungshintergründe des Lernfeldkonzeptes 83

5.1.1 Veränderte Arbeits- und Berufswelt 83

5.1.2 Veränderte Anforderungen an die Berufsausbildung 83

5.1.3 Schwachstellen der bisherigen schulischen Berufsausbildung 85

5.2 Der strukturelle und curriculare Zusammenhang

zwischen Handlungsfeldern, Lernfeldern

und Lernsituationen 86

5.3 Perspektivenwechsel durch das Lernfeldkonzept 88

5.4 Die vier wesentlichen Bestandteile des Lernfeldkonzeptes 90

5.4.1 Handlungskompetenz 90

5.4.2 Handlungsorientierter Unterricht 94

5.4.3 Fächerintegration 96

5.4.4 Teamarbeit 98

5.5 Der Weg vom lernfeldstrukturierten Rahmenlehrplan

bis zur didaktischen Umsetzung der Lernsituationen 100

5.6 Probleme der verschiedenen Implementierungsebenen 102

Page 94: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

5

80 Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept

3 Berufliche Handlungskompetenzen

2 FachkompetenzVerschiedene Hintergründe zur Entstehung

des Lernfeldkonzeptes ableiten und in den

Kontext von verschiedenen berufspädago-

gischen Ansätzen einordnen.

Theoretische Grundlagen des Lernfeldkon-

zeptes erfassen und nachvollziehen sowie

die Sachverhalte methodengeleitet mit an-

deren anhand eines Strukturlegeplans er-

arbeiten.

Sachtexte hinsichtlich ihrer Inhalte, Logik

und Verwendung von Graphiken analysie-

ren, interpretieren, kritisch beurteilen und

in einen Gesamtkontext des Lernfeldkon-

zeptes einordnen.

2 PersonalkompetenzDie Methode der Verortung (Nähe bzw.Dis-

tanz zum Lernfeldkonzept) als Selbstrefle-

xion nutzen, um die eigene Handlungs-

fähigkeit weiter zu entwickeln.

Sich der Chancen und Probleme bewusst

werden und eine eigene realistische Ein-

schätzung in Hinblick auf Implementierung

des Lernfeldkonzeptes vornehmen.

Bereit sein, sich mit den kontroversen

Standpunkten der Kolleginnen und Kolle-

gen in Bezug auf das Lernfeldkonzept aus-

einander zu setzen sowie eigene und Inte-

ressen anderer in Einklang zu bringen.

2 SozialkompetenzDie Arbeit in Gruppen methodengeleitet

(z. B. durch Vereinbarung von Gruppenre-

geln) gestalten und produktiv zu einem ge-

meinsamen Ergebnis kommen.

Die Teamarbeit als eine wichtige Form der

sozialen Beziehungen und Handlungen er-

kennen, sie weiter entwickeln und kultivie-

ren.

2 MethodenkompetenzAnhand von vorgegebenen oder selbst ent-

wickelten Heuristiken vorgegebene Lern-

situationen kritisch bewerten und die Er-

gebnisse strukturiert präsentieren.

Fähig werden, nach vorgegebenen Krite-

rien Lernsituationen selbst zu konstruieren.

2 LernkompetenzIndividuelle Lerntechniken und Lernstrate-

gien entwickeln, um die verschiedenen In-

formationsquellen (z. B. Texte, Internet,

Fachzeitschriften) sachgerecht, zielorien-

tiert und ökonomisch zu bearbeiten.

2 Kommunikative KompetenzVerbale und nonverbale Äußerungen von

anderen verstehen, sich selbst in Diskussio-

nen und Arbeitsgruppen verständlich aus-

drücken und Kommunikationsstrategien

beherrschen und weiterentwickeln.

3 PraxisrelevanzDas Lernfeldkonzept ist nicht nur für die Berufs-bildenden Schulen seit den »Handreichungen fürdie Erarbeitung von Rahmenlehrplänen« der KMKvon 1996 und 2000 aktuell und brisant, sondernweist auch für zukünftige Pflegeausbildungen(s.Robert Bosch Stiftung 2000,Pflege neu denken),wichtige Hinweise und Postulate für curriculareund didaktische Konzepte aus. Dies zeigen bereitsverschiedene Modelle und Initiativen von Pflege-schulen z. B.in Stuttgart,Hamburg und Bocholt,dieentweder finanziell und wissenschaftlich begleitetwerden oder auf Eigeninitiative eines Lehrerteams,das Lernfeldkonzept als Basis für die Gestaltungvon verschiedenen Lern- und Lehrarrangementsnutzen.Diese Modelle beschäftigen sich z.B.mit in-tegrativen oder binationalen Pflegeausbildungen.

Veränderte Arbeitsbedingungen veranlassennatürlich auch eine Veränderung und eine damiteinhergehende Zielveränderung der Berufsausbil-dung. Das Leitziel der Berufsschule ist die Hand-lungskompetenz geworden. Damit zukünftige Ar-beiternehmerinnen und Arbeitnehmer beruflich,gesellschaftlich und privat verantwortlich handelnkönnen, werden aus diesen drei Lebensbereichenund dem Bildungsauftrag der Schule Lernfelderkonstruiert, die es Auszubildenden ermöglichen,aufgrund der komplexen Aufgaben- und Problem-stellungen betriebliche Abläufe zu abstrahieren,be-rufliche Prinzipien zu generieren und sich Wissensituiert anzueignen (. Abb. 5.2). Damit Lehrende

Page 95: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

581

bzw. Teams diese Aufgabe erfüllen können, ist esnotwendig, Lernfelder in Lernsituationen zu kon-kretisieren.Es werden drei Arten von Lernsituatio-nen unterschieden: handlungssystematische, lern-subjektsystematische und fachsystematische (Mus-ter-Wäbs u. Schneider 2001a, S. 201), wobei diehandlungssystematische Lernsituation in denmeisten Fällen die beiden anderen Arten integriert.Derartig vernetzte Lernsituationen folgen demPrinzip der Fächerintegration, d. h., dass Problem-stellungen zeitlich begrenzt von verschiedenenPerspektiven (Fächern und damit auch Lehrenden)erarbeitet werden.Dabei bestimmt die lernpsycho-

logische und/oder kasuistische Herangehensweisedie Abfolge der Thematisierung. Der eigentlicheUnterricht unterliegt bestimmten Merkmalenhandlungsorientierten Unterrichts (s. hierzuKap. 6) als auch einer Phasenstruktur (Artikulati-onsschema). Derartiger Unterricht gewährleistet,dass Lernende sich explizites und implizites Wissenaneignen können. Das bedeutet z. B., dass Lernen-de ihre Erfahrungen einbringen können; sie kön-nen durch selbstständiges Handeln lernen, indemHandlungen und Lernen reflektiert und generiertwerden. Sie führen vollständige Handlungen aus,sei es, dass diese gedanklich vorgeplant und/oder

. Abb. 5.1. Ein Vergleich – bisheriger und zukünftiger Unterricht in Pflegeschulen?!

Page 96: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

5

82 Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept

nachvollzogen werden und bewerten dadurch kri-tisch berufliche Handlungen.Durch die Umsetzungdes Lernfeldkonzeptes trägt die Berufsschule alsdualer Partner der Berufsausbildung dazu bei, die»vorher erworbene allgemeine Bildung« (KMK2000, S. 27) zu erweitern, aber auch den zukünfti-

gen Arbeitnehmer, die zukünftige Arbeitnehmerinfür die »Aufgaben im Beruf sowie zur Mitgestal-tung der Arbeitswelt und Gesellschaft in sozialerund ökologischer Verantwortung« (KMK 1999,S. 27) zu befähigen.

. Abb. 5.2. Verfahrensstruktur

Page 97: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

5.1 · Entstehungshintergründe des Lernfeldkonzeptes583

3 Verfahrensstruktur (. Abb. 5.2)

5.1 Entstehungshintergründe des Lernfeldkonzeptes

5.1.1 Veränderte Arbeits- und Berufswelt

In den letzten Jahren haben sich die Anforderungenan berufstätige Menschen nicht nur stark verän-dert, sondern sind auch vielfältiger geworden.Grundlegende ökonomische Wandlungen,steigen-de Globalisierungsprozesse und zunehmende Be-strebungen der Internationalisierung verlangendem Menschen zunehmend mehr Entscheidungenab, andererseits eröffnen sich ihm aber auch viel-fältige Möglichkeiten (GEW 2001, S. 5). Bei einigenMenschen führt dies zur zunehmenden Verunsi-cherung, andere entwickeln zunehmend Suchbe-wegungen (Krammers 2000, S. 397ff).Wie ein bun-ter Flickenteppich gestalten sich häufig Berufsbio-graphien von Menschen. Beck (1986) bezeichnetdies als Collage-Biographie. Der Mensch hat in sei-nem Leben nicht,wie es früher üblich war,einen Be-ruf ausgeführt, sondern die Lebensbiographiekennzeichnet sich durch mehrere Berufe (Rauner1997b,S.7).Häufig sind Rationalisierungs- und Spe-zialisierungsprozesse dafür verantwortlich.Sie ver-langen dem Berufstätigen sowohl ständige Flexibi-lität und Mobilität als auch den Erwerb von Zu-satzqualifikationen ab. Darüber hinaus ist eineandere Tendenz zu beobachten, die vor allem fürdie Identifikation,die Arbeitszufriedenheit und dieCorporate Identity entscheidend ist. Sie liegt in dersich verstärkenden Verarmung selbstständiger Auf-gaben, indem komplexe Handlungen zergliedertund voneinander isoliert werden sowie der eigeneAnteil bzw. die Möglichkeit der gestalterischen Be-einflussung nicht mehr ersichtlich oder verlorengegangen ist. Pflegekräfte sind von diesem Phäno-men besonders betroffen, da die Funktionspflegebzw. »funktionelle Pflege« bis heute noch – vor al-lem im stationären Bereich – Bestand hat. Pflegen-de führen vereinzelte Tätigkeiten an mehreren Per-sonen aus, die vor allem nach aufgaben- und ver-richtungsbezogenen Schwerpunkten gegliedertsind. Diese »Rundenpflege« (z. B. Blutdruck mes-sen, Getränke verteilen, Verbandswechsel) weistParallelen zur Fließbandarbeit auf,bei der eine Zer-gliederung des gesamten Arbeitsprozesses erfolgt.

Dieses historisch gewachsene »Regelungsmusterder Arbeitsorganisation« (Elkeles 1997,S.51) verhältsich kontraproduktiv zu den Forderungen einesmodernen Dienstleistungsunternehmens, das aufPatienten- bzw. Klientenorientierung setzt. Es be-steht ein gravierender Unterschied darin, ob einefunktionalisierte Tätigkeit vollzogen wird oderselbstverantwortliche Aufgaben innerhalb eines ei-genständigen Berufes zum Tragen kommen. Rau-ner (1997a, S. 7 ff.) weist darauf hin, dass der Berufals eine »identitätsstiftende Institution« gesehenwerden muss und eine kritische Auseinanderset-zung mit dem Beruf persönlichkeitsbildend wirkt.

Unsere »postindustrielle« Gesellschaft ent-wickelt sich zunehmend mehr in eine Dienstleis-tungsgesellschaft, zu der auch die Berufe im Ge-sundheits- und Pflegebereich beitragen. Damitstellt sie einen nicht zu unterschätzenden Wirt-schaftsfaktor neben der Wissens- und Informa-tionsgesellschaft dar.Nicht außer Acht bleiben darf,dass sich in dem Dienstleistungssektor ständigneue Arbeitsfelder eröffnen. Obwohl sich diese Er-kenntnis sehr schleppend für den Pflegesektor ab-zeichnet, so besteht doch berechtigte Hoffnung,dass dieses Signal erkannt wird und alle Beteiligtensich längerfristig darauf vorbereiten werden. Auf-grund der gesellschaftlich bedingten Entwicklungentstehen gerade in diesem Sektor ständig neueAufgabenbereiche, die gerade für die Pflegeberufepotentielle Chancen im Hinblick auf eigenständigeAufgaben ergeben. Damit würde der Entwicklungdes eigenständigen Berufsbildes der Pflege enor-mer Vorschub geleistet werden.

5.1.2 Veränderte Anforderungen an die Berufsausbildung

Aufgrund der steigenden Anforderungen an dieMobilität der Arbeitnehmer (Wechsel von einemTätigkeitsfeld zu einem anderen Tätigkeitsfeld) so-wie der zunehmenden Flexibilisierungsprozesse(neue Aufgaben im selben Beruf) als auch der ver-änderten Arbeitsformen (z. B. Homeworking undTeamarbeit am Arbeitsplatz) und nicht zuletzt auf-grund von Rationalisierungen (z. B. im Altenpfle-gebereich die Reduzierung von Fachkräften beigleichzeitiger Einarbeitung von Ungelernten) ha-ben sich gravierende Einschnitte sowohl für den

Page 98: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

5

84 Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept

Einzelnen als auch für die Gesellschaft und damitverbunden für die Berufsbildung ergeben.

Der Balanceakt zwischen den Qualifikations-anforderungen des jeweiligen Arbeitsplatzes bzw.eines Betriebes und der Verantwortung sich selbstund der Gesellschaft gegenüber macht die Persön-lichkeitsentwicklung aus (Lipsmeier 1998,S.489 f.).Zukünftige Berufstätige zu einer »reflektiertenMeisterschaft« (Krammers 2000, S. 411) zu führen,muss ein vorrangiges Ziel beruflicher Bildung wer-den. Die Entwicklung zukünftiger Kompetenzenwird hauptsächlich darin bestehen, mit nicht mehrprognostizierbaren Entwicklungen – d. h. mit Un-sicherheiten und Ungewissheiten – umzugehenund leben zu lernen. Die Berufs- und Erwachse-nenpädagogik muss im Sinne der »Individualisie-rungsthese« (Beck 1986) zukünftige Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer darin stärken,selbstver-antwortlich neue individuelle Lebens- und Berufs-perspektiven zu entwickeln und zu gestalten, diesich dann in überlebenspragmatischen Strategienwiderspiegeln. Nicht mehr die in rasanter Ge-schwindigkeit sich verändernden Bedingungen desArbeitsplatzes stehen im Mittelpunkt von Qualifi-zierungs- und Bildungsmaßnahmen, sondern dietypischen Arbeitszusammenhänge,die sich in dem»Arbeitssystemwissen« des jeweiligen Berufes wi-derspiegeln, müssen zum Ausgangspunkt neuerBerufskonzepte gemacht werden.Unter Arbeitssys-temwissen versteht Schweres (1998, S. 159) sowohldas Wissen um den Arbeitsplatz als auch das Wis-sen um den Arbeitsprozess. Das Arbeitssystemwis-sen beschäftigt sich seiner Meinung nach mit derstatischen Betrachtung der Elemente, Eigenschaf-ten und Verknüpfungen, wohingegen der Arbeits-prozess eine dynamische Betrachtung vor allem derAblauforganisation darstellt.

Sloane (2000, S. 79) weist noch einmal daraufhin, dass Arbeitsprozesswissen nicht zwingenddurch Fachwissen abgebildet wird. Sollte ein Ar-beitsplatzwechsel erforderlich sein, was Raunerbildlich als »Wandern« bezeichnet, können Arbeit-nehmerinnen und Arbeiternehmer ihre Schlüssel-qualifikationen sozusagen »mitnehmen« und amneuen Arbeitsplatz ihre Gestaltungskompetenz un-ter Beweis stellen, indem sie die neuen komplexenAufgaben meistern (Rauner 1997a, S. 9). Arnold(1998, S. 499) definiert dieses Leitbild einer zu-kunftsorientierten beruflichen Aus- und Weiterbil-

dung so, dass »nicht mehr die gewandelten Anfor-derungen als solche« im Mittelpunkt stehen, »son-dern die Vorbereitung auf den konkret – inhaltlichimmer weniger prognostizierbaren Wandel« voll-zogen werden muss. Innerhalb der Diskussion umdie erstrebenswerten Formen von zukünftigemWissen bedeutet dies, dass nicht nur Faktenwissenim Zentrum von Aneignungsprozessen steht, son-dern Handlungswissen, welches sich durch Be-gründungs-, Kontext- und Transferwissen aus-zeichnet (Schelten 1998,S.16,Klauser 2000,S.111 ff.).

Faktenwissen, und damit sind in der Regel In-formationen gemeint, unterliegt einer zu kurzenHalbwertzeit, als dass es sich lohnen würde, diesesals lebensrelevant und erstrebenswert zu bezeich-nen. Die rasche Entwicklung von Wissen und seinehohe Alterungsgeschwindigkeit erzwingen eineneuartige Kultur des lebenslangen Lernens. Diesfordert von den Betroffenen, d. h.Auszubildenden,Lehrenden an Schulen und Hochschulen, eine Um-stellung ihrer Mentalität,nämlich die Haltung »ein-mal Erlerntes reicht aus«, aufzugeben und gegen»Verlernen und ständiges Weiterlernen« einzutau-schen.Wissen wird damit nicht zur Schlüsselquali-fikation,sondern zur Schlüsselressource.»Bildung,als die Fähigkeit, Informationen zu Wissen zu ver-arbeiten,wird so wichtig wie Sauerstoff zum Atmen«(Glotz 1999). Für zukünftige Berufsausbildung be-deutet dies: Flexibilität, Modularität und Dualität.

Ermöglichen Lehrende es Auszubildenden,sichSelbsterschließungskompetenzen (Arnold 1995)anzueignen, so werden sie über ein relativ dauer-haft bestehendes Schlüsselqualifikationsrepertoireverfügen. Für diese zukünftigen Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer wäre es wahrscheinlich,dass sie längerfristig dazu in der Lage wären, dieständigen Applikationsprozesse von z. B. neuen In-formationstechnologien besser zu bewältigen. In-formationen stellen allerdings nur eine Vorstufezum Wissen dar, denn der entscheidende Faktorliegt in der Anwendung und der Weitergabe vonWissen, einem Merkmal, das der Wissensgesell-schaft zu Eigen ist. Konsequenterweise hat die Be-rufsausbildung nur dann eine Chance,wenn sie diezukünftigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer einerseits auf einen Berufsweg vorbereitet undandererseits bereits schon bei der beruflichen Erst-ausbildung auf lebenslanges Lernen setzt (Muster-Wäbs u. Schneider 2000, S. 28).

Page 99: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

5.1 · Entstehungshintergründe des Lernfeldkonzeptes585

Diese Problematik wurde bereits 1991 von denKultusministern aufgegriffen, indem sie der Be-rufsschule folgende zentrale Aufgabe zuschrieben:Auszubildende dazu zu befähigen,»Arbeitswelt undGesellschaft in sozialer und ökologischer Verant-wortung mitzugestalten« (Rauner 1997a, S. 13). Indie gleiche Richtung ging die 1992 von dem dama-ligen Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen Johannes Rau ins Leben gerufene Bil-dungskommission. In ihrer niedergelegten Denk-schrift (1995) »Zukunft der Bildung – Schule derZukunft« forderte sie neben der Wissensvermitt-lung das fachliche und überfachliche Lernen,gleichzeitig die Persönlichkeitsentwicklung sowiedas Finden der eigenen Identität und Achtung derIntegrität anderer (Bildungskommission NRW1995,S.80).Um jedoch verbindlich und bundesweitden zuvor beschriebenen Anforderungen und Ver-änderungen der Berufs- und Arbeitswelt einerseitsnachzukommen, andererseits den Bildungsauftragder Berufsschule einzulösen, indem nicht nur Be-rufstüchtigkeit, sondern Berufsmündigkeit gefor-dert wird, legte die Kultusministerkonferenz(KMK) erstmals 1996 das Lernfeldkonzept in denHandreichungen für die Erarbeitung von Rahmen-lehrplänen der Kultusministerkonferenz für denberufsbezogenen Unterricht in der Berufsschulevor (Pukas 1999, S. 84). Mit dem Gedanken desLernfeldkonzeptes soll diesen vielfältigen Anforde-rungen Rechnung getragen werden.Es soll ein stär-kerer Bezug zu den Geschäfts- und Arbeitsprozes-sen der beruflichen Handlungen gewährleistet sein.Ebenso greifen die Lernfelder Fragestellungen undBewältigungsmuster bestimmter individueller Le-benssituationen auf (Muster-Wäbs u. Schneider2001b, S. 45). Lernfelder werden präzisiert durchZielformulierungen im Sinne von Kompetenzenund dienen letztendlich der Entwicklung vonHandlungskompetenz.

5.1.3 Schwachstellen der bisherigen schulischen Berufsausbildung

Die folgende Kritik an der Gestaltung von schuli-schen Lernsituationen geht von einer Analyse aus,die Pätzold (1998, S. 8 ff.) für Berufsschulen festge-stellt hat; gleichzeitig trifft diese meines Erachtensauch für die schulische Ausbildung von Pflegebe-

rufen zu. Die Kritikpunkte beziehen sich sowohlauf die inhaltliche Auswahl und Strukturierung alsauch auf die didaktische Umsetzung.4 Überbetonte Vermittlung von additivem Fak-

tenwissen in einem disziplinenorientierten Un-terricht,d.h.die Fachwissenschaften waren bis-lang Ausgangspunkt für die Strukturierung vonSchulfächern und deren Inhalten.

4 Das vermittelte Fachwissen wird nicht zurProblemlösung in der Berufspraxis angewen-det, obwohl es scheinbar vorhanden ist. In derLiteratur wird in diesem Zusammenhang von»trägem Wissen« gesprochen (Mandl et al.1993,S. 64 ff.). Renkl (1996, S. 78 ff.) beschreibt hier-für drei Erklärungsmuster: 1. Metaprozess-erklärungen.Sie gehen davon aus,dass das Wis-sen vorhanden ist,aber der Person das notwen-dige Wissen für den Zugriff bzw. die Steuerungfehlt. Die Anwendung wird ihm somit versagt.2.Strukturdefiziterklärungen.Hier liegt das De-fizit in der Anlage und dem Erwerb des Wissensselbst begründet. Das vorhandene Wissen er-laubt keine Anwendung. 3. Situiertheitserklä-rung. Wird Wissen nicht im Kontext von be-stimmten Situationen gebunden, dann kannkein Transfer auf andere Konstellationen erfol-gen. Diese Diskrepanz zwischen Wissen undHandeln ist ein Hauptproblem gegenwärtigerSchulen. Gerstenmaier u. Mandl (1995, S. 867)sehen die mangelnde Einbettung in den sinn-gebenden Kontext als Hauptursache an. Wis-senskonstruktion, Wissenserwerb und Wis-sensanwendung müssen für schulische Prozes-se neu überdacht werden.

4 Damit erfolgte eine Orientierung an den sys-temimmanenten Strukturen bzw. Fragestellun-gen der jeweiligen Fachwissenschaft; Schlüssel-fragen aus der Berufs- und Arbeitswelt bleibenunberücksichtigt.

4 Das inhaltliche Spektrum der jeweiligen Wis-senschaftsdisziplin wurde komplett und damitvollständig vermittelt, unabhängig davon, obdie vermittelten Inhalte überhaupt eine berufs-relevante Fragestellung implizieren. Die damiteinhergehende Stofffülle zieht logischerweiseeine ökonomische Vermittlung nach sich,die ineinen lehrerzentrierten Frontalunterricht mün-det.Die Wissenslastigkeit behindert exemplari-sches Lernen.

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86 Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept

4 Die dadurch entstandene Kluft zwischen wis-senschaftssystematischen Fächern und be-trieblichen Arbeitsprozessen verstärkte zuneh-mend die Praxisferne von Unterricht und führtebenso zu mangelnder Motivation der Auszu-bildenden.

4 Stark lehrerzentrierte Vermittlung (Frontalun-terricht),die darüber hinaus auch noch eine ex-treme Betonung der sprachlichen Vermittlungin den Vordergrund stellt, schränkt den aktivenAnteil der Lernenden am Unterrichtsgeschehenenorm ein. Damit erfolgt eine eindeutige Ver-nachlässigung der sozialen, methodischen undemotionalen Kompetenzen, eigentlich dieSchlüsselqualifikationen, die für ein lebenslan-ges Lernen außerordentlich wichtig sind.

4 Leistungskontrollen beziehen sich extrem starkauf kognitive Aspekte,die auf die reine Wieder-gabe von Fakten und Begriffen beschränkt blei-ben (Dubs 2000, S. 15, Schopf 2001, S. 1).

5.2 Der strukturelle und curriculareZusammenhang zwischenHandlungsfeldern, Lernfeldern und Lernsituationen (. Abb. 5.3)

Durch die Handreichungen der KMK von 1996 und1999 wurde durch das Lernfeldkonzept eine stär-kere Ausrichtung des Berufsschulunterrichts anberufliche Arbeitsprozesse und damit an die be-triebliche Realität in Gang gesetzt. Die damit ver-bundenen Forderungen lösen die bislang auf Fach-systematik und Faktenwissen basierende, meistlehrerzentrierte sprachlich orientierte Vermitt-lungsform ab und verlangen handlungsorientier-ten Unterricht, der die Auszubildenden dazu be-fähigt, Arbeitsaufgaben selbstständig zu planen,durchzuführen und zu bewerten. Der Unterrichtrealisiert sich somit nicht mehr nach Fächern, son-dern wird durch Lernsituationen gestaltet, die ausvorgegebenen Lernfeldern des Rahmenlehrplanskonstruiert wurden. Diese didaktisch entwickeltenLernsituationen rekonstruieren typische Hand-lungssituationen aus dem Berufs- und Lebensalltagvon Auszubildenden. Sie sind jedoch nichtdeckungsgleich mit der Arbeitswelt, da sie auf derBasis des Bildungsauftrages der Berufsschule beru-

hen und demzufolge mit einer Bildungsabsicht ver-bunden werden.Damit kann der vielfältig geäußer-ten Kritik »Lernfelder bzw. Lernsituationen spie-geln die Betriebsrealität und sind somit Abbild desBetriebes« entgegengewirkt werden.

Handlungsfelder

Handlungsfelder stellen komplexe Aufgabenberei-che dar, die entweder Problemstellungen aus demBeruf, der Gesellschaft oder dem privaten Bereichaufgreifen.

Sie sind nicht deckungsgleich mit betrieblichenHandlungsfeldern (Arbeitsprozessen), weil sienicht nur gegenwärtige, sondern auch zukünftigeAspekte eines Berufes berücksichtigen. Darüberhinaus bestimmen die Ziele der beruflichen Bil-dung die Ausrichtung und den Bildungsgehalt einesHandlungsfeldes für ein Lernfeld.Handlungsfelderbilden somit die Grundlage für die Analyse, Refle-xion und Rekonstruktion von Lernfeldern (Bader1998, S. 211).

Nicht jeder Arbeitsprozess wird somit automa-tisch zu einem didaktisch begründbaren Lernfeld.Berufliche Bildung orientiert sich damit nicht aus-schließlich an Arbeitsprozessen, sondern berück-sichtigt vor allem auch gesellschaftliche Schlüssel-probleme (Pangalos u. Knutzen 2000, S. 107 ff.).Durch eine didaktische Analyse »soll nach der Ge-genwarts- und der Zukunftsbedeutung« (Klafki1993a, S. 15) wie auch nach exemplarischem Lehrenund Lernen (Klafki 1993b,S. 143 ff.) gefragt werden,so dass ein begründetes Lernfeld abgeleitet werdenkann. Eine Berufsfeldanalyse vereinigt die Bestim-mung fachlicher Qualifikationen für die jeweiligenArbeitsprozesse mit den erforderlichen Kompeten-zen,die sich aus den Schlüsselproblemen einerseitsund der Persönlichkeitsentwicklung andererseitsergeben. Klafki (1993b, S. 56) kommt zu fünf epo-chaltypischen Schlüsselproblemen. Hierzu gehö-ren: die Friedensfrage, die Umweltfrage, die gesell-schaftlich produzierte Ungleichheit, die Gefahrenund Möglichkeiten der neuen technischen Steue-rungs-, Informations- und Kommunikationsme-dien sowie die Subjektivität des Einzelnen und dasPhänomen der Ich-Du-Beziehung (Klafki 1993b,S. 56 ff.). Ob diese und/oder darüber hinausgehen-de, für die Berufsausbildung spezifische Schlüssel-probleme als Basis dienen, kann zum jetzigen Zeit-punkt nicht beantwortet werden.

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5.2 · Zusammenhang zwischen Handlungsfeldern, Lernfeldern und Lernsituationen587

Tätigkeitsfelder

In den ersten Handreichungen der KMK von 1996und 1999 werden Handlungsfelder als der Aus-gangspunkt von Lernfeldern deklariert.Der BegriffTätigkeitsfelder tritt erstmalig bei der KMK-Richt-linie vom 05.02.1999 auf (Kremer u. Sloane 2001,S. 13). Hierbei ist die Gefahr sehr groß, dass Tätig-keitsfelder mit den betrieblichen Handlungsfelderngleichgesetzt werden.Auf diese Deckungsgleichheitzielt der Vorwurf, dass betriebliche Realität unkri-tisch gespiegelt wird und damit eine Anpassung anbetriebliche Verhältnisse geleistet wird. Im Folgen-den verwende ich deshalb den Begriff Handlungs-feld, um derartigen Gleichstellungen entgegenzu-wirken. Außerdem könnten Tätigkeitsfelder zuschnell mit der Ist-Situation assoziiert werden.

Lernfelder

7 Lernfelder sind didaktisch begründete,

schulisch aufbereitete Handlungsfelder.

Sie fassen komplexe Aufgabenstellun-

gen zusammen, deren unterrichtliche

Bearbeitung in handlungsorientierten

Lernsituationen erfolgt (Bader u. Schä-

fer 1998, S. 229).

Die Grundlage für diese didaktisch konstruiertenLernfelder stellen komplexe Lebensräume der Aus-zubildenden in Betrieb und Gesellschaft dar. Cha-rakteristisch ist ihre interdisziplinäre und mehrdi-mensionale Ausrichtung. Häufig generieren sie be-triebliche Abläufe sowie Handlungsstrukturen undabstrahieren damit die betriebliche Wirklichkeit.

Fächerinhalte unterliegen in diesen Lernfelderneinem »Anwendungszwang«, so dass es möglichwird, Wissen situiert zu erwerben (Sloane 2000,S. 81 f.). Somit knüpfen sie einerseits an beruflicheHandlungssituationen an,andererseits berücksich-tigen sie den Bildungsauftrag der Berufsschule.Hiermit leisten sie einen Beitrag zur Bewältigungder Handlungsfelder. Die Lernfelder sind so offenund allgemein formuliert,dass sie jederzeit aktuel-le gesellschaftliche und berufliche Veränderungenintegrieren können. Ebenso können lerngruppen-spezifische und regionale Besonderheiten prob-lemlos Berücksichtigung finden« (Muster-Wäbs u.Schneider 2001b, S. 11).

Laut KMK (KMK 1999, S. 13 ff.) sollen Lernfel-der nach einem einheitlichen Grundmuster folgen-de Merkmale aufweisen:4 1. Zielformulierungen: Sie werden in Form von

Kompetenzen beschrieben. Durch die Formu-

. Abb. 5.3. Zusammenhang zwischen Handlungsfeldern, Lernfeldern und Lernsituationen

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88 Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept

lierung wird einerseits das Ergebnis bestimmt,das am Ende des Ausbildungsprozesses erwar-tet wird, andererseits wird auch etwas über dendidaktischen Schwerpunkt ausgesagt.

4 2. Inhaltsangaben: Die Inhaltsangaben werdenfächerintegrativ angegeben und sind dahersehr allgemein gefasst.

4 3. Zeitrichtwerte: Bei den Zeitangaben handeltes sich um empfohlene Werte, die je nach Rah-menlehrplan differieren können. Laut KMK(1999, S. 17) handelt es sich um Bruttowerte,»d. h. sie berücksichtigen die unterschiedlicheLänge des Schuljahres sowie Differenzierungs-maßnahmen, Lernerfolgskontrollen etc.« Diegesamte Anzahl der Unterrichtsstunden solltedurch 20 teilbar sein. Der zeitliche Umfang vonLernfeldern sollte 40 Unterrichtsstunden nichtunterschreiten und 100 Unterrichtsstundennicht überschreiten.In der Berufsschule beträgtdie Anzahl der Lernfelder in einem Lehrplan10–20 (Schopf 2000).Die Anzahl der Lernfeldererhöht sich entsprechend mit der Gesamtstun-denzahl der Ausbildung.

Lernsituationen

Lernsituationen stellen die konkretisierten kleins-ten didaktisch aufbereiteten Einheiten von Lern-feldern dar. Diese curriculare Entwicklungsarbeitobliegt den Kollegen und Kolleginnen in den Schu-len,um aus den meist sehr grob formulierten Lern-feldern konkrete Lehr- und Lernarrangements fürdie jeweiligen Bildungsgänge zu gestalten.Aus die-sem Grunde sind in den einzelnen Schulen Bil-dungsgangkonferenzen entstanden, die diese Auf-gabe wahrnehmen.

Da Lernsituationen am Ende des Entwick-lungsprozesses stehen,ist es wichtig,dass sie die re-levanten und wichtigen Prozesse des jeweiligen Be-rufes widerspiegeln. Das bedeutet allerdings nicht,dass alle beruflichen Handlungsabläufe von denLernenden »real durchlaufen« werden müssen,sondern vielmehr sollen Handlungen simulativoder kognitiv erschlossen werden. Dabei wird dasFachwissen in den jeweiligen Lernsituationen reor-ganisiert. Hiermit ist gleichzeitig gewährleistet,dass in den Lehr- und Lernarrangements eine Ver-schränkung zwischen fach- und handlungssys-tematischen Strukturen stattfindet (KMK 2000,S. 10).

Muster-Wäbs und Schneider (2001a, S. 201) un-terscheiden drei Arten von Lernsituationen:4 handlungssystematische,4 lernsubjektsystematische,4 fachsystematische,

wobei die handlungssystematische Lernsituation inden meisten Fällen die beiden anderen Arten im-pliziert.

Die handlungssystematisch ausgerichtete Lern-situation spiegelt den Handlungszyklus.Der Hand-lungszyklus geht davon aus, dass jede Aufgabenbe-wältigung immer durch ein Ziel bestimmt ist undgeplant durchgeführt wird. Der letzte Schritt imHandlungszyklus stellt die Bewertung dar. Diesevollständige Handlung,als bewusst gemachte Lern-struktur, deckt Handlungszusammenhänge aufund fördert vernetztes Denken (Muster-Wäbs u.Schneider 1999, S. 10).

In lernsubjektsystematischen Lernsituationenbestimmen die Lernenden den Lernweg,den sie ge-hen wollen,um sich die beruflichen Handlungen zuEigen zu machen.Die Aneignung der Kompetenzenorientiert sich an den subjektiven Aneignungs-strukturen der Lernenden (Muster-Wäbs u.Schnei-der 2001a, S. 201). Sloane (2000, S. 83) weist in die-sem Zusammenhang darauf hin,dass bei der Gestal-tung der komplexen Lehr-/Lernarrangements aufdie Individualisierung der Lernprozesse zu achtenist. Denn schließlich und letztendlich ist der Lernerderjenige,der aufgrund seiner subjektiven Wissens-strukturen für sich den Suchprozess in Gang setzt.

Eine fachsystematische Lernsituation spiegeltdie jeweilige Fachwissenschaft,d.h.,die Inhalte un-terliegen den systemimmanenten Strukturen derjeweiligen Fachdisziplin.

5.3 Perspektivenwechsel durch das Lernfeldkonzept

Durch die Ablösung der fächerorientierten Lehr-pläne,die durch kasuistische Handlungsmuster derberufsspezifischen Handlungsfelder ersetzt wur-den,ist eine gravierende Wende sowohl für die Cur-riculumentwickler als auch für die Konstrukteureder Lernsituationen in den Schulen eingetreten.

Im Folgenden wird eine Gegenüberstellung vonfachorientierten (eher geschlossenen) versus lern-

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5.3 · Perspektivenwechsel durch das Lernfeldkonzept589

feldstrukturierten (eher offenen) Curricula anhandverschiedener Marginalien skizziert. Die . Tabelle

5.1 beinhaltet sowohl Aspekte, die definitiv in denneuen Rahmenlehrplänen verankert sind als auchKonsequenzen,die nicht explizit genannt sind,aber

eine logische Folge für die Umsetzung des Lern-feldkonzeptes darstellen. Es muss kritisch ange-merkt werden,dass diese verkürzte Tabelle nur einereduzierte Sichtweise dessen wiedergibt,was einer-seits historisch über Jahrzehnte in dem Bewusst-

. Tabelle 5.1. Gegenüberstellung wesentlicher Aspekte aus den »alten« und »neuen« Rahmenlehrplänen.

(Inhalte aus: Arnold u. Schüßler 1998, S. 122 ff., Kremer u. Sloane 2001, S. 17 ff., Muster-Wäbs u. Schneider 2001b, S. 40)

Rahmenlehrpläne/Aspekte Bisherige (alte) Heutige (neue)

Ordnungsschema Lerngebiete: Lernfelder:Inhaltsorientierte, stoffliche Einheiten, Komplexe Aufgaben- und Problemstellun-die auf der Grundlage von fachsyste- gen, die exemplarisch sowohl aus der be-matischen Strukturen der jeweiligen trieblichen Realität als auch aus zukünftig Disziplin abgeleitet wurden beruflichen Perspektiven und/oder individu-

ellen Lebenssituationen abgeleitet sind– Lernziele – Zielformulierungen in Form von

Kompetenzen– Lerninhalte – Fächerintegrative Inhalte– Stofffülle – Stoffreduzierung

Übergeordnete Ziele Förderung der Fähigkeiten und Förderung der HandlungskompetenzenFertigkeiten

Perspektive Eher wissenschaftsorientiert (an den Eher handlungsorientiert (an den Struktu-jeweiligen Strukturen der vorliegen- ren und Handlungen des jeweiligen Berufesden Wissenschaftsdisziplin) orientiert, wie z. B. Geschäfts- und Arbeits-

prozesse)

Problem- und Strukturprinzipien Fachwissenschaftliche Inhaltssyste- Vollständige Handlung anhand kasuisti-matik (Fachlogik) scher Ausgangsfragestellungen (Hand-

lungslogik)

Qualitätskriterien Vollständigkeit und Detailliertheit Exemplarität

Didaktisches Prinzip Fächerbezogenes Unterrichten Fächerintegratives Unterrichten

Wissensarten Explizites Fachwissen, häufig als - Explizites Fachwissen, Ermöglichung von»träges« Fachwissen implizitem Wissen

Arbeitssystemwissen inklusive Fachwissen

Didaktisches Konzept Vermittlungsdidaktik ErmöglichungsdidaktikAneignungsdidaktik

Vermittlungsformen Lehrerzentriert Teilnehmerorientiert und handlungs-Sprachlich orientiert orientiert

Prüfungsformen Prüfungsfächer mit überwiegendem Aufgaben- und Problemstellungen mit Anteil von deklarativem Wissen prozeduralem Wissen als auch Kontext-

und Transferwissen

Teamarbeit Eher informell und freiwillig Eher Vorgabe und Notwendigkeit

Lehrerrolle Eher Wissensvermittler und Bewerter Lernprozessgestalter und -begleiterWissensvermittlerModeratorBewerter

Schülerrolle Eher Konsument Eher Mitgestalter und Akteur

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90 Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept

sein vieler Lehrender gewachsen ist und anderer-seits noch nicht verinnerlicht bzw. umgesetzt wird.Die Tabelle 5.1 gibt diese Aussagen in verkürzterForm wieder.

5.4 Die vier wesentlichen Bestandteiledes Lernfeldkonzeptes

Mit der Umsetzung des Lernfeldkonzeptes sind un-weigerlich vier Teilkonzepte verbunden:4 Handlungskompetenz,4 handlungsorientierter Unterricht,4 Fächerintegration4 und Teamarbeit

Diese Teilkonzepte bedingen sich einerseits gegen-seitig, andererseits stellen sie in sich geschlossenewichtige Aspekte innerhalb der Konkretisierungund Implementierung des Lernfeldkonzeptes dar.

5.4.1 Handlungskompetenz

Handlungskompetenz ist heute nicht nur zum Leit-ziel der Berufsschule und aller Schulformen des be-ruflichen Schulwesens geworden, sondern dientauch innerhalb der Fort- und Weiterbildung als Be-zugsbasis für Bildungsprozesse (Bader u. Müller2002, S. 176). Der Kompetenzbegriff ist keine tem-poräre Erscheinung. Der Deutsche Bildungsratstellte bereits 1974 den Kompetenzbegriff in denMittelpunkt seiner Überlegungen unter Rückgriffauf Heinrich Roth, der die Handlungskompetenzbereits in seinem Buch »Pädagogische Anthropolo-gie« forderte (Vogel 2001, S. 37). Die Postulate sei-ner pädagogischen Anthropologie zielen auf Ent-wicklung und Förderung von Handlungskompe-tenzen.Dieses Konzept der Kompetenzentwicklunggreift das Lernfeldkonzept auf und richtet damitsein Augenmerk auf den Erwerb von Handlungs-kompetenz. Damit überwindet dieses Konzept diebis dahin vorliegende Vermittlung von »Nur« Sach-wissen und der damit einhergehenden Fachkom-petenz. In der Literatur findet sich eine Fülle vonverschiedenen Ansätzen, den Kompetenzbegriffnäher zu definieren. Dies soll an dieser Stelle je-doch nicht vorgenommen werden.Als Auswahlkri-terium für die Bestimmung des Kompetenzbegrif-

fes galt allerdings, dass Kompetenzen von Disposi-tionsbestimmungen ausgehen und in erster Liniesubjektzentriert sind.Des Weiteren wurde von demVerständnis ausgegangen, dass sich Kompetenzenin der Realisierung von Handlungen erschließenund damit evaluierbar sind (Erpenbeck u. Heyse1999, S. 48).

Bader u. Ruhland definieren berufliche Hand-lungskompetenz als »die Fähigkeit und Bereitschaftdes Menschen, in beruflichen Situationen sach-und fachgerecht, persönlich durchdacht und in ge-sellschaftlicher Verantwortung zu handeln sowieseine Handlungsmöglichkeiten ständig weiterzu-entwickeln« (1996, S. 31).

Ulrich (2001,S.30) differenziert den Erwerb derHandlungskompetenz in Handlungsfähigkeit undHandlungsbereitschaft. Dabei lehnt er sich an dieAusführungen von Staudt u. Kriegesmann (1999)an. Die . Abb. 5.4 wird stark verändert nach Staudtu. Kriegesmann (1999) vorgestellt.

Die Handlungsfähigkeit eines Menschen wirdmaßgeblich durch das explizite und implizite Wis-sen bestimmt.Das explizite Wissen,auch als »Lehr-buch-Wissen« (Büssing et al. 2002, S. 6) bzw.»gelerntes Wissen« (Büssing et al. 2000, S. 292) be-zeichnet, wird innerhalb von Bildungsveranstal-tungen vermittelt und subjektiv verarbeitet. Überdieses Wissen kann schriftlich oder mündlich kom-muniziert werden. Objektivierendes Arbeitshan-deln baut sich einerseits durch explizites Wissenauf, andererseits wird es handlungsleitend durchreflexive Prozesse. Explizites Wissen ist allerdingsnur ca. 20% dessen, was die Handlungsfähigkeitausmacht (Ulrich 2001, S. 30).

Weit wichtiger und wesentlicher für die Entfal-tung von Handlungsfähigkeit wird in der Literaturdas implizite Wissen gesehen.Auch wenn keine ein-heitliche Definition über implizites Wissen vorliegt,so soll folgender Versuch nach Büssing et al. (2000,S.292 f., 2002,S. 3 ff.) unternommen werden. Impli-zites Wissen beinhaltet sowohl deklaratives (Wis-sen über Fakten und Begriffe = Was?) als auch pro-zedurales Wissen (Wissen über Strategien undVorgehensweisen = Wie?). Damit liegt keine Be-schränkung auf bestimmte Wissensgebiete oderWissensmodalitäten vor (Büssing et al. 2000,S. 292). Aufgrund des subjektivierenden Arbeits-handelns baut sich neues implizites Wissen auf,dasallerdings nicht über reflexive Prozesse entsteht

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5.4 · Die vier wesentlichen Bestandteile des Lernfeldkonzeptes591

(Büssing et al.2002,S.3 ff.).Zusammenfassend lässtsich sagen, dass implizites Wissen im Beruf oderAlltag automatisch aktiviert wird, dieses Verhaltennicht bewusst erfolgt und in der Regel schwer ver-balisierbar ist (Büssing et al. 2000, S. 292). Implizi-tes Lernen ist »an den jeweiligen Wissensträger ge-bunden« (Ulrich 2001, S. 31). Somit lässt es sichnicht ohne weiteres auf andere Personen übertra-gen bzw. in andere Kontexte transformieren. Es

wird angenommen, dass implizites und explizitesWissen unterschiedlichen Systemen angehört, dieunterschiedlichen Lerngesetzmäßigkeiten folgen(Renkl 1996, S. 83).

Sowohl bei Ulrich (2001) als auch bei Staudt u.Kriegesmann (1999) werden die Bedingungen, dieHandlungsbereitschaft beeinflussen, nicht nähererläutert.Wird jedoch auf die Definition der Hand-lungskompetenz von Erpenbeck u. Heyse (1999,

. Abb. 5.4. Individuelle Handlungskompetenz ermöglicht Handeln im Beruf und Alltag. (Inhalte aus: Büssing et al. 2002,S. 2–21; Renkl 1996, S. 78–92; Ulrich 2001, S, 23–34)

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92 Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept

S. 57) zurückgegriffen, so wird die Handlungsbe-reitschaft maßgeblich durch den Willen und dieWerte des Handelnden realisiert.

Diese interessanten und vielfältigen Erkennt-nisse müssen zwangsläufig ihren Niederschlag inder Gestaltung von Lernsituationen wie in der Er-möglichung von Aneignungsprozessen der Ler-nenden in Bezug auf die beruflichen Handlungs-kompetenzen nach sich ziehen.

In der beruflichen Ausbildung hat sich der Qua-lifikationsbegriff neben dem Bildungsbegriff eta-bliert. Laut KMK (2000, S. 28)

7 wird unter Qualifikation der Lernerfolg

in Bezug auf die Verwertbarkeit, d. h. aus

der Sicht der Nachfrage in beruflichen,

gesellschaftlichen und privaten Situa-

tionen verstanden (vgl. Deutscher Bil-

dungsrat, Empfehlungen der Bildungs-

kommission zur Neuordnung der Se-

kundarstufe II).

Jungblut (1998, S. 99) versteht darunter »die ange-messene Bewältigung konkreter Anforderungen ei-nes Tätigkeitsbereiches«. In Anlehnung an Erpen-beck u. Heyse (1999, S. 157) sind Kompetenzen imGegensatz zu Qualifikationen Dispositionen (Anla-gen,Fähigkeiten und Bereitschaften),die die Selbst-organisation von Handlungen eines Individuumsbestimmen. Sie bestimmen

7 den Lernerfolg in bezug auf den einzel-

nen Lernenden und seine Befähigung

zu eigenverantwortlichem Handeln in

beruflichen, gesellschaftlichen und pri-

vaten Situationen (KMK 2000, S. 28).

Reetz (1999, S. 245f) kommt zu folgender Auffas-sung: Aus pädagogischer Sicht

7 zielt der Begriff der Kompetenz … auf

menschliche Fähigkeiten, die dem situa-

tionsgerechten Verhalten zugrunde lie-

gen und dieses erst ermöglichen.

Menschen mit hoch entwickelten Handlungskom-petenzen ist es möglich,sich den ständig veränder-ten Leistungsanforderungen innerhalb der berufli-chen Situation zu stellen und ihnen ständig ent-

sprechen zu können. Aus der Sicht des Beschäfti-gungssystems werden derartige Leistungsanforde-rungen als berufliche Qualifikationen bezeichnet.

7 Die abgeforderten beruflichen Qualifi-

kationen (stellen) nur einen aktualisier-

ten Teil des Potentials (dar), das mit be-

ruflicher Handlungskompetenz um-

schrieben wird (Reetz 1999, S. 245).

Die Kompetenz eines Menschen wird nach Erpen-beck u. Heyse (1999, S. 162 f.) durch Wissen und Er-fahrung fundiert, durch Werte gebildet und getra-gen, als Fähigkeit angelegt und durch Willen ver-wirklicht.

Die .Abb. 5.5 versucht, Kompetenz als ein Syn-theseprodukt aus Qualifikation und Bildung her-zuleiten.

Um das Spektrum der gesamten Handlung (vorallem in diesem Kontext der beruflichen Handlun-gen), welches aus geistigen (z. B. kreative Denkpro-zesse), instrumentellen (z. B. manuelle Verrichtun-gen),kommunikativen (z.B.Gespräche führen) undreflexiven Anteilen (z.B.Selbsteinschätzungen vor-nehmen) besteht, zu bewältigen, sind unterschied-liche Kompetenzen erforderlich. Die folgendenTeilkompetenzen dürfen nicht isoliert und vonein-ander unabhängig betrachtet werden. Für fast jedeHandlung müssen alle Kompetenzen zur Disposi-tion stehen; es lassen sich jedoch häufig Schwer-punkte bestimmen, die die Entwicklung bestimm-ter Teilkompetenzen in den Mittelpunkt stellen.Diefolgenden Definitionen der Teil- oder Subkompe-tenzen gehen auf Erpenbeck u. Heyse (1999, S. 157)zurück.

Die Fachkompetenz, ist die Disposition einesMenschen, »geistig selbstorganisiert zu handeln,d. h. mit fachlichen Kenntnissen und fachlichenFertigkeiten kreativ Probleme zu lösen, das Wissensinnorientiert einzuordnen und zu bewerten« (Er-penbeck u. Heyse 1999, S. 157).

Die Methodenkompetenz zeichnet sich da-durch aus,dass der Mensch instrumentell selbstor-ganisiert handelt und damit auch bestimmte Auf-gaben- und Problemstellungen durch »geistigesVorwegdenken« lösen kann.

Die Sozialkompetenz bezieht sich auf die Dis-positionen eines Menschen, die es ihm ermögli-chen, »sich mit anderen kreativ auseinander- und

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5.4 · Die vier wesentlichen Bestandteile des Lernfeldkonzeptes593

zusammenzusetzen, sich gruppen- und bezie-hungsorientiert zu verhalten«,um gemeinsam neueZiele und Pläne zu entwickeln.

Die personale Kompetenz (vielfach auch alsHuman-, Selbst- oder Individualkompetenz be-zeichnet) bezieht sich hauptsächlich auf persön-lichkeitsbezogene Dispositionen wie z. B. Werthal-tungen, Selbstbilder und Motive. Es geht darum,diese selbstkritisch einzuschätzen und sie im Rah-men von Arbeit und Freizeit weiter zu entwickeln.Diese Entfaltung eines realistischen Selbstkonzep-tes wird durch Selbstwahrnehmung und Selbstler-nen besonders gefördert.

Diese Teilkompetenzen sind miteinander ver-woben und stellen integrale Bestandteile der be-ruflichen Handlungskompetenz dar.

Andere Autoren führen noch zwei weitereKompetenzarten an: die kommunikative Kompe-tenz und die Lernkompetenz.

Die kommunikative Kompetenz beinhaltet dieFähigkeit, »eigene Absichten und Bedürfnisse so-wie die der Partner wahrzunehmen, zu verstehenund darzustellen« (Bader 2000,S.211).Der Schwer-punkt liegt somit auf dem Verstehen und dem Ge-stalten von kommunikativen Prozessen.

Die Lernkompetenz wird häufig der Metho-denkompetenz zugeordnet, da keine eindeutige

Trennschärfe vorliegt. Nach Wolff (1996, S. 18) be-zieht sich die Lernkompetenz auf die »Fähigkeitund Bereitschaft,Lerntechniken zu nutzen und ent-sprechend der individuellen Disposition weiterzu-entwickeln«. Diese Handlungen sollen nicht nuralleine durchgeführt werden, sondern auch inGruppen oder Teams. Hierbei geht es darum, In-formationen nicht nur aufzuspüren und auszuwer-ten, sondern sie auch in geeignete Handlungssche-mata (kognitive Strukturen) zu überführen.

In den letzten Jahren wird häufig der Begriffder »emotionalen Kompetenz« in die Diskussionum die Handlungskompetenz eingeführt. Bislangliegen noch keine gesicherten Ergebnisse zur emo-tionalen Leistungsfähigkeit vor. So können keineAussagen zu dem Zusammenhang zwischen Emo-tionen und den Effekten beim Handeln gemachtwerden, ebenso sind die Möglichkeiten zur Nut-zung von Emotionen im Berufsleben nicht ausrei-chend untersucht. Deshalb wird im Zusammen-hang mit dem Lernfeldkonzept auf diese Dimen-sion der Handlungskompetenz verzichtet.

Für die konkrete Umsetzung des Lernfeldkon-zeptes ist bei der Ausgestaltung der Lernsituationenwichtig, die einzelnen Dimensionen (Teilkompe-tenzen) zu bestimmen, damit eine entsprechendeFörderung und Entwicklung derselben möglich ist.

. Abb. 5.5. Kompetenz – eine Synthese aus Qualifikation und Bildung (Inhalte aus: Schneider u. Meyer-Dohm 1991, Vogel2001)

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94 Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept

Im Folgenden wird ein vereinfachtes und von mirabgewandeltes Raster vorgestellt, in dem die dreiprimären Kompetenzen (Effert et al. 1996, S. 69f) –Fach-, Sozial und Personalkompetenz – mit dendrei instrumentellen (Wolff 1996, S. 18) Kompeten-zen – Methoden- und Lernkompetenz sowie kom-munikative Kompetenz -,korreliert werden.Darauslassen sich übergeordnete Fähigkeiten, Handlun-gen oder auch Methoden ableiten. Eine ähnlicheHerangehensweise haben Bader u. Müller (2002,S. 179 ff.) gewählt. Die in . Tabelle 5.2 ermitteltenHandlungen, Ziele bzw. Intentionen stellen eineSynthese aus den Ausführungen von Effert et al.(1996) und Bader u. Müller (2002) dar.

5.4.2 Handlungsorientierter Unterricht

Die Diskussion um die Handlungsorientierung istnicht erst seit der Forderung nach »lebenslangem,selbständigem und handlungsorientiertem Ler-nen« der Bildungskommission NRW (1995) gestie-gen, sondern vor allem aufgrund der KMK Richt-linien von 1996 und 2000. Unter dem Punkt »di-daktische Grundsätze« fordert die KMK (2000,S. 29) die Gestaltung von handlungsorientiertemUnterricht,der folgenden Kriterien gerecht werdensoll:

Fach

kom

pet

enz

Sozi

alko

mp

eten

zPe

rso

nal

kom

pet

enz

Methodenkompetenz kommunikative Kompetenz Lernkompetenz

. Tabelle 5.2. Analyseraster zur Ermittlung von Kompetenzschwerpunkten

– Methodengeleitete Sachver- – Verbale und nonverbale Mittel zur – Informationen (textliche und bild-halte, Konzepte u. Erkenntnisse Verständigung anwenden u. Fach- liche) beschaffen, strukturieren u.erklären, ableiten und ent- termini korrekt benutzen sowie generierenwickeln diese in der Auseinandersetzung – Subjektive Lerntechniken sich an-

– … mit anderen kommunizieren eignen u. auf jetzige u. zukünftige – … Aufgabenstellungen (lebenslang)

anwenden– …

– Arbeit in und mit Gruppen me- – Kommunikationsregeln u. Strate- – Lernprozesse in Gruppen verste-thodengeleitet gestalten und gien entwickeln, gemeinsam be- hen, gestalten und lebenreflektieren schließen u. anwenden – Soziale Beziehungen, kulturelle

– Teamregeln, -strukturen und – Gruppenergebnisse gemeinsam Unterschiede u. heterogene Lern--kulturen erstellen, anwenden präsentieren voraussetzungen erkennen,u. generieren – … akzeptieren u. gemeinsame Ziele

– … entwickeln– …

– Methoden der biographischen – Die eigene Person als Kommunika- – Eigene Lebensinteressen wahr-Selbstreflexion erarbeiten, tor mit spezifischen Eigenschaften nehmen u. sie entsprechendsituationsorientiert anwenden wie z. B. erklären, überzeugen, argu- realisierenu. kritisch weiterentwickeln mentieren usw. erkennen u. anwen- – Eigene Lernprozesse gestalten,

– Eigene Lebenspläne kritisch den um die Effizienz u. Zufriedenheit hinterfragen u. beurteilen – Die eigene Sprachkultur bewusst des Lernens zu steigern

– Unterschiedliche Berufswege in Interaktionen anwenden u. sich – …in Abwägung verschiedener mit anderen Kommunikationsfor-Bedingungsfaktoren bewusst men auseinandersetzenmachen u. zu einer subjektiv – …begründbaren Entscheidung kommen

– …

Page 109: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

5.4 · Die vier wesentlichen Bestandteile des Lernfeldkonzeptes595

7 4 Didaktische Bezugspunkte sind Si-

tuationen, die für die Berufsausübung

bedeutsam sind (Lernen für Handeln).

4 Den Ausgangspunkt des Lernens

bilden Handlungen, möglichst selbst

ausgeführt oder aber gedanklich nach-

vollzogen (Lernen durch Handeln).

4 Handlungen müssen von den Ler-

nenden möglichst selbstständig ge-

plant, durchgeführt überprüft, ggf. korri-

giert und schließlich bewertet werden.

4 Handlungen sollten ein ganzheitli-

ches Erfassen der beruflichen Wirklich-

keit fördern, z. B. technische, sicherheits-

technische, ökonomische, rechtliche,

ökologische, soziale Aspekte einbezie-

hen.

4 Handlungen müssen in die Erfah-

rungen der Lernenden integriert und in

Bezug auf ihre gesellschaftlichen Aus-

wirkungen reflektiert werden.

4 Handlungen sollen auch soziale

Prozesse, z. B. der Interessenerklärung

oder der Konfliktbewältigung, einbezie-

hen (KMK 2000, S. 29).

Ihrer Auffassung nach verschränkt das didaktischeKonzept der Handlungsorientierung fach- undhandlungssystematische Strukturen. Unterstütztwird diese Forderung durch die »Handlungsorien-tierte Ausbildung der Ausbilder«, die am 1. Novem-ber 1998 in Kraft getreten ist (Koch 1998, S. 7).

Schütte (1998, S. 91) bezeichnet Handlungsori-entierung als ein »Konzept mittlerer Reichweite«,welches von »einem veränderten Verständnis vonsystematischem und kasuistischem Lehren undLernen« ausgeht. In der Literatur wird dem Begriff»Handlungsorientierung« allerdings sehr unter-schiedliche Bedeutung beigemessen; dies lässt denBegriffswirrwarr verständlicher werden, trägt je-doch nicht zur Klärung der Problematik bei.Die amhäufigsten anzutreffende Position der Handlungs-orientierung bewegt sich auf der methodisch-di-daktischen Ebene. Hierunter verstehen sowohlTheoretiker als auch Praktiker sehr häufig schüler-aktivierende Handlungsmuster wie z. B. das Rol-lenspiel, das Planspiel, die Fallarbeit, die Gruppen-arbeit sowie die Projektmethode. Eine weitere sehrhäufig anzutreffende Position, durch Söltenfuß

(1983) veranlasst, stellt die Handlung als zentraleKategorie dar.

7 Handlung, praktische Handlung,

Arbeitstätigkeit, praktisches Tun,

Arbeitshandlung, etc. – in welcher Va-

riante auch immer, Handlung ist der

didaktische Schlüssel, Fragen der Bil-

dungsinhalte, des Curriculums und der

praktischen Unterrichtsarbeit effizienter

als bisher zu behandeln. Mehr noch,

Handlung wird auch zur erkenntnis-

theoretischen Kategorie (Achtenhagen

1998, S. 652).

Im Folgenden soll versucht werden, einige wichti-ge Positionen, die mit der Handlungsorientierungverknüpft werden, aufzuzeigen.

Laut Czycholl (1999,S.217 f.) lässt sich das Kon-zept der Handlungsorientierung auf drei Ebenenkonkretisieren.

1. Bildungspolitische Leitbildebene. In den neuge-ordneten Ausbildungsberufen (erstmals 1987 beiden industriellen Elektro- und Metallberufen) ma-nifestiert sich die Handlungsorientierung in demRichtziel »Berufliche Handlungskompetenz«, wel-ches in den Ausbildungsordnungen und Rahmen-lehrplänen fixiert ist. Die Bewältigung komplexerberuflicher Aufgabenstellungen vollzieht sich überden Dreier-Schritt: Planung, Durchführung undKontrolle.Damit fand ein Leitbildwechsel in der be-ruflichen Ausbildung statt. Vereinfacht gesagt hatein Wandel vom funktionsspezialisierten, nichtselbstständig und abhängig Handelnden zum fle-xiblen, selbstgesteuerten und selbst entscheiden-den Mitarbeiter stattgefunden.

2. Didaktisch-curriculare Ebene. In den Mittel-punkt der Überlegungen wird der handlungsori-entierte berufliche Situationsbezug unter Heran-ziehung des Persönlichkeitsprinzips, des Wissen-schaftsprinzips sowie des Situationsprinzipsgestellt. Damit ist die Basis für Rahmenrichtliniengelegt, die sich ein erstes Mal in den Rahmenver-einbarungen von 1991 niederschlagen. Fortgesetztwird dies in den von der KMK im Jahre 1996 he-rausgegebenen Handreichungen für die Erarbei-tung von Rahmenlehrplänen. Die lernfeldstruk-

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5

96 Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept

turierten Lehrpläne orientieren sich dabei anberuflichen Aufgabenstellungen und Handlungs-abläufen. Die Hoffnung, die unweigerlich mit-schwingt, ist, dass ein ganzheitliches Lernenzukünftig stärker im Vordergrund steht und dassvor allem die Entwicklung von ganzheitlich-hand-lungsorientierten Prüfungen vorangetrieben wird.Bislang hat sich gezeigt, dass die Bundesländer dieRealisierung des Lernfeldkonzeptes unterschied-lich umgesetzt haben. So präferiert Niedersachendie Handlungssystematik (unter Wegfall der Un-terrichtsfächer),Baden-Württemberg bleibt bei derFächerstruktur, wobei sie handlungsorientierteThemen integriert. Neu zu überdenken sind eben-falls die Aufgaben und Ziele der beiden LernorteBetrieb und Schule. Czycholl (1999, S. 218) schreibtihnen folgende Funktionen zu:

Der Betrieb muss die betriebsindividuellen

Begebenheiten mit entsprechenden Theorien

des beruflichen Handelns miteinander ver-

knüpfen. Die Berufsschule sollte in Form von

authentischen, simulierten und/oder symbo-

lisch repräsentierten Handlungen betriebli-

che Arbeitsabläufe wissenschaftssystema-

tisch reflektieren, um damit eine curriculare

Verbindung zwischen Theorie und Praxis her-

zustellen.

3. Didaktisch-unterrichtliche Ebene. Hier steht diehandlungsorientierte Gestaltung mit dem gesam-ten Methodenrepertoire für Lehr-Lern-Situationenim Mittelpunkt der Betrachtung. Czycholl (1999,S.218) beschreibt fünf Bestimmungsgrößen,die aufSchelten (1994) zurückgehen:4 Integrierter Fachraum,damit theoretischer Un-

terricht und praktische Erprobung zeitnahstattfinden können;

4 komplexe Aufgabenstellungen, die nur auf derBasis eines fächerintegrativen Unterrichts mög-lich sind;

4 innere Differenzierung, die es Lernenden er-laubt, aufgrund ihrer Leistungsfähigkeiten inEinzelarbeit oder Teams zu lernen;

4 verändertes Rollenverständnis der Lehrenden,die kaum noch nur Wissensvermittler und Be-

werter sind, sondern auch Lernbegleiter, Mo-derator und Gestalter;

4 handlungssystematisches Vorgehen,das sich anberuflichen Arbeitsaufgaben orientiert, welchehauptsächlich dem Handlungsregulationssche-ma unterliegen.

Je nachdem, auf welcher dieser drei Ebenen dasVerständnis bzw. die Zieldimensionen angesiedeltsind, werden andere Wege bzw. Vorgehensweisenverfolgt.Für das Lernfeldkonzept gilt es in Zukunftzu klären, welche dieser vorgestellten Ebenen ver-wirklicht werden sollen. Ebenso ist für die konkre-te Unterrichtsumsetzung außerordentlich wichtig,vorab ein gemeinsames Verständnis von hand-lungsorientiertem Unterricht zu finden.

Das folgende Kap. 6 beschäftigt sich vor allemmit der Frage »Wie kann handlungsorientierterUnterricht geplant, umgesetzt und bewertet wer-den, wenn es sich bei Lernern um Anfänger ihreseigenen Lernprozesses handelt?«

5.4.3 Fächerintegration

Sollen die Intentionen des Lernfeldkonzeptes ernstgenommen werden, d. h.:4 Auflösung des Fächerbezugs und damit Neu-

strukturierung der Inhalte,4 Aufnahme von Handlungssystematik mit inte-

grierter Fachsystematik,4 Aneignung der Dimensionen beruflicher

Handlungskompetenz und4 Einbezug der Lernerperspektiven bzw. von Er-

fahrungswissen der Auszubildenden,

dann bedeutet dies u. a., Strukturen des Lernens zuschaffen, die berufliches Alltagswissen bildungs-theoretisch reflektieren, systematisieren und ge-nerieren. In der beruflichen Erstausbildung wirddavon ausgegangen, dass die Entwicklung derHandlungskompetenz vor allem durch handlungs-orientierte Lernsituationen gefördert wird. Einewichtige und wesentliche Grundlage sieht man infächerübergreifenden Unterrichten realisiert.

Die Umsetzung dieser Forderung ist jedochmomentan nicht ohne weiteres leistbar. Pätzold(2000, S. 81) sieht eine der Ursachen im »Lehren alsVermitteln von situationsenthobenen Wissenspa-

Wichtig

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5.4 · Die vier wesentlichen Bestandteile des Lernfeldkonzeptes597

keten« begründet.Arnold Schüßler bezeichnet diesals »Erzeugungsdidaktik« (1998, S. 77). Das beste-hende Fächersystem in Schulen geht allerdings aufeine lange Tradition zurück. So sind die Fächer andie jeweiligen Bezugswissenschaften angebunden,darüber hinaus stehen sie für Systematik,Überblickswissen, sachlogische Struktur und prä-zise Begrifflichkeit (Hansis 1996, S. 5). Peterßen(2000, S. 322) sieht in den folgenden drei Kernar-gumenten die Aufrechterhaltung des gefächertenUnterrichts: nämlich »erstens Heranwachsende zusystematischer Sicht und zweitens zu ebenso syste-matischer Bewältigung von Welt und Wirklichkeit«zu befähigen und drittens »zur Widerspiegelungdes Erkenntnisvorgangs auf sich selbst« anzuleiten.Gegen die Fächerung wird jedoch, nicht nur imZuge des Lernfeldkonzeptes, in den letzten Jahrenimmer mehr Kritik laut. Die BildungskommissionNRW (1995, S. 102) konstatiert u. a. folgende Kritik:unkoordiniertes Doppellernen, isolierte Wissens-bestände, die nicht zusammengeführt werden, einÜbergewicht abstrakt-kognitiver gegenüber hand-lungsbezogen-praxisgerechten Zielen und fehlendeOffenheit für gesellschaftliche Veränderungen.DerFachunterricht lässt den Menschen laut Peterßen(2000, S. 323) im wahrsten Sinne des Wortes »imRegen stehen«, wenn es darum geht, komplexeProblem- und Aufgabenstellungen des Lebens zubeantworten bzw.zu lösen.Der Lernende muss sichdie einzelnen Versatzstücke des häufig voneinanderlosgelösten und isolierten Unterrichts wie einPuzzle zusammensetzen, um es auf die Problem-bewältigung anzuwenden. Dabei erhält er wederHilfestellungen noch Rückmeldung.

Im Konzept des »fächerübergreifenden Ler-nens« (was darunter zu verstehen ist, wird an spä-terer Stelle geklärt) wird eine Möglichkeit gesehen,Teilaspekte des Lernfeldkonzeptes zu realisieren.Dies beinhaltet eine enorme pädagogische Heraus-forderung an die Lehrer und Lehrerinnen,wenn sienicht, wie häufig nach ersten Erfahrungsberichtenzu beobachten ist, bisherige Inhalte einfach zu ei-nem neuen Fach bündeln,sondern neue interdiszi-plinäre und organisatorische Strukturen schaffen,die komplexe Frage- und Aufgabenstellungen ganz-heitlich bearbeiten lassen.

Im Folgenden werden zwei Ansätze des fächer-übergreifenden Unterrichts vorgestellt und ein Ver-such der Systematisierung unternommen.

Fächerübergreifender Unterricht im Modellversuch (nach Hüfner 1996)

Dieses Modellvorhaben »FächerübergreifenderUnterricht in der Berufsschule« (FügrU) wurde vondem Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bil-dungsforschung 1996 durchgeführt. Hüfner (1996)kommt dabei zu folgenden definitorischen Klärun-gen (in Kremer 1997, S. 97).

Fachverbindender Unterricht

Hier wird ein Thema als Bindeglied bzw. als Struk-turierungsprinzip für die einzelnen Fächer gese-hen. Die Fächerstruktur und der »herkömmlicheStundenplan« bleiben dabei bestehen, vorausge-setzt wird allerdings eine Zusammenarbeit derLehrenden, die darin besteht, inhaltliche Aspekteauf der Basis des Themas abzusprechen.

Fächerübergreifender Unterricht

Hier werden die Unterrichtsfächer und der Stun-denplan aufgelöst.Die Basis für den Lernprozess ineinem derartigen Unterricht stellt der Ablauf einervollständigen Handlung (Aebli 1983) dar. Dies setztnatürlich voraus, dass die beteiligten Lehrenden(mit den spezifischen Inhalten ihrer Fächer) ge-meinsam an der Problem- bzw. Aufgabenstellungden Unterricht planen und im Teamteaching un-terrichten. Das Ganze erfolgt in einem zeitlich ab-gesteckten Rahmen. Diese Form des Unterrichtswird auch als fächerübergreifender Unterricht imengeren Sinne bezeichnet. Treffender ist die Be-zeichnung Fächerintegration (Anm. d.Verf.).

Fachübergreifender Unterricht (nach Buschfeld 1996)

Buschfeld zeigt auf, dass sich hinter dem Begriff»fächerübergreifender Unterricht« eine Fülle vonverschiedenen organisatorischen Varianten bzw.Konzepten verbirgt. Er geht von vier Kategorienaus: Thema (stellt die intentionale Ausrichtung ei-nes Inhaltes dar), Fach (bildet eine sinnstiftendeEinheit,die mehrere Perspektiven miteinander ver-schränken kann), Lehrer (als Planer, Entwicklerund Gestalter) und noch einmal das Fach (als Pla-nungseinheit).

7 Fächer kennzeichnen also zweierlei:

Prägende Perspektiven und Planstun-

den bzw. Stundenpläne. Beide bieten

Page 112: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

5

98 Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept

einen Rahmen für das Thema, ohne

dieses darüber abschließend zu deter-

minieren (Buschfeld 1996, S. 49).

. Tabelle 5.3 zeigt, welche Varianten sich mit fol-genden Kombinationen (Thema, Fach als Perspek-tive und Planungseinheit sowie Lehrer) dem Be-griff »Fächerübergreifender Unterricht« zuordnenlassen.

Die Ausführungen haben deutlich gemacht,dass es kein eindeutiges Verständnis von fächer-übergreifenden Konzepten gibt. Was in allen An-sätzen jedoch übereinstimmend implizit gefordertwird,sind organisatorische,curriculare und didak-tische Veränderungen, die aber vor allem ein ver-ändertes Lern- und Lehrverständnis voraussetzen.Heimerer u. Schelten (1996, S. 314 ff.) stellen Emp-fehlungen für Organisation, Stundenpläne, Klas-sengrößen bzw.Klasseneinteilungen,Lehrereinsatzsowie Baulichkeiten und Ausstattung auf. Für dieUmsetzung des Lernfeldkonzeptes bleibt zu über-legen, welche Formen des fächerübergreifendenUnterrichts sinnvoll und hilfreich sein können.Diesbleibt weiteren Modellversuchen vorbehalten, dievor allem die Fächerintegration als Fokus von Eva-luationsstudien bestimmen.

5.4.4 Teamarbeit

Die Tradition der Teamarbeit kommt eher ausNord- und Westeuropa bzw. aus den USA. So hatman in Deutschland lange Zeit die Gruppenarbeitder skandinavischen Automobilindustrie mit ihrenAnsätzen »job rotation« und »job enrichment« (woArbeiter »fast« alle anfallenden Aufgaben qualifi-

ziert für die anderen Kollegen und Kolleginnenübernehmen konnten) als Grundlage für ein Team-konzept, auch für andere Betriebe, genommen undbenutzt (Weißbach 2001, S. 31).

7 Ein Team, wenn es diesen Namen ver-

dient und nicht bloß eine zusammen-

gewürfelte Gruppe oder einen zerstrit-

tenen Haufen darstellt, zeichnet sich

durch das geordnete und sich ergän-

zende Zusammenspiel von Mitgliedern

mit unterschiedlichen Qualitäten und

Kompetenzen aus (Schulz von Thun

1998, S. 64f).

Für die Realisierung des Lernfeldkonzeptes stelltdie Teamarbeit der Lehrenden eine wichtigeGrundvoraussetzung dar.Teamarbeit erleichtert es,Lernsituationen fächerintegrativ und handlungs-orientiert zu unterrichten, so dass Lernende effek-tiv die Möglichkeit haben,sich unterschiedliche be-rufliche Kompetenzen anzueignen. Man könnteglauben, dass dies keine besonders große Schwie-rigkeit darstellt,da in den letzten Jahren der BegriffTeam in aller Munde ist. Bei näherer Betrachtungzeigt sich jedoch, dass von Teamfähigkeit die Redeist, ohne genau zu wissen, welche Komplexität sichhinter diesem psychologischen Konstrukt verbirgt.So ergibt eine Gruppe von Menschen nicht zwangs-läufig auch ein Team (Bungard 1995, S. 405ff). Des-halb soll die folgende Begriffsklärung dazu beitra-gen,Voraussetzungen und Merkmale erfolgreicherTeamarbeit zu definieren, damit zukünftige Leh-rerteams wissen, auf welche Vor- und Nachteile siesich einlassen.

. Tabelle 5.3. Varianten fächerübergreifenden Unterrichts (nach Buschfeld 1996, S 49, 58, 60)

Einflussfaktoren/Unterrichtsarten Thema Fach (Perspektive) Lehrer Fach (Planungseinheit)

Fachunterricht ein eine ein eine

Fächerauflösender Unterricht ein mehrere ein eine

Gemeinsamer Unterricht ein mehrere mehrere eine

Fächervernetzender Unterricht ein mehrere mehrere mehrere

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5.4 · Die vier wesentlichen Bestandteile des Lernfeldkonzeptes599

7 Ein Team ist eine aktive Gruppe von

Menschen, die sich auf gemeinsame

Ziele verpflichtet haben, harmonisch

zusammenarbeiten, Freude an der Ar-

beit haben und hervorragende Leistun-

gen bringen (Francis u.Young 1989,

S. 10).

Dabei kann sich ein Team kontinuierlich oderpunktuell konstituiert haben. Schulz von Thun(1998, S. 65) unterscheidet zwischen Teambildungund Teamentwicklung. Die Teambildung beziehtsich meist auf eine konkrete Situation bzw. Aufga-be. Hier übernimmt sehr häufig die Leitung das»Zusammenbringen der unterschiedlichen Mit-glieder«.Die Teamentwicklung ist viel weitreichen-der und komplexer als die Teambildung. Hierzugehören vor allem: Kommunikations- und Teamre-geln, Kristallisierung des Wir-Gefühls bei gleich-zeitiger Aufrechterhaltung des Ich-Gefühls, Sank-tionsmöglichkeiten usw. (Schulz von Thun 1998,S. 65).

7 Teamentwicklung stellt somit eine

(herausragende) Maßnahme der

Organisationsentwicklung auf Grup-

penebene dar (Hoss 1998, S. 39).

Wichtig ist bei der Bildung,aber viel stärker bei derEntwicklung eines Teams, dass die Mitglieder ausunterschiedlichen Hierarchieebenen rekrutiertwerden, wenn es die Lösung eines Problems erfor-derlich macht. Die vertikalen Kommunikations-und Anweisungsstrukturen haben die hierarchi-schen Strukturen abgelöst. Denn ein Team profi-tiert von den unterschiedlichen Erfahrungen undKompetenzen seiner Mitglieder, wobei eine Größevon fünf bis acht Personen optimal ist (Ratzki 2000,S.6 ff.).Was Teamarbeit ausmacht,lässt sich am bes-ten durch ein Zitat von Henry Ford wiedergeben.

7 Zusammenkommen ist der Anfang.

Zusammenarbeiten ist der Erfolg.

Damit es dazu kommt, sind folgende Vorausset-zungen zu schaffen bzw.wichtige Schritte zu klären(Schneider u. Sabel 1998, S. 14 ff.):4 Das Team formuliert gemeinsame Ziele.4 Das Team vergibt konkrete Arbeitsaufgaben.

4 Im Team werden genaue Absprachen über dieVorgehensweise getroffen.

4 Das Team entwickelt eigene Regeln für den Um-gang miteinander.

4 Es finden regelmäßige Teamsitzungen (-konfe-renzen) statt,die dem eigenen Procedere unter-liegen.

4 Die Teammitglieder kennen ihre Stärken undSchwächen und unterstützen sich dabei gegen-seitig.

4 Die Teammitglieder haben Freude und Spaß ander gemeinsamen Arbeit.

4 Die Teammitglieder entwickeln gemeinsamihre Teamfähigkeit.

Teamteaching ist eine besondere Form der Team-arbeit, indem zwei oder mehrere Lehrende eineLerngruppe gemeinsam bzw. gleichzeitig unter-richten (Buschfeld 1999, S. 367). Voraussetzungdafür ist, dass der Unterricht gemeinsam geplantund evaluiert wird. Lehrende finden sich für dieUnterrichtsform »Teamteaching« aufgrund unter-schiedlicher Aspekte zusammen.Dazu gehören z.B.bildungsgangbezogene Gründe ebenso wie fächer-integrative Lernsituationen oder Einheiten, in de-nen eine starke Theorie-Praxisvernetzung wichtigist.

Innerhalb der Umsetzung und Implementie-rung des Lernfeldkonzeptes erhalten die TeamsKompetenzen und Entscheidungsbefugnisse, dieerheblich über ihre bisherigen Aufgaben hinausge-hen. So entwickeln sie z. B. schulinterne Curricula,erstellen Stundenpläne, organisieren Konferenzenund Fachgruppensitzungen, entwickeln Evalua-tionsinstrumente für die Selbst- und Fremdevalua-tion und vieles weitere mehr. Mit dieser größerenSelbstorganisation geht natürlich auch eine größe-re Verantwortung für sich,für das Team,für die Ler-nenden als auch für die gesamte Schule einher. Da-mit die Lehrenden allmählich in diese verändertenRollen hineinwachsen können, muss eine »lernen-de Schule« dafür Sorge tragen, dass die Teament-wicklung sukzessive in ein Kollegium eingeführtwird und auch Teamverweigerer ernst genommenwerden. Nicht zuletzt ist Teamarbeit ein wichtigerBestandteil des veränderten Arbeitslebens gewor-den. Teamarbeit stellt in der jetzigen Arbeitswelteine zwingende Notwendigkeit dar, ja sie ist über-lebensnotwendig geworden,da die vielfältigen Pro-

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5

100 Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept

zesse in der Berufswelt nicht mehr von Einzelper-sonen und ihren Kompetenzen bewältigt werdenkönnen, sondern ein multiprofessionelles Teamverlangen, das all seine vielfältigen Möglichkeitenund Ressourcen zur Lösung der Aufgaben- undProblemstellungen einsetzt. Genau auf diese An-forderungen müssen die Berufsschule und hier vorallem das Lernfeldkonzept vorbereiten.

5.5 Der Weg vom lernfeldstrukturiertenRahmenlehrplan bis zurdidaktischen Umsetzung der Lernsituationen

Der lernfeldstrukturierte Rahmenlehrplan stellt analle in der Schule Tätigen wie Schulleitungen, Ko-ordinatoren und Lehrende Anforderungen an einehöhere Handlungskompetenz, als dies bislang derFall war. Beschränkte sich vor dem Lernfeldkon-zept die pädagogische Kompetenz von Lehrendenhäufig auf die Unterrichtsplanung, -durchführungund -bewertung, so kommen heute neue attraktiveund verantwortungsvolle, aber auch belastendeAufgaben auf die Lehrenden zu. Hierzu gehörenunter anderem:4 erhöhter Arbeitsaufwand mit gleichzeitiger

Verantwortung für curriculare Arbeit (z.B.Ent-wicklung eines Schulcurriculums auf der Basisdes Rahmenlehrplans);

4 erhöhter Arbeitsaufwand mit gleichzeitigerVerantwortung für organisatorische und struk-turelle Entwicklung von neuen Anordnungenund Gefügen im Schulalltag;

4 erhöhte Fachkompetenz der Lehrenden,die ne-ben der Gestaltung von Lern- und Lehrarran-gements sowohl die beruflichen und betriebli-chen Arbeitsprozesse erfassen und analysierenals auch die fachsystematischen Inhalte mitdem Bildungsauftrag der Schule vernetzenmüssen;

4 erhöhte Fachkompetenz der Lehrenden, dienicht nur gegenwärtige Handlungs- und Tätig-keitsfelder des jeweiligen Berufes erfassen,son-dern zukunftsorientiert und perspektivischneue Handlungsfelder diagnostizieren;

4 erhöhte Teamfähigkeit, um den gemeinsam ge-planten Lernsituationen mit dem Anspruch derFächerintegration, dem Teamteaching und derkonstruktiven Weiterentwicklung von Lernsi-tuationen gerecht zu werden;

4 erhöhter Arbeitsaufwand in Bezug auf die Lern-ortkooperation, um das gemeinsame Ziel derHandlungskompetenz besser über betrieblicheund schulische Lernsituationen abzustimmen.

. Abbildung 5.6 weist die vielfältigen Handlungenund damit verbundenen Kompetenzen sowohl derCurriculumentwickler als auch der Lehrenden inder Schule aus. Da sich die Implementierung desLernfeldkonzeptes auf verschiedenen Ebenen be-wegt, erfolgt eine vertikale Betrachtung auf dreiEbenen: Die Makroebene (Lehrplanentwicklungund -gestaltung), die Mesoebene (Schulorganisa-tion) und die Mikroebene (Unterrichtsgestaltungund -umsetzung). In der Horizontalen sind dieMarginalien: Entscheidungs-, Realisierungs- undProduktebene angeordnet,die auf jeder Ebene ent-sprechend der jeweiligen Zielformulierung inhalt-lich gefüllt werden. Des Weiteren befindet sich aufjeder Ebene ein neuralgischer bzw. ungeklärterPunkt,der exemplarisch für noch nicht gelöste Auf-gaben innerhalb des Lernfeldkonzeptes steht; er istdurch einen Blitz gekennzeichnet.

Die Makroebene,mit ihren beruflichen, indivi-duellen und gesellschaftlichen Handlungsfeldern,stellt den Reflexionsgegenstand für die eigentlicheCurriculumarbeit des Lernfeldkonzeptes dar. Be-stimmt wird diese analytische Aufgabe maßgeblichdurch den Bildungsauftrag der Berufsschule.DieserFilter sorgt dafür,dass Lernfelder nicht spiegelbild-liche Abbildungen der betrieblichen Handlungsfel-der – bzw. Arbeits- und Betriebsabläufe – werden.Die wesentliche Aufgabe der Curriculumentwicklerbesteht darin, aus den zuvor reflektierten, analy-sierten und definierten Handlungsfeldern (berufli-che, individuelle und gesellschaftliche Lebenswel-ten) Lernfelder zu rekonstruieren, so dass komple-xe Aufgaben- und Problemstellungen auf der Basisdes Bildungsauftrages abgeleitet werden können.Diese erkenntnisformulierten Produkte finden sichin Form von Lernfeldern in den Rahmenlehrplänenwieder. Lernfelder stellen somit komplexe Aufga-

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5.5 · Der Weg vom lernfeldstrukturierten Rahmenlehrplan5101

. Abb. 5.6. Berufliche Handlungsfelder als Ausgangs- und Endpunkt didaktischer Konstruktion

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102 Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept

ben- und Problemstellungen dar, die durch Zieldi-mensionen in Form von Kompetenzen beschriebenwerden und fächerintegrative Inhalte beinhalten.Das Problem, das sich auf dieser Ebene zeigt, ist,dass keine Konstruktionsprinzipien bzw.Qualitäts-kriterien für die Herleitung bzw. Rekonstruktionder Lernfelder aus Handlungsfeldern vorliegenbzw. thematisiert werden. Hierin liegt meiner An-sicht nach eines der größten Probleme begründet,die die Lernfeldimplementierung nicht zu dem Er-folg führen, den sie verdient hat.

Die folgende Implementierungsphase, die Me-soebene, beschäftigt sich hauptsächlich damit, inder Schule vor Ort, per Bildungsgangkonferenzen,die schulinternen,curricularen und schulorganisa-torischen Veränderungen zu entwickeln (selbstver-ständlich unter Mitbeteiligung der Lehrerteams).Aufgrund der vorgegebenen Lernfelder sind dieSchulen bzw. die Bildungsgangkonferenzen undletztendlich die Lehrenden aufgefordert, aus denvorgegebenen Lernfeldern schulinterne Curriculazu entwickeln.Selbstredend kann dies nur im Kon-text der Lernortkooperation der beiden LernorteBetrieb und Schule stattfinden. Beide Kooperati-onspartner müssen gemeinsam Handlungskompe-tenzen definieren, die aufgrund der vorliegendenLernfelder zu bestimmen sind und den originärenLernorten Betrieb und Schule zuzuordnen sind.Derartige curriculare Arbeit basiert auf entspre-chenden Reflexionen und Rekonstruktionen derLernfelder aus den vorgegebenen Handlungsfel-dern.Erst wenn diese Klärung ausgehandelt wurde,ist es möglich,Lernsituationen für den schulischenBereich zu bestimmen. Bei der curricularen Ge-staltung der Lernsituationen ist zu berücksichti-gen,dass handlungssystematische von lernsubjekt-systematischen und fachsystematischen Lernsitu-ationen unterschieden werden.

Auf der Mesoebene zeichnen sich ähnlicheProblemfelder wie auf der Makroebene ab. Es exis-tieren wenige oder gar keine Hinweise bzw. Hil-festellungen für eine wissenschaftlich fundierteEmpfehlung im Hinblick auf die Reflexion und Re-konstruktion (für beide Lernorte: Schule und Be-trieb) von Lernfeldern aus Handlungsfeldern. DieReflexion und Rekonstruktion von Lernfeldernstellt ein bis heute durchgängiges immanentes Pro-blem der Lernfeldkonzeption dar.

Die nachfolgende und abschließende Mikro-ebene ist vor allem der unterrichtlichen Umset-zung gewidmet. Der Verantwortungsbereich liegthauptsächlich bei dem Lehrerteam. Aufgrund derhergeleiteten Handlungskompetenz und der aus-gewählten Lernsituation kann die eigentliche Aus-prägung im didaktischen Sinne vorgenommenwerden. Lehrende konstruieren aufgrund der vor-gegebenen Lernsituation einen komplexen Fallbzw. ein authentisches Problem. Sie versuchen, allerelevanten Wissensstrukturen (implizites und ex-plizites Wissen) in die jeweilige Lernsituation zuintegrieren. Die besonders hohe Herausforderungder Lehrenden besteht darin, eine Reorganisationder ehemaligen Fachinhalte vorzunehmen. Um dieHandlungssystematik mit der Fachsystematik zuverschränken, ist es erforderlich, die jeweilige The-matik nach den zentralen Wissensstrukturen auf-zubereiten. Hier spielt vor allem die Ermöglichungvon implizitem und explizitem Wissen eine Rolle.Lehrende müssen dafür Sorge tragen, dass Lernen-de die Möglichkeit erhalten,ihr erworbenes Wissenzu dekontextualisieren, d. h. den Fall oder die kom-plexe Aufgaben- bzw.Problemstellung mit entspre-chenden Strategien zu lösen und vor allem für neueund andere berufliche Zusammenhänge zu gene-ralisieren.Durch den Transfer in die eigentliche be-rufliche, individuelle und gesellschaftliche Realitätist es möglich, einen kritischen Abgleich zwischendem Leitziel der Handlungskompetenz und demwirklichen Handeln in Beruf und Alltag vorzuneh-men.

5.6 Probleme der verschiedenenImplementierungsebenen

Die Implementierung des Lernfeldkonzeptes findet– wie bereits erwähnt – auf drei verschiedenen or-ganisatorischen Ebenen statt, wobei sich jede Ebe-ne mit anderen Schwerpunkten und Problemenkonfrontiert sieht.

Die Makroebene hat sich hauptsächlich mit derLehrplanentwicklung und -gestaltung auseinanderzu setzen,die Mesoebene richtet ihr Augenmerk aufdie Schulorganisation und die letzte, die Mikroebe-ne, sieht ihre Arbeit in der unterrichtlichen Um-setzung (Kremer u. Sloane 2001, S. 21 ff., Kremer u.

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5.6 · Probleme der verschiedenen Implementierungsebenen5103

Sloane 2000, S. 75 ff.). Kremer u. Sloane (2001,S. 24 ff.) gehen aufgrund von Erfahrungen inner-halb des Modellversuches NELE (Neue Unter-richtsstrukturen und Lernkonzepte durch berufli-ches Lernen in Lernfeldern der Länder Bayern undHessen) davon aus, dass sich die Probleme inner-halb der drei Ebenen hauptsächlich auf fünf zent-rale Problemfelder beschränken. Zu ähnlichen Er-gebnissen ist das Modellvorhaben SELUBA (Stei-gerung der Effizienz neuer Lernkonzepte undUnterrichtsmethoden in der dualen Berufsausbil-dung), ein Modellversuchsverbund der LänderNordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt,gekom-men (Bader u.Müller 2002,S.71 ff.).Ganz entschei-dend ist die Einstellung und Haltung der Lehrkraft,denn sie bestimmt maßgeblich den Erfolg der Im-plementierung des Lernfeldkonzeptes in die Schu-le. In der Person, also der Lehrkraft, sehen die bei-den Autoren die größten Probleme, die sich in Be-zug auf ein verändertes Selbstverständnis derbisherigen Aufgaben und Möglichkeiten ergeben.Innerhalb der Schulorganisation müssen sich alleBeteiligten von den bisherigen starren Rahmenbe-dingungen verabschieden und diese gegen Struk-turen »lernender Organisationen« (Senge 1996)einlösen. Das bisherige, meist sehr stark auf Fach-systematik basierende Curriculum, welches damiteher erkenntnisorientiert ausgerichtet ist, (Pahl u.Schütte 2001, S. 49) muss von hochkompetentenLehrenden in Tätigkeits- und Handlungsfelder re-organisiert werden. Ein bislang noch nicht geklär-tes Problem stellen die Prüfungsmodalitäten dar.Hier stehen sich Lernfeldintentionen und Prü-fungsprocedere diametral entgegen.Eine letzte undnicht zu vernachlässigende Tatsache stellt der Ler-nende bzw.der Schüler selbst dar.Mangelnde Kom-petenzen im Bereich der Methoden-,Lern- und Per-sonalkompetenz behindern bzw.erschweren häufigdie eigenständige Bearbeitung von berufsbezoge-nen Aufgabenstellungen.Nicht zuletzt sind es gera-de die Schüler selbst, die einen stärker auf Frontal-unterricht basierten Unterricht und damit ein pas-sives Lernen vehement einfordern.

Im Folgenden sollen kurz die einzelnen Ebenendes Implementierungsprozesses beschrieben wer-den.

Auf der Makroebene erstellt die KMK (Kultus-ministerkonferenz) die Rahmenlehrpläne für alle

Ausbildungsberufe, die nach dem Berufsbildungs-gesetz beziehungsweise nach der Handwerksord-nung geregelt sind (Hermann 2001, S. 2 ff.). Damitregeln die Handreichungen und die für den jewei-ligen Ausbildungsberuf vorgesehenen Rahmen-lehrpläne den berufsbezogenen Unterricht für dieBerufsschule. Für die betriebliche Ausbildung hin-gegen entwickeln Sozialparteien und der Bund Aus-bildungsordnungen und Ausbildungsrahmenlehr-pläne. Die aufeinander abgestimmten Ergebnissefinden sich in den Handreichungen der KMK wie-der (KMK 15.09.2000, S. 24).

Auf dieser Makroebene stehen vor allem Fragennach der curricularen Lehrplanentwicklung und -gestaltung im Vordergrund.Momentan lassen sichfolgende Probleme identifizieren (Kuklinski u.Wehrmeister 1999, S. 48 ff., Hahne 2000, S. 262 f.,Kremer u. Sloane 2001, S. 21 ff.):4 Für die Umsetzung benötigen die Schulen eine

handlungslogische Struktur bzw. eine inhalt-liche Differenzierung.Weder der Umfang nochdie Vorgehensweise sind geklärt.

4 Bislang liegen keine Qualitätsstandards fürlernfeldstrukturierte Rahmenlehrpläne vor.

4 Des Weiteren ist nicht offen gelegt, wer wieLernfelder aus Handlungsfeldern konstruiert.

4 Das Verhältnis und die Integration von berufli-chen Handlungssituationen und einer entspre-chenden Fachsystematik sind nicht geklärt.

4 Bislang fehlt es an gesicherten instrumentellenMethoden,die eine Analyse der beruflichen Ar-beitsprozesse belegen.

4 Prüfungen unterliegen bislang noch anderenPrinzipen, wie z. B. Multiple-Choice-Verfahrenund folgen landeseinheitlichen Regelungen.Damit sind sie kontraproduktiv gegenüber demLernfeldkonzept.

Die Mesoebene hingegen sieht sich hauptsächlichmit der Schulorganisation und Schulentwicklungkonfrontiert. Dabei stehen Fragen der Implemen-tierung von Bildungsgangkonferenzen ebenso imMittelpunkt wie Fragen der Lernortkooperation,die sich mit der Abstimmung von schulischen undbetrieblichen Lernsituationen beschäftigen,um ge-meinsam das Ziel der beruflichen Handlungsfähig-keit zu erzielen (Kremer u. Sloane 2001, S. 22).

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104 Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept

Bei der Lehrplananpassung in den einzelnenBundesländern im berufsbildenden Bereich habensich vor allem zwei Modelle bewährt (Schopf 2001,S. 79 ff.).

Das Modell der Bündelung wird von den meis-ten Ländern favorisiert. Hier werden im Lernbe-reich I (berufsbezogene Fächer) für alle Lernfelderdrei bis vier neue Fächer entworfen, die sich ausden arbeitsprozessbezogenen Bedingungen des je-weiligen Berufes ableiten und somit eine überge-ordnete Funktion haben. Der Lernbereich II (sog.allgemeinbildende Fächer) bleibt mit seinen wis-senschaftssystematisch orientierten Fächern (z. B.Deutsch,Politik) erhalten.Die Erleichterung liegt indem vereinfachten Schreiben von Zeugnissen. Die-ses Modell wird jedoch von dem Modell der Verei-nigung um Wesentliches erweitert. Es werden bei-de Lernbereiche aufgehoben und insgesamt vier bissechs neue Fächer gebildet. Hier findet eine Integ-ration von wissenschaftssystematischen Inhaltenin arbeitsprozessbezogene Lernfelder statt.

Es wird deutlich,dass sich eine Verlagerung derbisherigen traditionellen Tätigkeiten eines Lehrersbzw.einer Lehrerin in Richtung curricularer Arbeitabzeichnet. Da Lehrer und Lehrerinnen bislangdafür nicht ausgebildet sind, weder im Studiumnoch in der zweiten Phase der Lehrerausbildung,müssen sie eine entsprechende Befähigung undAnleitung sowie Begleitung durch geeignete Ein-richtungen wie z.B.Lehrerfortbildungsinstitute er-halten.Außerdem muss gewährleistet sein,dass fürderartige neue Aufgaben auch geeignete Freiräumegeschaffen werden (Hahne 2000, S. 262 f.).

Die Mikroebene widmet sich ausschließlich derkonkreten Unterrichtsumsetzung. Hier geht es umdie Gestaltung von handlungsorientierten Lern-situationen, die es dem Lernenden ermöglichen,selbstgesteuert und aktiv unter Zuhilfenahme vonbestimmten Methoden den eigenen Lernprozessnicht nur zu planen, sondern auch effektiv in Ar-beitsgruppen durchzuführen und anschließend zuevaluieren, so dass für neue Lernprozesse entspre-chende Erkenntnisse und Konsequenzen gezogenwerden. Zu derartigen Gestaltungsaufgaben gehö-ren die Berücksichtigung der Fächerintegration,die Realisierung der Teamarbeit und die Ausfor-mulierung von Teilkompetenzen für die Lern- bzw.

Arbeitssituationen.Kremer u.Sloane (2000,S.81 f.)nennen folgende Merkmale zur Gestaltung vonLehr-/Lernarrangements:4 Fälle, Problem- oder Aufgabenstellungen aus

dem unmittelbaren Lebensraum der Auszubil-denden (beruflicher, gesellschaftlicher und/oder privater Bereich) werden in den Mittel-punkt des Lerngeschehens gesetzt. Durch diekasuistische Vorgehensweise verspricht mansich eine größere Affinität zu den subjektivenVorerfahrungen der Lernenden.

4 Die unterschiedlichen Erfahrungsräume, dieverschiedenartigen Wissensstrukturen und diekontrovers gemachten Lernerfahrungen derLernenden und letztendlich auch der Lehren-den sind Ausgangspunkt für das gemeinsameLernen.Die Lehrenden machen sich diese Indi-vidualisierungsprozesse zum Ausgangspunktihrer Planung.

4 Es liegt in der Eigenverantwortung der Lehre-rinnen und Lehrer, welche wissenschaftlichenErkenntnisse, Inhalte und Systematiken sie indie fallbezogene Arbeit integrieren.

4 Sich als Subjekt in dem Lernprozess zu sehen,eine kritische Distanz zu sich und seinen Fähig-keiten zu erhalten, aber auch das Vorgehen ineiner Arbeitsgruppe kritisch zu reflektieren,sind wichtige Ziele metakognitiver Kommuni-kation. Dies benötigt Zeit und muss von denLehrenden entsprechend berücksichtigt undangeleitet werden.

Leider liegen für den konkreten Unterricht, abervor allem für die einzelnen Ausbildungsberufenoch zu wenige pragmatische Unterrichtshilfen wiez. B. Unterrichtsmaterialien, Unterrichtsentwürfeund Erfahrungsberichte über die durchgeführtenLernsituationen vor (Zöllner 1999, S. 156). Hier er-scheint es sinnvoll, durch geeignete Netzwerke Er-fahrungsberichte und erprobte Unterrichtsmate-rialien ins Netz zu stellen, die dann allen Unter-richtskräften zur Verfügung stehen.

Inwieweit sich einzelne Bundesländer schonmit der veränderten curricularen Struktur auf derGrundlage der momentan vorliegenden APO (lern-feldstrukturierte Ausbildung) für die Altenpflege-ausbildung auseinander gesetzt haben, kann aus

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5.6 · Probleme der verschiedenen Implementierungsebenen5105

Platzgründen hier nicht dargestellt werden. Es istjedoch möglich, den aktuellen Stand der Entwick-lung auf den verschiedenen Umsetzungsebenen fürdie Altenpflegeausbildung nachzulesen (Schneider2001, S. 2–11).

Das Lernfeldkonzept ist seit den Handrei-chungen der KMK (1996 und 1999), vor al-lem im berufsbildenden Bereich, in allerMunde.Die Einführung lernfeldstrukturier-ter Curricula hat in den Berufsschulen zu er-heblichen persönlichen, strukturellen undorganisatorischen Veränderungen beige-tragen,die einerseits positiv bewertet wur-den, andererseits aber auch zu Unsicher-heiten und Problemen geführt haben. Indiesem Aufsatz werden die Gründe für dieEntstehung des Lernfeldkonzeptes arbeits-und berufspolitisch aufgezeigt und die sichdaraus ergebenden Konsequenzen für dieBerufsausbildung abgeleitet. BisherigeSchwachstellen, die durchgängig für alleBerufsausbildungen konstatiert werden,finden sich in einer Auflistung (s. unter5.1.3) wieder,damit der Perspektivenwech-sel, der durch das Lernfeldkonzept einge-leitet wurde, nachvollzogen werden kann.Um die Grundgedanken des Lernfeldkon-zeptes zu verorten, wird ein Verständnisdes Grundvokabulars gelegt. BesonderesAugenmerk erhalten die vier Säulen desLernfeldkonzeptes: Handlungskompetenz,Handlungsorientierter Unterricht, Fächer-integration und Teamarbeit. Der abschlie-ßende Teil des Aufsatzes widmet sich denverschiedenen Implementierungsebenen(Makro-, Meso- und Mikroebene) des Lern-feldkonzeptes und richtet den Fokus dabeivor allem auf die Ziele und Erwartungen,die aus verschiedener Sicht formuliert wer-den, aber auch auf die vielfältigen Proble-me, die zum Teil noch ungelöst sind.

3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung

In den . Tabellen 5.4 bis 5.8 sind Vorschläge für Zie-le, Handlungsschritte, Methoden und Medien nachUnterrichtsphasen geordnet dargestellt.

Leitfragen zur Überprüfung von Lernsituationen

4 1. Stellt die Lernsituation eine vollständigeHandlung dar?

4 2. Ist die Lernsituation berufsorientiert?4 3. Welche Kompetenzen werden in dieser Lern-

situation besonders gefördert?4 4. Sind die zu fördernden Kompetenzen rele-

vant für das Handlungsfeld?4 5. Wird die Berufsrealität ausreichend widerge-

spiegelt?4 6. Welche fächerintegrativen Inhalte gehören in

den Erklärungszusammenhang der Lernsitua-tion?

4 7. Ist die Aufgaben- und Problemstellung derLernsituation ausreichend komplex?

4 8. Ist der zeitliche Umfang der Lernsituationangemessen?

4 9. Bietet die Lernsituation dem Lerner Identifi-kationsmöglichkeiten?

4 10. Welche berufsspezifischen Methoden kom-men in der Lernsituation zum Tragen?

4 11. Ist die Lernsituation offen für Veränderun-gen und Ergänzungen?

4 12. In welcher Weise können regionalspezifi-sche Besonderheiten berücksichtigt werden?

4 13. Repräsentiert die Lernsituation das Typi-sche des jeweiligen Tätigkeitsfeldes? (Embacheru. Gravert 2000, Bader 1998 in Schneider et al.2001, S. 30).

3 Empfehlungen zum WeiterlernenIm Folgenden werden einige Hinweise gegeben,welche Bücher, Aufsätze sowie Unterrichtsentwür-fe für ein vertieftes Studium des Lernfeldkonzepteshilfreich sind.

Zusammenfassung

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106 Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept

. Tabelle 5.4. Einstiegsphase

Einstiegsphase

Ziele Handlungsschritte: Handlungsschritte: Methoden Medien(Sicht der TN und Lehrender Teilnehmer und der Lehrenden) Teilnehmerinnen

Die Leitung erhält Welche Vorkenntnisse TN erhalten einen – Einpunkt- – Vier Moderations-Kenntnisse über bzw.Vorerfahrungen Klebepunkt und punk- abfrage karten mit folgenden den Zugang (Vor- besitzen Sie in Hinblick ten entsprechend ihrer Kategorien beschriften wissen) der einzel- auf das Lernfeldkon- Vorkenntnisse auf den (sehr viel, viel, etwas,nen TN zept? vier vorgegebenen gar nicht)

Skalen – Klebepunkte

An den eigenen Wie haben Sie Ihre TN reflektieren ihre – Karten- – Grüne Karten:Erfahrungen der eigene Pflegeausbil- eigene Pflegeausbil- abfrage positive AspekteTN ansetzen, um dung erlebt? dung, halten ihre Erin- (jeweils – Blaue Karten:einen Bezug zur Erinnern Sie sich an nerungen schriftlich zwei Verbesserungs-Entstehung des positive wie auch ver- auf Karten fest Karten) würdige AspekteLernfeldkonzeptes besserungswürdige herzustellen Aspekte! (Augenmerk

auf schulische Aus-bildung)

. Tabelle 5.5. Erarbeitungsphase I

Erarbeitungsphase I

Ziele Handlungsschritte: Handlungsschritte: Methoden Medien(Sicht der TN und Lehrender Teilnehmer und der Lehrenden) Teilnehmerinnen

Ein vertieftes Verständ- Den TN zur Erarbeitung TN lesen sich in EA in Einzelarbeit – Textenis des Lernfeldkon- Texte geben über: die Texte ein. Sie bilden (EA) – Moderationskartenzeptes erhalten Handlungs-,Tätigkeits- Gruppen, schreiben – Stifte

und Lernfelder, Lern- die einzelnen Begriffe Arbeitsgleiche – MetaplanpapierEinen subjektiven, situation, Handlungs- auf Moderationskarten Gruppenarbeit – Moderationswändementalen Zugang zu kompetenz, handlungs- und finden in der GA (aGA) – Nadelnder Thematik eröffnen orientierter Unterricht, eine gemeinsame – Klebestifte

Fächerintegration, kognitive Struktur. Strukturlege-Teamarbeit usw. Die Karten werden auf plan

Metaplanpapier auf-In GA die Begriffe in geklebt,Verbindungs-eine kognitive Struktur linien ziehen, Begriffe legen, aufkleben und in evtl. doppeln und ein Rahmenkonzept eine Überschrift einbinden formulieren.

Der Graphik eine Über- Die Produkte werden schrift geben von den einzelnen

Gruppen vorgestellt Diskussionsleitungübernehmen, um die Ergebnisse zu verorten

Hinweis: Es gibt weder richtige noch falsche Ergebnisse, sondern gruppenspezifischeProdukte.

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5.6 · Probleme der verschiedenen Implementierungsebenen5107

. Tabelle 5.6. Erarbeitungsphase II

Erarbeitungsphase II

Ziele Handlungsschritte: Handlungsschritte: Methoden Medien(Sicht der TN und Lehrender Teilnehmer und der Lehrenden) Teilnehmerinnen

Bisherige Erkenntnisse Beurteilen Sie folgende TN besorgen sich über – Internet- – PC mit Internet-anwenden und z.T. Lernsituation: »Pflege das Internet: benutzung anschlussvertiefen alter Menschen mit ein- http://www.nibis.ni. – aGA – Folien/Folienstifte

geschränkter Funktion schule.de/haus/dez3 – PräsentationEinen unterrichts- von Sinnesorganen«.praktischen Bezug Materialien zu Lern-erhalten Benutzen Sie dazu die feldern. Sie greifen

unten aufgeführten die auf Seite 17 dar-Leitfragen. gestellte Lernsituation

für die Berufsfach-schule Altenpflege (Niedersachsen) heraus.

In Gruppenarbeit beur-teilen die TN anhand der Leitfragen die vor-liegende Lernsituation.Ihre Ergebnisse halten sie schriftlich fest und stellen sie dem Plenum vor.

. Tabelle 5.7. Erarbeitungsphase III

Erarbeitungsphase III

Ziele Handlungsschritte: Handlungsschritte: Methoden Medien(Sicht der TN und Lehrender Teilnehmer und der Lehrenden) Teilnehmerinnen

Sich des Spannungs- Welche Chancen bzw. Anhand des Aufsatzes – aGA – Text (Aufsatz)feldes zwischen theo- Probleme/Risiken können direkt und – Präsentation – Moderationskartenretischen Erfordernis- sehen Sie bei der Um- indirekt Chancen und (in vier Farben)sen und praktischen setzung des Lernfeld- Risiken abgeleitet – Vorgefertigte Wolken Realisierungsmöglich- konzeptes? werden. mit den Begriffen:keiten bewusst werden – Für die Lehrenden, Chancen und Prob-

– für die Lehrerteams, Die TN erhalten Kartei- leme– für die Auszubilden- karten in vier verschie- – Stifte

den, denen Farben. – Nadeln– und für die – Moderationswände

Institution Schule In aGA erarbeiten die TN für die vier Aspekte jeweils Chancen und Probleme. (Pro Aspekt sollten nicht mehr als drei Karten geschrie-ben werden).

Die Ergebnisse werden dem Plenum vorgestellt.

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108 Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept

Bücher

Bader R, Müller M (2002) Vom Lernfeld zur Lernsi-tuation. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschafts-pädagogik. Bd 98, Heft 1: 71–85

Hierbei handelt es sich um einen der erstenAufsätze, die einen Zwischenbericht über SELUBA(Steigerung der Effizienz neuer Lernkonzepte undUnterrichtsmethoden in der dualen Berufsausbil-dung), einen Modellversuchsverbund der LänderNRW und Sachsen-Anhalt, veröffentlicht haben.Bader u. Müller kommen aufgrund von systemati-schen Beobachtungen in Workshops zu unter-schiedlichen Typisierungen bei der Transformati-onsarbeit des Lernfeldkonzeptes in Schulen. DerAufsatz ermöglicht es Lehrern und Lehrerinnen,sich nach einer vorgegebenen Matrix selbst zu ver-orten wie auch Anregungen und Empfehlungen fürdie eigene Implementierung aufzunehmen.

Clement U (2002) Lernfelder im ‘richtigen Le-ben’ – Implementationsstrategie und Realität desLernfeldkonzeptes. In: Zeitschrift für Berufs- undWirtschaftspädagogik. Bd 98, Heft 1: 26–70

Dieser Aufsatz widmet sich zwei Fragestellun-gen innerhalb der Implementierung des Lernfeld-konzeptes. Der erste – theoretische – Teil stellt un-terschiedliche Ansätze zur Erklärung von Innova-tionshemmnissen an Schulen dar.Der zweite Teil istein Erfahrungsbericht, der die Praxiserfahrungendes Schulversuches »Lernfeldkonzeption an ge-werblichen Schulen in Baden-Württemberg« nachfolgenden Kategorien vorstellt: Akzeptanz, Stun-

dentafel, Curriculare Umsetzung, Wissensvermitt-lung, Methodische Innovationen und Leistungsbe-urteilung.

Huisinga R, Lisop I, Speier HD (1999) Lernfeld-orientierung. Konstruktion und Unterrichtspraxis.Verlag der Gesellschaft zur Förderung arbeits-orientierter Forschung und Bildung, Frankfurt a.Main

Dieses sehr umfangreiche Buch (476 Seiten) be-inhaltet sowohl Aufsätze von Autoren und Autorin-nen, die das Lernfeldkonzept befürworten als auchsolchen, die besondere Gefahren sehen sowie eini-gen, die den Handreichungen der KMK mehr alsskeptisch gegenüber stehen.Ein wichtiges Anliegender Autorenschaft ist es deshalb, rund um die Pro-blematik der Lernfeldorientierung aufzuklären.Deshalb richtet sich das Buch an alle Betroffenenwie an Akteure, die an der Curriculumentwicklungbeteiligt sind, dazu gehören auch die Ministerienund Landesinstitute für Lehrerfort- und -weiterbil-dung,an Lehrende von tertiären Einrichtungen wieUniversitäten, Fachhochschulen und Studiensemi-naren.Des Weiteren richtet sich das Buch aber auchan alle Lehrerinnen und Lehrer, die mit der prakti-schen Umsetzung des Lernfeldkonzeptes bislangallein gelassen werden.

Lipsmeier A, Pätzold G (2000) Lernfeldorientie-rung in Theorie und Praxis. Beiheft Nr. 15. Zeit-schrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik he-rausgegeben von Dubs R, Heid H, Lipsmeier A,Pätzold G. Franz Steiner, Stuttgart

. Tabelle 5.8. Auswertungsphase

Auswertungsphase

Ziele Handlungsschritte: Handlungsschritte: Methoden Medien(Sicht der TN und Lehrender Teilnehmer und der Lehrenden) Teilnehmerinnen

Eine persönliche Wie würden Sie sich Auf dem Boden ist ein Kreppband – Selbstdar- – KreppbandHaltung zum Lern- in Bezug zum Lernfeld geklebt, an dessen einem Ende stellung und – 2 Smiliesfeldkonzept ent- verorten? sich ein befindet, an dem Selbst- /wickeln und diese anderen Ende ein . reflexionkommunizieren

Die TN nehmen entsprechend der Fragestellung auf der geraden Linie (mit ihrem Körper) eine Position ein. Jeder begründet nun,warum er dort steht.

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5.6 · Probleme der verschiedenen Implementierungsebenen5109

Dies mit Fug und Recht erste umfangreicheSammelwerk zum Lernfeldkonzept ist in vier über-geordnete Kapitel eingeteilt. Teil A beschäftigt sichmit Grundsatzfragen zur Lernfeldorientierung.Hier stellen verschiedene Autoren und Autorinnenunterschiedliche theoretische Sichtweisen zumLernfeldansatz dar. Teil B: Begründung ist schwer-punktmäßig den historischen und theoretischenWurzeln bzw. Hintergründen gewidmet. Der sichanschießende Teil C: Umsetzung zeigt einerseitsBeispiele aus verschiedenen Ausbildungsberufenauf, andererseits werden aber auch erste Erfahrun-gen aus der Sicht der Lehrenden vorgestellt. DenAbschluss des Buches stellen vier Aufsätze dar, diesich den verschiedenen Stellungnahmen des Lern-feldkonzeptes widmen.

Kremer HH u. Sloane PFE (2001) Lernfelder im-plementieren. Zur Entwicklung und Gestaltung fä-cher- und lernortübergreifender Lehr-/Lernarran-gements im Lernfeldkonzept. Wirtschaftspädagogi-sches Forum, Bd 10. herausgegeben von Euler D,Sloane FE. Eusl, Paderborn

Dieses Buch stellt eine befruchtende Verbin-dung zwischen anwendungsorientierter Forschung(Modellversuchsverbund NELE zur Implementie-rung des Lernfeldkonzeptes) und der Grundlagen-forschung (Projekt: Fächer- und lernortübergrei-fender Unterricht, welches im Schwerpunktpro-gramm »Lehr-/Lernprozesse in der kaufmänni-schen Erstausbildung« der Deutschen Forschungs-gemeinschaft verankert war) dar.

Bader R u. Sloane PFE (Hrsg) (2000) Lernen inLernfeldern. Theoretische Analysen und Gestal-tungsansätze zum Lernfeldkonzept. Eusl, MarktSchwaben

Dieses Buch von 240 Seiten ist das Ergebniseiner gemeinsamen Tagung der BLK-Modellversu-che NELE und SELUBA, welche am 25. und 26. No-vember 1999 in Madgeburg stattfand.Diese Tagungwurde sowohl von Praktikern als auch Wissen-schaftlern getragen.Im Mittelpunkt standen vor al-lem Antworten und Lösungsansätze zu Fragen imKontext der Implementierung des Lernfeldkonzep-tes. Des Weiteren werden in dem Buch Chancenund Probleme im Kontext des Lernfeldkonzeptesvorgestellt, Aussagen zum Verhältnis von beruf-lichen Handlungsfeldern und wissenschaftlichenSystemen getroffen sowie Aspekte der Gestaltung

von lernfeldstrukturierten Rahmenlehrplänen vor-gestellt. Wer sich einen schnellen Überblick überdie Fachtagung verschaffen möchte, sei auf denAufsatz von Berger und Diehl hingewiesen.

Pahl JP (2001) Arbeitsorientierte Lernfelder. Di-daktisch-methodische Konzepte für Berufsschulenim Rahmen elektrotechnischer Erstausbildung. Do-nat, Bremen

Die Autoren des Bandes stellen Beiträge zurEntwicklung eines arbeitsorientierten Lernfeld-konzeptes vor. Aus der Erprobung und Evaluationvon arbeitsorientierten Lernfeldern werden ausunterschiedlicher Sicht verschiedene Probleme undErgebnisse zusammengetragen. Das Buch richtetsich vor allem an Studierende und Berufsschulleh-rer,die sich mit der elektrotechnischen Grund- undFachbildung an Berufsschulen befassen. Trotzdemkann dieses Buch auch zum vertieften Studium derallgemeinen Problematik mit dem Lernfeldkonzeptempfohlen werden.

Zeitschriften

Berufsbildung (2000) bb-thema: Lernfeld-Konzept.54 Jhg. Heft 61

Diese allgemein berufspädagogische Zeit-schrift griff als eine der ersten Zeitschriften dieThematik des Lernfeldkonzeptes auf und widmetedie Heft-Nr. 61 dem Schwerpunktthema »Lernfeld-Konzept«. Auf 40 Seiten versuchen unterschiedli-che Autoren, der Leserschaft sowohl den theoreti-schen Hintergrund als auch praktische Beispieleaus verschiedenen Ausbildungsberufen näher zubringen. Ebenso erfolgt eine bildungspolitischeVerortung des Lernfeldkonzeptes.

Berufsbildung (2001) bb-thema: Umgang mitLernfeldern – erste Erfahrungen. 55 Jhg. Heft 70

Fast 1 1/2 Jahre später greift diese Fachzeitschriftdie Problematik des Lernfeldkonzeptes noch ein-mal auf,setzt sie allerdings unter einer anderen Fra-gestellung fort,nämlich: Welche Erfahrungen posi-tiver wie auch negativer Art wurden bislang in denunterschiedlichen Ausbildungsgängen bzw. Schu-len gemacht? Den auf fast 30 Seiten dargestelltenErfahrungsberichten verschiedener Lehrerteams inunterschiedlichen Ausbildungsberufen wird einekurze Zwischenbilanz und Literaturauswahl zurLernfeldorientierung vorangestellt.

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110 Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept

Unterricht Pflege (2001) Schwerpunkt: Lern-feldkonzept – Teil 1. 6. Jhg. Heft 1. Prodos, Brake

Bei dieser einschlägigen Zeitschrift für Lehre-rinnen und Lehrer für Pflegeberufe sowie Pfle-gepädagogen stehen in der Ausgabe 1/2001 (März2001) theoretische Grundlagen des Lernfeldkon-zeptes im Vordergrund.Besonders hervorstechendsind die vielen graphischen Elemente, die versu-chen, die theoretischen Grundlagen anschaulicherzu gestalten und auf die Pflegeausbildung zu trans-formieren. Des Weiteren wird ein handlungsorien-tiertes Konzept mit vielfältigen Methoden für dieberufliche Ausbildung vorgestellt.

Auch wenn für Pflegeschulen (Kranken- undKinderkrankenpflegeschulen), mit Ausnahme derBerufsfachschulen für Kranken- und Kinderkran-kenpflege in Bayern keine Verpflichtungen für dieUmsetzung der Lernfeldorientierung existieren,greift diese Zeitschrift das zukunftsweisende Kon-zept auf. Für die Altenpflegeausbildung zeichnetsich diese Situation anders ab, wenn das Bundesal-tenpflegegesetz demnächst verabschiedet wird.

Unterricht Pflege (2001) Schwerpunkt: Lern-feldkonzept – Teil 2. 6. Jhg. Heft 2. Prodos, Brake

Der Teil 1 des Lernfeldkonzeptes (TheoretischeGrundlagen) wird durch den Teil 2 (praktische Er-fahrungen) komplettiert. Neben einem Grund-lagenaufsatz, der der veränderten Lehrerrolle imLernfeldkonzept gewidmet ist, stehen Erfahrungenmit der Einführung des Lernfeldkonzepts in derAltenpflegeausbildung im Mittelpunkt.So wird un-ter anderem eine schulinterne Lehrerfortbildungan einer Altenpflegeschule zum Lernfeldkonzeptvorgestellt, aber auch ein Leitfaden, der für Teamspraktisch genutzt werden kann, wenn mit der Im-plementierung des Lernfeldkonzeptes begonnenwerden soll.

Unterricht Pflege (2001) Lernsituation: Pflegeund Krankheitserleben von Menschen mit Bewe-gungseinschränkung – am Beispiel der chronischenErkrankung Osteoporose. 6.Jhg.Heft 5.Prodos,Brake

Diese Ausgabe begleitet ein zugeordnetesGrundlagenheft, welches eine ausgearbeitete Lern-situation mit kompletten Lernmaterialien für einenPflegeunterricht darstellt. Das Lehrerheft beinhal-tet zwei wesentliche Schwerpunkte.Zum einen wer-den Konstruktionsprinzipien zur Gestaltung vonLernsituationen vorgestellt, zum anderen werdenzu der Thematik »Pflege und Krankheitserleben

von Menschen mit Bewegungseinschränkung – amBeispiel der chronischen Erkrankung Osteoporo-se« pflegewissenschaftliche Vertiefungsaufsätze an-geboten (z.B.Pflegediagnosen,Osteoporose,Pflegevon chronisch erkrankten Menschen). Ebenso er-hält der Lehrende wichtige didaktische Hinweisefür die unterrichtliche Umsetzung und Auflösun-gen zu den Lernaufgaben.

Schneider K,Welling K (2002) Pflege und Krank-heitserleben von Menschen mit Bewegungsein-schränkung – am Beispiel der chronischen Erkran-kung Osteoporose. Grundlagen der Pflege für dieAus-, Fort- und Weiterbildung. Heft 10. Prodos,Brake

Das Grundlagenheft, das sowohl in der Aus-,Fort- und Weiterbildung eingesetzt werden kann,ist so konzipiert,dass es vom Rezipienten als Selbst-lernmaterial genutzt werden kann.Der Lerner wirdinhaltlich durch die Lernsituation geführt.Diese auf44 Seiten konzipierte fallorientierte Handlungs-systematik beinhaltet alle an sie gestellten theoreti-schen Prinzipien der Lernfeldorientierung. DerEinsatz des Heftes ist auch ohne Vorhandensein desLernfeldkonzeptes für den Pflegeunterricht in Kran-ken- und Kinderkrankenpflegeschulen möglich.

Internetadressen

http://www.lernfelder.schule-bw.de/http://www.isb.bayern.de/bes/vorhaben/

modellversuche/nele/http://www.seluba.dehttp://www.nibis.ni.schule.de/haus/dez3/index.htmhttp://www.kmk.org/beruf/home.htmhttp://fls.bonn.de/service/lernfeld.htm

Literatur

Achtenhagen F (1998) Schlüsselqualifikationen. In: Euler D (1997)

Berufliches Lernen im Wandel – Konsequenzen für die Lern-

orte.Dokumentation des 3.Forums Berufsbildungsforschung

1997 an der Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen Nürn-

berg, S 649–659

Aebli H (1983) Zwölf Grundformen des Lehrens, 1. Aufl. Klett, Stutt-

gart

Arnold R (1995) Lebendiges Lernen – Auf dem Weg zu einer neu-

en Lernkultur. In: Neuland M (1995) »Schüler wollen Lernen«

– Lebenslanges Lernen mit der Neuland-Moderation. Neu-

land, Eichenzell

Arnold R (1998) Kompetenzentwicklung.Zeitschrift für Berufs- und

Wirtschaftspädagogik. Bd 94, Heft 4: 496–504

Page 125: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

5.6 · Probleme der verschiedenen Implementierungsebenen5111

Arnold R, Schüßler I (1998) Wandel der Lern-Kulturen. Ideen und

Bausteine für ein lebendiges Lernen.Wissenschaftliche Buch-

gesellschaft, Darmstadt

Bader R (1998) Das Lernfeld-Konzept in den Rahmenlehrplänen. In:

Die berufsbildende Schule. 50. Jhg. Heft 7–8: 211–234

Bader R (2000) Kommunikative Kompetenz. In: Die berufsbildende

Schule. 52. Jhg. Heft 7–8: 211–212

Bader R, Müller M (2002) Vom Lernfeld zur Lernsituation. In: Zeit-

schrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Bd 98, Heft 1:

71–85

Bader R, Müller M (2002) Leitziel der Berufsbildung: Handlungs-

kompetenz.Anregungen zur Ausdifferenzierung des Begriffs.

In: Die berufsbildende Schule 54. Jhg. Heft 6: 176–182

Bader R, Ruhland HJ (1996) Kompetenz durch Bildung und Beruf.

In: Schaube W (Hrsg) Handlungsorientierter Unterricht für

Praktiker. Ein Unterrichtskonzept macht Schule, 2. Aufl. Wink-

lers, Darmstadt, S 30 – 33

Bader R, Schäfer B (1998) Lernfelder gestalten. Vom komplexen

Handlungsfeld zur didaktisch strukturierten Lernsituation. In:

Die berufsbildende Schule. 50. Jhg. Heft 7–8: 229–234

Beck U (1986) Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Mo-

derne. Suhrkamp, Frankfurt a. M.

Bildungskommission NRW (1995) Zukunft der Bildung – Schule

der Zukunft, Denkschrift der Kommission beim Ministerpräsi-

denten des Landes Nordrhein-Westfalen. Luchterhand, Neu-

wied Kriftel Berlin

Büssing A, Herbig B, Ewert T (2000) Intuition als implizites Wissen.

Bereicherung oder Gefahr für die Krankenpflege? In: Pflege.

13. Jhg. Heft 5: 291–296

Büssing A, Herbig B, Ewert T (2002) Implizites Wissen und erfah-

rungsgeleitetes Arbeitshandeln. Entwicklung einer Methode

zur Explikation in der Krankenpflege. In:Zeitschrift für Arbeits-

und Organisationspsychologie. Bd 46, Heft 1: 2–21

Bungard W (1995) Team- und Kooperationsfähigkeit. In: Sarges W

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Buschfeld D (1996) Versuchung und Versprechen – Thesen zum

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Buschfeld D (1999) Teamteaching. In: Kaiser FJ, Pätzold G (Hrsg)

Wörterbuch Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Julius Klink-

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Czycholl R (1999) Handlungsorientierung. In: Kaiser FJ, Pätzold G

(Hrsg) Wörterbuch Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Julius

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Dubs R (2000) Lernfeldorientierung: Löst dieser neue curriculare

Ansatz die alten Probleme der Lehrpläne und des Unterrich-

tes an Wirtschaftsschulen? In: Lipsmeier A, Pätzold G (Hrsg)

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schrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, S 15–32

Effert K, Grundei K, Lange W (1996) Two Dys Kaizen Activity. Hand-

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Schaube W (Hrsg) Handlungsorientierung für Praktiker. Ein

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Von der funktionalen zur ganzheitlichen Pflege. Verlag für

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Erpenbeck J, Heyse V (1999) Die Kompetenzbiographie.Strategien

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und multimediale Kommunikation. Waxmann, Münster New

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Francis D, Young D (1989) Mehr Erfolg im Team. Ein Trainingspro-

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112 Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept

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5.6 · Probleme der verschiedenen Implementierungsebenen5113

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Page 128: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

6

Orientierungshilfen für dieEinführung von Handlungs-orientierung

Kordula Schneider

6.1 Was ist handlungsorientierter Unterricht? 117

6.1.1 Zielsetzung und Einordnung 117

6.1.2 Arbeitsdefinition 117

6.1.3 Erzeugungs- versus Ermöglichungsdidaktik 121

6.1.4 Merkmale handlungsorientierten Unterrichts 123

6.2 Welche Entwicklungsschritte

bzw. Phasen sind für die Einführung

von Handlungsorientierung wichtig? 126

6.2.1 Phase I: Lehrende integrieren Basiselemente

handlungsorientierten Unterrichts 128

6.2.2 Phase II: Lehrende ermöglichen Partizipation

der Lernenden 129

6.2.3 Phase III: Lehrende führen eine gemeinsame Planung

mit Lernenden durch 133

6.2.4 Schwierigkeiten bei der sukzessiven Einführung

von handlungsorientiertem Lernen 135

6.2.5 Veränderte Rolle der Lehrenden und Lernenden 142

Page 129: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

6

116 Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung

> Thesen5 Die folgenden Äußerungen,Definitionen und

Statements stammen von Lehrerinnen und

Lehrern aus dem Gesundheits- und Pflegebe-

reich, die in den letzten zehn Jahren verschie-

dene meiner Fortbildungsveranstaltungen zu

der Thematik »Handlungsorientierter Unter-

richt« besucht haben.

5 Handlungsorientierter Unterricht ist:

5 » ... Lernen, bei dem man einen gemeinsa-

men Start hat und ein gemeinsames Ziel

verfolgt.«

5 » ... zirkuläres Lernen, bei dem alle Sinne

(Kopf, Herz und Hand) beteiligt sind.«

5 » ... gemeinsames Lernen, wo Emotionen

ihren Platz haben.«

5 » ... Lernen, das den ganzen Menschen

berücksichtigt und ihn in seiner Entwick-

lung fördert.«

5 » ... momentan für mich ein Achtungsschild

mit Baustelle.«

5 » ...dann erfüllt, wenn die Schüler im Demo-

raum z. B. eine Lagerung durchführen.«

5 » ...für die Lehrenden und Lernenden wie ein

Überraschungspaket, beide wissen nicht,

was auf sie zukommt.«

5 »Das Ziel kann im handlungsorientierten

Unterricht auf unterschiedliche Weise er-

reicht werden.«

5 »Lehrer und Schüler sind gleichberechtigt

und kommunizieren untereinander.«

3 Berufliche Handlungskompetenzen

2 FachkompetenzMerkmale des handlungsorientierten Un-

terrichts aus den verschiedenen Ansätzen

ableiten und Gemeinsamkeiten und Unter-

schiede herausstellen.

Die Entwicklung von der Erzeugungsdidak-

tik zur Ermöglichungsdidaktik erklären und

durch geeignete didaktische Prinzipien be-

legen.

Dem Lernprozess der Lernenden entspre-

chend den Einsatz verschiedener Planungs-

raster zur Einführung von Handlungsorien-

tierung auswählen und begründen sowie die

wesentlichen Unterschiede differenzieren.

2 Personalkompetenz

Die eigene Position in Bezug auf die Ein-

führung handlungsorientierter Bildungs-

prozesse finden und sich über Schwierig-

keiten des Implementierungsprozesses klar

werden.

2 SozialkompetenzUnterschiedliche Deutungsmuster der

Handlungsorientierung in Gruppen aus-

tauschen, eigene Vorstellungen überden-

ken und ggf. neue Zugänge entwickeln.

2 MethodenkompetenzDie gestuften Planungsraster für die Ein-

führung des handlungsorientierten Unter-

richts einsetzen bzw. umsetzen und die da-

mit erworbenen Erfahrungen konstruktiv

bewerten und weiterentwickeln.

Unterrichtliche Beispiele für die Merkmals-

ausprägungen handlungsorientierten Un-

terrichts entwickeln, sie methodisch ein-

ordnen und den Phasen der drei Planungs-

raster systematisch zuordnen.

2 Kommunikative KompetenzEigene Einstellungen, Vorurteile und Deu-

tungen in Bezug auf handlungsorientierten

Unterricht für sich definieren und mit Kolle-

ginnen kommunizieren und reflektieren.

3 PraxisrelevanzHandlungsorientierung im Unterricht ist in der Be-rufsfelddidaktik als ein möglicher Weg zu sehen,der Lösungsmöglichkeiten für vielfältige Problemeinnerhalb der Unterrichtsgestaltung bietet.

Die theoretische Anerkennung des Konzepteshat allerdings nicht dazu geführt, dass Handlungs-orientierung sich im berufskundlichen Unterrichtüberall wiederfindet. Lehrende im Bereich Pflegestehen immer wieder vor der Herausforderung,handlungsorientierten Unterricht neu einzuführenbzw.weiterzuentwickeln.Der große Schritt von dertheoretischen Erfassung der didaktischen Theoriebis zur Umsetzung im eigenen Unterricht soll durchdie hier vorgestellten Planungsraster erleichtertwerden. Sie helfen überdies, mit den Lernenden

Page 130: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

6.1 · Was ist handlungsorientierter Unterricht?6117

schrittweise in den handlungsorientierten Unter-richt einzusteigen.

Die folgenden Ausführungen und Strukturie-rungshilfen richten sich an alle, die im Gesund-heits- und Pflegebereich sowohl in der Aus- alsauch in der Fort- und Weiterbildung diesen Ansatzmit Schülern und mit Teilnehmern der Erwachse-nenbildung gestalten wollen. Berufserfahrene Leh-rer und Lehrerinnen bzw. Dozenten und Dozentin-nen können diese Planungsraster nutzen, um ihreeigenen Planungsroutinen zu überprüfen bzw. ab-zugleichen.

Planungsraster skizzieren idealisierte Abläufevon Unterricht bzw. Seminaren; die Unterrichts-bzw. Seminarrealität sieht aber sehr häufig andersaus. Von diesen leidvollen Erfahrungen berichtenReferendare und Referendarinnen, wenn sie dieersten Unterrichtserfahrungen gemacht haben.

Bei allen Vorzügen der Planungskompetenzmuss ebenfalls berücksichtigt werden,dass Prozes-se bzw. Interaktionsprozesse zwischen Lehrendenund Lernenden nur bedingt planbar sind. JedeLernsituation ist einmalig und nicht wiederholbar(Becker 1984, S 205). Außerdem kann die Umset-zung von Handlungsorientierung nicht nur durchrezeptologische Handlungsanweisungen gefördertwerden, sondern vielmehr tragen eigenes Auspro-bieren und kritische Selbstreflexion sowie Rück-meldungen der Lernenden bzw. Teilnehmer effizi-enter zur Implementierung von handlungsorien-tiertem Lehren und Lernen bei.

3 Verfahrensstruktur (. Abb. 6.1)

6.1 Was ist handlungsorientierterUnterricht?

6.1.1 Zielsetzung und Einordnung

In der beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildunggilt heute unbestritten die Förderung der berufli-chen Handlungskompetenz.Mit diesem Leitziel der»Handlungskompetenz« korrespondiert in der Be-rufsfelddidaktik der Ansatz des handlungsorien-tierten Unterrichts. Dieser Zusammenhang liegtdarin begründet,dass Lernarrangements,die sich anschulischen aber auch beruflichen Handlungen ori-entieren, besonders prädestiniert sind, berufliche

Handlungskompetenz zu fördern. Die folgendenAusführungen richten sich demzufolge vor allem anLehrende,die sich bereits theoretisch mit der Hand-lungsorientierung auseinandergesetzt haben undder Überzeugung sind, dass sie dieses Konzept suk-zessive in ihren Unterrichts- bzw. Seminaralltag in-tegrieren wollen. Was ihnen vielleicht fehlt, ist einekonkrete Hilfestellung bzw. ein Planungsraster, wiemit Lernenden bzw.Teilnehmern,die sich zu Beginnihrer Aus-,Fort- bzw.Weiterbildung befinden,hand-lungsorientiertes Lernen gestaltet werden kann.

Ein Konzept der kleinen Schritte wird auch vonGudjons (1987, S. 36) empfohlen, denn »zielorien-tiert eingesetzt und langsam,aber stetig erweitert«,kann, so konstatiert er, eine innere Schulreformvorangetrieben werden. Da es sich beim hand-lungsorientierten Unterricht nach Meyer u. Para-dies (1995, S. 30) um ein offenes Konzept handelt,das die aktuellen Geschehnisse des Schulalltags,derGesellschaft und letztendlich der in ihr lebendenSubjekte ständig integriert,können keine überdau-ernden Kriterien bzw. Kennzeichen benannt wer-den. Um den eigenen Unterricht bzw. das Seminarjedoch einerseits richtig zu dimensionieren (Pla-nungsaspekt) bzw. zu verorten und andererseitskritisch einschätzen zu können (Analyseaspekt),istes wichtig, eine eigene Vorstellung von der »Rein-form« handlungsorientierten Lernens zu entwi-ckeln (Bönsch 2000). Die drei Entwicklungsschrit-te bzw. Phasen zur Einführung des handlungsori-entierten Konzeptes stellen einen Versuch dar, sichder »Reinform« von Handlungsorientierung zunähern und handlungsorientiertes Lernen einzu-ordnen. Dieser Versuch folgt dabei der These vonHilbert Meyer »Wege entstehen beim Gehen« (Mot-to der pädagogischen Woche an der Universität Ol-denburg 1991).

6.1.2 Arbeitsdefinition

In der Literatur findet sich eine Vielzahl von hand-lungsorientierten Ansätzen bzw. Konzepten, dieentweder in der Schulpädagogik oder Berufspä-dagogik beheimatet sind. Diese unterschiedlichenUnterrichtskonzepte haben sich im Spannungsver-hältnis zwischen Schulpädagogik und Berufsbil-dungsforschung entwickelt und gehen grundsätz-lich auf drei Bezugstheorien zurück.

Page 131: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

6

118 Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung

. Abb. 6.1. Verfahrensstruktur

Page 132: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

6.1 · Was ist handlungsorientierter Unterricht?6119

Handlungsprodukte (HP) können folgendeFunktionen übernehmen (. s. Abb. 6.2)

5 HP sind gegenständlich-materielle, kogni-

tive und/oder immaterielle Ergebnisse des

gemeinsamen Unterrichts.

5 HP können einen schulischen, individuel-

len und/oder beruflichen Verwertungs-

charakter haben.

5 HP stellen ein Konglomerat von Lehr- und

Handlungszielen dar, das vergegenständ-

licht wird.

5 HP sind sowohl Motor als auch Struktur

der Produktions- bzw. Erarbeitungsphase.

5 HP ermöglichen den Abgleich zwischen

Planung und Durchführung.

5 HP machen sich selbst zum Gegenstand

der Reflexion und Evaluation.

5 HP erzeugen bei den Lernenden unter-

schiedliche Identifikationsmöglichkeiten.

5 HP ermöglichen bei ihrer Erstellung sozia-

les Lernen.

. Abb. 6.2. Die Einigungsphase – der neuralgische Punkt des handlungsorientierten Unterrichts

Page 133: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

Wichtig

6

120 Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung

1. Die materialistische Tätigkeitstheorie der kul-turhistorischen Schule sowjetischer Psycholo-gie. Hier werden zwei große Richtungen unter-schieden:a) die materialistische Lernpsychologie mit

der kulturhistorischen Schule von Wygots-ki, der Ausarbeitung der Tätigkeitstheorievon Leontjew und der Lerntheorie,der Leh-re von der etappenweisen Ausbildung geis-tiger Handlungen von Galperin.

b) die Handlungsregulationstheorie; sie stellteine Weiterentwicklung der Tätigkeitstheo-rie dar, die von Hacker in der Arbeitspsy-chologie aufgegriffen und von Volpert wei-terentwickelt wurde (Schapfel 1995,S.113 ff.).

2. Der systemtheoretische Ansatz, der auch alsHandlungsstrukturtheorie bezeichnet wird.Dieser Ansatz gehört zu einer Handlungstheo-rie, die aus den USA stammt und mit den Na-men Miller,Galanter und Pribram verknüpft ist(Czycholl 1999, S. 218 f.).

3. Die kognitive Handlungstheorie, die auf ent-wicklungspsychologische Erkenntnisse vonPiaget zurückgeht.Aebli,ein Schüler Piagets,hatdiese Erkenntnisse in seine Handlungstheorieeinfließen lassen (Pütz 1996, S. 20). Nach Aebliist »Denken: das Ordnen des Tuns« (Titel eineszweibändigen Werkes von Aebli).

Im Gegensatz zur Bezeichnung »Handlungsorien-tierter Unterricht«, die eher auf der kognitivenHandlungstheorie von Aebli fußt, wird mit der Be-zeichnung »Handelnder Unterricht« häufig auf diematerialistische Tätigkeitstheorie zurückgegriffen.Dennoch kann konstatiert werden, dass die derzei-tig vorliegenden Ansätze keine scharfe Trennungmehr erkennen lassen, sondern dass vielmehr eineVerschmelzung der verschiedenen Theorien statt-gefunden hat. Zwar liegen deutliche Trends für dieSchulpädagogik in der lernpsychologischen undkognitionspsychologischen Begründung nach Aeb-li vor,doch in der Berufsbildungsforschung bestehteine stärkere Bevorzugung der Handlungsregula-tionstheorie nach Hacker u.Volpert. In den berufs-pädagogischen Ansätzen zur Gestaltung der schu-lischen und betrieblichen Ausbildung sind dagegeneher Mischformen wieder zu finden.Sie vereinigenfolgende Ziele aus verschiedenen Theorien:

4 aus der Tätigkeits- und Aneignungstheorie diegesellschaftliche Fortentwicklung,

4 aus der Handlungsstrukturtheorie die kyber-netische Betrachtung des Handelns und dessenBegründungszusammenhang

4 und aus der kognitiven Handlungstheorie dieindividuelle Förderung des Denkens und Han-delns.

Alle Ansätze werden jedoch durch die grundlegen-de Annahme miteinander verbunden, dass derMensch aktiv und gezielt auf seine Umwelt ein-wirkt, sich mit ihr auseinandersetzt und für sichErfahrungs- und Handlungsspielräume schafft,umzukunftsbezogen handeln zu können.

Deshalb möchte ich in diesem Text den Begriff

»handlungsorientierter Unterricht« bzw.

»handlungsorientiertes Seminar« verwenden.

Hierunter ist ein offenes Konzept zu verste-

hen, das Schülern bzw. Teilnehmern einen

handelnden Umgang mit Gegenständen, In-

halten,Fragen oder Aufgaben ermöglicht.Da-

bei bildet die Handlung den Ausgangspunkt

des Lernprozesses. Eine Handlung wird als

»eine zielgerichtete,bewußte,zwischen Alter-

nativen entscheidende und auswählende

Tätigkeit verstanden« (Schaube 1996, S. 17).

Handlungsorientiertes Lernen ist meines Er-

achtens dann realisiert,wenn die Planung des

Lernprozesses integrativer Bestandteil des

Unterrichts- bzw. Seminargeschehens ist und

die Lernenden gleichberechtigte Partner in

der Planungs-, Durchführungs- und Evalua-

tionsphase sind.

Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine schrittweiseÜberführung von der Vermittlungs- bzw. Erzeu-gungsdidaktik zur Ermöglichungsdidaktik (Ar-nold u. Schüßler 1998, S. 120 ff.) nicht nur erstre-benswert, sondern auch sinnvoll und muss vonLehrenden gut angeleitet und begleitet werden.

Page 134: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

6.1 · Was ist handlungsorientierter Unterricht?6121

6.1.3 Erzeugungs- versusErmöglichungsdidaktik

Momentan erleben wir eine »subjektorientierteWende in der Didaktik« (Arnold u. Schüßler 1998,S. 123), indem die Essentials der Reformpädagogikeine Renaissance erleben.

7 Es wird wieder entdeckt, dass pädago-

gisch erfolgreiches Handeln lediglich

die Aneignungsprozesse der Lernenden

ermöglichen kann (Muster-Wäbs u.

Schneider 2001c, S. 20).

Deshalb muss »Lehren und Lernen (als) eine dia-lektische Einheit (gesehen werden), d. h. je mehrFührung ein Lehrender übernimmt, desto wenigerkann ein Lernender selbsttätig agieren« (Schneider2001, S. 30) und sich demzufolge auch weniger Er-kenntnisse eigenständig und aktiv aneignen. Leh-rende müssen deshalb geeignete Lernarrange-ments so konstruieren, dass die Lernenden ange-regt werden, »ihre Konstruktion von Wirklichkeitzu hinterfragen, zu überprüfen, weiterzuentwi-ckeln,zu verwerfen (oder) zu bestätigen« (Werning1998, S. 39ff). Dieses Phänomen der gegenseitigenAbhängigkeit bzw. Bedingtheit haben Arnold u.Schüßler (1998,S.120ff) in einer dichotom angeleg-ten Tabelle kontrastiert, indem sie entwicklungs-fördernde mit entwicklungshemmenden Aspektenvergleichen.Sie stellen die Paradigmen des mecha-nistischen Lernens (Erzeugungsdidaktik) denendes systemischen Lernens (Ermöglichungsdidak-tik) in einer Tabelle gegenüber. Dabei greifen sieauf Begriffe der humanistischen Psychologie wie»lebendiges Lernen« und »tötendes Lernen«zurück (Cohn u. Terfurth 1993, S. 388). Die Polari-sierung, die in der . Tabelle 6.1 abgebildet ist, zeigteinen Paradigmenwechsel von der Erzeugungs- zurErmöglichungsdidaktik auf. Diese pointierte Dar-stellung kann für die Gestaltung und Beobachtungvon handlungsorientiertem Lernen sehr hilfreichsein.

Um angemessene Übergänge von der Erzeu-gungs- zur Ermöglichungsdidaktik für Lerner-gruppen zu gestalten, müssen unterschiedlicheStrategien im Bereich der inhaltlichen und metho-dischen Vorgehensweisen greifen.Eine Möglichkeitist durch die von mir entwickelte »Methodentrep-

pe« gegeben (Schneider 2001, S. 32). Hier werdenMöglichkeiten vom Lehrer-Schüler-Gespräch bishin zur Projektarbeit aufgezeigt, die sowohl imKontext der Erzeugungs- als auch Ermöglichungs-didaktik stattfinden können.

Der Verlauf der Methoden,vom Lehrer-Schüler-Gespräch bis zur Projektarbeit, kann einmal durchdie Brille der Erzeugungsdidaktik betrachtet wer-den und ein anderes Mal durch die Brille der Er-möglichungsdidaktik.Eindeutig lässt sich das Kon-tinuum der Handlungsorientierung erkennen: Diehier beispielhaft aufgeführten Methoden kommensowohl innerhalb der Erzeugungsdidaktik (In-struktionslernen) als auch innerhalb der Ermögli-chungsdidaktik (Handlungslernen) zum Tragen(Halfpap 1996b,S.37 f.).Doch trotz dieser Überein-stimmungen existieren gravierende Unterschiedezwischen beiden Unterrichtskonzepten.

Anhand der unterschiedlichen Gestaltung ei-ner Gruppenarbeit möchte ich dies verdeutlichen.Bei der Vermittlungsdidaktik plant der Lehrendedie Gruppenarbeit, er teilt sie inhaltlich, organisa-torisch und zeitlich ein, bestimmt das Endproduktund die Präsentation der Gruppenarbeit. Schülerarbeiten dann anhand von bereitgelegten Materia-lien selbsttätig und werden vom Lehrer begleitet(Schneider 2001, S. 31).Ganz anders sieht es bei derErmöglichungsdidaktik aus.Auf der methodischenEbene können Lernende zu Beginn mitentscheidenbzw. mitplanen. Bei zunehmender Kompetenz derLernenden können diese auch bei den Inhaltenbzw.Themen,bei den Bewertungskriterien und beiden organisatorischen Bedingungen mitentschei-den.

Auf den ersten Blick scheint .Abb.6.3 das Glei-che wiederzugeben, doch bei näherem Hinsehenwird der Unterschied zwischen Anfängern undfortgeschrittenen Lernergruppen in Bezug aufhandlungsorientiertes Lernen deutlich.

7 In der Ermöglichungsdidaktik werden

»Laien«, d. h. Auszubildende, die über

wenig Lernerfahrung mit handelndem

Unterricht verfügen, sukzessive über die

Methodenkomplexität zu einer Steige-

rung ihrer

5 Planungs-, Durchführungs- und

Evaluationskompetenz

Page 135: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

6

122 Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung

5 und ihrer Verantwortung für Ziel,

Prozess, Ergebnis und Bewertung

herangeführt.

5 Des Weiteren kommt es zu einer

Steigerung der Kopf-, Herz- und Hand-

beteiligung im Unterricht und nicht

zuletzt zu einer stärkeren Berücksichti-

gung von Erfahrungs- und Berufs-

bezug (Schneider 2001, S. 31).

Ziel einer jeden handlungsorientierten beruflichenAusbildung sollte es sein, dass die Lernenden im-mer mehr die Kompetenzen der Lehrenden (wiePlanung, Bewertung, Organisation und Koordina-tion) übernehmen.

. Tabelle 6.1. Paradigmenwechsel: Von der Erzeugungs- zur Ermöglichungsdidaktik. (Inhalte aus: Arnold u. Schüßler1998, S. 125, Dubs 1997, Muster-Wäbs u. Schneider 2001c, S. 20 f.; Schneider 1997, S. 6 f., Schneider 2001, S. 31)

Mechanistisches Bild vom Lernen = Systemisches Bild vom Lernen = »Totes Lernen« »Lebendiges Lernen«

Erzeugungsdidaktik Ermöglichungsdidaktik

(entspricht eher der (entspricht eher der traditionellen Bildung) konstruktivistischen Bildung)

Grundannahmen Die Lernprozesse sind linear angelegt; Die Lernprozesse werden komplex und vernetztdes Lernens Lernen erfolgt hauptsächlich nach dem dargeboten

Ursache-Wirkungsprinzip

Es erfolgt eine Vermittlung von engem Neben der Ermöglichung von Fachkompetenz berufsbezogenen Wissen werden auch die anderen Kompetenzen wie

Personal-, Sozial-, Methoden- u. Lernkompetenz sowie kommunikative Kompetenz gefördert

Es findet fremdorganisiertes Lernen statt Es findet selbstorganisiertes Lernen statt

Lernen ist ein von subjektiven Erfahrungen, Lern-strategien und Interessen abhängiger Prozess

Lernen unterliegt der Fachsystematik Lernen unterliegt der Handlungssystematik

Didaktische Der Unterricht ist häufig fremd Lernende formulieren ihre Ziele, erschließen sich Konsequenzen vorgeplant, stark strukturiert und auf selbstständig Wissen und organisieren ihren

Ergebnisse fixiert Lernprozess

Zieldimensionen Es besteht die Illusion der Machbarkeit, Eine Vielfalt von Lernwegen wird ermöglichtdass Lernprozesse durch Planung voll-ständig beherrschbar sind

Lehrerrolle Lehrende sind Experten für die Motiva- Lehrende sind Experten für das »Vorher« und tion der Lernenden, für die Inhalts-, »Nachher«Methoden- und Medienauswahl

Schülerrolle Der Schüler wird verplant, er ist passives Lernende eignen sich Selbsterschließungs-Mitglied und »konsumiert« unterricht- kompetenzen an, die sie befähigen, eigenständig liche Prozesse zu planen, diese Planung durchzuführen und sie

anschließend zu evaluieren

Interaktion Es besteht eine schwache Wechsel- Es finden intensive Kommunikations- und wirkung zwischen Lehrenden und Abstimmungsprozesse zwischen allen Beteiligten Lernenden sowie zwischen Lernenden stattund Lernenden

Page 136: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

6.1 · Was ist handlungsorientierter Unterricht?6123

6.1.4 Merkmale handlungsorientiertenUnterrichts

Handlungsorientiertes Unterrichten wird in der Li-teratur mit vielfältigen Begriffen wie »Merkmale«,»Prinzipien«,»Kennzeichen«,»Dimensionen« bzw.»Leitlinien« näher charakterisiert. Durch dieseKlassifizierung wird handlungsorientierter Unter-richt bzw. handlungsorientiertes Lernen zwarnäher beschrieben, was für den Unterrichtsprakti-ker bzw. die Unterrichtspraktikerin von enormerWichtigkeit ist, allerdings legitimieren und be-gründen Merkmale keine Handlungsorientierung(Gudjons 1997, S. 64). Sie helfen aber, sich anhandvon bestimmten Kriterien zu verständigen sowieUnterrichte bzw.Seminare nach bestimmten Leitli-nien zu planen, durchzuführen und zu evaluieren.Außerdem verhindern sie Beliebigkeit und ermög-lichen den Erfahrungsaustausch. Darüber hinauserheben die Merkmalslisten keinen Anspruch aufVollständigkeit und sind somit offen für Weiterent-wicklungen (Bastian 1995, S. 7). Trotz der unter-schiedlich veröffentlichten Ansätze besitzen die

Merkmalsbeschreibungen weitgehend gleiche in-haltliche Aussagen,obwohl sie unterschiedlich her-geleitet sind und auch auf unterschiedliche Adres-saten abzielen (z. B. Referendare und Lehramtsstu-denten sowie Berufsschullehrer und Ausbilder inder Praxis,aber auch Lehrerinnen im allgemein bil-denden Bereich). Im Folgenden werden sechs un-terschiedliche Ansätze aus der Schul-, Berufs- undArbeits- bzw. Betriebspädagogik vorgestellt.4 Gudjons (1980, S. 344–349, 1981, S. 15–23, 1997,

S. 65) entwickelte zehn Merkmale aus der Un-terrichtswirklichkeit, wobei seine Analyse vor-wiegend lernpsychologisch und soziologischangelegt ist.

4 Jank u.Meyer (1991,S.355ff) entwickelten siebenMerkmale,die dem Unterrichtenden aufzeigen,in welche Richtung sich der herkömmliche Un-terricht weiterentwickeln kann.

4 Halfpap (1996a, S. 22–25) formulierte fünfGrundsätze auf der Basis handlungsorientier-ten Lernens. »Sie werden aus der Lehrerper-spektive präzisiert, erweitert und berufspäda-gogisch akzentuiert« (Halfpap 1996a, S. 22).

. Abb. 6.3. »Methodentreppe« im Kontext von Erzeugungs- und Ermöglichungsdidaktik

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. Tabelle 6.2. Merkmale handlungsorientierten Unterrichts – eine Gegenüberstellung

Gudjons Jank u. Meyer Halfpap Bader Arnold u. Müller Laur-Ernst (1980, 1981, 1997) (1991) (1996) (1995, 1997, 2002) (1993) (1990)

Zehn Merkmale: Sieben Merkmale: Fünf Grundsätze: Zehn Ausprägungen: Zehn Thesen: Sieben Essentials:(Auswahl: acht) (Auswahl: sechs) (Auswahl: sieben) (Auswahl: fünf)

Interessen der Schüler Subjektive Subjektorientiert und Schülerinteressen bildungsgangbezogen

Erfahrungsbezogen Erfahrungsbezogen und Erfahrungsraum der Erfahrungsorientiertes problemorientiert Lernenden Lernen

Hand und Kopf Ausgewogenheit von Kopf- und Handarbeit

Schüleraktivität Selbstständiges Handeln Aktiv-konstruktiver und aktives Tun Gestaltungsprozess

Handlungsziele Handlungsprodukt Tätigkeitsstrukturiert Vollständige Handlung Lernen durch planvolles Arbeitsweltliche Realität und praxisbezogen (selbstständiges Planen, Handeln (ganzheitliche, mehr

Produktorientierung durchführen und kontrol- dimensionale Aufgaben-lieren bzw. bewerten stellungen)beruflicher Arbeit)

Berücksichtigung kogni- Problembezogene tionspsychologischer HandlungssystematikTheorien und/oder Hand-lungsregulationstheorien

Orientierung an Hand-lungsfeldern

Konkrete Handlungen,deren Ergebnis offen ist

Offenheit des Unterrichts Öffnung der Schule Offene, gestaltbareLernumwelt

Keine Einzelkämpfer Interaktionsbetont und Kooperatives Lernenberufsbezogen

Page 138: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung6125

4 Bader entwickelte zuerst (1995, S. 154) fünf Aus-prägungen handlungsorientierter Lernprozes-se für die berufliche Bildung. 1997 (S. 105–107)wurden diese spezifiziert und um zwei weitereergänzt. 2002 legte er (S. 71–73) drei weitereMerkmalsausprägungen handlungsorientier-ten Unterrichts vor. Diese Erweiterung ist auf-grund von Literaturergebnissen und zahlrei-chen Gesprächen mit Lernortkooperations-partnern aus Schule und Betrieb entstandenund ein Zeugnis dafür, dass die Konzepte zurBeschreibung von handlungsorientiertem Un-terricht sowohl offen als auch jederzeit ergänz-bar sind.

4 Arnold u. Müller (1993) kommen innerhalb desModellversuches »Ganzheitliches Lernen« zuzehn Ausprägungen handlungsorientiertenLernens in der Berufsschule. Sie sind sehr kon-kret formuliert und helfen, Unterricht zu ge-stalten und zu planen.

4 Laur-Ernst entwickelte sieben didaktische Leit-linien bzw.Essentials für die schulische und be-triebliche Ausbildung (Laur-Ernst 1990,S.48ff).Sie orientieren sich sehr stark an der Hand-lungsregulationstheorie.

Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden diesechs Merkmalsbenennungen der verschiedenenAutoren in der . Tabelle 6.2 aufgeführt und ge-genübergestellt. Auf eine detaillierte Einzelbe-schreibung der Merkmale wird verzichtet. Die Ta-belle ist so angelegt, dass Gemeinsamkeiten undUnterschiede auf den ersten Blick zu erkennensind.Merkmale,die nur einmal in einem Ansatz er-wähnt werden, finden sich in der Tabelle nicht wie-der; sie werden gesondert aufgelistet.

Die Tabelle 6.2 lässt drei Kategorien erkennen:4 Kategorie I: Hierzu gehören Merkmale, die bei

allen Autoren zu finden sind, jedoch mit ande-ren Begriffen belegt werden.

4 Kategorie II: In dieser Kategorie treten Merk-male auf, die bei fast allen Autoren, jedochebenfalls mit unterschiedlichen Begriffen, ge-nannt werden.

4 Kategorie III: In diese Kategorie fallen alleMerkmale, die nur einmal in einem Ansatz ei-nes Autors erwähnt werden.

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126 Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung

Zur Kategorie I gehören die Merkmale, die aus derKognitions- oder Handlungsregulationstheorieresultieren.Hierzu gehören Handlungsziele,Hand-lungsprodukt, problembezogene Handlungssyste-matik, vollständige Handlung, Lernen durch plan-volles Handeln, arbeitsweltliche Realität, Orientie-rung an Handlungsfeldern, konkrete Handlungen,deren Ergebnis offen ist,sowie das Merkmal »tätig-keitsstrukturiert« und »praxisbezogen«.

Bei der Kategorie II sind es vor allem die Merk-male: Interessen der Schüler,ganzheitliches Lernen,Erfahrungsbezug, Ausgewogenheit von Kopf- undHandarbeit, Offenheit im Unterricht, selbstorgani-siertes sowie kooperatives Lernen und Schülerakti-vität, die bei vielen Autoren in ihrer Merkmalsauf-zählung zum Tragen kommen. Hierbei handelt essich hauptsächlich um didaktische Prinzipien.Ak-tivierung der Sinne und Grenzen durch Systematikeines Faches werden nur bei Gudjons (1980, 1981,1997) genannt. Bader (2002, S. 71 ff.) hingegen be-nennt folgende Merkmale: Entwicklung und Ver-mittlung impliziten Wissens, unternehmerischeSelbstständigkeit und Kompetenzentwicklung zurBewältigung nicht voraussagbarer beruflicher, ge-sellschaftlicher und individueller Anforderungen.Arnold u. Müller (1993), die sehr praxisrelevanteMerkmale für die Gestaltung von Unterricht aufge-führt haben, finden keine vergleichbaren Merkma-le bei den anderen Autoren; sie fallen in die Kate-gorie III. Hierzu gehören: persönlichkeitsent-wickelndes Lernen, Lernen in Lernschleifen,Lernen nach dem Feedback-Prinzip,Methodenmixund exemplarisches Lernen.

Die Gegenüberstellung der verschiedenenMerkmale handlungsorientierten Unterrichts wur-de deshalb ausführlich dargelegt, weil sich fast alleMerkmale in den verschiedenen Planungsrasternvon handlungsorientiertem Unterricht wieder fin-den. Die folgenden drei Planungsraster (I, II u. III),realisieren in verschiedenen Phasen des Unter-richts unterschiedlichste Merkmale.Dabei nehmendie Merkmale verschiedene Funktionen wahr:4 Sie dienen als Strukturierungshilfe für den Un-

terrichtsablauf,4 sie definieren den Grad der Handlungsorien-

tierung,4 sie bestimmen die Intentionen der einzelnen

Phasen,

4 sie beeinflussen die methodischen und media-len Entscheidungen,

4 sie tragen zur Bestimmung der Lehrer- undSchülerrollen bei und

4 sie tragen dazu bei, dass die Planung, Durch-führung und Evaluation stringent verläuft.

6.2 Welche Entwicklungsschritte bzw.Phasen sind für die Einführung vonHandlungsorientierung wichtig?

Aufgrund jahrelanger eigener Unterrichtserfahrungin verschiedenen Bildungsgängen des Gesundheits-und Pflegebereiches sowie aus Beobachtungen vonHospitationen und Lehrproben schlage ich folgen-den Dreierschritt zur sukzessiven Einführung vonhandlungsorientiertem Unterricht vor:4 Phase I: Lehrende integrieren Basiselemente

handlungsorientierten Unterrichts: Dieser Un-terricht ist insbesondere für Lernergruppengeeignet, die sich im Anfangsstadium ihresLernprozesses befinden und über geringe Kom-petenzen im Bereich des eigenständigen Arbei-tens verfügen.Dementsprechend sollte der Leh-rende den Unterricht vorbereiten, durchführenund evaluieren (s. hierzu 6.2.1).

4 Phase II: Lehrende ermöglichen Partizipationder Lernenden: Dieser Unterricht kann vomLehrenden dann sinnvoll vorbereitet werden,wenn Lernergruppen bereits schon über gewis-se Kompetenzen im Bereich des selbstständi-gen Lernens, der Gruppenarbeit und der Ver-antwortung für sich und den anderen gegen-über verfügen (s. dazu 6.2.2).

4 Phase III: Lehrende führen eine gemeinsamePlanung mit Lernenden durch: Dieser Unter-richt kann vom Lehrenden so vorbereitet wer-den, dass die eigentliche Planungsarbeit Be-standteil des Unterrichts wird. Diese Art vonUnterricht ist für Lernergruppen geeignet, diegewohnt sind, Entscheidungen zu treffen, fürdiese verantwortlich zu sein und darüber hi-naus über ein Repertoire von Lern-,Methoden-und Sozialkompetenz verfügen (s. dazu 6.2.3).

Die . Tabelle 6.3 charakterisiert diese drei Phasenhandlungsorientierten Lernens und zeigt deutlichdie Entwicklung des Lern- und Lehrprozesses von

Page 140: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung6127

einer Erzeugungs- zu einer Ermöglichungsdidak-tik auf.

Die drei Schritte bzw. Phasen sind als kontinu-ierliche Entwicklung von Lernergruppen zu sehen,die für jede Klasse individuell ist und vom Lehren-den mit den Lernenden kommuniziert werdenmuss. Die Kommunikation stellt über alle Hand-lungsvollzüge eine wichtige, wenn nicht sogar diewichtigste Rolle im handlungsorientierten Unter-

richt dar. Schließt man sich der Definition von Ba-der (2000, S. 211) an, so bedeutet kommunikativeKompetenz »die Fähigkeit und Bereitschaft, Sach-verhalte und Befindlichkeiten auf dem Weg überverbale (gesprochene und geschriebene) und for-male (Formeln, Grafiken...), aber auch über non-verbale Mittel (durch Gestik und Mimik) auszutau-schen. Hierzu gehört es, eigene Absichten und Be-dürfnisse sowie die der Partner wahrzunehmen,zu

. Tabelle 6.3. Das Stufenmodell des handlungsorientierten Unterrichts

Phasen bzw. Phase I Phase II Phase IIIEntwicklungstufen/ Eher vermittelnder Eher Anbieten von hand- Eher mitgeplanter und Kennzeichnungen Unterricht lungsorientierten Lern- mitgetragener handlungs-

arrangements orientierter Unterricht

Lehrerhandlungen Lehrende integrieren Basis- Lehrende ermöglichen Par- Lehrende führen eine elemente handlungsorien- tizipation der Lernenden gemeinsame Planung mittierten Unterrichts Lernenden durch

Lernstand der Schüler Für Lernergruppen im Für Lernergruppen im fort- Für Lernergruppen im fort-Anfangsstadium ihres geschrittenen Anfangs- geschrittenen Stadium ihres Lernprozesses stadium ihres Lernprozesses Lernprozesses

Planungsart Fremdplanung unter starker Fremdplanung mit Partizi- Eigenplanung der LernendenBerücksichtigung der Hand- pationsmöglichkeiten der mit Unterstützung und lungsinteressen der Schüler Schüler. Beratung der Lehrendenund ihrer Handlungsmög-lichkeiten im Unterricht Lernende entscheiden über

Varianten wie z. B.:– Inhalte/Themen/

Lernsituationen– Methoden– Präsentationsmöglich-

keiten– Bewertungskriterien

Grad der Handlungs- Selbsttätigkeit der Schüler Mitbestimmung und Mitpla- Selbstorganisation des Lern-orientierung wird durch die Gestaltung nung der Schüler bei ver- prozesses,

des handlungsorientierten schiedenen Gestaltungs- Lernende übernehmen Unterrichts gefördert möglichkeiten des Unter- Verantwortung für ihren

richts eigenen Lernprozess.

Ziele Kompetenzzuwachs vor Selbstständigkeit der Emanzipation und Erweite-allem in den Dimensionen: Schüler und Schülerinnen, rung der beruflichen Hand-Lern-, Methoden- und höhere Identifikation mit lungskompetenzSozialkompetenz sowie dem eigenen Lernprozesskommunikativer Kompetenz und Erweiterung des Kom-

petenzerwerbs

Persönlichkeitsentwicklung

Page 141: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

6

128 Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung

verstehen und darzustellen. Es geht demnach umdas Verstehen und Gestalten kommunikativer Si-tuationen.« Sprache ist demzufolge »Mittel der Re-flexion und zugleich Voraussetzung der anzustre-benden Kommunikation« (Köck 1996, 62).

Die folgenden Planungsraster (I–III) sind so zuverstehen, dass sie auf einem Kontinuum von»planbaren« und »nicht planbaren« Elementen an-gesiedelt sind. Viele Aspekte ergeben sich erst imProzess selbst; dies trifft vor allem bei der zweitenund dritten Phase handlungsorientierten Unter-richts bzw. Seminars. zu. Für Dozenten und Lehrer,die gerade mit der Umsetzung handlungsorientier-ter Seminare beginnen, kann eine Planung jedochsehr hilfreich sein, da sie ihnen Sicherheit gibt undstrukturbildend den »roten Faden« des Seminarsbzw. Unterrichts aufzeigt. Da Schüler bzw. Teilneh-mer »sich nun einmal nicht ohne weiteres verpla-nen lassen« (Becker 1984, S. 205), ist Flexibilität,Offenheit und Bereitschaft für Veränderung ge-genüber den Interessen der Lernenden die Grund-voraussetzung für den Lern- und Arbeitsprozessim handlungsorientierten Unterricht. Bleibt dieseGrundthese unberücksichtigt, können häufig Ver-weigerung und Opposition der Lernenden gegen-über dem geplanten Unterricht des Lehrenden be-obachtet werden (Messner 1978, S. 145f).

Derartige Unterrichte, die vom Lehrenden hy-pothetisch antizipiert werden, können im Sinnevon Becker (1984, S. 206) nur vorbereitet und nichtgeplant werden. Verschreibt man sich dem hand-lungsorientierten Unterricht,so bedeutet dies,»Ab-schied zu nehmen von dem Anspruch, alle Lern-prozesse bis ins kleinste Detail vorplanen, vor-strukturieren und vorgeben zu wollen, damit dieSchülerinnen und Schüler den Lernstoff wohlpor-tioniert,‘durchoperationalisiert’und ‘kleingearbei-tet’ vorgesetzt bekommen, und ihnen im wahrstenSinne des Wortes nur noch das ‘Schlucken’ bleibt«(Jürgens 1995, S. 12).

Die Wahrnehmungs- und Beobachtungstätig-keit der Lehrenden während des gesamten Lern-prozesses ist unabhängig davon, in welcher Phasedes handlungsorientierten Unterrichts sich eineLernergruppe befindet. Der Lehrende hat weiter-hin die wichtige Aufgabe und Verantwortung,während des Lernprozesses sowohl Schwankungenin der Lernbereitschaft sensibel wahrzunehmen alsauch sporadisch auftretende Konflikte in der Grup-

pe zu thematisieren. Ein Planungsraster entlässtden Lehrenden hier nicht aus der Verantwortung.Deshalb kann eine Planung auch nur den Charak-ter des »Vorläufigen« haben.

6.2.1 Phase I:Lehrende integrieren Basiselementehandlungsorientierten Unterrichts

Auch wenn es sich nach der Klassifikation von Ar-nold u. Schüßler (1998, S. 125) um eine Vermitt-lungsdidaktik handelt, so können doch Elementedes handlungsorientierten Unterrichts integriertwerden und damit der allmähliche Übergang zurErmöglichungsdidaktik geschaffen werden. DieUmsetzung der Handlungsorientierung liegt hiervor allem in der Planungsphase begründet. Es gehtdarum, dass der Lehrende Handlungsinteressenund Bedürfnisse sowie individuelle Vorlieben undAbneigungen der Lernenden in der Vorbereitungs-und Planungsphase beachtet.

Darüber hinaus muss er nach Handlungsmög-lichkeiten suchen, die kognitive (reflexive undprospektive) und emotionale Anteile beinhalten,sowie sozial-kommunikative wie auch gegenständ-lich-materielle Handlungsarten realisieren helfen(Muster-Wäbs u. Schneider 2001b, S. 200). OberstePriorität ist, dass die »Selbsttätigkeit im Unter-richtsprozeß (nur) ...dann gerechtfertigt (ist),wennsie einen Beitrag zur Selbständigkeit der Schüle-rInnen leistet« (Meyer u. Paradies 1995, S. 15). Ver-treter der humanistischen Psychologie (wie z. B.Rogers 1999, Cohn 1989) fordern einerseits dieSchaffung einer lernförderlichen Umgebung,ande-rerseits wird für sie sinnvolles Lernen nur durchpersönliches Lernen realisiert. Deshalb könnenLernende nur über die Entwicklung ihres eigenenLernprogramms sinnvoll für sich lernen.Diese Ent-wicklung muss vom Lehrenden methodisch unter-stützt werden,einschließlich seiner eigenen Person(Jürgens 1995, S. 7).

Diese selbstständigkeitsfördernden Handlun-gen können dann gezielt in die einzelnen Phasendes Unterrichts integriert werden.Dazu ist es aller-dings im nächsten Schritt erforderlich, geeigneteMethoden auszuwählen. Gudjons (1987, S. 36) for-muliert dies in Form einer Leitfrage:

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6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung6129

7 Wo und wie können Schüler/innen

selbst aktiv werden, etwas tun, mit an-

deren Augen und Ohren; wo kann ich

statt zu belehren und darzustellen z. B.

Schüler/innen selbst etwas entdecken

lassen?

Die Antizipation der Lernhandlungen zeigt auf, inwelchem Grad Lernende ihren Lernprozess selbststeuern können und »wie deren Aneignung von Er-kenntnissen über private, berufliche und gesell-schaftliche Bereiche projektiert ist« (Muster-Wäbsu. Schneider 2001a, S. 5).

Messner (1978, S. 147) sieht in der Planung eherden »Entwurf einer didaktischen Landkarte« reali-siert, der es ermöglicht, dass die Lernenden unter-schiedliche Lernwege gehen und dadurch eigenesubjektive Lernerfahrungen machen. Auch wenndem Lernenden damit zugetraut wird,eigene Lern-wege und unter Umständen auch »Lernumwege«zu gehen, muss der Lehrende dafür Sorge tragen,dass Misserfolge und Versagensängste nicht wie-derholt eintreten; denn hier besteht die Gefahr derResignation und Entmutigung (Jürgens 1995,S.14).

Jürgens (1995, S. 14) empfiehlt, diese Unterstüt-zungsmaßnahmen nach dem »Prinzip der minima-len Hilfe« auszurichten.

Auf die Problematik der handlungsorientiertenMethoden wird nicht näher eingegangen. (Siehehierzu auch: Brauneck et. al. 2000, Klippert 1999,Meyer 1987, Muster-Wäbs u Schneider 2001a).

Planungsraster I:Lehrende integrieren Basiselemente handlungsorientierten Unterrichts

Das Planungsraster in . Tabelle 6.4 eignet sich fürLernergruppen, die sich im Anfangsstadium ihresLernprozesses befinden. In den folgenden Tabellender Planungsraster finden sich im Tabellenkopf dieBezeichnungen »Merkmale« und »Phasen«. Es istselbstverständlich, dass sich diese Angaben aufhandlungsorientierten Unterricht bzw.handlungs-orientierte Seminare beziehen.

6.2.2 Phase II:Lehrende ermöglichen Partizipationder Lernenden

Nachdem im ersten Schritt die Berücksichtigungsowohl der Interessen der Lernenden als auch ihrerHandlungsmöglichkeiten im Unterricht stattge-funden hat, geht es im nächsten Schritt darum, dieHandlungsorientierung insofern einzulösen, als die Schüler und Schülerinnen auf verschiedenenEbenen der Unterrichtsrealisierung mitbeteiligtwerden. Partizipation der Lernenden beschränktsich dabei zunächst auf die Mitentscheidung,Mitbestimmung und Mitplanung unterschiedli-cher Bestandteile des Lern-Lehr-Arrangements.Konkret erhalten die Lernenden die Möglichkeit,begründet über folgende Varianten mit zu ent-scheiden:4 Varianten der inhaltlichen Erarbeitung (z. B.

Themenauswahl, Qualität und Quantität derThemen bzw. Lernsituationen);

4 Varianten der methodischen Arbeitsschritte(z.B.Gruppenarbeit oder Partnerarbeit,Exkur-sion oder Expertengespräch);

4 Varianten der Präsentationsmöglichkeiten (z.B.mittels Moderationswand oder Overheadpro-jektor);

4 Varianten der Bewertungskriterien (z.B.münd-liche Reflexionsrunden oder schriftlich fixierteLerntagebücher mit entsprechenden Einzelbe-ratungen).

Die Mitentscheidung beschränkt sich zu Beginn ei-nes Lernprozesses auf die vom Lehrenden vorge-planten Elemente des Unterrichtsgeschehens.Hier-bei wird die Planung des Lehrers »als eine Hypo-these über ein möglicherweise geeignetes Angebotbetrachtet, das erst während des wirklichen Kon-taktes der Schüler mit dem Inhalt seine Tauglichkeitunter Beweis stellen kann« (Messner 1978, S. 149).

Die Lernenden erhalten zu Beginn des Unter-richts die Gelegenheit, zum gesamten Unterrichts-plan ihre persönliche Meinung zu äußern bzw.Stel-lung zu beziehen. Darüber hinaus haben sie dieChance,Änderungsvorschläge mit allen Beteiligtenzu diskutieren. Ergeben sich gravierende Verände-rungen für den weiteren Verlauf des Unterrichts, istes notwendig, den Unterricht zu unterbrechen, sodass der Lehrende genügend Zeit hat, die neu ver-

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130 Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung

. Tabelle 6.4. Lehrende integrieren Basiselemente handlungsorientierten Unterrichts

Merkmale Phasen

Subjektive I. VorbereitungsphaseSchülerinteressen Klärung der Bedingungen in Bezug auf:(Gudjons, Jank u. Lernsituation bzw.Themen (Rahmenrichtlinien, gesetzliche Vorgaben)Meyer, Halfpap) Lernergruppe

LehrerteamOrganisationLernumfeld

HandlungsablaufLehrende bzw.Teams erstellen wie im herkömmlichen Unterricht eine Bedingungsanalyse.Hier wird jedoch besonderes Augenmerk auf die subjektiven Schülerinteressen, Sichtweisen u. möglichen Alternativen gelegt.

Lehrende planen im Vorfeld Möglichkeiten ein, die es Lernenden ermöglichen, durch Hand-lungserfahrungen eigene Interessen zu entwickeln.

Didaktischer KommentarDie Vorbereitung und die Durchführung werden überwiegend bzw. hauptsächlich vom Lehrer (Lehrerteam) getragen.

Erst wenn Interessen bewusst geworden sind, können diese später in Handlungszieleumformuliert werden.

Lehrer als »individu- II. Einstiegsphaseeller« Lernberater – Ankommenssituationund Organisator (Laur-Ernst) Handlungsablauf

Lehrende bzw.Teams versuchen, über verschiedene Methoden bzw. Medien sich und denLernenden den Kontakt mit ihrem »Ich«, zum Thema und zur Gruppe zu ermöglichen.

Didaktischer KommentarDer Lehrende übernimmt hier die Rolle des Organisators, indem er für eine fruchtbare undförderliche Lernumgebung sorgt. Dadurch wird das »Ankommen« in einer Lernsituation für alle Beteiligten erleichtert. Bei ausreichender Zeit muss kein thematischer Bezug bestehen.

Aktivierung der Sinne – Orientierungsrahmen(Gudjons)

HandlungsablaufDer Lehrende informiert die Lernenden über Ziele und Ablauf der Lernsituation.Dies sollte durch entsprechende Methoden und Medien unterstützt werden.

Didaktischer KommentarBereits von Anfang an sollte ein ausgewogenes Verhältnis in der Ansprechbarkeit unter-schiedlicher Lerntypen bestehen. Für die Lernenden sind Zieltransparenz und geplanter Ablauf deshalb von enormer Wichtigkeit, weil sie nicht nur einen Orientierungsrahmen und einen Überblick erhalten, sondern sich auch besser auf die Lerneinheit einstellen können. Dieses ist unabhängig von dem gewählten Einstieg.

Page 144: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung6131

. Tabelle 6.4. Fortsetzung

Merkmale Phasen

Ganzheitlichkeit – Ganzheitlicher handlungsorientierter Einstieg(Jank u. Meyer, Halfpap, (z. B. erfahrungsorientiert, problemorientiert, informationsorientiert)Arnold u. Müller)

HandlungsablaufErfahrungsbezug Der Lehrende organisiert und gestaltet die Unterrichtseröffnung, indem er sich, je nach Lern-(Gudjons, Halfpap, situation und Bedingungen, für einen schüleraktiven u./o. lehreraktiven Einstieg entscheidetBader, Arnold u. Müller) Als Basis für die Einstiege können die didaktischen Ansätze nach Ingo Scheller, Heinrich Roth

und Jochen u. Monika Grell hilfreich sein.Orientierung an Hand-lungsfeldern (Bader) Didaktischer Kommentar

Das Ziel des Einstiegs besteht darin, dass die Lernenden entweder die Möglichkeit erhalten,Arbeitsweltliche an ihren eigenen persönlichen u./o beruflichen Erfahrungen anzuknüpfen oder vor eine Realität (Laur-Ernst) Aufgabe bzw. ein Problem gestellt werden, welches nach Möglichkeit aus der beruflichen

Arbeitswelt stammt bzw. an berufliche Handlungsfelder anknüpft. Damit wird die konkrete Ausgewogenheit von Lebenssituation zum Ausgangspunkt des Denkens. Die sprachliche Auseinandersetzung Kopf- und Handarbeit darüber ermöglicht die Aneignung von Wirklichkeit.(Jank u. Meyer, Gudjons) Ein handlungsorientierter Unterrichtseinstieg ist dann ganzheitlich realisiert, wenn er

sowohl den personellen wie den inhaltlichen und methodischen Aspekt in sich vereinigt.Grenzen durch Syste- Die Systematik des Faches wird zu Gunsten der Handlungssystematik aufgegeben. Darüber matik eines Faches hinaus hat ein handlungsorientierter Unterrichtseinstieg die Aufgabe, den Lernenden Hilfe-(Gudjons) stelllungen und Anregungen zu geben, damit sie sich dem Thema bzw. der Lernsituation

annähern können. Eine Identifikation mit der Aufgabenstellung erleichtert die Bearbeitung und Auseinandersetzung.

Keine Einzelkämpfer III. Erarbeitungsphase(Gudjons) Übernahme der Aufgaben- bzw. Problemstellung

Einführung von Beobachtungs- und BewertungskriterienKooperatives Lernen

Selbsttätige Klein- oder Großgruppenarbeit(Laur-Ernst)

Erstellung eines ArbeitsplansSelbstständiges Evtl. fachsystematische EinschübeHandeln und aktivesHandeln und aktives HandlungsablaufLernen durch plan- Der Lehrende formuliert den konkreten Auftrag bzw. das zu bearbeitende Problem und volles Handeln versichert sich, dass alle Lernenden arbeitsfähig sind. Er bestimmt die Bewertungskriterien (Arnold u. Müller) und stellt sie der Lernergruppe vor. Darüber hinaus organisiert und gestaltet er die Arbeits-

Interaktionsbetontform, ebenso stellt er Informationsmaterial zur Verfügung. Evtl. gibt er einen Informations-

(Halfpap)input. Er steht als Lernberater und Prozessbegleiter zur Verfügung.

Schüleraktivität Didaktischer Kommentar(Jank u. Meyer) Lernen in der Gruppe zwingt förmlich die Kommunikation und Kooperation der Schüler

Selbstorganisiertesuntereinander heraus. Damit wird Lernen zum sozialen Geschehen. Gemeinsames Handeln

Lernen (Arnold u. Müller)führt zur Aufgabenbewältigung, dazu erstellen die einzelnen Gruppen einen Arbeitsplan.Die Selbsttätigkeit ist hierbei die Grundvoraussetzung für Selbstständigkeit. Die Lösungs-

Lehrer, die kaum noch wege zur Erreichung des gesetzten Zieles bzw. Ergebnisses liegen in der Verantwortung der (nur) lehren, Lehrer als einzelnen Lernergruppen. Der Lehrende steht bei Bedarf zur Unterstützung bereit.»individueller« Lernbe-rater und Organisator (Arnold u. Müller,Laur-Ernst)

Lernen in Lernschleifen (Arnold u. Müller)

Page 145: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

6

132 Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung

einbarten Ergebnisse in eine weitere Planungspha-se einmünden zu lassen und sich damit auf die ver-änderte Lernsituation einzustellen. Diese Unter-brechung können auch die Lernenden sinnvoll fürsich nutzen, indem sie bestimmte Informations-aufgaben erhalten bzw. organisatorische Aspekteim Vorfeld klären können.

Die Phase der Mitentscheidung gilt nach Grellu. Grell (1983, S. 103, 170) als gelungen, wenn derLehrende 4 auf Mitbestimmungsmöglichkeiten hingewie-

sen hat,4 Auswahlmöglichkeiten vorgestellt hat und

4 aufgrund der noch nicht komplett abgeschlos-senen Planung Freiräume für die Lernendenexistieren, die sie selber ausgestalten können.

Nach Becker (1984,S.97) »sind Schüler durchaus inder Lage, (über) Methoden zu diskutieren«, da siefür sich entscheiden können,welche methodischenSchritte hilfreich sind, welche sie eher am Lernenhindern oder welche ihnen sogar Freude und Spaßbereiten. Die methodische Mitbestimmung istdann nicht angezeigt, wenn eine Methode neu ein-geführt wird und damit die Methode selbst zumGegenstand des Kompetenzerwerbs wird.

. Tabelle 6.4. Fortsetzung

Merkmale Phasen

Lernen nach dem IV. AuswertungsphaseFeed-back-Prinzip – Präsentation der Ergebnisse(Arnold u. Müller) – Bewertung der Ergebnisse

HandlungsablaufDer Lehrende moderiert die Präsentation der Arbeitsergebnisse. Die Ergebnisse werden nachden vorgegebenen Kriterien von den Lernenden und vom Lehrenden beurteilt.

Didaktischer KommentarDurch die Transparenz der Beurteilungskriterien fällt es Schülern leichter, die eignen undfremden Ergebnisse zu beurteilen. Jeder Schüler erhält Klarheit über seinen Lernstand,er wird dazu befähigt, sich selbst einzuschätzen.

Lernen nach dem V. EvaluationsphaseFeed-back-Prinzip – Reflexion des Lernprozesses(Arnold u. Müller)

HandlungsablaufLernende und Lehrende reflektieren gemeinsam den Lernprozess, d. h. sowohl das methodi-sche Vorgehen als auch die Zusammenarbeit wird nach gelungenen und verbesserungs-würdigen Aspekten analysiert.

Didaktischer KommentarVon didaktisch hohem Wert ist der Abgleich zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung vonLernenden untereinander und Lernenden zu Lehrenden.

Ganzheitliches Lernen – Konsequenzen für den nächsten Lernprozess(Jank u. Meyer, Halfpap,Arnold u. Müller) Handlungsablauf

Lehrende ziehen unter Beteiligung der Lernenden Rückschlüsse bzw. Konsequenzen für dienächste Lernsituation. Gelungene Aspekte werden weiter vertieft, nicht gelungene verworfen.

Didaktischer KommentarDurch die kritische Rückschau auf den Arbeitsablauf als auch auf das Ergebnis kann eineHandlung verinnerlicht werden. Es hat Lernen stattgefunden.

Page 146: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung6133

Diese auf Mündigkeit,Solidaritätsfähigkeit undMit- bzw. Selbstbestimmung gerichteten erzieheri-schen Ziele können jedoch nur dann realisiert wer-den, wenn Aufwand und Nutzen in einem ausge-wogenen Verhältnis stehen. Dies bedeutet, dass fürEinzelstunden bzw. kurze Unterrichtssequenzen(im 45-Minuten-Takt) eine derartige Phase der viel-fältigen Mitentscheidungen ohne Sinn erscheint.

Planungsraster II:Lehrende ermöglichen Partizipation der Lernenden

Dieses Planungsraster eignet sich besonders fürLernergruppen, die sich im fortgeschrittenen An-fangsstadium ihres Lernprozesses befinden. Dasheißt, sie verfügen bereits über gewisse Methoden-und Lernkompetenzen und sind bereit, ihren eige-nen Lernprozess mit zu verantworten.

An dieser Stelle wird auf die Darstellung einesausführlichen Planungsrasters verzichtet, da dasPlanungsraster I (für Lerner im Anfangsstadiumihres Lernprozesses) übernommen werden kann.Lediglich zwischen der Einstiegsphase und der Er-arbeitungsphase ist ein weiterer Schritt, die Ent-scheidungsphase, einzuschieben. Je nachdem, zuwelchem Entschluss die Lernergruppe in Abspra-che mit dem Lehrenden kommt, kann eine Unter-brechung der Lernsituation angezeigt sein.Die ver-kürzte Form des Planungsrasters gibt . Tabelle 6.5

wieder.

6.2.3 Phase III:Lehrende führen eine gemeinsamePlanung mit Lernenden durch

7 In dieser Phase findet das »handlungs-

orientierte Lernen (seine) Ergänzung

und Vollendung in der gemeinsamen

Planung des Lernprozesses mit den

Schülern (Hoffmann u. Langefeld 1996,

S. 19).

Hier stellt sich zu Beginn die Frage, inwieweit dieLernenden bereits in der Planungsphase, die tradi-tionell bislang den Lehrenden vorbehalten blieb,mitberücksichtigt bzw. zu gleichberechtigten Pla-nungspartnern werden können.

In dieser dritten Phase der Umsetzung hand-lungsorientierten Lernens ist das eigentliche Zielder Handlungsorientierung,das Planen selbst zumGegenstand des Unterrichts zu machen, um somitden Anforderungen des Modells einer vollständi-gen Handlung,die mit Handlungszielen und einemHandlungsplan beginnt, gerecht zu werden (Aebli1983,S. 197 ff.,Aebli 1993,S. 148 ff.).Nicht nur die In-halte bzw.Themen werden von Lernenden gemein-sam mit dem Lehrenden bzw. dem Lehrerteam ge-plant, sondern auch die Vorgehensweise (Verfah-rensplanung), die Präsentationsformen sowie dieBewertungskriterien. Gerade der letzte Aspekt, dieLeistungsbeurteilung, schafft Transparenz für dieLernenden, hilft Ängste abzubauen und zielt aufeine konstruktive Entwicklung des einzelnen Ler-nenden. Becker beschreibt die Partizipation inmehreren Bereichen.

7 Der Lehrer dokumentiert sein Interesse

am Lernerfolg der Schüler, er macht

deutlich, dass er keine ungerechtfertig-

ten Leistungsansprüche stellen und die

Schüler nicht unter Druck setzen will,

und trägt so zu einer Verbesserung der

Lehrer-Schüler-Beziehungen bei (Becker

1984, S. 97).

Der Unterschied zwischen der ersten und der letz-ten Phase des handlungsorientierten Unterrichtsbesteht darin, dass die Selbsttätigkeit durch dieSelbstständigkeit der Schüler im Hinblick auf Pla-nung, Durchführung und Evaluation von Unter-richt abgelöst wird.Damit wird den Lernenden »alsSubjekten ihrer Lernprozesse eine größere Verant-wortung übertragen« (Gudjons 1997, S. 65). DieSchüler machen sich das unterrichtliche Anliegenzu Eigen.

Hier genau ist die Gelenkstelle, an der die »di-daktische Illusion der Machbarkeit« (Arnold 1992,S. 75) aufgelöst wird. Die Erzeugungsdidaktik wirdum die Ermöglichungsdidaktik erweitert (Arnoldu. Schüßler 1998, S. 120 ff.), das Instruktionslernenwird durch Handlungslernen ersetzt (Halfpap1996b, S. 37).

Bevor Lehrende diesen Schritt gehen, müssensie sich darüber im Klaren sein, welche Spielräumeim Hinblick auf die vom Rahmenlehrplan vorgese-

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134 Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung

. Tabelle 6.5. Lehrende ermöglichen Partizipation der Lernenden

Merkmale Phasen

s.Tab. 6.4 I. Vorbereitungsphase

II. Einstiegsphase– Ankommenssituation– Orientierungsrahmen– Ganzheitlicher handlungsorientierter Unterrichtseinstieg

Schülerbeteiligung III. Entscheidungsphasean der Planung – Themen / Inhalte / Lernsituationen(Jank u. Meyer) – Methoden bzw.Vorgehensweise

– Präsentationsmöglichkeiten– Bewertungskriterien

HandlungsablaufDer Lehrende hat verschiedene Varianten in Hinblick auf Themen, Methoden / Vorgehens-weise, Präsentationsmöglichkeiten und Bewertungskriterien vorbereitet. Diese stellt er derLernergruppe vor. Die Lernenden erhalten die Möglichkeit, sich begründet und argumentativ in der Auseinandersetzung mit den anderen für eine oder verschiedene Möglichkeiten zuentscheiden.

Didaktischer KommentarAuch wenn im Sinne einer vollständigen Handlung die Planung des Lernprozesses nichtselbstständig erfolgte, so können die Lernenden immerhin durch die Mitplanung und damit Mitentscheidung einen wesentlichen Einfluss auf den weiteren Verlauf des Unterrichtsnehmen. Gleichzeitig wird damit die Eigenverantwortung der Lernenden für ihren Lern-prozess gefördert.

s.Tab. 6.4 Evtl. Unterbrechung des Unterrichtes

HandlungsablaufLehrende und Lernende können sich inhaltlich und methodisch auf die nächste Lernsituationvorbereiten.

Didaktischer KommentarDurch diese im voraus einzuplanende Unterbrechung erhalten Lehrende eine gewisse Sicher-heit, nicht auf alle Eventualitäten vorbereitet sein zu müssen.

s.Tab. 6.4 IV. Erarbeitungsphase– Übernahme der Aufgaben- bzw. Problemstellung– Einführung von Beobachtungs- und Bewertungskriterien– selbsttätige Klein- oder Großgruppenarbeit– Erstellung eines Arbeitsplans– evtl. fachsystematische Einschübe

s.Tab. 6.4 V. Auswertungsphase– Präsentation der Ergebnisse– Bewertung der Ergebnisse

s.Tab. 6.4 VI. Evaluationsphase– Reflexion des Lernprozesses– Konsequenzen für den nächsten Lernprozess

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6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung6135

henen Inhalte,Themen bzw.Lernsituationen beste-hen. Zu Beginn wäre es empfehlenswert, den Ler-nenden einerseits einen Fundus von Lernsitua-tionen vorzustellen, die unbedingt thematisiertwerden müssen,andererseits kann ein Zusatzange-bot bzw. Freiräume geschaffen werden, die die Ler-nenden unterschiedlich nutzen können (Becker1984, S. 95). So erfahren bzw. lernen die Schüler vonAnfang an, mit vorgegebenen Rahmenbedingun-gen konstruktiv und sinnvoll umzugehen. In demProzess der Vereinbarung kommt man dem Bil-dungsziel »Emanzipation« näher, denn

7 entscheidend ist, daß eine entwickelte

gesellschaftliche Handlungsfähigkeit

immer zwei Komponenten einschließen

muß, nämlich einmal die Fähigkeit zu

einer einsichtigen und selbstverant-

wortlichen Identifikation mit wesentli-

chen Grundprinzipien und Anforderun-

gen unserer Gesellschaft und zugleich

die Fähigkeit, diese Prinzipien und An-

forderungen immer wieder gemeinsam

mit anderen auf ihren Sinn hin zu über-

prüfen und, sofern notwendig, an ihrer

Fortentwicklung zu arbeiten (Messner

1978, S. 146).

Das hier formulierte Mündigkeitspostulat versucht,dem Anspruch der Emanzipation insofern gerechtzu werden, als Lehrende und Auszubildende »ge-meinsam dirigistisches Verhalten abbauen und dieunterrichtliche Struktur so verändern, daß ein zu-nehmend größeres Ausmaß an Selbständigkeit undMitbestimmung der Schülerinnen und Schüler er-möglicht wird« (Wagner 1982, S. 28 zit. in: Jürgens1995, S. 7).

Um die gemeinsam vereinbarten Ziele, Hand-lungsprodukte und Bewertungskriterien ernst zunehmen, muss im Regelfall nach einer Planungs-phase ein Freiraum für alle Beteiligten gegebenwerden,damit der Einstieg in die nächste Phase desUnterrichts, in die genannte Produktionsphase,effektiv und gezielt angegangen werden kann.

Haben Lernende diesen dritten Schritt in ihremLernprozess erreicht,das heißt,sind sie in der Lage,gemeinsam mit dem Lehrenden ihre Ausbildung zuplanen, durchzuführen und zu evaluieren, über-nimmt der handlungsorientierte Unterricht keine

»Orchideenfunktion« (Bönsch 2000) mehr, son-dern wird zum Regelfall des Unterrichtsalltags.

Planungsraster III:Lehrende führen eine gemeinsamePlanung mit Lernenden durch

Dieses Planungsraster ist für Lernergruppen imfortgeschrittenen Stadium geeignet (. Tabelle 6.6).Derartige Lernergruppen sind bereits das selbst-ständige Arbeiten gewohnt, sie verfügen über aus-reichende Lern- und Methodenkompetenzen undhaben ein hohes Interesse an der Planung ihresLern- bzw.Ausbildungsprozesses.

Die folgende Verlaufsplanung basiert haupt-sächlich auf dem von Muster-Wäbs u. Schneider(1999, S. 43) entwickelten Planungsraster »Hand-lungstheoretische Aneignungsdidaktik«. Es wurdeim Zusammenhang mit der Einführung des Lern-feldkonzeptes in Hamburg an berufsbildendenSchulen entwickelt. In der Zwischenzeit wurde esmehrfach mit Studenten, Referendaren und Be-rufsschullehrern erprobt und überarbeitet.Das fol-gende Planungsraster ist das Ergebnis dieser drei-jährigen Evaluation.

6.2.4 Schwierigkeiten bei der sukzessiven Einführung von handlungsorientiertem Lernen

Unabhängig von der jeweiligen Schülerklientelwäre jeder Auszubildende bzw. jeder Lernendeüberfordert, wenn er von Anfang an seinen Lern-und Ausbildungsprozess planen, durchführen undbewerten sollte. Hier bedarf es der gezielten undgestuften Anleitung und Begleitung durch den Leh-renden. In der gestuften Einführung des hand-lungsorientierten Unterrichts sehe ich eine Mög-lichkeit realisiert, diesem Problem entgegenzutre-ten.Andererseits muss jedoch auch diese Phase dergemeinsamen Planung sukzessive vorbereitet wer-den.

Der Prozess der Einigung stellt die schwierigstePhase des handlungsorientierten Unterrichts dar,weil hier sowohl den Lehrenden als auch den Ler-nenden hohe Kompetenzen im Bereich der Perso-nal-, Sozial- und kommunikativen Kompetenz ab-verlangt werden. Zu Beginn des Lehr-Lernprozes-ses kommt es in den seltensten Fällen vor, dass

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136 Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung

. Tabelle 6.6. Lehrende führen eine gemeinsame Planung mit Lernenden durch (s. auch Muster-Wäbs u. Schnei-der 1999, S. 43)

Merkmale Phasen

Subjektive I. VorbereitungsphaseSchülerinteressen Klärung der Bedingungen in Bezug auf:(Gudjons, Jank u. Meyer, Lernsituation bzw.Themen (Rahmenrichtlinien, gesetzliche Vorgaben)Halfpap) Lernergruppe (hier vor allem hypothetisch formulierte Handlungsziele)

Lehrerteam (Lehrziele)Handlungsziele Organisation(Gudjons) Lernumfeld

HandlungsablaufLehrende bzw.Teams erstellen wie im herkömmlichen Unterricht eine Bedingungsanalyse. Hierliegt jedoch das Augenmerk auf der Vorbereitung der Planungsphase im UnterrichtLehrende formulieren ihre Lehrziele, gleichzeitig formulieren sie hypothetisch Handlungszielefür die Lernenden.

Didaktischer KommentarDie Vorbereitung vom Lehrer bzw. vom Lehrerteam besteht hauptsächlich darin, sich auf die ge-meinsame Planungsphase mit den Lernenden vorzubereiten. Hier ist es wichtig, vorab schonden Radius der Gestaltungs- und Freiräume der Lernenden zu bestimmen.

Lehrer als »individuel- II. Einstiegsphaseler« Lernberater und – AnkommenssituationOrganisator(Laur-Ernst) Handlungsablauf

Lehrende bzw.Teams versuchen, über verschiedene Methoden bzw. Medien sich und den Aktivierung der Sinne Lernenden den Kontakt mit ihrem »Ich« zum Thema und zur Gruppe zu ermöglichen.(Gudjons)

Didaktischer KommentarGanzheitlichkeit Der Lehrende übernimmt hier die Rolle des Organisators, indem er für eine fruchtbare und (Jank u. Mayer, Halfpap, förderliche Lernumgebung sorgt. Dadurch wird das »Ankommen« in einer Lernsituation für Arnold u. Müller) alle Beteiligten erleichtert.

Erfahrungsbezug Hinweis!(Gudjons, Halfpap, Die Entscheidung für die Gestaltung einer Ankommenssituation kann auch mit den Bader, Arnold u. Müller) Lernenden im Vorfeld abgesprochen werden, so dass u. U. dieser Schritt entfällt.

Orientierung an Hand- – Orientierungsrahmenlungsfeldern (Bader)

Hinweis!Arbeitsweltliche Bei sehr komplexen Aufgabenstellungen oder bei Lernergruppen mit noch zu erweiternder Realität (Laur-Ernst) Planungskompetenz kann es hilfreich sein, den Unterricht zu unterbrechen. Diese Phase wird

von den Lernenden dazu genutzt, sich auf ihre Zielperspektive vorzubereiten.

HandlungsablaufDer Lehrende informiert die Lernenden über das anstehende Thema bzw. die Lernsituation und die »mögliche« Abfolge des Unterrichtsgeschehens. Er weist vor allem darauf hin, dass zu Beginn eine gemeinsame Planung durchgeführt werden soll. Hier können entsprechende Methoden und Medien zur Unterstützung hilfreich sein. Meyer (1987, S 137f ) empfiehlt eine »Thematische Landkarte«.

Didaktischer KommentarFür die Lernenden sind Zieltransparenz und geplanter Ablauf von enormer Wichtigkeit, weil sienicht nur einen Orientierungsrahmen und einen Überblick erhalten, sondern sich gezielt auf diePlanungsphase, d. h., welche Bedürfnisse, Interessen und Handlungsziele sie zu dieser Thematikhaben, einstellen bzw. vorbereiten können.

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6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung6137

. Tabelle 6.6. Fortsetzung

Merkmale Phasen

Ausgewogenheit von – Ganzheitlicher handlungsorientierter Einstieg Kopf- und Handarbeit (z. B. erfahrungsorientiert, problemorientiert, informationsorientiert)(Gudjons, Jank u. Meyer)

Hinweis!Grenzen durch Syste- Es ist nicht immer ein Einstieg erforderlich (z. B. wenn Lernende keine Anregungen matik eines Faches zur eigenen Zielfindung benötigen oder wenn größere Lerneinheiten vorliegen).(Gudjons)

HandlungsablaufLehrende und/oder Lernende klären zu Beginn, ob sie einen Einstieg in die Thematik gestalten wollen.

Didaktischer KommentarHier sollten besondere Wünsche bzw. Anlässe oder Situationen mitberücksichtigt werden.Ein Einstieg kann auch bei Fortgeschrittenen für ihre Entfaltung und Selbststeuerung förderlich sein. Der Einstieg kann häufig als Pool für aufgeworfene Fragen aus der Berufspraxis genutzt werden.

Handlungsziele III. Planungsphase(Gudjons) – Zielvereinbarung

Produktorientierung Handlungsablauf(Gudjons, Jank u. Meyer) Lehrende und Lernende stellen ihre unterschiedlichen Zielperspektiven (Lehr- und Hand-

lungsziele) vor. In einer vom Lehrenden geführten Diskussion werden Möglichkeiten der Tätigkeitsstrukturiert Einigung gesucht.(Halfpap)

Didaktischer KommentarExemplarisches Lernen Ziel dieses Handlungsschrittes ist es, zu einer einvernehmlichen Einigung zu kommen. Dieser(Arnold u. Müller) Schritt benötigt sehr viel Zeit und vor allem Bereitschaft des Zuhörens sowie das Einlassen

auf andere Zielvorstellungen. Für die Einigungsphase sind methodische Vorschläge des Entscheidungs- und Lehrenden hilfreich.Handlungsspielräume,aktiv-konstruktiver – ProduktvereinbarungGestaltungsprozess (Laur-Ernst) Handlungsablauf

Lehrende initiieren den nächsten Schritt, indem die gemeinsam formulierten Ziele in ein Lehrer, die kaum noch anzustrebendes Produkt einfließen können. Gemeinsam werden Möglichkeiten, Ideen und (nur) lehren, Lehrer als Vorstellungen gesammelt, die den weiteren Arbeitsprozess bestimmen.»individueller« Lernbe-rater und Organisator Didaktischer Kommentar(Arnold u. Müller, Die Produkte können für die Lernenden unterschiedlichen Verwertungscharakter haben Laur-Ernst) (siehe hierzu Abb. 6.3). In dieser Phase übernimmt der Lehrende gerade zu Beginn dieser

von ihnen selbst zu organisierenden Arbeitsphase eine wichtige begleitende und beratende Interaktionsbetont Funktion.und berufsbezogen(Halfpap) – Verfahrensplanung

Handlungsablauf

Hier erfolgt in gemeinsamer Absprache die Festlegung folgender Aspekte:

inhaltliche Arbeitsschritte Zeitpunkt der PräsentationArbeitsformen Beobachtungs- und BewertungskriterienZwischenmeetings Beratungszeiten der Lehrendenorganisatorischer Rahmen usw.Präsentationsformen des Produktes

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138 Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung

. Tabelle 6.6. Fortsetzung

Merkmale Phasen

Vollständige Handlung Didaktischer Kommentar(Bader) Lehrende und Lernende müssen sich darüber verständigen, wie die Produktionsphase

zu gestalten ist.

Hinweis!Es ist möglich, dass sowohl unterschiedliche Teilthemen bzw.Teilprodukte als auch unter-schiedliche Arbeitsformen gewählt werden. Alles ist möglich, muss jedoch organisatorischentsprechend berücksichtigt werden.

Alle Vereinbarungen sollten schriftlich auf Moderationswänden fixiert sein, damit jederjederzeit sowohl einen Überblick als auch einen Zugriff darauf hat.

Vollständige Handlung IV. Produktionsphase(Bader)

Hinweis!Problembezogene Diese Phase kann je nach Aufgabenstellung und Komplexität mehrere Stunden bis Tage Handlungssystematik, dauern; ebenso kann diese Phase u. U. in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit stattfinden.Berücksichtigung kog- Die Produktionsphase stellt das »Herzstück« des h. o. U. dar, weil hier die Realisierung der nitionspsychologischer Handlungsprodukte stattfindet.Theorien u./o. Hand-lungsregulationstheo- – Informationssammlungrien (Lauer-Ernst, Bader)

HandlungsablaufDie Lernenden besorgen sich Informationen, die der Erreichung des gemeinsam formulierten

Keine Einzelkämpfer Ziels (Teilziels) bzw. Handlungsproduktes (Teilproduktes) dienen.(Gudjons)

Didaktischer KommentarKooperatives Lernen Hier sollten alle Möglichkeiten der Informationsbeschaffung genutzt werden. Liegt noch u. aktiv-konstruktiver keine ausreichende Lern- bzw. Methodenkompetenz vor, stehen Lehrende begleitend und Gestaltungsraum beratend zur Seite.(Laur-Ernst)

Hinweis!Bei komplexen Aufgaben- und Problemstellungen kann sich bereits bei der Informations-sammlung, aber auch später zeigen, dass weitere Quellen genutzt werden müssen.Dazu zählen z. B.:– eingeforderte fachsystematische Einschübe von Lernenden, die die Lehrenden

durchführen– Einladung von Experten– Durchführung von Exkursionen– usw.

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6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung6139

. Tabelle 6.6. Fortsetzung

Merkmale Phasen

Entwicklung und Ver- – Aufgabenbezogene Planungmittlung implizitenWissens (Bader) Handlungsablauf

Die Lernenden erstellen in ihrer Arbeitsgruppe einen Plan, der ihre weiteren Arbeitsschritte Selbstständiges Han- prospektiv festhält. Dabei entwickeln sie auch Handlungsalternativen.deln und aktives Tun(Bader) Didaktischer Kommentar

Schüleraktivität Hinweis!(Jank u. Meyer) Ist die Informationssammlung von den Schülern ohne die Unterstützung des Lehrenden

geleistet worden, so kann es sein, dass sie bei der aufgabenbezogenen Planung auf Selbstorganisiertes informative Defizite stoßen, so dass jetzt die Hilfe in Bezug aufLernen (Arnold u. Müller) – Einschübe

– Einladung von ExpertenMethodenmix und – Durchführung von Exkursionen usw.Lernen in Lernschleifen erforderlich ist.(Arnold u. Müller)

– EntscheidungKonkrete Handlungen,deren Ergebnis offen ist Handlungsablauf(Bader) Lernende treffen in ihren Arbeitsgruppen begründete Entscheidungen für Alternativen

und legen gemeinsam einen Lösungsweg fest.Lernen nach dem Feed-back-Prinzip Didaktischer Kommentar(Arnold u. Müller) Um zu einer Entscheidung kommen zu können, müssen die Lernenden über geeignete

Lern- und Methodenkompetenzen verfügen.

Lehrer, die kaum noch – Umsetzung(nur) lehren, Lehrer als »individueller« Lern- Handlungsablaufberater und Organisa- Die Lernenden arbeiten gemeinsam an der Umsetzung des zuvor aufgestellten Handlungs-tor (Arnold u. Müller, planes, um das Handlungsprodukt zu realisieren.Laur-Ernst)

Didaktischer KommentarBei der Umsetzung findet automatisch ein Abgleich des Handlungsplanes statt, so dass u. U.eine erweiterte Planung bzw. Neuplanung erforderlich ist, die allerdings zusätzliche Zeit in Anspruch nimmt.

Hinweis!Ein Zwischenmeeting kann diese Problematik aufgreifen und für eine entsprechende organisatorische Umsetzung sorgen.

– Präsentation

HandlungsablaufDie einzelnen Arbeitsgruppen präsentieren ihre erstellten Handlungsprodukte dem Plenum.

Didaktischer KommentarDie Präsentation sollte nach einem zuvor vereinbarten Prozedere ablaufen, damit alle Beteiligten zu ihrem Recht kommen.

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140 Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung

. Tabelle 6.6. Fortsetzung

Merkmale Phasen

– Kontrolle

HandlungsablaufHier haben Lernende und Lehrende die Möglichkeit, sowohl die Handlungsprodukte als auch den Arbeitsprozess nach vereinbarten Kriterien zu kontrollieren. Hier erfolgt außerdem ein Ist- Soll-Abgleich. Die gemeinsame Kontrolle dient dazu, Ergänzungen,Verbesserungen bzw. Erweiterungen vorzunehmen.

Didaktischer KommentarHier ist die Möglichkeit der Fehlerkorrektur gegeben. Ebenso ist es sinnvoll, eine Einordnung der Teilprodukte in die Gesamtfragestellung vorzunehmen. Außerdem erfolgt eine Generali-sierung des Wissens.

– Bewertung des Handlungsproduktes und des Arbeits-(Lern-)prozesses

HandlungsablaufDie Bewertung erfolgt nach den gemeinsam vereinbarten Überprüfungskriterien,die sowohl die Präsentation des Handlungsproduktes als auch den Arbeits- bzw. Lernprozess berücksichtigen.

Didaktischer KommentarLehrende müssen zu Beginn dafür sorgen, dass eine konstruktive Arbeitsatmosphäre für die Beurteilung des Handlungsproduktes bzw. des Arbeitsprozesses vorliegt. Bei Konflikten und Schwierigkeiten muss der Lehrende intervenierend eingreifen.

Konkrete Handlungen, V. Evaluationsphasederen Ergebnis offen – Reflexion des gesamten Lernprozessesist (Bader)

HandlungsablaufLernen nach dem Lernende und Lehrende reflektieren gemeinsam den Lernprozess, d. h. sowohl das Feed-back-Prinzip methodische Vorgehen als auch die Zusammenarbeit wird nach gelungenen und (Arnold u. Müller) verbesserungswürdigen Aspekten analysiert.

Öffnung des Unter- Didaktischer Kommentarrichts (Gudjons, Jank u. Von didaktisch hohem Wert ist der Abgleich zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung Meyer, Laur-Ernst) von Lernenden untereinander und von Lernenden zu Lehrenden.

Lernen nach dem Feed-back-Prinzip(Arnold u. Müller)

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6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung6141

Lehrziele und Handlungsziele (aus Lehrersicht hy-pothetisch formulierte Ziele der Lernenden) über-einstimmen (Meyer 1987, S. 165, 406).

Wie einigt sich jedoch eine gesamte Lerner-gruppe auf einen Themenkomplex bzw. wie ent-wickelt sich ein gemeinsames Interesse für ein Vor-haben? Hier ist der Lehrende doppelt gefordert, daer die »nur schwer miteinander zu verbindende(n)Ziele gleichzeitig zu verfolgen hat« (Meyer u. Para-dies 1995, S. 34): nämlich einerseits die Verantwor-tung für die gesetzlichen Bestimmungen und dieRealisierung der eigenen Lehrziele zu übernehmen,andererseits aber auch für die Verwirklichung dersubjektiven Interessen und Handlungsspielräumeder Lernenden Sorge zu tragen.

Die Unterrichtsrealität hat gezeigt,dass es Eini-gungssituationen gibt, in denen die Wünsche, Be-dürfnisse und Handlungsziele der Lernenden stär-ker im Vordergrund stehen, dann aber wiederumauch vorgegebene Rahmenbedingungen erfülltwerden müssen. Genau in diesem Abwägungsver-hältnis zwischen Freiheiten und Grenzen liegt derhohe Erwerb der beruflichen Handlungskompe-tenz von Lernenden, aber auch manchmal der von

Lehrenden, wenn sie sich in Geduld und pädagogi-scher Gelassenheit zurückziehen müssen.

Zu der Einigungsphase gehört jedoch ein weite-rer neuralgischer Schritt:die Bestimmung des Hand-lungsproduktes. Die . Abb. 6.2, zeigt deutlich, wel-che Bedeutung das Handlungsprodukt für den ge-samten Unterricht hat.Außerdem lässt sich sehr guterkennen,dass in dem Handlungsprodukt die Lehr-und Handlungsziele verifiziert sind.

In jedem Fall können während der Einigungs-phase mehrere Lernsituationen entstehen. So be-steht die Möglichkeit, dass ein Mehrheitsbeschlussvon allen akzeptiert wird; es ist aber auch möglich,dass es zu einer »Individualisierung« (Bönsch 1986,S. 15) der Arbeitsschritte im handlungsorientiertenUnterricht kommt.Im Extremfall kann es sein,dassLerner unterschiedliche Themen mit unterschied-lichen Methoden bearbeiten und präsentieren.Steht allerdings das soziale Lernen in Teams alsThema im Mittelpunkt, so können die Handlungs-ziele der Lernenden nur in diesem Rahmen reali-siert werden.

Für die Planungsphase sollte von Anfang angenügend Zeit eingeräumt werden, da erfahrungs-

. Tabelle 6.6. Fortsetzung

Merkmale Phasen

Ganzheitliches Lernen – Konsequenzen für zukünftige Lernprozesse(Jank u. Meyer, Halfpap,Arnold u. Müller) Handlungsablauf

Lehrende ziehen unter Beteiligung der Lernenden Rückschlüsse bzw. Konsequenzen Persönlichkeitsent- für die nächste Lernsituation.wickelndes Lernen(Arnold u. Müller) Gelungene Aspekte werden weiter vertieft, nicht gelungene verworfen.

Gesellschaftliche Pra- Didaktischer Kommentarxisrelevanz (Handeln Durch die kritische Rückschau sowohl auf den Arbeitsablauf als auch auf das Ergebnis kannwozu?) (Gudjons) eine Handlung verinnerlicht werden. Es hat Lernen stattgefunden.

Kompetenzentwicklung – Konsequenzen für den Arbeitsprozesszur Bewältigung nicht voraussagbarer berufli- Handlungsablaufcher, gesellschaftlicher Lehrende und Lernende ziehen gemeinsam Konsequenzen für jetzige und zukünftige und »individueller« Anforderungen.Anforderungen (Bader)

Didaktischer KommentarFür diese Phase sollten Lehrende, vor allem wenn es sich um größere Sequenzen handelt,genügend Zeit einplanen, da hier ein wichtiger Theorie-Praxis-Transfer geleistet werden kann.

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142 Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung

gemäß dieser Unterrichtsschritt am zeitintensivs-ten ist.Er kann je nach Methoden- und Sozial- bzw.Personalkompetenz der Lernenden eine oder bis zumehreren Stunden in Anspruch nehmen (Becker1984, S. 96). Dies hängt auch davon ab, welche Un-terrichtseinheiten (eine Doppelstunde bis zu einemWochenplan) entworfen werden sollen und welcheEntscheidungen hinsichtlich der Methode,der Vor-gehensweise und der Bewertung anstehen.

6.2.5 Veränderte Rolle der Lehrenden und Lernenden

Grundsätzlich müssen sich Lehrende als Anbietervon Bildungs- und Lernprozessen verstehen. Mon-tessori hat dies aus der Sicht des Kindes formuliert:»Hilf mir, das selbst zu tun«. Die bisherige Lehrer-rolle verändert sich nicht automatisch im Kopf derLehrenden wie der Lernenden. Während es Ler-nende bislang gewohnt waren, »daß an ihnen ‘ge-handelt’ wird, daß sie sich in der mehr oder weni-ger komfortablen Rolle befinden,auf das zu warten,was ihnen im Unterricht ‘geboten’ wird, dass sie essind,die lernen sollen,was Lehrerinnen und Lehrerlehren, daß sie sich darauf verlassen können, daßfür sie ‘vorgedacht’und ‘vorgeplant’wird etc.,sollensie sich nun auf ein völlig anderes Verhalten um-stellen, das die Möglichkeit bietet, die eher ‘passive’Schülerrolle mit der eher ‘aktiven’ zu tauschen, siesollen also von der Objektrolle zur Subjektrolle«überwechseln (Jürgens 1995,S. 12).Lehrende warenes dagegen bislang gewohnt, Unterricht zu planen,zu strukturieren und den Lernprozess sowie dasErgebnis des Unterrichts genau zu fixieren.

Diese veränderte Form des Lernens, d. h. vonfremdgesteuerten zu selbstgesteuerten Prozessenim handlungsorientierten Unterricht,zieht zwangs-läufig auch eine Veränderung der Rollen von Leh-renden nach sich. Neben der traditionellen Rolleals Wissensvermittler, die auch weiterhin im hand-lungsorientierten Unterricht erhalten bleibt und er-halten werden muss,gibt es vor allem die neue Rol-le des »Coaching«. Diese neue Rolle vereinigt dieAufgaben eines Lernberaters mit denen eines Lern-helfers (learn-facilitators) (Hoffmann u. Langefeld1996, S. 19).

Darüber hinaus muss der Lehrende seine»Lehrmethode« zum Gegenstand des Unterrichtsmachen. Damit kann der Forderung »Der Schüler/

die Schülerin muß Methode haben!« (Meyer u. Pa-radies 1995, S. 14) nachgekommen werden.

Sei es im offenen Unterricht, im handlungsori-entierten Unterricht oder in konstruktivistisch an-gelegten Lernsituationen, Lehrende sind nicht nurLernpartner für die Auszubildenden, sondern sieübernehmen gerade zu Beginn des Lernprozesseswichtige Aufgaben z. B. in der Orientierung, in derVermittlung der geforderten Anforderungsprofile,in der Arbeitsorganisation und in der Ergebnis-sicherung (Messner 1978, S. 148).

Dies bedeutet einerseits,den Schüler »freizuge-ben zu selbsttätigem und selbstverantwortlichemLernen« (Jürgens 1995, S. 13), und andererseits dieLernenden sich »nicht selbst zu überlassen, son-dern sie bei den Prozessen des Selbständig-Wer-dens zu unterstützen, zu ‘führen’ und ihnen überHindernisse und Probleme wenn nötig hinwegzu-helfen« (Jürgens 1995, S. 13).

Im handlungsorientierten Unterricht wird esein ständiger Balanceakt für den Lehrenden sein,zwischen der Selbstständigkeit der Lernenden undseiner Führungs- und Leitungsaufgabe zu ent-scheiden.Häufig kommt es »auf den Lehrer an«,obhandlungsorientierter Unterricht eine Chance hat,umgesetzt zu werden.

Im Folgenden sollen kurz die neuen Lehrerin-nen- und Lehrerrollen vorgestellt werden, wobei inden Lernprozessen die einzelnen Rollen nicht im-mer scharf voneinander zu trennen sind. Die Rol-lenbezeichnungen gehen auf Muster-Wäbs (2001,S. 5) zurück.

1. Wissensvermittlerin/Wissensvermittler

Aufgrund des enormen Wissensvorsprungs, denLehrende in der Regel haben, ist es sinnvoll, dieseRessourcen per fachsystematischen Einschub in al-len Entwicklungsstufen des handlungsorientiertenUnterrichts zu nutzen. Darüber hinaus könnenLehrende jederzeit von den Lernenden gefordertwerden, um ihr Spezialwissen zu bestimmten Fra-gestellungen kurz, ökonomisch und strukturiert inden Lernprozess einzubringen.

2. Lernprozessgestalterin/Lernprozessgestalter

Diese Aufgabe ist sehr vielfältig angelegt. Das Auf-gabenspektrum reicht von der Gestaltung einerlernfördernden Umgebung über die Konstruktionvon Lernsituationen bis zu organisatorischen Ge-

Page 156: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung6143

sichtspunkten sowie der Gestaltung von Zwi-schenmeetings und Bewertungsritualen (Muster-Wäbs 2001, S. 5).

3. Lernprozessbegleiterin/Lernprozessbegleiter

Während der selbstgesteuerten Aktivitäten über-nimmt der Lehrende bestimmte Aufgaben.So ist erstets ansprechbar, kann individuelle Beratungendurchführen und Einzelnen, aber auch Gruppenentsprechende Rückmeldungen geben. Darüberhinaus übernimmt er während dieser eigenständi-gen Erarbeitung der Lernenden wichtige Beobach-tungsaufgaben, die für den Prozess und das Ergeb-nis entscheidend sein können.

4. Moderatorin/Moderator

Da ein Moderator Experte für den Prozess und da-mit für die Methoden ist, kann diese Aufgabe imhandlungsorientierten Unterricht nur eingenom-men werden,wenn die Lernenden dazu in der Lagesind, eigenständig und selbstverantwortlich dieLerninhalte zu bestimmen. Dies bedeutet, dass dieModeratorenrolle hauptsächlich in der dritten Pha-se wahrgenommen werden kann.In der Phase I undII wird diese Rolle nur eingesetzt, wenn es darumgeht,Vorwissen abzufragen, Fragen zu klären, me-thodische Schritte festzulegen und Präsentations-möglichkeiten zu bestimmen (Muster-Wäbs 2001,S. 5).5. Bewerterin/Bewerter

Von Anfang an ist es wichtig, egal in welcher Phasesich die Lernergruppe befindet, Bewertungskrite-rien für Prozess und Ergebnis entweder festzulegenoder gemeinsam mit den Lernenden zu entwickeln.Hier sind Offenheit und Transparenz die wichtigs-ten Leitgedanken.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dasshandlungsorientierter Unterricht nicht nurmehr ergebnis- und damit zielorientiert ist,sondern auch den Prozess in den Mittel-punkt des Unterrichtsgeschehens stellt. Inallen Schritten bzw.Phasen des handlungs-orientierten Unterrichts sind Lehrende auf-gefordert, die Erfahrungen, Interessen undBedürfnisse der Lernenden stärker als bis-

her einzubinden, fächerintegrative kom-plexe Lernsituationen unter Beteiligungder Lernenden zu planen bzw.mitentschei-den zu lassen und grundsätzlich Planung,Durchführung und Evaluation von Unter-richt zum Gegenstand von Unterricht zumachen. Lernende hingegen müssen sichzunehmend für selbstgesteuerte undselbstorganisierte Lernprozesse öffnen,fürihr Handeln verantwortlich zeichnen undbereit sein, soziale Beziehungen in Teamseinzugehen (Becker et al. 1997, S. 154).Die Ablösung von einem eher stark leh-rerzentrierten und damit verbundensprachlich orientierten Frontalunterricht,indem der Lehrende traditionelle Rollen ein-nimmt, hin zu einem aktiv-entdeckenden(Pätzold 1992, S. 23) und damit zu einemvon Schülern bestimmten Unterricht, ist ei-nerseits nicht einfach und andererseitsauch nicht sofort umsetzbar. Sie bedarf deraktiven Förderung und Innovation sowohlder Verantwortlichen in der Schulorganisa-tion als auch aller Akteure in der Aus-, Fort-und Weiterbildung von Lehrerinnen undLehrern.

3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung

4 Als Einstieg könnte jeder Teilnehmer für sicheine eigene Deutung des handlungsorientier-ten Unterrichts entwickeln. Es wäre möglich,diese subjektiven Vorstellungen entweder alsBild bzw. Piktogramm oder als formulierteÄußerung auf einer Moderationskarte festzu-halten. Anschließend könnte eine Präsentationim Plenum folgen.

4 Als weiteren Schritt könnten die aus der Lerner-gruppe resultierenden Deutungsmuster mitden im Einstieg formulierten subjektiven Vor-stellungen anderer Seminarteilnehmer und Se-minarteilnehmerinnen verglichen werden.Hierwürde sich eine Kleingruppenarbeit anbieten.Komprimierte Erkenntnisse könnten dem Ple-num rückgemeldet werden.

4 Steht ausreichend Zeit zur Verfügung, so könn-ten sechs arbeitsteilige Gruppen (pro Gruppeein Merkmalsansatz: Gudjons, Jank u. Meyer,

Zusammenfassung

Page 157: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

6

144 Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung

Halfpap, Bader, Arnold u. Müller, Laur-Ernst)gebildet werden. Jede Gruppe würde jeweils fürihren Ansatz zu jedem Merkmal ein Unter-richtsbeispiel schriftlich formulieren und diesspäter dem Plenum vorstellen. Dabei könntenGemeinsamkeiten und Unterschiede herausge-arbeitet werden.

Als umfassende Praxis- bzw. Erprobungsaufgabesollten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf-gefordert werden, die drei verschiedenen Pla-nungsraster für unterschiedliche Lernergruppenanzuwenden. Dabei empfiehlt es sich, die vorgege-benen Planungsraster schriftlich auszufüllen, umdanach die Unterrichts- bzw. Seminardurchfüh-rung zu gestalten. Die Evaluation des Unterrichts-bzw. Seminargeschehens sollte nach Möglichkeitmit den Lernenden gemeinsam vor Ort durchge-führt werden.Dabei können die Kategorien: gelun-gene Aspekte und verbesserungswürdige Aspektesehr hilfreich sein. Ebenso wäre eine Gegenüber-stellung von Selbstwahrnehmung (Schüler bzw.Teilnehmer) und Fremdwahrnehmung (Unterrich-tender bzw.Dozent) empfehlenswert.Alle Erkennt-nisse, die aus dieser Praxiserfahrung resultieren,sollten in einer anschließenden Seminarsitzungvorgestellt und diskutiert werden.

3 Empfehlungen zum WeiterlernenSchaube W (1996) Handlungsorientierung für Prak-tiker. Ein Unterrichtskonzept macht Schule. 2.Aufl.,Winklers Verlag, Gebrüder Grimm, Darmstadt

Dieser Praxis-Reader von nur 72 Seiten emp-fiehlt sich für Anfängerinnen und Anfänger, da ersowohl einen kurzen und knappen Überblick übereinige wichtige theoretische Grundlagen der Hand-lungsorientierung aufgreift als auch vor allem aufpraktische Orientierungshilfen und Umsetzungs-möglichkeiten in Schule und Ausbildung hinweist.

Jank W, Meyer H (1991) Didaktische Modelle.1.Aufl. Cornelsen Scriptor, Frankfurt a. M.

Dieses Buch beschäftigt sich vor allem mit un-terschiedlichen didaktischen Modellen und Unter-richtskonzepten,wobei unter anderem das Konzeptder Handlungsorientierung nach Hilbert Meyervorgestellt wird. Neben den Ursprüngen und denMerkmalen handlungsorientierten Unterrichtssteht vor allem das von Meyer entwickelte Pla-nungsraster im Mittelpunkt der Betrachtung.

Meyer H (1987) Unterrichtsmethoden II: Praxis-band. Scriptor, Frankfurt a. M.

Für alle diejenigen, die sich als Berufsanfängerwichtige Hinweise,Vorschläge und Anregungen imBereich der handlungsorientierten Methoden an-eignen wollen, ist dieses aufgelockerte Lehrwerksehr hilfreich. Es liefert einen umfassenden Über-blick über das vielfältige Methodenrepertoire, dasvom Frontalunterricht bis zum Projektunterrichtals einer Form des selbstorganisierten Lernensreicht.

Muster-Wäbs H, Schneider K (2001) Theoreti-sche Grundlagen und ausgewählte Methoden eineshandlungstheoretischen Konzeptes zur Umsetzungdes Lernfeldkonzeptes. In: Unterricht Pflege. 6. Jhg.Heft 1: 16–36

Dieser umfangreiche Aufsatz beschäftigt sichmit einem Planungsraster,das vor allem für fortge-schrittene Lernergruppen im Unterricht geeignetist.Es entspricht dem Planungsraster III des vorlie-genden Kapitels. Ein besonderer Schwerpunkt desAufsatzes liegt darin, dass er eine Vernetzung vonhandlungsorientierten Methoden, den zu fördern-den Kompetenzen bei Lernenden, der verändertenLehrerrolle und vor allem den potentiell auftreten-den Schwierigkeiten mit entsprechenden Lösungenherstellt, die in den einzelnen Phasen des Pla-nungsrasters wieder zu finden sind.

Zeitschriften

Unterricht Pflege(2001) Schwerpunkt: Methoden-repertoire. 6 Jhg. Heft 4

Dieses Schwerpunktheft beschäftigt sich aufüber 40 Seiten mit verschiedenen (sehr ausgefalle-nen) handlungsorientierten Methoden, die sowohldem Einstieg, der Erarbeitung als auch der Refle-xion bzw. Evaluation von Unterricht zugeordnetsind.Zuzüglich werden Methoden zur Gruppenbil-dung und zur Entspannung bzw. Bewegung vorge-stellt. Eingerahmt sind die Methoden durch einenGrundlagenaufsatz, in dem die besondere Bedeu-tung der Methodenkompetenz für Lehrende undLernende herausgestellt wird.

Unterricht Pflege (1996) Schwerpunkt: Hand-lungsorientierter Unterricht. 1. Jhg. Heft 1

Auf der Basis eines Grundlagenaufsatzes vonHilber Meyer zu Merkmalen handlungsorientier-ten Unterrichts und dem handlungsorientiertenPlanungsraster werden vier verschiedene Unter-

Page 158: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung6145

richtsentwürfe für den Pflegeunterricht vorgestellt.Alle Entwürfe sind nach dem Raster des hand-lungsorientierten Unterrichts von Meyer umge-setzt. Dabei handelt es sich um folgende Themen:Hilfestellung bei der Hustentechnik, Gedächtnis-leistungen erhalten und fördern, Sexualität imKrankenhaus und Qualitätssicherungsmaßnah-men im Krankenhaus.

Literatur

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Didaktik auf psychologischer Grundlage. Klett, Stuttgart

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der Schüler im offenen Unterricht. WPB. 30. Jhg. Heft 4:

145–150

Page 159: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

6

146 Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung

Meyer H (1987) Unterrichtsmethoden. II: Praxisband. Scriptor,

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Schaube W (1996) Handlungsorientierung für Praktiker. Ein Unter-

richtskonzept macht Schule, 2. Aufl. Winklers, Gebrüder

Grimm, Darmstadt

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Lehrer für Pflegeberufe. 21. Oktober 1997, Essen

Schneider K (2001) Handlungsorientiertes Lehren und Lernen. Ein

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magazin.2. Jhg. Heft 5: 25–35

Werning R (1998) Konstruktivismus.Eine Anregung für die Pädago-

gik? In: Pädagogik Heft 7–8/1998: 39–41

Page 160: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

7

Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen

Hannelore Muster-Wäbs

7.1 Menschenbild und Grundhaltung als Basis

für die Begleitung von Gruppen 148

7.1.1 Gruppe 149

7.1.2 Menschenbild 150

7.1.3 Grundhaltung 150

7.2 Handlungsleitende Modelle und Konzepte

für das Führen und Anleiten von Gruppen 151

7.2.1 Werte- und Entwicklungsquadrat 151

7.2.2 Themenzentrierte Interaktion 152

7.2.3 Eisbergmodell 153

7.2.4 Interaktionszirkel 154

7.2.5 Inneres Team 155

7.3 Aufgaben der Leitung in den einzelnen Phasen

der Gruppenentwicklung 157

7.3.1 Entwicklungsphasen einer Gruppe 157

7.3.2 Ankommen – Auftauen – Sich orientieren 158

7.3.3 Gärung und Klärung 159

7.3.4 Arbeitslust und Produktivität 161

7.3.5 Ausstieg und Transfer 163

7.4 Persönliche Anmerkungen 164

Page 161: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

7

148 Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen

Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie(Kurt Lewin). (Cohn 1992, S. 10)

> Thesen5 Welche Erfahrungen haben Sie mit der Lei-

tung von Gruppen gemacht?

5 Jeder hat Erfahrungen mit der Arbeit in Grup-

pen. Manchmal sind diese Erfahrungen mit

Arbeitsfreude, Entlastung, Synergieeffekten,

lustvollem Lernen und Wohlbefinden verbun-

den, zuweilen aber auch mit Drückeberger-

tum, Belastung, Ersticken von Kreativität,

Mobbing und Ängsten.

5 Denken Sie an eine Situation, in der Sie gerne

in einer Gruppe gearbeitet haben und zu be-

friedigenden Ergebnissen gekommen sind.

Welches Verhalten der Gruppenleitung hat Ih-

rer Meinung nach zu einer produktiven Arbeit

beigetragen?

5 In welcher Situation haben Sie dagegen un-

gern in einer Gruppe gearbeitet und die Ar-

beit als belastend empfunden.Was hätten Sie

sich von der Leitung in dieser Situation ge-

wünscht?

3 Berufliche Handlungskompetenzen

2 FachkompetenzHandlungsleitende Modelle, wie z. B. die

Entwicklungsphasen einer Gruppe,die the-

menzentrierte Interaktion, das Eisbergmo-

dell, das Werte- und Entwicklungsquadrat,

die Interaktionszirkel oder das Modell vom

Inneren Team,zur Erklärung der Dynamik in

einer Gruppe nutzen, um das Arbeiten in

der Gruppe bewusst und konstruktiv anzu-

leiten und zu begleiten.

2 PersonalkompetenzEigene Erfahrungen selbstkritisch reflektie-

ren und Schlüsse für eigenes zukünftiges

Verhalten daraus ableiten. Konflikte inner-

halb der Gruppe oder mit der Leitung nicht

als Ablehnung interpretieren, sondern als

Entwicklungschance für die Gruppe und für

sich konstruktiv nutzen.

2 Sozialkompetenz

Als Leitung sowohl die Gesamtgruppe als

auch die einzelne Person im Blick haben

und als Vorbild kontextbezogen authen-

tisch agieren.

2 MethodenkompetenzMethoden,die das Arbeiten in Gruppen för-

dern, professionell, d. h. kontextangemes-

sen und situationslogisch einsetzen.

2 Kommunikative KompetenzDen Einsatz von Methoden fachlich richtig

und für die Gruppenmitglieder verständlich

begründen.

3 PraxisrelevanzStudierende der Pflegepädagogik werden auf ihremBerufsweg Gruppen führen und begleiten. Eineprofessionelle Anleitung und Begleitung von Grup-pen basiert auf einem Verständnis von theoreti-schen Modellen und der Umsetzung dieser Model-le bei der Gestaltung der Praxis,wohl wissend,dassModelle Erklärungsversuche der Wirklichkeit sind,diese aber in ihrer Komplexität nicht vollständigabbilden können.

3 Verfahrensstruktur (. Abb. 7.1)

7.1 Menschenbild und Grundhaltungals Basis für die Begleitung von Gruppen

Jede Person kommt mit Erfahrungen und daraufgegründeten Vorstellungen davon, wie Menschensind und wie sie miteinander umgehen,d.h.mit ei-nem bestimmten Menschenbild und einem eige-nen Wertesystem, in eine Gruppe. Die persönlicheBiografie prägt damit die Grundhaltung, mit deranderen Menschen begegnet wird. Dies gilt natür-lich auch für die Leitung einer Gruppe. Men-schenbild und Grundhaltung der Leitungspersonprägen in besonderem Maße das Arbeitsklima undtragen erheblich zum Erfolg oder Misserfolg dergemeinsamen Arbeit bei. Bevor die Begriffe Men-

Page 162: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

7.1 · Menschenbild und Grundhaltung als Basis für die Begleitung von Gruppen7149

schenbild und Grundhaltung als Basis einer Anlei-tung von Gruppen näher erläutert werden, wirdzunächst der Begriff »Gruppe« skizziert.

7.1.1 Gruppe

Eine Gruppe besteht aus einer begrenzten Anzahlvon Individuen, die für einen definierten Zeitraumaufgrund einer gemeinsamen Zielsetzung in un-mittelbarem Kontakt und Austausch miteinander

. Abb. 7.1. Verfahrensstruktur

Page 163: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

7

150 Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen

stehen.Gruppenmitglieder entwickeln ein Wir-Ge-fühl und agieren auf der Grundlage von akzeptier-ten Verhaltensweisen und Normen. Innerhalb derGruppe gibt es bestimmte Rollenzuweisungen(Schneider 1996).

Dieses Verständnis von Gruppe, von dem hierausgegangen wird, trifft auf jede Lern- und Ar-beitsgruppe zu,die längere Zeit,d.h.mehrere Tage,Wochen, Monate oder Jahre, miteinander arbeitet.Gruppen,die nur einen halben oder ganzen Tag be-stehen, sollten natürlich auf derselben Grundlagegeleitet werden; die Entwicklungsphasen einerGruppe durchlaufen sie jedoch in der Regel nichtoder nur in kaum merklichen Ansätzen.

7.1.2 Menschenbild

Menschen entwickeln und verwirklichen sich im-mer im Zusammenhang mit ihrer Umgebung. DieLeitung einer Gruppe kann Wachstumspotenzialebei den Mitgliedern unterstützen, wenn sie selbstvon einem Menschenbild ausgeht, das an positivemenschliche Möglichkeiten zur Entfaltung glaubt,entsprechend mit Ermutigung arbeitet, den Men-schen grundsätzlich Zutrauen in ihre Fähigkeitenund ihr Wollen entgegenbringt und die Schatten-seite oder Mängelseite nicht übersieht.

7 Die humanistische Psychologie geht

davon aus, dass die Möglichkeit der

Destruktivität eine Realität des Men-

schen ist, und dass nur eine humane

Ethik und eine konstruktive Hand-

habung ihr Einhalt gebieten kann

(Langmaack 1994, S. 165).

Vertreter der humanistischen Psychologie sind z.B.Ruth C. Cohn, Carl Rogers, Fritz Pearls oder EricBerne. Sie alle betrachten negatives oder zerstöre-risches Verhalten als einen Teil menschlicher Äuße-rungen,die ihre Begründung,nicht ihre Rechtferti-gung, in der jeweils subjektiven Wahrnehmung desMenschen von der Situation haben. Eine Gruppen-leitung, deren Menschenbild auf diesem Anspruchbasiert, nimmt die subjektive Wirklichkeit des Ein-zelnen ernst und gibt auch unangenehmen undwertlos erscheinenden Gefühlen ihren Raum.Schmerz,Leid und Konflikte werden als dem Leben

zugehörig betrachtet und es gilt, sie zu bewältigenund daran zu wachsen. Mit einer solchen grund-sätzlich lebensbejahenden Einstellung und demGlauben an einen positiven Kern im Menschenkann eine Gruppenleitung das Klima in erhebli-chem Maße angstfrei und persönlichkeitsförderndbeeinflussen.

7.1.3 Grundhaltung

Aus dem Menschenbild ergibt sich eine bestimmteGrundhaltung des Lehrenden, die den Umgangmiteinander in der Arbeitssituation bestimmt. DaArbeiten und Lernen immer in sozialem Kontextstattfindet, ist die Bewusstheit über die Bedeutungvon Grundhaltungen und das dahinterstehendeMenschenbild von grundlegender Bedeutung.Grundhaltungen beinhalten einen persönlichenAnsatz in der Begegnung von Personen und be-stimmen die Beziehung. Eine Grundhaltung, z. B.Achtung der Person, drückt sich in einer Verhal-tensweise, z. B. Sensibilität, aus. Diese Verhaltens-weise äußert sich in einer konkreten Handlungoder einer Tätigkeit, z. B. dem aufmerksamenZuhören. Handlungen kennzeichnen den Umgangmit anderen Menschen und wirken sich auf die Be-ziehung aus (Miller 1991, S. 43).

Miller hat auf der Grundlage der Erziehungs-psychologie von Tausch / Tausch, verbunden mitseinen Erfahrungen als Lehrer, die folgendenGrundhaltungen formuliert:

7 4 Achtung der Person / Nichtwertung

– Sich und den anderen als Person

achten und respektieren.

– Wissen, dass auch ein unver-

ständliches Anderssein seine

guten Gründe hat.

– Bedenken, dass nur Leistungen

bewertbar sind, nicht aber der

ganze Mensch.

4 Echtheit / Selbstkongruenz

– Sich selbst ohne Bewertung an-

nehmen.

– Das eigene Denken, Fühlen und

Handeln in Übereinstimmung

bringen.

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7.2 · Handlungsleitende Modelle für das Führen und Anleiten von Gruppen7151

4 Einfühlendes Verstehen / Wärme

– Den eigenen Gefühlen vertrauen.

– Einfühlendes Verstehen vermitteln.

– An der inneren Welt des anderen,

an seinen Gefühlen und Sichtwei-

sen echt Anteil nehmen.

4 Nähe und Distanz

– Eine Nähe vermitteln, die Halt

und Geborgenheit gibt und eine

Distanz, die die Selbständigkeit

fördert (Miller 1991, S. 44).

Grundhaltungen sind keine Sozialtechniken, dietrainiert werden können oder Methoden, derenEinsatz den Umgang mit den Teilnehmern einerGruppe erleichtert. Sie drücken vielmehr dasSelbstverständnis aus, mit dem anderen Menschenbegegnet wird.Sie werden mit unserer Biografie er-worben, sind jedoch nichts Feststehendes und Un-abänderliches, sondern lassen sich durch die be-wusste Auseinandersetzung mit dieser Thematikanreichern und/oder verändern.

7.2 Handlungsleitende Modelle und Konzepte für das Führen und Anleiten von Gruppen

Für die Leitung einer Gruppe ist das theoriegeleite-te Verständnis von der Dynamik in Gruppen eineEntlastung. Dies gilt sowohl für die Planungsphaseals auch für die Durchführung selbst,wenn die Lei-tungsperson oft blitzschnell Äußerungen einord-nen oder auf Verhalten reagieren will, sowie für dieBewertung des Evaluationsergebnisses. Theoreti-sche Modelle und Konzepte bilden eine komplexeRealität jedoch nicht vollständig ab. Sie heben aberwesentliche Aspekte hervor und sind eine Grund-lage für das Verständnis von Situationen.

Einige für mich wesentliche Modelle und Kon-zepte, die hilfreich sind, die Dynamik in Gruppenzu verstehen, werden nachfolgend dargestellt.

7.2.1 Werte- und Entwicklungsquadrat

Die skizzierten Grundhaltungen enthalten Wertefür das Leiten von Gruppen,z.B.Nähe herzustellen,

mitzuschwingen und empathisch zu sein, anderePersonen wertzuschätzen, ihre Autonomie zu res-pektieren,sich authentisch zu verhalten oder ande-re Menschen grundsätzlich zu akzeptieren.Aus derErkenntnis, »dass im menschlichen Zusammenle-ben Werte (Qualitäten, Tugenden) nur dann einekonstruktive Wirkung entfalten,wenn sie in ausge-haltener Spannung zu einem Gegenwert gelebt undverwirklicht werden« (Schulz von Thun et al. 2001,S. 52), entwickelte Schulz von Thun (Schulz vonThun 1991) ein Werte- und Entwicklungsquadrat.Er bezeichnet darin den Gegenwert eines positivenWertes als komplementäre »Schwestertugend«.Sol-che komplementären Tugenden sind z.B.Nähe undDistanz oder Fördern und Fordern.Das Werte- undEntwicklungsquadrat veranschaulicht, dass beidepositiven Werte in einer dynamischen Balance zuhalten sind, um nicht in eine »entwertende Über-treibung«(Schulz von Thun et al. 2001, S. 53) zu ver-fallen.

Das soll an einem Beispiel veranschaulicht wer-den:

Eine Leitungsperson, für die das Herstellen vonNähe von besonders großer Bedeutung ist, begibtsich in die Gefahr, mit den Lernenden zu ver-schmelzen und als Leitung nicht mehr erkennbarzu sein.Denkbar ist auch,dass sie mit ihrer Fürsor-ge, Bevormundung oder gar »Bemutterung« dieTeilnehmer in ihren Entwicklungsmöglichkeiteneinschränkt. Es wird deutlich, dass zu viel Nähenicht mehr positiv ist.

7 Eine Leitungsperson hingegen, die ein-

zig Wert darauf legt, die nötige Distanz

zu wahren, nicht aus der »Rolle« zu fal-

len und als Leitung erkennbar zu blei-

ben, kann leicht den Kontakt zu den

Menschen in der Gruppe verlieren

(Muster-Wäbs 2000a, S. 6).

Sie hat von dem positiven Wert,»Distanz halten« zukönnen,zu viel und lässt so den Wert zu einem »Un-wert« oder einer »entwertenden Übertreibung«verkommen. Beides, eine Nähe herzustellen, dieVertrauen erzeugt und Angst nimmt,und eine Dis-tanz zu halten, die es den Lernenden erlaubt, aucheigene Wege zu gehen und ihnen Entwicklungs-möglichkeiten lässt,hat seinen Wert.Jeder Wert hat

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7

152 Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen

seinen positiven Kern. Werden die Werte in einerdynamischen Balance gehalten, d. h. wird je nachSituation aus der Nähe oder der Distanz agiert,können sie ihre konstruktive Wirkung entfalten.

Die Auseinandersetzung mit dem Werte- undEntwicklungsquadrat und das Umsetzen der Er-kenntnisse in Leitungsverhalten sind bereicherndund entlastend. Hinzu kommt, dass auf dieser Ba-sis ein anderer, menschlicherer Umgang mit denLernenden möglich wird (. vgl. Abb. 7.2).

7.2.2 Themenzentrierte Interaktion

In Lern- und Arbeitsgruppen geht es vorrangig umdie Bearbeitung eines Themas.Dieser zentrale Mit-telpunkt des gemeinsamen Tuns gibt den Rahmenund das Ziel vor. Die produktive Auseinanderset-zung mit dem Thema wird erleichtert, wenn dieTeilnehmer sich auch als Individuen mit ihren Be-findlichkeiten, ihren Bedürfnissen und ihren Wün-schen angstfrei einbringen können.Auch die Grup-pe als Ganzes, mit ihrem Beziehungsgeflecht, ihrenRegeln, den herrschenden Animositäten und Zu-neigungen, bestimmt, wie konstruktiv und effektivein Thema bearbeitet wird. Nicht zuletzt hat auchdas Umfeld, d. h. die Arbeitszeiten, Räumlichkei-ten,wichtige politische Ereignisse oder das System,in dem diese Lerngruppe sich befindet,Einfluss aufden Arbeitsprozess. Diese Zusammenhänge veran-schaulicht Ruth C. Cohn (Cohn 1992) in ihrem Mo-dell der themenzentrierten Interaktion (TZI).Cohn

hat die Arbeit in psychotherapeutischen Gruppenmit der Arbeit von anderen Lerngruppen vergli-chen und dabei den Eindruck gewonnen,

7 dass Gefühle im Klassenzimmer und in

anderen Gruppen kaum einen ange-

messenen Platz finden. … Vielleicht

könnte der Lehrer sowohl sich selbst als

auch seinen Schülern das Recht auf die

Bewusstheit der eigenen Gefühle zubilli-

gen und an die Stelle einer heimlichen

Sabotage von Gefühlen ein offenes An-

recht der Menschen auf Gefühle setzen.

Schüler und Lehrer haben sowohl ein

Anrecht auf die Realität ihrer Störungen

als auch auf ihre schöpferischen Gefüh-

le. Es erscheint mir weise, diese Wirklich-

keit zu bestätigen und sie als Tatsache

anzusehen, anstatt sie zu unterdrücken

(Cohn 1992, S. 112).

Lerngruppen arbeiten themenzentriert an einerAufgabe oder einem Thema, wobei an der Bearbei-tung alle Gruppenmitglieder beteiligt sind, die inInteraktion miteinander treten (Langmaack 1994,S. 1). Cohn geht bei der themenzentrierten Interak-tion davon aus,dass eine Gruppe dann arbeitsfähigist, wenn eine dynamische Balance zwischen derBeschäftigung mit dem Thema (ES), der Gruppe(WIR) und der Persönlichkeit des Einzelnen (ICH)hergestellt wird und das Umfeld (GLOBE) ebenfallsseine angemessene Berücksichtigung findet. Die

. Abb. 7.2. Beispiele für Werte- und Entwicklungsquadrate

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7.2 · Handlungsleitende Modelle für das Führen und Anleiten von Gruppen7153

Gruppenleitung wird dies in ihrem methodischenVorgehen steuern und je nach Situation nicht nurdas Thema, sondern auch die einzelne Person, dieGruppe oder das Umfeld in den Vordergrundstellen.

Cohn hat zwei Postulate geprägt:1. »Sei dein eigener Chairman« (Cohn 1992,S.121).

Dieses Postulat steht für das Zutrauen in dieFähigkeit des Menschen, »sich selbst zu leitenoder zu organisieren, mehr und mehr die Ver-antwortung für sich selbst und andere zu über-nehmen« (Langmaack 1994, S. 78). Dahintersteht die Aufforderung, sich selbst und anderewahrzunehmen und wertzuschätzen. Da dasChairman-Postulat für das Arbeiten in Grup-pen gilt, beinhaltet es auch, dass jeder in derGruppe autonom und interdependent ist. Dieeinzelne Person ist nicht völlig autonom undauch nicht vollkommen abhängig. Ihre Ent-scheidungen und ihr Handeln beschließt sie je-doch autonom. Die Auswirkungen treffen da-gegen in der Regel auch andere.So gilt für jedesGruppenmitglied,dass es in Verantwortung fürsich und der Gruppe gegenüber handeln soll.Esmuss eine Balance finden zwischen Autonomieund Interdependenz. Die Leitung hat die Auf-gabe, die Autonomie jeder einzelnen Person zufördern und zugleich den Blick auf das Ganzezu lenken.

2. »Störungen haben Vorrang« (Cohn 1992,S.122).Dieses Postulat ist eine Aufforderung an daseinzelne Gruppenmitglied, Störungen anzu-melden. Es ist auch eine Forderung an die Lei-tung, Störungen wahrzunehmen und sie ange-messen zu kommunizieren. Auf diese Weisewerden auch die unbeteiligten Teile einer Per-son oder einer Gruppe ins Geschehen hinein-geholt und ihnen ein angemessener Platz gege-ben (Langmaack 1994, S. 88).

Aus diesen Postulaten hat Cohn Hilfsregeln für dieKommunikation abgeleitet.

7 TZI ermöglicht es, nicht nur vordergrün-

dig auf einer intellektuellen Ebene mit-

einander umzugehen, sondern Kopf,

Herz und Hand gleichermaßen zu betei-

ligen (Muster-Wäbs 2000a, S. 4).

7.2.3 Eisbergmodell

Das Eisbergmodell verdeutlicht, dass sich die Be-ziehungen der Menschen zueinander (Beziehungs-ebene) auf die sachlichen Auseinandersetzungen(Sachebene) auswirken. In Gruppen wird auf zweiEbenen miteinander kommuniziert. Auf der Sach-ebene geht es um das definierte Ziel oder die Auf-gabe (Sachlogik) während die Beziehungsebene(Psychologik) bestimmt wird durch »alles,was zwi-schenmenschlichen Beziehungen Charme und Le-bendigkeit gibt, aber eben auch Ärger und Hick-hack« (Langmaack 1994, S. 20). Es gibt wie bei ei-nem Eisberg eine sichtbare Ebene, in der es um dieAufgabe, die Sache, die Tagesordnung, die Zeiten,das angestrebte Ziel geht, und es gibt eine sehr vielgrößere verborgene Ebene, die alle auf die Kom-munikation einwirkenden emotionalen und so-zialen Faktoren umfasst (. Abb. 7.3). Hier wirkenvage z. B. Erwartungen, Ängste, Sympathien, Anti-pathien, Werte, Konkurrenz, Abwertung, Ausgren-zung und Tabus auf die Themenbearbeitung ein.Allerdings beinhaltet diese Ebene auch Energie,Leistungswille oder Neugierde. So ist es möglich,auf der Sachebene, also »über der Wasserober-fläche«,eine von allen akzeptierte Kommunikationzu führen und zugleich »unter der Wasserober-fläche« die »Torpedos« abzuschießen (Philipp 1996,S. 49).

In Sachdiskussionen wird oft nicht wirklichoder zumindest nicht ausschließlich um die Sachegerungen,sondern es wird zielorientiert und selek-tiv argumentiert, weil es für einige, viele oder garalle Mitglieder nicht um das Thema, sondern um»Gewinnen und Verlieren«, Macht oder Vormacht-stellungen geht. Es entwickeln sich in Gruppen indieser verdeckten Kommunikation »heimliche Lei-ter«, die die Gruppe führen und ein Gegengewichtzur offiziellen Leitung bilden.Vor allem aber befin-den sich unter der Oberfläche die »heimlichen Re-geln«.Sie schreiben fest,was »man« in dieser Grup-pe tut bzw. nicht tut. Dazu gehört häufig die Ableh-nung der offiziellen Leitung und damit die Abwehrder Forderungen, die diese an die Gruppenmitglie-der stellt. Dies kann sich beispielsweise darinäußern, dass »man« sich nicht auf private Kontak-te oder Gespräche mit der offiziellen Leitung ein-lässt und unter Umständen sogar gesellschaftlichanerkannte Gesten der Höflichkeit unterlässt, um

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7

154 Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen

nicht in den Geruch der Anbiederei zu geraten undin der Gruppe isoliert zu werden (Muster-Wäbs2000a, S. 2 f.).

Für das Leiten von Gruppen ist dieses Modellhilfreich, weil es eine Erklärung für ein eher diffu-ses Wahrnehmen einer nicht stimmigen Diskussi-on oder »Scheindiskussion« gibt. In solchen Situa-tionen können gezielt mit der Gruppe die versteck-ten Bedürfnisse, Argumente oder Ziele aufgespürtund thematisiert werden.Vor allem aber macht die-ses Modell deutlich, wie wichtig es ist, gleich zu Be-ginn einer neuen Gruppe schwer aussprechbare Er-wartungen,Ängste oder mögliche Tabus zu thema-tisieren.

7.2.4 Interaktionszirkel

Störungen oder Konflikte in einer Gruppe lassensich oft durch die Diagnose von bestehenden Inter-aktionszirkeln oder »Teufelskreisen« (Schulz vonThun 1991, S. 28 ff.) erklären. Diese systemischeBetrachtung veranschaulicht die gegenseitigeBedingtheit von Aktion und Reaktion zwischenPersonen oder Personengruppen: Eine Aktion vonA ruft eine Reaktion von B hervor, durch die sich A in ihrer Aktion bestätigt sieht und diese wie-derholt. Dabei werden vier Stationen unterschie-den:4 Eine Äußerung oder ein Verhalten der Person A:

z. B. die Leiterin erteilt deutliche Anweisungen,gibt die Struktur und die Organisation als un-

veränderlich vor und fragt nicht nach den In-teressen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

4 Diese Äußerung von A führt zu einer »Inne-rung« (Gefühle, Gedanken) bei B: z. B. fühlensich die Lernenden nicht ernst genommen,son-dern bevormundet, gegängelt, eingeschränktund entmündigt.

4 Entsprechend seiner »Innerung«, also seinerGefühle und Gedanken, verhält sich B (Äuße-rung): z. B. gehen die Lernenden mit kleinenFreiräumen destruktiv um, umgehen Anwei-sungen oder missachten sie, sind initiativlosund übernehmen keine Verantwortung.

4 Durch dieses Verhalten wird eine »Innerung«bei A ausgelöst: z.B. fühlt sich A darin bestätigt,dass die Lernenden eine »feste Hand« und Kon-trolle benötigen. Sicher fühlt sie sich aber auchangestrengt und vielleicht in ihrem Bemühennicht anerkannt. Ihre Schlussfolgerung ist, denLernenden noch deutlicher Vorgaben zu ma-chen. Der Kreis ist geschlossen.

Einen solchen Zirkelschluss können die Beteiligtenmeist ohne fremde Hilfe nicht verlassen.Jeder fühltsich als Opfer der Situation.

Der Interaktionszirkel,bzw.das Modell der Teu-felskreise,bietet einen guten Ansatz für die Analysevon Störungen.Diese lässt sich gut auch mit den Be-teiligten durchführen,wobei die bloße Betrachtungder Zirkularität oft schon der erste Schritt ist, ausdem Teufelskreis herauszutreten. . Abbildung 7.4

zeigt einen häufig vorkommenden Teufelskreis,der

. Abb. 7.3. Eisbergmodell

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7.2 · Handlungsleitende Modelle für das Führen und Anleiten von Gruppen7155

zwischen dominanten und zurückhaltenden Grup-penmitgliedern entstehen kann.

Die Interaktionszirkel/Teufelskreise zeigen ei-nen

7 Aspekt der eigenartigen und niemals

vollständig aufklärbaren »Chemie« zwi-

schenmenschlicher Beziehungen: Dass

wir im Umgang mit dem Mitmenschen

X einen ganz bestimmten Teil unseres

Selbst mobilisieren und im Umgang mit

Y einen anderen Teil (Schulz von Thun et

al. 2001, S. 41).

7.2.5 Inneres Team

Das von Schulz von Thun entwickelte Modell des»Inneren Teams« (Schulz von Thun 1998) verleben-digt die inneren Stimmen (Bestrebungen, Motive),die eine Person insbesondere in Konflikt- oder Ent-scheidungssituationen als innere Zerrissenheitempfindet. Dieses Modell veranschaulicht die in-

nere Vielstimmigkeit durch die eigenen »inneren«Teammitglieder. Zur Leitung seines inneren Teamswird man,indem man sie zu Wort kommen lässt,siemiteinander ins Gespräch bringt und als »Team-oberhaupt« entscheidet. Die Leitungsperson einerGruppe könnte z. B., wenn sie in eine neue Gruppekommt, die folgenden inneren Teammitglieder(Muster-Wäbs 2000b, S. 9) mit entsprechendenBotschaften haben:4 Die Ängstliche: Wollen die Teilnehmer meine

Botschaft? Bin ich gut genug vorbereitet?4 Die Ökonomin: Ich will mit meinen Kräften

haushalten. Aufwand und Ertrag müssen stim-men.

4 Die große Nummer 1: Ich möchte mit meinemWissen und Können glänzen. Ich will zeigen,was ich kann.

4 Die Misstrauische: Kommen die Teilnehmer mitWiderstand? Können sie das, was ich hier tue,überhaupt wertschätzen?

»Ein Miteinander und Gegeneinander finden wirnicht nur zwischen den Menschen, sondern auch

. Abb. 7.4. Interaktionszirkel zwischen dominanten und zurückhaltenden Gruppenmitgliedern

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7

156 Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen

innerhalb des Menschen« (Schulz von Thun et al.2001,S.45).Diese Zerrissenheit und eigene Unklar-heit zeigt sich häufig in schwankenden oder nichteindeutigen Reaktionen und löst als inkongruenteÄußerung beim Gegenüber z. B. Verunsicherung,Verärgerung oder Unklarheit aus.Dies ist dann derFall, wenn nur ein inneres Teammitglied das Sagenhat und die anderen lediglich als schlummerndesUnwohlsein wahrgenommen werden. Würde sichin unserem Beispiel allein die »große Nummer 1«durchsetzen, wäre das Agieren der Leitung davonbestimmt, sich selbst darzustellen. Auf die Bedürf-nisse der Lernenden, ihre Fragen und ihre Themenwürde keine Rücksicht genommen werden. Wennauch die anderen inneren Teammitglieder zu Wortkommen und Einfluss auf das Handeln nehmenkönnten, würde z. B. die Ängstliche dafür sorgen,sich selbst auch in Frage zu stellen, die Misstraui-sche nähme aufmerksam die Reaktion der Lernen-den wahr und die Ökonomin wäre für die Balancezwischen Aufwand und Ertrag zuständig undschützte vor dem Ausbrennen.

Werden zu einem Thema oder einer Situationalso mehrere innere Lautgebungen, innere Stim-men, laut, so mag das zwar oft lästig sein, insbe-sondere, wenn die darin deutlich werdenden inne-ren Teammitglieder »zerstritten« sind. Es handelt

7 sich dennoch nicht um eine seelische

Störung, sondern um eine ganz

menschliche und letztlich auch wün-

schenswerte ‘innere Pluralität’.Wenn es

nämlich gelingt, aus dem ‘zerstrittenen

Haufen’ ein ‘Inneres Team’ zu machen,

dann können innere Synergieeffekte

dazu führen, dass ich der Welt mit ver-

einten Kräften begegne und dass mein

Verhalten angemessener ausfällt, als

wenn nur eine Stimme ihre Weisheit bei-

getragen und allein das Sagen gehabt

hätte (Schulz von Thun et al. 2001, S. 46).

Das Modell des »Inneren Teams« entlastet von derVorstellung, in bestimmten Kontexten gäbe es nureine richtige Reaktion. Vor allem aber entlastet esvon dem Zweifel, unvollkommen, fehlerhaft oderals Persönlichkeit schwach zu sein, wenn man sichmit Entscheidungen schwer tut. Der bewusste Um-

gang mit den inneren Teammitgliedern kann zurSelbstklärung genutzt werden,indem vor einer Ent-scheidung oder einer Reaktion die innere Vielstim-migkeit wahrgenommen wird, d. h. die Teammit-glieder angehört und vielleicht miteinander ins Ge-spräch gebracht werden. Da jeder Mensch geliebteund ungeliebte Teammitglieder hat, erleichtert esdie Selbstakzeptanz, weil die nicht geliebten undoft auch gesellschaftlich nicht anerkannten Mit-glieder im Zusammenspiel mit den anderen leich-ter zu ertragen sind. Zudem haben auch sie bei ge-nauer Betrachtung einen durchaus ernst zu neh-menden positiven Kern (Muster-Wäbs 1999,S.17 f.).Die handelnde Person sollte sich sozusagen zum»Teamchef« der inneren Teammitglieder machen,indem sie anhört, abwägt und dann entscheidet.Dabei können auch durchaus mehrere Stimmenzum Tragen kommen, solange die handelnde Per-son noch nicht entschieden ist. Beim Gegenüberverhilft das zur Klarheit und ist förderlich für dieBeziehung. Das bedeutet allerdings, die Teammit-glieder zu kennen und auch die »Schattenseiten« ansich zu sehen. Werden die negativ besetzten Mit-glieder »verbannt«, kann sich das in Arbeits- undLebens- und damit in Kommunikationssituationenbelastend auswirken (Muster-Wäbs 1999, S. 18),z. B.:4 Die handelnde Person »verfolgt erbarmungs-

los« genau die von ihr nicht ausgelebten Seitenbei anderen Menschen.

4 Die handelnde Person hält mühsam die von ihrals negativ angesehenen Seiten »in Schach«,verbannt sie und hält eine Fassade gesellschaft-lich anerkannter Verhaltensweisen im Über-maß aufrecht. Das kostet enorme Kraft undkann sich im Extremfall z. B. in Wochenend-depressionen, hohem Alkoholkonsum oderKrankheit im Urlaub auswirken. Denkbar istauch ein vollständiger Zusammenbruch derFassade verbunden mit einem Zusammen-bruch der Person.

Die Leitung einer Gruppe hat es daher immer mitzwei Teams zu tun: Mit dem eigenen inneren Teamund dem äußeren Team, der Gruppe. Eine Grup-penleitung führt also zugleich zwei Teams.Ein pro-fessionelles Leiten wird erleichtert, wenn das inne-re Team bekannt ist und die Kommunikation aufdieser Ebene funktioniert.

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7.3 · Aufgaben der Leitung in den einzelnen Phasen der Gruppenentwicklung7157

7.3 Aufgaben der Leitung in den einzelnen Phasen der Gruppenentwicklung

7.3.1 Entwicklungsphasen einer Gruppe

Lernen und Arbeiten von Menschen findet in derRegel in einem sozialen Kontext, einer Gruppe,statt. Jede Gruppe durchläuft einen sozialen Ent-wicklungsprozess, für den typische Phasen kenn-zeichnend sind (Langmaack u. Braune-Krickau1993, S. 70 ff.):4 Phase 1: Ankommen – Auftauen –

Sich orientierenInhalte, Abläufe, Zeiten und Ziele werden ge-klärt. In dieser Phase werden ganz wesentlichdie Grundlagen für das Klima der Zusammen-arbeit gelegt und die Lernenden nehmen Kon-takt miteinander auf. Die Strukturen und Or-ganisationsformen der Arbeit werden festgelegtund die thematische Arbeit wird aufgenom-men.

4 Phase 2: Gärung und KlärungEine Phase, in der es verstärkt Störungen undKonflikte gibt, ist unvermeidlich. Zu diesemZeitpunkt werden Widerstände,Konfliktpoten-zial und Konkurrenzkämpfe deutlich. Klärun-gen, die Überprüfung der getroffenen Verein-barungen und deren Änderung oder Ergän-zung helfen, zur nächsten Phase zu kommen.

4 Phase 3: Arbeitslust und ProduktivitätDie thematische Arbeit erreicht in dieser Phaseihren Höhepunkt.Auf der Basis einer geklärtenBeziehungsebene können Spannungen meistproblemlos bearbeitet werden und die Ener-gien sind für das Thema frei.

4 Phase 4: Ausstieg und TransferJede Lerngruppe besteht nur für eine bestimm-te Zeit. Zu einem gelungenen Ausstieg gehörtnicht nur die Bearbeitung von Themenresten,sondern auch die Evaluation und die Gelegen-heit zu einem gegenseitigen Feedback.

Diese Entwicklungsphasen einer Gruppe sinddurch phasenspezifische Erwartungen, Gefühle,Bedürfnisse und entsprechendes Verhalten der Teil-nehmerinnen und Teilnehmer bestimmt, die eine

Leitung bei der Planung und Durchführung vonLernveranstaltungen berücksichtigen sollte. DieEntwicklungsphasen sind nicht von gleicher zeitli-cher Dauer. Sie sind auch in jeder Gruppe andersausgeprägt. Das Modell zeigt das Typische jederPhase auf, wobei die Phasen nicht wie eine Perlen-kette aufgereiht sind, sondern oft eher schleifenar-tig verlaufen, d. h., dass es in der Phase der Arbeits-lust durchaus wieder Störungen und Konflikte ge-ben wird.

Die Leitung einer Gruppe hat die Aufgabe, denGruppenprozess so zu gestalten, dass aus den Ein-zelpersonen eine Gruppe wird und sich ein kon-struktives und produktives Arbeitsklima entwi-ckelt.

7 Diese Phasen können sich »urwüchsig«

vollziehen, d. h. ohne bewusste Gestal-

tung und Einflussnahme der Leitung.

Dann ist das Zustandekommen einer

produktiven Zusammenarbeit dem Zu-

fall überlassen und eher selten. Meist ist

es für eine Gruppe nur sehr schwer oder

gar nicht möglich, ihre Konflikte ohne

Einflussnahme der Leitung zu bearbei-

ten und »Arbeitslust und Produktivität«

zu erleben. Eine professionelle Gestal-

tung des Prozesses durch gekonnte In-

terventionen der Leitung führt in der Re-

gel zu einem bewussten Erleben und der

Reflexion des Prozesses. Eine so angelei-

tete Arbeitsgruppe kommt schneller in

eine intensive Arbeitsphase (Muster-

Wäbs 2000a, S. 8).

Die Grundlage für eine professionelle Anleitungvon Gruppen bieten die handlungsleitenden Kon-zepte und Modelle. Im Folgenden werden für jedePhase zunächst typische Befindlichkeiten, Bedürf-nisse und daraus resultierendes Verhalten skizziert.Zur Veranschaulichung dient das Modell des inne-ren Teams. Die Aufgaben und die Rolle der Leitungin jeder Phase wird im Anschluss daran unter Be-zugnahme auf die handlungsleitenden Theorienpräzisiert (Muster-Wäbs 2000b, S. 11 ff.). Abschlie-ßend wird eine erprobte Möglichkeit zur Struktu-rierung dieser Phasen in Schritten vorgestellt.

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7

158 Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen

7.3.2 Ankommen – Auftauen – Sich orientieren

Die bewusste Gestaltung der Anfangsphase mit vielRuhe und Zeit ist eine gute Grundlage für einproduktives und konstruktives Arbeiten, wenn esgelingt, eine angstfreie, offene und vertrauensvolleAtmosphäre zu schaffen. Beim Start einer Gruppesollten sowohl die Sach- als auch die Beziehungs-ebene ihren angemessenen Raum erhalten.

Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Verhalten in der Gruppe

In der Anfangsphase einer Gruppe kommen dieLernenden mit unterschiedlichen und zum Teilauch widerstreitenden Bedürfnissen und Gefühlen,die in ihrem inneren Team z. B. als »Ängstlicher«,»Ökonom«, »Begeisterungsfähiger«, »Strukturier-ter«, »Selbstbewusster«, »große Nummer 1« und»Misstrauischer« unterschiedliche Botschaftensenden. Da die jeweiligen Teammitglieder meistunterschiedlich durchsetzungsfähig sind, bestim-men diejenigen,die das Sagen haben,das Verhalteneines Gruppenmitglieds. Die Leitung hat es infol-gedessen mit Teilnehmerinnen und Teilnehmernzu tun, von denen z. B. einige ängstlich, andere be-geisterungsfähig sind und wieder andere im Mit-telpunkt stehen wollen.

Die Gefühle,die das Klima in einer Gruppe prä-gen sind z. B. Angst und Zweifel, aber auch Neu-gierde,Misstrauen,Freude,Begeisterung und Unsi-cherheit.

Die Bedürfnisse erwachsen aus ihren Gefühlen.

7 Die »Ängstliche« benötigt Sicherheit

und Nähe. »Die Ökonomin« will zu-

nächst wissen, welchen Ertrag sie aus

dem Lernprozess ziehen kann. »Der Be-

geisterungsfähige« muss erfahren, dass

er hier Neues lernen kann und dass

Arbeiten hier auch Spaß bringen soll.

»Die Strukturierte« braucht einen

Überblick über den geplanten Ablauf.

»Die Selbstbewusste« möchte die Si-

cherheit haben, sich in Ruhe einbringen

zu können. »Die große Nummer 1« als

»Glänzer« oder »Platzhirsch« braucht

ihre Bühne, um sich darstellen zu kön-

nen. »Der Misstrauische« benötigt Si-

cherheit darüber, dass er hier kompe-

tent angeleitet wird und über sein Ler-

nen und die Kontaktaufnahme zu ande-

ren selbst bestimmen kann. Er möchte

selbst nicht vereinnahmt werden und

Dinge tun müssen, die er nicht will (Mu-

ster-Wäbs 2000b, S. 12).

Als Verhalten zeigen die Lernenden zunächst Höf-lichkeit und Freundlichkeit. Sie nehmen zurück-haltend Kontakt miteinander auf, testen aber auchschon aus, was in dieser Gruppe »erlaubt« oder»nicht erwünscht« ist.

Aufgaben und Rolle der Leitung

Der Leitung kommt in dieser Phase die Aufgabe zu,Sicherheit zu schaffen und einen Rahmen vorzuge-ben, aber auch Freiräume zu kennzeichnen undselbst flexibel auf Gruppenwünsche einzugehen.Durch ihr Verhalten macht sie Vorgaben für dieweitere Arbeit. Eine besonders wichtige Aufgabebesteht darin, die Gruppenmitglieder miteinanderin Kontakt zu bringen und die Grundlage für einoffenes und angstfreies Arbeitsklima zu legen.

Werte- und Entwicklungsquadrat. Die Leitungmuss insbesondere die Balance finden zwischenNähe und Distanz, zwischen Authentizität unddiplomatischem Geschick und zwischen der Vor-gabe von Strukturen und Flexibilität in der Gestal-tung des Lernprozesses.

Themenzentrierte Interaktion. Die Teilnehmerin-nen und Teilnehmer sind aus thematischen Grün-den in der Gruppe. Deshalb sollte das Thema (ES)auch am Anfang stehen, indem Klarheit über In-halte,Ziele und Organisation hergestellt wird.Aberauch jede Einzelperson (ICH) muss anschließendihren Raum bekommen, um sich ihrer Bedürfnisseund Gefühle bewusst zu werden und diese auch zuäußern. Das Entdecken von Gemeinsamkeiten, dasTreffen von Vereinbarungen und viele wechselndeGelegenheiten zum Austausch in Kleingruppen-arbeiten führen zum Gruppengefühl (WIR).

Eisbergmodell. Insbesondere in der Anfangsphaseist es wichtig und gut möglich,verdeckte und heim-liche Erwartungen und Ängste zu thematisierenund somit an die »Wasseroberfläche« zu holen, um

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7.3 · Aufgaben der Leitung in den einzelnen Phasen der Gruppenentwicklung7159

möglichst viele Störfaktoren auf der Beziehungs-ebene auszuschalten.

Inneres Team. Eine Leitungsperson, die ihr inneresTeam gut kennt, kann sehr professionell leiten. ImVordergrund dürfen bei der Leitung die »Selbstbe-wusste«,der »Begeisterungsfähige« und die »Struk-turierte« agieren. Wegen ihrer Sensibilität, Empa-thie und ihrer Schutzfunktion können in Pausenund Reflexionsphasen die »Ängstliche«, die »Öko-nomin« und die »Misstrauische« befragt werden.Die eigene »große Nummer 1« sollte sehr sorgfältigvon der Teamchefin oder dem Teamchef eingesetztwerden. Im Zusammenspiel mit der »Begeiste-rungsfähigen« kann sie einen Prozess gut anschie-ben. Danach sollte sie jedoch zurückgehalten wer-den, weil sie dazu neigt, mit ihrer Power und auchihrer Eitelkeit andere innere und äußere Teammit-glieder zu überrollen. Die genaue Kenntnis des ei-genen inneren Teams nützt auch noch in andererHinsicht: In der ersten Phase einer Gruppe machtsich nicht nur die Gruppe ein Bild von der Leitung,sondern die Leitung kommt ebenso zu einer Ein-schätzung der Gruppenmitglieder und der Gruppeals Ganzes. Als Hilfsmittel werden meist »virtuelleSchubladen« benutzt nach dem Motto: »So einer istdas also«. Die Einsortierung geschieht dabei derEinfachheit halber sehr oberflächlich nach äuße-ren Merkmalen wie der Statur,der Haltung,der Mi-mik und Gestik oder der Modulation. Es passiertleicht, dass eine Leiterin oder ein Leiter ein Mit-glied der Gruppe in eine Schublade »UNGELIEBT«steckt,weil es gerade das verkörpert,was sie oder erbei sich nicht akzeptiert oder ausblendet.Wenn ichals Leitungsperson z. B. »hart daran gearbeitethabe, strukturiert zu werden, werde ich jemandengnadenlos verfolgen, der mit freudigem ‘Chaotis-mus’ möglicherweise auch noch zu guten Ergeb-nissen kommt« (Muster-Wäbs 2000b, S. 12).

Die Leitung übernimmt in dieser Phase einedeutlich lenkende Funktion und die Verantwortungfür den Prozess.Sie bietet Identifizierungsmöglich-keiten,Schutz sowie Raum und wird auch meist we-nig in Frage gestellt.

Strukturierung des Prozesses

Für die Strukturierung des Prozesses hat sich ausmeiner Sicht folgendes Vorgehen bewährt (Muster-Wäbs 2000b, S. 13 ff.):

4 Kontakt mit der Situation herstellen: Hier wirdKlarheit über die Situation,das System,die Zie-le, Inhalte, Zeiten und die Organisation durchdie Leitung geschaffen. Dies geschieht sinnvol-lerweise durch einen gut visualisierten Input.So wird Sicherheit und Transparenz geschaffen.

4 Ankommen: Dieser Schritt dient dazu, emotio-nal anzukommen und sich auf die Lernsitua-tion einzustellen. Hier bietet sich eine Besin-nungsübung an. Es kann auch die Gelegenheitzu einer schriftlichen Reflexion unter be-stimmten Fragestellungen gegeben werden.

4 Kontaktaufnahme der Gruppenmitglieder un-tereinander und Treffen von Vereinbarungen:Vorstellungsrunden oder Kennenlern-Übun-gen dienen in diesem Schritt dazu, Gemein-samkeiten und Unterschiede zu entdecken undzu lernen, diese wertzuschätzen. WechselndeMethoden zur Gruppenbildung bei der thema-tischen Arbeit helfen, mit anderen Mitgliedernpositive Erfahrungen zu machen und Vorurtei-le abzubauen. Zu diesem Schritt gehört auchdas Abfragen von Erwartungen und die Verein-barung von Zielen und Regeln für die gemein-same Arbeit.

4 Kontaktaufnahme mit dem Thema und Auf-nahme der inhaltlichen Arbeit: Natürlich wirdin dieser Phase auch schon am Thema gearbei-tet,denn dies ist schließlich der Grund,weshalbdie Teilnehmerinnen und Teilnehmer zusam-mengekommen sind.Eine gute Kontaktaufnah-me mit dem Thema erfolgt immer durch einenmöglichst ganzheitlichen und aktivierendenEinstieg in diese Phase.

7.3.3 Gärung und Klärung

Diese Phase,in der es verstärkt Störungen und Kon-flikte gibt, ist notwendiger Teil eines Gruppenent-wicklungsprozesses, weil hier individuelle Bedürf-nisse stärker artikuliert werden, sich abgegrenztwird und Machtkämpfe ausgetragen werden. DieGruppenmitglieder haben die Chance, ehrlich undintensiv miteinander in Kontakt zu kommen, so-fern es gelingt, die auftretenden Auseinanderset-zungen als Korrekturprozess mit Entwicklungspo-tenzial zu betrachten und nicht als Panne mit Zer-störungspotenzial.

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7

160 Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen

Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Verhalten in der Gruppe

Wenn Störungen und Konflikte auftreten, sind oftvorrangig Gefühle wie Antipathie und Sympathieoder das Ringen um Anerkennung im Spiel, aberauch Unsicherheit, Ängstlichkeit, Ärger, Sensa-tionshunger, Zweifel und Enttäuschung. In dieserPhase treten z. B. diejenigen, die eine »große Num-mer 1« in ihrem inneren Team weit vorn haben, ineinen Machtkampf um die Vormachtstellung in derGruppe. Andere, die in der ersten Phase eher den»Ängstlichen« zu ihrem Teamoberhaupt gemachthaben und jetzt den »Selbstbewussten« vorn agie-ren lassen, wollen ebenfalls einen anderen Platz inder Gruppe erhalten.Zudem wird jetzt auch die Lei-tung in Frage gestellt. Einzelne kämpfen mit derLeitung um die Führungsrolle, andere möchteneine klarere Führung und mehr Schutz. Ihnen istder Freiraum zu groß und sie fühlen sich allein ge-lassen. Wieder andere fordern mehr Entfaltungs-möglichkeiten und fühlen sich eingeengt.

Die Bedürfnisse der Teilnehmerinnen und Teil-nehmer bestehen einerseits darin, die eigene Indi-vidualität zu behaupten und nicht vereinnahmt zuwerden, andererseits aber auch darin, ein WIR-Ge-fühl für die Gruppe zu entwickeln. Es geht um dieBindung an die Gruppe und die Autonomie des Ein-zelnen.Die Gruppenmitglieder möchten Sicherheitüber die eigene Rolle erlangen,einige brauchen Er-mutigung und Unterstützung, andere die Möglich-keit, sich abzugrenzen, sich selbst zu behaupten,und manche wollen sich profilieren.

Das Verhalten der Gruppenmitglieder ist ge-prägt von der Durchsetzung eigener Interessen,derPolarisierung von Meinungen, Machtkämpfen undKonkurrenz, der Bildung von Gruppen, der Ein-nahme neuer Rollen und dem Widerstand gegendie Inhalte,die Organisation oder das methodischeVorgehen der Leitung.

Aufgaben und Rolle der Leitung

Um als Leitung gelassen mit den Störungen umge-hen zu können, ist es zunächst wichtig, sich zu ver-deutlichen, dass diese notwendige Bestandteile desGruppenprozesses sind. Zudem schaffen durchge-standene Konflikte Kontakt und Nähe und führenzu einer Akzeptanz von Unterschieden.Die Leitungmuss die Konflikte kommunizierbar machen unddafür Raum zur Verfügung stellen.

Themenzentrierte Interaktion. Die Arbeit am The-ma (ES) wird durch dominante Personen (ICHs)behindert und die Gruppe (WIR) dadurch belastetund gestört. Da Störungen Vorrang haben sollen,muss die thematische Arbeit sinnvollerweise hinterder Klärung der Störungen zurückstehen.

Eisbergmodell.Die Störungen zeigen sich meist zu-erst durch Scheingefechte auf der Sachebene, diegespeist sind durch eine konfliktbeladene Bezie-hungsebene. Die Aufgabe der Leitung ist es, »ver-deckte« Themen kommunizierbar zu machen undvorher getroffene Vereinbarungen zu überprüfenund notfalls ändern zu lassen.

Werte- und Entwicklungsquadrat. Bei der Wahr-nehmung und Thematisierung von Störungen undKonflikten muss die Leiterin oder der Leiter die Ba-lance zwischen Führen und Entfalten lassen halten.Einerseits benötigt die Gruppe für die Lösungsfin-dung eine Anleitung, andererseits gilt es, das Po-tenzial der Gruppe nicht durch Fürsorge zu ersti-cken, sondern durch Freiräume zur Entfaltung zubringen. Der Umgang der Teilnehmerinnen undTeilnehmer untereinander sollte nach dieser Phasein einer ausgewogenen Balance zwischen Autono-mie und Bindung bestehen. Dies kann die Leitungunterstützen, indem sie sich sowohl akzeptierendverhält als auch konfrontiert, wenn z. B. die Auto-nomiebestrebungen eines Gruppenmitglieds denGruppenprozess belasten.

Interaktionszirkel/Teufelskreise. Als Analyseins-trument für die Störungen eignet sich die systemi-sche Betrachtung mit Hilfe der Interaktionszirkelbzw. der Teufelskreise. Meist besteht ein Zirkel-schluss zwischen dominanten und zurückhalten-den Gruppenmitgliedern. Aber auch die Betrach-tung der Interaktionszirkel innerhalb der domi-nanten Mitglieder hilft,den Konflikt zu bearbeiten.Eine professionelle Leitungsperson achtet auchdarauf, den richtigen Zeitpunkt für die Themati-sierung von Störungen auszuwählen, um nichtselbst in einen Teufelskreis mit der Gruppe zu ge-raten.Wenn die Leiterin oder der Leiter Störungenanspricht,die noch nicht virulent sind und von denLernenden noch nicht bewusst als Problem wahr-genommen wurden, fühlen sich die Gruppenmit-glieder vermutlich eher bedrängt, entmündigt,

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7.3 · Aufgaben der Leitung in den einzelnen Phasen der Gruppenentwicklung7161

verstört, verunsichert oder nicht richtig wahrge-nommen. Sie werden sich unter Umständen zu-sammenschließen, die Störung negieren, in Wider-stand zur Leitung gehen sowie ihr Misstrauen undden Konflikt nicht bearbeiten.Eine Leitungspersonkönnte sich durch dieses Verhalten der Gruppe dar-in bestätigt sehen,dass die Gruppe nicht in der Lageist, den Konflikt »auf den Tisch« zu bringen undeine Verpflichtung empfinden, dies anstelle derGruppe zu tun. Damit wären wir am Ausgangs-punkt. Es wird deutlich, wie wichtig Gelassenheitund eine abwartende Haltung der Leiterin oder desLeiters sind, um die Gruppe nicht zu verschreckenund letztlich in einer verkrampften »Scheinharmo-nie« arbeiten zu müssen.

Inneres Team. Die Moderation von Konflikten er-fordert eine Leitung,die auch konfliktbereit ist undsich in ihrem eigenen Konfliktverhalten gut kennt.Bei der Aufstellung ihres inneren Teams sollte vorallem die »Selbstbewusste« in Ruhe und Gelassen-heit agieren und die Situation zu verstehen versu-chen. Unterstützung kann die »Strukturierte« bie-ten, indem sie sortiert und für den roten Fadensorgt.Beide gemeinsam haben als Team genug Dis-tanz und Engagement für eine professionelle An-leitung. Die »Misstrauische« mit ihren Zweifelnund die »große Nummer 1« mit ihrem Hang zurSelbstdarstellung würden hier die Professionalitätstören. Auch die »Begeisterungsfähige« muss zu-rückgehalten werden, weil sie zu schnell ist undvielleicht eher zu einer Konfliktvermeidung beitra-gen würde. Die »Ökonomin« sollte in Reflexions-phasen mit darüber befinden, ob der Einsatz loh-nend ist.

Die Leitung sollte hier zunächst die Rolle einesBeobachters oder einer Beobachterin übernehmen,die den Prozess in der Gruppe sehr aufmerksamwahrnimmt. Bei der Moderation der Konflikte lei-tet sie deutlich durch Strukturierung und metho-dische Vorgaben.

Strukturierung des Prozesses

Der Umgang mit Störungen umfasst drei Schritte(Muster-Wäbs 2000c, 23 ff.):4 Widerstände, Störungen und Konflikte werden

deutlich: Die Leitung nimmt zu diesem Zeit-punkt zunächst nur den Gruppenprozess wahr

und analysiert das Wahrgenommene aus ihrerSicht. Hierzu kann sie sich z. B. des Modells desInteraktionszirkels bzw.derTeufelskreise bedie-nen.

4 Analyse der Situation: Um die unterschiedli-chen Sichtweisen und das unterschiedliche Er-leben der Einzelpersonen transparent zu ma-chen, wird die Situation mit der Gesamtgruppebetrachtet. Hierzu bietet sich z. B. die Modera-tionsmethode (Kartenabfrage) an. Sinnvoll istauch die Entwicklung von Modellen von Teu-felskreisen gemeinsam mit den Gruppenmit-gliedern, um die Zirkularität zu verdeutlichen.Auch viele Evaluationsmethoden eignen sichzur Analyse der Situation.

4 Vereinbarungen treffen: In einem letztenSchritt werden die bisherigen Vereinbarungenoder Regeln für die Zusammenarbeit noch ein-mal unter die Lupe genommen und auf weitereGültigkeit überprüft. Sie können ggf. ergänztoder verändert werden.

7.3.4 Arbeitslust und Produktivität

In dieser Phase kann auf der Grundlage von Ver-trauen produktiv gearbeitet werden. Die Energieund die Arbeitslust der Teilnehmerinnen und Teil-nehmer sind auf dem Höhepunkt. In dieser Phasenoch auftretende Spannungen werden in der Regelschnell gelöst.

Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Verhalten der Gruppe

In dieser Phase dominieren Gefühle von Sicherheit,Zusammengehörigkeit,Geborgenheit und Vertrau-en. Die Bedürfnisse der Teilnehmer sind auf dieAuseinandersetzung mit dem Thema sowie denEinsatz und die Entwicklung der eigenen Fähigkei-ten gerichtet.Zudem wünschen sie gute räumliche,zeitliche und materialgestützte Arbeitsmöglichkei-ten, eine Orientierung durch die Leitung und aus-reichend Möglichkeiten zur Selbststeuerung. DasVerhalten der Gruppenmitglieder ist überwiegendkooperativ,respektvoll und von Toleranz und Wert-schätzung geprägt. Sie arbeiten zunehmend selbst-ständig, konzentriert und zielgerichtet (Pillmann-Wesche 2000, S. 31).

Page 175: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

7

162 Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen

Das Geschehen wird durch innere Teammit-glieder bestimmt, wie die »Selbstbewusste«, die»Strukturierte« und die »Ökonomin«. Die »Ängst-liche« hat erfahren, dass Fehler gemacht werdendürfen und niemand isoliert wird. Die »großeNummer 1« hat erkannt, dass sie von der Gruppeauch akzeptiert wird, wenn sie nicht immer allesbesser weiß, und es ist ihr nun möglich, auch dieBeiträge der anderen zu würdigen. Der »Misstraui-sche« hat sich aus dem Zentrum des Geschehens et-was zurückgezogen, da bisher ja alles ganz gut ge-laufen ist (Pillmann-Wesche 2000, S. 32).

Aufgaben und Rolle der Leitung

Die Leitung hat jetzt schwerpunktmäßig die Aufga-be, den Lernprozess so zu gestalten, dass jedem einKompetenzzuwachs ermöglicht wird. Dazu gehörteine klare Aufgabenstellung,das Schaffen zeitlicher,organisatorischer und materieller Rahmenbedin-gungen und eine sinnvolle Ergebnissicherung undEvaluation.

Themenzentrierte Interaktion. Jetzt steht das The-ma (ES) eindeutig im Zentrum. Die Leitung solltetrotzdem wachsam sein,wann eine stärkere Beach-tung des Einzelnen (ICH), der Gruppe (WIR) oderdes Umfeldes (GLOBE) dennoch nötig ist.

Eisbergmodell. Die Beziehungsebene ist weitge-hend stimmig.Auf der Sachebene kann lustvoll undproduktiv mit viel Energie kommuniziert werden.Die Leitung hat aber auch jetzt noch sensibel aufverdeckte Themen oder Stellvertreter-Themen zuachten.

Werte- und Entwicklungsquadrat. Von besondererBedeutung für die Unterstützung zu einem selbst-gesteuerten Lernen ist es für die Leitung, eine guteBalance zwischen Strukturvorgaben und Flexibi-lität zu halten. Dabei muss die Aufgabenstellungund Unterstützung so gewählt sein, dass die Ler-nenden einerseits gefordert werden und damit Ent-wicklungschancen erhalten und andererseits eineFörderung erfahren, um sich nicht überfordert zufühlen und entmutigt zu werden.

Inneres Team. Bei der inneren Teamaufstellung derLeitung kann die »Ängstliche« sich beruhigen, weildie bisherige Entwicklung gut gelaufen ist und die

Gruppe Fehler auch verzeiht. Die »Misstrauische«sollte ihren Kontrollzwang in Kleingruppenphasenzurückhalten. Die »große Nummer 1« hat jetzt ihreRolle gespielt und würde für ein selbstgesteuertesLernen, insbesondere in Kleingruppenphasen, nurstörend sein. Die »Strukturierte«, die »Selbstbe-wusste« und die »Ökonomin« können gemeinsamfür Strukturen, ein ausgewogenes Verhältnis vonAufwand und Ertrag und für die gelassene Beglei-tung der Lernprozesse sorgen.

Die Rolle der Leitung ist nicht mehr so starksteuernd, sondern eher strukturierend, orientie-rend und unterstützend.

Strukturierung des Prozesses

Die Strukturierung einer Veranstaltung, eines Pro-jektes oder eines Arbeitstages sollte immer nochdie Beziehungsebene berücksichtigen.Der Schwer-punkt liegt allerdings auf der Gestaltung des Ar-beitsprozesses.Dafür hat sich die folgende Strukturbewährt (Pillmann-Wesche 2000, S. 34 ff.):4 Klärung des sozialen Rahmens und Ankom-

mens in der Gruppensituation: Zu Beginn einerArbeitssitzung ist es sinnvoll, den LernendenGelegenheit zur Kontaktaufnahme mit den an-deren und der Situation zu geben. So könnenProbleme,Fragen oder Reste angesprochen undErfahrungen ausgetauscht werden. Hierzu eig-net sich z. B. eine Anfangsrunde mit durchauswechselnden Fragestellungen.

4 Klärung der Aufgabenstellung: In diesemSchritt ist es von besonderer Bedeutung, dieZiele der Arbeit zu verdeutlichen und die Er-gebnisverwertung zu klären. Natürlich mussauch sichergestellt werden, dass alle die Aufga-benstellung und deren Sinnhaftigkeit verstan-den haben.An dieser Stelle sollte gut visualisiertwerden. Für ein gemeinsames Erarbeiten derAufgabenstellung und der Ziele eignet sich z.B.die Moderationsmethode. Methodisch sindauch Vorgehen sehr hilfreich, die einen ganz-heitlichen Zugang zum Thema gewährleisten.

4 Klärung der Organisation: Die Besprechung derSozialform, eine sinnvolle Gruppenbildung,Zeiten, Räume, Materialien und eine grobe Be-sprechung der Arbeitsschritte sind meist andieser Stelle angebracht.

4 Durchführung der Vorhaben: Ein Input der Lei-tung, ein Unterrichtsgespräch oder, insbeson-

Page 176: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

7.3 · Aufgaben der Leitung in den einzelnen Phasen der Gruppenentwicklung7163

dere bei selbstgesteuertem Lernen,längere Pha-sen der Kleingruppenarbeit,kennzeichnen die-sen Schritt. Unterstützend sind Meetings zurProzessevaluation und zur Klärung von Fragenoder Übungen zur Aktivierung, wenn die Kon-zentration nachlässt.

4 Bewertung: Eine Präsentation, Dokumentationoder z. B. eine Podiumsdiskussion können dieErgebnissicherung einleiten, indem das in denGruppen Erarbeitete zusammengeführt undbewertet wird. Eine Evaluation schließt die Ar-beit ab.

7.3.5 Ausstieg und Transfer

Das Ziel dieser Phase ist es, allen einen guten Aus-stieg und Übergang in neue Lebens- und Arbeits-situationen zu ermöglichen. Eine Reflexion desinhaltlichen und sozialen Prozesses und die be-wusste Verabschiedung von den Menschen, mitdenen eine Zeit lang intensiv gearbeitet wurde, er-leichtern den Abschied und einen unbelastetenNeuanfang. Insbesondere für die Professionalisie-rung der Leitung ist auch die hier durchgeführteEvaluation wichtig.

Befindlichkeiten, Bedürfnisse,Verhalten in der Gruppe

Eine Trennung aus einer vertrauten Situation istimmer mit Gefühlen von Angst, Zweifel, Unsicher-heit,Erschöpfung und Trauer verbunden,aber auchmit Freude auf Neues und Stolz auf Geleistetes. DieBedürfnisse der Gruppenmitglieder reichen vonsich nicht trennen wollen über letzte Informatio-nen einholen,praktische Tipps bekommen,sich aufdie Zukunft einstellen bis hin zu einer schnellerenHerbeiführung der Trennung. Diese unterschiedli-chen Bedürfnisse lassen sich gut veranschaulichen,wenn auch hier wieder das innere Team betrachtetwird und hier insbesondere das Teammitglied, dasdie Führung übernimmt:4 Die »Ängstliche« hat das Bedürfnis, die Grup-

pensituation möglichst lange zu erhalten, weilsie hier Sicherheit erfahren hat.

4 Die »Ökonomin« möchte noch schnell ein The-ma für sich zu Ende bringen und praktischeTipps, um die Zeit effizient zu nutzen.

4 Die »Strukturierte« hat eher das Bedürfnis,noch einmal in Ruhe zurückzuschauen und dasGelernte in Zusammenhängen zu sehen.

4 Möglicherweise schon ausgestiegen ist die »Be-geisterungsfähige«, die sich schon mit Engage-ment einer neuen Sache zugewendet hat.

4 Dies kann auch für die »große Nummer 1« gel-ten.Für sie ist aber ebenso denkbar,dass sie dieGelegenheit nutzen will, um in dieser Gruppeein letztes Mal aufzutrumpfen.

4 Die »Selbstbewusste« möchte die Gruppe re-flektierend zu Ende bringen.

4 Schwer trennen kann sich die »Misstrauische«,weil sie vielleicht zweifelt, ob sie genug gelernthat und ob Versprechungen über das Aufrecht-erhalten von Kontakten auch eingehalten wer-den.

Aufgaben und Rolle der Leitung

Diese Phase ist zeitlich und inhaltlich von Anfangan von der Leitung einzuplanen. Mögliche Plakate,auf denen in der ersten Phase Ziele und Regeln fest-gehalten werden und die vielleicht in der zweitenPhase Änderungen aufnehmen, sollten als Grund-lage für die Reflexion und Evaluation dienen.

Themenzentrierte Interaktion. Das Thema (ES)sollte rund abgeschlossen werden.Dazu gehört Zeitfür Reste, Nachfragen und Transferüberlegungen.Dabei ist es nicht sinnvoll, noch neue Aspekte odergar Teilthemen anzureißen. Die Reflexion desGruppenprozesses (WIR) und des Umfeldes (GLO-BE) dient auch dazu, dass jedes einzelne Gruppen-mitglied Schlussfolgerungen für sich ziehen kann,wie es zukünftig in Gruppen agieren will.Bei Rück-meldungen an Einzelpersonen steht das ICH imVordergrund.

Eisbergmodell. In der letzten Phase sollten auf kei-nen Fall noch neue Themen der Beziehungsebeneproblematisiert werden, weil die Zeit zur Bearbei-tung in der Regel nicht reicht. Dennoch wird eineprofessionelle Leitung auch in dieser Phase dieKommunikation auf der Beziehungsebene anregen,z.B.durch Übungen zum Abschied,die persönlicheRückmeldungen ermöglichen.

Werte- und Entwicklungsquadrat. Die Leitung hat indieser sensiblen Phase eine ausgewogene Balance

Page 177: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

7

164 Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen

zwischen Authentizität und diplomatischem Ge-schick zu wahren. Sie sollte sich akzeptierend undnicht mehr konfrontierend verhalten und ganz ent-schieden die Autonomie des Einzelnen fördern.

Inneres Team. Die Leitung muss ihren Umgang mitAbschied kennen, damit sie ihn für die Gruppe ge-winnbringend gestalten kann und nicht in eigene»Fallen tappt«, indem sie z. B. den Abschied hi-nauszögert,bis keine Zeit mehr dafür verbleibt,wiees beispielsweise die »Ängstliche« gern tut, weil siesich in der Gruppe sicher fühlt und nicht weiß, waskommt. Außerdem schaut sie vielleicht dem Eva-luationsergebnis mit gemischten Gefühlen entge-gen.Den Prozessablauf und die Zeitgestaltung kön-nen die »Begeisterungsfähige«, die »Strukturierte«und die »Selbstbewusste« gut gemeinsam in dieHand nehmen. Sie werden dafür sorgen, dass auchder Abschied lustvoll und schön gestaltet wird,dassZielklarheit und Transparenz herrscht und dasskritische Rückmeldungen als Lernanlass ange-nommen werden können. Die »Ökonomin« solltesich auch hier wieder vor Verausgabung schützen.Die »große Nummer 1« hat in dieser Phase nichtaufzutreten,denn der Raum gehört den Teilnehme-rinnen und Teilnehmern.Die »Misstrauische« kannhinzugezogen werden, wenn die Evaluationsergeb-nisse noch einmal allein betrachtet werden,um evtl.zwischen den Zeilen Gesagtes aufzuspüren.

Die Leitung strukturiert diese Phase konse-quent und moderiert.

Strukturierung des Prozesses

Ein gelungener Ausstieg umfasst drei Schritte, diemit der Gruppe gemeinsam gegangen werden undeinen, den die Leitung allein geht (Muster-Wäbs2000d, S. 43 ff.).4 Ausstieg aus der thematischen Arbeit und Be-

wertung: Die inhaltliche Arbeit wird abge-schlossen, offene Fragen werden geklärt unddas Ergebnis des gemeinsamen Arbeitsprozes-ses wird hinsichtlich der Transfermöglichkei-ten bewertet. Zudem wird der Lernprozess mitseinen Schritten und Umwegen reflektiert,ebenso wie der Gruppenprozess.

4 Rückmeldungen an die Leitung: Diese Rück-meldungen dienen der Professionalisierung derLeitung. Hier geht es um Feedback zum Lei-tungsverhalten, zur Strukturierung des Lern-

prozesses,zur Zeitgestaltung oder zum zur Ver-fügung gestellten Material.

4 Abschied von den Menschen: Mit entsprechen-den Übungen zum Abschied wird eine persön-liche Verabschiedung ermöglicht,die es zulässt,bisher Ungesagtes im persönlichen Gesprächauszudrücken.

4 Auswertung der Evaluationsgespräche durchdie Leitung: Die Leitung sollte diesen Schrittzeitnah zur letzten Veranstaltung durchführen,um daraus Schlussfolgerungen für die weitereArbeit zu ziehen.

7.4 Persönliche Anmerkungen

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine sorgsa-me theoriegeleitete Steuerung des Gruppenprozes-ses die inhaltliche Arbeit sehr erleichtert. Die unter7.2 in Kurzform dargestellten handlungsleitendenModelle und Konzepte lassen sich für eine frucht-bare Arbeit natürlich erheblich erweitern. Es isteine von mir getroffene Auswahl unter den Ge-sichtspunkten oberster Prioritäten und Plausibi-lität. Mir ist bewusst, dass die Vorbereitung vonLernveranstaltungen damit zunächst viel komple-xer erscheint. Es ist sicher auch mehr zu bedenken,als wenn man sich nur auf die Inhalte und Metho-den beschränkt. Andererseits ist schon allein dieMethodenauswahl, auf der Basis von Kenntnissender Dynamik in Gruppen, gezielter möglich. Sichergehört zunächst auch Mut dazu, Befindlichkeitenund Gefühle in Veranstaltungen zu Wort kommenzu lassen, deren Ziel die thematische Arbeit ist. Er-mutigen möchte ich dennoch alle diejenigen Leite-rinnen und Leiter von Lernveranstaltungen, die esertragen können,dass Kognition und Emotion denProzess bestimmen!

Für Studierende der Pflegepädagogik isteine professionelle Anleitung und Beglei-tung von Gruppen ein wichtiger Bestand-teil ihrer zukünftigen beruflichen Arbeit.Das Verständnis von theoretischen Model-len und der Umsetzung dieser Modelle beider Gestaltung der Praxis ist die Vorausset-

Zusammenfassung

Page 178: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

7.4 · Persönliche Anmerkungen7165

zung, um als Leitungsperson agieren zukönnen.

Auf der Basis eines durch die humanistischePsychologie geprägten Menschenbildesentwickeln Leitungspersonen eine Grund-haltung, die den Umgang miteinander inArbeitssituationen bestimmt. Die Ausein-andersetzung mit handlungsleitenden Mo-dellen und Konzepten für das Führen undAnleiten von Gruppen führt zu einem theo-riegeleiteten Verständnis von der Dynamikin Gruppen und bietet die Grundlage fürPlanung und Reflexion des Geschehens.Je-der Gruppenprozess verläuft in bestimm-ten Gruppenentwicklungsphasen. Diesesind gekennzeichnet durch die dieser Pha-se entsprechenden Befindlichkeiten, Be-dürfnisse und Verhaltensweisen der Grup-penmitglieder,auf die die Leitung durch dieWahrnehmung bestimmter Aufgaben unddas Einnehmen einer angemessenen Rollereagieren sollte. Dies geschieht, indem dieGruppenentwicklungsphase durchdachtund auf der Basis der handlungsleitendenTheorien und Konzepte strukturiert wird.

3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung

4 Als Einstieg ist ein Erfahrungsbezug sinnvoll,z. B. als Besinnung wie in der beschriebenenAusgangssituation.

4 Die Grundhaltungen können aus dem Erfah-rungsbezug abgeleitet und als »Haltung« inStandbildern dargestellt werden.

4 Das »Innere Team« der Leitung und auch derTeilnehmer kann als »Prototyp« mit den vonmir verwendeten Teammitgliedern in jederPhase von den Teilnehmern spielerisch darge-stellt werden. Denkbar ist auch, nur die »Inne-ren Teammitglieder« der Gruppenmitgliedervorzugeben und den Teilnehmern einer Lehr-veranstaltung die Gelegenheit zu bieten, unterAnleitung ihr eigenes »Inneres Team« zu er-kunden.

4 In arbeitsteiliger Gruppenarbeit lassen sich dieeinzelnen Phasen erarbeiten und präsentieren.Sinnvoll ist es auch,dass die Gruppen die in den

jeweiligen Phasen anzuwendende Methodevorstellen.

3 Empfehlungen zum Weiterlernen4 Langmaack B,Braune-Krickau M (1993) Wie die

Gruppe laufen lernt. Anregungen zum Planenund Leiten von Gruppen. 4. Aufl. PsychologieVerlags Union,Weinheim

4 Lumma K (1994) Die Teamfibel. Oder das Ein-maleins der Team-& Gruppenqualifizierung imsozialen und betrieblichen Bereich. Ein Lehr-buch zum Lebendigen Lernen. Windmühle,Hamburg

4 Schulz von Thun F (1991) Miteinander reden 2.Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung.Rowohlt, Reinbek bei Hamburg

4 Schulz von Thun F (1998) Miteinander reden 3.Das »innere Team« und situationsgerechte Kom-munikation. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg

4 Schulz von Thun F,Ruppel J,Stratmann R (2001)Miteinander reden. Kommunikationspsycholo-gie für Führungskräfte. Rowohlt, Reinbek beiHamburg

4 Unterricht Pflege (2000) Schwerpunkt: Arbeit inund mit Gruppen. 5. Jhg. Heft 2. Prodos, Brake

Literatur

Cohn RC (1992) Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten In-

teraktion, 11. Aufl. Klett, Stuttgart

Cohn RC, Terfurth C (1993) Lebendiges Lehren und Lernen. TZI

macht Schule, 2. Aufl. Klett, Stuttgart

Langmaack B (1994) Themenzentrierte Interaktion. Einführende

Texte rund ums Dreieck, 2. Aufl. Beltz, Weinheim

Langmaack B, Braune-Krickau M (1993) Wie die Gruppe laufen

lernt. Anregungen zum Planen und Leiten von Gruppen,

4. Aufl. Beltz, Weinheim

Lumma K (1994) Die Teamfibel. Oder das Einmaleins der Team- &

Gruppenqualifizierung im sozialen und betrieblichen Bereich.

Ein Lehrbuch zum Lebendigen Lernen. Windmühlen, Ham-

burg

Miller R (1991) Lehrer lernen: ein pädagogisches Arbeitsbuch für

Lehreranwärter, Referendare, Lehrer und Lehrergruppen.

Beltz, Weinheim Basel

Muster-Wäbs H (1999) Menschenführung beginnt bei mir selbst

»die bewusste Wahrnehmung und der bewusste Umgang mit

meinem »inneren Team«. In: Unterricht Pflege. Schwerpunkt:

Wahrnehmung und Beobachtung. 4. Jhg. Heft 3: 16–19

Muster-Wäbs H (2000a) Dynamik in Gruppen » ein Überblick«. In:

Unterricht Pflege. Schwerpunkt: Arbeit in und mit Gruppen.

5. Jhg. Heft 2: 2–8

Page 179: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

7

166 Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen

Muster-Wäbs H (2000b) Die Anfangssituation in einer Gruppe ge-

stalten:Ankommen »Auftauen« Sich orientieren. In:Unterricht

Pflege. Schwerpunkt: Arbeit in und mit Gruppen. 5. Jhg. Heft

2: 9–18

Muster-Wäbs H (2000c) Mit Störungen und Konflikten in einer

Gruppe umgehen: Gärung und Klärung. In: Unterricht Pflege.

Schwerpunkt: Arbeit in und mit Gruppen. 5. Jhg. Heft 2: 19–28

Muster-Wäbs H (2000d) Rückblick und Abschied einer Gruppe ge-

stalten: Ausstieg und Transfer. In: Unterricht Pflege. Schwer-

punkt: Arbeit in und mit Gruppen. 5. Jhg. Heft 2: S 39–46

Pillmann-Wesche R (2000) Eine gute Arbeitssituation gestalten:

Arbeitslust und Produktivität. In: Unterricht Pflege. Schwer-

punkt: Arbeit in und mit Gruppen. 5. Jhg. Heft 2: S 29–38

Philipp E (1996) Teamentwicklung in der Schule. Beltz, Weinheim

Basel

Schneider H (1996) Lexikon zu Team und Teamarbeit.Bachem,Köln

Schulz von Thun F (1991a) Miteinander reden 1. Rowohlt, Reinbek

b. Hamburg

Schulz von Thun F (1991b) Miteinander reden 2. Stile, Werte und

Persönlichkeitsentwicklung. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg

Schulz von Thun F (1998) Miteinander reden 3. Das »innere Team«

und situationsgerechte Kommunikation. Rowohlt, Reinbek b.

Hamburg

Schulz von Thun F,Ruppel J,Stratmann R (2001) Miteinander reden.

Kommunikationspsychologie für Führungskräfte. Rowohlt,

Reinbek b. Hamburg

Page 180: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

8

Lernen: Erklärungsprinzipeines Beobachters

Beate Blättner

8.1 Wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir von Pädagogik,

von Lernen oder von Wissen sprechen? 170

8.1.1 Pädagogik: Eine Wissenschaft, die Praxis sein will? 170

8.1.2 Lernen: Aufnehmen und speichern von Information? 174

8.1.3 Beobachten:Wiedergeben von Wirklichkeit? 178

8.1.4 Wissen: Eigenschaft einer Person? 1808

8.2 Wie erklären sich Beobachter Lernen? 182

8.2.1 Beobachtungsprinzip Nummer 1:

Die Umwelt beeinflusst offene Systeme 182

8.2.2 Beobachtungsprinzip Nummer 2:

Autopoietische Systeme konstruieren ihre Wirklichkeit 185

8.2.3 Beobachtungsprinzip Nummer 3:

Die Einheit der Differenz sozialer Systeme

und ihrer Umwelt unterstellt Wissen 189

8.3 Wie verändert sich die pädagogische Praxis

durch theoretische Einsicht? 192

Page 181: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

8

168 Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters

Lernen kann – wie Rauchen – der Gesundheitschaden.Vor allem aber: Es lohnt sich häufig nicht(Simon 1997, S 145).

> Beobachtungen in der PraxisStrategien des NichtlernensIrgendwann im Laufe Ihrer pädagogischen Praxis

werden Ihnen wahrscheinlich ähnliche Situatio-

nen begegnen:

5 Sie erklären mit allen Ihnen zur Verfügung ste-

henden methodischen Tricks und vielen Vi-

sualisierungen ein komplexes Pflegemodell.

Sie erläutern ausführlich die Bedeutung die-

ses Modells für eine veränderte Praxis der

Pflege. Am Ende einer für Sie schweißtrei-

benden Veranstaltung erzählen Ihnen die

Pflegenden, das sei nun wirklich nichts

Neues gewesen, auch Orem hätte das in ih-

rem Pflegemodell ganz ähnlich beschrieben.

5 Sie waren in einer Ausbildungssituation hoch

erfreut, wie interessiert und begeistert Ihre

Pflegeschülerinnen und Pflegeschüler sich

zum Thema Dekubitusprophylaxe beteiligt

haben und wie aufgeschlossen sie dem neuen

Lernstoff gegenüberstanden. Sie sind sicher,

hier ein Beispiel für absolut gelungenen Un-

terricht geliefert zu haben. Bei einem Besuch

der Schülerinnen und Schüler in der Praxis

stellen Sie fest, dass diese dort nichts von

dem bei Ihnen Erlernten umgesetzt haben.

5 Sie haben während einer Weiterbildung zur

Stationsleitung auf Wunsch der Teilnehmen-

den das Thema Kommunikation aufgegriffen

und bemühen sich, methodisch abwechs-

lungsreich zu arbeiten und die Fortbildung in-

teressant zu gestalten. Einige Ihrer Teilneh-

menden lesen Zeitung, andere unterhalten

sich, die dritten beschweren sich während

der Gruppenarbeit zu Kommunikationssitua-

tionen, dass Sie schon wieder Gruppenarbeit

machen und während Ihres kurzen Folienvor-

trags zu den vier Ebenen der Kommunikation

darüber, dass Sie Frontalunterricht durch-

führen.

5 Sie haben für pflegende Angehörigen ein

Kurskonzept entwickelt, das fachliche und

psychosoziale Bewältigungsstrategien glei-

chermaßen trainiert. Da Sie wissen, dass es

für pflegende Angehörige schwer ist, an ei-

nem solchen Kurs teilzunehmen, haben Sie

ehrenamtliche Kräfte motiviert, die Pflege

während der Abwesenheit der Angehörigen

zu übernehmen. Die Angehörigen nehmen

den ehrenamtlichen Dienst in Anspruch,kom-

men aber nicht zum Kurs, sondern gehen

stattdessen ins Kino.

5 Sie führen eine Fortbildung zu rückengerech-

tem Heben und Tragen in der Pflege durch.

Die Fortbildung scheint Ihnen soweit ganz gut

gelaufen zu sein. Sie haben sich extra viel Zeit

für Übungen und für Diskussionen zur prakti-

schen Umsetzung im Alltag auf der Station ge-

nommen. Umgesetzt wird dennoch wenig,

wie Sie leider feststellen müssen. Eine Weile

später hören Sie das Gerücht, dass einige der

Teilnehmenden Sie für eine völlig ungeeigne-

te Kursleitung halten, andere die Methode

als völlig veraltet ablehnen. Einige Teilneh-

menden schlagen vor, lieber eine Fortbil-

dung zu Kinästhetik durchzuführen. Die Sta-

tionsleitung lehnt dies kategorisch ab, man

würde ja an den Erfahrungen mit dem ge-

scheiterten Kurs zum rückengerechten Heben

und Tragen deutlich merken, dass Kurse zur

Förderung der Gesundheit sowieso nichts

bringen würden. Wer Rückenschmerzen ha-

be, sei eben nicht für den Beruf geeignet.

5 Sie bieten Pflegekräften zu einem hochaktu-

ellen und wichtigen Thema einen Bildungs-

urlaub an, aber keiner geht hin. Zufällig erfah-

ren Sie, dass es schon einige,wenn auch über-

raschend wenig Pflegende gegeben hätte,

die Interesse gehabt hätten. Einige davon

hatten die Möglichkeiten ihrer Freistellung

von der Arbeit auf der Station nicht anspre-

chen wollen. Zwei hatten es getan. Die eine

hat von den Kolleginnen und Kollegen auf der

Station Druck bekommen, dass sie keine Lust

hätten, ihre Arbeit zu übernehmen, während

sie sich bei einer Fortbildung ausruhen könne.

Sie hatte daraufhin den Antrag zurückgezo-

gen. Die andere hatte sich von der Stations-

leitung fragen lassen müssen, ob sie denn so

schlecht arbeite, dass sie eine Fortbildung be-

nötige.Auch sie hat den Antrag zurückgezogen.

5 Sie führen im Auftrag der Leitung eine Fort-

bildung zum Qualitätsmanagement in einem

Page 182: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

8.1 · Wovon sprechen wir eigentlich?8169

Krankenhaus durch und erfahren dort von

den Pflegenden, dass die Qualität der Pflege

in diesem Haus sowieso nicht verbessert wer-

den kann. Ihr persönlicher Eindruck beim

Blick auf die Pflegedokumentation ist ein

ganz anderer.

5 Sie führen eine Fortbildung zur Einführung

des »primary nursing« in einem Altenpflege-

heim durch und werden gleich nach der Be-

grüßung mit der Aussage konfrontiert, »pri-

mary nursing« sei sowieso nicht umsetzbar.

Diese Aussage wird von anderen Teilnehmen-

den regelmäßig wiederholt, auch nachdem

Sie sich mit der Gruppe mit Fragen der Um-

setzung ausführlich beschäftigt haben.

Haben Sie sich über solche Situationen bisher

geärgert? Haben Sie an Ihrer Fähigkeit zu lehren

gezweifelt?

Was würde passieren, wenn Sie die Situation ein-

mal anders betrachten: Sie haben die Teilneh-

menden bzw. die Einrichtung herausgefordert,

sich ganz aktiv vor dem Lernen zu schützen. Da

sich alles verändert, ist nicht das Lernen erklä-

rungsbedürftig, sondern das Nichtlernen. Neh-

men Sie Personen und Organisationen der Pflege

in ihrem Bedürfnis ernst, nicht zu lernen, sondern

Strukturen beizubehalten und Identität zu be-

wahren!

Vielleicht haben Sie bisher immer gedacht,Lernen

sei etwas grundsätzlich immer Willkommenes und

Gutes, Lernen sei als Weiterentwicklung der Per-

sönlichkeit grundsätzlich erstrebenswert? Auch

ein schlechter Mensch zu sein oder auch nur so zu

sitzen, dass es den Rücken belastet, ist etwas, das

erlernt wurde. Wollen Sie bestreiten, dass Sie im

Laufe Ihres Lebens schon vieles gelernt haben,das

sich als wenig brauchbar, als unnütz, manchmal

sogar als ausgesprochen hinderlich erwiesen hat?

Gilt dies nicht auch für Lernerfahrungen in Ihrer

beruflichen Praxis oder Ausbildung?

Wenn Sie gute Gründe haben,nicht zu lernen,sind

die besten Strategien des Nichtlernens, Situatio-

nen zu vermeiden, die irgendeine Veränderung

mit sich bringen. Wenn dies nicht möglich ist,

kann es hilfreich sein, Veränderungen nicht zur

Kenntnis zu nehmen und die Wirklichkeit so zu

konstruieren, als handele es sich dabei um abso-

lut nicht Neues. Gehen Sie immer zu den gleichen

Orten,sprechen Sie immer mit den gleichen Men-

schen über die gleichen Themen und üben Sie

jede Tätigkeit so aus, wie Sie es schon immer ge-

macht haben (Simon 1997, S. 157 f.). Wenn Ihnen

irgendetwas anders erscheint als vorher, suchen

Sie solange nach Ähnlichkeiten mit vertrauten Si-

tuationen, bis es Ihnen gelingt zu erkennen, dass

sich nichts geändert hat.Eine andere erfolgreiche

Strategie des Nichtlernens von Organisationen

ist, die Ursachen für das Nichtlernen bei anderen

zu suchen: Die Rahmenbedingungen wie Zeit,

Geld oder Gesetze lassen es nicht zu oder aber es

werden Personen ausfindig gemacht, die die Ur-

sache dafür sind. Je nachdem sind es meist die

Vorgesetzten oder die Mitarbeiter, die solche

Lernprozesse verhindern. Wenn auch das nichts

mehr hilft, kann die Ursache für das Nichtlernen

noch in der lehrenden Person und ihrer pädago-

gischen Unfähigkeit gesucht werden, als letzter

Ausweg gewissermaßen, zum Schutz vor Lernen.

3 Berufliche Handlungskompetenzen

2 FachkompetenzDurch eine systemische Betrachtung von

Lernen ein theoretisches Modell kennen

lernen, das es ermöglicht, Lernen im Kon-

text der Pflegepädagogik neu zu verstehen

und unterschiedliche Lerntheorien aus ih-

rer Sicht einzuordnen.

2 PersonalkompetenzAuf theoretischer Basis das eigene profes-

sionelle Handeln in der Pädagogik reflek-

tieren.

2 SozialkompetenzDie Bedeutung von Kommunikation für so-

ziale Systeme wie Teams oder Organisatio-

nen neu verstehen und sich in Kommuni-

kation einbringen.

2 MethodenkompetenzMethoden pädagogischer Theorieentwick-

lung für die eigenen wissenschaftlichen

Leistungen erfahren und die Bedeutung

von Begriffsklärungen innerhalb der Theo-

rieentwicklung verstehen.

Page 183: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

8

170 Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters

3 PraxisrelevanzEin neues theoretisches Verständnis von Lernen inder Pflegepädagogik ist einerseits notwendig, umdie wissenschaftsorientierte Professionalisierungder Pflegepädagogik zu festigen. Andererseits er-klärt diese Betrachtung Phänomene der pädagogi-schen Praxis und ermöglicht es, neue Formen derFörderung von Lernprozessen zu entwickeln oderneu in ihrer Bedeutung zu verstehen.

3 Verfahrensstruktur (. Abb. 8.1)

8.1 Wovon sprechen wir eigentlich,wenn wir von Pädagogik, vonLernen oder von Wissen sprechen?

8.1.1 Pädagogik: Eine Wissenschaft,die Praxis sein will?

Sofern es auf diesen Unterschied ankommt,ist Kindsein und Erwachsenensein ein Konstrukt(Luhmann 1997, S. 11).

Es gibt in den Erziehungswissenschaften und in derPraxis des erzieherischen Handelns ein Verständnisvon Pädagogik als »die Praxis der zielgerichteten

Veränderung von Menschen«. Wer mit Erwachse-nen pädagogisch arbeitet, stört sich früher oderspäter an einer solchen Definition. Zu wenigstimmt sie mit den Erfahrungen überein: Erwach-sene lassen sich ganz offensichtlich nicht zielge-richtet verändern. Da sie in den meisten Situatio-nen eher freiwillig an Bildungssituationen teilneh-men, bleiben sie eben weg, wenn es ihnen nichtbehagt.Wenn sie aus beruflichen Gründen teilneh-men, geben sie sich unter Umständen Mühe, nichtzu lernen. Sie sind störrisch, verstehen Dinge an-ders, als sie gemeint waren, widersprechen Ansich-ten,denken sich ihren Teil,wenn sie nichts dazu sa-gen möchten oder stimmen zu und handeln ganzanders als besprochen. Mit anderen Worten: Er-wachsene erweisen sich als durchaus unbelehrbarund manchmal resistent gegen neue Erkenntnisse.Wenn Sie alle Zaubertricks der pädagogischenTrickkiste ausprobiert haben und im Erfahrungs-austausch mit anderen festgestellt haben, dass esnicht an Ihrer mangelnden pädagogischen Kunstliegt und es anderen Pädagogen keineswegs andersgeht, dann fangen Sie möglicherweise an, darübernachzudenken,ob sich Ihr Verständnis von Pädago-gik wenigstens im Umgang mit Erwachsenen än-dern sollte oder ob nicht der Begriff der Pädagogik,

. Abb. 8.1. Verfahrensstruktur

Page 184: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

8.1 · Wovon sprechen wir eigentlich?8171

der ja vom Wortsinn her meint, Kinder in das Er-wachsenenalter zu führen, in der Erwachsenenbil-dung gänzlich deplaziert ist.

Muss sich die Definition der pädagogischen Ar-beit mit Erwachsenen von der mit Kindern unter-scheiden? Ist das Lernen Erwachsener grundsätz-lich anders als das von Kindern oder Jugendlichen?Wenn man versucht, Unterschiede zu beschreiben,dann findet man eher quantitative als qualitativeAussagen, also ein mehr oder weniger von etwasund keinen Unterschied in der Beschaffenheit: Er-wachsene lernen manches langsamer als Kinder,vielleicht auch weil sie mehr nachfragen, nicht sounwidersprochen hinnehmen und noch stärkerVerbindungen zu ihrer Lebenspraxis ziehen wol-len.Erwachsenen ist es wichtiger zu wissen,warumsie etwas lernen sollen. Aber Kindern ist diesdurchaus auch wichtig, sie fragen nur nicht im-mer nach. Keine der Methoden und Regeln, die fürdas Lernen von Erwachsenen gelten, sind für Kin-der gänzlich ungeeignet. Im Gegenteil scheinensich Kinder manchmal darüber zu freuen, als Er-wachsene behandelt zu werden und Erwachsenescheinen sich gelegentlich zu freuen,wenn sie spie-lerisch lernen dürfen. Was sich zumindest auf denersten Blick unterscheidet, sind die Rahmenbe-dingungen der pädagogischen Institutionen, dieLernen zu einer mehr oder weniger mit Zwangverbundenen Angelegenheit werden lassen. Aberauch Kinder lernen freiwillig, wenn man sie lässtund Erwachsene sind durchaus öfter in Situatio-nen, in denen sie sich nicht dagegen wehren kön-nen, mit anderen Einsichten konfrontiert zu wer-den. Genau genommen erweisen sich auch Kinderals widerständig und störrisch gegenüber Erkennt-nissen, die nicht in ihr Weltbild passen. In derkommunikativen Begegnung zwischen einer Kin-dermeinung und einer Erwachsenensicht stehtdurchaus nicht immer fest, was sich als die härtereRealität erweisen wird. Pädagogische Praxis kannauch an Kindern scheitern,unabhängig von den be-nutzten pädagogischen Werkzeugen. Kinder schei-nen möglicherweise nur weniger Widerstandskraftgegen neue Erkenntnisse aufzubringen. Sie sindleichter zu beeindrucken und probieren lieber abund zu etwas Neues aus. Gelegentlich verwendensie ihre Energie darauf, Strategien zu entwickeln,eben heimlich das zu tun, von dem sie wissen, dasssie es nicht tun sollten.

Lernen in unterschiedlichen Lebensalternscheint sich demnach eher quantitativ zu unter-scheiden, nicht qualitativ, auch wenn es für die Er-ziehungswissenschaft durchaus sinnvoll war,einenSchwerpunkt »Erwachsenenbildung« zu etablieren,um eine neue Sicht des Lernens und der Pädagogikmöglich zu machen. Was den quantitativen Unter-schied ausmacht, so wissen Erwachsene bereitsmehr (über das Leben) und dies scheint sie neuenLernerfahrungen gegenüber widerstandsfähiger zumachen. Wissen scheint so gesehen die FähigkeitNeues zu lernen einzuschränken.

7 Wissen und Lernen sind daher Gegen-

sätze.Wo Wissen bewahrt wird, wird

Lernen verhindert. Um es wiederum auf

eine Formel zu bringen: Wissen macht

dumm oder zumindest lernbehindert

(Simon 1997, S. 156).

Es ist also sehr fraglich, ob eine zielgerichtete Ver-änderung von Menschen überhaupt möglich ist.Auch die Möglichkeit, Institutionen zielgerichtet zu verändern, darf bezweifelt werden. Die hier zu-grunde liegende Theorie begründet, dass zielge-richtete Veränderung von außen nicht möglich seinkann. Die Pädagogik hat es mit operationell ge-schlossenen, autopoietischen Systemen zu tun, dieihren eigenen Strukturen folgen und von der Um-welt gestört, aber nicht bestimmt, nicht determi-niert werden können. Der Begriff »Autopoiese« istvon Humberto Maturana und Francesco Varela(1991) geprägt worden. Er meint: sich selbst erzeu-gend.Das Kennzeichen solcher Systeme ist,dass siealles, woraus sie bestehen, selbst hervorbringen,auch die Grenze, mit der sie sich von ihrer Umweltunterscheiden. Operationell geschlossen meint,dass sich die Operationen,die Prozeduren,des Sys-tems immer nur wieder auf andere Operationendes gleichen Systems beziehen können und darananschlussfähig sein müssen.

Wenn von Menschen gesprochen wird, handeltes sich nicht um ein autopoietisches System, son-dern um eine strukturelle Kopplung dreier Sys-temarten,dem Organismus oder dem körperlichenSystem, dem psychischen und dem sozialen Sys-tem. Sie haben sich miteinander entwickelt, sind für einander Umwelten und setzen sich wechselsei-tig voraus. Ohne Gehirn (Organismus) kann nicht

Page 185: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

8

172 Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters

gedacht werden und doch lassen sich Gedanken(psychisches System) weder mit Kontrastmittelnsichtbar machen noch durch organische Prozessebestimmen.Ohne Gedanken gibt es keine Kommu-nikation (soziales System) und doch ist es keines-wegs gesagt, dass das, was gesprochen wird, mitdem übereinstimmt, was von psychischen Syste-men gedacht wird.Ein körperliches System entstehtdurch Operationen, die Leben ausmachen, ein psy-chisches System durch Bewusstsein. Element so-zialer Systeme ist Kommunikation.

In der Kommunikation ist immer Zustimmungoder Ablehnung möglich, beide setzen Kommu-nikation gleichermaßen fort. Erziehung ist nachLuhmann (1994b, S. 330) »intensionalisiertes undauf Intention zurechenbares Handeln«. Erziehungist nur über Kommunikation möglich und schließtdamit die Möglichkeit ein, das Gegenteil des Er-zielten zu erreichen. Als Kommunikation soziali-siert Erziehung, aber nicht unbedingt so, wie be-absichtigt.

7 Vor allem sind alle Konkretisierungen

pädagogischen Handelns aufgeladen

mit Differenzen. Sie zeichnen etwa Er-

folgslinien vor und begründen damit

die Möglichkeit von Mißerfolgen. Ler-

nen und Behaltenkönnen involviert Ver-

gessen, Können wird in seinen Grenzen,

wird als Nichtkönnen erfahrbar. Mit al-

len Konkretisierungen wird außerdem

wahrscheinlicher, daß Erzieher und

Zögling verschiedene Differenzschema-

ta, verschiedene Attributionen, verschie-

dene Vorzugseinstellungen innerhalb

von Differenzschemata zu Grunde le-

gen. Beachtet man dies, ist es kaum

noch möglich, Erziehung als erfolgs-

wirksames Handeln zu begreifen. Man

muß sich vielmehr vorstellen, daß An-

hand von pädagogisch intentionalisier-

ten und verstandenen Handlungen ein

Funktionssystem besonderer Art ausdif-

ferenziert wird, das Sozialisationseffekte

eigener Art produziert (Luhmann

1994b, S. 330 f.).

Erziehung als zielgerichtete Veränderung ist nichtmöglich, egal mit welchen pädagogischen Tricks.

Vereinfacht formuliert: Wer Menschen zu Nicht-rauchern erziehen will, »bewirkt«, dass sie Nicht-raucher werden oder dass sie Raucher werden.Wenn Pflegekräfte anderen Personen vermittelnwollen, dass Rauchen kein Beitrag zur Selbstpflegeist, sondern der Gesundheit schadet, so können diePersonen daraufhin dieser Auffassung zustimmen– und weiter rauchen oder damit aufhören – oderdie Auffassung ablehnen. Nur eines können sie nursehr schwer: So tun,als hätten sie diese Aussage nie-mals gehört (Blättner 1998). Jemandem Schreibenoder Lesen beibringen zu wollen, schließt immerdie Möglichkeit ein, dass Personen trotz dieser Er-ziehung Analphabeten bleiben. Aber sie sind nichtmehr die Gleichen wie vorher. Sie haben gelernt,dass sie lesen und schreiben nicht lernen. Sie sindals Analphabeten sozialisiert.

7 Als Sozialisation wollen wir ganz pau-

schal den Vorgang bezeichnen, der das

psychische System und das dadurch

kontrollierte Körperverhalten des Men-

schen durch Interpenetration formt.

Der Begriff übergreift damit mehrere

Systemreferenzen, er übergreift positiv

und negativ zu wertende Effekte, er

übergreift erst recht konformes und ab-

weichendes, krankhaftes (z. B. neuroti-

sches) und gesundes Verhalten. Soziali-

sation ist in diesem Sinne kein erfolgs-

trächtiges Geschehen (das allenfalls

mißglücken kann). Eine Theorie, die den

Sozialisationsbegriff auf die Erzeugung

von angepaßtem, erwartungskonfor-

men Verhalten festlegt, könnte die Ent-

stehung gegenteiliger Verhaltensmus-

ter nicht erklären, und sie wäre auch

hilflos gegenüber Feststellungen wie

der, daß gerade Anpassung neurotische

Züge tragen kann und daß es Steige-

rungszusammenhänge von Anpassung

und Neurosen gibt (Luhmann 1994b,

S. 326).

Neben diesen inhaltlichen Problemen der Pädago-gik, die nicht sehen kann, dass sie das Gegenteil ih-rer Intentionen immer mit einschließt, ist es ganzerstaunlich, dass sich in dem eingangs genanntenVerständnis der Praxis zielgerichteter Veränderung

Page 186: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

8.1 · Wovon sprechen wir eigentlich?8173

eine wissenschaftliche Disziplin als »Praxis« be-schreiben will. In den grundsätzlichen theoreti-schen Aussagen bedient sich die Pädagogik in derTat oft den Erkenntnissen ihrer Bezugsdisziplinen,der Philosophie, der Psychologie oder der Soziolo-gie, statt eigene Erkenntnisse zu entwickeln. DiesesProblem der Pädagogik geht letztlich auf Ideen desNeuhumanismus zurück, nach denen der Menschdurch Erziehung zur vernünftigen Sittlichkeit ge-langen solle.Aus den Gesetzen der Sittlichkeit – alsoethisch,nicht pädagogisch begründet – sollte abge-leitet werden, mit welchem Ziel erzogen werdensollte und die Kenntnis des Ziels müsse dann dieWahl der Mittel, der pädagogischen Methoden lei-ten (Horster, 1997, S. 181 ff.). Die Paradoxie der –zielgerichteten – Erziehung zur Mündigkeit, zurSelbstbestimmung und Eigenständigkeit, machtdie Unmöglichkeit dieser Aufgabe besonders deut-lich: Wer sich entscheidet, den Auftrag zu Eigen-ständigkeit anzunehmen, entscheidet nicht eigen-ständig. Von solchen Paradoxien abgesehen, wirddie Pädagogik hier darauf reduziert, Mittel zu fin-den, die Zwecke anderer Wissenschaftsgebiete zuerfüllen: Ziele der Gesundheitspädagogik werdenhäufig aus medizinischen Erkenntnissen abgelei-tet, die der Kindererziehung aus psychologischenEinsichten,die der Berufspädagogik z.B.aus Trendsder Ökonomie.

Gerade im Kontext der Pflegepädagogik,die fürdie fachgerechte Ausübung der Pflege qualifiziert,wird gleichzeitig deutlich, dass Pädagogik nicht ineinem luftleeren Raum stattfindet, sondern in ei-nem Funktionssystem der Gesellschaft. BeruflicheBildung, ob in Ausbildung, Weiterbildung oderFortbildung, selektiert. Selektion ist ausdrücklichAufgabe des Bildungssystems, ob es dies will oderablehnt. Ziel kann es nicht sein, allen die Fähigkei-ten zu vermitteln, die sie brauchen, um qualitativgute Pflege auszuüben, denn das Gegenteil kannnicht ausgeschlossen werden. Aufgabe ist es viel-mehr,diejenigen,die professionell pflegen können,von denen zu unterscheiden, die über diese Fähig-keiten nicht oder nicht im gleichen Umfang verfü-gen. Die Bildung unterscheidet Wissen und Nicht-wissen. Dabei reicht die Tat. Die Kenntnis der Vor-gänge psychischer Systeme ist nicht notwendig undnicht möglich. Wer Pflegedokumentation gelernthat, von dem muss nicht erwartet werden, dass erdie Pflegedokumentation in seinem Innersten liebt

oder auch nur befürwortet,er muss sie lediglich an-wenden können. Die Eigenständigkeit pädagogi-scher Theorieentwicklung darf nicht damit ver-wechselt werden, dass Pflegepädagogik nicht in al-lererster Linie Aufgaben innerhalb der Pflege undihrer Institutionen zu erfüllen hat, im Interesse desÜberlebens der jeweiligen Institution und im In-teresse der zu Pflegenden.

Für eine eigenständige pädagogische Wissen-schaftsdisziplin,die sich ihrer Funktion bewusst istund sich dennoch nicht fremder Unterscheidungs-merkmale anderer Wissenschaften bedienen muss,wäre es hilfreich, sie würde sich mit eigenständigerTheorieentwicklung beschäftigen. Dazu muss sieihre Begriffe präzise klären und aufeinander bezie-hen oder aber aus der Empirie heraus neue Theo-rien generieren. Sie muss wissenschaftlich beob-achten. Wissenschaft ist eine besondere Form derBeobachtung,die einen Unterschied zwischen wahrund nicht wahr macht. Eine pädagogische Wissen-schaft muss diesen Unterschied auf pädagogischeFragestellungen beziehen, nicht auf die der Medi-zin, der Psychologie oder der Philosophie.

7 Im Kontext einer allgemeinen Theorie auto-

poietischer Sozialsysteme beschreiben wir

die Wissenschaft als ein Funktionssystem

der (modernen) Gesellschaft, das sich unter

historisch vorliegenden gesellschaftlichen

Rahmenbedingungen zu eigener operativer

Geschlossenheit ausdifferenziert hat, also

selbst diskrimiert, was wahr und was un-

wahr ist (Luhmann 1994a, S. 9).

Dabei muss deutlich bleiben,dass die Entscheidungüber wahr oder nicht wahr keine ist, die allgemein-gültig feststeht, sondern in der wissenschaftlichenKommunikation ständig aktualisiert werden muss.Es ist eine prinzipiell nicht entscheidbare Frage.Solche Fragen haben den Vorteil, dass sie ständigneu beantwortet werden können.Andernfalls wür-den wir heute noch die Meinung vertreten,Aderlasssei die beste Medizin gegen alle Krankheiten undwürden die Sichtweisen anderer Heilkulturen nichtkennen, weil wir die Erde für eine Scheibe haltenwürden und aus Angst herunterzufallen, die Gren-zen Europas nicht verlassen hätten.

Eine erste Arbeitsdefinition von Pädagogik alsWissenschaft kann demnach lauten:

Page 187: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

Wichtig

8

174 Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters

ken, dass sich das Handeln eines Men-

schen aufgrund dieser Erfahrungen

vorübergehend oder dauerhaft ändert.

Es handelt sich um einen Vorgang des

Erkennens und Speicherns von Zusam-

menhängen, der zur Vermehrung von

kognitivem und nicht-kognitivem Wis-

sen führt.

Ein solcher Lernbegriff unterstellt eine den Erfah-rungen vollständig zugängliche Welt. Gegenständ-lich gedachte Information kann aufgenommenoder vielleicht mittels des »Nürnberger Trichters«in die Köpfe von Lernenden hinein geschüttet wer-den wie Korn in einen Speicher. Abbilder der Weltkönnen in den Verschaltungen von Nervenzellengespeichert werden wie auf einer Festplatte. Dievorher leeren Köpfe sind hinterher wie eine Biblio-thek – oder moderner – wie ein Datenspeicher vol-ler Wissensbestandteile.

Es ist den Konstruktivisten Ernst von Glasers-feld (1997), Heinz von Foerster (1997), HumbertoMaturana und Francesco Varela (1991) zu verdan-ken, dass an dieser Sicht erkenntnistheoretisch er-hebliche Zweifel angemeldet werden müssen.Auto-poietische, lebende Systeme sind nicht in der Lage,irgendeine Welt von draußen in ihr Inneres aufzu-nehmen.Selbst wenn sie Informationen verspeisenkönnten, müssten sie sie erst verdauen, um aus denBaustoffen eigenes Wissen zu konstruieren. Infor-mationen oder Wissen scheinen nichts Gegen-ständliches zu sein. Lebende Systeme konstruierenvielmehr Wirklichkeit in dem sie handeln undwährend des Handelns nicht an Grenzen ihrerWirklichkeitskonstruktion stoßen. Ihre Konstruk-tionen müssen sich lediglich als passend, als viabelerweisen.Nach Maturana und Varela ist es nahe lie-gend,

7 Lernen als Ausdruck einer Strukturkop-

pelung zu verstehen, in der die Verträg-

lichkeit zwischen der Arbeitsweise eines

Organismus und des Milieus aufrechter-

halten wird (Maturana u.Varela 1991,

S. 188).

Was sich als Beschreibung der Lernprozesse vonBakterien,die durch Penicillin nicht vernichtet wer-den, sondern sich davon ernähren, anbietet, lässt

Wichtig

Erziehungswissenschaft beobachtet dieMöglichkeiten, Lernen zu fördern und zwi-schen Wissen und Nichtwissen zu unter-scheiden. Sie beobachtet dies wissen-schaftlich, d. h. sie unterscheidet zwischenwahr und nicht wahr.

Das führt aber zu den nächsten Fragen: Was ist Be-obachten und was ist Wissen? Was ist Lernen undwie kann man es überhaupt fördern, wenn mannicht zielgerichtet verändern kann? Wenn man andieser Stelle bereits theoretische Aussagen vorwegnimmt, die am Ende dieses Kapitels deutlich ge-worden sein könnten,dann macht folgende Defini-tion von Pädagogik Sinn:

Erziehungswissenschaft beobachtet mitder Unterscheidung wahr / nicht wahr dieMöglichkeiten der Sozialisation, die es er-lauben, in der Kommunikation gemeinsa-mes Wissen zu unterstellen.

Pflegepädagogik schränkt ihren Beobachtungs-raum diesbezüglich ein auf das Wissen,das im Kon-text professioneller Pflege unterstellt werden muss.

8.1.2 Lernen: Aufnehmen und speichernvon Information?

Ob jemand lernt oder nicht, entscheiden nicht so sehr die Prozesse in seinem Kopf oder Bauch,sondern die Konzepte des Beobachters (Simon 1997, S. 149).

Delius und Todt (1987,S. 11 f.) definieren Lernen aufeine Art und Weise, die dem alltäglichen Denkenüber Lernen gut entspricht:

7 Unter Lernen werden in einem weiten

Sinn alle Prozesse verstanden, bei denen

Menschen aus ihrer Umwelt Informatio-

nen aufnehmen, speichern und später

wieder verwenden. Lernen kann bewir-

Page 188: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

8.1 · Wovon sprechen wir eigentlich?8175

sich andererseits nur mit Mühe auf Vorstellungenvon dem übertragen, was sich in der Schule, demStudium oder der Ausbildung abspielt. Solcher-maßen verunsichert,ist es hilfreich sich mit Fritz B.Simon (1997, S. 147 ff.) daran zu erinnern, woranwir glauben, Lernen beobachten zu können, unddies auf bekannte Situationen der Praxis zu bezie-hen: Ein Pflegeschüler gibt z. B. auf die Frage nachden Möglichkeiten, einen Dekubitus zu verhüten,keine Antwort. Eine Woche später zählt er auf diegleiche Frage auf: So lagern, dass keine Druckstel-len entstehen, häufig neu betten, die Haut gut pfle-gen usw. Dieses unterschiedliche Verhalten, das dielehrende Person bei dem Schüler zu zwei verschie-denen Zeitpunkten beobachtet, wird vom Lehrerals »gelernt« erklärt und abhängig von der Qualitätdes Gesagten als richtig oder falsch bezeichnet.Ge-nauso gut wäre es möglich,sich diesen Unterschieddes Verhaltens anders zu erklären, z. B. mit plötz-licher Eingebung, der Aufgabe von Trotz oderschlicht mit Frechheit.

7 Wichtig an diesem Beispiel scheint mir,

daß wir, immer wenn wir umgangs-

sprachlich als Beobachter von »Lernen«

reden, eine bestimmte Erklärung für

Verhaltensänderungen eines lebenden

Systems geben.Wir schreiben es ursäch-

lich irgendwelchen Prozessen in seinem

Inneren zu, die wir von außen nicht

direkt beobachten können.Wir ver-

knüpfen beobachtbare Phänomene,

z. B.Verhaltensänderungen, mit nicht-

beobachtbaren, hypothetischen Prozes-

sen. Diese Kausalität ist konstruiert und

abgeleitet aus dem Verhalten von Men-

schen in der Interaktion und Kommuni-

kation mit ihrer belebten oder auch un-

belebten Umwelt. Der Begriff »Lernen«

beschreibt also keine wahrnehmbaren

Phänomene, sondern er erklärt sie:

Lernen ist ein Erklärungsprinzip

(Simon 1997, S. 148).

Genaugenommen vergleicht der Beobachter – derLehrer – nicht zwei verschiedene Formen des Ver-haltens,sondern er vergleicht ein Verhalten mit derErinnerung an ein früheres Verhalten oder eineVermutung wie es gewesen sein könnte und erklärtdiesen Unterschied mit Lernen (. Abb. 8.2). Daskann er aber immer nur aktuell.In dem Moment,indem er das aktuell wahrgenommene Verhalten mitLernen erklärt, verliert er notwendigerweise ausdem Blick, dass er dieses Verhalten von anderem,vermutetem früheren Verhalten, unterscheidet.

Lernen ist demnach das Erklärungsprinzip ei-nes Beobachters, der einen von ihm festgestelltenUnterschied im Verhalten zu zwei verschiedenenZeitpunkten im Nachhinein mit Lernen erklärt.Später wird noch zu sehen sein,dass es sich bei demerklärten Verhalten nicht um Verhalten, sondernum Kommunikation handelt,die einer Person Wis-

. Abb. 8.2. Ein Beobachterbeobachtet unterschied-liches Verhalten zu zweiZeitpunkten und erklärt denUnterschied mit Lernen

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8

176 Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters

sen zuordnet. Im Vorgriff auf die später folgendeDefinition von Beobachtung lässt sich präziser for-mulieren:

Lernen ist das Erklärungsprinzip eines Be-obachters, der den Unterschied zwischenetwas Bezeichnetem und dem Nichtbe-zeichneten mit Lernen erklärt. Bezeichnetwird Wissen.

Aber was erklären sich Beobachter, wenn sie sichLernen erklären? Unterschiedliches, je nach demwie sie beobachten. Manche erklären Lernen mitder Verstärkung von Verhalten, andere erklärensich Lernen durch Einsicht,als die plötzliche Wahr-nehmung von Beziehungen zwischen Elementeneiner Situation. Die dritten erklären Lernen als dasResultat der Entstehung von Gedächtnisspuren,wieder andere als die Entdeckung von Ähnlichkei-ten und Unterschieden oder als Anpassung an dieUmwelt oder als Veränderung von Wirklichkeits-konstruktionen,die sich als nicht passend erwiesenhaben.

Ein konstruktivistischer Lernbegriff z.B.betontdie Eigenständigkeit des Lernens:

7 Wir entdecken nicht eine vorhandene

Welt, sondern wir erfinden Welten und

erfinden uns auch selbst. … Lernen

heißt nicht,Vorgegebenes abbilden,

sondern Eigenes gestalten (Arnold u.

Siebert 1995, S. 89).

Für Luhmann ist es zunächst wichtig festzustellen,dass Lernen,aber auch Gedächtnis oder Intelligenz,Begriffe sind, die etwas beschreiben, was sich nichtbeobachten lässt:

7 »Intelligenz« ist die Bezeichnung dafür,

daß man nicht beobachten kann, wie es

zustande kommt, daß das selbstreferen-

tielle System in Kontakt mit sich selbst

die eine und nicht die andere Problem-

lösung wählt. »Gedächtnis« ist die Be-

zeichnung dafür, daß man nicht beob-

achten kann, wie der komplexe aktuelle

Zustand eines Systems in den nächsten

übergeht, sodass man statt dessen auf

ausgewählte vergangene Inputs als In-

dikatoren zurückgreifen muß. »Lernen«

ist die Bezeichnung dafür, daß man

nicht beobachten kann, wie Informatio-

nen dadurch weitreichende Konsequen-

zen auslösen, daß sie in einem System

partielle Strukturveränderungen bewir-

ken, ohne dadurch die Selbstidentifi-

kation des Systems zu unterbrechen

(Luhmann 1994b, S. 158).

Gregory Bateson (1985) unterscheidet vier Lernebe-nen.4 Lernen 0

Diese Ebene bezeichnet die Datenaufnahme,die stereotype Reaktion ohne eigentliches Ler-nen, der auswendig gelernte Wissensstoff.

4 Lernen IDiese Ebene meint die Fähigkeit, innerhalb ei-ner Menge an Alternativen eine Auswahl treffenzu können. Der Kontext bildet die Grenze derVeränderung.

4 Lernen IIAuf dieser Ebene kann der Kontext verändertwerden.

4 Lernen IIIHier kann flexibel zwischen Kontexten gewech-selt werden.

4 Lernen IVDiese Ebene wäre eine Verbindung von Onto-genese und Phylogenese (Entwicklung des In-dividuums und Entwicklung der Stammesge-schichte), die aber bei keinem ausgewachsenenlebenden Organismus stattfindet.

Komplizierter wird der Vorgang dadurch, dass wires, wenn wir von Menschen sprechen, die wir beimLernen beobachten wollen, nach Luhmann (1994b,S. 15 ff.) nicht nur mit einer einzigen Systemart zutun haben, sondern mit drei Systemarten, dem Or-ganismus, dem psychischen System und dem so-zialen System. Diese haben sich in der Evolutionmiteinander entwickelt, sich wechselseitig bedingtund sind strukturell gekoppelt, aber sie stellen füreinander Umwelten dar und können nicht bestim-men, nicht determinieren, was in dem System pas-siert. Nun ist es nicht ungewöhnlich, von körper-

Wichtig

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8.1 · Wovon sprechen wir eigentlich?8177

lichen, psychischen und sozialen Aspekten desMenschseins zu sprechen – so definiert ja auch dieWHO Gesundheit als körperliches,psychisches undsoziales Wohlbefinden. Ungewöhnlich ist es aber,alle drei als operationell geschlossene, autopoieti-sche Systeme zu betrachten, die füreinander Um-welten sind, sich nicht determinieren können, son-dern allenfalls stören. Systemisch werden lebendeSysteme durch die Operationen, d.h. die Vorgänge,die das System bestehen lassen. Das Systemischeam Organismus sind nicht die Zellen, aus denender Körper besteht,sondern die biochemischen Re-aktionen, die biologisches Leben ausmachen undfür die Entstehung der Zellen sorgen, d. h. die In-teraktionen zwischen den Zellen. Das psychischeSystem besteht ebenfalls weniger aus Gedankenoder Gefühlen als vielmehr aus den Operationendes Bewusstseins, die die Gedanken und Gefühle,Wirklichkeitskonstruktionen und Absichten, her-vorbringen. Das Systemische an sozialen Systemensind weder Gebilde wie Familien oder Teams nochgar die Personen, die zu solchen Familien oderTeams gehören, es ist Kommunikation. Die Perso-nen sind Umwelt des sozialen Systems.Anders for-muliert sind sie als Individuen nicht innen,nicht inder Gesellschaft, sondern draußen.

Kommunikation wiederum ist nicht technischzu verstehen als das Überbringen einer Nachrichtvon einem Sender zu einem Empfänger,sondern alsUnterschied zwischen einer Information und einerMitteilung, der im Verstehen vollzogen wird. Erstdas Verstehen, das Unterscheiden zwischen Infor-mation und Mitteilung, lässt Kommunikation ent-stehen, unabhängig davon, zu welchem Zeitpunktund in welcher Absicht eine Mitteilung erfolgte.DasLesen eines Textes aus der Antike ist ebenso Kom-munikation wie das Beobachten eines Joggers imWald, wenn das durch den Wald laufen als Mittei-lung, die sich von einer Information unterscheidet,verstanden wird.

Anders formuliert wird dieser Text nicht da-durch Kommunikation, dass er die Gedanken derAutorin an die Leserin transportiert, sondern da-durch dass die Leserin sich fragt, was die Autorinmit diesem Satz eigentlich sagen wollte. Aus derVielzahl der Gedanken entscheidet sich die Auto-rin, irgendeine Idee preisgeben zu wollen, die ersteSelektion, das ist die Information. Aus der Vielzahlder Möglichkeiten entscheidet sie sich dann, einen

konkreten Satz zu formulieren, die zweite Selek-tion, das ist die Mitteilung. Wird der Text nicht ge-lesen, findet dennoch keine Kommunikation statt.Die dritte Selektion, die Unterscheidung zwischenInformation und Mitteilung, trifft die Leserin undversteht. Jetzt ist Kommunikation entstanden undkann Grundlage für weitere Kommunikation sein,in dem sich z.B. die Leserin entscheidet, einer Mit-studentin zu erzählen, der Text sei schwer ver-ständlich.Vorweg gesagt,setzt die Leserin jetzt Wis-sen voraus,nämlich zumindest das Wissen,die Mit-studentin wüsste, von welchem Text überhaupt dieRede ist.

Verstehen schließt dabei Missverständnisse alsnormal ein. Ohne Verstehen – als die Beobachtungeiner Unterscheidung zwischen einer Information,einer Auswahl an Möglichkeiten, und einer Mittei-lung, dem Treffen dieser Wahl, – kommt Kommu-nikation nicht zustande (Luhmann 1994b,S.191 ff.).

Ein Beispiel:Wenn in der Fortbildung zum »pri-mary nursing« eine Teilnehmerin sagt, »primarynursing« sei nicht umsetzbar,dann können Sie sichGedanken darüber machen,warum die Teilnehme-rin dies jetzt sagt: Vielleicht weil sie Zweifel an derUmsetzbarkeit hat, weil sie nicht an den Möglich-keiten der Umsetzung arbeiten will oder geradedoch, weil sie vom Thema ablenken will und keineLust hat, etwas darüber zu lernen. Dass Sie grund-sätzlich in der Lage sind – egal ob Sie es wirklich tunund mit ihren Vermutungen richtig liegen –, sichdarüber Gedanken zu machen, warum dies gesagtwurde, ist ein Beleg dafür, dass Sie zwischen Infor-mation und Mitteilung unterscheiden und Kom-munikation somit zustande gekommen ist. Dafürist nicht erforderlich,dass Sie »richtig« interpretie-ren,was zu dieser Aussage geführt hat.Was die Mit-teilung tatsächlich war, ist noch nicht einmal wirk-lich kommunizierbar, denn jede Bestätigung, dieAnnahme über die Mitteilung sei zutreffend, istwiederum eine Information, die mitgeteilt wirdund damit prinzipiell Zweifel zulässt. Umgekehrtkann sich natürlich jede Teilnehmerin grundsätz-lich fragen, warum Sie genau jetzt die Informationmitteilen, »primary nursing« sei machbar. Viel-leicht, weil Sie eine Diskussion darüber entfachenwollen und selber Zweifel haben?

Wenn aber Lernen ein Erklärungsprinzip einesBeobachters ist und wenn es um drei verschiedeneSystemarten geht, dann hat der Beobachter die

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8

178 Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters

Möglichkeit,Lernen ganz nach seinem Belieben ei-nem dieser drei Systemarten in der Differenz zu ih-rer Umwelt zuzuschreiben,solange ihn keine wich-tigen Gründe davon abhalten.Er kann der Meinungsein, die Ursache für Lernen läge in körperlichenSystemen, wie etwa der angeborenen Intelligenz,oder aber in der Umwelt dieses Systems, nämlichden Erziehern und ihren Methoden. Er kann derMeinung sein, Lernen ließe sich aus der Strukturpsychischer Systeme heraus erklären oder aber ausden Vorgängen sozialer Systeme. Welche Meinungein Beobachter diesbezüglich vertritt, erklärt sichvor allem aus seiner Art der Beobachtung und denMethoden, die er bei der Beobachtung benutzt(Simon 1995, S. 21–64). So gibt es unterschiedlicheTheorien über Lernen, die man als jeweils die eineoder andere Form der Beobachtung bezeichnenkann. So kann z. B. der Behaviorismus in seinerklassischen Prägung als eine Form der Erklärungvon Lernen aus der Umwelt eines Systems dienen,oder aber die Gestaltpädagogik, genauso wie diekonstruktivistische Pädagogik, als eine Form derErklärung von Lernen aus der Struktur psychischerSysteme. Wendet man die Systemtheorie von Luh-mann an, so wird man zu einer Erklärung von Ler-nen aus den Eigenarten sozialer Systeme, aus derKommunikation kommen.

Diese Sichtweisen haben Auswirkungen aufAnnahmen darüber, wie man Lernen fördernkönnte. Wer glaubt, Gene bestimmen primär dieLernfähigkeit, wird nach genetischen Gesichts-punkten selektieren müssen. Wer glaubt, die Um-welt könne Lernen bestimmen, wird Lernendedressieren wollen, wie Skinner seine Tauben. Werwie Piaget annimmt, Lernende setzen sich gemäßihrer eigenen internen Strukturen durch Assimila-tion und Akkommodation mit ihrer Umwelt aus-einander, kann nur die Umwelt abwechslungsreichgestalten und Lernende im Übrigen die Welt selbsterforschen lassen.

Beobachter erklären sich demnach nicht nurUnterschiede im Verhalten als Lernen, sie suchendie Ursache in einer bestimmten Systemart und fol-gern daraus,wie Lernen gefördert werden kann.Sieerklären Lernen auf jeweils spezifische Art. Wasaber ist ein Beobachter und was ist beobachtbar?

8.1.3 Beobachten: Wiedergeben von Wirklichkeit?

Alles, was beobachtet wird, ist mithin abhängigvon der Unterscheidung, die der Beobachterverwendet (Luhmann 1994a, S. 82).

Wenn man von einem Beobachter oder einer Be-obachterin spricht, denkt man meist an eine Per-son: Frau Schmidt, Schwester Stefanie oder Dr.Sommer haben etwas beobachtet – und darüberirgendwie mit jemandem kommuniziert, denn an-dernfalls wäre die Beobachtung unbekannt. Beob-achter können neben psychischen Systemen aberauch soziale Systeme sein. Es ist noch nicht einmalausgeschlossen, dass auch körperliche Systeme alsBeobachter bezeichnet werden können, sofern sieUnterscheidungen treffen, die in diesem Systemeinen Unterschied machen.

Für den pädagogischen Kontext ist es relevantzu bedenken, dass nicht nur psychische sondernauch soziale Systeme beobachten können. Sie kön-nen dies auch wechselseitig und auf eine ähnlicheArt: Der Lehrer beobachtet die Schüler. Schüler be-obachten den Lehrer.Die Kommunikation in dieserSituation könnte Lehrer oder Schüler beobachtenoder sich selbst. Der Lehrer könnte die Kommuni-kation beobachten, ebenso wie die Schüler diesauch könnten.

Maturana und Varela (1991, S. 32) verweisen da-rauf, dass alles Beobachtete von jemanden beob-achtet wird. Autopoietische Systeme beobachtenimmer gemäß ihrer eigenen Strukturen, FrauSchmidt anders als Schwester Stefanie oder Dr.Sommer. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dassdiese eigenen Strukturen nicht nur die unter-schiedlichen Wahrnehmungsfähigkeiten von Mü-cken, Mäusen und Menschen meinen, sondernauch die lebensgeschichtlichen Entwicklungen undprofessionellen Prägungen,die gemeinhin mit Ler-nen bezeichnet werden. Eine Patientin, eine Pfle-gende und eine Ärztin haben unterschiedlicheStrukturen, die zu ihren unterschiedlichen Be-obachtungen führen.Genauso unterschiedlich sinddie lebensgeschichtlich entstandenen Struktureneiner Patientin und eines Patienten.Sie beobachtenunterschiedliches,wenn sie die gleichen Phänome-ne sehen.

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8.1 · Wovon sprechen wir eigentlich?8179

Soziale Systeme und psychische Systeme be-obachten auf ihre jeweils eigene Art: psychischeSysteme in dem sie Operationen durchführen, dieals Bewusstsein bezeichnet werden könnten undsoziale Systeme durch Kommunikation. Unter-schiedliche soziale Systeme beobachten wiederumgemäß ihrer eigenen Strukturen,Funktionssystemegemäß der für dieses System leitenden Unterschie-den: Das Gesundheitssystem unterscheidet nachkrank oder nicht krank, die Wissenschaft nachwahr oder nicht wahr, das Bildungssystem nachwissend oder nicht wissend.

Beobachten ist also mehr als Eindrücke vonSinneswahrnehmungen zu sammeln. Schon dieEntscheidung, ob der Beobachter die Welt mit demMikroskop, dem Fernrohr oder seinen Augen be-obachtet, ist eine Entscheidung des Beobachtersüber das, was er beobachten will. Beobachten istnicht Aufnahme oder Spiegelung von Wirklichkeit.Es ist eine aktive Leistung, in der irgendetwas vonanderem unterschieden wird. Dabei entscheidetder Beobachter, nicht das Beobachtete, wonach erunterscheiden will. Die beobachteten Eigenschaf-ten sind durch die Wahl der Unterscheidung beimBeobachten bestimmt, nicht durch das Beobachte-te. Die systemtheoretische Definition von Beob-achtung bezieht sich auf Georg Spencer-Brown(1969) (Luhmann 1994a,S.63,Simon 1995,S.13–20):

Beobachten ist unterscheiden und be-zeichnen. Etwas Bezeichnetes wird vomNichtbezeichneten unterschieden.

7 Wann immer ein Beobachter unter-

scheidet, zieht er eine Grenze, durch wel-

che ein Raum, Zustand oder Inhalt auf

der Innenseite der Grenze von einem

Raum, Zustand oder Inhalt auf der

Außenseite der Grenze getrennt wird. …

Stets wird ein Phänomen selektiert und

von seinem Kontext, seiner Umwelt, sei-

nem Hintergrund unterschieden. Cha-

rakteristikum des Zeichens oder der Be-

zeichnung ist, daß sie die eine Seite der

Unterscheidung bezeichnet und die an-

dere nicht. … Die Merkmale der Unter-

scheidung, die einer unterschiedenen

Einheit zugeschrieben werden, sind kei-

ne Elemente der Einheit selbst, sondern

ihres Kontextes (Simon 1995, S. 14 f.).

Der Beginn dieses Kapitels sollte verdeutlichen,dass es ein Gewinn an Erkenntnis sein kann,die an-dere Seite der Unterscheidung, den blinden Fleckder Beobachtung, das Nichtbezeichnete zu be-zeichnen. In dem Augenblick, in dem etwas be-zeichnet wird, ist es nicht gleichzeitig möglich, dasNichtbezeichnete zu bezeichnen. Für die Gesund-heitswissenschaft war es hilfreich, die Frage nachder Entstehung von Gesundheit statt die Frage nachder Entstehung von Krankheit zu stellen. Für diePädagogik ist es hilfreich, die Frage nach demNichtlernen zu stellen.Dies öffnet den Blick darauf,dass das Nichtlernen,die Abwehr von Veränderungin einer sich ständig verändernden Umwelt, einewichtige Ressource zur Aufrechterhaltung von Sys-temen sein kann. Eine ununterbrochen lernendeOrganisation ist eine, die sich von ihrer Umweltnicht mehr unterscheiden kann, also auflöst. Eineniemals lernende Organisation setzt sich allerdingsdem Risiko aus, keine Bedingungen für ihr Über-leben mehr vorzufinden.

Eine Form von Beobachtung, die auf Unter-scheidungen verzichtet,gibt es nicht.Wo ein Unter-schied gemacht, eine Grenze gezogen wird, ist aberabhängig vom Beobachter – zur Erinnerung: Esmuss sich dabei nicht um eine Person handeln,son-dern kann sich auch um ein soziales System han-deln, wie z. B. das Funktionssystem Wissenschaft.Eine systemtheoretische Beobachtung von Pädago-gik, Lernen oder Wissen unterscheidet sich da-durch von anderen theoretischen Beobachtungendieser Disziplin, dass sie andere Unterscheidungenzieht, nämlich die zwischen System und Umwelt.

Fritz Simon erweitert auf dieser Basis die Er-klärung von Beobachten als Unterscheiden und Be-zeichnen,durch das Beschreiben,das Erklären unddas Bewerten.

7 Aus der Perspektive des Beobachters des

Beobachters – eines »Beobachters zwei-

ter Ordnung«, d. h. eines Beobachters,

der sich selbst oder andere beim Beob-

achten beobachtet – läßt sich feststel-

len, daß Beobachter ihre subjektiven

Wichtig

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8

180 Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters

Wirklichkeitskonstruktionen als eine Art

»innerer Landkarte« verwenden, an der

sie sich orientieren. Sie liefern ihnen den

Deutungsrahmen für ihre –Handlungen

und eröffnen ihnen die Möglichkeiten,

zwischen verschiedenen Verhaltens-

alternativen zielgerichtet zu wählen.

Um dies tun zu können, braucht jeder

Beobachter erstens einen Bewertungs-

maßstab, ob bestimmte, von ihm unter-

schiedene und bezeichnete Phänomene

für ihn erstrebenswert oder besser zu

vermeiden sind; und zweitens muß er

Modellvorstellungen darüber ent-

wickeln, nach welchen Spielregeln die

Welt funktioniert und wie er sich einmi-

schen und mitspielen kann. Er kann es

nicht bei der Beschreibung von sinnlich

wahrgenommenen Phänomen belas-

sen, sondern er muß Erklärungen für

das Entstehen der von ihm erstrebten

oder befürchteten Ereignisse konstru-

ieren (Simon 1995, S. 17).

Wenn eine in der Pflegepädagogik lehrende PersonLernende beobachtet, dann lässt sich dieser Vor-gang analytisch in folgende Aspekte trennen:4 Die Beschreibung der beobachteten Phänomene

als eine nur theoretisch bewertungsfreie Date-nerhebung von Phänomenen, die zunächstsinnlos ist: Lernende geben Geräusche von sichoder führen andere Aktivitäten aus.

4 Die Erklärung, die genau genommen Ergebniseines kommunikativen Einigungsprozesses ist,diese Geräusche als Antworten auf die Frage derlehrenden Person oder die Aktivitäten als Aus-führung eines gemachten methodischen Vor-schlages durch die lehrende Person zu betrach-ten.

4 Die Bewertung der Phänomene z. B. als korrek-te Erfüllung eines Lernzieles.

Diese inneren Landkarten,die bei der Beobachtungentscheidend sind und die über die Wahl der Un-terscheidung mitentscheiden, sind gelernt. Das giltfür Pädagogen genauso wie für Lehrende oder fürdie Wissenschaft.Unterscheidungen setzen Wissenvoraus, wonach unterschieden werden kann. Wasaber ist Wissen?

8.1.4 Wissen: Eigenschaft einer Person?

Etwas wissen kann, so meint man nach wie vor,nur der Mensch (Luhmann 1994a, S. 127).

Nach dem bisher Gesagten dürfte es einleuchtendsein, dass Wissen nicht einfach als gespeicherte In-formation oder als korrekte Abbildung objektiverWirklichkeit verstanden werden kann. Ein kon-struktivistischer Wissensbegriff (Arnold u. Siebert1995,S.112 ff.,Siebert 1999,S.11 ff.mit Bezug auf Gla-sersfeld und Piaget) beschreibt Wissen als eine ak-tive Leistung einer Person in der Konstruktion vonWirklichkeit.

7 Wissen dagegen ist eine Kategorie

und Leistung des Subjekts.Wissen ist

Bestandteil unserer Identität, unseres

Selbst- und Weltbildes.Wissen verbindet

das Subjekt mit der Umwelt. Auf diese

Relation verweist auch die Umgangs-

sprache: ich weiß etwas. Zum Wissen

gehören ein Subjekt und ein Erkenntnis-

gegenstand (Arnold u. Siebert 1995,

S. 112).

Wissen ist damit in dieser Sicht ein Teil des psychi-schen Systems, eine Eigenschaft einer Person, diesie sich durch Aktivitäten in der Auseinanderset-zung mit der Umwelt aneignet und aufgrund vonErfahrungen und Lernprozessen zu Wissensnetzenverknüpft. Wissen muss sich in der Umwelt aller-dings als passend, als viabel erweisen.

Unterscheidet man zwischen System und Um-welt, aber nicht zwischen verschiedenen System-arten,dann ist es konsequent,Wissen nicht der Um-welt, sondern dem System zuzuordnen. Die struk-turlose Umwelt kann kein Wissen erzeugen, dieskann nur die ordnende Struktur eines Systems, indem sie sich mit ihrer Umwelt – zu der Menschengenauso gehören wie die Natur – auseinandersetzt.Wissen kann nur im Inneren autopoietischerStrukturen entstehen.

Die Zuordnung von Wissen zu Personen ent-spricht dem, was alltäglicher Beobachtung soscheint: Jemand weiß etwas oder weiß dies nicht,ein Prüfling wird auf sein Wissen geprüft, mancheMenschen verfügen über umfangreiches Wissen,esgehört also zu ihnen.Wissen ist scheinbar das, was

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8.1 · Wovon sprechen wir eigentlich?8181

in den Köpfen enthalten sein soll. Dennoch ent-spricht es auch alltäglicher Erfahrung, dass Wissennicht durch Eingebung oder Prozesse des Nach-denkens von selbst im eigenen Gehirn entsteht.DerPrüfling weiß das, was er vorher in Büchern oderseinen Aufzeichnungen des Unterrichts gelesen hat.Man weiß meist deshalb,wo die Klinik zu finden ist,weil man vorher auf dem Stadtplan nachgesehenhat oder jemanden gefragt hat oder weil man einHinweisschild entdeckt hat. Man weiß, dass Rind-fleisch BSE-Erreger enthalten kann und Bratkar-toffeln Acrylamid, weil man es in den Nachrichtengehört hat. Man weiß, wie man den Verband wech-selt, weil es einem jemand gezeigt hat. Das ver-meintlich eigene Wissen ist durch Kommunikationentstanden. Allerdings ist man frei darin, das Wis-sen anzuzweifeln oder ihm zuzustimmen. In derKommunikation kann daraus neues Wissen ent-stehen.

Unterscheidet man die drei Systemarten, kör-perliches, psychisches und soziales System, herr-scht schnell Einigkeit darüber, dass Wissen keinElement körperlicher Systeme ist. Die Zurechnungzu psychischen Systemen, deren innere Strukturennicht bekannt sind, lässt sich bei genauerem Hinse-hen allerdings ebenfalls nicht aufrechterhalten:Ohne Kommunikation ist Wissen nicht möglich.Wissen setzt immer voraus,dass etwas gesprochen,geschrieben oder gezeigt werden kann, also kom-muniziert wird. Ob jemand etwas weiß, wird erstdann deutlich, wenn darüber kommuniziert wird,egal ob in der Prüfungssituation oder bei der Fra-ge nach dem Weg zur Klinik. Selbst die Erkenntniseines Forschers oder einer Wissenschaftlerin – bei-de sind aktuell sowieso selten Einzelwesen,sie sindschon für die Entdeckung der neuen Erkenntnis aufwissenschaftliche Kommunikation angewiesenund können diese Erkenntnis nur auf Basis vor-handenen Wissens gewinnen – wird erst dann zuWissen, wenn er oder sie darüber schreiben oderwenigstens sprechen und diese Entdeckung somitTeil der wissenschaftlichen Kommunikation wird.Umgekehrt setzt Kommunikation immer schon einMindestmaß an gemeinsamem Wissen voraus, an-dernfalls wäre keine Kommunikation möglich.

7 Das Bezugsfeld des Begriffs »Wissen«

gehört zu den konstitutiven Merkmalen

des Gesellschaftssystems, denn sprach-

liche Kommunikation setzt gemeinsa-

mes Wissen immer schon voraus und

käme mit ihrer Autopoiesis zum Still-

stand, würde diese Voraussetzung

scheitern. Ohne unterstellbares Wissen

keine Kommunikation.Wir können des-

halb vermuten, daß Wissen als Reso-

nanz auf strukturelle Kopplungen des

Gesellschaftssystems entsteht. Dabei

handelt es sich allerdings nicht um ei-

nen feststellbaren Zustand der beteilig-

ten psychischen Systeme (und wenn

dies so gesehen wird, ist das schon eine

Interpretation), sondern um eine Impli-

kation des Kommunikationsvorganges

selbst, um eine mittransportierte Unter-

stellung, um ein Merkmal des sozialen

Autopoiesis.Wissen muß, wie Sprach-

strukturen, als Voraussetzung mitlaufen

und kann thematisch nie voll in der

Kommunikation expliziert werden

(Luhmann 1994a, S. 122).

Mit anderen Worten ist Wissen eine Voraussetzungfür soziale Systeme, zu deren Umwelt auch psychi-sche Systeme gehören.Wissen wird kommunikativerzeugt,und damit ist gerade auch gemeint,dass dieEntscheidung über den Wahrheitsgehalt des Wis-sens nicht schon vorgegeben ist. Zur Erinnerung:Kommunikation entsteht durch die Unterschei-dung zwischen Information und Mitteilung, siewird erst dadurch Kommunikation, dass jemandversteht,d.h.diese Unterscheidung zieht.Die Nach-richt vom Acrylamid in Bratkartoffeln wird erst da-durch zur Kommunikation, dass prinzipiell in Fra-ge gestellt werden kann, warum diese Nachrichtund keine andere mitgeteilt wird oder warum jetztund nicht zu einem anderen Zeitpunkt.

Weiterhin kann gesagt werden, dass die Kom-munikation Personen konstruiert, denen sie Wis-sen zuordnet: Ein Buch braucht einen Autor, eineAussage jemanden, der sie ausgesprochen hat.Kommunikation braucht jemanden, dem das Wis-sen zugeordnet werden kann.Ohne psychische Sys-teme in der Umwelt sozialer Systeme,die ihre Kom-plexität zur Verfügung stellen, ist Kommunikationnicht möglich,aber die Personen,denen das Wissenzugeschrieben wird, sind kommunikativ konstru-iert. Eine Autorin wird erst Autorin dadurch, dass

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8

182 Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters

dies kommuniziert wird. Der Inhalt des verfasstenTextes ist nicht mit der Struktur des psychischenSystems identisch, dessen Komplexität notwendigwar,um den Text zu schreiben.Das psychische Sys-tem bleibt für den verfassten Text Umwelt. Es gibtnoch nicht einmal eine Möglichkeit zu kommuni-zieren, dass dieses psychische System den Text ge-nau so gemeint hat, wie er geschrieben ist. Jede Re-flexion darauf, dass Zweifel ausgeräumt werdenkönnen, lässt neue entstehen. Das gleiche gilt fürLeserinnen und Leser oder Lehrende und Lernen-de, für Pflegende oder Ärzte, sie sind dies, weil sieals solche in der Kommunikation konstruiert sind.

Schließlich kann noch gesagt werden,dass Wis-sen auf Beobachtung, also Unterscheiden und Be-zeichnen, zurückgeführt werden kann. Diese Be-obachtung muss nicht ständig neu beobachtetetwerden, sondern kann als gesichert, als wiederhol-bar gelten, muss aber jeweils neu aktualisiert wer-den. Was man weiß, weiß man eben, solange keineneue Beobachtung dagegen spricht. Auf diese Artkommt man zu folgender neuen Definition vonWissen:

Wissen entsteht durch Kommunikation.Kommunikation setzt immer schon voraus,dass gemeinsames Wissen unterstellt wird.Wissen ist wiedererkennbare und wieder-verwendbare Beobachtung.

Ein solcher Wissensbegriff muss sich dann end-gültig von Vorstellungen verabschieden, Wissen sei von Lehrenden an Lernende vermittelbar. Esmuss, will man die Möglichkeiten des Lernens er-forschen, nicht nur in der Unterscheidung Systemund Umwelt gedacht werden, sondern auch ange-geben werden, von welcher Systemart gerade ge-sprochen wird. Um dann aber neu darüber nach-denken zu können, worin pädagogisches Handelnüberhaupt bestehen kann, ist es sinnvoll, die Ent-stehung dieser Form der Beobachtung innerhalbtheoretischer Annahmen über Lernen kurz zustreifen und für jede Form die ihr eigene Art derFolgerung für die Möglichkeiten, Lernen zu för-dern, darzustellen.

8.2 Wie erklären sich BeobachterLernen?

8.2.1 Beobachtungsprinzip Nummer 1:Die Umwelt beeinflusst offene Systeme

Diese Überlegung führt auf die Frage, was wohlaus selbstreferentiellen Systemen wird, dielaufend so behandelt werden, als ob sie Trivial-maschinen wären? Und vielleicht ist es eine sinn-volle Hypothese, … anzunehmen, daß sie … ver-suchen werden, sich auf ein Terrain möglicher Ab-weichung zu retten – sei es mit unerwartet guterLeistung, sei es mit Leistungsverweigerung, sei esmit Ironie und Witz (Luhmann 1987, S. 180).

Wissenschaftliche Theorien über Lernen sind spe-zifische Formen der Beobachtung. Ein Versuch derAnalyse solcher Theorien ist eine Beobachtung vonBeobachtern. Alle hier beobachteten Erklärungs-prinzipien von Beobachtern für Lernen sind Er-klärungen,die systemische Sichtweisen anwenden,die einen Unterschied zwischen System und Um-welt machen. Die Beobachter sind hier jeweils einTeil der wissenschaftlichen Kommunikation überLernen.Eine Möglichkeit,Erklärungsprinzipien fürLernen zu unterscheiden, ist die,ob die Ursache fürLernen in der Umwelt oder im System gesucht wirdund welcher Systemreferenz Lernen zugeschriebenwird. Diese Beobachtungsform ist allerdings eine,die den beobachteten Erklärungsprinzipen eineUnterscheidung zuspricht,die sie selbst nicht trifft,da die Unterscheidung verschiedener Systemartenerst später kommuniziert wurde,und die sich inso-fern nicht direkt in den Beschreibungen der Er-klärungsprinzipien zeigen kann. Sie wäre dennochmöglich und würde nicht zu grundsätzlich anderenErgebnissen kommen,als die,die Folge der hier ge-wählten Beobachtungsart ist, nämlich die nach derArt des Systemverständnisses.

Das erste Erklärungsprinzip entspricht im We-sentlichen den Prinzipien des Behaviorismus, undhier vor allem in seiner frühen Phase,Lernen zu er-klären. Es geht von einer Theorie offener Systemeaus. Offene Systeme verfügen über interne Rück-kopplungsschleifen, die von außen nicht direkt be-obachtbar sind,aber von außen,d.h.von ihrer Um-

Wichtig

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8.2 · Wie erklären sich Beobachter Lernen?8183

welt,in ihren Reaktionen determiniert werden kön-nen. Beobachtungen des Verhaltens dieser Systemelässt indirekt Rückschlüsse über die Regeln des Zu-sammenhangs von Umwelteinflüssen und Verhal-ten zu. Diese Regeln können dann genutzt werden,um ein bestimmtes Verhalten zu erzeugen. Es sindInput-Output-Systeme oder in der Begrifflichkeitvon Heinz von Foerster (1997) triviale Maschinen.Triviale Maschinen folgen einem einfachen, be-rechenbaren Muster: Wenn A (input) ausgeführtwird, dann folgt B (output). Jederzeit ist eine Wie-derholung möglich, ohne dass sich an dem Grund-prinzip, der Regel, etwas ändert.Wenn die Wieder-holung nicht funktioniert, dann muss die Maschi-ne repariert werden, bis sie wieder wie eine trivialeMaschine funktioniert.Wenn B nicht gewünscht ist,muss A geändert werden.Der Input A kann auch alsUrsache mit der Wirkung B beschrieben werden.Im Sprachgebrauch des Behaviorismus wird derInput Stimulus (Reiz) und der Output Response(Reaktion) genannt.

Prinzip der behavioristischen Sicht von Lernen,die am stärksten in der Frühphase dieser Theorie-entwicklung ausgeprägt ist, ist die Überzeugung,Lernen sei von der Umwelt des Systems her deter-minierbar, wenn man die beobachteten Regeln desZusammenhangs von Reiz und Reaktion beachtet.Welche Prozesse sich im Inneren des Systems er-eignen, damit der gewünschte Output geleistetwird, gilt als nicht beobachtbar, aber auch nicht re-levant für eine wissenschaftliche Erklärung vonLernen. Die Betrachtung des Inputs und der be-obachtbaren Regelungen, wann ein bestimmterInput zum gewünschten Output führt, reichen die-sem Erklärungsprinzip für Lernen völlig aus.

Wie ist ein solches Beobachtungsprinzip ent-standen? Diese Art der Lernpsychologie hat denAnspruch erhoben, objektive Wissenschaft zu seinund sich gegen die Tiefenpsychologie gerichtet, dieversucht hat, die Strukturen der unzugänglichenBereiche des Bewussten und Unbewussten zu er-forschen. Die Logik dieses Beobachtungsprinzipslässt sich mit folgendem logischen Dreisatz be-schreiben:Wissenschaft muss objektiv sein.Objek-tiv kann nur das Beobachtbare und Messbare sein.Beobachtbar ist Verhalten. Deshalb darf sich Wis-senschaft nur mit Verhalten beschäftigen,nicht mitden unzugänglichen inneren Strukturen, der»black box«.

Es ist angesichts der Forderung objektiver Be-obachtbarkeit und Messbarkeit folgerichtig,dass zuBeginn der Theorieentwicklung Tierexperimentein Laborsituationen die bevorzugte Forschungs-form gewesen sind: Laborbedingungen erlaubendie vollständige Kontrolle der Umweltbedingun-gen,die in Situationen des Alltags nie möglich sind.Zwischen dem Lernverhalten von Tieren und demvon Menschen zu unterscheiden ist nicht nahe lie-gend, wenn das System selbst Lernen nicht beein-flusst,sondern die Umwelt Lernen bestimmt.In derForschung ging es dann darum, verlässliche Rege-lungen dafür zu finden, wann eine gewünschte Re-aktion zu erwarten ist und durch welche Reize ausder Umwelt die Reaktion bestimmt werden kann.Im aktuellen Stand der Theorieentwicklung wer-den diese Regeln allerdings auch in der Person(Kognition) gesucht, nicht nur in der Umwelt.

Der Begriff des Verhaltens (behavior) wurdehier als Gegenbegriff zum Handeln (action) ge-nutzt,da das Handeln immer mit Sinn oder Absichtin Verbindung gebracht wird und damit mit dennicht mehr beobachtbaren Operationen im Innerender »black box«.

Der behavioristische Kernsatz über Lernenlautet: Verstärkung des Verhaltens durchdie Umwelt bewirkt Lernen. Lernen wirddefiniert als eine Verhaltensänderung, dieauf Erfahrungen (mit der Umwelt) beruht.Die entscheidende pädagogische Interven-tionsstrategie ist in der Folge,gewünschtesVerhalten zu verstärken und nicht er-wünschtes Verhalten zu löschen.

Im Laufe seiner Theoriegeschichte hat der Behavi-orismus dabei viele Phasen durchlebt. War es amAnfang ausschließlich die Umwelt, aus der herausLernen begründet wurde,so kamen nach und nachweitere Gesichtspunkte wie Kognition, genetischbedingte Intelligenz und soziales Lernen (Modell-lernen oder Imitationslernen) hinzu.Die erzieheri-schen Einflüsse aus der Umwelt sind in den moder-neren Varianten weitgehend durch wirksamereFormen der Selbstbeobachtung und Selbstverstär-kung abgelöst worden.

Wichtig

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8

184 Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters

Den frühen Behavioristen wird jener Anflugvon Allmachtsfantasien nachgesagt,wonach sie ausjedem Baby den Menschen machen könnten, wozusie ihn erziehen wollen, könnten sie die Umweltbe-dingungen vollständig kontrollieren. Dies ist einefür Pädagogen auch Furcht erregende Anmaßung.Im gleichen Moment der Beobachtung nämlich,in-dem Pädagogen somit die Macht zugesprochenwird, Menschen vollständig und umfassend erzie-hen zu können, könnten sie alle Umweltbedingun-gen kontrollieren, bleibt als Erklärung für dasScheitern der Erziehung nur noch die Pädagogikselbst.Sozial nicht erwünschtes Verhalten im Alltagoder der Berufspraxis fällt somit auf die Pädagogikzurück. Irgend etwas muss die Umwelt, d. h. die El-tern, die Erzieher, die Gesellschaft, falsch gemachthaben, dass dieser Mensch so geworden ist, wie ihndie Umwelt nicht will.

Es ist an dieser Stelle nicht notwendig, dieSchritte vom klassischen und dem operanten Kon-ditionieren zu den modernen Varianten der kogni-tiven Verhaltenstherapie und dem Modelllernenund nachzuvollziehen, denn auch die verfeinertenBeobachtungsformen des Behaviorismus,weit ent-fernt davon Verstärkung mit Belohnung durchSüßigkeiten in Wort und Tat zu verwechseln, kom-men auf den Kernsatz zur Erklärung von Lernen imPrinzip immer wieder zurück:Verhaltensänderung(Lernen) beruht auf Erfahrung,auf Verstärkung desVerhaltens.

Dieser Kernsatz, verbunden mit der Idee derMessbarkeit, ist zugleich auch das, was diese Formder Beobachtung so erfolgreich gemacht hat: Sie ließ– als eine nicht pädagogische Theorie – die pädago-gische Praxis so einfach durchführbar erscheinen.

7 Um messen zu können, müssen die Kinder

als Trivialmaschinen, im Sinne von Heinz

von Foerster, aufgefaßt werden und nicht

als selbstreferentielle Systeme. Selbstrefe-

rentielle Systeme sind nämlich Nichttrivial-

maschinen. … Nichttrivialmaschinen, die

psychische Systeme nun einmal sind, prüfen

zunächst ihren eigenen Zustand, bevor sie

funktionieren. Sie melden nach selbstrefe-

rentieller Prüfung ihren Zustand zurück, um

dann ein variables Produkt zu präsentieren.

Damit aber ein Erziehungssystem funktio-

nieren kann, darf es nicht davon ausgehen,

daß Schülerinnen und Schüler tatsächlich

nichttriviale Systeme sind, sondern es muß

immer so getan werden als seien sie Trivial-

maschinen, was allein schon durch die binä-

re Codierung gut/ schlecht im Erziehungs-

system gefordert wird. Dieser Code erlaubt

es nicht, etwas anderes als die gute oder

schlechte Leistung zu beurteilen. Dies ist

aber nur möglich, wenn die Schülerinnen

und Schüler als Trivialmaschinen behandelt

werden. Nur so ist ihr Output mit Hilfe dieses

Codes zu bewerten (Horster 1997, S. 184 f.).

Die Kritik aus der Perspektive neuerer System-theorie an dieser Form,Lernen zu beobachten,rich-tet sich im Kern auf drei Aspekte:4 Die Vorstellung einer objektiven Beobachtung

verkennt,dass Beobachtung immer eine Unter-scheidung und Bezeichnung eines Systems ist,die den Strukturen des beobachtenden Systemsfolgt und nicht objektive Wirklichkeit wieder-gibt. Sie ignoriert, dass die Unterscheidungwahr/nicht-wahr eine Unterscheidung ist, diedas Funktionssystem Wissenschaft trifft, diealso kommunikativ getroffen wird, und nichtschon eine Eigenschaft ist, die dem Beobachte-ten zuzurechnen ist. Was als objektiv gilt, istKonstruktion der Wirklichkeit im sozialen Sys-tem Wissenschaft und muss sich lediglich alspassend erweisen.

4 Die Vorstellung zielgerichteten Vorgehensdurch die Umwelt bei dem Versuch, ein Systemdurch Erziehung zu determinieren, lässt dieFrage offen,wie eine Umwelt denn zielgerichtetvorgehen soll, wenn sie selbst kein System ist.Die Unterscheidung System / Umwelt ist immerdamit verbunden, dass die Aufrechterhaltungvon Strukturen in einer chaotischen Umweltgerade die Eigenart lebender Systeme benötigt,eine Grenze zur Umwelt zu schaffen. Dies wirdin der Beobachtungsform des Behaviorismuszwar als technische Frage gesehen – Labor-bedingungen sollen das Chaos der Umwelt be-wältigbar machen – aber nicht als Grundsatz-problem. Die Determinierung eines Systemdurch die Umwelt würde erfordern, dass sichdie Umwelt wie ein System verhält und das Sys-tem nicht wie ein System, jedenfalls nicht wieein operationell geschlossenes.

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8.2 · Wie erklären sich Beobachter Lernen?8185

4 Die Vorstellung eines offenen Systems, dasInput-Output-Prinzipien folgt, hat sich wederin der Praxis ernsthaft aufrechterhalten lassen,noch ist es mit dem aktualisierten wissen-schaftlichen Wissen über Systeme vereinbar.Faktisch verhalten sich lebende Systeme aufStörungen (Input) nach Gesetzmäßigkeiten,dienicht von außen beobachtbar sind.Ihnen bleibtauf eine Störung A die Möglichkeit, mit dem»Output«, dem Verhalten B, zu reagieren, odermit Nicht-B oder auch mit einem sowohl alsauch oder weder noch. Wann sie welches Ver-halten zeigen,ist nicht vorhersehbar.Allerdingssind Verhaltensmuster möglich, die für ein be-stimmtes System typisch sind. Dabei wird einbestimmtes Verhalten wahrscheinlicher, abernicht gewiss. Sie können jederzeit eine andereVariante wählen z.B.in einem anderen Kontext.Dies zeigt sich in der pädagogischen Praxis z.B.daran, dass es möglich ist, dass Pflegeschüle-rinnen und Pflegeschüler in der SchulsituationWissen über Dekubitusprophylaxe oder überrückengerechtes Heben und Tragen richtig an-wenden können, dies aber in der Praxis nichttun oder es mal tun und dann wieder nicht.

Der erste und letzte Kritikpunkt wird in der zwei-ten Form der Beobachtung von Lernen aufge-griffen.

8.2.2 Beobachtungsprinzip Nummer 2:Autopoietische Systemekonstruieren ihre Wirklichkeit

… Lernen setzt frühere Lernprozesse voraus,Wissen baut auf vorhandenem Wissen auf,Erfahrungen knüpfen an Erfahrungen an (Siebert 1999, S. 16).

Das zweite Beobachtungsprinzip entwickelt sichvon der Gestaltpädagogik über Reformpädagogenwie Jean Piaget (1983), der auch als erster Kon-struktivist bezeichnet wird, hin zu moderner kon-struktivistischer Pädagogik wie sie vor allem vonSiebert (1999) und Arnold (Arnold u. Siebert, 1995)für die Erwachsenenbildung entwickelt wird. IhrePerspektive ist nicht die Umwelt eines Systems,son-

dern das System selbst, das sich mit seiner Umweltauseinandersetzt und dadurch lernt.

Die Gestaltpädagogik beschäftigt sich vor al-lem mit den Gesetzen der Wahrnehmung und er-klärt Lernen durch Einsicht. Dabei wird Einsichtverstanden als die plötzliche Wahrnehmung derBeziehung zwischen Elementen einer Situation,ausder sich eine Problemlösung ergibt. Ohne dass sichdie Gestaltpädagogik mit Systemtheorie beschäf-tigt hätte, lässt sie sich so beobachten, als hätte sieLernen aus der Struktur psychischer Systeme her-aus erklärt. Die gestaltpädagogischen Gesetze derWahrnehmung einer »guten Gestalt«, die Prinzi-pien der Ähnlichkeit,der Nähe,der Kontinuität undder Geschlossenheit ließen sich als die Idee zusam-menfassen, dass psychische Systeme nach der Un-terscheidung ähnlich/anders beobachten. Was alsähnlich erscheint, wird als ähnlich behandelt undmit bewährten Strategien des Handelns bedacht,was anders erscheint,erfordert neue Strategien derProblemlösung.

Diese Idee evolutionärer Entwicklung psychi-scher Systeme wird bei Piaget (1983) aufgegriffenund zu einer Theorie des Lernens als allmählicherEntwicklungsprozess der Interaktion Person / Um-welt, als Anpassung an die Umwelt (Adaption) imWechselspiel zweier komplementärer Muster, derAssimilation und der Akkommodation entwickelt.Assimilation bezeichnet die Reaktion auf die Um-welt in Form der früher gelernten Reaktionen,Ak-kommodation die Veränderung des Verhaltens.AufBasis der Wahrnehmung der Umwelt erfolgt vonder Person eine mentale oder physische Operationbekannter Art, die zum gewünschten Erfolg führt(Assimilation). Führt die Operation nicht zum Er-folg, wird die Operation variiert (Akkommoda-tion).Assimilation und Akkommodation sind hier-bei nicht von einander zu trennen, da immer aufbewährten Operationen aufgebaut wird, aber im-mer eine Anpassung an die Umwelt erfolgen muss.

7 In Piagets Modell wird Lernen durch Akkom-

modation im Rahmen von Handlungs- und

Denkmustern erklärt. Diese Muster (oder

»Schemata«) sind dynamisch und bestehen

jeweils aus drei Teilen: Ein wahrgenommene

Situation; eine motorische Handlung oder

mentale Operation, die mit der Situation as-

soziiert worden ist; und ein befriedigendes

Page 199: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

8

186 Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters

Ergebnis, das aufgrund gemachter Erfah-

rungen als Folge der Handlung erwartet

wird. Die Begriffe von »Assimilation« und

»Akkommodation« erhalten erst in diesem

Zusammenhang ihren eigentlichen Charak-

ter. Assimilation bedeutet, daß das handeln-

de Subjekt eine gegebene Situation als jene

erkennt, mit der es eine bestimmte Hand-

lung oder Operation assoziiert hat, obschon

ein Beobachter die Situation als unter-

schiedlich betrachtet. Akkommodation

hingegen bezeichnet eine Reaktion des

Subjektes, die dann eintreten kann, wenn

das Ergebnis der Handlung der Erwartung

des Subjektes nicht entspricht. Die Über-

raschung oder Enttäuschung kann dann

nämlich zu einer Änderung des Hand-

lungsschemas oder zur Bildung eines neuen

Schemas führen (Glasersfeld 1997, S. 168).

Piaget arbeitet mit der Differenz Person / Umwelt,die einer systemischen Sichtweise durchaus ent-spricht. Lernen ist bei ihm nur denkbar als Eigen-leistung, als Aktivität der Person in der Auseinan-dersetzung mit der Umwelt. Auch die Wahrneh-mung ist für ihn nicht bloße Aufzeichnung,sondernaktive Eigenleistung. Dies führt zu pädagogischenPrinzipien, in denen die Personen zur eigenständi-gen Erforschung ihrer Umwelt angeregt werden.Pädagogische Aktivität besteht vor allem darin, dieUmwelt abwechslungsreich und anregend zu ge-stalten und zu eigener Erforschung zu motivieren.Die Gruppenarbeit der Schüler wird zur bevorzug-ten Unterrichtsmethode.

Auf Basis der konstruktivistischen Erkenntnis-theorie von Maturana u. Varela (1991) hat die kon-struktivistische Pädagogik – unter anderem vonGlaserfeld (1997,S.53 ff.,159 ff.,177 ff.,195 ff.) und Ar-nold u. Siebert (1995, S. 45 ff.) – Piaget neu entdecktund als Vorläufer gewürdigt.

7 Jean Piaget war in unserem Jahrhun-

dert der erste, der Wissen als Konstruk-

tion betrachtete und sein theoretisches

Modell der kognitiven Tätigkeit als Kon-

struktivismus bezeichnete. Der Grund-

gedanke dieses Modells läßt sich ein-

fach ausdrücken: Die Funktion der

menschlichen Vernunft ist nicht, eine

vom Wissenden unabhängige, reale

Welt darzustellen, sondern Handlungs-

schemata und Begriffsstrukturen aufzu-

bauen, die sich in Laufe der Entwicklung

als brauchbar erweisen (Glasersfeld

1997, S. 166).

In der konstruktivistischen Pädagogik wird daszweite Erklärungsprinzip für Lernen besondersdeutlich. Die Theorie autopoietischer Systeme alseine Theorie operationell geschlossener Systeme,die sich durch ihre Operationen von der Umweltunterscheiden,die sich auf sich selbst beziehen undstrukturdeterminiert agieren, wird von Maturanaund Varela (1991) auch auf die Erkenntnisfähigkeitangewandt: Autopoietische Systeme können nichtpassiv Informationen aufnehmen, sondern nurdurch Handeln Wirklichkeit konstruieren. Was sieerkennen können, ist von der Struktur des Systemsabhängig, nicht von den zu erkennenden »Objek-ten« der Wirklichkeit.Erkennen lässt sich die Gren-ze des Möglichen, nicht die Art des Möglichen. DieUmwelt kann Systeme »stören« (perturbieren),aber nicht bestimmen.

Zu dieser Sicht von Systemen als operationellgeschlossene Systeme, die Wirklichkeit nicht auf-nehmen können, sondern nur passend konstru-ieren, gehört auch eine Sicht von Beobachtung, diemehr über den Beobachter sagt als über das Beob-achtete, denn alles was beobachtet wird, wird vonjemandem beobachtet. »Objektive« Beobachtungals eine Beobachtung, die unabhängig von den Be-obachtern ist, ist nicht möglich.

Für Lernen bedeutet dies, dass Lernen nur alseigenständige Aneignung in der Auseinanderset-zung mit der Umwelt denkbar ist und dass Lernenin der jeweiligen Person, in ihren Strukturen, »an-schlussfähig« sein muss. Es ist kein Vorgang, dersich nur in der Psyche abspielt und noch wenigerein Vorgang,der von der Umwelt bestimmt werdenkann, es ist »kognitive Bearbeitung der Differenzvon System und Umwelt« (Siebert 1999, S. 17).

7 Niemand bestreitet, dass Menschen aus

der Umwelt Informationen wahrneh-

men, aber diese Wahrnehmung ist be-

reits eine Selektion und eine Interpretati-

on. Unser Gehirn verfügt über einen Neu-

igkeits- und einen Relevanzdetektor, das

Page 200: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

8.2 · Wie erklären sich Beobachter Lernen?8187

heißt, es wählt aus der Fülle der mögli-

chen Informationen diejenigen aus, die

interessant und bedeutungsvoll erschei-

nen. Damit werden nicht alle Theorien

des Verstärkungslernens und des Imitati-

onslernens widerlegt, aber das Subjekt

entscheidet, welche Verstärkung ihm

wichtig ist und wen es in welcher Situati-

on »imitieren« will. Entscheidend – dies

ist eine unserer zentralen Thesen – ist die

Bedeutung, die einer Person, einer Situa-

tion, einem Lerninhalt beigemessen wird

(Siebert 1999, S. 19 f.).

Lernen ist die Veränderung von Wirklich-keitskonstruktionen, die sich als nicht pas-send erwiesen haben. Lernen lässt sichauch verstehen als Selbstregulation eineskognitiven Systems (Kösel 1993, S. 45). Er-kennen und Handeln sind nicht zu trennen.Wissen lässt sich nicht übertragen, erken-nen kann das System nur selbst.

Wenn von den Konstruktivisten die Theorie derstrukturellen Kopplung dreier Systemarten vonLuhmann (1994b) bereits zur Kenntnis genommenworden ist, dann wird Lernen und Wissenserwerbeher als eine strukturelle Leistung psychischer Sys-teme betrachtet,wobei durchaus bedacht wird,dassLehr-Lern-Prozesse ja nicht in den psychischenSystemen stattfinden. Daraus ergibt sich ein päda-gogisches Dilemma der eingeschränkten Möglich-keit, überhaupt aktiv zu werden, da jede Lehrakti-vität reflektieren muss,dass sie die Lernprozesse inden psychischen Systemen nicht steuern, allenfalls»stören« kann. Dies hat für Pädagogen etwas unge-mein Entlastendes – sind sie doch nicht mehr»schuld« wenn Lernen nicht oder nicht im ge-wünschten Maß oder der gewünschten Richtungstattfindet – und führt zu einer »Ermöglichungs-didaktik (Arnold u. Siebert 1995, S. 136):

7 Einer professionellen, d. h. um ihre Kon-

struktivität »wissenden« Erwachsenen-

bildung kann es nämlich nicht um die

Beschulung, Belehrung oder »Abrich-

tung« von Erwachsenen gehen, viel-

mehr muß sie selbsttätige Aneignung

von Wissen und Deutung sowie Fähig-

keiten und Fertigkeiten initiieren, in-

Gang-setzen und fördern. Ihre Interven-

tionsformen sind weniger direkt als in-

direkt. Erwachsenenpädagogische

Professionals »vermitteln« nicht, son-

dern »erschließen« und regen zu

»Selbsterschließung« an. Dabei müssen

sie gleichzeitig in der Lage sein, diese

Aneignungsprozesse so zu arrangieren

und zu begleiten, daß die lernenden Er-

wachsenen gleichzeitig ihre übergrei-

fenden methodischen und sozialen

Kompetenzen weiterentwickeln kön-

nen. Die Förderung der Identitätsent-

wicklung und der methodischen Kom-

petenzen derer, die in der Erwachsenen-

bildung tätig sind, ist dabei selbst ein

zentraler Bestandteil einer erwachse-

nenpädagogischen Professionalität

(Arnold u. Siebert 1995, S. 136).

Die daraus resultierenden didaktischen Prinzipiendes Lehrens und Lernens waren bereits zu diesemZeitpunkt eigentlich nicht neu, sie konnten abertheoretisch besser begründet werden. Die Auf-merksamkeit der Pädagogik verschiebt sich von derKonditionierung der Lernenden durch die Umweltzur Gestaltung einer lernfreundlichen Umwelt. ImWesentlichen geht es immer darum, dass die eige-ne Aktivität des Lernenden – zwangsläufig – imMittelpunkt steht.Vier Aspekte lassen sich hervor-heben:4 Lernen muss innerhalb der Struktur der opera-

tionell geschlossenen Systeme anschlussfähigsein. Es macht daher z. B. Sinn, nach den kogni-tiven Landkarten zu suchen und über MindMaps die Unterschiedlichkeit von Wissens-strukturen sichtbar zu machen, um nach denAnschlussstellen zu suchen. Auch biographi-sches Lernen erhält so eine neue Bedeutung.

4 Die Wahrnehmung der Systeme von ihrer Um-welt steht im Vordergrund.Wahrnehmungsori-entiertes Lernen,wie es bereits von der Gestalt-pädagogik geübt wurde,kann hier neu begrün-det werden. In Erweiterung dieser Perspektivewäre Differenzlernen als Lernen durch die

Wichtig

Page 201: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

8

188 Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters

Wahrnehmung von Unterschieden der Diffe-renz ähnlich / anders zu sehen.

4 Erkennen ist nur durch Erfahrung möglich,durch aktive Auseinandersetzung mit der Um-welt. Formen des problemlösenden Lernensdürften sich hier als erfolgreich erweisen. DieUmgebung abwechslungsreich zu gestalten,Anregungen zur eigenständigen Aneignung zugeben, ist eine zentrale pädagogische Aufgabe.Erkennen und handeln lassen sich nicht von-einander trennen. Das in der Pflegepädagogikbekannte handlungsorientierte Lernen machtaus dieser Perspektive Sinn.

4 Glasersfeld (1997) betont darüber hinaus dieNotwendigkeit der Begriffsbildung als Abstrak-tion von den eigenen Erfahrungen, die durchSprache angeleitet werden und Richtungen wei-sen kann, aber nicht stellvertretend für andereübernommen werden kann. Dies erfordert dieReflexion über die eigenen Erfahrungen, ohnedie wahrnehmungsorientiertes Lernen zurbloßen Wiederholung der Konstruktion vonSinneserfahrungen verkommen würde.

7 Auch wenn sie es vielleicht nicht ausdrück-

lich formulierten, haben gute Lehrer seit

jeher gewußt, daß man Schüler durch

bloßes Reden nicht zum Verstehen führen

kann.Verstehen ist das Ergebnis von be-

grifflichen Operationen, die von dem Ler-

nenden selber ausgeführt werden müssen.

Worte können dabei wohl als Anleitung

dienen und die aufbauende Tätigkeit in

gewisse Richtungen führen, aber das ei-

gentliche Konstruieren von Begriffsverbin-

dungen können sie dem Schüler nicht er-

sparen … Lehren hingegen soll im Schüler

Verstehen hervorbringen – und Verstehen

verlangt den Aufbau von Begriffsstruktu-

ren, die sich nicht nur im gegebenen Erle-

bensbereich, sondern zumeist auch darü-

ber hinaus erfolgreich anwenden lassen.

Die Strukturen, die es da aufzubauen gilt,

bestehen aus Begriffen, die durch be-

stimmte Beziehungen verbunden sind.

Sprachliche Wortverbindungen können

solche Begriffsstrukturen zwar bedeuten,

doch sie können sie weder vermitteln noch

erzeugen, denn die nötigen Begriffe und

Beziehungen müssen von jedem einzelnen

Sprachbenutzer im eigenen Kopf aufge-

baut werden. Da Begriffe im konstruktivi-

stischen Kognitionsmodell nicht als Reprä-

sentationen von Dingen-an-sich oder Ver-

hältnissen-an-sich in einer vom wissenden

Subjekt unabhängigen Realität betrachtet

werden, sondern als Erzeugnisse der An-

passung, können sie nur aus Bestandteilen

zusammengesetzt werden, die das Subjekt

von seinen eigenen Erfahrungen abstra-

hieren kann. Erfahrung ist freilich nicht …

auf Sinneswahrnehmungen beschränkt.

John Locke … erklärte bereits vor dreihun-

dert Jahren, daß unsere Ideen (Begriffe,

Wortbedeutungen und Wissen schlecht-

hin) aus zwei Quellen stammen: Einerseits

von den Sinnen, andererseits von Reflexio-

nen über unsere eigenen mentalen Opera-

tionen (Glasersfeld 1997, S. 167 f.).

Die systemische Kritik an der konstruktivistischenForm der Beobachtung setzt an dem Mangel einerklaren Systemreferenz von Lernen an. Lernen wirdim Konstruktivismus letztlich als Eigenart psychi-scher Systeme in der Auseinandersetzung mit ihrerUmwelt beschrieben, aber im Rückgriff auf biolo-gische Beobachtungsformen begründet. Die Be-deutung sozialer Systeme für Lernen wird nichterkannt. Lehr-Lern-Situationen werden als eigen-tümliches Nebeneinander von operationell ge-schlossenen Systemen beschrieben, die für einan-der Umwelten sind und sich allenfalls stören kön-nen.Wie es letztlich überhaupt zu Kommunikationkommen kann und wie Wissen gesellschaftlich tra-diert werden kann, bleibt offen, auch wenn Siebert(1999) die Rekursivität pädagogischen Geschehenserkennt:

7 Auch Pädagogik ist in mancherlei Hinsicht

ein Konstrukt. Lehrer/innen nehmen

Schüler/innen aus einer spezifischen Beob-

achterperspektive mit komplexitätsredu-

zierenden Unterscheidungen oft aufgrund

binärer Codes (faul – fleißig) wahr. Unter-

suchungen zum Pygmalion-Effekt bele-

gen, dass Schüler/innen sich so verhalten,

wie sie beobachtet werden und wie es von

ihnen erwartet wird. Aber auch Selbstbil-

Page 202: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

8.2 · Wie erklären sich Beobachter Lernen?8189

der und Fremdbilder der Lehrenden diver-

gieren. Unterricht ist kein linearer Sender-

Empfänger-Prozess, sondern Unterricht ist

eine beobachtungsabhängige, zirkuläre,

rekursive Interaktion mit Erwartungser-

wartungen, Komplexitätsreduktionen,

mehr oder weniger begründeten Hypo-

thesen, selektiven Wahrnehmungen etc.

(Siebert 1999, S. 4).

Auch wenn Lernen als etwas gesehen wird, dasdurch die Struktur der operationell geschlossenenSystem und nicht durch die Umwelt determiniertwird, bleiben die Möglichkeiten, Lernen in irgend-einer Form zu fördern, Möglichkeiten, die sich inder Umwelt des Systems abspielen. Eben das ist jadas Dilemma konstruktivistischer Pädagogik. Die-se Umwelt muss gestaltet werden,um Lernen als ei-genständigen Prozess der Aneignung von Wissenzu fördern,wenn schon nicht zu bestimmen.Damitbleibt die Frage bestehen, von wem dem eine Um-welt psychischer Systeme gestaltet werden kann,wenn nicht von einem System. Die Gestaltung derUmwelt als Lernumgebung ist in der pädagogi-schen Praxis immer ein kommunikativer Vorgang.An diesem kommunikativen Prozess setzt das drit-te Erklärungsprinzip für Lernen an.

8.2.3 Beobachtungsprinzip Nummer 3:Die Einheit der Differenz sozialerSysteme und ihrer Umweltunterstellt Wissen

Die Lehre ist stets der eigentliche Lehrstoff(Simon 1997, S. 153).

Niklas Luhmann (1994b) benutzt den Begriff derAutopoiesis nicht wie Maturana und Varela (1991)in einer ausschließlich auf Leben im biologischenSinn bezogenen Art, sondern er kennzeichnet da-mit die Eigentümlichkeit von auf sich selbst rück-bezüglichen Systemen.Seine Systemtheorie ist eineTheorie der Einheit der Differenz zwischen Systemund Umwelt. Er macht drei Systemarten aus, diesich evolutionär miteinander entwickelt haben undstrukturell gekoppelt sind, die sich wechselseitigvoraussetzen und als autopoietisch bezeichnet wer-den können: Organismen, psychische System und

soziale Systeme.Als Soziologe interessiert sich Luh-mann prioritär für soziale Systeme, die wiederumInteraktionen,Organisationen oder Gesellschaftensein können, als soziale Systeme aber gleicher-maßen auf Kommunikation beruhen.Eigenart mo-derner Gesellschaft ist, dass sie sich in Funktions-systeme ausdifferenziert, wie Wissenschaft, Bil-dung, Gesundheitssystem oder auch Wirtschaftund Politik, die jeweils nach ihrer eigenen Leitdif-ferenz agieren.

Im Kontext der Pflegepädagogik macht es Sinn,sich mit allen drei Systemarten – Organismus, psy-chisches System, soziales System – zu befassen undz. B. mit Fritz B. Simon (1995) den Fragen nachzu-gehen, ob Gesundheit eine Eigenschaft von Orga-nismen ist oder vielmehr ein Erklärungsprinzipvon Beobachtern,das die Ursache für Beobachtetesim Organismus sucht; wie in Bezug auf Krankheitdie Wechselwirkungen der drei Systemarten erklärtwerden können oder wie eine therapeutische In-terventionsstrategie in soziale Systeme aussehenkönnte (Blättner 1998). Für im eigentlich Sinnpädagogische Fragestellungen ist der Blick auf zweiSystemarten relevant, die noch dazu die Gemein-samkeit haben, sich auf das Medium »Sinn« zu be-ziehen, nämlich soziale und psychische Systeme.

Dass autopoietische psychische Systeme nichtvon außen determiniert werden können, sondernsich in der Differenz System / Umwelt eigenständigentwickeln, ist im Erklärungsprinzip konstrukti-vistischer Beobachtung beschrieben worden. Hierwird jetzt die These vertreten, dass Lernen sich inder Einheit der Differenz soziales System und Um-welt, zu der psychische Systeme gehören, erklärenmuss. Dazu ist zunächst notwendig zu sehen, dasssoziale Systeme nicht aus Individuen bestehen.Individuen, psychische Systeme, sind Teil der Um-welt sozialer Systeme. Element sozialer Systeme istKommunikation. Damit soll nicht bestritten wer-den, dass die Anwesenheit von psychischen Syste-men Voraussetzung für Kommunikation ist, abereben als notwendiger Teil der Umwelt, wie die Luftzum Leben.Ein psychisches System kann den Fort-gang der Kommunikation ebenso wenig determi-nieren, wie Kommunikation in der Lage ist, dieStruktur psychischer Systeme zielgerichtet zu ver-ändern. Kommunikation wurde schon als die Ein-heit der Differenz von Information und Mitteilungbeschrieben,die durch das Verstehen erzeugt wird.

Page 203: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

8

190 Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters

Kommunikation geht weit über sprachliche Kom-munikation hinaus, ist aber immer auch in Sprachefassbar.

Kommunikation und Wissen gehören zu-sammen. Kommunikation muss immerschon gemeinsames Wissen unterstellen.Wissen erfordert umgekehrt Kommunika-tion.

Es mag Formen des Lernens geben, in denen einEinsiedler in der eigenständigen Auseinanderset-zung mit der Umwelt menschenleerer kanadischerWälder, ohne ein Buch oder einen klugen Rat zurSeite zu haben,eine Möglichkeit erkennt,Lachse zufangen.Er wird dies aber auf der Basis vorhandenenWissens tun. Sein Leben als Einsiedler ist erst da-durch möglich, dass das Rad bereits erfunden wur-de, Lachse als essbar kommuniziert wurden,Werk-zeuge hergestellt wurden und das Wissen über denUmgang damit weitergegeben wurde. Wahrschein-licher ist es aber, dass er die Art des Lachsfangs vonanderen kanadischen Einsiedlern gelernt hat.

Lernen erfordert daher immer Kommunika-tion,wenn auch in ganz verschiedenen Medien undzeitunabhängig.Die Gruppenarbeit der Schüler beiPiaget ist genauso Kommunikation wie das Leseneines Lehrbuches, das Erstellen eines Mind Mapsoder die Verhaltensverstärkung durch Lob.Ganz of-fensichtlich scheint diese Kommunikation psychi-sche Systeme – wenn auch nicht zielgerichtet – ver-ändern zu können. Sie sozialisiert sie. Genau ge-nommen konstruieren soziale Systeme Personen,indem sie Unterschiede beobachten. Sie konstru-ieren aber keine psychischen Systeme, die bleibenunzugänglich.

Lernen bezeichnet die Sozialisation, die esermöglicht, gemeinsames Wissen zu unter-stellen. Lernen ist nur durch die Differenzsozialer Systeme zu einer Umwelt möglich,zu der auch andere Sinnsysteme, andereautopoietische Systeme gehören.

Eine Erklärung von Lernen aus der Differenz so-zialer Systeme und ihrer Umwelt bringt zunächsteinmal einige Vorteile mit sich: Spekulationen überBewusstseinssysteme und die Möglichkeit der In-tervention in solche unzugänglichen Systeme istnicht notwendig. Die logischen Widersprüche deranderen Beobachtungsformen von Lernen, wiedenn die Umwelt Lernen beeinflussen, wenn schonnicht bestimmen kann, wenn sie kein System ist,sind gelöst. Zwischen dem Lernen von Institutio-nen und Personen muss nicht unterschieden wer-den, beide sind gleichermaßen sozial konstruiert.Die gesellschaftliche Funktion von Lernen, vonWissen und von Pädagogik kann beschrieben wer-den.

Einige Schlussfolgerungen für pädagogischesHandeln sind sofort möglich: Überwiegend, abernicht ausschließlich, steht sprachliche Kommuni-kation im Mittelpunkt, denn Kommunikation ver-ändert sich durch und nur durch Kommunikation.Soziale Systeme lernen, verändern sich, in dem siedie Kommunikation verändern. Einstellungen vonPersonen können nicht direkt oder zielgerichtetverändert werden. Es kann nur darüber kommuni-ziert werden. Die Methode, die Art, wie kommuni-ziert wird, ist der eigentliche Lehrinhalt.

Diese Vorteile und Folgerungen erklären nochnicht, wie Sozialisation überhaupt möglich ist, wiesoziale System in der Lage sein sollen, psychischeSysteme irgendwie zu beeinflussen. Luhmann(1994b, S. 327) argumentiert, dass Sozialisation erstdurch die Differenz von System und Umwelt mög-lich wird. Ein System kann erst dadurch von einemanderen System »lernen«, dass es sich von ihm un-terscheidet.

7 Sozialisation ist immer Selbstsozialisa-

tion: Sie erfolgt nicht durch Ȇbertra-

gung« eines Sinnmusters von einem

System auf andere, sondern ihr Grund-

vorgang ist die selbstreferentielle Repro-

duktion des Systems, das die Sozialisati-

on an sich selbst bewirkt und erfährt. …

Es hat im Übrigen nicht viel Sinn zu fra-

gen, ob das System oder die Umwelt

wichtiger ist in der Bestimmung des

Resultates der Sozialisation; denn es ist

gerade diese Differenz, die Sozialisation

überhaupt erst ermöglicht. Ferner ist

Wichtig

Wichtig

Page 204: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

8.2 · Wie erklären sich Beobachter Lernen?8191

Sozialisation nur möglich, wenn es

Differenzschemata gibt, die das psychi-

sche System der Umwelt zuordnen und

auf sich beziehen kann – z. B.: Zuwen-

dung oder Abwendung einer Bezugs-

person,Verstehen oder Nichtverstehen,

Konformität oder Abweichung, Erfolg

oder Mißerfolg (Luhmann 1994b,

S. 327).

Die strukturelle Kopplung zweier sich von einanderunterscheidender Systemarten,die Sozialisation er-möglicht,bezeichnet Luhmann (1994b,S.289 ff.) als»Interpenetration«. Der Begriff meint eine Beson-derheit der System-Umwelt-Beziehung, in der eseine ganz entscheidende Rolle spielt, dass zur Um-welt des Systems ein anderes autopoietisches Sys-tem gehört (nicht die Umwelt ein System ist). Sys-teme machen sich wechselseitig Komplexität zu-gänglich, in dem sie ihre Komplexität auf einbinäres Schemata (gesund / krank,patientenorien-tiert / funktionsorientiert, gut / schlecht usw.) re-duzieren. Die Reduktion ist notwendig, um Zu-gänglichkeit zu ermöglichen, kann aber niemalskomplexe Wirklichkeit wiedergeben. Die Integra-tion liegt darin,dass die beteiligten Systeme diesel-ben Differenzschemata verwenden, um Informa-tionen zu verarbeiten.Die Struktur des Geschehensist auf beiden Seiten analog.Das ermöglicht die In-terpenetration, aber auch, dass auf beiden Seitenmit Information unterschiedlich umgegangenwird.

Ein Beispiel: Sie sprechen in einer Unterrichts-situation über die Bedeutung von »partnerschaft-licher Entscheidungsfindung« bei der Pflegepla-nung. Es entsteht eine Diskussion darüber, ob zuPflegende über Pflegemaßnahmen mit entscheidenwollen und dies können oder nicht. Sie haben kei-ne Möglichkeit, den Verlauf der Diskussion zu de-terminieren, aber Sie haben in die Diskussion dasDifferenzschema partnerschaftlich / hierarchischeingebracht. Die Diskussion entwickelt sich in derZustimmung und Ablehnung anhand dieses Sche-mas.Soweit die Lernenden der Diskussion zuhörenoder sich daran beteiligen,benutzen sie das gleicheDifferenzschema, aber bilden sich ihre eigene Mei-nung. Sie haben keine Möglichkeit, die Lernendendavon zu überzeugen, dass eine partnerschaftlicheEntscheidungsfindung in der Pflegeplanung sinn-

voll ist. Aber die Diskussion sozialisiert die Ler-nenden insofern, als sie sich in der Zustimmungoder auch Ablehnung dieser Auffassung eine vor-läufige Position bilden, auf die sie sich später (imzustimmenden oder ablehnenden Sinn, als gleicheMeinung wie früher oder andere Meinung) wiederbeziehen können. Die Lernenden wissen, dass esdie Forderung nach einer partnerschaftlichen Ent-scheidung gibt,unabhängig,wie sie dazu stehen.Esist nicht nur möglich, sondern sogar wahrschein-lich, dass die gleichen Schemata in anderen Kon-texten anders angewendet werden.

In der pädagogischen Praxis spricht vieles fürdas zur Verfügung stellen der Komplexität vielerPersonen, da neue Differenzschemata immer aucheinen neuen Aspekt der Sozialisation bedeuten. Esspricht ebenfalls einiges dafür,pädagogische Inter-ventionen in solchen Diskussionen entlang der Li-nie der Neutralität (Simon 1995,S. 151 ff.) zu führen,das heißt,das Ja oder Nein im Konfliktfall durch ein»Sowohl als auch« oder »Weder – noch« zu erset-zen,um veränderte Sichtweisen zu ermöglichen.Esist aber auch wichtig zu sehen, dass diese Form derBeobachtung von Lernen einerseits die Verantwor-tung für das Einbringen von Differenzschemata,fürdie Beeinflussung der Lernsituation, der Kommu-nikation wieder annimmt, andererseits sich ausdieser Theorie heraus nicht schon bestimmte Me-thoden als grundsätzlich besser geeignet begrün-den lassen. Ein guter Vortrag kann genauso hilf-reich sein wie eine visualisierte Moderation, eineDiskussion so hilfreich wie eine Wahrnehmungs-übung, vorausgesetzt, man bedenkt, dass die Me-thode der eigentliche Lerninhalt ist. Über einenVortrag Teamfähigkeit zu entwickeln, ist eher un-wahrscheinlich, da die Methode lehrt, nur einerPerson Aufmerksamkeit zu schenken. Umgekehrtist es eher unwahrscheinlich, mit Hilfe der Mode-rationsmethode zu lernen, einen komplexen Ge-dankengang entwickeln zu können oder auch einenVerband korrekt anlegen zu können.

In der Weiterentwicklung einer Theorie,die aufdieser Form der Beobachtung aufbaut, wird eszunächst noch nicht darum gehen, sofort didakti-sche Prinzipien zu entwickeln und neue Methodenzu erfinden, die sich dann auf die besonderen Ge-genstände der Pflegepädagogik anwenden lassen.Es müsste zunächst darum gehen, eine Theorie derPädagogik zu entwickeln, die sich als Sozialisation

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8

192 Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters

durch die Differenz sozialer Systeme zu ihrer Um-welt, zu der andere Systeme gehören, versteht, eineTheorie, die für das Lernen von Erwachsenen glei-chermaßen zutrifft wie für das Lernen von Kin-dern.

Eine solche theoretische Basis müsste zunächstnach dem Medium fragen, das das Erziehungssys-tem benutzt,um Formen zu bilden (Luhmann 1997,S.13).Sprache ist z.B.ein Medium,das heißt ein losegekoppelter Zusammenhang von Elementen, denWörtern, ein Medium, das eine ausreichend großeMenge an Wörtern bereit hält, die nach Bedarf zuSätzen kombiniert werden können. Die Form wärein diesem Fall der konkret geschriebene oder ge-sprochene Satz, eine feste Kopplung von Wörtern,die das Medium Sprache zulässt. Luhmann schlägtvor,für eine Theoriebildung der Pädagogik den Be-griff des »Lebenslaufes« als ein solches Medium an-zusehen, aus dem sich durch Sozialisation die kon-kreten individuellen Formen herausbilden lassen(Luhmann 1997, S. 18ff).

7 Zum sozialen Konstrukt »Erziehung«

kann es erst kommen, wenn sich Inter-

aktionssysteme bilden, denen das Me-

dium Lebenslauf zugrunde gelegt wird.

Dann beschreibt man die Situationen

anhand eines Schemas, das einerseits

retrospektiv angesetzt werden kann

und zugleich für die Zukunft Möglich-

keiten unterschiedlicher Formgewin-

nung offen läßt. Die Annahme, daß sich

durch Lernen andere Möglichkeiten er-

schließen lassen, wirkt als »self-fulfilling

prophecy«, und dies –unabhängig von

der Frage ob die Annahme zutrifft oder

nicht. Sie validiert sich selbst, indem sie

ein Verhalten motiviert, das neue Bedin-

gungen für weiteres Verhalten schafft.

Ob Erziehung gesetzte Ziele erreicht

oder nicht, ist eine zweite Frage, und be-

kanntermaßen kommt beides vor. Die

erste und grundlegende Frage ist dage-

gen, wie das Erziehungssystem dazu

kommt, in einem Kombinationsraum

von Möglichkeiten, genannt Lebenslauf,

Optionen zu sehen. … Das Problem

liegt in der Lebenslaufrelevanz be-

stimmter Formen.Wir wollen solche

Formen als »Wissen« bezeichnen und

darin einschließen das Wissen, daß

man etwas kann (z. B. schwimmen)

(Luhmann 1997, S. 26 f.).

Will man die Vorteile einer Beobachtung von Ler-nen als Teil sozialer Systeme nicht aufgeben, dannmuss man mit dem Begriff des Lebenslaufes odereinem ihm ähnlichen Begriff allerdings einen Be-griff schaffen, der sich nicht nur auf Personen be-zieht, sondern gleichermaßen auf Organisationenund andere soziale Systeme.Vom Lebenslauf einesPflegeheimes zu sprechen, sich damit sowohl aufdie Vergangenheit als auf die Zukunft zu beziehen,und die kommunikative Konstruktion des Heimeszu meinen, wäre eine erhebliche fachsprachlicheEntfremdung des Begriffes.Gerade die Praxisfelderder Pflegepädagogik machen aber deutlich, dassPädagogik – jedenfalls sofern sie beruflich begrif-fen wird – meist dann am erfolgreichsten ist, wennsie weniger Individuen als Institutionen soziali-siert. Das gilt für Arbeitsteams, Stationen, Betriebeoder auch Familien.

8.3 Wie verändert sich die pädagogische Praxis durch theoretische Einsicht?

Kommunikation, lieber Dr. Beben, Kommunika-tion kommuniziert, und sonst nichts (Fuchs 1992,S129).

Die Entwicklung einer solchen Theorie, in der sichdie Pädagogik insofern als Sozialwissenschaft ver-steht, als sie spezielle Phänomene sozialer Systemebeobachtet, hat auf die Praxis der Pflegepädagogikinsofern keine unmittelbaren Auswirkungen,als siekeine Rezepte anzubieten hat, wie die eingangs be-schriebenen Situationen des scheinbaren Schei-terns pädagogischer Aktivitäten verhindert werdenkönnen. Sie erklärt vielmehr, dass solche Situatio-nen möglich und wahrscheinlich sind. Autopoieti-sche Systeme sind immer bemüht, ihre Strukturenaufrechtzuerhalten.Veränderung lässt sich aber nurdadurch vermeiden, dass die Umwelt konstant ge-halten wird oder als konstant konstruiert wird.Wernicht lernen will, muss vermeiden, mit neuen Si-tuationen konfrontiert zu werden. Er muss über-

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8.3 · Wie verändert sich die pädagogische Praxis durch theoretische Einsicht?8193

haupt schon die Gegenwart sozialer Systeme ver-meiden, was aber nicht möglich ist, da sich sozialeSysteme ständig neu aktualisieren. Wenn nämlichLernen aus der Differenz soziales System / Umwelterklärt wird, gibt es keinen Grund anzunehmen,nur bestimmte soziale Systeme wie Interaktion imUnterricht seien in der Lage so zu sozialisieren.Vielmehr sozialisieren berufliche und private All-tagserfahrungen, »Schwester Stefanie« im Fernse-hen oder gesundheitspolitische Kongresse, das Ge-spräch mit dem Oberarzt und das mit einer Patien-tin, die Routinen des Schichtdienstes und eben auch die Fortbildung zur Pflegedokumentation. Sogesehen ist es ein ausgesprochenes Glück, dass die Sozialisation immer Zustimmung oder Ableh-nung ermöglicht und es ist mehr als nahe liegend,in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich zuagieren.

Eine mögliche Folge für pflegepädagogischesHandeln ist es daher, Kontexte so konstant wiemöglich zu halten. Das meint, Fortbildung in derPflege in einen unmittelbaren Zusammenhang mitdem Pflegealltag zu stellen, den sie verändern soll.Es ist kurz gesagt möglicherweise sinnvoller, Pfle-gedokumentation mit den Kolleginnen und Kolle-gen auf der Station oder in dem Heim zu lernen, indem diese Dokumentation auch angewandt werdensoll; das erhöht zwar nicht die Wahrscheinlichkeitder Zustimmung oder Ablehnung, wohl aber dieWahrscheinlichkeit der Anwendung in dem Kon-text, in dem sie angewendet werden soll.

Wenn Institutionen nicht anders lernen alsPersonen,spricht vieles dafür,Lernprozessein den Institutionen zu initiieren, um die esgeht.

Anwendung und Reflexion ist dabei aber nicht dasGleiche und auch nicht wechselseitig ersetzbar. ImUmgang mit verwirrten alten Menschen z. B. lerntman selbstverständlich eine Form des Umgangsmit verwirrten alten Menschen. Auch dieser Um-gang beschreibt übrigens ein soziales System. Manlernt wahrscheinlich die Situation persönlich ir-gendwie zu überstehen, ohne sich selbst und ande-

re in allzu große Gefahr zu begeben. Man lerntmöglicherweise, in dem man das nachahmt, wasandere einem vormachen oder das gerade nicht tut.Man lernt in solchen Situationen aber nicht das so-zial konstruierte Wissen über verwirrte alte Men-schen und einen gesellschaftlich akzeptierten Um-gang damit,wieder unabhängig davon,ob man die-sem Umgang zustimmt oder ihn ablehnt. Wennman das lernen will – und aus professioneller Sichtwäre dies sicher hilfreich – dann wird man gut dar-an tun, ein Buch zur Hand zu nehmen oder eineFortbildung zu besuchen, in der neben einer theo-retischen Erörterung ein Rollenspiel gut veran-schaulichen kann, um was es geht.

Wodurch unterscheiden sich Lehr-Lern-Situa-tionen von anderen Formen der Sozialisation? Sieunterscheiden sich zum einem durch die Bedeu-tung die ihnen in Bezug auf den Lebenslauf zuge-sprochen werden.Dabei ist diese Bedeutung ein so-ziales Konstrukt. Nimmt man aber den Lebenslaufoder einen vergleichbaren Begriff, der sich leichterauf soziale Systeme beziehen lässt, als Ausgangs-punkt, werden schnell methodische Fantasien ge-weckt, wie es möglich sein kann, Lernen als Neu-erzählen einer Vergangenheit oder befürchtetenZukunft zu behandeln. Wo komme ich her und wowill ich hin oder umgekehrt, wäre ein denkbaresDifferenzschema für methodische Planung.

Ebenso wenig wie Gesundung nur innerhalbdes Gesundheitssystems stattfindet, findet Lernennur innerhalb des Bildungssystems statt. Aber nurfür das Bildungssystem ist die Unterscheidung wis-send / nichtwissend von gleicher Bedeutung wie fürdas Gesundheitssystem die Unterscheidung gesund/ krank.Es sind Funktionssysteme der Gesellschaft,die diese Form der Beobachtung institutionalisierthaben, weil sie Auswirkungen auf die Gesellschafthaben. Das Erklärungsprinzip Krankheit führt zuanderen Folgen als das Erklärungsprinzip Lernen,andernfalls würde sich niemand für diese Unter-scheidung interessieren.Wird Lernen unter der Un-terscheidung gesund / krank beobachtet,ist das Ge-sundheitssystem aktiv – wird Gesundheit unter derUnterscheidung wissend / nichtwissend beobach-tet,das Bildungssystem.Lehr-Lern-Situationen un-terscheiden sich von anderen Formen der Soziali-sation durch die Bedeutung, die der Unterschei-dung wissend / nichtwissend beigemessen wird.

Wichtig

Page 207: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

8

194 Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters

Die Möglichkeit, gemeinsames Wissen voraus-setzen zu können, hält Kommunikation im Gang.Kommunikation z. B., in die sich das Differenz-schema Verantwortung einbringen lässt: Worin ge-nau besteht die Verantwortung von Pflegepädago-gen? Das hier vermittelte Wissen lässt die Aussagezu, die man ablehnen oder der man zustimmenkann, dass die Verantwortung nicht dafür über-nommen werden kann, ob das autopoietische Sys-tem zustimmt oder ablehnt.Aber sie kann für die indie Kommunikation eingebrachten Differenzsche-mata übernommen werden. Solche Schemata sindnicht nur die,die sich auf die Information beziehen,sondern auch die,die sich auf die Art der Mitteilungbeziehen, denn die Unterscheidung zwischen In-formation und Mitteilung ist das, was Verstehenausmacht. In diesem Kontext ist es sinnvoll daranzu erinnern, dass Kommunikation Sprache undmehr als Sprache umfasst. Die Genauigkeit derSprachwahl im pädagogischen Kontext ist ebensoeine Verantwortung, die die Pädagogen tragen, wiedie nichtsprachliche Kommunikation in Form vonGestaltung des Lehr-Lern-Settings. Auch Kinder-stühle im Lernraum Erwachsener und Tische inReihen können als Kommunikation verstandenwerden, wenn zwischen Information und Mittei-lung unterschieden wird.

Eine andere Art, systemisches Denken in diePädagogik einzubringen, lässt sich aus dem thera-peutischen Kontext lernen (Simon 1995). Manch-mal ist es kaum notwendig, unzugängliche psychi-sche Systeme dazu zu motivieren, ihre Komplexitätzur Verfügung zu stellen. Eine paradoxe Aufforde-rung wie »Strengen Sie sich bitte an, in den nächs-ten eineinhalb Stunden ganz sicher nichts zu ler-nen, aber bitte absolut nichts« kann es gelegentlichauch tun. Manchmal hilft es auch, den therapeuti-schen Rat, zum Gesund werden genau das zu tun,was einem bisher geholfen hat, aufzugreifen undauf die Frage nach der besten Lerntechnik zu ant-worten: »Lernen Sie am besten so, wie Sie es bishererfolgreich gemacht haben«.

Theorie über Lernen und Pädagogik ist Wissen,dem man zustimmen oder das man ablehnen kann,sie sozialisiert.Sie ist nicht das Gleiche wie die pfle-gepädagogische Praxis, aus der man auch lernenkann, aber Anderes.

Wenn Lernen als Veränderung verstandenwird, dann kann Nicht-Lernen als eine Stra-tegie von Systemen verstanden werden,ihre Identität aufrecht zu erhalten. Nicht-Lernen setzt die Fähigkeit von Systemenvoraus, sich von ihrer Umwelt zu unter-scheiden. Nicht-Lernen ist wie Lernen mitdem Risiko verbunden, dass das System inseiner Umwelt nicht überleben kann.Lernen kann als ein Erklärungsprinzip vonBeobachtern beobachtet werden. Der Be-obachter unterscheidet ein Phänomen Xvon Nicht-X. Das Phänomen X bezeichneter als Wissen und unterscheidet es damitvon Nicht-Wissen. Den Unterschied vonWissen und Nicht-Wissen erklärt er sich mitLernen.Beobachtet man Beobachter beim Beob-achten von Lernen, so kann man z. B. unter-scheiden und bezeichnen, ob die Beobach-ter Lernen dem System oder der Umweltzuschreiben. Die Bezeichnung der Umweltals Erklärung von Lernen kennzeichnet dasBeobachtungsprinzip des Behaviorismus,der die Objektivität der Beobachtung unddie zielgerichtete Veränderung von Syste-men durch die Umwelt als wahr bezeichnet.Die Bezeichnung des psychischen Systemsals Erklärung von Lernen kennzeichnet denKonstruktivismus, der Wirklichkeit für eineKonstruktion von Beobachtern hält undLernen für das Ergebnis der Konstruktionder Umwelt durch das System. Die Bezeich-nung der Differenz soziales System undUmwelt, zu der psychische Systeme gehö-ren, kennzeichnet die Systemtheorie, nachder Beobachter auch soziale Systeme seinkönnen und Kommunikation das Elementaus dem soziale Systeme bestehen. Kom-munikation bezeichnet die Unterschei-dung von Information und Mitteilung imVerstehen.Wenn Lernen der Einheit der Differenz so-ziales System und Umwelt zugeschriebenwird,dann ist es nicht mehr notwendig,zwi-schen dem Lernen von Personen und dem

Zusammenfassung

Page 208: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

8.3 · Wie verändert sich die pädagogische Praxis durch theoretische Einsicht?8195

von Institutionen zu unterscheiden und derUnterschied zwischen dem Lernen von Er-wachsenen und dem von Nicht-Erwachse-nen wird zur Konstruktion eines Beobacht-ers. Lehr-Lern-Situationen unterscheidensich von anderen Formen der Sozialisationdurch die Bedeutung, die ihr in Bezug aufden Lebenslauf zugesprochen wird.Wer fragt, was diese Theorie der Praxisbringt, beobachtet einen Unterschied zwi-schen Theorie und Praxis und bezeichnetdie Praxis.Er impliziert mit dieser Beobach-tung, dass seine Frage berechtigter ist alsdie, was die Praxis der Pädagogik für dieEntwicklung pädagogischer Theorie bringt.

3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung

4 Möglich ist eine Eingangsrunde – bei Gruppen,die sich nicht kennen,eine Vorstellungsrunde –verbunden mit der Frage »Was möchten Sieheute auf keinen Fall lernen?« Nehmen Sie dieTeilnehmenden in diesen Anliegen ernst.

4 Lassen Sie mit der visualisierten Moderationerarbeiten, welche Strategien die Teilnehmen-den anwenden könnten, um nicht zu lernen.

4 Fragen Sie nach Vorschlägen, wie man Gedan-ken sichtbar machen kann, ohne zu kommuni-zieren.

4 Erarbeiten Sie anhand der Konzepte »Pathoge-nese« und »Salutogenese« welche Folgen es ha-ben kann, das Nicht-Bezeichnete zum Bezeich-neten zu machen und diskutieren Sie ethischeGrenzen einer Orientierung am »Gesunden«anhand faschistischer Medizin und Pflege (Si-mon 1995, S. 191 ff.).

4 Mind Maps zu den Begriffen Wissen, Lernen,Pädagogik, die von Kleingruppen am Anfangder Arbeit am Lernfeld erstellt werden,spiegelnden Wissensstand der Kleingruppen zu diesemZeitpunkt über dieses Thema. Wenn Sie amEnde der Beschäftigung mit diesem Lernfeldneue Mind Maps zu den gleichen Begriffen an-fertigen lassen,können Sie vergleichen und denUnterschied mit Lernen erklären, wenn Siemöchten.

4 Zeigen Sie anhand unterschiedlicher diagnosti-scher Herangehensweisen, welche Folgen un-terschiedliche Erklärungsprinzipien von Be-obachtern haben.

4 Erarbeiten Sie anhand von Pflegemodellen wieunterschiedliche Begriffsdefinitionen von Ge-sundheit, Pflege, Person und Umwelt zu unter-schiedlichen Modellen führen und wie Begriffeaufeinander bezogen werden.

4 Üben Sie im pädagogischen Alltag mit den Ler-nenden, Begriffe präzise zu verwenden und zudefinieren, und beobachten Sie die jeweiligenUnterscheidungen zwischen Information undMitteilung und beobachten Sie das Beobachten.

4 Lesen Sie mit den Studierenden einige der Tex-te im Original (s. unter »Empfehlungen zumWeiterlernen«).

4 Hören Sie einige Originalreden mit der Gruppeauf Kassette (siehe Empfehlungen zum Weiter-lernen).

4 Einige Spiele über Wahrnehmung und Kon-struktion, die Sie mit der Gruppe ausprobierenkönnen, finden Sie bei Fritz B. Simon (1995).

4 Probieren Sie systemisches Vorgehen in Bil-dungs- und Therapiesituationen anhand einerpraktischen Übung zum Gesundheitsbild nachH.Merl (1997).Ein Video,wie Merl mit dem Ge-sundheitsbild arbeitet, ist im Carl-Auer-Syste-me Verlag erhältlich.

4 Die Beobachtungsprinzipien lassen sich vertie-fen, in dem Sie sich mit der Gruppe intensiv mitbehavioristischen Lerntheorien und ihrenneueren Varianten sowie mit konstruktivisti-scher Pädagogik befassen und beides aus syste-mischer Sicht kritisieren.

4 Kommunikationstheorie, vom einfachen Sen-der-Empfänger-Modell über Watzlawick,Schulz von Thun und die CMM-Theorie (Coor-dinated Management of Meaning), jeweils kri-tisiert aus Sicht des Luhmannschen Kommuni-kationsbegriffes, kann das Verständnis vonKommunikation festigen.

4 Lassen Sie in Arbeitsgruppen je ein gesund-heitspädagogisches Kurskonzept erarbeiten,das einem der drei Beobachtungsmöglichkei-ten von Lernen entspricht.

4 Lassen Sie Vorschläge entwickeln,wie ein syste-misches Konzept von Lernen in dem Lernpro-zess einer Krankenpflegestation praktisch um-

Page 209: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

8

196 Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters

gesetzt werden kann. Anhand eines Fallbei-spiels lässt sich dies handlungsorientiert durch-führen.

3 Empfehlungen zum WeiterlernenAutobahnuniversität: Kassetten und Videos überSystemische Sichtweisen erhältlich bei Carl-Auer-Systeme, u. a. von Fritz B. Simon, Niklas Luhmannund H. Merl.

Literatur über Lernen, Wissen. Wissenschaftund soziale Systeme u. a. von Simon, Luhmann, Sie-bert und Arnold wie im Literaturverzeichnis ange-geben.

Literatur

Arnold R, Siebert H (1995) Konstruktivistische Erwachsenenbil-

dung. Von der Deutung zur Konstruktion von Wirklichkeit.

Schneider, Baltmannsweiler

Bateson G (1985) Ökologie des Geistes. Antropologische, psycho-

logische, biologische und epistemologische Perspektiven.

Suhrkamp, Frankfurt a. M

Blättner B (1998) Gesundheit läßt sich nicht lehren.Professionelles

Handeln von KursleiterInnen in der Gesundheitsbildung aus

systemisch-konstruktivistischer Sicht. Klinkhardt, Bad Heil-

bronn

Delius JD, Todt E (1987) Lernen. In: Deutsches Institut für Fernstu-

dien an der Universität Tübingen (Hrsg) Funkkolleg Psycho-

biologie. Studieneinheit 16. Beltz, Weinheim Basel, S 11–68

Foerster H (1997) von Abbau und Aufbau. In: Simon FB (Hrsg) Le-

bende Systeme. Suhrkamp, Frankfurt a. M., S 19–33

Fuchs P (1992) Niklas Luhmann – beobachtet. Eine Einführung in

die Systemtheorie. Westdeutscher Verlag, Opladen

Glasersfeld, E v (1997) Wege des Wissens. Konstruktivistische Er-

kundungen durch unser Denken. Carl Auer, Heidelberg

Horster D (1997) Niklas Luhmann. Beck, München

Kösel E (1993) Die Modellierung von Lernwelten.Verlag Laub,Elztal

Luhmann N (1987) Soziologische Aufklärung 4: Beiträge zur funk-

tionalen Differenzierung der Gesellschaft. Westdeutscher

Verlag, Opladen

Luhmann N (1994a) Die Wissenschaft der Gesellschaft. Suhr-

kamp, Frankfurt a. M

Luhmann N (1994b) Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen

Theorie. Suhrkamp, Frankfurt a. M

Luhmann N (1997) Erziehung als Formung des Lebenslaufs. In:

Lenzen D u. Luhmann N: Bildung und Weiterbildung im Er-

ziehungssystem. Suhrkamp, Frankfurt a. M, S 11–29

Maturana HR, Varela F (1991) Der Baum der Erkenntnis. Die biolo-

gischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Goldmann,

Bern München

Merl, H (1997) Das Gesundheitsbild. Videokassette, Heidelberg

Piaget J (1983) Meine Theorie der geistigen Entwicklung. Fischer,

Frankfurt a. M.

Siebert H (1996) Didaktisches Handeln in der Erwachsenenbil-

dung. Didaktik aus konstruktivistischer Sicht. Luchterhand,

Neuwied Kriftel Berlin

Siebert H (1999) Pädagogischer Konstruktivismus. Eine Bilanz der

Konstruktivismusdiskussion für die Bildungspraxis. Luchter-

hand, Neuwied Kriftel

Simon FB (1995) Die andere Seite der Gesundheit. Ansätze einer

systemischen Krankheits- und Therapietheorie.Carl Auer,Hei-

delberg

Simon FB (1997) Die Kunst,nicht zu lernen.Und andere Paradoxien

in Psychotherapie,Management,Politik.Carl Auer,Heidelberg,

S 145–159

Spencer-Brown G (1969) Laws of Form. Julian Press, New York

Page 210: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

9

Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive

Elfriede Brinker-Meyendriesch

9.1 Strukturelle Gegebenheiten – Bildungssystem 199

9.2 Lernen unter konstruktivistischer

und systemtheoretischer Perspektive 200

9.2.1 Ausgewählte Aussagen aus dem Konstruktivismus

zum Lernen 200

9.2.2 Wissen und Handeln 202

9.2.3 Lernen 204

9.2.4 Resultate 208

9.3 Schwerpunkte theoretischen und praktischen Lernens –

Ausblick 209

Page 211: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

9

198 Kapitel 9 · Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive

> Thesen5 Dem didaktischen Thema Lernen in Theorie

und Praxis kommt aktuell im Zeichen der Neu-

orientierung des hochschulischen Bildungs-

bereichs eine herausragende Rolle zu. Dies

trifft insbesondere für berufsorientierte BA-

Studiengänge zu, wo theoretische und prakti-

sche Studienphasen die Ausbildung konstitu-

ieren.

5 Lernorte der Theorie (Schule,Hochschule) und

Lernorte der Praxis (Betrieb, Unternehmen)

enthalten jeweils eigentümliche Lernmög-

lichkeiten.

5 Die Praxis kann und muss zu Lernzwecken

nicht (hoch-)schulisch nachgebildet werden.

5 Die (Hoch-) Schule vermittelt Wissen, und das

muss nicht »träge« sein.

5 Die Praxis enthält ausgezeichnete Lernmög-

lichkeiten, aber das Lernen erfolgt nicht wie

von selbst.

5 Wenn die beteiligten Lernorte kooperieren

wollen, muss der Wille zum Kommunizieren

vorhanden sein.

3 Berufliche Handlungskompetenzen

2 FachkompetenzLernmöglichkeiten, die der Praxis (Betrieb,

Unternehmen) bzw. der Theorie (Schule,

Hochschule) zugerechnet werden, erken-

nen und gestalten.

Vernetzungen von Theorie und Praxis in

dualen und quasi-dualen Ausbildungen be-

wusst initiieren.

Aussagen konstruktivistischer Theoretiker

in konkreten Kontexten anwenden.

2 MethodenkompetenzDidaktische Unterscheidungen zwischen

Lernen in der Praxis und Lernen in der Theo-

rie treffen.

Lernmöglichkeiten in der Theorie und in der

Praxis systematisch eruieren und festlegen.

2 Kommunikative KompetenzDie Bedeutung konstruktivistischer Begrif-

fe erarbeiten und verwenden.

Konstruktivistische Begriffe in Gesprächen

einbringen.

3 Praxisrelevanz Wenn vom Lernen in Theorie und Praxis und vonder Vernetzung zwischen (hoch-)schulischen undbetrieblichen Lernorten die Rede ist, sind minde-stens drei Perspektiven zu beachten, die hier ausGründen der Analyse voneinander getrennt be-trachtet werden: Inhaltliche, unterrichtliche undstrukturelle Perspektiven.

Zur inhaltlichen Perspektive

In Lernprozessen muss es eine inhaltliche Passunggeben, d. h. das angeeignete Wissen aus der (Hoch-)Schule muss eine Anschlussfähigkeit an die Praxisfinden. Dem vorwegnehmenden Denkhandeln inder Hochschule folgt das reale Handeln in der Pra-xis. Zum Beispiel: Der theoretischen Auseinander-setzung mit didaktischen Modellen in der Lehrer-ausbildung folgen Unterrichtsentwürfe für die Pra-xis, die sich an die Bedingungen der jeweiligenOrganisation Schule sowie an die curricularen Vor-gaben und an die Kompetenzen des Lehrenden undder Lerngruppe anschließen.

Zur unterrichtlichen Perspektive

Obgleich ein Lernen in den Lernorten (Hoch-)Schule und Betrieb / Unternehmen eigenen Ge-setzmäßigkeiten folgt, sollen die Lernprozesse inden beiden Lernorten ein in sich geschlossenesLernhandeln ermöglichen,wo sich theoretische Er-kenntnis und praktische Aufgaben ergänzen undeinen kognitiven Transfer enthalten. Die Didaktikhält dazu einige Konzepte bereit, die dies unter-stützen und gewährleisten sollen. Hier sind insbe-sondere das Handlungs- und das Lernfeldkonzeptzu nennen (s. Kap. 5 und 6).

Zur strukturellen Perspektive

Damit die Theorie-Praxis-vernetzenden Aspektezur Wirkung kommen können, muss es einen In-formationsfluss vom theoretischen zum prakti-schen Lernort geben. Bezogen auf einen Lernpro-zess bedeutet dies,die (Hoch-) Schule muss mit derberuflichen Praxis interagieren, damit die Hoch-schule weiß, dass die berufliche Praxis zu derTheorie und die Theorie zu der beruflichen Praxispassen kann. Die Praxis hingegen muss sich in dertheoretischen Vorbereitung der Lernenden »wie-derfinden« und ein Lernen in ihrer Organisation zu-mindest ermöglichen. Diese Überlegungen findensich wieder in dem Begriff Lernortkooperation.

Page 212: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

9.1 · Strukturelle Gegebenheiten – Bildungssystem9199

3 Verfahrensstruktur (. Abb. 9.1)Die innere Struktur dieses Beitrags ist mit der Gra-fik veranschaulicht.

9.1 Strukturelle Gegebenheiten –Bildungssystem

Bislang ist das vorliegende Thema »Lernen inTheorie und Praxis« im Besonderen für duale be-rufliche Ausbildungen des sekundären Bildungsbe-reichs bearbeitet worden und hier schon immer einwichtiger Gegenstand. Es liegen dazu didaktischeKonzepte vor, die bis in die Reformpädagogikzurückgehen. Als neuestes Konstrukt ist hier dasLernfeldkonzept zu nennen.

Aber auch für Hochschulen ist das Thema dring-licher geworden.Hervorzuheben sind ausbildungs-integrierte duale Studien, wo Ausbildungen in Un-ternehmen mit Studien an Hochschulen (auch Aka-demien) kombiniert werden. Das führt zu einemBerufsabschluss plus einen Studienabschluss. Pha-sen in der Ausbildungsstätte und der Hochschulewechseln sich ab.Auf hochschulischer Ebene könnenein Diplom oder ein Bachelor erworben werden.

Damit ist eine enge Verlinkung zwischen denBildungssubsystemen Berufsbildung und Hoch-schulbildung gegeben.Dies ist ein erklärtes Ziel derEU (Prozess Kopenhagen 2002).

Ohne nun vertieft in Stand und Diskussion ein-zusteigen, kann pauschal gesagt werden, dass Ba-chelorstudiengänge allgemein als erste Stufe einerQualifizierung im Stufenmodell das Charakteristi-kum einer Berufsbefähigung aufweisen. Die Ma-sterstudiengänge intensivieren die berufsbezogeneAusrichtung beziehungsweise konzentrieren sichauf eine vertiefte wissenschaftliche Qualifizierung.Insbesondere für die Bachelorstudiengänge istdurch die Berufsorientierung das dialogische Ver-hältnis zur Arbeitswelt konstitutiv.

Auch pflegerische Hochschulstudien stellensich zur Zeit auf die neuen Studienstrukturen um.Auf Bachelorniveau richten sich die Angebote zu-meist an Personen, die neben den üblichen Vorga-ben mindestens über eine grundständige Pflege-ausbildung verfügen, somit also mit beruflichemWissen und beruflichen Erfahrungen eintreffen.Daneben gibt es solche Studiengänge, wo daraufverzichtet wird.Im Sinne der EU-Richtlinien ist fürprimärqualifizierende pflegewissenschaftliche Stu-diengänge ggf. eine externe Prüfung in der Kran-ken- oder Altenpflege eingebunden (Sieger 2002,28). Die Evangelische Fachhochschule Hannoveretwa bietet einen dualen Studiengang an, wo Kran-kenpflegeschülerinnen und Krankenpflegeschülereinen Bachelor of nursing erwerben können.

In allen der kurz umrissenen Varianten sindAnteil und Bedeutung eines Lernens in Hochschu-len sowie den Berufsfeldern gegeben.Das erfordert

. Abb. 9.1. Verfahrensstruktur

Page 213: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

9

200 Kapitel 9 · Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive

eine enge organisatorische und inhaltliche Abstim-mung zwischen den ausbildenden Betrieben undden Hochschulen.

Infolgedessen ist das Folgende zu überdenken:4 Das Lernen in Hochschulen und den Berufsfel-

dern und deren Steuerung.4 Die Vernetzung des Lernens von der Hoch-

schule im Sinne eines Zurück in den Betriebund wieder Hinein in die Hochschule als zir-kulärer Vorgang, und damit das:_ Lernen in der Hochschule, eingedenk des

Anteils und der Bedeutung des beruflichenLernortes,

– Lernen im Betrieb,eingedenk des Anteils undder Bedeutung des theoretischen Lernortes.

Es lässt sich also belegen,dass das vorliegende The-ma einen hohen didaktischen Stellenwert ein-nimmt und ein tiefgehendes Nachdenken über dasLernen in Theorie und Praxis notwendig macht.Diegenannten und weitere hier nicht aufgeführte Be-funde sind darum der Anlass, dieser Aufgabe ge-nauer nachzugehen.

9.2 Lernen unter konstruktivistischerund systemtheoretischer Perspektive

Dem Thema Lernen in Theorie und Praxis soll sichnun aus konstruktivistischer und systemtheoreti-scher Sichtweise genähert werden.

Die soziale Systemtheorie ermöglicht ein Ver-ständnis für die Lernortproblematik, d. h. sie gibtuns Aufschluss über die Frage, wieso die Koopera-tion zwischen der (Hoch-)Schule als Teil des Bil-dungssystems und dem Betrieb als Teil des Be-schäftigungssystems sich oft schwierig gestaltet.Systemtheoretisch können Lernorte als Teilsystemeder Organisationssysteme (Luhmann 1984, 1991)Bildung und Beschäftigung gesehen werden (Brin-ker-Meyendriesch et al. 2001, S. 167–182, Brinker-Meyendriesch 2002, S. 57–59).

Der Konstruktivismus, der sich auch mit Fra-gen des Wissenserwerbs und des Wissensaufbausauseinandersetzt, kann dazu dienen, zentrale Fra-gen des Lernens in Theorie und Praxis zu erfassen.Er hat sich im didaktischen Bereich bereits alsHandlungswissenschaft etabliert (z. B. Kösel 1995,Arnold u. Schüßler 1998).

9.2.1 Ausgewählte Aussagen aus demKonstruktivismus zum Lernen

Theoretischer Hintergrund

Der Konstruktivismus beschäftigt sich innerhalbverschiedener Wissenschaftsgebiete mit Wahrneh-mung und Erkenntnis (z. B. Roth 1992, S. 277 ff.),und geht wesentlich auf neurobiologische Untersu-chungen von Maturana und Varela (1987) zurück.Entscheidende Ergebnisse konstruktivistischerUntersuchungen / Überlegungen sind:4 Das kognitive System ist selbstreferentiell, d. h.

Erfahrung und Erkenntnis misst sich an bereitsbestehender Erkenntnis und gemachter Erfah-rung (Roth 1992, S. 279), und muss dort An-knüpfungspunkte vorfinden.

4 Alles Erkennen ist an das erkennende Subjektgebunden und nicht im übergeordneten undallgemeinen Sinne wahr. Was als gültig aner-kannt werden kann, ist somit überindividuelleVereinbarung.Wie »Welt« gesehen wird, ist vonden jeweiligen Erkennenden abhängig; wasdarüber hinausgeht, kann sich prinzipiell nichterschließen.

4 Die interne Struktur des kognitiven Systemskommt durch Umgebungsreize in Bewegung.Die Umgebung vermag dabei lediglich anzure-gen, nicht zu bestimmen. Umgebungsreize ha-ben zwar eine Wirkung auf das kognitive Sys-tem, jedoch sind diese unspezifisch und es istnicht vorhersagbar, wie diese Reize intern aus-gewertet werden.

4 Gleichwohl werden Umgebungsreize nicht – vonaußen betrachtet – beliebig ausgewertet, denndas kognitive System und seine Umgebung ver-fügen über Gemeinsamkeiten, z. B. den sozialenKontext, in dem sich beide befinden. BeiderleiGewissheiten sind aber gleichermaßen legitimund gültig (Maturana u. Varela 1987, S. 264). Siekoexistieren, indem sie sich um gegenseitigesVerstehen bemühen oder es ablehnen.

4 Reflexion, d. h. eigene Erkenntnis als subjekt-spezifisch zu überdenken und anzuerkennen,eröffnet den Raum für Koexistenz mit anderenund untersagt demzufolge die voreingenomme-ne Negierung anderer Deutungen (ebd. S. 264).

4 Reflexion ist die Fähigkeit, zu sich selbst in eineBeobachterposition zu treten und sich somitvor allzu großer Selbstgewissheit zu schützen.

Page 214: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

9.2 · Lernen unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive9201

Solcher Art Aussagen haben enorme Auswirkun-gen auf die Pädagogik gehabt. Kommt doch mit ih-nen zum Ausdruck,dass Lernende viel stärker überihr Lernen entscheiden als bis dato angenommenwurde. Sie machen auch deutlich, dass die inten-dierten Lerneffekte weit weniger voraussagbar sindals erwartet werden konnte. Vor allem belegen sie,dass Lernende im entscheidenden Maße die Ver-antwortung für ihr Denken und Handeln tragenund sie sich im Prozeß der Erkenntnis mit anderen– Lehrern, Mitlernenden – um Erweiterung derPerspektiven und um Gemeinschaftlichkeit bemü-hen müssen.

Konkretisierung

Ein konstruktivistisches Nachdenken über dasThema Lernen ist, ob explizit herausgehoben oderimplizit enthalten, mindestens bis zu Kant zurück-zuverfolgen. Erst in jüngerer Zeit ist von »Kon-struktivismus« die Rede.

Anhand folgender Zitate soll sich im Weiterendem Konstruktivismus mit der Perspektive auf dasThema Lernen genähert werden. Diese Zitate wer-den jeweils pointiert kommentiert und können alsAusgangspunkte zum Weiterlernen dienen:

7 Der Konstruktivismus beschränkt sich nicht

auf die kognitiven Aspekte des Lernens. Ge-

fühle (Umgang mit Freuden und Ängsten)

sowie persönliche Identifikation (mit den

Lerninhalten) sind bedeutsam, denn ko-

operatives Lernen, der Umgang mit Fehlern

in komplexen Lernsituationen, Selbststeue-

rung, das dem Lernen Dienstbarmachen

der Eigenerfahrung verlangen mehr als nur

Rationalität (Dubs 1995, S. 891).

Zu den beruflichen Handlungskompeten-zen zählen fachliche aber auch persönlichewie Reflexionsfähigkeit und Wachheit fürdie Umgebung sowie soziale Kompeten-zen, wie Gesprächsbereitschaft und Aus-tausch mit anderen.Fehler können das Lernen fördern, sofernsie in einem sanktionsfreien Raum gestat-tet werden und sie Ausgangspunkt neuenLernens sind.

7 Die Betonung der unhintergehbaren Sub-

jektivität allen Wissens führt in der Pädago-

gik und Didaktik zu der Grundüberzeugung,

dass die Kunst des Lehrens darin bestehen

muss, die Kunst des Lernens auszubilden,

damit die Schüler selbst Wissen aufbauen

können (Schmidt 1996, S. 12–13).

Lernen soll ermöglicht werden: Ermögli-chungsdidaktik.Die Kunst des Lernens wirdunterstützt durch lernstarke, d. h. lernför-dernde Umgebungen, welche in der beruf-lichen Praxis naturwüchsig enthalten sind,in der Schule jedoch konstruiert werdenmüssen.

7 Alle subjektiven Strukturen des Wissens sind

subjektive Konstruktionen, die als viable

[passend, funktionierend, Anm. der Verfasse-

rin] Modelle funktionieren, die durch Anpas-

sungen an die Widerstände der »Welt« und

durch Aushandeln in sozialer Interaktion ge-

bildet worden sind (Bauersfeld 1998, S. 39).

Mentale Konstruktionen bauen sich in In-teraktion mit der Umwelt auf; die anderenin der Lerngruppe sind Umwelt, auch dieLehrenden.

7 Bestraft man das Kind aber, wenn es Böses

thut, und belohnt man es, wenn es Gutes

thut, thut es Gutes, um es gut zu haben

(Kant 1803, S. 84).

In Absetzung zum Behaviorismus:Das Kindkann den dahinterliegenden erzieheri-schen Sinn nicht erfassen. Es interpretiertseiner selbst gemäß. Insofern istErziehung,was der Erzieher für Erziehung hält.

7 Lehrer müssen stets die Überzeugung he-

gen, dass Schüler in der Lage sind, selbst-

ständig zu denken (Glasersfeld 1998, S. 291).

Wichtig

Wichtig

Wichtig

Wichtig

Page 215: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

9

202 Kapitel 9 · Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive

Lehrende können gelassen sein und nichtalle unerreichten »Lernziele« sich selbst zu-schreiben. Sie vertrauen auf die Kräfte derLernenden und sind ihnen dabei wohlwol-lende Begleiter und Berater.

7 Die inhärente Unschärfe der Sprache

macht jeden Unterricht schwierig, aber

deshalb noch keineswegs unmöglich. …

Sprache überträgt kein Wissen, sie kann

aber sehr wohl das begriffliche Konstru-

ieren des Empfängers einschränken und

orientieren (Glasersfeld 1998, S. 293).

Die Sprache im Unterricht markiert nur diegemeinsame Lernrichtung.Wenngleich diejeweiligen Auffassungen der sprachlichenBegriffe unterschiedliche Färbungen ha-ben werden, sind Überschneidungsberei-che auszuweiten, indem Auseinanderset-zungen stattfinden und Konsensbereichegesucht werden. Wichtig: Die Bereitschaftzum Dialog.

7 Nachhaltig wird nicht das gelernt, was in

Lehrplänen und Schulbüchern steht, son-

dern das, was in biographische und sozia-

le Kontexte eingebettet ist, was in die ei-

gene Identität passt, was in Lebenssitua-

tionen verwendbar ist. … Die Theorie der

»situierten Kognition« [Erkenntnis, die in

einer bestimmten Situation erfolgt ist,

Anm. der Verfasserin] bestätigt, dass ein

Wissen, das kontextindifferent vermittelt

wird, »träge« bleibt (Siebert 1996, S. 31).

Ein Lernkontext kann aktuell erlebt, aberauch erinnert oder dinghaft vorgestelltwerden, z. B. in Form einer Fantasiereise.Die Frage ist, was der Lernstoff mit der Per-son, ihrem Leben, ihrem Beruf zu tun hat?

9.2.2 Wissen und Handeln

Es hat sich erwiesen, dass Lernen optimiert werdenkann, wenn es so gestaltet ist, dass es erstens soweitals möglich an die Erkenntnisse und Erfahrungender Lernenden anschließt und zweitens mit einemhandlungsorientierten Sinnkontext verbunden ist.Von Sinn und Situation abgelöstes Lernen dagegenist weniger effektiv,vor allem,wenn das Lernen zumkompetenten beruflichen Handeln führen soll. DieKonstrukte Wissen und Handeln ergänzen sich undaktivieren sich somit gegenseitig, sie bilden eine»Koordinationseinheit« (Law 2000,S.268).Dass derPraxis oftmals ein besonderer Lernwert unterstelltwird, hat damit zu tun, dass hier Wissen und Han-deln quasi naturwüchsig vonstatten gehen,wogegenSchule und Hochschule dies didaktisch konstruierenmüssen. Das ist aber kein Nachteil, denn nicht allesWissen und Handeln in der Praxis ist lernhaltig undbedeutungsvoll. Die (Hoch-) Schule dagegen kanndie maximale Lernhaltigkeit, die Ausrichtung nurauf den Lerner und Lernerfolg, entwerfen.

Der Dualität der theoretischen und praktischenLernorte – sie verfolgen andersgeartete Ziele undbieten unterschiedliche Lernmöglichkeiten – wirdbei oberflächlicher Betrachtung eine Dualität vonWissen und Handeln unterstellt. Danach obliegtdem theoretischen Lernort traditionsgemäß dieWissensvermittlung, dem betrieblichen Lernortdagegen das konkrete Handeln. Diese Zuweisunggreift allerdings zu kurz: Die Praxis verfügt eben-falls über Wissen, aber in stärkerem Maße über einspezielles Faktenwissen,vor allem aber über ein ge-neralisiertes Verfahrens- und Bedingungswissen(siehe von Cranach u.Bangerter 2000,S.239 zu Wis-sensarten). Sie konzentriert sich somit auf die An-wendung ihres Wissens, das in den Personen undDokumenten gespeichert ist. Insofern sind in derPraxis Wissen und Handeln miteinander verbun-den und benötigen sich gegenseitig.An diesen spe-ziellen Wissens- und Handlungsprozessen kannder Lernende teilhaben.

Aber auch die (Hoch-) Schule muss sich nichtmit dem Vermitteln von Faktenwissen begnügen,das kontextlos im Raume steht. Sie kann (hoch-)schulische Wissens- und Handlungsprozesse di-daktisch konstruieren. Bloße Faktenvermittlungbegünstigt nicht ein Handeln-Können in einer rea-len oder vorgestellten Handlungssituation.

Wichtig

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9.2 · Lernen unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive9203

Um die Problematik Dualität von Wissen undHandeln (insbesondere Law 2000,S.253 ff.) ansatz-weise zu belegen, finden sich im Folgenden einigePräzisierungen von Reetz,Arnold und von Cranachu.Bangerter zu diesem Thema,die unter den Ober-punkten Dualität und Integration jeweils erfasstworden sind. Teilweise sind schlagwortartige Lö-sungsvorschläge von mir zugefügt, die für ein Wei-terlernen aufgegriffen werden können:

Dualität

Eine »Dualität von Wissen und Handeln« stellt sichfür Reetz (1996) folgendermaßen dar:

7 Das in schulischen oder schulähnlichen

Lernprozessen vermittelte konzeptuelle (be-

griffliche) Wissen ist oftmals abstrakt und

damit bedeutungsarm, anwendungsspezi-

fisch und unverbunden (Reetz 1996, S. 175).

Vorschlag: Induktives Vorgehen mit selbsterlebten oder anderweitig aufgezeichne-ten Fallbeispielen aus der beruflichen Pra-xis.

7 Es besteht ein Defizit an Handlungs-

wissen (Reetz 1996, S. 176).

Vorschlag: Über das deklarative Wissen hi-naus (WAS muss ich wissen und parat ha-ben?),können weitere Wissensarten erwor-ben werden: Das prozedurale Wissen (WIEkann ich in diesem Falle vorgehen?), daskonditionale Wissen (WANN finde ich opti-male Bedingungen vor,WANN ist der richti-ge Moment,WANN muss ich was tun?).In ei-ner Stufenfolge führt das im Lernprozessoptimalerweise zum Verstehen, im Weite-ren zum Aufgabenlösen, dann zu Generali-sieren. Letzteres ist die höchste Verfü-gungsstufe, weil hier übergeordnete Prin-zipien abgeleitet sind und angewendetwerden können.

7 Schulisches oder schulähnliches Lernen

geschieht in der Regel unter den Bedin-

gungen der Zersplitterung der Lerninhal-

te in einzelne Fächer (Reetz 1996, S. 176).

Vorschlag: Die didaktischen Konzepte Lern-feldorientierung und berufliche Hand-lungskompetenzen integrieren die Lernin-halte einzelner Fächer und machen sie fürLernende sinnhaft erfahrbar.

7 Im Beruf sind relevante Probleme meist

so komplex, dass oft erst die Zusam-

menfassung von verschiedenen Fach-

vertretern zu einer wünschenswerten

Lösung führt (Reetz 1996, S. 178).

Vorschlag: Aus Sicht der Lernenden ist hierdie Projektarbeit geeignet; auch kannTeamentwicklung unterstützend wirken,damit die Fachvertreter kooperieren kön-nen.Die Organisation kann sich als eine ler-nende verstehen und Raum für Experimen-te lassen.

Integration

Eine Integration von Wissen und Handeln bedeu-tet dagegen:

7 Wahrnehmung und lernende Erkennt-

nisbildung durch Selbstorganisation in

einer zirkulären Verkettung von Hand-

lung, Erfahrung und Erkenntnis mit ho-

hem eigenen konstruktiven Anteil des

Individuums (Reetz 1996, S. 178).

Reetz betont die Eigenaktivität des Lernenden unddie »Ganzheitlichkeit« von Erfahrung, Wissen undHandlung.

Desgleichen spricht Arnold von dem Wechsel

7 Handlung – Deutung – Handlung und

zurück (Arnold 1996, S. 170).

Wichtig

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204 Kapitel 9 · Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive

Auch für ihn sind Handlung und Deutung nichttrennbar, sondern bedingen sich (. Abb. 9.2).

Von Cranach und Bangerter betonen in gleicherWeise:

7 Wissen steuert Handeln … Handeln

bringt Wissen hervor. … Wissen und

Handeln werden also als in Kreisprozes-

sen miteinander verbunden vorgestellt,

sie bilden funktionale Bestandteile des

lebenden, selbstaktiven Systems

»Mensch« (von Cranach u. Bangerter

2000, S. 222).

9.2.3 Lernen

Konstruktivismus

Der Konstruktivismus und seine Vorläufer,wie bei-spielsweise Piaget (1969), beschäftigen sich nebenFragen der Erkenntnis (Glasersfeld 1998,Roth 1992)mit solchen der Modellierung von Wissen und ihrerSituierung (Neuer Konstruktivismus,z.B.Mandl etal. 1993,Siebert 1999) sowie mit Fragen des Wissen-erwerbs (konstruktivistische Lehr- und Lernfor-schung,z.B.Roth 1992,Gerstenmaier u.Mandl 1994,Reetz 1996, Siebert 1999). In der konstruktivisti-schen Lehr- und Lernforschung sind Hinweise zufinden, die uns das Lernen in der Theorie und derPraxis präziser erfassen lassen. Dazu sind im Fol-

genden wichtige Aussagen von konstruktivisti-schen Theoretikern bzw. Didaktikern ausgewähltund überblicksartig wiedergegeben worden,um imWeiteren entsprechende Schlüsse zu ziehen unddem theoretischen bzw.praktischen Lernort das je-weilige Lernen möglichst exakt zuzuordnen.

Von Glasersfeld (1998, S. 283–308) betont, dassdie Aneignung von Wissen eine Aktivität des Ler-ners ist und eine direkte Wissensvermittlung vomLehrer zum Lerner nicht möglich ist. Das zu ver-mittelnde Wissen stößt auf individuelle mentaleModelle und führt ergo zu individuellen Resulta-ten. Die Sprache, das weitaus gebräuchlichste Me-dium in Lehr-Lernprozessen, kann Wissen nichtdeckungsgleich von A nach B transportieren.Spra-che kann aber einen konsensuellen Bereich ausbil-den, einen Bereich, über den größtmögliche Einig-keit besteht, wie auch Maturana und Varela (1987)hervorheben.

Die Aussagen von von Glasersfeld werden auchvon Roth gestützt, der bemerkt, dass neurobiolo-gisch gesehen Wahrnehmungsinhalte wegen der»Unspezifität der Antworten der Sinnesrezeptorengegenüber den spezifischen Umweltereignissen[…] prinzipiell konstruierte Eigenschaften« sind(Roth 1992, S. 290). Die Antworten auf Umwelter-eignisse sind also, auch neurobiologisch gesehen,nicht vorherzusehen.

Piaget (1969) unterscheidet Lernen – hier sehrgrob umrissen – in Assimilation (Angleichung) und

. Abb. 9.2. Wechsel: »Handlung – Deutung – Handlung und zurück«. (Nach Arnold 1996, S. 170)

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9.2 · Lernen unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive9205

Akkomodation (Einstellung).Zu einer Akkomoda-tion kommt es, wenn ein Geschehen nicht in diementale Vorstellungswelt passt und dies Nicht-pas-sen nicht mehr »bereinigt« werden kann (Siebert1999, S. 23). Dagegen erfordert eine Assimilationweniger Änderungen der mentalen Strukturen,weil hier das Geschehen mit den bekannten Vor-stellungen weitgehend übereinstimmt. Allerdingskann die bestehende »kognitive Landkarte« sichggf. weiter verzweigen. Assimilation und Akkomo-dation geschehen meistens nicht trennscharf, d. h.,beide geistigen Prozesse sind an der Bewältigungbeteiligt, mit unterschiedlich hohen Anteilen. FürLernen ist Akkomodation gegenüber der Assimila-tion der interessantere Part, weil Akkomodationstärker als Assimilation Lernen erzwingt.In der Be-gegnung mit der Berufspraxis beispielsweise müs-sen Handlungsmuster rekonstruiert werden, weildie Vorherigen sich nur in Grenzen als passend er-wiesen haben und sie nicht nützlich sind. Den Vor-gang des Ausgleichs im Sinne der Herstellung einesGleichgewichtszustandes nennt Piaget Äquilibra-tion (Anpassung). Ein weiterer SchlüsselbegriffPiagets ist Reflexion (Rückbezüglichkeit), »[…]Reflexion ermöglicht Selbsterkenntnis, selbstkriti-sche Evaluation des eigenen Denkens, Fühlens undHandelns, auch Selbständigkeit und Verantwor-tung. Sie verhindert einen Egozentrismus, d. h. fürPiaget einen Realitätsverlust und eine subjektive‘Befangenheit’.« (Arnold u. Siebert 1997, S. 47–48)

Kersten Reich (1996, S. 83 in Siebert 1999, S. 24)unterscheidet 3 Typen konstruktivistischen Den-kens:4 Konstruktion als Aufbau eigener kognitiver

Schemata.Das bedeutet: Es wird ein Lernen initiiert, beidem nicht nur Wissen additiv gesammelt wird,sondern welches gleichfalls eine Verknüpfungder Inhalte und somit den Aufbau von Begriffs-wissen erlaubt. (z. B. mittels Anfertigung einesMind Maps).

4 Rekonstruktion als Rückgriff auf bestehendefeste Vorstellungen und ihre Veränderung.Beispiel: In praktischen Studienphasen werdenErinnerungen aus der Vergangenheit wach, diezu Beeinträchtigungen der weiteren Entwick-lung führen könnten. Hier müsste eine Aus-einandersetzung die Sichtweise ändern undneue Erfahrungen zulassen.

4 Dekonstruktion als radikales Überdenken bis-heriger und einer Entwicklung anderer Vorstel-lungen.Das heißt in kurzen Worten, dass bisher festeEinstellungen und Werthaltungen verworfenwerden und neuen und anderen Platz machen.Ein Beispiel für eine Dekonstruktion wäre eineVeränderung der Lehrerrolle, neben Wissens-vermittler auch Lernbegleiter und -berater zusein,der den Schülern persönliche Lernwege er-möglicht,Fehler nicht sanktioniert,sondern alsLernumweg in Betracht zieht.

Für Siebert (1999) ist Lernen ein Erklärungsprinzip(er bezieht sich auf Foerster 1993, S. 16; s. auch denBeitrag von Blättner in diesem Buch) und nicht vonanderen erfahrbar und bestimmbar. Lernen ist eininnerer Vorgang, eine kognitive Bearbeitung voneinem System und seiner Umwelt. Damit schließtSiebert an Maturana und Varela an, für die »Lernenals Ausdruck einer Strukturkoppelung zu verstehen[ist], in der die Verträglichkeit zwischen derArbeitsweise des Organismus und des Milieus auf-rechterhalten wird« (Maturana u. Varela 1987,S. 188). Das bedeutet, der Organismus stellt einenGleichgewichtszustand mit seinem Milieu (Umge-bung) her. Diese Herstellung ist gleichbedeutendmit Lernen und kann von der Umgebung an einemveränderten Verhalten beobachtet werden.

Lernen ist also ein äußerst persönlicher Vor-gang, in den nur bedingt Einsichtnahme möglichist. Lehrende können demzufolge nicht ermessen,was gelernt wurde,sondern nur mit Sicherheit fest-stellen, welche Prinzipien einer Erklärung sie he-rangezogen haben, womit sie im Resultat ebensoetwas über sich selbst, über ihre (professionellen)Maßstäbe aussagen.

Die nächstgenannten konstruktivistischenLehr-Lernansätze erscheinen mir für das Theorie-Praxis-Problem in Lernprozessen die wirkungs-vollsten Aussagen zu machen.

Gerstenmaier und Mandl berufen sich auf zahl-reiche empirische Untersuchungen und betonenmit vielen anderen Autorinnen und Autoren (Em-pirische Pädagogik,Instruktionspsychologie) »denErwerb von Wissen in dem Kontext zu verankern,der ihm seine Bedeutung verleiht« (Gerstenmaieru. Mandl 1994, S. 867 ff.) und eine Unterrichtsphi-losophie zu verfolgen, die auf Aktivität und Selbst-

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9

206 Kapitel 9 · Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive

regulation der Lerner abzielt (ebd. S. 867). Dem ge-genüber steht träges Wissen, »das heißt … Wissen,das zwar vorhanden, aber in Problemsituationennicht abrufbar ist« (ebd. S. 875, auch Mandl et al.1993). Diesem Problem kann z. B., so haben Unter-suchungen ergeben, mit einem narrativen Anker(etwas, was erlebt ist und wovon erzählt werdenkann) begegnet werden (Gerstenmaier u. Mandl1994, S. 875). Das besagt, das Wissen ist mehr oderminder mit einer erlebten Situation im Gedächtnisverschmolzen.

Aspekte starker Lernumgebungen (Gersten-maier u. Mandl 1994) sind (. Abb. 9.3):4 Authentizität und Situiertheit: Hierbei geht es

um die Aneignung und Anwendung von Wissenund Handeln in echten und lebendigen Kon-texten, also im Kontakt mit der Umgebung.»Denken und Lernen sind in Bedeutungen undÜberzeugungen situiert, die zwischen Indivi-duen und sozialen Gruppen differieren. … In-dividuen verfügen über stabile potentielleFähigkeiten für kognitives Wachstum und sind

. Abb. 9.3. Aspekte starker Lernumge-bungen. (Nach Gerstenmaier u. Mandl1994, S. 867 ff.)

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9.2 · Lernen unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive9207

zu komplexen und subtilen Prozessen der Wis-sens- und Bedeutungskonstruktionen und derDenkfähigkeit imstande« (Gerstenmaier u.Mandl 1994, S. 873, auf Greeno zurückgehend).

4 Multiple Kontexte: Damit soll gesichert werden,dass flexibel auf andere Problemlagen reagiertwerden kann. Wird Wissen aus unterschiedli-chen Kontexten gewonnen, entstehen Vorstel-lungen, welches Wissen für diese Sachlage undwelches auch für andere Konstellationen geeig-net sein kann. »Indem die Lernenden ihr Ler-nen aus unterschiedlichen Kontexten gewin-nen, erfahren sie schon beim Wissenserwerb,welches Wissen auf andere Situationen über-tragbar ist und welches Wissen situationsspezi-fisch ist« (ebd. S. 876). Dadurch kann sich auchein Wissen über Wissen entfalten.

4 Multiple Perspektiven: Damit ist gemeint, dasseine flexible Anwendung des Wissens gefördertwerden soll. »Dabei wird angenommen, dassbei der Wissensnutzung das Vorwissen nicht le-diglich als geschlossene Einheit abgerufen wird,sondern dass in der Problemsituation mit denmultiplen Konzeptrepräsentationen Wissenkonstruiert wird, das zur Problembewältigunggeeignet ist« (ebd. S. 876).

4 Sozialer Kontext: Hier ist das Ziel das koopera-tive Lernen und Arbeiten mit anderen, vor al-lem auch Experten (deren implizites,also wenigoffenkundiges Wissen erst offengelegt werdenmuss). In Gruppen kann auf sich einander er-gänzendes Wissen und Können zurückgegrif-fen und für die Lösung einer Aufgabe genutztwerden.Eine Expertin kann Lernenden als Mo-dell zur Verfügung stehen oder den fortschrei-tenden Lernprozess mit Phasen der Artikulationund der Reflexion anreichern (Gruber et al.2000,S. 145). Die Teamfähigkeit wird gefördert, dasNachdenken über sich selbst und es wird in Ge-genseitigkeit von dem gesamten Wissen profitiert(Sieger,Brinker-Meyendriesch 2004,S.118–121).

Soziale Systemtheorie

Wenn über ein Lernen in Theorie und Praxis nach-gedacht wird, ist sogleich gegenwärtig, dass daranverschiedene Organisationen beteiligt sind.Die Er-fahrung zeigt,dass Organisationen sich oft schwer-fällig und konservativ verhalten, und dass notwen-dige Initiativen in den Organisationen scheitern,

obwohl es vernünftig wäre, sie umzusetzen. Ähn-lich verhält es sich mit Lernortkooperationen, dievon den Organisationen Beschäftigung – LernortBetrieb – und Bildung – Lernort (Hoch-)Schule –geleistet und bewusst initiiert werden müssen.Lernortkooperationen sind unentbehrlich, wennein Lernen in Theorie und Praxis ernst gemeint istund die damit verbundenen Chancen genutzt wer-den sollen. Es liegen zahlreiche Befunde vor (bei-spielsweise in Euler u. Sloane 1997), die belegen,dass Lernortkooperationen selten durchgeführtwerden,vielfach sind es lediglich Koordinierungen.

Mit der sozialen Systemtheorie (an dem Dis-kurs des Konstruktivismus ist auch diese Theoriebeteiligt) lässt sich dieses Phänomen deuten undbesser verstehen (Brinker-Meyendriesch et al.2001,S. 176–171, Brinker-Meyendriesch 2002, S. 57–59).Stark gekürzt stellt sich dies folgendermaßen dar:

Das soziale System (Luhmannn 1984, 1991), wieauch das kognitive System (z. B. Glaserfeld 1998,Schmidt 1996) sind autopoietisch,d.h.sie erzeugendie Umstände ihrer Erzeugung immer mit, ähnlicheiner Katalysatorwirkung. Soziale Systeme sindnach Luhmann gegen die Umwelt geschlossen undgleichzeitig im eigenen Sinne offen, nämlich, in-dem sie »auswählen«,was für ihren weiteren Erhaltund ihre Stabilisierung von Bedeutung ist und wasnicht. Es können Anschlussstellen für die Umweltausgebildet sein, die eine Kommunikation ermög-lichen. Damit diese Kommunikation stattfindenkann, müssen die eingehenden Informationen inden Sinn des sozialen Systems bzw.das Bewusstseindes kognitiven Systems passen.

Jedes soziale System konstituiert sich durch sei-nen eigenen Sinn. Dieser Sinn grenzt das Systemzur Umwelt ab. Ziel des sozialen Systems ist Selbst-erhaltung.Es ist gleichzeitig geschlossen und offen:Die Kommunikation, die aus der Umwelt an dasSystem herankommt, vermag die Sinnstrukturenzu erschüttern, aber nicht gezielt zu verändern. DieVeränderung erfolgt nur nach eigener Maßgabe.Was in den Sinn aufgenommen wird, ist eine Selek-tion des sozialen Systems, dazu zählen auch Ableh-nungen. Wird das System aus der Umwelt zu starkangefragt und hat es nicht eine ausreichende Kom-munikation bzw.ausreichende Handlungsmöglich-keit entwickelt (was für Luhmann identisch ist),kann das die weitere Existenz des Systems bedro-hen. Umgekehrt kann es auch durch eine zu starke

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208 Kapitel 9 · Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive

Stabilität seinen Fortbestand vernichten,weil nichtmehr flexibel auf Umweltreize reagiert werdenkann.

Lernorte sind als soziale Teilsysteme der Orga-nisationssysteme Bildung und Beschäftigung zubetrachten.

Mit Blick auf die Praxis als Lernort kann Nachstehendes gefolgert werden:5 Die Praxis hat Kommunikation bzw.

Handlungen für Arbeit entwickelt, abernicht für Lernen.

5 Praxis ist um ihren Selbsterhalt bemüht.5 Störungen, die sie nicht in ihren Sinn

aufnehmen will, wehrt sie ab.5 Für Kommunikation bzw. Handlungen

des Lernens liegen in der Regel wenigeAnschlussstellen vor.

Umgekehrt gilt für Schulen,aber auch für Hochschulen:5 Sie sind gesellschaftlich und definito-

risch konstruierte, keine »natürlichen«Lernorte.

5 Die (Hoch-) Schule ist um ihren Selbst-erhalt bemüht.

5 Störungen, die sie nicht in ihren Sinnaufnehmen will, wehrt sie ab.

5 Für Kommunikation bzw. Handlungendes Tuns außer »Denktun« (s. Aebli1993, S. 18–23) liegen wenige An-schlussstellen vor.

Nun ist die betriebliche Praxis,wenn nicht an erster,so doch an weiterer Stelle, dafür aufgeschlossenauszubilden, was sich an unterschiedlichen Reali-sierungen nachvollziehen lässt.

Auch den Schulen bzw. Hochschulen ist, dashabe ich anfangs thematisiert (s. 9.1), an einer In-tegration der Praxis gelegen, und es kann davonausgegangen werden, dass Handlungspotentialeseitens der (Hoch-) Schulen vorliegen.

Sobald nun eine Hinwendung zum jeweils an-deren Lernort geschieht und daraus Kommunika-

tion bzw. Handlungen entstehen, besteht nachLuhmann ein Interaktionssystem. Dies existiertvorübergehend und quasi auftragsgebunden. Ana-lytisch betrachtet beginnt dann eine Lernortkoope-ration, wenn willentlich Kommunikation bzw.Handlung mit Blick auf das andere Teilsystem er-folgt (.Abb. 9.4).

9.2.4 Resultate

Im Ergebnis bedeuten die Ausführungen zum Kon-struktivismus und der sozialen Systemtheorie:

5 Die Lernorte der Theorie und der Praxisbestimmen sich aus den übergeordne-ten Sinnstrukturen der sozialen Teilsy-steme Arbeit und Lernen. Als Lernortesind sie für Kommunikation bereit undbilden dazu Interaktionssysteme aus.Mittels Kommunikation entdecken siepartiell ähnliche Interessen und stim-men sich ab, damit zielgerichtetes Ler-nen gelingen kann.

5 Lernen erfolgt, wenn das Neue an Vor-handenes anschließen kann, d. h., wasdie Lernenden in der Praxis als Lern-möglichkeit vorfinden, ist in der Theo-rie inhaltlich und didaktisch vorberei-tet.

5 Vor allem berufsbiografisch erworbe-nes Wissen und Können sowie erwor-bene Haltungen werden ggf. in derTheorie oder in der Praxis rekonstru-iert oder sogar dekonstruiert.

. Abb. 9.4. Die Lernorte interagieren miteinander

Wichtig

Wichtig

Wichtig

Page 222: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

9.3 · Schwerpunkte theoretischen und praktischen Lernens – Ausblick9209

5 Durch orientierende Gespräche mit denLehrenden und der Lerngruppe wirdder konsensuelle Bereich zwischen al-len ausgebildet, d. h., durch den Dialogbewegen sich die Gedanken der Ler-nenden in eine ähnliche Richtung.

5 Lernen erfolgt dann, wenn für das Indi-viduum Lernen notwendig wird und einvorhandenes Handlungsschema zurLösung nicht ausreicht.Es müssen neueund andere Schemata entwickelt wer-den. Dazu hat der Lernende Verfahrenausgebildet, die er in der Begegnungmit dem widerstehenden Objekt heran-zieht.

5 Lernen erfolgt besonders nachhaltig inlebendigen und in authentischen Situa-tionen.Das ist mit eigenem Erleben undHandeln, aber auch Denkhandeln (z. B.Problemlösen) verbunden. Dies kannbeispielsweise ein »Fall« sein, eine Auf-gabe aus der Arbeits- oder Lebensweltsowie ein erinnertes Erlebnis.

5 Lernen erfolgt effektiver, wenn es alsnützlich und brauchbar wahrgenom-men wird. Dafür bietet Lernen in derPraxis ideale Möglichkeiten, wo Hand-lungen unmittelbar als bedeutend er-lebt und unter pädagogischer Einfluss-nahme zum Lernen genutzt werden.

5 Eine Begleitung der Lernenden durchPraxisanleiter in der Praxis ermöglichteine Teilhabe an dem impliziten Wissender Experten und gleichzeitig eine Ein-bettung in die originale Umgebung,die das Denken und Handeln sinnhaftmacht.

5 Lernresultate sind individuell. Erkennt-nisse und Erfahrungen aus der Praxiskönnen in reflexiven Auswertungs-veranstaltungen innerhalb der Lern-gruppe veröffentlicht werden und ste-hen für andere Perspektiven und damitfür weitere Lernschritte zur Disposition.Gedanken werden durch Metakommu-nikation verlässlicher wiederverwert-bar und auf andere Kontexte übertrag-bar.

9.3 Schwerpunkte theoretischen und praktischen Lernens – Ausblick

Was sind nun die Schwerpunkte des Lernens in derTheorie bzw. die Schwerpunkte des Lernens in derPraxis.Was macht das Besondere aus?

Der Lernort Praxis ermöglicht:4 den Kompetenzgewinn durch die Aktivitäten

der Experten;4 das vorteilhafte Lernen in der originalen Ver-

wendungssituation;4 das authentische Handeln;4 den Aufbau und die Anwendung von speziel-

lem Wissen im Kontext seiner realen Bezüge;4 das soziale Lernen und die Wissenspartizipa-

tion durch das Arbeiten mit Anderen.

Die Aktivitäten der Lehrenden im Lernort Theorieermöglichen:4 Wissen aufzubauen;4 Erkenntnisse und Erfahrungen aus der berufli-

chen Praxis zu reflektieren;4 das (Lern)-Handeln aus der Praxisphase für

weiterführendes Lernen verwertbar zu ma-chen, also Arbeitshandeln und Lernhandelnaufeinander zu beziehen;

4 das soziale Lernen und die Wissenspartizipa-tion durch das Lernen mit Anderen.

Resümierend könnte daraus gefolgert werden,dass:4 die (Hoch-)Schule sich zu Recht auf Wissensan-

eignung spezialisiert hat;4 die Praxis unisono und quasi beiläufig ein Ler-

nen garantiert.

In beiden Fällen handelt es sich um Trugschlüsse,wie bereits in dem Kapitel über die Dualität vonWissen und Handeln (s. 9.2.2) angeklungen.

Die (Hoch-) Schule als Lernort ihrerseits kann inihrer Lehre:4 neben dem Faktenwissen auch weitere Wis-

sensarten (z.B.Prozesswissen,Bedingungswis-sen und vieles mehr) vermitteln;

4 Lernsituationen mit Leben füllen;4 eine berufliche Verwendung der Lerninhalte

mitführen;4 den Lerngewinn verlebendigen.

Um ein Lernen in Theorie und Praxis zu integrierenund für eine Vernetzung Sorge zu tragen, wie auch

Page 223: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

Zusammenfassung

9

210 Kapitel 9 · Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive

ein Lernen in beiden Lernorten zu gewährleisten,muss die (Hoch-) Schule die didaktische Gestaltungvornehmen.Die Praxis stellt allein die vorteilhaftenLernbedingungen zur Verfügung.Sie verfügt in derRegel weder über die erforderlichen Kompetenzen(außer, sie wird für Ausbildung aktiv, siehe Sieger,Schönlau 1998), noch verfolgt sie originär pädago-gische Ziele. Die didaktische Konstruktion des Ler-nens in Theorie und Praxis sowie die Vernetzungvon Theorie und Praxis ist somit eine der Haupt-aufgaben der (Hoch-) Schule.

Die Praxis als Lernort ist also nur bedingt zu-ständig für das Lernen. Sie muss allerdings von der(Hoch-)Schule ausgehende didaktische Konstruk-te auf ihre Durchführbarkeit und Kontabilität mitden eigenen Betriebsbedingungen und -zielenüberprüfen und ein Lernen zulassen. Dazu ist esnotwendig, mit der (Hoch-) Schule zu kommuni-zieren und hierbei die eigenen Ziele, erwünschtenVorteile und Möglichkeiten transparent zu ma-chen. Der Praxis obliegt somit in stärkerem Maßedie Ermöglichung als die Gestaltung des Lernens,nämlich (. Abb. 9.5):

4 die Teilhabe an Betriebsprozessen;4 die Teilhabe an Betriebswissen;4 ein Lernhandeln unter pädagogischer Einfluss-

nahme;4 ein reales Handeln;4 das Bereitstellen von Experten im Sinne einer

Lernbegleitung;4 die Reflexionen der Lern- bzw.Arbeitsprozesse;4 die Teilnahme an Gruppenprozessen (Teams

u. ä.).

Die Diskussion über Lernen in Theorie undPraxis nimmt im Kontext dualer beruflicherAusbildungen und berufsorientierenderStudiengänge einen hohen Stellenwert ein.Zu ihrer didaktischen Bewältigung liegthinlänglich Wissen vor, das als Basis für di-daktisches Handeln dienen kann.Mit dem Konstruktivismus lässt sich ein Ler-nen in Theorie und Praxis präzisieren. Dazu

. Abb. 9.5. Schwerpunkte theoretischen und praktischen Lernens

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9.3 · Schwerpunkte theoretischen und praktischen Lernens – Ausblick9211

liegen Aussagen von konstruktivistischenTheoretikern bzw. Didaktikern vor. Vor al-lem wird deutlich, dass ein Lernen in leben-digen Bezügen viele Vorteile bietet. Dies istdurch den praktischen Anteil dualer Aus-bildungen / Studien prinzipiell gegeben.Im Resultat ist festzustellen,welche Art vonLernen in erster Linie in der Theorie undwelches in der Praxis erfolgen kann, und eskann abgeleitet werden, dass Wissen undHandeln nicht voneinander getrennt zu se-hen sind sondern sich bedingen.Die soziale Systemtheorie nach Luhmannermöglicht einen Transfer auf die Proble-matik der verschiedenen Lernorte in dua-len und quasi-dualen Ausbildungen undStudiengängen. Auf diese Weise lässt sichbesser verstehen, wieso die beteiligten Or-ganisationen eher verhalten auf die not-wendige Umsetzung einer Lernortkoope-ration reagieren.

3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung

Pflegeschülerinnen und Studierende der Pflege-pädagogik haben (meistens) Erfahrungen in der

Praxis der Pflege gesammelt.Dieser Beitrag hat ver-deutlicht, dass gemachte Erfahrungen einer indivi-duellen sowie gemeinsamen Aufarbeitung bedür-fen. Diese Aufarbeitungen finden in der Regel indem Lernort der Theorie statt, der Schule oder derHochschule. Im Folgenden findet sich ein Vor-schlag, wie dies didaktisch gestaltet sein könnte (. Tabelle 9.1). Das Beispiel folgt den Phasen Ein-stieg, Erarbeitung und Ausstieg. Diesen Phasensind Grobschritte und Feinschritte des Unterrichtszugeordnet.

3 Empfehlungen zum Weiterlernen Die didaktische Literatur bietet eine große Mate-rialfülle, die Anhaltspunkte für selbstorganisierteLernprozesse liefert. Beispielhaft genannt seienhier:

Arnold, R (1996) Weiterbildung. Ermögli-chungsdidaktische Grundlagen. Verlag Vahlen,München

Ein tiefes Verständnis für die Thematik »Wissenund Handeln« garantiert das Werk in der Heraus-geberschaft von Mandl und Gerstenmaier:

Mandl H,Gerstenmaier J (Hrsg) (2000) Die Kluftzwischen Wissen und Handeln. Empirische undtheoretische Lösungsansätze. Hogrefe Verlag fürPsychologie, Göttingen Bern Toronto Seattle

Wer sich näher mit der sozialen Systemtheorieauseinandersetzen möchte und im Sinne einer Ein-

. Tabelle 9.1. Methodische Vorschläge für eine Seminargestaltung

Phasen Grobschritte Feinschritte

Einstieg Problemaufriss Positive und negative Erfahrungen mit der eigenen pflegerischen Berufsaus-bildung reflektieren, insbesondere unter Bezugnahme auf den theoretischenund die praktischen Lernorte in der Pflege

Erarbeitung Problembewusstsein Analyse der pflegerischen Berufsausbildung unter der Perspektive der Dualität der LernorteBesonderheiten herausarbeiten, die die eigenen Erfahrungen erklären helfen

Problembearbeitung Lösungsvorschläge entwickelnDazu mit Hilfe des Konstruktivismus erarbeiten, was theoretisches und praktisches Lernen ausmacht

Ausstieg Problemlösung Didaktische Konzepte für ein Lernen in Theorie und Praxis sowie ihre Vernetzung suchen und aufgrundlage der theoretischen Erarbeitung (Phase Problembearbeitung) bewerten

Page 225: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

9

212 Kapitel 9 · Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive

führung in das umfassende Werk Luhmanns vor-erst Sekundärliteratur bevorzugt, dem sei anemp-fohlen:

Kneer G, Nassehi A (1997) Niklas LuhmannsTheorie sozialer Systeme: Eine Einführung. 3. Aufl.UTB, München

Der nachstehend aufgeführte Autor begleitet ei-nen Modellversuch zur Umsetzung des Lernfeld-konzeptes. Dieser Vortrag gibt kurz und pointiertdas Konzept und seine Implementierung wieder.

Sloane PFE (2000) Implementierung von Lern-feldern in der Berufsschule. Vortrag auf dem Sym-posion Umsetzung von lernfeldorientierten Lehr-plänen im Unterricht. 23. März, Mainz

Eine kritische Auseinandersetzung mit demLernfeldkonzept hat Lisop geleistet:

Lisop I (1999) Bildungstheoretische und didak-tische Dimensionen der Lernfeldorientierung – einekritische Systematik. In: Huisinga R, Lisop I, SpeierHD (Hrsg) Lernfeldorientierung. Konstruktion undUnterrichtspraxis. Verlag der Gesellschaft zur För-derung arbeitsorientierter Forschung und Bildung,Frankfurt a. M., S. 15–48

Die nachstehende Schrift beinhaltet Zukunfts-visionen für die Schulen, die immer noch aktuellsind. Die Inhalte schließen an neuzeitliche Ansätzeüber das Lernen an.

Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft(1995) Denkschrift der Kommission »Zukunft derBildung – Schule der Zukunft«. Ministerium desLandes Nordrhein-Westfalen / Bildungskommis-sion NRW, Neuwied Berlin

Literatur

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10

Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft

Jens Clausen

10.1 Wissenschaftstheoretische Grundsätze 217

10.1.1 Wissenschaft und Pflegepädagogik 217

10.1.2 Zur Definition von Wissenschaft 219

10.1.3 Zur Aufgabe der Wissenschaftstheorie und Methodologie 220

10.1.4 Zum Begriff des Paradigmas 222

10.1.5 Zum Ringen der Wissenschaft(en) um Erkenntnis 223

10.1.6 Zu den Systematisierungsversuchen der Wissenschaften 225

10.2 Skizzen zu verschiedenen wissenschaftstheoretischen

Ansätzen 226

10.2.1 Was ist Empirismus? Was ist Positivismus? 226

10.2.2 Was ist Phänomenologie? 227

10.2.3 Was ist Kritischer Rationalismus? 229

10.2.4 Was ist Hermeneutik? 220

10.2.5 Was ist Kritische Theorie? 231

10.2.6 Was ist Symbolischer Interaktionismus? 232

10.2.7 Was ist Handlungstheorie? 233

10.2.8 Was ist Konstruktivismus? 234

10.2.9 Was ist Systemtheorie? 235

10.2.10 Ausblick 236

10.3 Hinweise zum wissenschaftlichen Arbeiten 237

10.3.1 Einleitung 237

10.3.2 Begrifflichkeit, Reliabilität und Validität 238

10.3.3 Transparenz der Literaturfindung 239

10.3.4 Zitieren 240

10.3.5 Das Literaturverzeichnis 241

10.3.6 Phasen der Erstellung einer wissenschaftlichen Arbeit 243

Page 228: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

10

216 Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft

Szene aus dem StudienalltagFreitagabend:Alle in der Arbeitsgruppe sind ge-

nervt. Schon das dritte Treffen, und keine Eini-

gung in Sicht.Katrin würde am liebsten ausstei-

gen oder mit Heike ein eigenes Projekt auf die

Beine stellen. Rainer und Petra beharren seit

Stunden auf ihren Standpunkten. »Wenn wir so

weitermachen, dann stehen wir am Ende mit

leeren Händen da! Und wir haben nur noch drei

Wochen!« meint Katrin und stopft ihre Projekt-

skizzen und Kopien in den Rucksack. Der Hin-

weis auf die verbleibenden drei Wochen hat ge-

sessen. »Nun wart’ doch mal!«, unterbricht Rai-

ner. Aber Katrin lässt sich nicht mehr aufhalten:

»Tut mir leid,ich muss zur Nachtwache,ich hab’s

vorhin schon gesagt!« Da hat Heike den retten-

den Einfall:»Wir teilen das Projekt einfach in drei

oder vier Abschnitte auf, so dass jeder bei sei-

nem Ansatz bleiben kann!«

Ob das die Lösung ist? Und ob es wirklich an

den »Ansätzen« liegt? Dabei ist die Projektidee

ziemlich gut: Die Vier wollen ein Kurskonzept

»Zur Pflege und Begleitung von Menschen mit

Morbus Parkinson« erarbeiten. Wenn ihr Ent-

wurf vom Seminar abgesegnet wird, möchten

sie dem »Gesund- heitshaus« der Stadt M. die-

ses Konzept vorstellen und eine Studie oder ei-

nen Kurs mit Betroffenen und Angehörigen

durchführen. Aber hier nun beginnt schon das

Dilemma: empirische Studie oder handlungs-

orientierter Kurs, objektive Faktensammlung

oder subjektive Gesprächserfahrung? Wie über-

haupt ansetzen? Petra ist dafür, zunächst gesi-

cherte Daten zu ermitteln, also zu erforschen,

wer in dieser Stadt an der Krankheit leidet und

welche pflegerischen Maßnahmen in Anspruch

genommen wurden. Heike und Katrin hinge-

gen möchten über Besuche bei Selbsthilfe-

gruppen die subjektive Seite der Erkrankung er-

kunden.Rainer findet,dass sie die Pflegebeglei-

tung von Parkinson-erkrankten Menschen

umfassender angehen sollten:»Da spielen doch

viele Ebenen eine Rolle, z. B. die Auswirkungen

auf Familie, Beruf und Freizeit. Das müssen wir

doch ganzheitlich betrachten!«

»´Ganzheitlich’ sagst du immer, wenn du me-

thodisch nicht mehr weiter weißt!« kanzelt Pe-

tra ihn ab.Wie Rainer denn das alles auf die Rei-

he kriegen wolle, welchen Forschungsansatz er

denn da bitte hätte – sie jedenfalls möchte am

Ende ein richtiges Ergebnis vorweisen und

nicht nur »…rumsitzen und reden! Das mag ja

für die Betroffenen wichtig sein, solche Ge-

sprächsgruppen, aber das ist doch nicht wis-

senschaftlich!« »Für dich gelten nur knallharte

Fakten als wissenschaftlich, oder wie?« geifert

Rainer zurück. »Also, jetzt reicht’s!« ruft Katrin

empört, schnappt sich ihren Rucksack und ist

schon in der Tür: »Ruft mich an, wenn ihr euch

geeinigt habt! Ich bin die ganze Nacht zu errei-

chen!«

Nichts ist praktischer als eine gute Theorie(Kurt Lewin).

Wissen ist in einem elementaren und prakti-schen Sinn nichts anderes als strukturierteErfahrung (Eugen J. Meehan).

3 Berufliche Handlungskompetenzen

2 FachkompetenzDie Klärung von Definitionen und Theorien

der Wissenschaft(en) für die Pflegepädago-

gik im Spektrum der akademischen Dis-

ziplinen verorten.

Erkennen, welche Anforderungen aus den

Wissenschaftstheorien heraus an das Fach

gestellt werden und welche selbst bei der

Bearbeitung wissenschaftlicher Fragestel-

lungen erfüllt werden sollten.

2 PersonalkompetenzDurch die Auseinandersetzung mit Wissen-

schaftstheorie das »System Hochschule«

immer mehr verstehen.

Unsicherheit und Befremdung gegenüber

der »science community« mit eigenen aka-

demischen Diskursen und Ritualen ab-

bauen.

Erkennen, auf welche Theorien die Lehren-

den des eigenen Fachbereiches sich beru-

fen und welche zur Grundlage des for-

schenden Arbeitens werden sollen.

Beispiel

Page 229: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

10.1 · Wissenschaftstheoretische Grundsätze10217

2 SozialkompetenzIn Seminaren und Arbeitsgruppen wie auch

im Pflegealltag in Zukunft den Kritikern des

»Theoretisierens« entgegenhalten, dass im

Grunde jedes Denken und Handeln neben

einer intuitiven Vorderseite auch eine –

theoriegeleitete – Rückseite besitzt.

Den Skeptikern ein wenig von der Span-

nung vermitteln, die entsteht, wenn hinter

die Kulissen von Aussagen und Konzepten,

von Modellen und Theorien geblickt wird.

2 MethodenkompetenzSich auf der Suche nach einer geeigneten

Methode zur Lösung vorgegebener oder

selbstgewählter Probleme und zur Darstel-

lung wissenschaftlicher Sachverhalte – in

Referaten und Projekten, Haus- und Di-

plomarbeiten – nicht mehr allein auf sein

Gespür verlassen, welcher Weg der Er-

kenntnisgewinnung am meisten zusagt,

sondern die Methodenwahl nun auch (wis-

senschafts-)theoretisch begründen.

3 PraxisrelevanzDie Auseinandersetzung mit (Wissenschafts-)Theorie(n) ist wie das Benutzen von Landkarten:Manchmal braucht es eine Weile, bis man sie rich-tig zu lesen versteht; manchmal merkt man schonsehr schnell, dass man ein allzu kompliziertes Ex-emplar in der Hand hält, das eher verwirrt als er-hellt; manchmal ist es allzu simpel und grob undunterschlägt wichtige Details; aber immer ist klar:4 Eine Karte muss – wie eine Theorie – abbilden,

was die sog. Realität vorgibt; dabei muss sie se-lektiv vorgehen, muss laufend Entscheidungentreffen zwischen wichtig – unwichtig.

4 Eine Karte muss – wie eine Theorie – abstra-hieren, muss mit Symbolen arbeiten, die defi-niert bzw. in der Legende erläutert werden.

4 Eine Karte muss – wie eine Theorie – auf ihreExaktheit und Angemessenheit überprüft wer-den; beides sind Aspekte ihrer Qualität.

4 Eine Karte zeigt – wie eine Theorie – ihrenpraktischen Wert erst in der konkreten Anwen-dung, im zielgerichteten Gebrauch (Meehan1992, S. 164).

In dem oben genannten Sinne ist es für Studieren-de wie auch Lehrende der Pflegepädagogik unver-zichtbar, die (Wissenschafts-) Theorien hinter den(Pflege-) Theorien kennen- und verstehen zu ler-nen. Nur wenn wissenschaftstheoretische Hinter-gründe ansatzweise reflektiert werden können, isteine praxisorientierte Anwendung von Theorien,Modellen und Konzepten der Pflegewissenschaftbzw. Pflegepädagogik gewährleistet.

3 Verfahrensstruktur (. Abb. 10.1)

10.1 WissenschaftstheoretischeGrundsätze

10.1.1 Wissenschaft und Pflegepädagogik

Auch wenn die Debatte um die Konstituierung derPflege als Wissenschaft international schon seitmehr als fünfzig Jahren geführt wird (Steppe 2000,S. 92), so ist doch ihre Etablierung als anerkannteakademische Disziplin in Deutschland vergleichs-weise jung. Und immer noch steht sie unter erhöh-tem Legitimationsdruck: Lehrende wie Lernendeder Pflegewissenschaft müssen sich der internenDiskussion wie den kritischen Anfragen von außenstellen, auf welchen Wegen sie zu ihren Theorien,Modellen und Konzepten gelangen und welches dieerkenntnistheoretischen und methodologischenGrundlagen ihrer Forschung und Lehre seien.Grundsätzlich sind diese Fragen natürlich berech-tigt und für das Profil einer akademischen Disziplinunverzichtbar. Aber manchmal kommt es einemdoch vor wie ein Auftritt vor einem misstrauischen,bisweilen deutlich ablehnenden Publikum: »Waswill die da oben?« »Kann die nicht bei ihrem Hand-werk bleiben?« »Ist sie überhaupt ein legitimes Mit-glied unserer Wissenschaftsfamilie?«

Zum Glück muss man solche Anfeindungen derakademischen Zunft nicht allzu persönlich neh-men. Mit vielen jüngeren Disziplinen teilt die Pfle-gewissenschaft die Erfahrung, dass das Spektrumanerkannter Wissenschaften stets mit Skepsis aufdie Ankunft neuer Sprösslinge reagiert. Interessan-terweise sind es oft die zuletzt Geborenen, die,kaum des selbstständigen Laufens mächtig, beiAnkunft des Nachwuchses eine besonders bissigeAbwehrstellung entwickeln.So äußern sich in Fach-kreisen z.B. die jüngeren Sozialwissenschaften bis-

Page 230: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

10

218 Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft

weilen kritisch, wenn es um die Anerkennung derPflege als wissenschaftliche Disziplin geht. Esscheint also auch im Bereich exklusiver akademi-scher Kreise ein gewisses Revierverhalten zu geben,das offenbar dazu dient, die eigene Identität aufKosten streitbarer Neulinge zu stärken und gegensie zu verteidigen.

Vor diesem Hintergrund ist es für die Etablie-rung der Pflege als Wissenschaft und für das Selbst-verständnis der Pflegewissenschaftlerinnen und -wissenschaftler entscheidend, im wissenschafts-theoretischen Diskurs Profil und Kompetenz zu zei-gen (Bartolomeyczik 1991). Für Lehrende gehörtdies selbstverständlich zu ihrem professionellenAuftrag; aber genauso sollten Studierende Interessedaran entwickeln,was es mit Empirie,Phänomeno-logie,Hermeneutik,was es mit Kritischem Rationa-lismus und Symbolischem Interaktionismus, Kon-struktivismus und anderen wissenschaftstheoreti-schen Ansätzen auf sich hat. Denn hier handelt essich keineswegs um Debatten geheimer Zirkel, diesich in universitären Dachkammern treffen, in wel-

che man ohne höhere Weihen nicht gelangt. Es gehtum das Studium von Basiswissen, von Landkartender wissenschaftlichen Topographie gewisserma-ßen, die es jedem leichter machen, sich im akade-mischen Gelände zurecht zu finden.

Nun ist Pflege als Praxisdisziplin erst seit rela-tiv kurzer Zeit dabei ist,die Notwendigkeit von For-schung und Wissenschaft für sich zu entdecken(Schröck 1989). Dieser Prozess war und ist beglei-tet von Zweifeln, wie es denn wirklich um die Ei-genständigkeit des Faches im Konzert der Nach-bardisziplinen bestellt sei. Mit drei Fragen ist diePflegewissenschaft hier konfrontiert:4 1. Was ist der spezifische Gegenstandsbereich

dieser wissenschaftlichen Disziplin »Pflege«?4 2. Auf welcher methodologischen Grundlage

wird »Pflege« beschrieben, begründet, unter-sucht und nachgewiesen?

4 3. In welchem organisatorisch-institutionellenRahmen wird Pflege auf wissenschaftlicher Ba-sis gelernt,gelehrt und ausgeübt? (Steppe 2000,S. 92)

. Abb. 10.1. Verfahrensstruktur

Page 231: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

10.1 · Wissenschaftstheoretische Grundsätze10219

Der Diskurs um eben diese Fragen ist an vielen Or-ten geführt worden (Meleis 1999) und hat Eingangin viele Kapitel dieses Lehrbuches erhalten. Dabeiist deutlich geworden,dass auch Lernende in ihremStudienalltag der wissenschaftstheoretischen Re-flexion nicht ausweichen können oder sollten: Ge-rade die Pflegewissenschaft, die wie kaum eine an-dere akademische Disziplin über einen ausgespro-chen engen Praxisbezug verfügt, also ihr pflege-wissenschaftliches Erkenntnisinteresse aus (akutenoder chronischen) Praxisphänomenen entwickeltund auch von dort ihre Forschungsfragen generiert(Burnard u.Morrison 1995),ist auf theoretische undmethodische Vielfalt angewiesen. Und dennochmuss sie offensiv ihre Eigenständigkeit gegenüberAnthropologie und Medizin, Psychologie undPädagogik,Soziologie und Ökonomie und viele an-dere mehr behaupten.Dies gelingt ihr um so besser,je deutlicher sie ihre wissenschaftstheoretischenGrundannahmen, Voraussetzungen und Ziele so-wie ihre Begriffe, Postulate und Methoden formu-lieren kann.

Was aber ist im eigentlichen Sinne Wissen-schaft? Und wovon handelt Wissenschaftstheorie?In den folgenden Ausführungen,die den Bogen vonder abstrakten Wissenschaftstheorie bis zum kon-kreten wissenschaftlichen Arbeiten schlagen wol-len, soll der Frage nachgegangen werden, wie dieWissenschaften sich ihr Wissen schaffen, welcheTheorien und Modelle zur Orientierungund Fun-dierung dienen, welche erkenntnisleitenden Inter-essen eine Rolle spielen und welche Anforderungenschließlich an Studierende der Pflegewissenschaftzu stellen sind, die erfolgreich an der Weiterent-wicklung der Pflege als Wissenschaft partizipierenwollen.

10.1.2 Zur Definition von Wissenschaft

Bei der Suche nach einer überzeugenden Defini-tion von Wissenschaft (griech.: episteme; lat: scien-tia), also bei der Klärung der Frage, was eigentlichdie Wissenschaft und das wissenschaftliche Arbei-ten ausmache, müssen wir erkennen, dass es sehrunterschiedliche Zugänge zum Wissenschaftsbe-griff gibt. Drei ausgewählte Definitionen mögendies verdeutlichen:

7 Wissenschaft stellt eine »architektoni-

sche Einheit« dar, ein nach Prinzipien

geordnetes Ganzes von Aussagen, das

der Erkenntnis dienen soll (Diederichsen

1972, S. 1).

7 Wissenschaft ist das Streben nach syste-

matisiertem Wissen durch Beobach-

tung. Der Begriff meint also eine Metho-

de, nämlich die systematische Erhebung

und Bewertung von Information. Er

meint aber ebenso ein Ziel, nämlich die

Entwicklung von Prinzipien, die die er-

hobene Information erklären (Davison

u. Neale 1988, S. 139 f.).

7 Wissenschaft ist dort, wo diejenigen, die

als Wissenschaftler angesehen werden,

nach allgemein als wissenschaftlich an-

erkannten Kriterien forschend arbeiten

(Seiffert u. Radnitzky 1994, S. 391).

Wir sehen, dass sich Wissenschaft aus ganz unter-schiedlichen Blickwinkeln betrachten lässt,je nach-dem,ob auf das komplexe Wissenschaftssystem,aufden methodengeleiteten und zielgerichteten Wis-senschaftsprozess oder auf die tätige Wissen-schaftsinstitution fokussiert wird. Bei der erstenDefinition (Diederichsen) schimmert noch etwasvon der Tradition der Aufklärung durch, einer ent-scheidenden Epoche in der Wissenschaftsge-schichte, als es wichtig wurde, nicht nur das Ge-schwisterpaar »Mythos« und »Logos« voneinanderzu lösen, sondern auch das Verhältnis von Wissen-schaft und Philosophie zu präzisieren.

Während in der Antike Philosophie und Wis-senschaft als gleichbedeutend galten, fungierte imMittelalter die Philosophie – und häufiger noch dieTheologie – als Leitwissenschaft, der sich die Ein-zeldisziplinen unterzuordnen hatten.Spätestens im18.Jahrhundert entwickelten dann die neuen, auf-strebenden Wissenschaften das Selbstverständnis,nicht mehr primär von den allgemeinen Prinzipiender Philosophie / Theologie auszugehen, sonderneigene, empirisch gestützte Theorien aufzustellenund daraus einzelne Gegebenheiten abzuleiten.Daraus erklärt sich ihr besonderes Bestreben,Wis-senschaft als autonomes,den eigenen Normen undMaßstäben verpflichtetes System zu konstituieren.

Page 232: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

10

220 Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft

In der zweiten Definition (Davison u. Neale)klingt an,dass im 20.Jahrhundert die Emanzipationder Wissenschaft (bzw. der Wissenschaften) vonder Philosophie vollzogen war und nun eine Gren-zziehung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wis-senschaft immer wichtiger wurde. Allein die For-mulierung persönlicher Erfahrungen und die Ab-strahierung zu einer Theorie – so das Postulat –stellt noch keineswegs einen wissenschaftlichenVorgang dar; es kommt darauf an, unter Verwen-dung einer definierten Terminologie und aner-kannter Beobachtungsverfahren den systematischentwickelten Hypothesen und Theorien empiri-schen Gehalt zu verleihen und Schlussfolgerungenzu ziehen, die einer intersubjektiven Überprüfbar-keit standhalten.

Die dritte Definition (Seiffert u. Radnitzky)überzeugt uns auf den ersten Blick vielleicht amwenigsten,weil sie – fast lapidar und nicht weit ent-fernt von Sartres existentialistischem Leitsatz »DerMensch ist, was er tut« – allein auf den Ort und dasHandeln der Wissenschaft rekurriert.Doch hier be-sticht im Grunde nicht die explizite Aussage, son-dern die implizite Absage: Verzichtet wird darauf,die Wissenschaft als einheitliches System oder ein-heitlichen Prozess fassen zu wollen; konstatiertwird hingegen, dass die Wissenschaften gegenwär-tig zwar sehr fruchtbar in der Vermehrung empiri-scher Einsichten und theoretischer Einheiten sind,sich jedoch auf keine kohärente, einheitlicheGrundlage ihres Tuns mehr verständigen können.(Im Abschn. 10.1.4 wird darauf zurück zu kommensein.)

Andersherum ist die dritte Definition auch sozu verstehen:Wissenschaft lässt sich nicht losgelöstvom Ort ihres Geschehens bestimmen. Gemeint istdamit weniger die spezifische Forschungseinrich-tung, Universität oder Hochschule, sondern viel-mehr das Publikationsorgan und die Rezeption derpublizierten Erkenntnisse innerhalb der »sciencecommunity«.Zugespitzt findet sich dies in der For-derung, von einem Wissenschaftler nur dann zusprechen,wenn er »zumindest in den beiden letztenJahrgängen einer wissenschaftlichen Zeitschrift et-was veröffentlicht hat« (Seiffert u. Radnitzky 1994,S. 391).

Versuchen wir nach all diesen Erkundungenund Abklärungen, ob denn nun Wissenschaft eherdas System, den Prozess oder die Institution der

wissenschaftlichen Erkenntnis meint, ein summa-risches Fazit zu ziehen,so können wir folgende De-finition vorschlagen:

Wissenschaft soll hier verstanden werdenals die Suche nach Erkenntnis und Wahrheitunter Anwendung definierter und reflek-tierter Systeme und Modelle;sie findet stattin wissenschaftlich anerkannten Institutio-nen und Organen.Vorläufiges – und immerwieder zu modifizierendes – Ergebnis deswissenschaftlichen Prozesses ist ein zu-sammenhängendes,folgerichtig aufgebau-tes Gebiet von Erkenntnissen der Einzel-disziplinen und ihre Verknüpfung mitErkenntnissen benachbarter Disziplinen.Wesentlicher Bestandteil jeder Wissen-schaft ist die planmäßige Darstellung, Be-gründung und Vermehrung der wissen-schaftlichen Erkenntnis in Forschung undLehre.

10.1.3 Zur Aufgabe der Wissenschaftstheorie und Methodologie

Wir haben gesehen, dass ein Verständnis von Wis-senschaft nur möglich ist, wenn wir die »sciencecommunity« nach übergeordneten Gliederungsge-sichtspunkten begreifen und nicht nur in der Addi-tion Hunderter von Teilbereichen und ihrer Ord-nung nach Disziplinen und Fakultäten. Befassenwir uns jetzt mit der Frage, was die Wissenschafts-theorie kennzeichnet und worin ihre Aufgabe be-steht. Wissenschaftstheorie hat die Wissen-schaft(en) selbst zum Objektbereich. Sie analysiertdie Grundlagen und die Methoden der Wissen-schaften und steht in naher Verwandtschaft zur Er-kenntnistheorie (Epistemologie), welche die Be-dingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Er-kenntnisgewinnung überhaupt erörtert. Währendalso die Erkenntnistheorie sich zuspitzen ließe aufdie Frage, ob denn »objektive« Erkenntnis der Weltüberhaupt möglich sei, klärt die Wissenschafts-theorie,was es zu beachten gilt,wenn man sich dar-

Wichtig

Page 233: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

10.1 · Wissenschaftstheoretische Grundsätze10221

an macht, »ungeordnetes (mythologisches) Wissenin geordnetes, begriffliches, von systematischen Fra-gen, Hypothesen, Theorien und Urteilen geprägtesWissen umzuwandeln« (Danzer 1995, S. 26).

Wann immer Forscherinnen und Forscher ihrewissenschaftlichen Erkenntnisse publizieren bzw.rezipieren, tun sie dies nicht nur auf der inhaltli-chen Ebene; sie erläutern stets auch die Wege ihrerErkenntnisgewinnung und ihrer Schlussfolgerun-gen, also die begriffliche und methodische Logikihrer Forschung. Sie verpflichten sich zur Verwen-dung definierter Terminologien und systemati-scher Strategien der Hypothesen und Theoriebil-dung sowie zur intersubjektiven Überprüfbarkeitihrer Forschungsergebnisse. Sobald sie eine – zurbislang vorherrschenden wissenschaftlichen Mei-nung konkurrierende – Theorie aufstellen, müssensie sowohl mit methodologischer als auch mit wis-senschaftstheoretischer Kritik rechnen. In diesemSinne dienen Analysen auf der Ebene der Wissen-schaftstheorie dazu, bestimmte Vorgehensweisenbei der Forschung zu klären,zur Entwicklung einerangemessenen Methodologie und einer arbeits-fähigen Methodik beizutragen und die Basispos-tulate bestimmter Wissenschaftskonzeptionen zureflektieren (Esser et al. 1977, S. 27).

Ob das immer funktioniert, sei dahingestellt.Manchmal drängt sich eher der Eindruck des »any-thing goes« auf, das der Philosoph Paul Feyerabendfür das vorherrschende Prinzip der Wissen-schaftspraxis hält.Aber Wissenschaft ist alles ande-re als eine chaotische Tätigkeit, auch wenn esgrundsätzlich im Forschungsprozess immer umdas sich wiederholende Zusammenspiel von krea-tivem Einfall und kritischer Prüfung geht. Zusam-menfassend können wir feststellen:

Allgemeine Wissenschaftstheorie befasstsich mit der Reflexion des Wissenschafts-begriffes und der Kriterien der Wissen-schaftlichkeit.Spezielle Wissenschaftstheo-rie untersucht die Voraussetzungen, Ziele,Begriffe und Aussageformen der einzelnenWissenschaft (Braun u. Radermacher 1978,S. 673).

Sprechen wir nun von Methodologie (griech.: meta:zu etwas hin; hodos: der Weg) und machen gewis-sermaßen einen weiteren Schritt von der Wissen-schaftstheorie hinein in das konkrete Arbeitsfeldder Forschung. Zur kritischen Begutachtung stehtdie Frage, welchen instrumentellen Wert eine be-stimmte Methode, Hypothese oder Theorie für dasangestrebte Forschungsziel besitzt. Die Entschei-dung über solche Fragen könnte die Wissenschaft-lerin / der Wissenschaftler intuitiv fällen. Zu denAnforderungen wissenschaftlichen Arbeitensgehört es aber, die eigenen methodologischen Ent-scheidungen zu reflektieren und transparent zumachen.

Wenn wir unter Methodologie die kritischePrüfung der jeweils verwendeten Methoden zur ra-tionalen Problemlösung im konkreten Erkenntnis-bereich verstehen, dann deutet sich an, dass einganzes Methodenspektrum zur Verfügung steht,welches sich je nach Disziplin und Fragestellung alsmehr oder weniger geeignet erweist. Theorien derphysikalischen Messung, statistische Erhebungs-verfahren, hermeneutische Textanalysen, projekti-ve Diagnoseverfahren beispielsweise können nurdann zum angestrebten Erkenntnisfortschritt füh-ren,wenn sie präzise zur jeweiligen Forschungsfra-ge »passen«.Insofern ist auf jedem Fachgebiet nichtnur inhaltliche, sondern auch methodologischeKompetenz gefragt: »Eine gute Methodologie ist fürden Forscher eine wichtige Ressource.« (Seiffert u.Radnitzky 1994, S. 465)

Bei der Wahl der Forschungsmethode ist nunauch zu berücksichtigen, ob nach den Prinzipiender deduktiven oder der induktiven Bewährungvorgegangen werden soll.Deduktion meint: die Ab-leitung des Besonderen aus dem Allgemeinen; auswahren Prämissen (Obersätzen) sollen – per gülti-ger Schlussregel – wahre Konklusionen (Folgesät-ze) gewonnen werden. Ein deduktiver Schluss istgültig, wenn alle Prämissen wahr und die Regelndes logischen Schließens korrekt sind. Induktionmeint: die Ableitung des Allgemeinen aus dem Be-sonderen; aus der Beobachtung von wahren Ein-zelfällen wird – per Erweiterungsschluss – ein all-gemeines Gesetz formuliert.Ein induktiver Schlussist gültig, solange die gewonnene Gesetzesaussagenicht falsifiziert wird.Die Falsifikation bedeutet dasErbringen des Nachweises,dass eine Aussage falsch

Wichtig

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10

222 Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft

ist, während demgegenüber die Verifikation denWahrheitsnachweis meint.

Befragen wir 50 Studierende, ob ihnen das Ge-

fühl der Angst vor Prüfungen vertraut sei, und

antworten uns dann alle 50 mit »ja«, so gelan-

gen wir auf dem Wege des Induktionsschlusses

zu der Aussage: »Prüfungen lösen Angst aus!«

Wir möchten nun unsere Schlussfolgerung ve-

rifizieren und befragen eine Kontrollgruppe mit

weiteren 50 Studierenden;49 von ihnen äußern

sich ebenfalls mit »ja«, bis der 50.uns »nein« zur

Antwort gibt, womit unsere Aussage – in ihrer

beanspruchten Allgemeingültigkeit – falsifi-

ziert, also nicht mehr gänzlich haltbar ist und

zumindest der Modifikation bedarf.

10.1.4 Zum Begriff des Paradigmas

In der Wissenschaft wird gern gestritten.Innerhalbeinzelner Teildisziplinen, zwischen diesen oderunter ganzen Wissenschaftsbereichen ist die Aus-einandersetzung, der Streit die häufigere Erschei-nung als der einvernehmliche Konsens.Manche be-klagen das und verstehen nicht, wie Wissenschaft-lerinnen und Wissenschaftler täglich Tür an Türforschen können und sich dann auf dem Flur ge-flissentlich aus dem Wege gehen.Was sich bisweilenzur persönlichen Animosität auswächst, ist ur-sprünglich oft nichts weiter als ein fachlicher Dis-put, eine gegensätzliche (z. B. wissenschaftstheore-tische) Position. Bei ihren Auseinandersetzungensind die Mitglieder des akademischen Betriebesnatürlich nicht frei von Konkurrenz und Profilie-rung, in der Tiefe geht es aber meist um Grundla-genstreits, Theorienstreits oder Methodenstreits.

Bei den wirklich bedeutsamen Disputen um dieGrundlagen einer Wissenschaft geraten nun vonZeit zu Zeit sogar die fundamentalen Annahmenund Gesetze einer ganzen akademischen Disziplinins Wanken.Keine Fakultät bleibt davon verschont.Der noch nicht lange verklungene Historikerstreitin der Geschichtswissenschaft oder der Grundla-genstreit in der Physik zu Beginn des 20. Jahrhun-derts haben dies gezeigt und sind nur zwei Bei-

spiele eines grundsätzlichen Phänomens: Dasganze Wissenschaftsverständnis kann in Frage ste-hen, zumindest der Wahrheitsanspruch oder – imFalle der Methodenstreits – die Tatsache, dass allzudivergente Begriffe und Methoden zu einer Zer-splitterung einer Wissenschaftsdisziplin führenkönnen.In diesem Sinne gibt es also in der Wissen-schaft mitunter fundamentale Brüche mit radikalerÄnderung der vorherrschenden Denkweise oderDenkrichtung. Wenn man bereit ist zu konstatie-ren,dass wissenschaftliches Denken,Forschen undLehren stets eingebunden ist in die sozialen undkulturellen Bedingungen der jeweiligen Zeit, sichalso keineswegs in einem Elfenbeinturm abspielt,wie dies gern romantisch verklärt oder sarkastischverurteilt wird, dann sind solche wissenschaftli-chen Streits,Brüche und Wechsel nicht verwunder-lich.

Erst dadurch nämlich,dass jede Wissenschaft –die sich zur Aufgabe macht, eindeutiges Wissen zuschaffen – verkündet, ihre Erkenntnisse seien wahrund überprüfbar, entsteht ein überhistorischer,vom sozialen und kulturellen Umfeld unabhängi-ger Anspruch. Wenn nun in einer Wissenschafts-disziplin alte Theorien und Erkenntnisse über Bordgeworfen werden, um den neueren Forschungser-gebnissen Platz zu machen,wenn also Wissenschaftsich weiterentwickelt, dann muss entweder die alteTheorie / die alte Erkenntnis falsch gewesen sein –oder die alte Wahrheit muss in der neuen Wahrheitaufgehoben sein.

Unter dieser Problemstellung kommt dem Be-griff des Paradigmas und besonders dem des Para-digmenwechsels eine besondere Bedeutung zu: EinParadigma (griech: Beispiel,Muster) ist – nach T.S.Kuhn (Kuhn 1976) – eine Menge von Grundannah-men, die das jeweilige Gebiet wissenschaftlicherForschung eingrenzen,indem sie spezifizieren,wel-che Begriffe als legitim gelten und welche Metho-den erlaubt sind, um Daten zu sammeln und zuinterpretieren. Ein Paradigma hat tiefgreifendenEinfluss darauf,wie Wissenschaftlerinnen und Wis-senschaftler zu einem gegebenen Zeitpunkt vorge-hen. Kuhn differenziert bei der Entwicklung derWissenschaft zwischen Phasen der »normalen«und der »außerordentlichen« Wissenschaftsent-wicklung. Eine »normale« Phase liegt vor, wennsich ein Paradigma in der Wissenschaft durchge-setzt hat, d. h. wenn für die Forscherin / den For-

Beispiel

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10.1 · Wissenschaftstheoretische Grundsätze10223

scher ein kohärentes Normensystem existiert, dasAussagen darüber enthält, welche Theorien undMethoden aktuell als anerkannt gelten und welcheFragestellungen für relevant gehalten werden.

Zwar sind solche Paradigmen Gegenstand deswissenschaftstheoretischen Diskurses, sie werdenjedoch selten als Normensysteme explizit gemacht,keiner verkündet sie lauthals, denn das würde jadem Anspruch der »freien«, nicht an Dogmen ge-bundenen Wissenschaft zuwiderlaufen.Gleichwohlsind diese Normensysteme unabdingbarer Be-standteil jeder Wissenschaft, also durchaus fest in-stitutionalisiert. Sie finden ihren Niederschlagnicht zuletzt in der Ausbildung und in den Karrie-rekriterien. (So kann z. B. gegenwärtig kein(e) wis-senschaftlich ambitionierte(r) Psychiaterin/Psy-chiater auf einen Lehrstuhl hoffen, die/der sichnicht der Neurotransmitter-Hypothese verschrie-ben hat,also der Annahme,dass psychische Krank-heiten auf Störungen im Serotonin-, Dopamin-oder sonstigen Transmitter-Haushalt zurückzu-führen seien.)

Erst wenn der Anteil der innerhalb des herr-schenden Paradigmas unlösbaren Probleme –Kuhn spricht hier von »Anomalien« – größer wird,besteht die Chance, dass eine Periode der Un-sicherheit, also der »außerordentlichen Wissen-schaft« einsetzt, die zu einer wissenschaftlichenRevolution führen kann. In einer solchen Epocheentstehen dann innerhalb der Forschungsgemein-schaft in der Regel mehrere konkurrierende Para-digma-Kandidaten, bis schließlich ein siegreichesParadigma die »science community« erneut füreine Periode »normaler Wissenschaft« auf die Lö-sung vorgegebener Probleme verpflichten kann.

10.1.5 Zum Ringen der Wissenschaft(en)um Erkenntnis

Tauchen wir für einen Moment noch etwas tiefer indie Wissenschaftsgeschichte ein, so stellen wir fest:Seit fast dreitausend Jahren stehen sich zwei Ringer– nennen wir sie Mythos und Logos – gegenüberund kämpfen im griechisch-römischen Stil um dieHerrschaft unseres Denkens und Erkennens. DerMythos (griech.: Ursprungswissen) ist – vom An-spruch der Wissenschaften her – natürlich der Un-terlegene, der Lorbeerkranz gebührt dem Logos

(griech.: Vernunftwissen). Lediglich der Theologiewird – wissenschaftstheoretisch – noch zugestan-den, Offenbarungserkenntnis und Vernunfter-kenntnis zusammen zu bringen, gewissermaßenmit den beiden Hälften eines Fernglases seelisch-geistige Einsicht zu erlangen. Unter den soziokul-turellen Bedingungen des Mittelalters konnte dasnur bedeuten,dass Erkenntnis im eigentlichen Sin-ne allein in die Kompetenz der Theologie fiel. ImZeitalter der Aufklärung hingegen traten Mythosund Logos,also das »von alters her« Geglaubte unddas »aus Begründungen« Gewusste in einen Ge-gensatz zueinander. Das Prinzip der Vernunft be-stritt den Geltungsanspruch des religiös-mythi-schen Denkens.Aus der Formel vom »Glauben undWissen« als zweier sich ergänzender und aufeinan-der angewiesener Erkenntnisformen wurde die Al-ternative vom »Glauben oder Wissen«. Das beweis-bare Wissen behauptete alleinigen Geltungsan-spruch und ließ den Glauben als »bloß subjektives«und damit objektiv nicht begründbares Fürwahr-halten hinter sich (Menne u. Türk 1981, S. 103).

In den letzten zweihundert Jahren konnte sichunser Ringer Logos als überzeugender Sieger füh-len, als Meister aller Klassen, denn seine strengenPrinzipien der systematischen Vernunfterkenntnissollten für alle Wissensbereiche gelten; KontrahentMythos schien ein für alle Mal geschlagen. Nichtnur die Theologie, sondern auch die Philosophie,die sich über Jahrhunderte als Universalwissen-schaft verstanden (und die »Universalien«, also die»ewigen Wahrheiten« zu ergründen versucht) hat-te, geriet durch das naturwissenschaftliche Er-kenntnisideal und den Alleinanspruch empirischerVerfahren in die Krise.

Heute sind wir uns nicht mehr so sicher,ob wis-senschaftliche Aussagen den behaupteten An-spruch auf absolute Geltung wirklich einlösen kön-nen. Zu häufig stellen wir fest, dass sie nur vorläu-fig »stimmen«, nur als Hypothesen angesehenwerden können, bis sie ihren Erkenntniswert ein-gebüßt und neuen Hypothesen Platz gemacht ha-ben. Folglich tauchen auch Zweifel an der Vernünf-tigkeit einer angeblich »objektiven« Vernunft auf:Das Vertrauen auf die Wissenschaft, erst recht dasVertrauen auf die Lösbarkeit aller menschlichenProbleme durch die Wissenschaft ist – trotz desenormen Erkenntniszuwachses – in letzter Zeiteher kleiner als größer geworden. Denn keiner

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224 Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft

kann wohl ernsthaft die Augen davor verschließen,dass der mit dem wissenschaftlichen FortschrittHand in Hand gehende technische Fortschritt Fol-geprobleme erzeugt, die den Sinn manch wissen-schaftlicher Entdeckung infrage stellen, weil ihreRückwirkungen die humane Existenzweise bedro-hen.

Aber bevor wir in eine allgemeine Klage überdie Entzauberung der Welt durch Wissenschaft undTechnik abgleiten, kehren wir zurück zu unseremThema: Festzuhalten bleibt,dass eine Trennung vonWissenschaft einerseits und Alltagswelt oder Le-benswelt andererseits heute nicht mehr haltbar ist.Die Fragestellungen der Wissenschaft werden we-sentlich durch lebensweltliche Zusammenhänge, jadurch eindeutige Forschungsaufträge industrielleroder öffentlicher Interessenten bestimmt, die Re-sultate der Wissenschaft(en) wirken zurück auf dieLebenswelt und gestalten diese fortwährend um.Der Biologe Jens Reich bemerkt in diesem Zusam-menhang,

7 dass die Aussagen der Wissenschaften in

die Kultur der Gesellschaft hineingenom-

men werden und sie fundamental verän-

dern. Ich würde wie viele andere Kolle-

gen gern bei meinen Leisten bleiben, wo

ich mich sicher fühle. Mein Problem ist,

dass das nicht mehr durchhaltbar ist.

Alle Naturwissenschaftler werden heute

aus dem Schneckenhaus herausgeholt,

ja energisch herausgerufen. Sie sollen

Verbindliches zur Gefährdung durch

Prione, zur Atomenergiepolitik, zum Koh-

lendioxydausstoß, zum Anstieg des

Meeresspiegels, zur Umleitung des Golf-

stroms, zu Aids und zum Ozonloch

sagen, und es soll nicht die vorsichtige Si-

tuationsbeschreibung des wissenschaft-

lichen Diskurses sein, sondern handhab-

bare Aussage, klare Handlungsanwei-

sung (Reich 2000, S. 41).

Hier nun hat Wissenschaftstheorie eine Aufgabe,nämlich nicht nur die »internen« Verfahrensweisender Akkumulierung empirisch wahren und logischkorrekten Wissens zu überprüfen,sondern auch die»extern« vorgegebene soziale Funktion der Wis-senschaft zu reflektieren.Damit wird deutlich,dass

»die Sache selbst«,um die es im wissenschaftlichenProzess geht, nicht nur gebietsmäßig in den ver-schiedenen Wissenschaften und Wissenschafts-gruppen jeweils eine andere ist; sie enthält auch inder Art ihrer wissenschaftlichen Befragung Rück-verweisungen auf das fragende Subjekt, auf dessenForschungsinteresse bzw. -auftrag und seinen le-bensweltlichen Hintergrund. Folglich ist kein For-schungsobjekt »an sich« da und wartet nur darauf,von einem Forschungssubjekt aufgespürt und inseinen Eigenschaften wahrgenommen zu werden.Bei näherem Hinsehen erweist sich jedes For-schungsobjekt,jede »Sache selbst« als durchaus ab-hängig von der Art der Fragestellung und ihrer wis-senschaftlichen Behandlung.

Ebenso müssen wir uns wohl von dem Gedan-ken der einen Wissenschaft verabschieden.Wir hat-ten schon bei der Darstellung und Analyse ver-schiedener Definitionen erfahren, wie schwierig esist, Wissenschaft als ein Ganzes zu begreifen undnicht von den Wissenschaften zu sprechen. Esscheint kaum mehr vertretbar, an solch einer mo-nistischen Konzeption (in der philosophischenLehre des Monismus ist alles Seiende auf ein ein-heitliches Prinzip zurückzuführen) von Wissen-schaft festzuhalten; versuchen wir es doch, dannmüsste es uns gelingen, so etwas wie eine Grund-wissenschaft, ein Kerngehäuse aller Wissenschaf-ten herauszuarbeiten.

Von solch einer einzigen Wissenschaft (»scien-ce«) ist in der öffentlichen bzw.journalistischen All-tagssprache und auch in der politischen Entschei-dungsfindung gern die Rede – besonders dann,wenn es nicht nur um Wissen, sondern auch umMacht geht: »Die Wissenschaft hat herausgefun-den…«, solch ein Satz wirkt wie die Verkündigungeiner unumstößlicher Wahrheit und ist in aller Re-gel verknüpft mit politischen oder kommerziellenInteressen. Auch im akademischen Betrieb selbsthat es immer wieder ernstzunehmende Versuchegegeben,von der einen Wissenschaft auszugehen,soetwas wie eine Basiswissenschaft zu konstituieren,also für die verschiedenen Disziplinen ein gemein-sames methodologisches Grundgerüst zu erstellen.Überzeugend ist das bisher nicht gelungen, weiljede »Unifizierung« der verschiedenen Wissen-schaften nur um den Preis der Vernachlässigungfeiner, jedoch wesentlicher Unterschiede in denEinzeldisziplinen gelingen kann (Ströker 1973,S.7).

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10.1 · Wissenschaftstheoretische Grundsätze10225

10.1.6 Zu den Systematisierungsversuchender Wissenschaften

Seit mehr als 150 Jahren wird die akademischeLandschaft von der dualen Gliederung in Natur-und Geisteswissenschaften geprägt. Auch heutenoch beherrscht sie unseren Sprachgebrauch, ob-wohl sie fachlich eigentlich nicht mehr haltbar istund längst abgedankt haben müsste. Denn zwi-schen den Natur- und Geisteswissenschaften, zwi-schen den quantitativen und qualitativen For-schungsansätzen,

7 zwischen den »harten« und den »wei-

chen« Wissenschaften verläuft gerade

nicht eine zusammenhängende, ein-

heitliche Frontlinie, sondern wir haben

eher ein komplexes Go-Brett vor uns,

auf dem viele Spieler mit verschiedenen

Kosmologien gleichzeitig spielen

(Latour 2000, S. 47).

Schon in der zugrunde liegenden Dichotomie von»Natur« und »Geist« spiegelt sich ja ein Schichten-modell des 19.Jahrhunderts wieder, in welchem dasBild des Aufstiegs vom Anorganischen über das Or-ganische zum Psychischen und weiter bis hin zumGeistigen propagiert wurde. Ist eine Trennung von»Natur« und »Geist« aber heute noch stichhaltig,istz. B. das Psychische mehr der Natur- oder der Geis-teswissenschaft zuzuordnen? Es wäre wirklich ander Zeit, sich von dieser dualistischen Gliederung,die – wie gesagt – in die wissenschaftstheoretischeAuseinandersetzung des 19. Jahrhunderts gehört,zu verabschieden.

Für Jürgen Habermas bietet sich eher eine tri-ale Gliederung an, die von den jeweiligen Erkennt-nisinteressen der Wissenschaftsbereiche ausgeht.Seine Gliederung lautet daher: a) die empirisch-analytischen Wissenschaften,die sowohl die »klas-sischen« Naturwissenschaften als auch die empiri-schen Sozialwissenschaften umfassen; b) die histo-risch-hermeneutischen Wissenschaften, die philo-sophisch-philologisch-kulturelle Gegenstände zumThema haben und eher vergangenheitsorientiertsind; und c) die systematischen Handlungswissen-schaften, zu denen die Soziologie und die Politolo-gie, aber z. B. auch die Sozialarbeitswissenschaftoder die Pflegewissenschaft zu zählen wären (Ha-

bermas 1973). Aus heutiger Sicht ergänzungsbe-dürftig ist zweifellos, dass mit d) die technischenWissenschaften (oder: »Ingenieurswissenschaf-ten«) in ihrer Anwendungsbezogenheit nicht alsklassische Naturwissenschaften,sondern als eigen-ständiger Wissenschaftsbereich gerechnet werdensollten (Seiffert u. Radnitzky 1994, S. 344 ff. u.S. 394 ff.).

Nun hat die Wissenschaftsgeschichte ausrei-chend gezeigt, wie schwierig bis unmöglich es ist,absolut stimmige Einteilungen der Wissenschafts-bereiche vorzunehmen.Jede Klassifikation ist so et-was wie ein Artefakt, ein künstlich herbeigeführter– und meist scheiternder – Versuch, in einen flie-ßenden Strom Schleusen und Staumauern einzu-ziehen. Verbindliche Abgrenzungen der Wissen-schaftsbereiche sind auch deswegen so schwer zutreffen,weil der Fokus der einen Klassifikation eherauf die methodologische Ebene abzielt,ein anderereher auf die institutionelle Ebene, ein dritter vonden Gegenstandsbereichen her seine Differenzie-rungen vornimmt.

Da hier keine Einigung zu erwarten ist,soll zumSchluss lediglich der zuvor verwendete Begriff desErkenntnisinteresses – allerdings in etwas anderemSinne als bei Habermas – näher ausgeleuchtet wer-den. Im Grunde lassen sich drei unterschiedlicheforschungsleitende Erkenntnisinteressen ausma-chen:4 a) Das phänomenale Erkenntnisinteresse: Hier

steht die Frage nach den faktischen Gegeben-heiten und ihren Merkmalen im Vordergrund.Dabei wird nicht nur die Oberfläche der Phä-nomene analysiert, sondern auch deren We-sensmerkmale, also sowohl der querschnitt-liche Zustand einer Erscheinung als auch ihrlängsschnittlicher Verlauf.Die umgangssprach-liche Frage würde hier lauten: »Was ist los?«,»Was geschieht?«

4 b) Das kausale Erkenntnisinteresse: Hier kon-zentriert sich die Betrachtung auf die Ursachender Phänomene, so wie es dem menschlichenDenken immer zu eigen war,den »wahren« Hin-tergründen der Dinge auf die Spur kommen zuwollen.Umgangssprachlich könnte man fragen:»Warum ist das so?«, »Warum geschieht es?«

4 c) Das aktionale Erkenntnisinteresse: Hier stehtdie Frage nach den Möglichkeiten des Handelnsim Mittelpunkt. Dies scheint ebenfalls ein

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226 Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft

grundsätzlich menschlicher Impuls zu sein,nämlich das Interesse an praktischer Interven-tion, an strategischer Beeinflussung der Phä-nomene. Hier könnten wir umgangssprachlichfragen: »Was ist zu tun?« (Eberhard 1999, S. 19)

Mit diesen letzten Ausführungen schließen wir dieÜberlegungen zum Sinn und Verfahren von Wis-senschaft und Wissenschaftstheorie ab und wen-den uns spezifischen und konkreten wissen-schaftstheoretischen Ansätzen zu. Deren Auswahlund Reihenfolge ist durchaus subjektiv und disku-tierbar, wir meinen aber, dass es für Studierendewie auch Lehrende der Pflegepädagogik sinnvollsein kann, ein möglichst breites Spektrum unter-schiedlicher wissenschaftstheoretischer Perspekti-ven kennen zu lernen.

10.2 Skizzen zu verschiedenen wissenschaftstheoretischenAnsätzen

10.2.1 Was ist Empirismus? Was ist Positivismus?

Studierende oder Lehrende sozialwissenschaftli-cher Disziplinen müssen sich von den »empiri-schen Hardlinern« des Wissenschaftsbetriebes(z. B. aus der Physik, der Biochemie, vielleicht auchder Medizin oder anderen klassisch »naturwissen-schaftlichen« Disziplinen) nicht selten die kritischeFrage gefallen lassen, ob denn ihre Theorien, Hy-pothesen oder Aussagen eigentlich den strengenMaßstäben »objektiver« Wissenschaft genügen.Nach Auffassung des empirisch-analytischen An-satzes nämlich sollte Wissenschaft stets bestrebtsein, nur solche allgemeingültigen Gesetze aufzu-stellen, die frei von jeglicher subjektiven Färbungsind. Ziel aller Erkenntnis und Fundament allerTheoriebildung müsse danach allein die »Welt derTatsachen« sein. Die Erkenntnisse müssen sich un-mittelbar aus dem Wahrnehmungsakt ergeben.Dafür stehen als legitime wissenschaftliche Metho-den der Erkenntnisgewinnung nach Auffassung desEmpirismus die Befragung, die Beobachtung unddas Experiment zur Verfügung.

Ursprünglich gehen die Anfänge des Empiris-mus zurück auf die Zeit der Aufklärung, als es er-

klärtes Ziel wissenschaftlicher und philosophischerBestrebungen war, alle Metaphysik aus dem wis-senschaftlichen Denken zu verbannen und empi-risch richtige Gesetze allein aus der Beschreibungdes Gegebenen abzuleiten.Als Vertreter dieser Wis-senschaftsrichtung, quasi als Gründerväter vonWissenschaft überhaupt gelten in dieser HinsichtJohn Locke, John Stuart Mill und Auguste Comte.Nach Comte emanzipiert sich die Menschheit nacheinem »Drei-Stadien-Gesetz«: Im ersten Stadiumherrscht noch das anfängliche »mythische Weltver-ständnis« vor; im zweiten Stadium tritt an die Stel-le des Mythos die Metaphysik, also eine schon dif-ferenziertere Betrachtung jener Dinge und Sphä-ren, die über die »reine Natur« hinausgehen (z. B.Gott, Freiheit, Unsterblichkeit u. ä.), bis die Meta-physik im dritten Stadium von den positiven Wis-senschaften abgelöst wird, die sich auf Aussagenüber das Gegebene beschränken.

Eine Zeit lang wurde diese wissenschaftstheo-retische Richtung auch als Positivismus bezeich-net. Nun hat der Begriff Positivismus natürlichnichts mit dem Gegensatzpaar positiv-negativ zutun, sondern beschreibt das Bemühen, sich auf dieErkenntnis des Tatsächlichen, unzweifelbar Vor-handenen zu konzentrieren und dabei alles speku-lativ Konstruierte, Metaphysische auszuschließen.Heute ist der Begriff des Positivismus im akademi-schen Betrieb recht negativ besetzt; nicht seltenwird er von seinen Kritikern sarkastisch benutzt,um damit eine Wissenschaftspraxis zu bezeichnen,in welcher eine reine Tatsachenforschung ohnetheoriegeleiteten und reflektierten Hintergrundbetrieben werde.

Wir stellen hier also begrifflich den Empiris-mus gegenüber dem Positivismus in den Vorder-grund und fügen hinzu, dass die alten wissen-schaftstheoretischen Grabenkämpfe (z.B.zwischenEmpirismus und Hermeneutik, zwischen Natur-und Geisteswissenschaften) nicht mehr die ak-tuellen Anforderungen an wissenschaftliche Er-kenntnisprozesse widerspiegeln.

Schließlich meint Empirie nichts anderes als:auf Erfahrung beruhende Erkenntnis. Nun wirdniemand bestreiten, dass gerade in den Sozialwis-senschaften – und für uns besonders wichtig: in derPflegewissenschaft – »Erfahrungen« die Basis wis-senschaftlicher Erkenntnis und Theoriebildungdarstellen.Zu hinterfragen bleibt lediglich,auf wel-

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10.2 · Skizzen zu verschiedenen wissenschaftstheoretischen Ansätzen10227

chem methodischen Wege Erfahrungen gewonnenwurden und wie sie ihren Niederschlag in der wis-senschaftlichen Theoriebildung gefunden haben.

Anders formuliert: Der Empirismus bzw. Posi-tivismus verzichtet auf eine Analyse der Beziehungzwischen forschendem Subjekt und erforschtemObjekt, zumindest solange, wie methodisch – imSinne des empirisch-analytischen Ansatzes – »sau-ber« gearbeitet wird.Erkenntnis ist somit durch dieLeistung der Wissenschaften definiert und legiti-miert, einer kritischen Reflexion des Erkenntnis-prozesses selbst bedarf es nach Ansicht dieser Wis-senschaftsrichtung nicht. Dem könnte man entge-genhalten, dass die aus kontrollierten Beobach-tungen gewonnenen Erkenntnisse keine Abbildun-gen von Tatsachen an sich seien, sondern lediglichden Erfolg oder Misserfolg der ausgeführten Ope-rationen zum Ausdruck brächten (Habermas 1981,S. 116).

Verwenden wir also in kritischer Abwägungseiner Möglichkeiten und Grenzen den empiri-schen Ansatz bei der Bearbeitung pflegepädagogi-scher Fragestellungen, so sind einige Grundregelnzu befolgen: Von den empirisch ermittelten Wis-senschaftssätzen wird verlangt, dass sie sich nachden Gesetzen der formalen Logik richten, für ihrenRealitätsbereich Allgemeingültigkeit besitzen, kei-ne subjektiven Einschätzungen und Wertungenenthalten und jederzeit an der Wirklichkeit über-prüfbar sind. In der konkreten Forschungspraxisist bei empirisch-analytischer Vorgehensweise eineklare Schrittfolge einzuhalten, die da lautet:4 1. Formulierung des Forschungsproblems (Idee

– Fragestellung – Hypothese – Auftrag)4 2. Konstruktion des Erhebungsinstruments

(Definitionen – Konzept – Operationalisie-rung)

4 3. Festlegung der Untersuchungsform (Unter-suchungsebene – Kohorten-Design)

4 4. Test des Erhebungsinstruments (Definitionder Population – Stichprobeverfahren)

4 5. Datenerhebung (Durchführung von Befra-gung – Beobachtung – Experiment)

4 6. Aufbau eines Datenfiles (Datenerfassung –Fehlerkontrolle – Fehlerbereinigung)

4 7. Datenanalyse (Bildung von Skalenwerten –Statistik – Zusammenhangsanalysen)

4 8. Umsetzung der Forschungsergebnisse (For-schungsbericht – praktische Vorschläge).

Im Sinne einer präzisen Handlungsanleitung beider Bearbeitung wissenschaftlicher Problemstel-lungen kann der empirische Ansatz also durchausgewinnbringend auch im Bereich der Humanwis-senschaften Einsatz finden (Dieckmann 1995). AlsWissenschaftstheorie, die sich beispielsweise inForm einer Wissenschaftslogik nichts Geringereszur Aufgabe machte als die Formulierung einer Ein-heitswissenschaft, stieß der Empirismus an seineGrenzen und scheiterte nicht zuletzt daran, keintreffliches Kriterium angeben zu können für dieUnterscheidung zwischen sinnvollen und sinnlo-sen Sätzen.

10.2.2 Was ist Phänomenologie?

Phänomenologie (griech. phainomenon: das Er-scheinende) ist ein im philosophischen und wis-senschaftstheoretischen Kontext,aber auch auf me-thodologischer und bisweilen vorwissenschaftli-cher Ebene vielfältig verwendeter Begriff.Zunächstverstehen wir ja unter Phänomenen diejenigenDinge, die sich unseren Sinnen zeigen. Wie diesenun in unser Bewusstsein dringen, ob sie »an sich«und »für sich« – also außerhalb unserer individu-ellen Wahrnehmung – überhaupt sind, wie sie vonuns verstanden,verarbeitet und einsortiert werden,ob sie einen Wesenskern besitzen, all diese Fragensind gerade in jenen wissenschaftlichen Diszipli-nen von besonderer Bedeutung, deren Thema dassinnhafte menschliche Erleben und Verstehen ist,also in der Psychologie, der Psychopathologie, derPädagogik, der Pflegewissenschaft und ähnlichenBereichen.

Noch für Immanuel Kant (1724–1804) bedeute-te Phänomenologie allein die Lehre von den empi-rischen Erscheinungen. Georg W. F. Hegel (1770–1831) verstand unter Phänomenologie den dialekti-schen Erkenntnisprozess, der von der sinnlichenNaivität hin zum absoluten Wissen führt. EdmundHusserl (1859–1938) setzte sich kritisch von Kantund Hegel ab und gilt heute als wichtigster Vertre-ter der Phänomenologie. Seine Devise »zu den Sa-chen selbst!« erlebte in den 70er und 80er Jahrendes 20. Jahrhunderts eine Renaissance, wurde ei-nerseits vom Existenzialismus – die französischeErkenntnistheorie des 20.Jahrhunderts sieht inHusserl den bedeutendsten Philosophen seit der

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10

228 Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft

griechischen Antike (Seiffert u. Radnitzky 1994,S. 144) – aufgegriffen und im sozialwissenschaftli-chen,vor allem im pädagogischen Bereich mit einerHinwendung zur »Lebenswelt« verknüpft.

Ausgangspunkt der Phänomenologie ist fürHusserl »das Seiende«, wie es dem Bewusstsein ur-sprünglich erscheint – also das, was vor und trotzaller Theoriebildung selbst gegeben ist. Nichts sollmehr als wirklich wissenschaftlich gelten,was nichtdurch vollkommene Existenz begründet ist – nurdie unmittelbar gegebene Sache soll sprechen. Zielaller Phänomenologie soll es sein, nüchternes undklar nachvollziehbares Arbeiten in beständigemKontakt sowohl mit der unbefangenen Lebenser-fahrung als auch mit der wissenschaftlichen Empi-rie zu ermöglichen. An dieser Stelle greift Husserlpositivistische Ansätze auf und stellt fest:

7 Sagt »Positivismus« soviel wie absolut

vorurteilsfreie Gründung aller Wissen-

schaften auf das Positive, originär zu

Erfassende, dann sind wir die echten

Positivisten (ebd., S. 251).

Die Eigenart der phänomenologischen Methodebesteht folglich darin, das Gegebene unvoreinge-nommen und so genau und vollständig wie mög-lich zu beschreiben, jedoch nicht bei der reinenDeskription stehen zu bleiben, sondern das allge-meine Wesen, die Idee einer Sache zu ergründen(Danner 1994). Hier nun verabschiedet sich diePhänomenologie bereits wieder vom empirischenbzw. positivistischen Ansatz, denn sie lehnt es ab,ihre Erkenntnisse auf bestimmte Vorannahmen zugründen und theoriegeleitet vorzugehen; geradesolche Vorannahmen würden zu einer selektivenWahrnehmung führen und der realen Welt und denin ihr lebenden Individuen nicht gerecht werden(Schoppmann u. Pohlmann 2000, S. 362).

Theorien gefährden also – nach phänomenolo-gischer Sichtweise – die Unbefangenheit des for-schenden Subjekts,denn sie schieben sich zwischendie menschliche Erfahrung und »die Welt an sich«und verbauen den Blick auf »die Sache selbst«.Folglich möchte die Phänomenologie keineswegsnur empirisch gewonnene, theoriegestützte Beob-achtungen gelten lassen, sondern auch sinnlich-leibliche Erfahrungen, also »vorwissenschaftliche«Dimensionen berücksichtigen. Insofern ist der Er-

fahrungsbegriff Husserls entschieden weiter gefas-st als der empirische.

Für Husserl besitzt der Mensch die Grund-fähigkeit, sich von etwas zu unterscheiden und sichdamit darauf zu beziehen. Dies ist Voraussetzungdafür, überhaupt Probleme stellen zu können undan ihrer Lösung zu arbeiten. In seinen Schriftengeht es ihm auch um die Frage, welche Bedin-gungen zwischen dem Ich und seiner Lebensweltbestehen müssen, damit sich der Mensch der Weltund seiner selbst bewusst werden kann (Krüger1999, S. 120). Die Lebenswelt rückt deswegen insZentrum seines Interesses,weil sie für Husserl nichtnur als elementarster Orientierungszusammen-hang menschlicher Subjektivität angesehen werdenkann, sondern auch als eine Form konkret über-schaubarer Intersubjektivität, als erste und nieder-ste Stufe der Vergemeinschaftung, wie Husserl esnennt (Seiffert u. Radnitzky 1994, S. 249).

Die aktuelle Rezeption der Phänomenologie,die nicht nur von Edmund Husserl, sondern auchvon so bedeutenden Philosophen wie Max Scheler,Nicolai Hartmann, Martin Heidegger, Karl Jaspers,Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty (Wal-denfels 1992,S.9) geprägt wurde,hat mit der bereitserwähnten Rehabilitierung vorwissenschaftlicherErfahrung gerade in den Sozial- bzw. Humanwis-senschaften zu tun: Wissenschaftliche Forschungkann demnach auch bedeuten, an der Binnenper-spektive der »beforschten« Menschen teilzuneh-men,sie zu begleiten und sie erzählen zu lassen.DasMaterial, das so gewonnen wird, soll erst nachträg-lich reflexiv und systematisch bearbeitet werdenmit der ausdrücklichen Intention, die darinsteckende Lebendigkeit und Ursprünglichkeit zubewahren. Auf diesem Wege erhalten gleichzeitigdie Objekte der Forschung ihren Subjektstatuszurück, werden zum »Lehrmeister« der Wissen-schaft, wie es der französische Philosoph Levinasausdrückt; diesem »Anderen«, diesem »Lehrmeis-ter« hat die Forschung nicht nur Respekt zu zollen,sie ist ihm letztendlich auch verpflichtet (Krüger1999, S. 124).

Kritisch bleibt zu hinterfragen, ob die ver-meintliche »Sache selbst« der Phänomenologie,dieHusserl zu ergründen suchte, nicht immer aucheine »historisch Gewordene« sei – ob also die Ein-beziehung geschichtlicher und sozialer Hinter-gründe bei der Betrachtung eines Forschungsge-

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genstandes keine Blockierung der eigentlichenSicht, sondern eine notwendige Fundierung dar-stellt. Ferner ist – vor dem Hintergrund der sichabzeichnenden Pluralität der Vernünfte und derVielfalt der Subjektentwürfe – »die Vision eines ein-heitstiftenden Bewusstseins und eines in sich kon-sistenten Vernunftsubjektes« (ebd., S. 125) in Fragezu stellen.

10.2.3 Was ist Kritischer Rationalismus?

Wenn wir im Alltag rationale Entscheidungen tref-fen, so sprechen wir damit auf unser Denkvermö-gen, auf unsere Vernunft an – und kennen gleich-zeitig die irrationale,nicht vernünftige,nicht abge-wogene,undurchdachte Seite unseres Handelns.Imwissenschaftstheoretischen Zusammenhang meintRationalismus etwas ganz ähnliches, nämlich dieAuffassung, dass wir mit Hilfe unserer Vernunft inder Lage sind, die Wirklichkeit zu erkennen unddiese Erkenntnisse angemessen in unser Tun undHandeln umzusetzen (Seiffert u. Radnitzky 1994,S. 177).

Nun steht der Kritische Rationalismus in engerBeziehung zum bereits beschriebenen Empirismusund zum Klassischen Rationalismus und kann alsGegenbewegung zu diesem, aber auch als dessenWeiterentwicklung verstanden werden. Der Klassi-sche Rationalismus ging davon aus, dass es demMenschen möglich sei, sicheres Wissen zu erlan-gen, also mit Hilfe der Vernunft die Wirklichkeit zuerkennen; er baute auf die Gewissheit letzter, un-mittelbar einleuchtender Gründe.Der Kritische Ra-tionalismus setzt gegen solch eine totale Vernunftdie (selbst)kritische Vernunft und ist sich der Fra-gilität des Erkennens und des Wissens jederzeit be-wusst.

Bereits Sokrates unterschied scharf zwischendem echten Wissen und dem Meinen oder Glauben,wobei er echtes Wissen dadurch gekennzeichnetsah, dass es begründet und seine Wahrheit sicher-gestellt sei. Nach Aristoteles weiß man etwas, wennman den Grund erkennt, warum es so ist, und da-mit Gewissheit hat, dass es nicht anders sein kann.Dieses aristotelische Erkenntnisideal hat das wis-senschaftstheoretische Denken bis heute erheblichgeprägt. Das Musterbeispiel für ein Wissen dieserArt ist seit dem Altertum die euklidische Geo-

metrie, die als axiomatisch-deduktives System auf-gebaut ist,d.h.als ein System, in dem aus den ober-sten Sätzen (den Axiomen oder Postulaten) alle an-deren Sätze logisch gefolgert (deduziert), d. h. un-ter Verwendung logischer Regeln abgeleitetwerden.Alle Sätze dieses Systems scheinen in ihrerWahrheit gesichert zu sein, die obersten durch un-mittelbare Einsicht,die anderen durch logische Ab-leitung (Seiffert u. Radnitzky 1994, S. 178).

Zwar wiesen schon die sog. Skeptiker im Alter-tum darauf hin, dass die Einsicht in die Wahrheitder obersten Sätze auf Illusionen beruhen könnteund daher auch die sichere Unterscheidung zwi-schen Wissen einerseits und Meinen bzw. Glaubenandererseits durchaus illusionär sei – dennoch hiel-ten sich Aristoteles« Überlegungen bis in die früheNeuzeit (16.-17. Jhdt.); erst mit dem Einsetzen derAufklärung wurden sie (z. B. durch Hume undKant) einer schärferen wissenschaftstheoretischenKritik unterzogen, bis sie sich schließlich im 20.Jahrhundert als nicht grundsätzlich haltbar erwie-sen (selbst für die Mathematik, die »letzte Bastionder Gewissheit« axiomatisch-deduktiven Wissens,konnten Einstein und Russell ihre Gültigkeit wi-derlegen).

Karl Popper, Hauptvertreter des Kritischen Ra-tionalismus, der sich mit seinen Überlegungen vonseinen klassischen Vorläufern abgrenzte, suchtenach den Bedingungen der Möglichkeit von Er-kenntnis und entwickelte eine Wissenschaftslehre,die eine neue Antwort auf die Frage geben sollte,wie wir aus der Erfahrung lernen können (Popper1984). Für Popper ist die mit dem klassischen Wis-sensideal verbundene Forderung nach sicherer Be-gründung schon deshalb fragwürdig, weil jede Er-kenntnis, die man für eine solche Begründung be-nutzen will, selbst wieder in Frage gestellt werdenkann. Daher müsse die Forderung nach absoluterBegründung (und damit auch das alte Erkenntnis-ideal) aufgegeben werden, weil sie »utopisch« sei,d. h. ihre Erfüllung nicht im Bereich menschlicherMöglichkeiten liege.Keine Erkenntnis sei somit ab-solut sicher, immer seien Irrtümer denkbar, da derMensch bei der Lösung seiner Probleme stets fehl-bar sei.

Ebenso wie Popper betrachtet Hans Albert allunser Wissen als hypothetisch, als Vermutungswis-sen, das prinzipiell der Falsifizierung auszusetzenist,durch die Methode permanenter Kritik erhärtet

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230 Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft

und der Wahrheit näher gebracht oder verworfenwird (Albert 1981).So sind und bleiben die Resulta-te wissenschaftlicher Forschung letztendlich Hy-pothesen,deren Wahrheit nie sicher ist,die wir aberdennoch strengen Prüfungen aussetzen müssen,damit sie sich bewähren können. Immer wiedermüsse davon ausgegangen werden,dass eine Theo-rie (z. B. die Theorie Newtons) für lange Zeit als si-cher und wahr angesehen werde, bis sie durch eineneue Theorie mit höherer Erklärungskraft (z.B.dieTheorie Einsteins) abgelöst würde. Wir haben alsoAnlass,auch ihre Wahrheit nicht als gewiss anzuse-hen, sondern nur als »hypothetisch«. Im KritischenRationalismus wird die Suche nach inhaltlicher Er-kenntnis und damit auch die Suche nach Wahrheitdamit keinesfalls aufgegeben, wohl aber die Suchenach absoluten Begründungen und damit nach Ge-wissheit.

Popper geht davon aus, dass am Anfang jegli-cher Wissenschaft die Theorie steht und jede Be-obachtung nur im Lichte einer Theorie Bestand hat.Man gewinnt – so Popper – auf der Erfahrungs-grundlage keine neuen Erkenntnisse, sondern die-se ergeben sich nur durch die Aufstellung vonTheorien. Theorien beanspruchen solange Gültig-keit (nicht »Wahrheit«), wie sie nicht falsifiziertwerden, und haben so formuliert zu sein, dass sieallgemeingültig bleiben, also nicht abhängig sindvon Zeit und Raum. Wenn Theorien Aussagensys-teme über die Wirklichkeit sind, dann lassen sichfolgende Merkmale von Theorien aufzeigen: Theo-rien sind Systeme von4 in sich widerspruchsfreien Sätzen,4 allgemeingültigen (universalen) Sätzen,4 falsifizierbaren Sätzen,4 wertfreien Sätzen,4 nachprüfbaren Sätzen.

Gerade am Aspekt der Wertfreiheit wissenschaftli-cher Aussagesysteme oder -sätze, den der KritischeRationalismus propagiert, entzündete sich einerege Diskussion (u. a. mit Vertretern der KritischenTheorie): Der Kritische Rationalismus räumte ein,dass Wertaussagen durchaus Gegenstand wissen-schaftlicher Analysen sein können, zumal die Wis-senschaft selbst in gesellschaftliche Verhältnisseeingebettet ist, in denen Normen und Werte insti-tutionalisiert sind. Er beharrte aber darauf, dass inden Aussagesystemen der Wissenschaft keine Wert-

urteile vorkommen dürften, diese seien als unwis-senschaftlich auszuschließen.

10.2.4 Was ist Hermeneutik?

Hermeneutik ist die Auslegekunst, die wissen-schaftliche Theorie der Erklärung bzw. der Inter-pretation. M. Riedel nennt sie auch »die Lehre vomVerstehen und Sichverständigen« (Riedel 1978,S.9).Ihr geht es um einen methodisch orientierten Um-gang mit sinnhaften Dokumenten.Ziel der Herme-neutik ist es, eine Wissenschaftstheorie oder zu-mindest eine Wissenschaftsmethode der interpre-tierenden Sinnvermittlung zu konstituieren,als eineigenständiges Forschungs- und Erkenntnisvorge-hen zu entwickeln,dass sich ganz auf Verstehen undInterpretieren konzentriert.

Hermeneutisches Vorgehen zur Herstellungvon Sinnerkenntnis ist vor allem in den klassischengeisteswissenschaftlichen Disziplinen wie Sprach-wissenschaft, Geschichte, Theologie, Philosophie,Psychologie gefragt,aber natürlich auch in der Pfle-gewissenschaft, der Pädagogik, der Soziologie, derRechtswissenschaft, ja eigentlich auch in der Me-dizin.

Jede Äußerung einer Person, einer Gruppe, ei-ner Gesellschaft oder einer Kultur,sei sie überliefertals mündliche Mitteilung, als gestisch-mimischeDarstellung, als sprachlicher Text, als künstlerischgestalteter Ausdruck, soll in ihrer Aussage und inihrer Bedeutung erfasst und verstanden werden.Dabei haben wir es aber oft mit einem mehrfachenSinn zu tun:4 Rechtswissenschaftler z. B. fragen bei der An-

wendung der Gesetze nach dem Willen des Ge-setzgebers (»wie hat er dieses Gesetz, diesenSatz… gemeint?«),nach der Systematik oder in-neren Logik des Gesetzes,nach der heutigen Be-deutung und Anwendungsmöglichkeit des Ge-setzes.

4 Historiker suchen sowohl nach den »objektivenFakten« einer historischen Situation (»wie wares wirklich?«) als auch nach den subjektiven Be-findlichkeiten der historisch handelnden Per-sonen, nach dem Sinn, den sie ihren Handlun-gen gaben.

4 Theologen studieren die Schriften und suchennach dem »göttlichen Wort«, nach den Bedeu-

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10.2 · Skizzen zu verschiedenen wissenschaftstheoretischen Ansätzen10231

tungen der Äußerungen der Evangelisten, nachder heutigen Anwendbarkeit der überliefertenGlaubensregeln.

Berühmt im Verfahren der Sinnerschließung ist dersog. Hermeneutische Zirkel: Das Erfassen des Ge-samten (Textes) setzt immer das Verstehen der Be-standteile voraus – das Verstehen der Bestandteilesetzt immer eine Idee des Gesamtsinnes voraus.An-ders ausgedrückt: Der Sinn eines Satzes setzt sichaus der Bedeutung der einzelnen Wörter zusam-men, die Bedeutung der einzelnen Wörter ist aberihrerseits nur im Lichte des Gesamtsinnes zu ver-stehen (Geldsetzer 1994, S. 137).

Für Wilhelm Dilthey erhebt die Hermeneutikden Anspruch, durch die historisch-gesellschaftli-chen und die individuellen Bedingungen hindurchden »allgemeinen Geist« zu erfassen (Dilthey 1900).So finden wir die Idee der identischen Reprodukti-on fremden Seelenlebens z.B.beim Schreiben einerBiographie: Wer über »Ruth Schröcks Beitrag zurAkademisierung der Pflege« referiert,der wird sich– möglichst auf der Basis von Originaltexten,Inter-views, Gesprächsprotokollen usw. – in die Gedan-kenwelt der Protagonistin einarbeiten und denKontext an persönlichen, institutionellen, gesell-schaftlichen Bedingungen für ein tieferes Ver-ständnis hinzuziehen.

Nach Hans-Georg Gadamer müssen wir stetsden Sinn-Horizont des aussagenden Subjekts (undseinen individuellen wie auch gesellschaftlichenund kulturellen Kontext) mit unserem Gegen-wartsbewusstsein und den darin enthaltenen Vor-Urteilen konfrontieren (Gadamer 1986). Gelingen-des Verstehen hieße, zu einer Horizontverschmel-zung zu gelangen.Nach einer Bemerkung Kants hatdie Hermeneutik den Anspruch,Aussagen und Tex-te besser zu verstehen, als die Urheber sich selbstverstanden haben.

Unterschiedliche Kritikpunkte werden gegen-über der Hermeneutik geäußert:4 Die empirisch-analytischen Wissenschaften

werfen der Hermeneutik vor, unexakt, willkür-lich, spekulativ zu sein und es niemals zu errei-chen, exakte, formalisierte (verifizierte bzw.falsifizierte), wahre Erkenntnisse zustande zubringen.

4 Die Psychoanalyse (selbst eigentlich eine her-meneutisch vorgehende Methode) wirft der

traditionellen Hermeneutik vor, Gehalte desUnbewussten bei der Sinnerschließung vonAussagen und Texten zu wenig zu berücksich-tigen.

4 Die Kritische Theorie verweist darauf,dass manAussagen, Texte, Kommunikation überhauptstets nur im Kontext von Interessen, von Herr-schaft, von Macht verstehen kann, dass Kom-munikation also nie zwanglos und herrschafts-frei sei.

Diese Vorwürfe, vor allem jener der mangelnden»Wahrheit«, sind für die Weiterentwicklung derWissenschaftstheorie in Richtung »Systemtheorie«durchaus von Bedeutung gewesen.Zur Dispositionsteht die Frage nach der »Wahrheit« überhaupt,dieletztendlich im »Konstruktivismus« radikal be-zweifelt wird. Es lässt sich ja durchaus behaupten,dass keine hermeneutisch gewonnene Erkenntnisfür sich beanspruchen kann, wahr zu sein. Dennjede Textauslegung, jede Horizontverschmelzungdes produzierenden und des rezipierenden Sinneskann als mehr oder minder gelungen und reflek-tiert, als fachgerecht oder stümperhaft, als zulässigoder unzulässig betrachtet werden, aber eigentlichnicht als wahr oder falsch.

10.2.5 Was ist Kritische Theorie?

Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule stelltden Versuch dar, wissenschaftliche Forschung mitsozialphilosophischer Reflexion und gesellschafts-kritischer Analyse zu verbinden.In Abgrenzung zurreinen Hermeneutik, die den Gegenstand ihrer Er-kenntnis im ideengeschichtlichen Kontext verortet,und auch im Kontrast zur Empirie, die nur punk-tuelle Bereiche der Wirklichkeit in Augenscheinnehmen kann, ist die Kritische Theorie darumbemüht, forschendes Handeln als gesellschaftlichePraxis zu erfassen und den Zusammenhang zwi-schen dem System Wissenschaft und dem SystemHerrschaft stets mit zu beleuchten.

Ihre größte Resonanz erzielte die KritischeTheorie im Wissenschaftsbetrieb der 60er und 70erJahren des 20. Jahrhunderts – stark beeinflusst vondem Versuch einer Aufarbeitung der Erfahrung to-talitärer Herrschaft und ihrer gesellschaftlichenbzw. ökonomischen Begründungszusammenhän-

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232 Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft

ge. Namen wie Max Horkheimer, Theodor W. Ador-no, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas stehenfür diesen wissenschaftstheoretischen und gleich-zeitig gesellschaftstheoretischen Ansatz. Der Be-griff der Kritischen Theorie ist ursprünglich einemAufsatz Horkheimers aus dem Jahre 1937 entnom-men,in welchem dieser in Auseinandersetzung mitder empirisch-analytischen Verfahrensweise dieGrundgedanken einer kritischen Gesellschafts-theorie formulierte.

Empirisch-analytische Forschungen,von Hork-heimer auch traditionelle Theorien genannt,gebennach Einschätzung der Kritischen Theorie lediglichvor, allein der Erweiterung unseres Tatsachenwis-sens zu dienen; sie richten sich, auch wenn sie denMenschen oder die Gesellschaft zum Gegenstandhaben, ganz nach dem Vorbild naturwissenschaft-licher Theoriebildung. Ihre wissenschaftstheoreti-sche Reflexion beschränkt sich auf das Auffindenjener normativen Verfahrensregeln, die das Über-prüfen empirischer Hypothesen ermöglichen.Die-se Regeln sind notwendigerweise rein formal, dasie für die Wissenschaften insgesamt Gültigkeit be-anspruchen.

Nun ist aber für die Kritische Theorie ein sol-ches Verfahren deswegen einseitig und unvollstän-dig, weil es die Zusammenhänge zwischen wissen-schaftlich untersuchten Phänomenen und gesell-schaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissenunterschlägt. Denn nicht nur im Bereich der So-zialwissenschaften ist die Reflexion solcher Inter-dependenzen unverzichtbar: Auch in den sog. Na-turwissenschaften muss kritisch hinterfragt wer-den, welches die erkenntnisleitenden Interessendieses oder jenes Forschungsauftrages seien (Ha-bermas 1973).Die Kritische Theorie nimmt also we-niger Anstoß am Regelsystem des empirisch-ana-lytischen Ansatzes als vielmehr an seiner verengtenSichtweise der Wirklichkeit.

Anders formuliert: Indem die empirisch-ana-lytische Wissenschaftstheorie sich darauf be-schränkt, rein formal die Regeln einer allgemeinenWissenschaftslogik aufzustellen, versäumt sie esnach Ansicht der Kritischen Theorie,die Frage nachder Einbettung des wissenschaftlichen Auftrages indie gesellschaftliche Wirklichkeit zu stellen. Dennes sei keineswegs angemessen, die wissenschaftli-che Vernunft in die Position einer Gesamtvernunftzu heben. Vielmehr handelt es sich umeine sehr

partielle, interessengeleitete Vernunft, die daraufausgerichtet ist, instrumentalisierbares Erfah-rungswissen zu produzieren.Hiermit können zwarMenschen die Welt verändern, sie können sowohlim naturwissenschaftlichen als auch im sozialwis-senschaftlichen Bereich Handlungsanweisungenfür zielgerichtetes technisches Handeln formulie-ren.Aber das Ziel menschliches Handelns, konkretdie Frage, ob ein angestrebter zukünftiger Zustandbesser ist als der gegenwärtig vorhandene, bleibtnach Ansicht der Kritischen Theorie bei den reinempirisch orientierten Wissenschaftsdisziplinenaußerhalb der wissenschaftlichen Rationalität.IhreHandlungsziele werden vielmehr im vorwissen-schaftlichen Raum der Gesellschaft formuliert undoft unreflektiert bzw. ohne eine vernünftige Kon-trolle von den Wissenschaften akzeptiert und um-gesetzt.

10.2.6 Was ist SymbolischerInteraktionismus?

Nimmt man die Intentionalität menschlichen Han-delns in Augenschein, so stellt man recht bald fest,dass das Motiv für eine bestimmte Handlung nichtnur in der Individualität einer Person begründetliegt,sondern ebenso sehr im Erwartungshorizont,dem diese Person ausgesetzt ist.Die Partnerin oderder Partner, die Familie, die Gruppe, die Gesell-schaft prägen unsere Handlungen und Interaktio-nen, und die Sozialpsychologie vor allem widmetsich der Untersuchung solcher Strukturen und Ab-hängigkeiten. In ihrem Blickwinkel ist »Leben«stets ein »Handeln in Gegenseitigkeitsbeziehun-gen«.

Der Symbolische Interaktionismus ist nun einewissenschaftstheoretische Richtung, die sich starkan die Sozialpsychologie anlehnt und sich vor allemauf die Schriften von G. H. Mead beruft. Ihm gehtes um die Überwindung des Dualismus von Geistund Materie, Subjekt und Objekt; für Mead lässtsich der Erfahrungsbegriff nicht zerlegen in einindividuelles Bewusstsein einerseits und eine ob-jektive Realität andererseits,sondern muss im Rah-men einer dynamischen Bezogenheit von erfah-rendem Individuum und erfahrener Realität gese-hen werden. Im Zentrum steht dabei ein Modell, indem es um die Herstellung von Bedeutungen, um

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die Reaktion auf solche Bedeutungen und um dieGemeinsamkeit von Bedeutungen zwischen meh-reren Handelnden geht. Handeln orientiert sich –nach Mead – an der antizipierten Reaktion des an-deren; umgekehrt konstituiert die Möglichkeit derÜbernahme der Rolle des anderen das eigeneSelbst, die Vorwegnahme der eigenen Reaktion aufdie vorweggenommene Erwartung des anderen.

Mead unterscheidet Gesten (Handlungen, diebeim anderen eine Reaktion unmittelbar auslösen)und Symbole (die Reaktion wird durch die Bedeu-tung der Handlung ausgelöst, nicht reflexartig, wiebei der Geste). »Signifikante Symbole« haben einegemeinsame Bedeutung für beide Interaktionspart-ner. Die Orientierung am anderen erfolgt nur beimKind an konkreten Personen, später an einem »ge-neralisierten Anderen«, einer vorweggenommenenErwartung an das eigene Handeln (Mead 1973).

Meads philosophisch / handlungstheoretischeAnsätze wurden später in zwei verschiedene Rich-tungen weiterentwickelt: Einerseits zu einer Per-sönlichkeits- und Sozialisationstheorie, anderer-seits zu einer gesellschaftstheoretischen Haltung,inder die »soziale Konstruktion der Wirklichkeit« imVordergrund steht.Der symbolische Interaktionis-mus ist außerdem für die Soziologie wichtig ge-worden, weil von dieser Position aus die üblicheRoutine der empirisch-analytischen Sozialfor-schung grundlegend angezweifelt wurde. Der sym-bolische Interaktionismus selbst bevorzugt Be-obachtungsmethoden und Interpretationen vonAlltagsereignissen, um den Zugang zu den Bedeu-tungen zu bekommen, die die Handelnden selbstihren Welten und ihrem Tun darin geben.

Von diesem Ansatz her hat es im symbolischenInteraktionismus immer eine Neigung zur Be-trachtung und Untersuchung von Lebensweisen als»Subkulturen« und damit auch von »abweichen-den« Lebensweisen gegeben.Vom allgemeinen Ge-danken ausgehend, dass es sich bei den »Eigen-schaften« von Menschen um Zuschreibungen han-delt, die mit Hilfe von Kontrollprozeduren (wiePrüfungen, ärztlichen, psychologischen, polizeili-chen Untersuchungen) hergestellt werden, hat da-her die aus dem symbolischen Interaktionismusstammende »Etikettierungstheorie« (der »labelingapproach«) in demjenigen Zweig der Soziologie,diesich speziell mit abweichendem Verhalten befasst,große Bedeutung erhalten.

Dieser Ansatzpunkt, der auch den Begriff der»sozialen Konstruktion der Wirklichkeit« geprägthat und insofern erste Ansätze des Konstruktivis-mus aufscheinen lässt, gibt dem symbolischen In-teraktionismus eine gewisse Affinität zu wissen-schaftstheoretischen Fragestellungen, die sich kri-tisch mit der gesellschaftlichen Funktion vonwissenschaftlicher (vor allem soziologischer undpsychologischer) Begriffsbildung und Theorie be-fassen.Wenn sich nämlich sozialwissenschaftlichesWissen zur sozialen Kontrolle eignet und auchtatsächlich dazu verwendet wird, stellt sich unaus-weichlich die Frage, auf welcher Seite die Wissen-schaftlerin / der Wissenschaftler im Prozess der ge-sellschaftlichen Anwendung wissenschaftlicher Er-kenntnis steht. Insofern handelt es sich beimsymbolischen Interaktionismus um einen Ansatz,der einerseits zur Selbstreflexion zwingt, anderer-seits aber dabei seine eingeschränkte Reichweiteerweist und den Einbau in umfassendere gesell-schaftstheoretische Konstruktionen nahe legt.

10.2.7 Was ist Handlungstheorie?

Wenn wir heute von quantitativen und qualitativenForschungsmethoden auch im Bereich der Erzie-hungswissenschaften, der Pflegepädagogik und invielen anderen Disziplinen sprechen, dann rückenzwei wissenschaftstheoretische Begründungen insBlickfeld, die diesen Richtungen zugrunde liegenund die sich vor 30 Jahren noch heftig befehdeten,während sie heute eine gelassene Form der Koexis-tenz – selbst innerhalb eines Fachbereiches, jainnerhalb einer Person – gefunden haben.Dem be-reits besprochenen Empirismus, der als quantitati-ve Forschung ja den Anspruch absolut objektivier-ter Verfahrenweise erhebt, stand bzw. steht dieHandlungstheorie gegenüber,die nicht nur den Ab-schied von der »objektiven Forschung« billigend inKauf nimmt, sondern in Form der Handlungsfor-schung / Aktionsforschung (»action research«)durchaus subjektiv, bewusst und zielgerichtet inden Forschungsprozess und in die Praxis handelndeinzugreifen versucht.

Die Handlungstheorie, die gerade in den Berei-chen der Pädagogik, der Soziologie und der Sozial-psychologie beheimat ist, kritisiert am Empiris-mus, dass dieser die Erkenntnisziele seiner Unter-

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234 Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft

suchungen allein aus den Bedürfnissen der Theoriebzw.administrativer Auftraggeber herleite und denkommunikativen Diskurs mit den »beforschten«Menschen vermeide.So führe die Verwendung em-pirischer Methoden im Bereich der Humanwissen-schaften dazu,dass die Versuchspersonen in einemStatus der Unmündigkeit gehalten würden und we-der am Forschungsauftrag noch am Forschungs-prozess und schon gar nicht an der Auswertung derForschungsergebnisse beteiligt würden.

Im Gegensatz dazu setzt also die Handlungs-oder Aktionsforschung auf die kommunikative Be-teiligung aller am Forschungsprozess partizipie-renden Personen; sie hebt damit die im Wissen-schaftsbetrieb sonst übliche Trennung von Theorieund Praxis auf:

7 Die Beteiligten analysieren das gemein-

sam erlebte und handelnd beeinflusste

Geschehen im Rahmen kollektiver Refle-

xionen (sog. Diskurse), nicht mit dem

Anspruch allgemeingültige Erkenntnis-

se zu abstrahieren, sondern lediglich zur

Steuerung der weiteren, wiederum refle-

xionsbedürftigen Praxis (Eberhard 1999,

S. 51).

Nun sind allerdings – auf wissenschaftstheoreti-scher bzw. erkenntnistheoretischer Ebene – Hand-lungen nur schwer begrifflich zu fassen,denn in siegehen eine ganze Reihe von Komponenten ein(Handlungen als Summe von Bewegungen, als un-bewusst ausgeführte Impulse, als Willensakte, alsgesellschaftlich tradierte Rituale usw.). So verstri-cken wir uns bei der Betrachtung von Handlungenin eine Vielzahl möglicher Perspektiven und Inter-pretationen,die zwar im Diskurs reflektiert werdenkönnen,aber theoretisch kaum aufzuarbeiten sind.Einen Beschreibungsrahmen, eine wissenschaftli-che Kennzeichnung im Sinne einer verbindlichenBegrifflichkeit und eine Klassifikation von Hand-lungen lässt sich nicht exakt aufstellen.

Einige Vertreter der Handlungsforschung ha-ben daraus die Konsequenz gezogen, in ihren Pro-jekten Methoden der Handlungsforschung mit em-pirischen und hermeneutischen Verfahren zu ver-knüpfen, andere haben sich von den klassischenGütekriterien der Wissenschaft wie Objektivität,Validität und Reliabilität konsequent verabschiedet

und an ihre Stelle Aspekte wie »Transparenz« und»Stimmigkeit« der Funktionen, Ziele und Metho-den gesetzt (Krüger 1999, S. 190 ff.). Ihnen ist eswichtig,ein (ziel-)offenes und innovatorisches For-schungskonzept anzuwenden und nicht vorab undunumstößlich, sondern erst während des For-schungsprozesses selbst die untersuchten Frage-stellungen und die einzusetzenden Methoden zuentwickeln bzw. zu präzisieren. Im Sinne einerkomplexen und dynamischen Betrachtungsweisedes Untersuchungsfeldes ist damit die Handlungs-forschung nicht mehr allzu weit von der systemi-schen Sichtweise entfernt, von der noch zu spre-chen sein wird.

10.2.8 Was ist Konstruktivismus?

Der Konstruktivismus hat die erkenntnistheoreti-sche Auseinandersetzung zwischen realistischerund idealistischer Position neu belebt. Den Kern-punkt dieser Auseinandersetzung bildet seit jeherdas erkenntnistheoretische Problem, inwieweiteine objektive, äußere Welt durch den Menschenerkannt werden kann und wie verlässlich eine sol-che Erkenntnis ist.Wie gestaltet sich das Verhältnisvon Materie und Bewusstsein? Die realistische,antikonstruktivistische Position geht von einer er-kennbaren Außenwelt aus,die im Prinzip durch Er-fahrung (bzw. durch wissenschaftliche Bemühun-gen) angeeignet werden kann.Bewusstsein als Pro-dukt des Zentralnervensystems wird letzten Endesals Widerspiegelung der materiellen Welt angese-hen und besitzt insoweit keinen selbständigen In-halt.

Im Sinne des Konstruktivismus ist eine Er-kenntnis der Welt »wie sie ist« jedoch nicht mög-lich. Das Verhältnis von Wissen und Wirklichkeitkann nicht als mehr oder minder bildhafte Über-einstimmung,sondern nur als Anpassung im funk-tionalen Sinne verstanden werden: Theorien sindWirklichkeitskonstruktionen und müssen zur Um-welt »passen« (Kirchgässner 1994). Im Mittelpunktdes erkenntnistheoretischen Interesses des Kon-struktivismus steht also das Problem der Wissens-konstruktion beim Menschen. Nach Ansicht derKonstruktivisten hat der Mensch keinen Zugang zueiner unabhängigen Realität. Als Erzeuger seinerWirklichkeiten kann er seine Kognitionen nur im

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eigenen Erfahrungsbereich vergleichen. Erst überdie Sprache ist er in der Lage, mit anderen eine ge-meinsame »sprachliche« Wirklichkeit zu gestalten.

Der Konstruktivismus bestreitet folglich dieMöglichkeit, dass unser Erkennen in der Lage sei,unabhängige Gegenstände abzubilden bzw. dasseine Übereinstimmung von Erkenntnis und Ge-genstand erreicht werden kann. Der Verzicht aufdie Annahme, dass ein Zugang zu einer unabhän-gigen Welt möglich sei, führt dazu, das Strebennach einer absoluten Wahrheit aufzugeben. Objek-tivität als Kriterium des Wissens entfällt, sie wirddurch kommunikative Brauchbarkeit ersetzt. Letz-tere kommt vor, wenn eine Erkenntnis den Men-schen, die gemeinsame Ziele haben, ermöglicht,ihre Anstrengungen kommunikativ zu vereinbarenund das Ziel zu erreichen.

Bezüglich der Forderung nach Wertfreiheit derWissenschaft(en) vertritt der Konstruktivismuseine ganz andere Position als z. B. der KritischenRationalismus: Für die Frage,ob ein Satz im unvor-eingenommenen Diskurs als wahr akzeptiert wirdoder nicht, spielt es im Prinzip keine Rolle, ob die-ser Satz Aussagen über Wirklichkeiten oder Wert-urteile beinhaltet. Die Verfahren zur Begründungtheoretischer und praktischer Sätze fallen zusam-men. Damit ist die prinzipielle Dualität zwischenTatsachenaussagen und Wertbehauptungen aufge-hoben (Kirchgässner 1994, S. 164).

Kritisch muss hier allerdings angemerkt wer-den, dass in konstruktivistischer Perspektive jedeErkenntnis nur ein Akt isolierter Individuen seinkann. Der Erkenntnisprozess selbst wird ohne sei-ne kulturelle Vermitteltheit beschrieben; insofernversäumt es der Konstruktivismus als Wissen-schafts- bzw.Erkenntnistheorie,Aussagen zum kul-turellen Vorrat an Wissen, Bildern, Medien usw. zumachen. Denn: Jedes Individuum wächst bereits ineine von Menschen für Menschen sinnhaft vor-strukturierte Wirklichkeit hinein und »erfindet«,also konstruiert substanzielle Einheiten von »Welt«nicht individuell jeweils neu. Und nicht nur Indivi-duen, sondern auch Gesellschaften erzeugen bzw.übernehmen »Realität«. Insofern ist der Satz vonH. V. Foerster, dass die Welt nicht gefunden, son-dern erfunden wird, unseres Erachtens eine Ver-kürzung, da in dieser Aussage die gesellschaftlicheMit-Konstruktion allen menschlichen Lebens undErlebens vernachlässigt wird.

10.2.9 Was ist Systemtheorie?

Nicht nur im wissenschaftlichen Sprachgebrauch,sondern auch im Zusammenhang mit konkretenökonomischen und sozialen Problemstellungen istgegenwärtig die Benutzung von Begriffen wie Syn-ergetik oder Selbstorganisation populär und selbst-verständlich. Damit deutet sich an, dass System-theorie heute mehr ist als ein wissenschaftstheore-tischer Ansatz. Es handelt sich durchaus um eineneue Art, die Welt zu begreifen und zu klassifizie-ren. In diesem Sinne hat die Systemtheorie in vie-len Institutionen und Anwendungsbereichen derWissenschaft Einzug gehalten. Ein Grundgedankeder Systemtheorie ist es nämlich, die Gemeinsam-keiten physikalischer, biologischer und gesell-schaftlicher Systeme aufzudecken und damit diealte Trennung von Natur- und Geisteswissenschaf-ten zu überwinden (Kriz 1999).Als Grundlage die-ses Denk- und Handlungsmodells werden die Ky-bernetik, die Kommunikationstheorie und derKonstruktivismus angesehen. Großen Einfluss aufden systemischen Ansatz hatten die Arbeiten desNeurobiologen H. R. Maturana (Maturana 1982)und des Soziologen N. Luhmann (Luhmann 1984).Im Folgenden sollen einige Kernpunkte den sys-temtheoretischen Ansatz skizzieren:4 Wir unterscheiden zwischen geschlossenen Sys-

temen, die es nur in der unbelebten Sphäre ge-ben kann, und offenen Systemen, zu denen allebiologischen, psychischen, sozialen und kultu-rellen Systeme zu zählen sind. In solchen offe-nen oder dynamischen Systemen herrscht Be-wegung und gegenseitige Abhängigkeit. Diesbedeutet, dass die Beeinflussung einer Einheit(»Entität«) oder der Beziehung einer Einheit zueiner anderen das ganze System und alle seineTeile beeinflusst.

4 Systeme werden durch ihre Grenze zur Umge-bung definiert. Alles innerhalb der Grenzegehört zum System, alles außerhalb nicht. DieGrenzen schützen die Systemstruktur und sei-ne Funktionen. Systemgrenzen können rigideoder flexibel sein. Damit Systeme zufrieden-stellend funktionieren,müssen die Grenzlinienklar und deutlich markiert, aber zugleich flexi-bel sein. Damit fördern sie die innere Stabilitätund die notwendige Offenheit für Anpassungund Entwicklung aufgrund von Veränderungen

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236 Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft

innerhalb oder außerhalb des Systems. StarreGrenzen verhindern den Austausch mit ande-ren Systemen und führen zu Isolation und Stag-nation. Schwache und undeutliche Grenzenschaffen Unklarheit bezüglich Differenzierun-gen und Funktionen innerhalb des Systems.

4 Systeme sind autopoietisch, d. h. ihre Funk-tionen sind darauf gerichtet sich selbst zu er-neuern, also ihre anabolischen (aufbauenden)und katabolischen (abbauenden) Kräfte zu-mindest im Gleichgewicht zu halten.

4 Systeme sind dynamisch, d. h. Bewegung, Inter-aktion und Wechselwirkung finden innerhalbder Systeme ständig und als Resultat der Inter-aktion mit der Umgebung statt.Die Prozesse in-nerhalb der Systeme sind zirkulär oder spiral-förmig. Soziale Systeme sind also offen, ständigin Bewegung und befinden sich in einem fort-währenden Veränderungsprozess.

4 Wie biologische haben soziale Systeme eineZielrichtung,sie sind intentional.Während sichdie Systeme in einem konstanten Verände-rungszustand befinden,müssen sie gleichzeitigihre Identität gegenüber der Umgebung wah-ren. Systeme sind also nie statisch, sondernbewegen sich in ständig wechselndem Zusam-menspiel zwischen verändernden und hem-menden Prozessen. Die Veränderungsanforde-rungen müssen jedoch so reguliert und korri-giert werden können,dass sie sich in das Systemintegrieren lassen (Bernler u. Johnsson 1997).

Wir merken an dieser Stelle schon: Die Aneignungder systemtheoretischen Sichtweise ist nicht ganzeinfach, es stellt unser gewohntes Denken in Line-arität und Kausalität in Frage. Das systemtheoreti-sche Denken hingegen ist zirkulär,die Umwelt wirdunter den Aspekten »Beziehungen«, »Interaktio-nen«, »Transaktionen« und »Zusammenhängen«betrachtet.

«Die Gesamtheit« ist ein zentraler Begriff derSystemtheorie, auch er fordert unsere traditionelleDenkweise heraus. Es ist einfach zu sagen: »Alleshängt mit allem zusammen!«,aber viel schwieriger,Daseinszusammenhänge zu begreifen und dietatsächliche gegenseitige Beeinflussung verschie-dener Teile bzw.Einheiten erkennen zu können.So-ziogramme,Organigramme,Strukturbeschreibun-gen u. ä. reichen nicht aus, um die Beeinflussungs-

aspekte zu begreifen, da in ihnen die Prozesshaf-tigkeit der Interaktionen und Rückkopplungenkaum adäquat darstellbar sind.

Von besonderer Bedeutung für die Pflegepä-dagogik wie für andere humanwissenschaftlicheDisziplinen ist also die Abkehr von einem linearenUrsache-Wirkungsdenken zu einem zirkulärenSystemmodell,nach dem die Wirklichkeit eines In-dividuums untrennbar mit seinem Kontext ver-bunden ist. Dies bedeutet, dass das Verhalten vonPersonen nur im Zusammenspiel der für sie wich-tigen Beziehungen verstanden werden kann. DieImplikationen, die sich aus diesem Paradigma fürdas pädagogische wie auch das therapeutische Ver-stehen und Handeln ergeben, sind fundamental.

Bleibt ein weiterer Aspekt der Systemtheorie zuerwähnen, der uns in ähnlicher Form schon vonder Hermeneutik her vertraut ist und der ein ge-wisses Paradox darstellt: Wollen wir einen Gegen-stand / eine Person im Sinne der systemischenSichtweise näher betrachten und begreifen,so müs-sen wir die Gesamtheit von den Teilen her verste-hen und die Teile aus der Gesamtheit – ja, wir kön-nen die Teile nur von der Gesamtheit her verstehen,in die sie eingehen. Aber: »Gesamtheit« erschließtsich durch die Analyse der Teile und deren innererWechselwirkung nie vollständig (das Ganze ist stetsmehr als die Summe seiner Teile); ebenso besitzendie »Teile« durchaus Eigenschaften »an sich« undlassen sich insofern nicht vollständig reduzierenauf ihre Rolle und Funktion im größeren Zusam-menhang.

10.2.10 Ausblick

Es wäre vermessen, die Skizzen zu den verschiede-nen Erkenntnisansätzen im Bereich der Wissen-schaft mit einem Fazit, einer Bewertung gar, zu be-enden. Die Pflegepädagogik befindet sich auf demWege, ihre eigenen Forschungsfragen und Lehr-konzepte aufzustellen und die dazu notwendigenTheorien und Methoden zu entwerfen und zu prü-fen; sie bedient sich dabei des Spektrums beste-hender wissenschaftstheoretischer Ansätze, ohnederen Entstehung und Entwicklung noch einmaldetailliert – quasi ontogenetisch und phylogene-tisch – durchleben zu müssen.

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10.3 · Hinweise zum wissenschaftlichen Arbeiten10237

Jede wissenschaftlich ambitionierte For-schungsarbeit in der Pflegepädagogik wird abereine Entscheidung treffen müssen über die Anwen-dung quantitativer oder qualitativer Forschungs-verfahren.Bei der Darstellung des Empirismus unddes Kritischen Rationalismus wurde bereits er-wähnt, welche Schrittfolge bei der Prüfung wissen-schaftlicher Hypothesen zu beachten ist. Immergeht es, wenn wir uns für quantitative Forschungentscheiden,um solche forschungsleitenden Hypo-thesen, die einer Messung unterzogen und mit Hil-fe statistischer Verfahren ausgewertet werden. Zieldieses Vorgehens ist es,zu gesetzesartigen Aussagenzu gelangen,die allerdings – so folgen wir Popper –nicht prinzipiell verifizierbar sind, sondern immernur vorläufige Geltung erlangen können.

Begeben wir uns auf den Weg der qualitativenForschung (»qualitativ« meint natürlich nicht dieQualität der Forschung – gerade die Vertreter derquantitativen Forschung würden hier Einsprucherheben und postulieren,dass ihre Erkenntnisse oftqualitativ wertvoller seien als die der qualitativenForschung !), so gelangt die Lebenswelt, die Le-bensgeschichte und das soziale Handeln in unserBlickfeld. Es geht also der qualitativen Forschungum einen möglichst unvoreingenommenen, un-mittelbaren Zugang zum jeweiligen sozialen Feldunter Berücksichtigung der Weltsicht der dort Han-delnden. Im Gegensatz zu dem streng theorie- undhypothesengeleiteten Vorgehen der quantitativenForschung ist sie darum bemüht,Abstraktionen ausErfahrung zu generieren und dabei einen Rückbe-zug auf diese Erfahrungen kontinuierlich aufrechtzu erhalten (Krüger 1999, S. 202).

Bei der Darstellung der Phänomenologie, desSymbolischen Interaktionismus und vor allem derHandlungstheorie hatten wir ja bereits gesehen,dass einige wissenschaftstheoretische Ansätzenicht davor zurückschrecken, sich mit dem »zu be-forschenden Objekt« auf gleiche Augenhöhe zu be-geben, also von der »Verdinglichung« der For-schungsgegenstände – vor allem dann,wenn es sichdabei um einzelne Menschen oder Menschen-gruppen handelt – abzusehen und ihnen ihrenSubjektstatus wiederzugeben. Qualitative For-schung legt ihren Schwerpunkt auf Lebenswelt-studien und strebt eine möglichst authentische undkomplexe Erfassung der Perspektiven der Han-delnden an.

10.3 Hinweise zum wissenschaftlichenArbeiten

10.3.1 Einleitung

Damit wären wir bei den Anforderungen, die sichan die konkrete wissenschaftliche Arbeit stellenund folglich im Bereich der Pflegepädagogik wie injeder anderen wissenschaftlichen Disziplin beach-tet werden sollten. Wir wollen zu diesem Zwecküber »präzise« und »konsistente« Begriffe nach-denken, Aspekte wie »Reliabilität« und »Validität«erörtern, zur Transparenz und Sorgfalt in der Lite-raturverwendung auffordern und die Prozesse beider Erstellung einer wissenschaftlichen Arbeit skiz-zieren.

Grundsätzlich bedeutet wissenschaftliches Ar-beiten, neue Erkenntnisse unter Anwendung be-schriebener Methoden so zu entwickeln und sodarzustellen, dass die einzelnen Arbeitsschrittenachvollziehbar, begründet und belegt sind (Kar-masin u. Ribing 1999). Zum wissenschaftlichen Ar-beiten gehört, sich über die vorfindbaren Argu-mentationen und Untersuchungen zum betreffen-den Thema umfassend zu informieren und dieeigenen Methoden der Erkenntnisgewinnung zudokumentieren, damit eine kritische Reflexion derVorgehensweise gewährleistet ist.Eine solche Über-prüfbarkeit wissenschaftlich erarbeiteter Aussagenkann nur gelingen, wenn die Hypothesen, Modelleund Theorien so eindeutig formuliert sind,dass eingemeinsames gleiches Verständnis, also Intersub-jektivität, hergestellt wird.

Nun werden sich die Studierenden der Pflege-pädagogik in den Themenstellungen ihrer Arbeitensowohl mit Theorien und Erkenntnissen ihres spe-zifischen Wissenschaftsbereiches befassen als auchnotwendige Erkundungen in anderen Einzelwis-senschaften vornehmen. Pflegepädagogik kann –zumindest gegenwärtig – Erkenntnisse und Me-thoden benachbarter Wissenschaftsbereiche nichtunberücksichtigt lassen.Allerdings ist es schier un-möglich, dass die Studierenden der Pflegepädago-gik sich in allen relevanten Nachbarwissenschaftenauf neuestem Erkenntnisstand bewegen; dieser An-forderung werden die Lehrenden schon kaumgenügen können.Um so wichtiger ist es,sehr genauzu dokumentieren, wann beispielsweise spezifischpflegepädagogische Konzepte, Modelle und Theo-

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238 Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft

rien bearbeitet und in welchem Umfang und zuwelchem Zweck inhaltliche und methodische Ver-bindungen zu anderen Wissenschaften geknüpftwurden.

10.3.2 Begrifflichkeit, Reliabilität und Validität

In unserem Alltag sparen wir uns die Mühe, stän-dig zu hinterfragen, was sich genau hinter diesemoder jenem Begriff verbirgt, wie ein spezifischesWort im jeweiligen Kontext gemeint ist, welche Er-fahrungen hinter dieser oder jener Aussage stecken.Sprache soll uns im Alltag dazu dienen,Situationenzu bewältigen, Gedanken und Erlebnisse auszu-drücken, unser Verhalten sinnhaft zu begründen.Zwar stört es uns beim Brötchenkauf bisweilen,dass jede Bäckerei ein eigenes Namenssystem fürihr Angebot hat,aber wir beharren nicht darauf,dieDefinition von »Haferkrüstchen« oder »Dinkel-vollwert« genannt zu bekommen. Und wir vermei-den auch sofortige Nachfragen über den Bedeu-tungsgehalt von Aussagen wie »Ich liebe dich!« –obwohl uns später dämmert,dass der Satz vielleichtdoch anders gemeint war, als wir ihn in dem be-treffenden Moment aufgefasst haben…

Wir nehmen also im alltäglichen Sprachge-brauch Mehrdeutigkeit, Vagheit und Inkonsistenzvon Begriffen und Aussagen in Kauf und hoffendarauf, dass sich Bedeutungen aus unserer Intui-tion, aus dem Situationskontext, aus gemeinsamenErfahrungen und Ähnlichkeiten in der Weltan-schauung ergeben. Im wissenschaftlichen Zusam-menhang ist das grundsätzlich anders, hier stelltdie Einigung über einen verbindlichen Sprachge-brauch die Voraussetzung dar für die Unterscheid-barkeit von wissenschaftlich begründeten Aussa-gen gegenüber reinen Phantasieproduktionen. Be-griffliche Eindeutigkeit, Präzision und Konsistenzist im akademischen Betrieb also unverzichtbar,wie überhaupt einige Grundsätze wissenschaftli-cher Sorgfalt beherzigt werden sollten, zu denenkonkret die folgenden Aspekte gehören:

Präzise und konsistente Begrifflichkeit

Das Verfassen eines wissenschaftlich akzeptablenTextes,und darunter fallen nicht erst Diplomarbei-ten und Dissertationen, sondern bereits Referate

und Hausarbeiten, setzt die Verwendung einer ein-deutigen,klar verständlichen und brauchbaren Be-grifflichkeit voraus. Verständlich im wissenschaft-lichen Sinne sind Begriffe dann, wenn klar ist, wassie umfassen, also Eindeutigkeit darüber besteht,welche Gegenstände, Ereignisse, Elemente hineingehören und welche nicht; die Brauchbarkeit vonBegriffen ist an die Kriterien der Präzision und derKonsistenz geknüpft: Präzise ist ein Begriff, wennein Beobachter bei jedem Ereignis unterscheidenkann, ob es zum Begriff gehört oder nicht. Konsis-tent ist ein Begriff, wenn die Zuordnung von allenBeobachtern in übereinstimmender Weise vorge-nommen wird. Und genau das ist – zumindest imvorwissenschaftlichen Feld – nicht immer gewähr-leistet: So erlebte die Behindertenhilfe z.B.eine Zeitlang die inflationäre Verwendung des Begriffs »au-tistisches Verhalten« mit sehr diffuser Beschrei-bung der angeblich dazugehörigen Merkmale.Oder die Gerontologie wird damit konfrontiert,dass der Begriff »Demenz« im öffentlichen und bis-weilen auch im fachlichen Sprachgebrauch nichtmehr diejenige Präzision und Konsistenz besitzt,die für einen wissenschaftlichen Diskurs notwen-dig und unverzichtbar wäre.

Reliabilität

Unter Reliabilität verstehen wir wissenschaftlicheZuverlässigkeit und betonen damit, dass man sichin der Wissenschaft auf publizierte Aussagen ver-lassen können muss. Reliabilität erfordert, allewichtigen Daten und Erkenntnisse wirklich darzu-stellen und keine relevanten Fakten zu unterschla-gen. Im Verlauf der Erstellung wissenschaftlicherAbhandlungen bedeutet dies auch, verschiedeneStandpunkte einnehmen zu können und fremdeEinsichten bzw. Konzepte nicht voreilig zu verwer-fen. Am Ende sollte stets gewährleistet sein, dassdie Ergebnisse einer Studie sorgfältig überprüftwurden,keine systematischen Fehler enthalten undweder gefälscht noch »geschönt« sind (Haefner2000, S. 84 f.).

Validität

Unter Validität verstehen wir wissenschaftlicheGültigkeit und verlangen damit konkret, dass einForschungsinstrument tatsächlich das misst,was esmessen soll. Eine Studie, eine Haus- oder Diplom-arbeit erfüllt dann das Kriterium der Validität,

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10.3 · Hinweise zum wissenschaftlichen Arbeiten10239

wenn man ihr attestieren kann, dass sie die aufge-worfene Forschungsfrage (Arbeitshypothese) mitden angegebenen Mitteln (Methoden) wirklich be-arbeitet und beantwortet hat – und nicht am Endeeine Aussage B herauskommt, die mit der Aus-gangsfrage A kaum etwas zu tun hat. Gemeint istdamit jedoch nicht, jede Forschungsfrage am Endeals gelöst darzustellen.Validität meint vielmehr, zurelevanten Aussagen in Hinblick auf die eingangsgemachte Arbeitshypothese zu gelangen, sie alsoentweder zu bestätigen, ihr zu widersprechen odersie zu modifizieren (Haefner 2000, S. 10 f.).

10.3.3 Transparenz der Literaturfindung

Das – schier unüberschaubare – Ergebnis wissen-schaftlichen Forschens und Lehrens findet sich inso unterschiedlichen Publikationsformen und Pub-likationsorten, dass die systematische Suche nachwissenschaftlich relevanter Literatur für das ge-wählte Thema eine große Hürde darstellt. Über-winden lässt sie sich nur, wenn man seine Schwel-lenängste abbaut und mutig genug ist, sich bei an-deren Studierenden, bei den wissenschaftlichenAngestellten von Bibliotheken und Instituten undnicht zuletzt bei den eigenen Professorinnen undProfessoren zu informieren und Rat zu holen.(Viel-leicht nützt der Hinweis, dass selbst die anerkann-testen Autoren wissenschaftlicher Bücher häufig inihrem Vorwort erwähnen, wie dankbar sie diesenoder jenen Hinweis einer Fachkollegin bzw. einesBibliothekars aufgegriffen haben.)

Wenn wir von Literaturrecherche sprechen,dann sollten wir im Wissenschaftsbereich unter-scheiden zwischen Primär- und Sekundärliteratur.Die Primärliteratur stellt die Basis aller wissen-schaftlichen Arbeiten dar; was in den jeweiligenFachdisziplinen als Primärliteratur, als Quelle gilt,kann recht unterschiedlich sein: An erster Stellesind dies eigene Erhebungen, an zweiter Stellefremde Untersuchungen,die sich vor allem in Fach-zeitschriften, zunehmend aber auch in wissen-schaftlich anerkannten »Online-Gruppen« der un-terschiedlichsten Fächer finden. Je nach Themen-stellung können an dritter Stelle auch die Berichtevon staatlichen Institutionen (z.B.dem Bundesamtfür Statistik), von Forschungseinrichtungen (z. B.dem Max-Planck-Institut) oder von Wohlfahrts-

verbänden (z.B.der Caritas) als Quellen angesehenwerden; und schließlich gelten an vierter Stelleauch private Unterlagen als Quellen – im Fall derPflegepädagogik könnten hierzu so unterschiedli-che Daten und Texte wie Krankenhausstatistiken,Organigramme, aber auch Tagebücher u.ä. zählen.

Die Stärke der Sekundärliteratur besteht darin,den aktuellen Stand eines Fachgebietes bzw. einerwissenschaftlichen Thematik gut zu präsentierenund die zahlreichen primären Arbeiten nach wis-senschaftlichen Kriterien zusammenzufassen. Dasgeschieht vor allem in den eigentlichen Fach-büchern,die die Erforschung eines Wissensgebietesneuartig – in Form eigener Hypothesen, Theorienund deren Überprüfung – und sorgfältig – unterVerwendung der aktuellen Literatur – bearbeiten;ebenso in Übersichtsartikeln (Reviews),die auf derBasis von Originalpublikationen eine Sachgebietumfassend darstellen; oder in Kongressbänden,dieArtikel zu einem vorgegebenen Thema aus sehr un-terschiedlichen Perspektiven enthalten. Fernerkönnen wir auf Lehrbücher zurückgreifen, diemeist von verschiedenen Autorinnen und Autorenunter der Regie eines oder mehrerer Herausgebererarbeitet wurden. Die Basis solcher Lehrbücherbilden in der Regel nicht Quellentexte oder Zeit-schriftenartikel, da hier die Bearbeitung einzelnerForschungshypothesen im Vordergrund steht;Lehrbücher haben vielmehr die als bedeutsam an-erkannten Fachbücher und Reviews zur Grundlage.

Das Internet ermöglicht eine Informationsre-cherche in virtuellen Bibliotheken: Primär- und Se-kundärliteratur kann hier angefordert werden,wasin der Erkundungsphase die Recherche über the-menrelevante Literatur und den Bestellvorgang er-leichtern kann. Was das eigentliche »Surfen«, dasSuchen und Bearbeiten von Internet-Texten an-geht,die nur dort und in keiner anderen Form pub-liziert sind, so gelten hier zusätzliche Regeln: Ver-wendete Daten, zitierte Texte, sämtliche Informa-tionen einer wissenschaftlichen Arbeit müssen jaso nachgewiesen werden,dass die Leserin/der Leserin der Lage ist, die Fundorte aufzusuchen und dieDaten oder Texte kritisch zu überprüfen. Internet-Informationen sind aber weder qualitätsgesichertnoch beständig; ihnen fehlt – anders als einem Wis-senschaftsverlag oder einer renommierten Fach-zeitschrift – das wissenschaftlich anerkannte Lek-torat. Internet-Daten und Texte sind flüchtig, kön-

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240 Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft

nen verändert oder herausgenommen werden undhalten selten der Nachprüfung über einen längerenZeitraum stand, auch wenn sie zum Zeitpunkt derNiederschrift einer Haus- oder Diplomarbeit als»available« markiert sind. Daher ist es notwendig,von diesem elektronisch gewonnenen Material ei-nen Ausdruck in den Anhang der Arbeit aufzuneh-men – zumindest aber für die Prüferin bzw. denPrüfer sowohl eine »Download-Datei« als aucheinen jeweiligen Ausdruck bereitzuhalten (Theisen2000, S. 68 ff.).

Schließlich können zur Bearbeitung wissen-schaftlicher Fragestellungen auch zugängliche Dip-lomarbeiten oder Dissertationen des jeweiligenFachgebietes herangezogen werden, ferner Artikelseriöser Tages- oder Wochenzeitungen, ggf. auchpopuläre Sachbücher, die wissenschaftliche Zu-sammenhänge einem interessierten Laienpubli-kum zu vermitteln bestrebt sind. Als nicht zitier-fähig gelten Publikumszeitschriften (Bäckerblume,Brigitte, Schöner Wohnen u. ä.). Gängiges Lexikon-wissen (z.B.aus dem Brockhaus) muss nicht als Zi-tat gekennzeichnet werden.Auch können einschlä-gige Fachausdrücke verwendet werden, ohne je-weils das benutzte Wörterbuch (Pschyrembel o. ä.)zu nennen, es sei denn, es geht um eine Problema-tisierung eines Fachbegriff,der unterschiedlich de-finiert bzw. angewendet wird; in dem Fall muss dieHerkunft der verschiedenen Begriffsbedeutungennatürlich angegeben werden.

10.3.4 Zitieren

Benutzt man nun die erwähnte Primär- und Se-kundärliteratur, so ist möglichst vom allererstenMoment an darauf zu achten,jede Fundstelle genauzu markieren – die Nacharbeit kann sonst Tage undNächte beanspruchen, wenn ganze Bücher – diesich vielleicht schon längst wieder in der Bibliothekbefinden – auf der Suche nach einer einzigen zi-tierten Textstelle erneut durchforstet werden müs-sen.Denn natürlich ist zu gewährleisten,dass wört-lich oder sinngemäß übernommenes Material prä-zise belegt wird:4 Ein Zitat ist die wörtliche Wiedergabe von Sät-

zen oder Satzteilen aus einem fremden Text. Esmuss – in Form von Anführungszeichen – ein-deutig kenntlich gemacht werden, wo ein Zitat

beginnt und wo es endet; und ist zu belegen,auswelcher Quelle es stammt. Dies geschieht amEnde des Zitats mit der Nennung der betreffen-den Literaturstelle in Kurzform (Name, Er-scheinungsjahr und Seitenzahl) innerhalb desfortlaufenden Textes; oder auf die Quelle wirdper Fußnote in einer Anmerkung am unterenEnde der Seite oder am Ende der Arbeit ver-wiesen. Für die sofortige Nennung der Litera-turstelle in Kurzform (in Klammern) sprichtdie flüssigere Lesbarkeit des Textes, für die Ver-wendung von Fußnoten spricht die Möglich-keit,darin auch zusätzliche Informationen oderHinweise zu weiterführender Literatur unter-zubringen.

4 Nimmt man Auslassungen innerhalb einer zi-tierten Textpassage vor, so ist mit (…) auf dieLückenhaftigkeit bzw. Kürzung hinzuweisen;zu Beginn und am Ende eines vollständig zi-tierten Satzes bedarf es solcher (…) jedochnicht. Bei grammatikalischen Umstellungen,die gemacht werden, um den eigenen Textflussnicht unterbrechen zu müssen, stehen die Ab-weichungen in eckigen Klammern […]. Bei-spiel: Der Satz von Hilde Steppe: »Der Gegen-standsbereich einer wissenschaftlichen Dis-ziplin wird durch eine oder mehrere Theorienabgebildet« (Steppe 2000, S. 92) soll in den ei-genen Text eingearbeitet werden, z. B. in Formder Aussage, dass nach Ansicht von Hilde Step-pe der »Gegenstandsbereich einer wissenschaft-lichen Disziplin […] durch eine oder mehrereTheorien abgebildet [wird].« (Steppe 2000,S. 92).

4 Das Aufgreifen von Gedanken und Argumentenfremder Autorinnen oder Autoren muss eben-falls eindeutig dokumentiert werden,auch (undgerade) wenn auf wörtliche Zitate verzichtetwird. Paraphrasiert man also einen fremdenText, so ist am Ende der Ausführung (zum Be-spiel mit dem Hinweis: Haefner 2000,S.122) aufdie Quelle zu verweisen.

4 Zitate aus zweiter Hand sollten die absoluteAusnahme bleiben. Lassen sie sich nicht ver-meiden, weil die Suche nach dem Originalzitateinen unverhältnismäßigen Aufwand darstel-len würde,so ist der Hinweis »zitiert nach« (zit.n.) einzufügen. Beispiel: Die Autoren SusanneSchoppmann und Martin Pohlmann zitieren in

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10.3 · Hinweise zum wissenschaftlichen Arbeiten10241

ihrem Aufsatz »Erkenntnistheoretische Über-legungen zur phänomenologischen Pflegefor-schung« (Schoppmann u.Pohlmann 2000) Aus-sagen von Martin Heidegger. Soll nun in einerwissenschaftlichen Arbeit ein Teil des dort ver-wendeten Heidegger-Zitats benutzt werden, sowäre zu schreiben: »Woher und wie bestimmtsich, was nach dem Prinzip der Phänomenologieals ‘die Sache selbst« erfahren werden muß?«(Heidegger 1969, S. 87, zit. n. Schoppmann u.Pohlmann 2000, S. 364).

10.3.5 Das Literaturverzeichnis

Jede wirklich wissenschaftliche Abhandlung solltealso – soviel ist bereits deutlich geworden – tief ein-gebettet sein in den umfangreichen Wissensstanddes jeweiligen Forschungsgebietes. Die Impulseund Bezüge, die in dem konkreten wissenschaftli-chen Text aufgegriffen und verwendet worden sind,müssen in einem umfangreichen Literaturver-zeichnis dokumentiert werden. Das Literaturver-zeichnis ist dabei nicht nur ein unverzichtbarer Be-standteil jeder wissenschaftlichen Abhandlung,sondern in gewissem Sinne auch das Aushänge-schild des zurückgelegten Arbeitsprozesses. Daherlohnt es sich – manchmal schon vor der eigentli-chen Lektüre einer Haus- oder Diplomarbeit – imLiteraturverzeichnis zu blättern, um sich ein Bilddavon zu machen, welcher wissenschaftstheoreti-sche Kontext, welches Theorieverständnis, welche»wissenschaftliche Schule« hier zu erwarten ist.

Das (ver-)führt manche zu dem Gedanken, siekönnten das wissenschaftliche Niveau ihrer Arbeitdadurch erhöhen, dass sie ein besonders umfang-reiches,quasi »aufgepumptes« Literaturverzeichniserstellen,um so ihrer Belesenheit Ausdruck zu ver-leihen.Vor solchen Ambitionen ist genauso zu war-nen wie vor der mutwilligen »Unterschlagung«tatsächlich verwendeter, im Text oder im Literatur-verzeichnis aber nicht sauber dokumentierterQuellen. Um es deutlich zu sagen:

7 Ein Literaturverzeichnis ist die vollstän-

dige Zusammenstellung aller in einer

wissenschaftlichen Arbeit verarbeiteten

literarischen Sekundärmaterialien, wel-

che in irgendeiner Form nachweislich

… in der Arbeit berücksichtigt und zi-

tiert worden sind; darüber hinaus darf

keine weitere Literatur Eingang in das

Literaturverzeichnis finden (Theisen

2000, S. 189).

Die – bei uns – noch immer vorherrschende Formder Auflistung verwendeter Arbeiten im Literatur-verzeichnis beginnt mit Namen und Vornamen derVerfasserin / des Verfassers, notiert ggf. in Klam-mern, dass es sich um die Herausgeber handelt,setzt dahinter einen Doppelpunkt und nimmt dannden vollständigen Titel und auch den Untertitel auf,nennt den Erscheinungsort,den Verlag und das Er-scheinungsjahr. Dazu einige Beispiele:4 Hegemann, Thomas u. Salman, Ramazan

(Hrsg.): Transkulturelle Psychiatrie. Konzeptefür die Arbeit mit Menschen aus anderen Kul-turen. Bonn: Psychiatrie-Verlag, 2001

4 Falkenstein, Dorothe: »Ein guter Wärter ist dasvorzüglichste Heilmittel…«. Zur Entwicklungder »Irrenpflege« vom Durchgangs- zum Aus-bildungsberuf. Frankfurt a.M.: Mabuse-Verlag2001

4 Rennen-Allhoff, Beate u. Schaeffer, Doris(Hrsg.): Handbuch Pflegewissenschaft. Wein-heim: Juventa 2000

Da bislang jedoch – national wie international –eine definitiv vereinbarte Norm der Anlage einessolchen Literaturverzeichnisses fehlt, kursiereneine Reihe unterschiedlicher Vorgaben bzw.Details;einzelne Fachbereiche oder Lehrende halten oft dievon ihnen präferierte Version für die einzig mög-liche und verbindliche, der sich die Studierendenanpassen müssen.Unterschiede bestehen vor allemin der Frage, ob die Namen fett gedruckt sein müs-sen,ob der Vorname vollständig oder abgekürzt er-scheint,ob Herausgeber mit »Hrsg.« oder mit »Hg.«abgekürzt werden,ob das Erscheinungsjahr bereitsin Klammern nach der Namensnennung oder erstam Schluss erwähnt wird und ob der Verlag ge-nannt werden muss. Insofern könnte ein oben er-wähnter Titel auch folgendermaßen verzeichnetwerden:4 Hegemann, Th. u. Salman, R. (Hg.)(2001):

Transkulturelle Psychiatrie. Konzepte für dieArbeit mit Menschen aus anderen Kulturen.Bonn

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242 Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft

Einige Verlage bzw. Fachzeitschriften, besondersjene, die international rezipiert werden, verlangenheute eine noch reduziertere Version,die auf Unter-titel, Doppelpunkt und manches andere verzichtet:4 Rennen-Allhoff B u. Schaeffer D (2000) Hand-

buch Pflegewissenschaft. Juventa,Weinheim.

Einvernehmen herrscht darüber, dass das Litera-turverzeichnis alphabetisch zu ordnen ist, dass esggf. Angaben zur Auflage (abgekürzt »Aufl.«), zumjeweiligen Band (»Bd.«) bzw. bei Zeitschriften zumJahrgang (»Jg.«),zur Heftnummer (»Heft«) und zurSeitenzahl (»S.«) enthalten muss.4 Ahrens, Ruth: Erfahrungen mit intuitivem,

praktischem und pflegetheoretischem Wissen.In: Pflegezeitschrift,53.Jg.,Heft 2,2000,S.91–94

Auch bei der Aufnahme von Zeitschriftenartikelnkann auf den vollen Vornamen verzichtet und dasErscheinungsjahr vorangestellt werden:4 Kesselring, A.(1992): Ethik und Forschung. In:

Pflege, 5. Jg., Heft 1, S. 4-10

Nun kommt es bei Fach- und Lehrbüchern und be-sonders bei Zeitschriftenartikeln häufig vor, daseine ganze Anzahl von Autorinnen und Autoren be-teiligt ist; man hat sich darauf geeinigt, maximaldrei aufzuführen,ansonsten mit der Abkürzung »u.a.« (= und andere) oder »et al.« (= et alii) zu arbei-ten. So wäre also der Beitrag »Unterrichtsreihe:Pflege von Menschen mit chronischer Demenz«von Bettina Duwendag,Marion Gravenkötter,PetraLang, Ursula Ludmann und Sonja Steinbock ausder Zeitschrift Unterricht Pflege,5.Jahrgang,Heft 1,März 2000 aus dem Prodos Verlag in einem Litera-turverzeichnis wie folgt aufzuführen:4 Duwendag, M. et al. (2000): Unterrichtsreihe:

Pflege von Menschen mit chronischer Demenz.In: Unterricht Pflege, 5. Jg., Heft 1, S. 5-16

Werden in einer wissenschaftlichen Arbeit mehre-re Werke einer Verfasserin oder eines Verfassersberücksichtigt, so ist im Literaturverzeichnis jedereinzelne Titel – in der Reihenfolge des Erschei-nungsjahres, mit dem ältesten beginnend – aufzu-führen:4 Luhmann,Niklas (1984): Soziale Systeme.Grun-

driss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt:Suhrkamp

4 Luhmann, Niklas (1986): Ökologische Kommu-nikation. Opladen: Westdeutscher Verlag

Anschließend sind jene Titel zu nennen, die derAutor mit anderen zusammen verfasst hat:4 Luhmann, Niklas / Schorr, Karl E. (1979): Refle-

xionsprobleme im Erziehungssystem.Stuttgart:Klett-Cotta

Beiträge in Sammelbänden enthalten neben demAutorennamen und dem Titel auch Angaben zumHerausgeber – das kann bisweilen auch eine Insti-tution sein:4 Steppe, Hilde (1993): Entwicklung der Pflege-

wissenschaft – am Beispiel USA. In: Fachhoch-schule Frankfurt a.M. (Hrsg.): Pflege auf demWeg zur Hochschule. Frankfurt a.M.: Fach-hochschulverlag, S. 159–192

Bei Veröffentlichungen in Zeitschriften ist zusätz-lich zur Autorin und zum Titel des Aufsatzes auchder Name der Zeitschrift, der Jahrgang und das Er-scheinungsjahr,die Heftnummer und die erste undletzte Seite zu nennen:4 Steppe, Hilde (1989): Pflegetheorien und ihre

Bedeutung für die Praxis. In: Die Schwester /der Pfleger, 28.Jg., Heft 4, S. 255–262

Wissenschaftliche Veröffentlichungen, die aus-schließlich ins Internet »gestellt« wurden, sindgenauso ordnungsgemäß zu zitieren wie anderesSekundärmaterial. Diese Texte verfügen über eineeinheitliche, logische Adresse, den individuellen»Uniform Resource Locator« (URL) des einzelnenInternet-Users, über den sie auch angesteuert wer-den können.Von besonderer Bedeutung sind hier –wegen der Möglichkeit ständiger Veränderungen –die Datumsangabe, ggf. die Nummer der ins Netzgestellten Version und das Zugriffsdatum des Be-nutzers:4 Zimmermann, Bernd: Online im Internet (4. 6.

2000), URL: http:\\www-kurs.de\download.htm (11.9.2000, 11:30 MEZ) (Theisen 2000,S. 198ff).

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10.3 · Hinweise zum wissenschaftlichen Arbeiten10243

10.3.6 Phasen der Erstellung einer wissenschaftlichen Arbeit

Die erste Frage,die Studierende vor dem Einstieg ineine wissenschaftliche Hausarbeit oder Diplomar-beit in der Regel stellen, ist die nach der geforder-ten Länge der Arbeit. Meist reagieren Lehrende aufdiese Frage in der Sache unpräzise und im Tonleicht zerknirscht, würden sie doch ein Gesprächüber mögliche Themenstellungen und Arbeitshy-pothesen, aktuelle Forschungsfragen und jüngsteVeröffentlichungen an dieser Stelle vorziehen. AusSicht der Studierenden ist die Frage nach der ge-forderten Länge der wissenschaftlichen Arbeitnatürlich berechtigt,kommt darin doch sowohl einsachlicher Aspekt (»Wie viele Seiten? Worauf mussich mich einstellen?«) als auch ein höchst emotio-naler (»So viele Seiten? Wie soll ich die nur alle fül-len ?«) zum Ausdruck.

Fast alle Studierenden machen dann im Verlau-fe ihres Schreibprozesses die Erfahrung, dass dieGefahr meist viel größer ist, die geforderte Seiten-zahl zu über- denn zu unterschreiten. In der Vorbe-reitungsphase und in der Recherche tun sich näm-lich in der Regel ständig neue Türen oder Fenster zuinteressanten, oft überraschenden thematischenBezügen auf, so dass es in der Strukturierungspha-se wirklich darauf ankommt, den roten Faden dereigenen Fragestellung und Gedankenführung nichtaus den Augen zu lassen. Es bietet sich daher an,fünf Phasen bei der Erstellung einer wissenschaft-lichen Arbeit zu unterscheiden und diese folgen-dermaßen zu präzisieren:4 1. In der Vorbereitungsphase besteht die Auf-

gabe vorwiegend darin, sich ein Thema zu su-chen, die Leit- oder Forschungsfrage(n) zu for-mulieren und eine Betreuung (eine Professorin/ einen Professor) für die vorgesehene Arbeit zugewinnen.

4 2. In der Erkundungsphase wird vor dem Hin-tergrund des Themas / der Fragestellung diewissenschaftliche Literatur befragt. Dazu wer-den Fachlexika, Lehrbücher, Monographien,Sammelbände, Fachzeitschriften und dasWorld Wide Web genutzt.

4 3. In der Strukturierungsphase ist es wesent-lich, das vorhandene Material mit der eigenenFragestellung zu verknüpfen und die vorgese-

hene Gliederung fortwährend zu überprüfen.Konkret heißt dies, nicht zwanghaft an der ur-sprünglichen Gliederung festzuhalten, denndiese entstand als erste Gedankenskizze ohnedetaillierte Kenntnis des recherchierten For-schungsstandes. Zur erfolgreichen »Bewälti-gung« des Materials und des wissenschaftlichenVorhabens gehört es aber,Gliederungen zu mo-difizieren oder gar umzuwerfen und die Pro-zesshaftigkeit des Forschens und Erkennens zuberücksichtigen.

In dieser Phase sollte man bereits bestrebt sein,sichvon unnötigen Ballaststoffen zu trennen. Manch-mal ist der Abschied von der inhaltlichen Fülle derExzerpte schmerzlich, denn Zeit und Mühe stecktin jeder Notiz, in jedem durchgearbeiteten Artikel,Aufsatz oder Buch.Aber wissenschaftliche Arbeits-fähigkeit zeigt sich nicht primär in quantitativerAufblähung eines Themas, auch nicht in der Auf-stellung endloser Literaturverzeichnisse, sondernin der präzisen, erkenntnisorientierten Ausrich-tung bei der Beantwortung der zugrundeliegendenFragestellung und in der Stringenz der Gedanken-führung.4 4. In der Schreibphase kommt es darauf an,

tatsächlich wissenschaftlich »sauber« zu arbei-ten, also Aspekte der Validität (Gültigkeit), derReliabilität (Zuverlässigkeit) und der Exaktheit(z.B.bei der Angabe der benutzten Literatur,beider Kenntlichmachung von Zitaten usw.) zu be-achten.

4 5. In der Abschlussphase wird oft übersehen,dass die Reflexion der Gesamtarbeit im Schluss-kapitel, dann das Korrekturlesen durch Fach-kolleginnen / -kollegen und auch durch recht-schreibkundige Fehlerteufel-Spürhunde, dieanschließende Umgestaltung der Arbeit bzw.das Layout der Endfassung und schließlich derDruck und die Bindung der Arbeit nicht in einpaar Stunden vor dem allerletzten Abgabeter-min zu leisten ist. (Manche meinen zwar, derabsolute Stress und die letzte »durchtippte«Nacht gehörten zu jeder Abschlussarbeit, aberPanik ist doch ein ungeeigneter Zustand bei derFertigstellung eines so wichtigen Produktes!)

Page 256: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

10

244 Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft

Als junge Wissenschaftsdisziplin muss sichdie Pflegewissenschaft ihren Standort imWissenschaftsbetrieb erst suchen und be-haupten. Dabei ist es sinnvoll, von etablier-ten und reflektierten wissenschaftstheore-tischen Grundlagen auszugehen und nichtalle Gedanken und Begriffe neu zu denken.Die verschiedenen theoretischen Ansätzewie Empirismus, Phänomemologie, Hand-lungstheorie und nicht zuletzt Konstrukti-vismus schließen sich nicht aus, sondernkönnen sinnvoll je nach konkreter Ausrich-tung der Forschungsvorhaben als Aus-gangspunkt dienen.Auch die Pflegewissenschaft ist an die An-forderungen des wissenschaftlichen Arbei-tens gebunden, auch wenn sie überwie-gend einen direkten Handlungsbezugpflegt. Alle Arbeitsschritte müssen nach-vollziehbar, begründet und belegt sein.

3 Methodische Vorschläge für eine Seminargestaltung

Wer sich der Wissenschaftstheorie zuwendet, dersieht sich einem schier unüberwindbaren Berg anTexten,Theorien,Begrifflichkeiten und einer mehrals zweitausendjährigen Wissenschaftsgeschichtegegenüber. Soll man bei Aristoteles beginnen undim Eilschritt bis zum radikalen Konstruktivismusvoranschreiten? Soll man den eigenen,favorisiertenAnsatz wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens(und wer ist schon frei von eindeutigen Prägungenund Präferenzen auf diesem Gebiet?) zum Aus-gangspunkt der Erkundung eines Seminars ma-chen? Macht es Sinn, eine Reihe von Arbeitsgrup-pen zu bilden und jedem Team einen wissen-schaftstheoretischen Ansatz zur Erarbeitung undDarstellung aufzutragen; oder führt das zu demhäufig festzustellenden Ergebnis, dass jede Gruppenur am eigenen Referat bastelt und kaum aufmerk-sam ist für die Ergebnisse der anderen? Wie viel ei-gene Recherche ist Studierenden im Lernfeld Wis-senschaftstheorie überhaupt zuzumuten, ohne sieder Gefahr des Ertrinkens oder der frustriertenVerweigerung bei den häufig recht spröden, müh-samen Texten auszusetzen?

Nach Auswertung eigener Lehrerfahrungen hates sich als sinnvoll erwiesen, zu Beginn eines sol-chen Seminars (durchaus auch zur Beginn jederneuen Sitzung) ein Praxisbeispiel aus dem Bereichder Pflege bzw. der Pflegepädagogik voranzustel-len, welches sich auf sehr konkreter Ebene mit derFrage nach den Bedingungen von Erkenntnis – Er-forschung – Theoriebildung befasst, also z. B.:

Stellen wir uns folgendes Projekt vor: In der

Stadt M. soll eine Umfrage zum Thema: »Sind

die Kliniken auf die Behandlung von Menschen

mit geistiger Behinderung ausreichend vorbe-

reitet?« durchgeführt werden. Dazu sind – so-

weit möglich – betroffene Menschen und ihre

Angehörigen,Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

aus Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie

Pflegekräfte und Ärztinnen / Ärzte in den Kran-

kenhäusern zu befragen.

An solch einem Beispiel ist dann durchzuarbeiten(vielleicht auch: durchzuspielen), welche wissen-schaftstheoretischen Ansätze (inklusive der jewei-ligen methodischen Vorgehensweisen) geeignetsein könnten,die Projektidee zu verwirklichen.Da-bei stellen sich ganz zwangsläufig Fragen nachErkenntnisinteressen,überprüfbaren und verwert-baren Forschungsergebnissen,Handlungsorientie-rungen, Lebenswelten und Wirklichkeitskonstruk-tionen.

Empfehlungen zum Weiterlernen

Wer nach der Lektüre der wissenschaftstheoreti-schen Grundsätze und Ansätze mehr Lust als Frustentwickelt hat,sich mit diesem Thema vertiefter zubeschäftigen, der wird in den Darstellungen vonGunnar Bernler u.Lisbeth Johnsson,Kurt Eberhard,Wilhelm Essler et al. und Hans Poser lesbare Aus-führungen und Präzisierungen finden. Um Begrif-flichkeiten und Hintergründe komprimiert zu er-fahren, ist das Handlexikon der Wissenschafts-theorie von Helmut Seiffert u. Gerard Radnitzkyunersetzlich. Zu empfehlen ist auch, sich in derBibliothek einen ruhigen Platz zu suchen und dieNase in den einen oder anderen »Klassiker« derWissenschaftstheorie zu stecken, also z. B. bei

Beispiel

Zusammenfassung

Page 257: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

10.3 · Hinweise zum wissenschaftlichen Arbeiten10245

Dilthey zu stöbern, bei Gadamer, Habermas, Hus-serl, Luhmann, Mead oder Popper; dabei reichtmanchmal schon eine relativ kurze Lektüre,um einGefühl dafür zu entwickeln, ob dieser Autor/dieserAnsatz auf eine innere Resonanz stößt oder nicht.Von vorne bis hinten sind die wenigsten der ange-führten Bücher zu lesen,und manch renommierterWissenschaftler gibt offen oder hinter vorgehalte-ner Hand zu, Humberto Maturana nie zu Ende ge-lesen zu haben – vielleicht reichen ja auch schon dieersten 70 Seiten eines Buches, um vom »Baum derErkenntnis« zu kosten.

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Page 258: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

10

246 Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft

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Page 259: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

11

Ethische Grundlagen unsererGesellschaft

Veit Thomas

11.1 Die philosophische Ethik 249

11.2 Ethik und Recht 253

11.3 Wer ist der Mensch: Anthropologie 255

11.3.1 Menschenbilder 255

11.3.2 Was Menschen nicht widerfahren soll:

Negative Anthropologie 256

11.3.3 Folgen der Versehrbarkeit des Menschen:

eine abwägende Ordnung 257

11.4 Die unvollendete Ethik unserer Marktgesellschaft:

Der Liberalismus 258

11.5 Die Menschenwürde als höchstes Gut 260

11.5.1 Die unantastbare, absolute Menschenwürde 260

11.5.2 Die antastbare, relative Menschenwürde 262

11.6 Modelle ethischer Legitimation 264

11.7 Ethische Lösungsfindung

durch Herrschaftsfreiheit 265

11.8 Ethisch-rechtlicher Frageleitfaden

für Handlungskonflikte 266

11.9 Liste existierender ethischer Grundwerte 266

Page 260: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

11

248 Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft

> ThesenDer Vater einer Intensivpflegerin liegt seit Mona-

ten an ihrem Arbeitsplatz als Patient im Koma.

Herz und Lungenfunktionen werden künstlich

aufrecht erhalten. Die Fachärzte prognostizieren

einen letalen Verlauf der Erkrankung. Seine phy-

siologischen Lebensfunktionen werden mit Gerä-

ten aufrechterhalten. Sollen die Geräte abge-

schaltet werden? Wer entscheidet, ob und wann

die Geräte abgeschaltet werden? Die ethischen

Fragen, die in diesem Beispiel auftreten sind um-

fangreich.

3 Berufliche Handlungskompetenzen

2 FachkompetenzMögliche moralische und rechtliche Muster

des menschlichen Zusammenlebens und

Handelns formal und werthaft erkennen

und ihre soziale und gesellschaftliche Trag-

weite bestimmen.

Die formale Verbindung von Ethik und An-

thropologie (»Menschenbildern«) rational

erfassen.

Die Beziehung und Differenz von Ethik und

Recht als »weiche« Handlungsmuster er-

kennen.

Die existierenden Grundwerte und ethi-

schen Widersprüche der Gegenwartsge-

sellschaft im Ansatz verstehen.

2 MethodenkompetenzKonkrete Pflegesituationen und -konflikte

rational auf ethische Muster hin analysie-

ren. Von bestehenden Handlungsmustern

ausgehend normativ und kritisch berufli-

che Pflegesituationen und Institutionalisie-

rungen bestimmen.

2 Kommunikative KompetenzEthische und rechtsphilosophische Grund-

lagen adäquat und sachgerecht benennen

und auf ein Maß begrifflich komprimieren.

Metierintern, aber auch gesellschaftskri-

tisch – ethisch diskutieren.

3 PraxisrelevanzDie Kenntnis ethischer Grundlagen der Gesell-schaft und im Speziellen derjenigen der Pflegesi-tuation befähigt, existierende und mögliche Ziel-kategorien der Pflege zu erkennen und ggf.kritischzu korrigieren.

Der Pflegepädagogin erlaubt sie, eigene Unter-richtsreihen zur ethischen Problematik der Pflege-berufe und deren systematische Funktion undSinnstruktur in gesamtgesellschaftlichen Hand-lungszielen vorzuführen.

3 Verfahrensstruktur (. Abb. 11.1)Die Darstellung und die Kapitel (11.1–11.8) des Lern-feldes »Ethik« folgen dem Aufbau:

Formale und analytische Differenzierung:

4 1. Die Systematik der Philosophischen Ethikund ihrer Differenzierung wird formal vorge-stellt.

4 2. Der Bezug der beiden Ordnungssysteme desmenschlichen Handelns, Recht und Ethik, wirdbeschrieben.

4 3. Es wird aufgezeigt, dass Ethik nicht ohne An-thropologie auskam und auskommt.Wer ist derMensch, muss immer auch gefragt werden,wenn menschliche Zielkategorien beschriebenoder bestimmt werden sollen.

Konkretisierung und Gegenwartsbezug:

4 4. Das ethische Doppelwesen des Liberalismusund der Marktgesellschaft wird kurz vor-gestellt.

4 5. Der Begriff Menschenwürde als das höchsteethische Gut der abendländischen Kultur wirdgeschichtlich und in seiner Bedeutung alsGrundrechtequelle vorgestellt.

4 6. »Wer bestimmt eigentlich,wer etwas bestim-men soll?« Es wird das bekannteste basisdemo-kratische Modell der ethischen Legitimationvon Werten und Handlungszielen als Beispielder Metaethik aufgezeigt.

4 7. Abschließend wird als Leitfaden eine Grund-fragenliste bereitgestellt, anhand dessen eineethische Konfliktsituation analysiert werdenkann. Dazu soll auch der angefügte Wertekata-log ethischer Grundwerte unserer Gesellschaftdienen.

Page 261: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

11.1 · Die philosophische Ethik11249

11.1 Die philosophische Ethik

Im Folgenden möchte ich das System der philoso-phischen Ethik vorstellen., Das Wort Ethik stammtvon griech.»Ethos«: Gewohnheit,Sitte,Brauch,Her-kommen, negativ auch Unsitte. Die philosophischeEthik beschäftigt sich also mit den zur Gewohnheitgewordenen menschlichen Beziehungen und ihrenLebensmaximen (Lebensregeln).Sie sucht die Wer-te, die Normen und Ziele,die menschliches Handelnbestimmen. Sie fragt nach einem »gelingenden Le-ben« und will das menschliche Zusammenlebenverbessern. Philosophische Ethik ist von ihrer Tra-dition her nicht elitär,nicht konfessionell gebundenoder einseitig klientelorientiert, obwohl in derGeistesgeschichte immer auch rationale Versucheunternommen wurden, eigene Interessen unterethischen »Argumenten« als allgemeinnützlichauszugeben. Sie strebt Gesamtlösungen des Zu-sammenlebens an.

Die philosophische Ethik fragt also einerseitsnach bestehenden und anderseits nach den »best-möglichen« menschlichen Beziehungen. Diesekönnen sich als aktives Handeln oder als fest ge-schriebene »Verhältnisse« zeigen. Ein Beispiel da-für wäre etwa die Akzeptanz eines »gottgewollten«Armutsstandes im Mittelalter, oder die relativeArmut in der westlichen Wohlstandsgesellschaft.

(Oexle 1986) Man unterscheidet im System derEthik folgende Fragestellungen:4 Die legitimatorische ethische Hauptfrage

Wer entscheidet, wer soll entscheiden? Eineautorisierte oder autoritäre Einzelperson: DerArzt, die Tochter, die Ehefrau, die diensthaben-de Person? Eine Gruppe, ein Expertenteam, daseinen fachlichen Konsens anstrebt? Die Mehr-heit aller auch nicht fachgebildeten Betroffenennach demokratischer Abstimmung? Der Ver-wandtschaftsrang der Angehörigen als rechtli-che Vertreter des willensunfähigen Komapati-enten? Der physiologische Zufall, die Hoffnungauf das Unerwartbare, die Demut gegenüberder Natur des Lebens?

4 Die inhaltliche ethische HauptfrageNach welchem Prinzip wird und sollte gehandeltwerden? Hier bietet die philosophische Ethik alsozwei Instrumente. Sie analysiert als »beschrei-bende oder deskriptive Ethik« erstens das ethi-sche Muster, das in jeder menschlichen Hand-lung bewusst oder unbewusst angewandt wird.Zweitens versucht sie als »normative Ethik« Leit-werte zu finden, durch die zukünftiges mensch-liches Handeln verbessert werden könnte.

4 Die rechtliche FrageGibt es Handlungsanweisungen unseres inter-nationalen Rechtssystems für die Pflegenden

. Abb. 11.1. Verfahrensstruktur

Page 262: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

Wichtig

11

250 Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft

und die Angehörigen, wie Pflichten und Geset-ze, z. B. die Pflicht zur Hilfeleistung. Aber auchdas Selbstbestimmungsrecht jedes pflegebe-dürftigen und abhängigen Menschen könnteauf seine Wirksamkeit befragt werden.

4 Die rechtsphilosophische FrageSind die vorhandenen rechtlichen und legalenMittel und Gesetze, wie etwa das Verbot der ak-tiven Sterbehilfe, auch ethisch zu legitimieren?

4 Die wirtschaftsethische FrageWas kostet die Intensivpflege im Verhältnis zumerwarteten Nutzen für den Komapatienten?Welchen Nutzen könnten die eingesetzten wirt-schaftlichen Ressourcen für einen anderenProblemfall haben? Kann man sie besser, hu-maner für jemanden anderes einsetzen? Wel-chen Preis und welche ökonomische Bedeutungsollte Pflege haben?

4 Die anthropologische FrageWas ist der Mensch? Eine Maschine,die gepflegtwerden muss? Ein soziales Wesen mit Sprache,Kommunikationsverlangen und Zukunftsdi-mension? Ein »interexistentielles« Wesen, fürdas andere Menschen Wesensteile seiner selbstsind und die deshalb auch mitentscheiden dür-fen? Ein Wesen mit Würde und Autonomie, dasnur selbst über sich bestimmen kann? UnserFragen nach dem richtigen Handeln hat immerdann Sinn, wenn es bestimmen kann, was wirals unser Wesen zugrunde legen. Folglich ist eswichtig zu bestimmen, wer und was wir sindoder moralisch,kulturell und gentechnologischwerden wollen. Sinnvolles Handeln kann nichtohne das Wissen um unsere Natur geschehen.Ungenannte Menschenbilder dienen oft der Be-gründung bestimmter Handlungs- oder Gesell-schaftsentwürfe.

Um die Beantwortung dieser prinzipiellen Fragengeht es in jedem Einzelfall, in denen Menschen nachHandlungsmustern suchen. Dabei gibt es grund-sätzliches Rechts- und Ethikwissen, das lokal undhistorisch gerade praktiziert wird. Der Pflegendewird seinen vorliegenden Einzelfall aus der Sichtder rechtlich und ethisch geklärten allgemeinenGrundsätze beurteilen,um verantwortlich handelnzu können. Dies nennt man deduktives Vorgehen(Deduktion), vom Allgemeinen aus den Einzelfallbeurteilen. Verantwortlich bedeutet dabei, eine

rechtlich oder ethisch vorhandene Antwort anzu-wenden.

Treten aber Situationen oder Pflegefälle auf, fürdie keine eindeutigen Handlungsgrundsätze exis-tieren, weil sie einen bislang unbekannten ethi-schen oder rechtlichen Konflikt auslösen (etwa: istdas Leben eines natürlichen oder das eines gen-technisch veränderten Menschen wertvoller),dannkann der besondere Konfliktfall verlangen, überneue oder veränderte Grundsätze nachzudenken(Induktion).

Das System der philosophischen Ethik

Mit einer Theorieschablone,die über den Einzelfallder Praxis gelegt werden kann, ist sicherlich nichtzu rechnen.Ethische Professionalisierung bedeutet,dass wir flexibel auf Entscheidungsprobleme undauf Veränderungen der Gesellschaft reagieren undKonfliktfälle unseres Arbeitsfeldes theoretisch dif-ferenzieren können.Theorie bedeutet ursprünglichbetrachten, sehen, anschauen. Je differenzierter wirbetrachten können, um so genauer wird die Analy-se oder Erkenntnis dessen, womit wir es in einemKonflikt eigentlich zu tun haben.

Die philosophische Ethik ist durch die Er-fahrung der menschlichen, sozialen undwertenden Ungleichheit motiviert. AuchPflegesituationen sind oft von Ungleich-heiten an Kompetenz, Macht, Kapital, Re-putation, Beziehungen etc. geprägt.

Wie können wir zusammenleben, wenn erstens je-der und jede etwas anderes in seinem Leben willund alles verschieden bewertet? Wenn zweitensMenschen ungleich an Gesundheiten und Fähig-keiten, Widerstandskraft, Anpassungsvermögen,Talenten und Erbschaften sind oder durch das Um-feld geworden sind? Eine doppelte Ungleichheitgeht jeder ethischen Überlegung voraus: Die desErbes. Menschen unterscheiden sich durch ihrnatürlich-biologisches und ihr sozial-kapitalesErbe. Menschen haben eine biologische und einesoziale Erbschaft. Jemand kann zu einer bestimm-ten handwerklichen Tätigkeit befähigt sein, wäh-rend ein anderer besser abstrakt, planerisch arbei-

Page 263: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

Wichtig

11.1 · Die philosophische Ethik11251

tet und die besseren Waffen oder Überlebensbe-dingungen entwickelt. Die soziale Geburt kann ei-nen Menschen am Rand der Gesellschaft, in ihrerMitte oder in privilegierten Positionen aufwachsenlassen und entsprechend in bestimmte Metiersdrängen.Diese Ungleichheit kann ein quantitativesMehr oder Weniger sein, also ein Stärker oderSchwächer oder ein qualitatives Anderssein.

Ist der alte oder zu pflegende Mensch einschwächerer Mensch oder nur ein Menschin einem anderen Lebenszyklus? Ist er alsoweniger oder anders?

Die zweite Ungleichheit zwischen Menschen be-steht in der möglichen subjektiven Andersgestal-tung und Andersbewertung aller Lebensbereiche.Menschen leben und bewerten verschieden. Re-spektiert die philosophische Ethik diese Tatsache,ergibt sich eine ihrer Hauptfragen: Wie können ob-jektiv verschieden ausstaffierte, talentierte undauch noch subjektiv verschieden wertende Wesenzusammenleben? Unsere pluralistische Gegen-wartsgesellschaft versucht ein Höchstmaß anmenschlicher Verschiedenheit zu ermöglichen.

Auch die »Ethik der Pflegeberufe« hat von ei-nem in Gemeinschaften immer auftretenden Phä-

nomen auszugehen: Der Pflegeberuf hat per se mitMenschen in prekären und hilfsbedürftigen Le-benslagen zu tun. Er ist immer mit der Machtfragezwischen Ungleichen, der Gleichberechtigung, derAbhängigkeit und dem Missbrauch der Hilfsbe-dürftigkeit, aber auch dem Missbrauch durch Mit-leid und Opfermentalität konfrontiert.

Sehen wir uns jetzt zuerst das System der phi-losophischen Ethik an (. siehe Abbildung 11.2), umzu wissen, wie wir die Grundlagen einer »Ethik derPflege« finden können.

Eine wichtige Unterscheidung innerhalb derphilosophischen Ethik ist die zwischen Sozial- undIndividualethik. Sie betrifft den Personenkreis. DieIndividualethik fragt nach den persönlichen Le-bensmaximen und Lebenszielen der/des Einzelnen.Strebt z. B. ein Mensch nach Macht, nach Wohl-stand, nach Freundschaft, nach fun oder events,nach einem tugendhaften Leben?

Die Sozialethik fragt nach den Grundsätzen derzwischenmenschlichen Handlungen. Etwa: Gibt esgemeinsame Ziele? Sollen Menschen gleich behan-delt werden? Was geschieht mit den Schwachen?Soll Gleiches mit Gleichem vergolten werden oderwird ausgleichende Gerechtigkeit praktiziert?

Die zweite Unterscheidung ist die zwischen Be-schreibung einer Handlung und ihrer Wertung.Die»deskriptive Ethik« beschreibt die Grundsätze,nach denen in einer Gesellschaft tatsächlich ge-handelt wird. Sie beschreibt auch die Werte, die

. Abb. 11.2. Die Systematik der Ethik

Page 264: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

11

252 Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft

Menschen mit ihrem Handeln praktizieren. Sie istalso analytisch ausgerichtet und sucht nicht nachdem richtigen Leben oder Zusammenleben. Erstdie »normative Ethik« wertet und sagt,wie wir han-deln sollten. Um eine normative Wertung aberernsthaft zu begründen, müssen »metaethische«Überlegungen angestellt werden. Die Metaethikversucht, hinter den spezifischen Wertungen dieBegründungsebene zu suchen. Sie beschäftigt sichmit der Legitimation, der Rechtfertigung und derHintergrundanalyse einer praktizierten oder einergeforderten Ethik.

Eine weitere wichtige Unterscheidung ist diezwischen der sozialen Wirkdimension einer Hand-lung (1) und den eigentlichen Mustern und Inhal-ten ethischer Grundsätze (2).Für wen ist eine Ethikausgelegt? Gilt sie für alle, oder für ein Teilsystemder Gesellschaft oder nur für eine Berufsgruppe?Diese sozialen Wirkdimensionen sind folgende:

Zu 1: Soziale Wirkdimension einer Handlung

4 Eine universale Ethik sucht nach einem Hand-lungsmuster, das trotz aller kultureller, indivi-dueller und lokaler Unterschiede global für alleMenschen gelten könnte. Sie will den gemein-samen Nenner trotz aller weltanschaulicherund religiöser Differenzen finden, d. h. eine»Ethik der Welt« (Wie es der Theologe HansKüng in seinem Werk »Projekt Weltethos«,München 1990, versucht hat).

4 Eine partikulare Ethik (partikular = besonders,abgetrennt) beschäftigt sich dagegen nur mitspeziellen Teilbereichen der Ethik, aus denensich aber das Gesamtethos einer Gemeinschaftzusammensetzen soll. So kann eine Medizin-ethik völlig anderen Grundsätzen folgen alseine Wirtschaftsethik,eine »Ethik der Pflegebe-rufe« genau entgegengesetzte Grundsätze zurBörse oder dem Arbeitsmarkt entwickeln, weilfür die Pflege der Wert eines Menschen absolut,für den Markt jedoch nur relativ ist.

4 Die Berufsethik versucht Kodizes zu erstellenund zu begründen, die die besonderen ethi-schen Anforderungen für ein Metier berück-sichtigt.Wie etwa die »Ethik der Pflege«,die diebesondere Situation der Pflegeabhängigkeitausdifferenzieren muss.

Ob Sozial- oder Individualethik, immer stellt sichhier die Frage, ob eine subjektive Maxime oder dieEthik einer bestimmten Gruppe für alle, nur fürmich oder für einen bestimmten Kreis gelten soll.Denn selbst der Individualethiker kann seineHandlungsmaximen (etwa stets egoistisch und pro-fitorientiert zu sein) als seine Privatsache oder alsallgemeine Privatsache ausgeben, indem er seineprivate Maxime für individuell oder für allgemein-gültig hält.

Zu 2: Muster und Inhalte ethischer Grundsätze

Die eigentlichen ethischen Inhalte werden in dreigrundsätzliche unterschieden:4 Formale Ethik: Es gibt ethische Regeln, die nur

formal sind. Zum Beispiel »Handle so, dass Duwollen kannst, dass Dein Handeln allgemeinesPrinzip werden kann.« (Kant 1929, S. 100) Hierist nicht gesagt, wie ich genau handeln soll, obmenschenfreundlich,aggressiv oder egoistisch.Es wird nur empfohlen zu überlegen, ob ich fürmich verlangen und erwarten kann, dass meinHandeln von anderen anders beantwortet wird.(Ich bin aggressiv, erwarte aber von andereneine freundliche und friedliche Umgangsart.)Bekanntestes Beispiel ist die Goldene Regel:»Was Du nicht willst, was man Dir tut, das fügeauch keinem anderen zu.«Eine individualethische Formalethik könntelauten: Ich verhalte mich immer so, dass es mir am meisten nützt. Auch hier wird keinbestimmtes Handeln festgelegt, sondern nurdie Formel meiner Handlungsweise: In diesemBeispiel: Ich bin opportunistisch, wenn es mirnützt.

4 Wertethik: Sie dagegen sucht bestimmte Hand-lungsnormen, wie Brüderlichkeit, Egoismus,Nächstenliebe,Machtsteigerung,Profitoptimie-rung, Lustgewinn, die einen bestimmten Wertund einen konkreten Inhalt haben.

4 Esoterik: Daneben gibt es noch mehr oder we-niger unreflektierte ethische Deutungen, zudenen die Esoterik, die Ideologien, die Selbst-deutungen und Rationalisierungen eigenenVerhaltens zählen. Sie leiten ethische Hand-lungsanweisungen nicht selten aus dem offen-sichtlichen Interesse ab, die Komplexität unse-rer Wirklichkeit zu verkürzen und mit griffigen

Page 265: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

11.2 · Ethik und Recht11253

Schablonen und Allerweltsbegriffen Erklärun-gen und Legitimationen zu bieten.Dazu nimmtman gerne als Quellen ein einziges Buch, dieSterne, ein Menschenbild, einen Naturbegriff,die »Normalität«, das »Immer-Schon« der Tra-dition,die Gewohnheiten,das »sichere Gefühl«,den »letzten Schrei« etc.

Im Handlungsfeld der Pflegeberufe werdendie oben genannten Unterscheidungenfast ausnahmslos wirksam: Die Pflegendenbrauchen für sich eine Individualethik, umdie helfende Art ihres Berufes in ihre Le-bensmaxime integrieren zu können. Siebenötigen eine Sozialethik, um den Um-gang mit der Klientel, den Kollegen undden Institutionen zu gestalten. Sie werdenals Kompetenz ihrer Professionalisierung inder Lage sein, die in der Praxis vorgefunde-nen rechtlichen und ethischen Muster undWertungen zu analysieren. Daneben sindsie in der Lage,bestehende Praxismaßstäbenormativ zu kritisieren und ihre Kritik me-tatheoretisch im Team zu begründen. DieDimension ihrer ethischen Werte wird so-wohl universal angelegt sein als auch be-rufsethisch partikular. Das heißt, der Bezugzu den humanen Grundwerten, den Men-schenrechten und Grundrechten ist deruniversale Anteil. Die soziale Besonderheitdes Pflegeberufes wird das spezifische Be-rufsethos bilden. Als ethische Inhalte kön-nen sowohl formale Regeln (wie die »Gol-dene Regel«) als auch Werte (wie Toleranz,Wohlwollen, Nächstenliebe oder Egoismusund private Nutzenmaximierung) prakti-ziert werden.

11.2 Ethik und Recht

Angenommen, im einleitenden Beispiel will die In-tensivschwester ihren Vater nicht leiden und des-halb ohne Intensivmedizin sterben lassen. Es ent-steht unter anderem die Euthanasieproblematik.Welche rechtlichen Grenzen sind ihrem Handeln

gesetzt und welche ethischen Forderungen könntesie entwickeln und damit die Praxis der Klinik undder Rechtsvorgaben kritisieren? Gibt es eine ethi-sche Moralität, die auch die Rechtsvorgaben alszwar legal aber nicht legitim, weil inhuman, kriti-sieren kann? Rechtliche und ethische Handlungs-leitlinien bestimmen unser Handeln. Wir suchennach ihrer Beziehung zueinander.

Große Aspekte zwischenmenschliche Handelnwerden durch ethische Werte, Normen, aber auchdurch Rechtsstrukturen gesteuert. Während ethi-sche Werte und Normen als »schwache« Hand-lungsanleitungen zu beschreiben sind, bildet dasRechtssystem schon verbindliche, also »starke«Handlungsanleitungen. Diese unterliegen auchnicht der persönlichen Interpretation, sondernmüssen meist von jedem Menschen befolgt wer-den. Gesetze, Gebote, Verbote, Rechtspflichtenbilden einen festen Organisationsrahmen desmenschlichen Handelns.Aus den zu Recht und Ge-setz gewordenen Grundsätzen werden gesellschaft-liche Institutionen, die Ordnung rechtlich verwal-ten. Moralische Gebote haben dagegen eine schwä-chere Verbindlichkeit und können auch je nachPersonenkreis alternative Inhalte haben.

Andererseits ist historisch zu sehen, dassRechtsänderungen ein neues soziales Ethos be-stimmt haben. Beispiele dafür sind Revolutionen.Mit der Entmachtung von Teilen der Gesellschaftwurden andere Werte eingeführt, neues Recht ge-schrieben und die Idee der Demokratie vorbereitet.Diese sprunghaften Rechtsänderungen waren oftResultate von sozialen Machtkämpfen oder inter-nationalen Kriege. Die »Allgemeine Erklärung derMenschenrechte« nach zwei Weltkriegen ist einBeispiel für einen Quantensprung in der konse-quenten gesellschaftlichen Einführung ideenge-schichtlich schon lange vorhandener Normen.

In nichtrevolutionären oder in friedlichen Zei-ten vollzieht sich eine langsamere Wandlung ethi-scher Begriffe oder der realen Praxis einer Gesell-schaft, die dann eine nachbessernde, reformieren-de Rechtsveränderung nach sich ziehen kann.

Als etwa die vertragliche Ehe für partner-schaftliche Lebensgemeinschaften immer wenigerüblich wurde, entstand in Deutschland das »ehe-ähnliche Verhältnis« als Rechtsinstitut. Unver-heiratete Paare wurden verheirateten in einigenAspekten, z. B. dem Wohngeld, gleichgestellt.

Wichtig

Page 266: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

11

254 Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft

Die Rechtsprechung folgt also oft den Verände-rungen der Handlungs- und Lebensformen. Ande-rerseits zeigt dieses Beispiel noch eine andere Ten-denz im Verhältnis von praktizierter Ethik undRecht. Die Entstehung »eheähnlicher« Lebensge-meinschaften war eine gesellschaftliche Entmorali-sierung dieser Lebensform,die es dem Gesetzgeberermöglichte, längst existierende verfassungsmäßi-ge Grundsätze, nämlich den Art. 2 und den Gleich-heitsgrundsatz nach Art. 3 Grundgesetz auf dieneue Entwicklung anzuwenden.

7 Art. 2 GG (Grundgesetz): Jeder hat das

Recht auf die freie Entfaltung seiner Per-

sönlichkeit, soweit er nicht die Rechte

anderer verletzt und nicht gegen die

verfassungsmäßige Ordnung oder das

Sittengesetz verstößt.

Das heißt, aus vorhandenen Verfassungsgrundsät-zen, hier der Gleichheit aller Menschen und desRechts auf freie Lebensgestaltung, wird eine zivil-rechtliche Konsequenz gezogen.

Sofort stellt sich dabei die Frage: War die vor-malige Ungleichbehandlung unverheirateter oderhomosexueller Lebensgemeinschaften nicht ver-fassungswidrig?

Nur »beschreibend« sei festgehalten, dass er-stens Gesetzte und ethische Vorstellungen sich im-mer verändert haben und vorhandene Grundsätzeund Rechte oft nicht in allen möglichen Konse-quenzen in die Rechtspraxis umgesetzt wurden undwerden.

Ein zwar rechtlich gebundener, aber ethischverantwortlicher Mensch ist stets gefordert, eine inseinem (Pflege-)Beruf vorgefundene rechtlicheHandlungspraxis dreifach selbst zu hinterfragen.4 1. Werden den Klienten in ihrem Alltag alle vor-

handenen Rechte eingeräumt? 4 2. Werden seine / ihre Rechte konsequent ange-

wandt? 4 3. Ist der Stand der geltenden Rechtssprechung

angemessen, menschengemäß, verhältnis-mäßig und würdevoll?

Bei der Dynamik und den Veränderungen zwi-schen ethischen und rechtlichen Handlungsricht-linien können folgende Grundformen festgestelltwerden:

4 Die Geschichte zeigt, dass sich Rechte und Ge-setze immer geändert haben und auch zukünf-tig ändern lassen. Gründe dieser Rechtsent-wicklungen waren neue Auffassungen vonStaatsformen (z. B. vom absoluten Staat zumdemokratischen Staat), Gesellschaftsformen(von der ständisch-hierarchischen zur plura-listischen Gesellschaft) und Legitimationsfor-men der Macht (z. B. durch den Souverän alsGott,als König,als Volk,als Naturrecht des Men-schen, als Menschenrecht heute) und Men-schenbildern (z. B. der Mensch als des Men-schen Wolf oder als des Menschen Mensch).Diese Veränderungen folgten nicht unbedingteinem vernünftigen Prinzip, sondern entstan-den oft durch Machtverschiebungen, Revolu-tionen und Kriegsergebnisse. Die Auffassung,dass sich Geschichte immer zum Guten undMenschlicheren hin verändert, ist eine wün-schenswerte Hoffnung und ein kulturelles End-zeit – Erwartungsmuster, aber kein »Gesetz«der Geschichte.

4 Das Ethos als Praxis menschlicher Handlungenkann sich ändern.Dann folgen diesen Verände-rungen oft neue Gesetze und neues Recht (sie-he »eheähnliche Gemeinschaft«).

4 Bestehende, alte Gesetze oder Grundrechtekönnen konsequent angewandt werden wie imFall der Gleichbehandlung der Ehe zwischenSchwulen und Lesben.

Legal aber nicht legitim

Der Motor einer gesellschaftlichen aber auch be-ruflichen Praxisänderung ist der Wandel in der Auf-fassung des ethisch und human Richtigen.Was heu-te rechtlich festgeschrieben ist, wird für legal ge-halten. Ist es damit auch schon legitim? DieLegalität des Rechts lässt sich ethisch hinterfragen.

Diese Unterscheidung zwischen Legalität undLegitimität ist für die klientenorientierte Praxiswichtig. Die Legalität einer Handlung orientiertsich an der Rechtmäßigkeit, den Gesetzen und denbereits vorhandenen Grund- und Menschenrech-ten.Die Frage nach der Legitimität einer Handlungüberragt aber die Unabänderlichkeit und Verbind-lichkeit allen Rechts.Wenn etwas zwar gesetz- oderrechtmäßig ist, sich aber als unmenschlich, unwür-dig und unverhältnismäßig auf Klienten und Mit-menschen auswirkt, verliert es seine Legitimität

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11.3 · Wer ist der Mensch: Anthropologie11255

und kann »legales Recht« kritisieren und abschaf-fen.Praktiziertes Recht kann insofern auch Unrechtsein! Das Halten von Sklaven, die Kinderarbeit, dieApartheid, die Rechtsprechung des Naziregimes,der totalitäre Absolutismus, die feudalen Privile-gien, die Verbindung von Staat und Kirche, dieRechtlosigkeit der Frau, die Diskriminierung ho-mosexueller Lebensgemeinschaften, die ungleicheBezahlung gleicher Arbeit, die Besteuerung desExistenzminimums etc. waren einmal »geltendesRecht«.Nur durch die ethischen Frage nach der Le-gitimität dieses geltenden Rechts wurde diese prak-tizierte und legalisierte Unmenschlichkeit und Un-gerechtigkeit überwunden.Wir können aus histori-scher und alltäglicher Erfahrung nicht davonausgehen, dass dieser Prozess der Humanisierungdes Rechts abgeschlossen ist. Damit wird auch dieethische Reflexion in der Praxis niemals endenkönnen.

Was sind aber die ethischen Kriterien,mit denenwir Rechtsstrukturen in der Praxis kritisieren kön-nen? Ändern sich diese Kriterien nicht ebenfalls?

Menschengemäßheit und Menschenwürde wer-den als ethische Grundwerte angegeben, die densozialen Umgang mit dem Klienten und auch dieEinrichtung des Lebensraumes des Klienten prä-gen sollten. Was ist aber dem Mensch gemäß? Wasentspricht seinem Wesen? Hilft hier der Begriff derWürde, der in unserer Verfassung (Art. 1 GG) undden Menschenrechtserklärungen seit 1949 dashöchste Gut ist, das wir in der abendländischenKultur besitzen.

Wenn wir bestimmen wollen, was menschen-gemäß ist und auch der Würde des Menschen ent-spricht, gelangen wir an die anthropologische Fra-ge (siehe oben) der philosophischen Ethik.

11.3 Wer ist der Mensch: Anthropologie

Bevor wir jetzt die Grundsätze suchen, »wie wir le-ben und handeln«, geht eines noch voraus. Wirmüssen wissen, was wir als Spezies sind! Was ist derMensch? Denn wir leiten immer wieder aus be-stimmten Eigenschaften des Menschen auch ethi-sche Folgerungen ab. Und umgekehrt werden Ge-sellschaftsmodelle gerne mit bestimmten Men-schenbildern gerechtfertigt.Wenn wir also ethischeProblemfälle lösen wollen, müssen wir offen legen,

welches oft unbewusste Menschenbild wir hintereiner ethischen Vorstellung vorfinden.

Auf die Gefahr,Menschenbilder für eigene ideo-logische Zwecke zu entwickeln, hat die »kritischeAnthropologie« hingewiesen. Die totalitäre Gefahrvon Menschenbildern ist sehr einleuchtend: Wer ab-weicht von diesem Bild, ist kein Mensch! Der Phi-losoph Adorno hatte deshalb geraten, ohne »Men-schenbild« zu leben.

Was macht dann aber philosophische Anthro-pologie aus (Löwith 1976, Diemer 1978, S 28–29,Plessner u. Bollnow 1978) ? Sie fragt trotz der Ideo-logiegefahr von Menschenbildern danach,ob es einuniversales und allgemein gültiges Bild vom Men-schen gibt, dass auch ethisch allgemein gültig seinkann. Sie sucht also etwas, das Menschen trotz ih-rer willkommenen Verschiedenheit doch noch ge-meinsam ist.

Anthropologen haben immer wieder daraufhingewiesen, dass die ethischen und rechtlichenInstitutionen dazu dienen, einen Mangel an festentierischen Instinkten zu ersetzen, die die Weltof-fenheit des Menschen ausmacht (Instinktmangel-theorien stammen etwa von Arnold Gehlen 1971/1986/1987, Bronislaw Malinowski 1949).

11.3.1 Menschenbilder

Was ist der Mensch? Es gab in der Geschichte derAnthropologie immer wieder Bestimmungsversu-che, was der Mensch »ist«. Ihre Vertreter wolltenden Menschen konstitutionell beschreiben,d.h.sei-ne Natur noch vor der Sozialisation des konkretenMenschen in einer Gesellschaft bestimmen.

Es hat Menschenbilder gegeben, die uns mit an-deren Wesen vergleichen.Bekannteste Beispiele sind:4 Die Gottesebenbildlichkeit, die sog. »Imago-

dei«- Vorstellung der jüdisch-christlichen Reli-gion (»ihr werdet sein wie Gott und wissen,wasgut und böse ist.« Genesis, 3,5) Der Nachteil:Andersgläubige sind keine richtigen Menschen.

4 Ein anderes Anthropologem (Das Anthropo-logem: Grundaussage über den Menschen)meint, der Mensch sei das »grausamste Tier«,ohne Tötungshemmung gegenüber seinen Art-genossen. Oder, wie Thomas Hobbes, FriedrichNietzsche oder Alfred Adler es präzisiert haben,für den Naturzustand gelte,der Mensch sei »des

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11

256 Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft

Menschen Wolf«. Er strebe nach unbeschränk-ter Macht über andere. Der Mensch sei »Willezur Macht«, der sich im Dauerkrieg aller gegenalle und in der permanenten Demütigung desSchwächeren durch den Stärkeren äußere.

4 Dann wieder seien wir ein »arrivierter Affe«,ein Emporkömmling. Im Vergleich mit demTier hat die Anthropologie uns als instinktun-sicher,als Mängelwesen bezeichnet,was wir mitKultur und Sprache im »sozialen Uterus« aus-gleichen müssen. Wir seien eine »evolutionäreFrühgeburt« mit einer ungeheuer verlängertenBrutpflege. Das Soziale sei der Ausgleich fürdas,was uns an Instinkten fehlt.Wir werden vielzu früh geboren und müssen im »sozialen Ute-rus« leben, mit viel Hilfe durch andere.

Wenn wir davon ausgehen, dass wir »Früh-geburten« sind, die heute 20 Lebensjahreund mehr Unterstützung brauchen, umselbstständig leben zu können, dann wirftdas auch ein anthropologisches Licht aufdas Wesen der Pflegeberufe. Sie sind dannnur ein Spezialfall der Sozialisation. EbenHilfe,Beratung,Therapie,Unterstützung,Er-ziehung bei der Menschwerdung. Hilfsbe-dürftigkeit und Hilfsfähigkeit ist dann einwichtiges Anthropologem. Etwas, das denMenschen auszeichnet.Jede neue und jedealternde Generation ist abhängig von in-tergenerativer Hilfe,d.h.der Hilfe zwischenden Generationen.Der Mensch braucht zurMenschwerdung eine »Enkulturation«.Pfle-gesituationen sind im weitesten Sinne Teildieser »Enkulturation«,d.h.eine werte- undnormenvermittelnde Tätigkeit. In der phi-losophischen Anthropologie wird diesauch mit der »Interexistentialität« (Rentsch2001) des Menschen bezeichnet. Sein We-sen ist als hilfsbedürftiges und hilfespen-dendes immer zwischen-menschlich. WirMenschen können das Leben nicht alleinbewältigen. Ein Mensch ist in seiner Da-seinsform kein selbstständiges Individu-um, sondern ein kommunizierendes Ge-meinwesen.

11.3.2 Was Menschen nicht widerfahren soll:Negative Anthropologie

Eine »Anthropologie« hat sich besonders unterdem Eindruck der Gefahr von Menschenbildernheute durchgesetzt, nämlich der Typ des »negati-ven« Menschenbildes. Was heißt das? Negativ be-deutet hier nicht schlecht, sondern wir unterlassenAussagen darüber, was der Mensch ist und definie-ren uns durch das,was wir nicht sind,oder nicht er-tragen wollen. Das wird »negative Anthropologie«genannt. Sie macht Aussagen über etwas, von demangenommen werden kann, dass es kein Menscherleben will.Das gemeinte Phänomen ist deshalb inder Lage universal zu gelten. Es ist eine der wich-tigsten anthropologischen Grundlagen der Pflege-wissenschaften.

Menschen wollen nicht vergeblich leiden.Leiden zu instrumentalisieren, um ein besseres

oder späteres Lebensglück zu erreichen, zählt na-türlich zu der menschlichen Fähigkeit, die Gegen-wart zu überschreiten und mit dem Glauben, derHoffnung oder der Gewissheit auf Besserungschlimme Lebensphasen zu überstehen und sogareinzuplanen.

Nicht vergeblich physisch,seelisch,sozial durchAusgrenzung,Abwertung, Demütigung, Entwürdi-gung leiden – diese Idee der Leidvermeidung oderLeidminimierung ist so alt wie die Weltreligionenund Utopien und so alt wie deren Erlösungs- undHeilslehren. Selbst die atheistische Religion desBuddhismus sucht in ihrer Weisheitslehre eine »Er-lösung vom Leiden« (Khoury 1978). Wir anderer-seits haben die Idee der Leidreduzierung alsGrundlage unserer Völkergemeinschaft säkulari-siert,d.h. im Völkerrecht, in der Gründung der Ver-einten Nationen verweltlicht. Ebenso in der Allge-meinen Erklärung der Menschenrechte. Die Chartader Vereinten Nationen von 1945 spricht in ihrerPräambel, dem Vorwort, deshalb von dem »unsäg-lichen Leid«, das wir verhindern müssen.

Folgt aus der Anthropologie, dass Men-schen nicht leiden wollen, für die Intensiv-schwester automatisch, dass sie ihrem Va-

Wichtig

Wichtig

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11.3 · Wer ist der Mensch: Anthropologie11257

ter Sterbehilfe leistet? Gibt es noch andereWerte, die den Unwert des Leidens überra-gen und Menschen zur Erduldung jedesLeidens auffordern? Gehört es zur Würdedes Menschen, auch sein Leiden selbst-bestimmt anzunehmen oder abzulehnen?

Anthropologisch kann zunächst gelten: Durch dieFähigkeit, Schmerz, Angst oder soziale Not als sol-che wahrzunehmen,wird Leiden für den Menschenzum Korrektiv der Selbstbestimmung. Am Leitfa-den einer Not können Menschen sich und ihre Ge-sellschaftsform gewissermaßen »negativ« bestim-men. Hier gibt die Anthropologie auch der Ethikder Pflegeberufe Entscheidungshilfen. Denn wennwir ethisch aus Toleranz kein fixes Menschenbildfestlegen wollen, sind wir in der Gefahr der Belie-bigkeit, des Relativismus.

Mit Relativismus wird philosophisch eine dop-pelte Aussage verstanden: Die positive Aussage lau-tet: Es gibt keine absolute oder totalitäre Wahrheitund Norm, der sich alle Menschen zu unterwerfenhätten. Dieser Relativismus ist damit die Basis un-ser Toleranz gegenüber der menschlichen Lebens-und Glaubensvielfalt. Der negative Begriff des Re-lativismus meint eine Beliebigkeit, die glaubenmacht, alles sei erlaubt. Danach gäbe es keine hu-manen rechtlichen und ethischen Werte,kein Han-deln, das zu ächten sei.

Alles was Menschen widerfährt, wäre dann zutolerieren. Wenn Menschen aber nicht leiden wol-len, dann haben wir einen ersten ethischen Leitfa-den, was nicht sein soll. Das meint »negative An-thropologie«: Menschen wollen nicht leiden. Undvom dem ausgehend können wir behutsam ethischbestimmen, was im persönlichen, aber auch im be-ruflichen Leben nicht sein sollte.

Menschliches Leiden ist wie der Wegweiser zuunserem Wesen.Ebenso kann die leidvolle mensch-liche Geschichte negativ den Weg weisen, was zwi-schenmenschlich nicht sein sollte.

11.3.3 Folgen der Versehrbarkeit des Menschen:eine abwägende Ordnung

Wenn ein Mensch nicht leiden will, warum abersollte daraus folgen, einem anderen Menschen in

einer leidvollen Situation zu helfen? Dies ist eine(pflege-) ethische Grundfrage.Warum soll sich einMensch um einen andern kümmern, dem esschlechter geht? Warum soll der Stärkere nicht an-dere unterjochen und für seine eigenen Interesseninstrumentalisieren?

Zur Beantwortung dieser Frage kann ein Bei-spiel aus der Rechtsgeschichte dienen: Die Fehdeim Mittelalter.Es geht dabei um die Abwägung zwi-schen zwei ethischen Gütern: Um die Abwägungzwischen Freiheit und Leid.

Fehde, die vom 11.–16. Jahrhundert in Europa

praktiziert wurde, meinte, dass private Rache-

akte gegen Feinde durchgeführt werden durf-

ten. Gängig war der allgemeine Bürgerkrieg

und die Unsicherheit, aus heiterem Himmel

überfallen,getötet oder verletzt zu werden.Um

diesem Chaos und dem Risiko vorzubeugen,

wurde es später Pflicht, die Fehdebrutalitäten

erst nach allen anderen gütigen Versuchen an-

zuwenden.Man musste sie außerdem ankündi-

gen, durch den Fehdehandschuh, den man als

Kampfansage werfen musste. Später durfte

man sich nur noch an bestimmten Tagen be-

kämpfen. Es gab kampffreie Tage, etwa den

»Gottesfrieden« an Festen und schließlich den

»Viertagefriede« von Mittwochabend bis Mon-

tagmorgen.

Was hier rechtsgeschichtlich entsteht, ist eine Ab-wägung. Die Freiheit zur Rache und Selbstjustizwird abgewogen gegen die Sicherheit, nicht will-kürlich umzukommen.Man übergab ein Stück per-sönlicher Freiheit dem Rechtssystem. Ein Teil derFreiheiten wurde eingeschränkt, um ein anderesGut zu erhalten: das Abwehrrecht oder die Sicher-heit gegen Gewalttaten und Willkür.

Rechtsphilosophisch spricht man von der ne-gativen Freiheit. Es ist die Freiheit »von« etwas. Ichbin frei von Gewaltübergriffen. Ich erhalte negativeSchutzfreiheiten und gebe einen Teil meiner positi-ven Handlungsfreiheiten dafür ab. Ich darf dannnicht mehr töten, verletzen, tun und lassen, was ichwill und meinen Nachbar endlich verprügeln. UmUnsicherheit, Gewalt und Leid abzubauen, entsteht

Beispiel

Page 270: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

11

258 Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft

die Idee der Rechtsordnung.Es werden Freiheit undLeid als ethische Güter miteinander abgewogen. Inunserem Beispiel kann die negative Freiheit des Va-ters, nicht leiden zu müssen, mit seiner positivenFreiheit und seinem Recht, zukünftig doch mögli-cherweise wieder autonom zu leben, abgewogenwerden.

Menschen wollen nicht vergeblich leiden.Dafürgeben sie Freiheiten ab und erhalten Schutz und Si-cherheiten. Private Lebenszielsetzungen werdenmit solidarischen Zielen abgewogen. Gibt es aufdieser Waage zu viel positive private Handlungs-freiheit (rechtes Gewicht), wird das Leben immerunsicherer und risikoreicher. Gibt es aber (linkesGewicht) zu viel Sicherheiten und Pflichten,nimmtdie Handlungsfreiheit auf der rechten Seite derWaage immer mehr ab. Zwischen positiver Hand-lungsfreiheit und negativer Schutzfreiheit wird bisheute in unsere Rechtsprechung hinein abgewogen,z. B. in vielen Urteilen des Bundesverfassungsge-richts wie dem Kruzifixurteil (BVerfGE 91, 1).

Zwischenergebnis der Anthropologie:Menschen wollen nicht leiden. Sie leben inInterexistentialität und sind von Natur ausauf Hilfe anderer angewiesen.Deshalb ent-stand die ethische und juristische Idee derAbwägung von Gütern und Rechten.

11.4 Die unvollendete Ethik unserer Marktgesellschaft:Der Liberalismus

Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhundert sieht sichdie Pflegewissenschaft im Rahmen der »Ökonomi-sierung der Gesellschaft« auch mit dem Kosten-Nutzendenken konfrontiert. Man spricht von einer»BWL-isierung« der sozialen Frage.Wichtig in die-sem Zusammenhang werden Leanmanagement,Budgetierung, Sponsoring, Controlling, Kosten-deckungsprinzip,Qualitätssicherung,Fundraising,also die Mittelbeschaffung.Soziale Berufe sollen aneffizienten Umgang mit knappen Finanzressourcengewöhnt werden.

Der »Liberalismus« bildet eine der wichtigstenethischen Grundlagen unserer Gesellschaft. Er hatzwei Gesichter und Ausprägungen: den politischenund den wirtschaftlichen Liberalismus (. Abb.11.3).Zusammen bildet er eine widersprüchliche Gestalt,die zugleich soziale Probleme schafft und sie abzu-schaffen versucht. Der Name ist Programm: Libe-ralismus will befreien.

Das Ziel des politischen Liberalismus ist die Be-freiung des Menschen von Fremdbestimmung.DerEngländer John Locke hat das am Ende des 17. Jahr-hundert so ausgedrückt:

7 Die natürliche Freiheit des Menschen

liegt darin, von jeder höheren Gewalt

auf Erden frei zu sein, nicht dem Willen

der gesetzgebenden Gewalt einiger

Menschen unterworfen zu sein …

(John Locke: Zwei Abhandlungen über

die Regierungen, II 4. Kap. § 27).

Das wird die Voraussetzung zur AmerikanischenUnabhängigkeitserklärung (1776) und der Franzö-sischen Revolution (1789), bei der zum ersten MalMenschenrechte verkündet werden (allerdings hat-ten nur Männer Menschenwürde,und auch nur die-jenigen,die eine bestimmte Steuerhöhe aufbringenkonnten). Der politische Liberalismus führt im20. Jahrhundert zur Erklärung der Menschenrech-te,den politisch-bürgerlichen Grundrechten in un-serer Verfassung und zu unseren bürgerlichen po-sitiven und negativen Grundfreiheiten.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechtevon 1949 legt folgende Grundrechte fest:

7 Art. 1 (Freiheit, Gleichheit, Brüderlich-

keit): Alle Menschen sind frei und gleich

an Würde und Rechten geboren. Sie sind

mit Vernunft und Gewissen begabt und

sollen einander im Geiste der Brüder-

lichkeit begegnen.

Art. 2 (Verbot der Diskriminierung);

Art. 3 (Recht auf Leben und Freiheit);

Art. 4 (Verbot der Sklaverei und des

Sklavenhandels); Art. 5 (Verbot der

Folter); Art. 6 (Anerkennung der Rechts-

person); Art 7 (Gleichheit vor dem

Gesetz); Art. 8 (Anspruch auf Rechts-

schutz).

Wichtig

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11.4 · Die unvollendete Ethik unserer Marktgesellschaft: Der Liberalismus11259

Der politische Liberalismus sieht im Nebenmen-schen die Garantie der Freiheit – als Solidarität.Vonihm stammt der Wärmestrom, die Ideen der Brü-derlichkeit und Gleichheit.Er schafft die natürlichemenschliche Ungleichheit durch politische Gleich-stellung ab! Seitdem sind alle Menschen »frei undgleich an Würde und Rechten geboren«, wie es inder »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte«der Vereinten Nationen von 1948 in Art. 1 heißt.

Der wirtschaftliche Liberalismus versuchte im18. Jahrhundert zunächst Vergleichbares, nämlichdie Befreiung von wirtschaftlicher Bevormundung.Klerus und Adel bevormundeten im Merkantilis-mus durch Standesschranken,Privilegien,Handels-und Vertragsverbote die anderen Stände. Es gabFrondienste, Steuern, den Kirchenzehnten, dierechtliche Unfreiheit und Ausnutzung der Bauernund Landlosen im Feudalismus.Der wirtschaftlicheLiberalismus versucht das staatsdirigistische Wirt-schaften des Adels abzuschütteln,das zu Lasten desgrößten Teils der Bevölkerung ging. Wirtschaftenheißt bis dahin Hofhaltung und Staatswirtschaft.Diese Wirtschaftsform wird auch Kameralistik ge-nannt. Es ist die deutsche Richtung des Merkan-tilismus. Vorrangige Zielsetzung ist die Sicherungder Staatsfinanzen, wobei die Kameralistik als ef-fektivstes Mittel die Förderung eigenständigerProduktivkräfte der Agrikultur, Textil- und Metall-industrie in großgewerbliche Betriebsformen ge-sehen hat.

Zu Beginn des 19. Jahrhundert (um 1810) zeigtsich auch eine reale Wirkung der wirtschaftslibera-listischen Idee (Smith 1978). Die Bauernbefreiungbeginnt in Europa. Die Sklaverei wird langsam ab-geschafft. Die Vertrags- und Handelsfreiheit wirdeingeführt.

Der politische Liberalismus hat die natürlicheUngleichheit der Menschen politisch ausgeglichen.Menschen haben gleiche Rechte erhalten.Der wirt-schaftliche Liberalismus setzt dagegen auf die Kon-kurrenz der Kräfte, den Konkurrenzkampf. Er be-freit wirtschaftlich Abhängige vom Druck der altenPrivilegien,die sich Klerus und Adel bis ins 18.Jahr-hundert hinein vorbehalten hatten. Diese Art derBefreiung führt zum Prinzip der freien Marktkräf-te, des Lebenskampfes frei wirtschaftlich Handeln-der. Der Andere ist und bleibt Konkurrent. Er kon-kurriert als Nebenmensch mit dem wirtschaftli-chen Egoismus und den positiven Freiheiten desAnderen. Die wirtschaftliche Liberalisierung hatsomit zur Abschaffung ungerechter Privilegiengeführt. Sie findet aber keine humane Antwort aufdie Frage, wie die natürliche oder wirtschaftshisto-rische Ungleichheit in eine Zivilgesellschaft ohneWirtschaftskampf und Verlierer überführt werdenkann. Es ist vielmehr offensichtlich, dass ohne einerechtliche Gleichstellung ungleicher und ungleichausstaffierter Wirtschaftssubjekte eine Gesellschaftentsteht, die den Schutz des »sozial« Schwächerenvor dem Missbrauch des Stärkeren nicht grund-

. Abb. 11.3. Der Liberalismus

Page 272: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

Beispiel11

260 Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft

rechtlich garantiert. Der wirtschaftliche Liberalis-mus tendiert nicht zu einer zivilen Wirtschaftsge-sellschaft, in der auch der sozial Schwache die wirt-schaftliche Grundrechtegleichheit erhält, die ihmder politische Liberalismus in Form der politisch-bürgerlichen Rechte längst geschaffen hat.

Für den »reinen wirtschaftlichen Liberalismus«oder die »reine Marktwirtschaft« sind ausgleichen-de Gerechtigkeit und Freiheit unvereinbar. Ein So-zialstaat zerstöre die Freiheit und die Gerechtigkeit,sagen ihre Vertreter. Der Stärkere würde durch dieausgleichende Gerechtigkeit des Sozialstaates undseiner Dienste ungerecht behandelt.

Mit diesem Doppelantlitz deklariert der Libe-ralismus einerseits die grundrechtliche menschli-che Gleichheit und Brüderlichkeit und anderseitsdie Konkurrenz ungleich kapitalstarker Wirt-schaftssubjekte. Was die Idee des politischen Libe-ralismus humanistisch eint, führt der wirtschaftli-che Liberalismus zurück zur wirtschaftssozialenHierarchisierung bzw. Exklusion. Beide ethischenStrömungen, die politisch-bürgerliche Gleichheitund Gleichwertigkeit aller Menschen und die wirt-schaftssoziale Ungleichwertigkeit, treffen wir auchim Berufsalltag an. Menschen sind demnach»gleich an Würde und Rechten« geboren und zu-gleich mehr oder weniger wert auf der sozialenWerthierarchie des Marktes. So kann der im Komaliegende Vater als rein volkswirtschaftlicher Kos-tenfaktor und als unproduktives Wesen aufgefasst

werden,»das« durch seine Unfähigkeit zu handeln,der Logik wirtschaftlicher Kalkulation »zugeführt«wird.

11.5 Die Menschenwürde als höchstes Gut

Eine Studentin äußert in einem Ethikseminar

zum Thema Menschenwürde, dass sie gesehen

habe, wie ein Jugendlicher einem anderen mit

einem Baseballschläger solange auf den Kopf

geschlagen habe, bis dieser blutüberströmt zu-

sammengebrochen sei.Für sie,sagt sie bewegt,

habe dieser brutale Jugendliche keine Men-

schenwürde und verdiene keine Achtung mehr.

11.5.1 Die unantastbare, absoluteMenschenwürde

Aus dem politischen Liberalismus geht ne-ben der Idee der Gleichheit aller Menschenauch die Idee der Menschenwürde hervor.Sie ist eine weitere ethische Grundlage derPflegeberufe (. Abb. 11.4).

Beispiel

. Abb. 11.4. Die Menschenwürde

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11.5 · Die Menschenwürde als höchstes Gut11261

Die alten Griechen und Römer kannten die Würdenur im Sinne des Würdenträgers, also verbundenmit einem Amt.In Amt und Würden sein,sagen wirheute noch. Würde war an einen sozialen Ranggebunden und ohne anerkanntes Amt hatte jemandauch keine Würde. Erst der antike Denker Cicerohat dem Menschen eine »dignitas«, d. h. Würdeschlechthin, zugesprochen, die nicht an persönli-che Leistung, an eine soziale Stellung und an dasAnsehen durch Ämter gebunden war. Sie sollte alleMenschen gleich betreffen.

Nachdem das frühe Christentum die Würde alsgöttliche Gabe verstanden hatte, löst in der Renais-sance Pico della Mirandola die Idee der Würde wie-der von aller Theologie.

7 Du kannst den Platz, das Aussehen

und alle die Gaben, die du dir selber

wünschst, nach deinem eigenen Willen

und Entschluss erhalten und besitzen

(Pico della Mirandola 1997, S. 46).

Würde war zum ersten Mal an Selbstbestimmunggebunden. Die Idee der Autonomie, der Selbstbe-stimmung entsteht. Erst später und dann ganz ty-pisch für unser Abendland wird Würde an diemenschliche Fähigkeit des Denkens gebunden. BeiBlaise Pascal, im 17 Jahrhundert, findet sich derSatz:

7 Der Mensch ist offensichtlich zum

Denken befähigt; darin liegt seine

ganze Würde und sein ganzes

Verdienst; seine Pflicht ist richtig zu

denken (Blaise Pascal, Pensées, Fr. 146).

Der kleine Nachteil bei Blaise Pascal ist deutlich.Wer nicht richtig denken kann,hat auch keine Wür-de.Einer schaffte es aber,eine Formel zu finden,diedie Menschenwürde für jeden Menschen,ob krank,schwach,behindert oder ungeboren,gelten lässt.Erhatte damit die Formel gefunden,die heute noch alsdie sogenannte »Objektformel« im Verfassungs-recht und vom Bundesverfassungsgericht ge-braucht wird: Den Menschen nicht zum Objektmachen, hatte er gesagt. Der Mensch sei immerSubjekt und Zweck seiner selbst. Es war der Philo-soph Emmanuel Kant z. Z. der Französischen Re-volution:

7 Es ist nämlich etwas in uns, was zu be-

wundern wir niemals aufhören können,

wenn wir es einmal ins Auge gefasst ha-

ben, und dieses ist zugleich dasjenige,

was die Menschheit in der Idee zur

Würde erhebt, »Handle so, dass du die

Menschheit, sowohl in deiner Person, als

in der Person eines jeden anderen, jeder-

zeit zugleich als Zweck, niemals bloß als

Mittel brauchst (Kant 1929, S 102).

Würde ist deshalb in jedem menschlichen Wesenvorhanden,weil sich in ihm oder in ihr die Mensch-heit repräsentiert. Das war der Clou. Menschen-würde ist eigentlich Menschheitswürde. Man solleim Menschen seine Menschheit würdigen, schriebKant. Die Präambel der Menschenrechtserklärungder Vereinten Nationen von 1948 übernimmt dieseIdee in ihrem ersten Satz: die »allen Mitgliedern dermenschlichen Familie innewohnende Würde«, for-muliert sie, die Menschenwürde und die Men-schenrechte seien »das Gewissen der Menschheit«(United Nations 1992).

Erst jetzt ist auch jede Frau, jedes Kind, jederehemalige Sklave, jeder Behinderte, jeder Embryo,und wir würden heute auch sagen, auch dasmenschliche Genom, Träger der unveräußerlichenMenschheitswürde. Dies ist bis heute auch die Auf-fassung des Bundesverfassungsgerichts zu Art.1 desGrundgesetzes.Die Würde des Menschen sei unan-tastbar. Auch das Deutsche Sozialgesetzbuch gibtdem Staat in seinem Art. 1 den Auftrag, »ein men-schenwürdiges Dasein zu sichern«.

Unveräußerlich bedeutet: Kein Gesetz kanndie Menschenwürde abschaffen. KeinMensch kann seine Würde ablegen.

Heute gelten unsere Grundrechte und Grundfrei-heiten als Definition der Menschenwürde.Wer ver-sucht, die in unserer nationalen und internationa-len Verfassung festgelegten Grundrechte im Um-gang mit Menschen außer Kraft zu setzen, verstößtgegen die durch sie ausgedrückte Idee der Men-

Wichtig

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11

262 Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft

schenwürde. Das erste wichtigste Grundrecht un-serer deutschen Verfassung, aus dem alle andereninhaltlich hervorgehen, lautet:Art. 1:4 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar.Sie

zu achten und zu schützen ist Verpflichtungaller staatlichen Gewalt.

4 (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zuunverletzlichen und unveräußerbaren Men-schenrechten als Grundlage jeder menschli-chen Menschheit, des Friedens und der Ge-rechtigkeit in der Welt.

4 (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Ge-setzgebung, vollziehende Gewalt und Recht-sprechung als unmittelbar geltendes Recht.

Der Mensch ist immer Zweck jeder Hand-lung, niemals Mittel. Keine Institution hateinen Selbstzweck, dem sich der Menschunterwerfen müsste.

Im Anfangsbeispiel darf der Vater im Koma nie-mals als »Störenfried« einer institutionellen oderstrukturellen Routine gelten. Sein Intensivplatzwird nicht für einen anderen Menschen »besser ge-braucht«. Zwischen Menschenleben wird grund-sätzlich nicht abwogen.

11.5.2 Die antastbare, relativeMenschenwürde

Menschenwürde wird damit als absoluter Wertetabliert, jenseits von allen Unterschieden von Ras-se, des Geschlecht, Herkunft, Religion, Eigentumusw.

Der absolute Wert jedes Menschen ist damitverfassungs- und menschenrechtlich gesichert.Diese Art der Würde kann absolute Würde heißen,weil sie jedem Menschen einen absoluten Wert zu-spricht und vor der Willkür jeder Gesetzgebungschützt. Kein Parlament kann legitim die Men-schenwürde per Gesetz abschaffen.

Es fehlt aber damit etwas,was das Dilemma dersozialen Frage löst. Warum Menschen helfen undpflegen, wenn doch alle einen unhintergehbaren

absoluten Wert haben? Warum soll es eine ethischePflicht geben, zu helfen, wenn doch trotz größterNot und Leiden Menschen niemals ihrer Würde be-raubt werden können?

Das klingt nach Zweiwelten-Denken.Hier leidetein Mensch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit,sagen wir einmal unter relativer Armut,Verlassen-heit, Alter oder Krankheit, und unabhängig davonhat er seine Würde und seinen Wert, die das allesnicht tangiert?

Deutlich wird mit dieser Frage, dass Würdeauch relativ, also in Bezug zu der Situation andererzu verstehen ist.

Ein Beispiel aus der neueren Rechtsprechung:

Im SPIEGEL vom 14.8.00: Eine Mutter und So-

zialhilfeempfängerin aus Delmenhorst wollte

nicht akzeptieren, dass ihre Tochter einen min-

derwertigen Schulranzen zu 50,– DM vom So-

zialamt bezahlt bekommen sollte, während alle

anderen Kinder mit einem Lifestyle-Produkt

ausgerüstet waren, das viel teuer ist.Die Mutter

verklagte das Sozialamt. Das Niedersächsische

Oberverwaltungsgericht gab der Mutter recht.

»Ein Billigranzen sei mit der Würde des Men-

schen nicht vereinbar. Die Schülerin dürfte mit

dem Billigprodukt nicht als Sozialhilfeempfän-

gerin erkannt werden.«

Dieses Urteil drückt den Keim einer Entwicklungdes Würdebegriffs aus: die wirtschaftssozial ent-standene Ungleichheit kann die Würde verletzen.Zu große wirtschaftssoziale Unterschiede verletzendie Menschenwürde, weil sozialer Wert und sozialeWürde auch relative Begriffe sind.Würde kann ver-letzt werden.

Dieses Kind leidet relativ an einer Differenz,dem wirtschaftlichen Unterschied. Dieses Leidenentsteht aus dem Vergleich, wie bei der relativenArmut. Es ist relatives Leiden. Die Lebenslage desEinen im Vergleich zum Anderen. In diesem Urteilsagt das Gericht ganz deutlich: relativ arm sein, So-zialhilfeempfänger sein, ist ein Stigma,das die Wür-de,also Art.1 des deutschen Grundgesetzes,verletzt.

Wir finden in unserer Gesellschaft zwei zusam-mengehörige Würdebegriffe:

WichtigBeispiel

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11.5 · Die Menschenwürde als höchstes Gut11263

Den absoluten Begriff der Würde, der jedemMenschen per Menschenrecht einen absolutenWert zuspricht. Er ist wichtig, um Menschen vorWillkür und Beliebigkeit der Gesetzgebung undstaatlicher Institutionen zu schützen. Menschen-würde und die aus ihr resultierenden Grundrechteunser deutschen, europäischen und globalen Ver-fassung können durch kein Gesetz und keine Re-gierung abschafft werden.Das Wesen dieser Würdewird durch unsere Grundrechte ausgedrückt.

Und zweitens haben wir den marktwirtschaft-lichen, wertrelativen Würdebegriff, durch den einePerson einen bestimmten sozialen Rang einnimmt,einen sozialen Wertgrad erhält.

Erst vergleichbar ausgewogene Lebensverhält-nisse schützen ethisch vor Demütigung,Herabwür-digung und Degradierungen, wie es der israelischePhilosoph Margalit genannt hat (Margalit 1996,S 246).

Menschliche Würde kann verletzt werden,wenndie menschlichen Lebenslagen und Lebensverhält-nisse extrem und unverhältnismäßig ausfallen.

Unser höchstes ethisches Gut der absolutenWürde und die liberalistische Idee der Gleichwer-tigkeit aller Menschen werden immer dann ange-tastet,wenn zwischenmenschliche Zeichen,Gesten,Symbole und Lebensunterschiede Verächtlichkeitbedeuten.

Die ökonomische Definition des relativenWürdebegriffs kann daher lauten:Ein Mensch hat nur so viel Würde,wie er fürden Arbeitsmarkt wert ist.

Die Bedeutungen des relativen Würdebegriffs sindfolgende:

Das ethisch höchste Gut der Menschenwürde,als Gleichwürde aller Menschen, wird durch einesoziale Wertpraxis relativiert,d.h.verletzt oder zer-stört. Es gibt solch große wirtschaftssoziale Wert-unterschiede (Armut-Reichtum,Ohnmacht-Macht,Bedeutungslosigkeit-Bedeutung, arbeitsfähig/jung-krank/alt) innerhalb einer Bezugsgesell-schaft, dass Menschen auch verschiedene Würde-grade erhalten. Die großen sozialen Wertunter-schiede relativieren die Menschenwürde. Sie wird

durch wirtschaftliche und damit soziale Wertun-terschiede zu einem nur relativen Begriff.

Wollen wir die Würde aber nicht relativiert un-tergehen lassen, ergibt sich eine Folgerung: DerWürdewert eines Menschen hängt von der Situati-on und den allgemeinen Lebensverhältnissen auchder anderen ab. Die Lebenslage eines Menschenund eines zu Pflegenden kann erst im Vergleich mitdem wirtschaftssozialen Umfeld als würdevoll be-schrieben werden.Die Verhältnisse (Proportionen)der Lebenslagen konstituieren Würde. Diese kön-nen demütigend, erniedrigend, herab- oder ent-würdigend sein oder »Gleichwürde« als mensch-liche Gleichwertigkeit wollen. In der gesellschaft-lichen Praxis wird Würde eigentlich erst durchbestimmte Verhältnisse gestiftet, sie verwirklichtsich nur in einer gegenseitigen Stiftung.

Würde auch relativ zu begreifen, ist eineweitere ethische Grundlage der Pflegewis-senschaften.Die Bestimmung einer würde-vollen Lebenslage hängt vom Vergleich mitder allgemeinen Norm ab.

So bestätigt das Gericht im Beispiel der Schulta-sche,dass das Kind würdeverletzt wird,wenn es fürseine soziale Umwelt im sozialen Status des Sozial-hilfehaushalts erkannt wird. Die Demütigung desKindes liegt im Wertdenken der Gesellschaft be-gründet. Sie stuft den Menschen in relativer Armutals sozial minderwertig ein und lässt diese großenUnterschiede zwischen Reichtum und Armut prak-tisch zu.

Die Idee der absoluten Würde ist unabdingbar,um nicht zurückzufallen in die Beliebigkeit desmenschlichen Wertes. In der Idee der relativen Wür-de wird aber Menschsein und Wertsein erst sozial ge-stiftet.Menschsein ist dann Wertsein für andere undmit anderen. Der Begriff der relativen Würde meintalso einen sozial wechselseitig gestifteten Wert.

Wir stiften erst mit der Würde des anderenauch unsere eigene.

Wichtig

Wichtig

Wichtig

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11

264 Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft

11.6 Modelle ethischer Legitimation

Neben der Frage, wie richtiges auch ethisch profes-sionelles Handeln inhaltlich aussehen kann, mussimmer auch die Frage beantwortet werden,wer zurBestimmung dieses ethisch »Richtigen« autorisiertist. Wir suchen neben handlungsorientierten ethi-schen Inhalten auch die Legitimation dieser Rich-tigkeit, d. h. das Verfahren, wie »Richtigkeit« be-stimmt werden soll.Denn gerade in pluralistischen,demokratischen und nicht autoritären Gesellschaf-ten verlagert sich das Problem der Bestimmungethischer Inhalte mehr auf die Frage, wer diese be-stimmt und für wen sie dann gelten sollen. Geradeweil wir heute das Ideal der persönlichen Selbstbe-stimmung (Art.2 Grundgesetz repräsentiert diesenWert der individuellen Selbstbestimmung) als Frei-raum des Einzelnen entwickelt haben, wird es beizwischenmenschlichen Konfliktfällen wichtiger,über die Methode nachzudenken, wie Auffassungs-unterschiede vermittelt werden sollen oder wieeine Einigung gefunden werden kann. Es geht da-bei vorrangig nicht darum,was inhaltlich richtig istund getan werden sollte, sondern welche Entschei-dungsform ethisch vertretbar ist.

Bei der Ultraschalluntersuchung einer Schwan-

geren in der 39.Woche wird eine Querlage fest-

gestellt. Der Arzt der Gynäkologie legt der

Schwangeren wegen der möglichen Risiken

nahe, das Kind sofort mit Kaiserschnitt zur Welt

zu bringen. Die anwesende Hebamme rät da-

von ab und schlägt vor,noch zu warten.Weil die

Schwangere einem Kaiserschnitt nicht zu-

stimmt,nimmt sich der Arzt vor,seinen Chefarzt

zu konsultieren, schweigt aber darüber. Die

Schwangere verlässt verwirrt das Krankenhaus

und erfährt extern, dass es in einer anderen Kli-

nik einen Spezialisten gibt, der das Kind in die

Geburtslage drehen könnte. Diesen konsultiert

sie zusätzlich und lässt das Kind per Hand dre-

hen. Nach zwei Tagen dreht sich das Kind je-

doch wieder in die Fehllage zurück.

Wer soll bestimmen, was zu tun ist und was rich-tig ist? Gibt es absolute (Sach-) Wahrheiten oder

Autoritäten, an denen wir uns orientieren kön-nen?

Dabei können wir zunächst autoritative undsachorientierte Lösungen eines Problems unter-scheiden.Entscheidet der Arzt,kann es sich sowohlum eine autoritative Entscheidung handeln als auchum eine sachorientierte.In der Praxis werden sach-liche Gründe und autoritative Herrschaft wechsel-seitig zur »Begründung« eingesetzt. Der Arzt ver-tritt sein der Hebamme überlegenes medizinischesFachwissen zugleich mit der gesellschaftlich einge-räumten höheren Reputation und Autorität in derKlinik, obwohl die Hebamme mehr Schwanger-schafts- und Geburtserfahrungen hat.Dem Arzt dieEntscheidungsgewalt ohne Sachkritik zu überlas-sen, hieße hier auch, die Metier-Hierarchie (Arzt-Hebamme) anzuerkennen.

Aber auch wenn ein Mehrheitsbeschluss in ei-nem Team getroffen wird, kann es sich um eine au-toritative Entscheidung handeln. Mehrheitsent-scheidungen können aus unbegründeten Einzel-willen bestehen oder aus qualifiziert begründetenEinzelwillen. Im ersten Fall entscheidet eine Mehr-heit durch Votum. Im zweiten ein votierendes Ex-pertenteam, das wiederum, wie im Beispiel, nichtmiteinander vermittelt handelt.Das Fachwissen dereinzelnen Spezialisten wird nicht zusammenge-führt. Hinsichtlich des »Herrschens« einer Auto-rität (hier der Arzt) hat Max Weber drei Typen derLegitimation dieser Herrschaft unterschieden (MaxWeber 1973, S 151–161):4 1. Die legale Herrschaft durch Rechtssysteme

Gehorcht wird nicht einer Person »kraft derenEigenrechts«, sondern der gesetzten Regel.Auchder Befehlende gehorcht, auch wenn er der Vor-gesetzte ist. Seine Herrschaft ist zugleich Amts-pflicht. Dass der Arzt entscheiden würde, wäreeine Art »Betriebsdisziplin« des Krankenhauses.

4 2. Die patriarchalische HerrschaftDas Herkommen eines »Herrn« verleiht diesemeine »Eigenwürde«, die den »Untertan« zur»Pietät« des Gehorchens verpflichtet. Herr-schaft dieser Art fällt Entscheidungen nach In-halten,die traditionell nach Normen »von je hergelten«. Sie folgen der Gnade, der Willkür, derZu- und Abneigung.

4 3. Die charismatische Herrschaft Kraft affektiver Hingabe an die Person desHerrn und seines Charismas folgt ihm der Un-

Beispiel

Page 277: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

11.7 · Ethische Lösungsfindung durch Herrschaftsfreiheit11265

tertan. Es ist die Herrschaft der Propheten,Demagogen, Helden, Gurus, Führer. Das Pen-dant ist der hingebungsvolle »Jünger« und»Helfer«.

Wenn es im Beispiel darum geht, auf welcherGrundlage wer die Entscheidung zur Handlungs-maßnahme fällt,gibt es neben der autoritativen densachorientierte Entscheidungsprozess. Dabei kanndie Sachentscheidung,was zu tun ist,argumentativoder dezionistisch ausfallen, d. h. im ersten Fall solldas bessere Argument (möglicherweise die Statis-tik der Hebamme), im zweiten Fall die Entschei-dung zu einer Handlungsnorm durch Wahl gefun-den werden (Lübbe 1978, S 75–77). Während dasGeltenlassen des Arguments scheinbar der Sachla-ge die Kompetenz gibt, zu entscheiden und einem»Sachzwang« unterliegt, will der Dezionismus dieEntscheidungskompetenz nicht vom Subjekt ablö-sen. Trotz »zwingender« Sachlage soll einem Sub-jekt immer noch die Wahl bleiben, sich dem Argu-ment zu stellen oder nicht. Vermieden wird damitder Untergang der persönlichen Wahlfreiheit unterder Diktatur der Sachlage. Die Schwangere könnteauch für den Fall, dass alle Experten sich einigwären, eine andersartige Entscheidung treffen.

11.7 Ethische Lösungsfindung durch Herrschaftsfreiheit

Von Jürgen Habermas stammt in Übereinstim-mung mit Karl-Otto Apel die Ansicht,dass alle Ent-scheidungen und Handlungen zwischen Menschendurch einen herrschaftsfreien Diskurs (Sachge-spräch zur Problemlösung) zustande kommen soll-ten,d.h.durch einen gleichberechtigten Argumen-tationskreis.Hebamme,Schwangere,Arzt,Chefarztund der Spezialist wären an diesem Diskurs be-teiligt.

Für den herrschaftsfreien Diskurs gelten nachHabermas folgende Regeln:4 1. Alle vernünftigen Subjekte dürfen gleichbe-

rechtigt am Diskurs teilnehmen.4 2. Die Diskursbeiträge müssen verständlich

und widerspruchsfrei formuliert sein.4 3. Die Diskursteilnehmer müssen wahrhaftig

und gutwillig auf einen (rational motivierten)Konsens hinarbeiten, also das bessere Argu-ment anerkennen.

4 4. Außer dem »eigentümlich zwanglosen Zwangdes Arguments« darf im Diskurs keinerlei in-nerer oder äußerer Zwang ausgeübt werden(Habermas 1973, S 257).

. Abb. 11.5. Ergebnisse

Page 278: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

11

266 Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft

Für Habermas wäre die Expertenentscheidungdurch den Arzt schon deshalb nicht ideal, weil sienicht die Argumente aller Betroffenen integriert.Die Erfahrungen der Hebamme, der Schwangerenund des Spezialisten würden nicht berücksichtigtund kommunikativ mit einander verbunden. Ha-bermas fragt also nicht danach, was richtig zu tunist, sondern wie das ethisch richtige Verfahren seinmuss, damit eine ethische gut legitimierte Ent-scheidung zustande kommt.

Die Lösung ethischer,also rechtlich unregulier-ter Probleme im Pflegealltag kann demnach auto-ritativ oder kommunikativ angestrebt werden.Ent-weder man verlässt sich auf die Autorität derGrundrechte, der Menschenrechtskonventionen,der Gesetze,der Tradition,der Macht des Arztes,desSpezialisten etc. oder die Entscheidung wird durchdie Beteiligten aller an einem sachorientierten Ge-spräch erzielt. Selbst die Schwangere dürfte an ei-nem solchen Diskurs aus der Sicht ihres Letztbe-stimmungsrechts über sich und ihr Kind interes-siert sein, da ihre Entscheidungsnot nicht durcheinen sozialen Kompetenzkampf der Fachspezia-listen erschwert wird (. Abb. 11.5).

11.8 Ethisch-rechtlicher Frageleitfadenfür Handlungskonflikte

Um in Handlungskrisen nützliche Differenzierun-gen zur Lösungssuche praktizieren zu können,stel-len wir hier einen kurzen Frageleitfaden vor:4 Handelt es sich um ein individual- oder sozial-

ethisches Problem,also ein privates oder ein öf-fentliches Problem?

4 Handelt es sich um ein nur rechtliches Problem?4 Gibt es rechtliche Bestimmungen, die die ethi-

sche Abwägung einschränken bzw. entlasten.Bleibt Verantwortung zu eigener ethischer Re-flexion?

4 Gibt es historische-ethische Normen, Werteoder Prizipien, die angewandt werden können?

4 Gibt es Willenserklärungen des Klienten? Sinddiese rechtlich konform?

4 Wer entscheidet?4 Was entscheidet, damit die Sachlage und nicht

die subjektive Willenserklärung entscheidet?

4 Welcher Personenkreis sollte mitentscheiden?4 Bei rechtlich und ethisch offenen Konflikten:

Welche Tendenzen liegen in beiden Systemenund lassen sich diese Tendenzen verbinden?

11.9 Liste existierender ethischerGrundwerte

4 Toleranz und Pluralismus:Verschiedene Lebens-formen sind möglich und menschengemäß.

4 Autonomie: Der Einzelne bestimmt sich undsein Leben möglichst weitreichend selbst.

4 Ethischer und kultureller Relativismus: Es gibtkeine ethisch absolute Wahrheit. VerschiedeneLebens- und Kulturformen sind gleichberech-tigt und zu akzeptieren.

4 Fundamentalismus: Es gibt eine einzig richtigeWahrheit, Religion, Ethik, Lebens- und Gesell-schaftsform.

4 Autoritarismus: Es soll Autoritäten geben, diebestimmen, was richtig ist und sein soll.

4 Esoterik: Mächte,Kräfte,Personen,Geister oderder Kosmos bestimmen unserer Leben.

4 Werte des politischen Liberalismus: Das Gut derMenschenwürde und der politisch-bürgerli-chen Menschen-, Grund- und Freiheitsrechteist die Grundlage unserer Verfassung. Die aus-gleichende Gerechtigkeit fordert die Gleichstel-lung der Schwächeren. Prinzipien sind: diesozialethischen Werte der Brüderlichkeit,Nächs-tenliebe und Fürsorge. Die soziale Selbstver-wirklichung des Individuums. Das Prinzip dersozialen Verantwortung.

4 Werte des wirtschaftlichen Liberalismus: Dieobjektive Chancengleichheit aller Handelnden.Hilfe zur Selbsthilfe. Sozial, politisch und wirt-schaftlich unbegrenzte Handlungsfreiheit desEinzelnen. Die »natürliche« Gerechtigkeit er-gibt die Besserstellung des Leistungsstärkerenoder Mächtigeren.Es gelten die sozialethischenWerte der Konkurrenz, des Wettkampfes umFreiheiten,Ressourcen und Bedeutung.Die pri-vate Selbstverwirklichung des Individuums.Das Prinzip der persönlichen Verantwortungund der persönlichen Risiken.

Page 279: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

11.9 · Liste existierender ethischer Grundwerte11267

Die liberalistische Tradition der Aufklä-rungsepoche des Abendlands hat die Ideendes kulturellen und ethischen Pluralismusentwickelt und verwirklicht. VerschiedeneWeltanschauungen und Kulturen, aberauch verschiedene Meinungen und Le-bensformen sollen gleichberechtigt ne-ben- und miteinander existieren können.Esgibt keine Wahrheit der Lebensform undkein Recht, diese zu beanspruchen. Reli-gion,Weltanschauung und Lebensformfra-gen sind weit möglichst privatisiert.Der Aufbau westlicher Gesellschaften istindividualistisch,d.h.er konstruiert das Zu-sammenleben über die Perspektive und In-teressen des Einzelnen. Er beschreibt des-halb nicht die Bedürfnisse einer intaktenGemeinschaftlichkeit.Die westliche Gesell-schaftsformation ist nicht über die Idee derSozialität des Menschen definiert, sondernan die Idee der privaten Selbstbestimmungorientiert. Der individual konzipierte Be-griff der Menschenwürde beschreibt dashöchste Gut und den höchsten absolutenWert allen Menschseins und -handelns. DieMenschen- und Grundrechte kommentie-ren und bestimmen den Würdegehalt. Die-ser hat in seinem Kern die Abwehr- und dieFreiheitsrechte. Leidminimierung und Frei-heitsoptimierung sind ihre Zielkategorien.Gesellschaftliches Zusammenleben wirdmöglich,wenn Interessenkollisionen durchRechtsgüterabwägungen ausgeglichenwerden.Die zugrundeliegende Weltanschauungunserer Verfassungsordnung geht von ei-nem Vorrang der Freiheit und nicht der so-zialen Verantwortung aus.Zur Konflikt- undGewaltreduktion wird eine Begrenzungvon individualen Handlungsfreiheiten nurmit strengen Auflagen vorgenommen.(Falls Grundrechte und -freiheiten einerPerson eingeschränkt werden sollen, müs-sen sie den Teilsätzen des Grundsatzes derVerhältnismäßigkeit entsprechen.So bleibtim Anfangsbeispiel das Recht des Vaters

auf Leben und mögliche Selbstbestim-mung ein sehr hohes Gut, das vom Hilfs-wunsch der Tochter (Euthanasie) sowohlrechtlich als auch moralisch nur mühevollargumentativ überboten werden kann.Die Ethik westlicher Gesellschaften ist wer-trelativistisch, d. h. sie privatisiert so weitwie konfliktorganisatorisch eben möglichdie Handlungsinhalte und deren Wert undZweckdienlichkeit.Die Gefahr der Beliebig-keit allen Handelns und des »anythinggoes« wird nur durch den Wesensgehaltder Menschen- und Grundrechte und be-sonders durch den Wesensgehalt der Ideeder unveräußerlichen und unverletzbarenWürde zum Teil abgewendet.Das Wertsystem des Liberalismus stellt alleMenschen politisch-bürgerlich gleich, aberwirtschaftlich unter einen Wert-, Macht-und Konkurrenzkampf. Das Prinzip der po-litischen Gleichheit und das wirtschaftsso-ziale Prinzip der Stärke, Macht und des Vor-teils existieren vermittelt und unvermitteltzugleich. Die Idee der Würdegleichheitkann durch extreme wirtschaftssoziale Un-terschiede (an Macht,Bedeutung,Anerken-nung, Kapital, Lebensverhältnisse in relati-ver Armut etc.) verletzt werden.Würde undWert des Menschen werden graduiert, d. h.es gibt ein soziales Mehr- und Weniger-sein.Dieser Widerspruch zwischen der Ideeder Gleichheit und Autonomie aller Men-schen und ihrer tatsächlichen sozialenWertposition und relativen Ohnmacht be-schreibt einen ethisch ungelösten Wider-spruch westlicher Gesellschaften und De-mokratien.Wer entscheidet in ethischen Konfliktfällennach welchen Prinzipien? In professionalenSituationen ist es wichtig, zwischen dem»Wonach« und dem »Wer« zu unterschei-den. Es gibt sachliche (des Arguments), de-zisionistische (des Beschlusses) und autori-tative (der Macht) Entscheidungsformen.Die Entscheidung einer Person oder Grup-pe kann selbstbestimmend, an einer Auto-rität oder an einem Grundwert orientiert

Zusammenfassung

Page 280: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

11

268 Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft

sein. Die meisten ethischen Konfliktfällewerden durch subjektive, gerichtliche oderzeitgeisttypische Abwägungshandlungengelöst.Die methodischen Gefahren auf der Inten-sivstation, das Schicksal des Vaters durchärztliche Autorität, gewohnte Klinik-Praxisoder durch demokratischen,aber unsachli-chen Beschluss zu entscheiden,sind erheb-lich.

3 Methodische Vorschläge zu Seminargestaltung

4 1. Das System der Philosophischen Ethik wirddifferenziert. Es werden Übungen unternom-men,Alltagsaussagen nach dieser Struktur ein-zuordnen.Ist zum Beispiel der Satz »Er arbeitetwenig« ein deskriptiver oder ein normativerSatz? Und ist die Feststellung »Jeder sollte mög-lichst machen, was er will« ein formal- oder einwertethischer Satz? Es können Wahrneh-mungsübungen zu wertendem, beschreiben-dem und legitimatorischem Alltagsverhaltengemacht werden.

4 2. Es werden Bestimmungsversuche unternom-men, nach welchen, auch widersprüchlichenGrundsätzen und Maximen die Gegenwartsge-sellschaft an den verschiedenen Praxisortenhandelt (Pflege, Erziehung, Politik, etc.).

4 3. Es wird versucht, im Tätigkeitsfeld der ge-genwärtigen Pflege ihre tatsächliche, ihre ge-glaubte und ihre intendierte Ethik zu unter-scheiden. Dabei kann auch normativ-utopischeine ideale Pflege entworfen werden.

4 4. Es werden Übungen an Alltagsbeispielen derPflege unternommen, um die Analyse der ethi-schen Konflikte und ihrer Verwurzelungstiefein den Grundlagen unserer Gesellschaft aufzu-decken.Es können Veränderungsmöglichkeitenaber auch Aporien aufgezeigt werden (Aporie[griech.], Ausweglosigkeit; die in der Sacheselbst liegende Unlösbarkeit eines philosophi-schen Problems).

4 5. Es wird an in der Praxis bereits gelösten Fall-beispielen nach deren angewandten ethischenLösungsmustern gesucht.

3 Empfehlungen zum WeiterlernenZur Vertiefung der Thematik kann folgende Litera-tur empfohlen werden:4 Gehardt G (1992) Grundkurs Philosophie. Ethik,

Politik. Bd 2. Bayerischer Schulbuch Verlag,MünchenEine Einführung in die philosophische Ethik,die keine Vorkenntnisse verlangt.

4 Kutschera F v. (1982) Grundlagen der Ethik. deGruyter, Berlin New YorkEine Einführung in ethische Fragestellungenaus mehr individualethischer Sicht.

4 Lay R (2004) Ethik in der Pflege. BerlinEin Lehrbuch für die Aus-, Fort- und Weiterbil-dung.

4 Störig HJ (1978) Kleine Weltgeschichte der Phi-losophie. 2 Bände. Fischer, Frankfurt a. M.Eine historische Reise durch die Philosophieund ihre Systematik.

4 Arndt M (1996) Ethik denken – Maßstäbe zumHandeln in der Pflege. Thieme, StuttgartDas Buch beschreibt die vorhandenen ethi-schen Gegenwartswerte, ohne sie kulturell zurelativieren.

4 Arend A van der und Gastmans Ch (1996) Ethikfür Pflegende. Hans Huber, BernEine pflegespezifische, etwas weniger differen-zierte Ethikeinführung.

Literatur

Diemer A (1978) Elementarkurs Philosophie. Bd 3: Philosophische

Anthropologie. Econ, Düsseldorf Wien

Gehlen A (1971) Studien zur Anthropologie und Soziologie. Luch-

terhand, Neuwied Berlin

Gehlen A (1986) Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der

Welt. Aula, Wiesbaden

Gehlen A (1987) Urmensch und Spätkultur. Aula, Wiesbaden

Habermas J (1973) Wahrheitstheorien. In: H Fahrenbach (Hrsg)

Wirklichkeit und Reflexion.Walter Schulz zum 60. Geburtstag.

Neske, Pfüllingen, S 211–265

Löwith K (1976) Zur Frage einer philosophischen Anthropologie.

In: Gadamer P u. Vogler P (Hrsg) Neue Anthropologie. Bd 7.

Thieme, Stuttgart, S 330–342

Lübbe H (1978). Dezisionismus – eine komprimierte politische

Theorie. In: ders. Praxis der Philosophie. Geschichtstheorie.

Reclam, Stuttgart, S 124

Kant I (1929) Kritik der Praktischen Vernunft. Hrsg. von Vorländer K

v. u. Meiner F unveränd. Nachdruck der 9. Aufl. v. 1929. Meiner,

Hamburg

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11.9 · Liste existierender ethischer Grundwerte11269

Khoury AT (1978) Einführung in den Buddhismus. Universitätsver-

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Küng H (1990) Projekt Weltethos. Piper, München

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Margalit A (1997) Politik der Würde. Über Achtung und Verach-

tung. Aus dem Amerikanischen von Gunnar Schmidt und

Anne Vorderstein. Fest, Berlin

Mirandola P della (1997) De dignitate hominis.Über die Würde des

Menschen. Lateinisch / Deutsch. Reclam, Stuttgart

Oexle G (1986) Armut, Armutsbegriff und Armenfürsorge im Mit-

telalter. In: Sachse Ch u. Tennstedt F (Hrsg) Soziale Sicherheit

und soziale Disziplinierung. Fischer, Frankfurt

Plessner H, Bollnow OF (1978) Die philosophische Anthropologie

und ihre methodischen Prinzipien. In: Philosophische An-

thropologie heute. Bohlau, Wien, S 12

Rentsch T (2001) Gnosis oder die Frage nach Herkunft und Ziel des

Menschen. Schöningh, Paderborn

Smith A (1978) Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung

seiner Natur und seiner Ursachen. Hrsg. v. Horst Claus Reck-

tenwald. dtv, München

United Nations (1992) Human Rights.Teaching and Learning about

Human Rights. A Manual for Schools of Social Work Profes-

sion. UN-Centre for Human Rights, Geneva

Weber M (1973) Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft.

In: Winckelmann J (Hrsg) Soziologie, Universalgeschichtliche

Analysen, Politik. Kröner, Stuttgart

Page 282: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

12

Identitätsentwicklung,Reifungsprozesse und Lebenszyklus

Märle Poser

12.1 Auswahl der entwicklungspsychologischen

Phasenmodelle 273

12.2 Entwicklungs- und Reifungsprozesse

im Zeitverlauf 277

12.2.1 Kindheit 277

12.2.2 Jugend 285

12.2.3 Erwachsenenalter 287

12.2.4 Das höhere Lebensalter 289

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12

272 Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus

> TheseDie großen Entwicklungstheorien von Freud,

Erikson, Piaget und Kohlberg beeinflussen bis

heute maßgeblich Forschung und Lehre, wobei

sie sich in der Tendenz als einzelne Schulen etab-

liert haben. Dadurch zeigt sich eine einseitige Ge-

wichtung der untersuchten Faktoren, mittels de-

rer Entwicklungsgeschehen erklärt und beschrie-

ben wird. Um die Komplexität von Entwicklungs-

und Reifungsprozessen im Zeitablauf zumindest

annähernd erfassen zu können, bedarf es einer

Synthetisierung der verschiedenen theoretischen

Ansätze.

3 Berufliche Handlungskompetenzen

2 FachkompetenzWissen über die Voraussetzungen einerpsychisch gesunden Entwicklung erwer-ben.Die Beeinträchtigungen psychischer Ge-sundheit herleiten.Spezifische Entwicklungsdimensionen inden Reifungsprozessen von Menschenmit anderem fachspezifischen Wissenverknüpfen.

2 PersonalkompetenzSich selbst in einem lebenslangen Rei-fungs- und Entwicklungsprozess begrei-fen und damit auseinandersetzen.Sich eigener Einstellungen, Werthaltun-gen und Motive, die das Arbeitshandelnbeeinflussen, bewusst sein.

2 SozialkompetenzPsychosoziale Faktoren bei der ganzheit-lichen Pflege berücksichtigen.Den Abhängigkeits-Autonomie-Konfliktin der pflegerischen Beziehung als gene-rellen und zentralen Konflikt von Reifungbegreifen.Den Aspekt von Beziehungsgestaltungin die Tätigkeiten als Pflegepädagogin/Pflegepädagoge integrieren, kommuni-kative und kooperative Verhaltensweisenentwickeln.

3 Praxisrelevanz Die Psychologie hat in den modernen westlichenGesellschaften eine große Bedeutung erlangt undist durch ein beständig expandierendes Wissen ge-kennzeichnet. Viele der Inhalte, Themen und Teil-disziplinen, die im Grundstudium der Psychologiegelehrt werden, sind auch relevant für die Ausbil-dung von Pädagogen, hier speziell von Pflegepä-dagogen.Zu den Grundlagenfächern gehören unteranderen die allgemeine Psychologie I und II mitden Themenschwerpunkten Wahrnehmung, Ge-dächtnis, Lernen, Motivation, Emotion, Spracheund Denken, die Entwicklungspsychologie, die So-zialpsychologie, die Differenzielle Psychologie undPersönlichkeitsforschung sowie die Methoden-lehre.

Es würde den geplanten Rahmen dieser Aus-führungen sprengen, auf die gesamte Bandbreiteder genannten Schwerpunkte einzugehen und denBezug zur Pflegepädagogik darzulegen.Wegen die-ser notwendigen Eingrenzung des Themas werdeich im Folgenden die Teildisziplin der Entwick-lungspsychologie näher darstellen. Die Entwick-lungspsychologie beschäftigt sich mit der psychi-schen Entwicklung des Menschen von der Geburtbis zum Tod. Da sie verschiedene Entwicklungsdi-mensionen wie die Entwicklung der Emotion, derWahrnehmung, des Lernens, der Sprache und desDenkens beschreibt, sind viele verschiedene Ein-zelthemen der Psychologie hier integriert.

Welche Praxisrelevanz hat nun die Erforschungund Beschreibung der Entwicklung des Menschenfür die spezifischen Handlungsfelder und Hand-lungskompetenzen von Pflegepädagogen? DieseFrage ist nicht leicht zu beantworten und nicht etwadeshalb, weil der Anwendungsbezug nur schwerherstellbar wäre,sondern weil er auf vielen Ebenennotwendig ist und stattfindet und sich komplex mitanderen beruflichen Handlungskompetenzen vonPflegepädagogen verbindet.Klassische Handlungs-felder von Pflegepädagogen und Pflegepädagogin-nen sind die berufliche Ausbildung sowie die Fort-und Weiterbildung. Die Psychologie als Inhalt derberuflichen Aus- und Fortbildung von Pflegendenzielt auf den Wissenserwerb über eine psychischgesunde Entwicklung bzw. über die Beeinträchti-gungen von psychischer Gesundheit ab.Ressource-norientierte Ansätze, wie sie in neueren Pflegemo-dellen vertreten werden, halten im Sinne einer

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12.1 · Auswahl der entwicklungspsychologischen Phasenmodelle12273

ganzheitlichen Pflege die Berücksichtigung psycho-sozialer Faktoren für unabdingbar.Insbesondere H.Peplaus Werk über die interpersonellen Beziehun-gen (Peplau 1995) stellt die psychodynamischenAspekte der Pflegebeziehung in den Vordergrund.

Die Beziehungsgestaltung zwischen Pflegekräf-ten und Patienten ist in besonderer Weise durch ei-nen Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt geprägt,da der Patient auf Hilfe und Unterstützung ange-wiesen ist.Der Abhängigkeits- Autonomie-Konfliktwird in verschiedenen entwicklungspsychologi-schen Ansätzen unabhängig von spezifischen Rol-lenkonstellationen als ein genereller,zentraler Kon-flikt innerhalb des Reifungsprozesses beschrieben,der sich in jeder Entwicklungsphase eines Indivi-duums neu darstellt. Das heißt, auch die Pflege-kräfte selbst sind im Zusammenhang mit ihrem ei-genen lebenslangen Reifungs- und Entwicklungs-prozess von diesem Konflikt betroffen. Dies giltgleichermaßen für Ausbilder, Fort- und Weiterbil-der, Berater oder Organisationsentwickler, um nureinige der vielen beruflichen Handlungsfelder vonPflegepädagogen zu nennen, die zum Teil auch nurmittelbar mit der Pflege von Patienten zu tun ha-ben. Die Beziehungsgestaltung spielt jedoch in al-len Handlungsfeldern von Pflegepädagogen eineherausragende Rolle, da sie immer eine dienst-leistende Tätigkeit enthält, in der der Umgang mitMenschen im Mittelpunkt steht. Um die Bezie-hungsgestaltung im Hinblick auf die zu erbringen-de Leistung effektiv und förderlich gestalten zukönnen, darf sie sich nicht in der Wahrnehmungund Berücksichtigung der spezifischen psychoso-zialen Verfassung des Gegenübers erschöpfen; siemuss vor allem die wechselwirkende Beeinflussungin der Interaktion berücksichtigen,die maßgeblichdurch den eigenen Umgang und die eigene Bewäl-tigung des Abhängigkeits- Autonomie-Konfliktsbestimmt ist. Damit sind spezifische Teilkompe-tenzen der beruflichen Handlungskompetenz vonPflegepädagogen angesprochen,die durch die Aus-einandersetzung mit entwicklungspsychologi-schen Modellen gefördert werden sollen: die Fach-kompetenz, die Sozialkompetenz und die persona-le Kompetenz.4 Auf der Ebene der Fachkompetenz geht es um

die Wissensvermittlung der spezifischen Ent-wicklungsdimensionen in den Reifungsprozes-sen von Menschen sowie um die Fähigkeit zur

Verknüpfung dieses Wissens mit anderen fach-spezifischen Inhalten der Pflege.

4 Die Sozialkompetenz wird durch die Umset-zung des Fachwissens über Entwicklungs- undReifungsprozesse in kommunikative und ko-operative Verhaltensweisen sowie in die Fähig-keit zur beratenden Unterstützung gefördert.

4 Die Entwicklung und Förderung der persona-len Kompetenz begründet sich schließlich inder Auseinandersetzung mit den allgemeinenEntwicklungs- und Reifungsstufen im Zusam-menhang mit dem eigenen, individuellen Rei-fungs- und Krisenerleben sowie den darausresultierenden Einstellungen, Wertehaltungenund Motiven, die das Arbeitshandel beein-flussen.

3 VerfahrensstrukturIm nachfolgenden Abschnitt werden zunächst aus-gewählte entwicklungspsychologische Phasenmo-delle kurz skizziert. Anschließend folgt eine Dar-stellung der Reifungsprozesse in den vier großenLebensabschnitten Kindheit, Jugend, Erwachse-nenalter und höheres Alter, in der die in den ein-zelnen Phasenmodellen unterschiedlich herausge-hobenen Entwicklungslinien integriert und zu-sammengeführt werden.

12.1 Auswahl der entwicklungs-psychologischen Phasenmodelle

Entwicklungstheorien beschreiben und erklärendie Veränderungen von Individuen im Zeitablauf.Die Frage, welche Faktoren den Entwicklungsver-lauf im Einzelnen bestimmen, wird von den ver-schiedenen Entwicklungstheorien unterschiedlichbeantwortet. Allen Theorien gemeinsam ist aberdie Auffassung, dass das Lebensalter den übergrei-fenden Bezugsrahmen für die Untersuchung vonVeränderungsprozessen bilden muss. Hierbei wirddas Lebensalter in die vier großen Lebensabschnit-te Kindheit,Jugend,Erwachsenenalter und höheresLebensalter unterteilt.

Die einflussreichsten Entwicklungstheorienwurden von Freud, Erikson, Piaget und Kohlbergentwickelt. Sie sollen im Folgenden kurz skizziertund in einer Übersichtstabelle zusammenfassenddargestellt werden.

Page 285: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

12

274 Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus

Freud: Psychoanalyse

Freud,der Begründer der Psychoanalyse,postulier-te Triebbedürfnisse als den wichtigsten Motor fürdie Entwicklung des Individuums. Er entwickelteeine Phasentheorie,die sich an der Entwicklung desSexualtriebes orientiert (Freud 1982). Unter Sexua-lität versteht Freud im weitesten Sinne körperlichesLustempfinden, welches auch für das Kleinkind re-levant ist. Die Entwicklung der triebhaften Bedürf-nisse beschreibt er in mehreren Phasen.

In der oralen Phase, die von der Geburt bis zumEnde des 1. Lebensjahres dauert, dominiert dieMundzone. In der analen Phase, die die Zeit des2. und 3. Lebensjahres umfasst, gehen die Körper-sensationen vor allem von der Afterzone aus. Esfolgt die phallische oder ödipale Phase,die etwa denZeitraum des 4. bis 6. Lebensjahres umfasst, in derdas Lustempfinden von der Genitalzone ausgeht.Zwischen dem 7.und dem 12.Lebensjahr findet eineZeit relativer Triebruhe statt; Freud bezeichnet diesePhase als Latenz. Sie mündet ein in die fünfte Phaseder Pubertät, die mit der Herausbildung der reifenSexualität in das Erwachsenenalter überleitet.

Mit seiner Phasentheorie postuliert Freud dieExistenz von Partialtrieben, die zunächst im Be-reich verschiedener Körperzonen als unreife Be-friedigungsmöglichkeiten getrennt entstehen unddie schließlich in die genitale Befriedigung des Er-wachsenen integriert werden.

Es ist heute unstrittig,dass die erogenen Zonensowie die dazugehörigen Befriedigungsmodi einewichtige Rolle für die psychische Entwicklung spie-len. Neuere Forschungen in der Psychoanalyse be-legen jedoch, dass noch eine Reihe anderer Fakto-ren die psychische Entwicklung beeinflussen unddie Sexualentwicklung nur eine Entwicklungslinieneben vielen anderen ist.Die Inhalte der von Freudbenannten Phasen, deren Terminologie überwie-gend beibehalten worden ist,wurden entsprechenderweitert. So werden z. B. mit dem Begriff der Ora-lität heute insbesondere Bedürfnisse nach Sicher-heit, Geborgenheit, Bindung, Hautkontakt, Wärmeetc. beschrieben. Insgesamt ist die Frage nach derTriebentwicklung um die Fragen nach der Ich-Ent-wicklung (z. B. Hartmann 1972), dem Bindungsver-halten (z. B. Balint 1997, Stern 1979), den Objektbe-ziehungen (z. B. Blanck u. Blanck 1974) und derSelbstentwicklung (z. B. Kohut 1973) erweitert undergänzt worden. Die Ergebnisse dieser Forschungsind zum Teil in komprimierter Form in der Über-sichtstabelle 12.1 dargestellt und finden in den Aus-führungen zu der Entwicklung in den jeweiligenAbschnitten Berücksichtigung.

Erikson: Psychodynamisches Entwicklungsmodell

Auf der Basis des psychodynamischen Entwick-lungsmodells formuliert Erikson sein Modell derIdentitätsentwicklung (Erikson 1973). Er berück-

. Abb. 12.1. Verfahrensstruktur

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12.1 · Auswahl der entwicklungspsychologischen Phasenmodelle12275

sichtigt hier die von Freud dargestellten psycho-sexuellen Entwicklungsphasen und ergänzt sie umpsychosoziale Faktoren, wobei er über Freud hin-ausgehend die gesamte Lebensspanne von der Ge-burt bis ins hohe Alter einbezieht. Erikson geht da-von aus, dass das gesamte Leben eines Menschendurch fortlaufende Reifungskrisen geprägt ist. DieBewältigung dieser Krisen bzw. der in jedem Le-bensabschnitt anstehenden Aufgaben ermöglichtdem Individuum das Erreichen der nächsthöherenPhase, die Nicht- Bewältigung führt zu innerpsy-chischen und sozialen Problemen, die sich auf alleweiteren Phasen auswirken. Erikson unterscheidetinsgesamt acht Entwicklungsphasen:4 1. Säuglingsalter: Urvertrauen gegen Ur-Miss-

trauenBei konstanter »Bemutterung« bildet das KindUrvertrauen als den wichtigsten Eckstein einergesunden Persönlichkeit aus.

4 2. Frühe Kindheit: Autonomie gegen Schamund ZweifelDer Hauptakzent dieser Phase liegt in der durchdie Reifung des Muskelsystems begünstigtenFähigkeit zur Koordination einer großen An-zahl komplizierter Akte wie »Festhalten« und»Loslassen«. Es entwickelt sich ein zunehmen-des Gefühl von Getrenntsein und Handlungs-fähigkeit.

4 3. Spielalter: Initiative gegen SchuldgefühlDie Hauptaufgabe dieser Phase lautet: die re-lative Sicherheit der dyadischen Beziehung(Zweierbeziehung) verlassen und das Wagnisder Dreiecksbeziehung auf sich nehmen. Dabeiwerden die Eltern nachgeahmt und das Kindwill all das erlernen, was die bewunderten El-tern können.

4 4. Schulalter: Werksinn gegen Minderwertig-keitsgefühlIn dieser Phase erweitert sich das soziale Ge-sichtsfeld des Kindes.Hauptaufgabe dieser Zeitist die Erweiterung der sozialen Beziehungen,das Erlernen von Fertigkeiten und das Meisternvon Situationen außerhalb der Familie.

4 5. Adoleszenz: Identität gegen Identitätskonfu-sionDie zentrale Aufgabe besteht in der Ablösungvon den Eltern und in der Findung einer eige-nen – auch sexuellen – Identität. Neuauflagen

der Konflikte vergangener Phase sowie körper-liche Veränderungen stellen den Jugendlichenin dieser Zeit vor große Probleme.

4 6. Frühes Erwachsenenalter: Intimität und Dis-tanzierung gegen SelbstbezogenheitEs geht in dieser Phase um die Gestaltung vonintimen Beziehungen und um die Fähigkeit,sich selbst und den anderen in Beziehungen alsgetrennte Subjekte wahrzunehmen.

4 7. Mittleres Erwachsenenalter: Zeugende Fähig-keit gegen StagnationHauptaufgabe dieser Phase ist die Auseinan-dersetzung mit dem Wunsch, sich fortzupflan-zen (Generativität).

4 8. Hohes Alter: Integrität gegen Verzweifelungund EkelIm hohen Lebensalter geht es um die Annahmedes eigenen Lebens und der Menschen, die imeigenen Leben wichtig waren und sind.

In den psychosozialen Entwicklungsmodellen stehtvor allem die emotionale Entwicklung im Vor-dergrund des Interesses. Die Entwicklung der In-telligenz und Kognition bleibt meist weitgehendunberücksichtigt. Das einflussreichste entwick-lungspsychologische Phasenmodell unter haupt-sächlicher Berücksichtigung der kognitiven Pro-zesse ist von Piaget erarbeitet worden (Piaget u. In-helder 1971). Nach seiner Auffassung entwickelnsich die geistigen Strukturen des Kindes zum einenim Zusammenhang mit der Reifung des Hormon-und Nervensystems sowie der Wahrnehmungsor-gane und zum anderen in der handelnden Ausein-andersetzung mit der Umwelt. Die Kognition be-trachtet Piaget im Gegensatz zu den verschiedenenVernunft- und Bewusstseinstheorien als eine bio-logische Funktion, die lebensgeschichtlich geprägtist und ein für die eigenen Ziele und Entwicklungenviables Wissen und Erkennen von Konstruktionenund Bildern entfaltet. So ist beispielsweise die Er-innerung, bzw. das Gedächtnis, kein reiner Daten-speicher, sondern sie konstruiert die eigene Bio-grafie in jedem Lebensabschnitt neu, um die Iden-tität des Ich zu sichern.

Piaget: Stufenmodell der kognitiven Entwicklung

In der Auseinandersetzung mit der Umwelt spielennach Piaget zwei Funktionen eine große Rolle: die

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12

276 Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus

Assimilation und die Akkomodation. Die Assimila-tion bezeichnet die Anwendung von subjektivenStrukturen auf Gegenstände, die dabei diesenStrukturen angeglichen werden. Einfach ausge-drückt besagt dies, dass die Wirklichkeit so wahr-genommen wird,dass sie in die eigenen subjektivenDeutungsmuster passt, wobei die Wirklichkeit im-mer auch »eingepasst« werden muss.Die Akkomo-dation stellt gewissermaßen die Kehrseite der Assi-milation dar, durch sie passen sich die angewand-ten Strukturen an die Besonderheit der Realität an.Akkomodation meint also die Anpassung von Men-schen an ihre Umwelt, wobei die Anpassungsfähig-keit eine existenzielle Voraussetzung darstellt.

Assimilation und Akkomodation ermöglichendie Herstellung eines Gleichgewichts zwischen deneigenen kognitiven Strukturen und den Umwelt-anforderungen. Piaget beschreibt diesen Prozessmit dem Begriff Äquilibration. Dieses Gleichge-wicht sichert den Kontakt zur Wirklichkeit und bil-det die Grundlage für ein kohärentes (zusammen-hängendes) Handeln von Menschen. Die kognitiveEntwicklung als Äquilibrationsprozess vollziehtsich dabei in einer ansteigenden Kurve.

Piaget unterteilt insgesamt vier Stufen der gei-stigen Entwicklung:4 1. die sensomotorische Entwicklung (von der

Geburt bis zum 2. Lebensjahr)Das Kind entwickelt in dieser Zeit auf derGrundlage angeborener Handlungsreflexe ers-te Handlungsschemata zur aktiven Erkundungder Umwelt, die zur Entstehung erster grundle-gender Denkschemata führen. So erwirbt dasKind beispielsweise im Umgang mit Objektenlangsam eine Objektkonstanz, d. h., das Kindweiß um die Existenz von Dingen und Perso-nen, auch wenn sie nicht zugegen sind.

4 2. Präoperationale Stufe (vom 2. bis zum 7. Le-bensjahr)Wichtigster kognitiver Reifungsschritt ist derErwerb von Sprache und die damit verbundeneSymbolisierung der Umwelt.Nachahmung undSymbolspiele sind in dieser Zeit von besonde-rer Bedeutung für die Entwicklung des Kindes.Eingeschränkt ist jedoch noch die Fähigkeit,Abläufe und Sachverhalte aus der Perspektiveanderer zu sehen.Piaget spricht hier von einemEgozentrismus des Kindes.

4 3. Konkretoperationale Stufe (vom 7. bis zum11. Lebensjahr)Das Kind erwirbt auf dieser Stufe die Fähigkeitzur mehrdimensionalen Betrachtungsweise. Esist z. B. in der Lage, das Konzept der Mengen-konstanz zu begreifen und kann so erkennen,dass das Umfüllen einer Flüssigkeit von einemhohen in ein breites Gefäß die Menge nicht ver-ändert.

4 4. Formaloperationale Stufe (etwa ab dem 11./12. Lebensjahr)In dieser Phase wird unabhängig von konkre-tem Anschauungsmaterial das formal-abstrak-te und das hypothetische Denkvermögen er-worben.

In der kognitiven Entwicklung bildet sich auch diemoralische Entwicklung ab. Piaget untersuchte indiesem Zusammenhang Kinder im Alter von fünfbis zwölf Jahren und kam zu dem Ergebnis,dass diemoralische Entwicklung dieser Kinder zweistufigverlief: von einer heteronomen, an äußeren Regelnorientierten Form der Moral hin zu einer autono-men, an der eigenen Entscheidung orientiertenMoral.

Kohlberg: Theorie der moralischen Entwicklung

Kohlberg knüpft explizit an diese UntersuchungenPiagets an und entwickelt dessen Theorie weiter,indem er die Moral im Jugendalter von 10 bis 16Jahren erforscht (Kohlberg 1995).In seinem Modelldifferenziert er die Entwicklung des moralischenUrteils in sechs Stufen, die er zu drei Niveaus mit jezwei Unterstufen zusammenfasst:4 1. Präkonventionelles Niveau

Auf diesem Niveau ist für die 1. Stufe der mora-lischen Entwicklung die Orientierung an Be-strafung und Gehorsam charakteristisch. Be-strafung, Gehorsam und Autorität gelten alsWerte für sich. Auf der 2. Stufe dominieren dieeigenen Interessen, in denen Ansätze von Ge-rechtigkeit erkennbar sind,allgemeine Gerech-tigkeitsprinzipien jedoch noch keine Berück-sichtigung finden.

4 2. Konventionelles NiveauDas konventionelle Niveau der moralischenEntwicklung ist gekennzeichnet durch die Er-haltung wichtiger Sozialbeziehungen.

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12.2 · Entwicklungs- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf12277

Die 3. Stufe beschränkt dabei die Problemlö-sung auf persönlich bekannte Personen.Auf der 4. Stufe findet eine Erweiterung aufübergreifende Systeme wie Staat und Reli-gionsgemeinschaften statt.

4 3. Postkonventionelles NiveauAuf dem postkonventionellen Niveau der mo-ralischen Entwicklung erkennen die Probandendie Notwendigkeit,Prinzipien und Werte unab-hängig von der Autorität einzelner Gruppenoder Personen zu definieren.Die 5.Stufe ist durch das Verständnis charakte-risiert, dass das System einen Gesellschaftsver-trag darstellt, der zwischen allen Beteiligtenvereinbart werden muss und der veränderbarist.Auf der 6. Stufe, die empirisch kaum nachge-wiesen wurde, geht es um die Suche nach allge-mein gültigen ethischen Prinzipien.

Kohlberg hatte ursprünglich angenommen, dasseine Einheit von moralischem Urteil, moralischerMotivation und moralischem Handeln existiert.Dies hat sich empirisch nicht bestätigt.Vielmehr istdurch eine Reihe weiterer Untersuchungen nach-gewiesen worden, dass weder die Kenntnis derNorm noch die Normbegründung die Motivationsichert, diese Normen auch einzuhalten. Die Moti-vation ist vielmehr abhängig von Gefühlen wieEmpörung, Schuld oder Mitleid, die die Grundlagefür moralisches Handeln darstellen.

Es ist im Rahmen der vorliegenden Ausführun-gen nicht zu leisten, die einzelnen entwicklungs-psychologischen Phasenmodelle einer genauerenKritik zu unterziehen. Dies wäre z. B. im Hinblickauf die fehlende Spezifizierung der Reifungsschrit-te in Bezug auf geschlechtsspezifische Besonder-heiten wichtig (vgl. Mertens 1996, Gilligan 1984).Generell kann aber festgehalten werden, dass dieSchwächen der vorgestellten Modelle vor allem inihrer einseitigen Gewichtung der untersuchtenFaktoren liegen,mittels derer Entwicklungsgesche-hen erklärt und beschrieben wird.

12.2 Entwicklungs- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf

Um ein komplexes Bild von den Entwicklungs- undReifungsprozessen von Individuen im Zeitverlaufzu erhalten,ist es notwendig,die verschiedenen An-sätze zu synthetisieren.Dies soll – in der gebotenenKürze – durch eine zusammenfassende Beschrei-bung des Entwicklungsverlaufs der einzelnen Le-bensphasen erfolgen..Tabelle 12.1 gibt einen Über-blick über die Wachstums- und Reifungsprozesseim Zeitverlauf,wobei unterschieden wird zwischender psychosozialen Entwicklung, der kognitivenEntwicklung, der moralischen Entwicklung undder biologischen Entwicklung.

12.2.1 Kindheit

Der Lebensabschnitt Kindheit wird in der Ent-wicklungspsychologie unterteilt in frühe Kindheitund mittlere Kindheit.4 Die frühe Kindheit umspannt die Zeit von der

Geburt bis etwa zum Ende des 3. Lebensjahres.4 Die mittlere Kindheit umfasst etwa das Alter

vom 4. bis zum 11./12. Lebensjahr.

Durch die noch sehr junge Säuglingsforschung(Stern 1979, Dornes 1993) hat sich das Bild vomNeugeborenen grundsätzlich verändert. Ein Babyverfügt über ein erstaunliches Verhaltensreper-toire, wobei Stern an erster Stelle das Blicken be-schreibt und dessen überragende Bedeutung be-tont (Stern 1979). Als sensomotorisches System istdas Sehen von Geburt an gut ausgebildet.Der Säug-ling erkennt – wohl aus Gründen des Schutzes vorÜberreizung – in etwa 20 cm Entfernung Dingescharf und sieht damit am häufigsten das Gesichtbzw. die Augen der Mutter. Blickverhalten und vi-suell-motorisches System entwickeln sich schnellweiter mit entsprechenden Folgen für die Interak-tionsfähigkeiten. Nach ca. sechs Wochen kann derSäugling die Augen der Mutter fixieren und amEnde des 3. Monats ist das visuell-motorische Sys-tem bereits fast ausgereift.Verbunden mit weiterenVerhaltenselementen wie dem Abwenden, Drehenund Entgegenrecken des Kopfes,verschiedenen Ge-sichtsausdrücken und dem Lächeln, welches sich

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12

278 Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus

zwischen der 6. Woche und dem 3. Monat bereits zueinem »sozialen Lächeln« entwickelt, bewirkt dasBlicken eine zugewandte Reaktion der Mutter. Dieangeborene sensorische und kognitive Aufmerk-samkeit des Säuglings für das lebendige menschli-che Gesicht und seine zunehmende Ausrichtungauf die Umwelt, die als Nicht-Ich erfahren wird,

lässt sich als Intentionalität beschreiben. Nach dem3. Monat ist das Kind »aufgewacht«. Es erforschtseine Umwelt mit den Augen,den Händen und demMund. Es kann allmählich optische und akustischeAufmerksamkeit fokussieren und lernt den Körpermehr und mehr motorisch zu steuern. Das Kindlernt Ich und Nicht-Ich zu unterscheiden, wobei

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. Tabelle 12.1. Überblick über Wachstums- und Reifeprozesse im Zeitverlauf

SÄUGLINGSALTER

Geburt 1 Monat 2 Monate 3 4 5 6 7 8

ORALE PHASE

– Körperliche Bedürf- – Anfänge des körperlichen Ich – Affektabstimmungnisse, körpernahe – Differenzierung von Ich und zwischen ElternAffekte Nicht-Ich und Kind

– Entfaltung emotio- – Objektsuchend – Aufbau und Aus-naler Aufmerksam- – »Soziales Lächeln« bau des Bindungs-keit – Bedeutung der Mundwelt systems

– Asymmetrische – Bildung vonBeziehungen Urvertrauen

Sprachentwicklung

Schreien Erste Lallperiode Brabbeln

– Erste Reaktion auf – Laute – Blas- – Rhyth- – Beginnt – 4 verschiedene – 4 SilbenGeräusche reibe- mische die Laute – Versteht

laute Silben emotio- »nein«nale Be-deutungvon Worten zu ver-stehen

Geistige Entwicklung

– Modifikation von – Horcht – Erzielt – Blickt – Reagiert – Imitiert einfache Hand-Reflexen auf Effekte herun- auf Spie- lungen

– Erste Koordination Musik in der terge- gelbild – Sitzt länger am Bodenvon Schemata Umge- fallenen und spielt allein

– Beob- bung Objek-achtet ten nachbeweg-licheGegen-stände

Geburt 1 Monat 2 Monate 3 4 5 6 7 8

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12.2 · Entwicklungs- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf12279

sich die Welt der Objekte differenziert und sich diewichtigsten Objekte herausheben, indem positiveAffekte mit ihnen verknüpft werden. Es bilden sichintrapsychische Repräsentanzen der wichtigen Ob-jekte, ein Bindungsmuster beginnt zu entstehenund das Bild der wichtigsten Beziehungspersonenwird langsam internalisiert. Bei ausreichend guterVersorgung kann das Kind Urvertrauen (Erikson)in die verlässliche Zugewandtheit des anderen fas-sen und es lernt,in der frühen Beziehung sich selbstüber den anderen zu lieben.

Im 1. Lebensjahr sind die sensomotorischenSchemata die entscheidenden Triebfedern der geis-tigen Entwicklung. Piaget begreift sie als ein struk-turiertes Verhaltensmuster, welches eine spezifi-sche Form der Interaktion mit der Umwelt wider-

spiegelt. Nach dem Greifen,Aufrichten, Stehen undKrabbeln im 1.Lebensjahr folgt die Fähigkeit zu lau-fen. Die visuell-motorische Koordination und dieBeherrschung der Feinmotorik verbessern sich,dieSphinktermotorik kann willentlich kontrolliertwerden. Mit der Entwicklung der Sprachfähigkeitwächst die damit verbundene Fähigkeit, die Sym-bolwelt zu erfassen. Nach Piaget findet zwischendem 18. und dem 24. Monat ein Strukturwandel vonder sensomotorischen zur symbolisch-repräsenta-tionalen Intelligenz statt.Das Kleinkind beginnt im2. Lebensjahr durch »Denken« zu Problemlösungenzu kommen.Es benennt Personen und Objekte,bil-det Vorstellungswelten im Spiel und beginnt in ru-dimentärer Form seine Handlungen zu reflektie-ren.Die Denkoperationen sind noch magisch,d.h.,

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. Tabelle 12.1. Fortsetzung

SÄUGLINGSALTER

Geburt 1 Monat 2 Monate 3 4 5 6 7 8

ORALE PHASE

Geburt 1 Monat 2 Monate 3 4 5 6 7 8

Laufalter

Sitzalter

Greifalter

Krabbelalter Vierfüßlerstand

Reflexe und Reaktionen

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280 Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus

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. Tabelle 12.1. Fortsetzung

KLEINKINDALTER

9 10 11 12 Mon. 2 Jahre 3 4 5 6 7

ANALE PHASE PHALLISCHE PHASE

– Steuert und imitiert Inter- – Affektintensive – Relativierung der omnipoten-aktionen Auseinanderset- ten Selbstvorstellungen

– Zeigt Zuneigung und zung mit der – Eindeutigkeit der geschlecht-Ablehnung Objektwelt lichen Identität

– Beginnende Autonomie- – Wachsende Auto- – Ödipale Triangulierungentwicklung nomiebestrebun- – Eindeutige Position im sozia-

gen len Netz– Herausbildung – Entwicklung von sozialer

eines Größenselbst Rücksicht und Loyalität– Konfrontation mit – Erweiterung der Kontakte

d. Regeln u. Nor-men d. sozialen Welt

– Machtkämpfe,Trotzphase

Sprachentwicklung

Sprechen

– Sagt – Spricht 2–3 klare – Wort- – Wort- – 10–15 – Beherrscht dialogi-»Mama« Worte schatz schatz Satz- sches Erzählen, ant-oder bis zu bis zu bau- wortet auf Nach-»Papa« 20 Wör- 50 Wör- pläne fragen

tern tern mit – Ein- – 3-Wort- 250– – Wortschatz bis zu

Wort- Sätze 3000 24.000 Wörtern;Wort- Wör- aktiv: 5000

tern

Geistige Entwicklung

– Findet – Ver- – Aktives – Wan- – Magi- – Symbolbildung undver- suchs- Experi- del zur sches -verständnissteck- und Irr- men- symbo- Den- – Anschauungsgebundenestes tums- tieren lisch- ken DenkenSpiel- Prob- – Spielt reprä- – Kann – Zuwachs der Merkfähigkeitzeug lem- mit senta- Spiel- – Malt Kopffüßlerwieder lem- Spiel- tiona- zeug – Autobiografisches

– Schaut zeug len In- auf- GedächtnisBilder telli- schrau- – Erkennt die Struk-an genz ben turen von Ereig-

nissen

9 10 11 12 Mon. 2 Jahre 3 4 5 6 7

Page 292: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

12.2 · Entwicklungs- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf12281

dass in der Vorstellung des Kindes Denken, Spre-chen und Handeln gleichermaßen Fakten schaffenkönnen.

Die wachsenden Fähigkeiten im Bereich derMotorik, der Kommunikation und der Kognitionim 2. und 3. Lebensjahr bewirken eine zunehmendeWahrnehmung des Kindes von seinem Selbst undsind verbunden mit immer stärker werdenden Au-tonomiebestrebungen, die von Größenvorstellun-gen und euphorischen Hochstimmungen getragensind. Der wachsenden Explorations- und Expan-sionslust des Kindes steht jedoch das elterliche Nor-men- und Wertesystem gegenüber. Die eigenenWunschvorstellungen von dem, was das Kind tunmöchte,müssen sich den elterlichen Vorstellungen,was es tun soll, anpassen. Der Konflikt zwischen

Autonomie und Gehorsam (Erikson) wird oft nichtohne Traumatisierung und Fixierung überstanden.Bei ausreichender Sicherheit durch die Eltern kannein Kind zwischen den neuen Bedürfnissen nachSelbständigkeit und den alten nach Bindung undSicherheit je nach Situation hin- und herpendeln.

Nach dem 3. Lebensjahr finden keine grundsätz-lich neuen körperlichen Entwicklungen mehr statt.Das Sensorium ist ausgereift, die Körpermotorikkann gesteuert werden,wobei Größe,Kraft und Ge-schicklichkeit kontinuierlich weiterwachsen.Durchdie Spiegelung der Bezugspersonen hat das Kindein Bewusstsein seines Selbst erlangt,was Teil einerzunehmend differenzierten Erfahrung und ge-danklichen Durchdringung der Welt ist.Hier geltennun die Prinzipien der Logik, die nach Piaget von

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. Tabelle 12.1. Fortsetzung

KLEINKINDALTER

9 10 11 12 Mon. 2 Jahre 3 4 5 6 7

ANALE PHASE PHALLISCHE PHASE

– Heteronome, an äußeren Regeln orientierte Moral-entwicklung

kann – Weiteres körperliches Wachs-sicher tum und Entwicklung der laufen Muskulatur

setzt sichalleinehin

vollständi- – Beherr-ger Pinzet- schungtengriff der

kriecht Sphink-koordi- termo-niert torik

9 10 11 12 Mon. 2 Jahre 3 4 5 6 7

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12

282 Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus

Kindern im Alter zwischen drei und sieben Jahrenjedoch erst partiell erfasst werden können.Sie sindzwar fähig, mentale Repräsentationen der Welt zubilden, können jedoch diese Repräsentationenmental nicht manipulieren. Das Denken des Vor-schulkindes ist noch an Anschauungen gebunden,seine perspektivische Wahrnehmung und Betrach-tung selbstzentriert und es verfügt noch nicht über

die Fähigkeit zur Klassenbildung sowie über die Be-griffe Raum, Zeit und Kausalität.

Mit zunehmender Realitätsprüfung relativierensich die omnipotenten (Selbst)-Vorstellungen, diein der Phase der Autonomieentwicklung eine wich-tige Bedeutung hatten.An die Stelle des magischenWunschdenkens tritt langsam die Fähigkeit zur An-tizipation der Wirklichkeit,womit gleichzeitig auch

Psyc

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. Tabelle 12.1. Fortsetzung

MIT TLERE KINDHEIT JUGENDALTER

8 Jahre 9 10 11 12 13 14 15 16

LATENZPHASE GENITALPHASE / ADOLESZENZ

– Kontinuierliche Entfaltung des – Cliquen- – Nichtelterliche – Soziale AktivitätenSelbst bildung Liebesobjekte, – Suche nach eigenen

– Sicherheit in der Primärfamilie – Begin- erste Liebe Werten– Überwiegend gemischte nende – Bildung sozialer – Aktives Sexualleben

Gruppen (körperl.) Rangordnungen – Beginnende Lösung– Intensiver Erfah- Distan- vom Elternhaus

rungswettbewerb zierung von derFamilie

– Selbst-zweifel,Rollen-proble-me

Sprachentwicklung

– Beherrscht die mo- – Lerntnologische Höhe- Fremd-punkterzählung spra-

chen

Geistige Entwicklung

– Verständnis von Transformationen – Denken wird selbst zum Gegen-– Erwerb von Invarianzbegriffen, Klassen- stand der Reflexion

inklusion, Kausalverständnis – Hypothetisches Denken– Überwindung des Egozentrismus – Proportionales Denken

– Vollständige und systematischeProblemlösungen

– Verständnis der wissenschaftli-chen Methode

8 Jahre 9 10 11 12 13 14 15 16

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12.2 · Entwicklungs- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf12283

die Ängste vor Ereignissen wachsen,die die körper-liche Integrität verletzen könnten. Das Kind machtErfahrungen von Grenzen und Begrenztheit undbeschäftigt sich mit den großen Themen Liebe, Se-xualität,Geburt und Tod.Die eigene geschlechtlicheIdentität wird in diesem Zusammenhang als ein-deutig erfahren, wobei durch das Vorhandenseinvon zwei Geschlechtern (Mutter und Vater) einetrianguläre Struktur entsteht. Auf der gleichge-schlechtlichen Ebene findet die Identifizierung stattwährend die gegengeschlechtliche Beziehung An-klänge einer Erotisierung erhält, wobei dem Kindmehr und mehr bewusst wird,welcher Platz ihm indem sozialen System Familie zugewiesen wird.Die-se frühen Identifizierungen und Beziehungsmuster

stellen eine Einübung in menschliche Bindungendar und prägen grundsätzlich das spätere Bezie-hungsverhalten.

Bis zum 6. Lebensjahr sind die Grundlagen derPersönlichkeitsentwicklung gelegt. In den folgen-den Jahren wird das Erreichte kontinuierlich weiterentfaltet und ausgestaltet. Mit der Einschulung istdie Voraussetzung für einen intensiven Erfahrungs-wettbewerb gegeben. Wissen und Informationenwerden gesammelt und strukturiert und Technikenim Umgang mit der Realität eingeübt.Die mentalenOperationen des Kindes im Alter zwischen siebenund elf Jahren erweitern sich und ermöglichen dasVerständnis von Transformationen. Es erwirbt dieErhaltungsbegriffe (Invarianz der Menge,des Volu-

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. Tabelle 12.1. Fortsetzung

MIT TLERE KINDHEIT JUGENDALTER

8 Jahre 9 10 11 12 13 14 15 16

LATENZPHASE GENITALPHASE / ADOLESZENZ

– Übergang zur auto- – Instru- – Interpersonelle Anerkennung,nomen, an der eige- mentel- Harmonie (Beziehungen)nen Entscheidung ler – Soziale Anerkennung u. System-orientierten Moral Zweck erhaltung (Systemperspektive)

– Gehor- und – Sozialverträge, Nützlichkeit,sam, Aus- individuelle Rechte (rationelles Straf- tausch Subjekt)orien- (der tierung Andere)(Ego-zentris-mus)

– Wachstumsschub– Auftreten erster

sekundärer Geschlecht-smerkmale

– Menarche ungefähr ab 12 Jahre

8 Jahre 9 10 11 12 13 14 15 16

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12

284 Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus

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. Tabelle 12.1. Fortsetzung

ERWACHSENENALTER HÖHERES LEBENSALTER

17 18 Junges Erwachs.alter mittl. Erwachs.alter Übergang i. Rentenalter u. Rentenalter

– Streben nach wirt- – Partnerwahl – Berufliche Entwick- – Wachsendes Anpassungsvermögenschaftlicher Unab- – Aufbau einer lung an veränderte Anforderungenhängigkeit Partnerschaft – Karriere – Mobilisierung von Reserve-

– Hohe Mobilität – »Intimität vs. – Elternschaft kapazitäten– Lösung vom Selbstbezogenheit« – »Generativität vs. – Bilanzierung des bisherigen Lebens

Elternhaus – Identitätsbildung Stagnation« – Gewinnung von Kontinuität imErleben der eigenen Person

– »Ich-Integrität vs.Verzweiflung«

Sprachentwicklung

– Wort-schatzrund80.000Wörter

Geistige Entwicklung

– Ausbau der erfahrungsgebundenen, kristal- – Abnahme der fluiden Intelligenz linen Intelligenz und Zunahme der erfahrungsgebun-

denen (kristallinen) Intelligenz– Steigerung der fluiden Intelligenz

durch Training von kognitiven Strategien möglich

– Große Bandbreite an Kompetenzen,wenn das Umfeld leistungsdruckarmist und ausreichend Zeit zur Verfü-gung steht

17 18 Junges Erwachs.alter mittl. Erwachs.alter Übergang i. Rentenalter u. Rentenalter

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12.2 · Entwicklungs- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf12285

mens und des Gewichts), beherrscht die Logik derKlassenhierarchisierung, bildet die Fähigkeit desKausalverständnisses heraus und überwindet dieselbstzentrierte perspektivische Wahrnehmungund Betrachtung.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung derkognitiven Fähigkeiten können alterstypische Lö-sungen im sozialen Lernen des Alltags erfolgen,derProzess der sekundären Sozialisation schreitet vo-ran. Er ist nach Erikson grundsätzlich durch denKonflikt zwischen Werksinn (Leistung) und Min-derwertigkeitsgefühl geprägt.

Trotz zunehmender Autonomie ist das Kind indieser Entwicklungsphase noch sehr stark auf daszuverlässige Eingebundensein in die Primärfamilieangewiesen. Gleichzeitig wird der Gleichaltrige(»Peer«) zu einer wichtigen Bezugsperson,wobei dieInteraktion mit Gleichaltrigen die Entwicklung desSozialverhaltens bzw. die Entwicklung von sozialenKompetenzen und die Auseinandersetzung mit Nor-men und moralischen Urteilen stark fördert.

12.2.2 Jugend

Das Jugendalter wird in vier Phasen unterteilt:4 Die Zeit zwischen dem 11. und dem 12. Lebens-

jahr wird als Übergangszeit von der Latenz indie Adoleszenz beschrieben.

4 Die frühe Adoleszenz umfasst etwa das 13. bis14. Lebensjahr.

4 Die eigentliche Adoleszenz umfasst das 15. bis16. Lebensjahr.

4 Die Spätadoleszenz liegt zwischen dem 17. und20. Lebensjahr (Mertens 1996).

Im Jugendalter finden auf allen Ebenen Verände-rungen statt, die eine Reihe von Entwicklungsauf-gaben nach sich ziehen. Die wichtigsten sind:4 die Auseinandersetzung mit der eigenen Kör-

perlichkeit und die Identifikation mit der ge-schlechtsspezifischen Rolle,

4 die Ablösung der emotionalen Abhängigkeitvon den Eltern und von anderen Erwachsenen,

4 der Aufbau eigener, intimer Beziehungen zuGleichaltrigen,

4 die Entwicklung eines sozial verantwortlichenHandelns und entsprechender Werte und Nor-men,

4 die Entscheidung für einen Ausbildungsberufbzw. die Aufnahme von Aktivitäten, die eineökonomische Unabhängigkeit möglich werdenlassen.

Die körperlichen Veränderungen sind im Jugend-alter gravierend. Es findet zum einen ein Wachs-tumsschub statt, zum anderen entwickelt sich dieGeschlechtsreife. Obwohl es zum Teil große indivi-duelle Entwicklungsunterschiede gibt – insbeson-dere auch zwischen Jungen und Mädchen –, tretenim Durchschnitt etwa ab dem 11. Lebensjahr erstesekundäre Geschlechtsmerkmale auf. Die Ge-schlechtsreifung dauert dann etwa bis zum 14. Le-bensjahr an. Parallel findet ein Wachstumsschubstatt, wobei die einzelnen Körperteile nicht syn-chron wachsen,was die Altersgruppe der elf- bis ca.14/15-Jährigen häufig ungelenk wirken lässt. Vorallem im Zusammenhang mit gesellschaftlichenSchönheitsidealen führen die körperlichen Verän-derungen bei den Frühadoleszenten oft zu Selbst-wertproblemen, die durch den äußeren wie auchselbsterzeugten Druck, sexuelle Aktivitäten auf-nehmen zu müssen,noch verstärkt werden können.Mertens (1996) spricht von einer starken Stim-mungslabilität in der Phase der Frühadoleszenz,dieauf Grund eines dramatischen kognitiven Un-gleichgewichts erfolgt.

Nach Piaget wird etwa ab dem 12.Lebensjahr dieStufe des formal-operationalen Denkens erreicht,die durch die Fähigkeit charakterisiert ist, das ei-gene Denken selbst zum Gegenstand der Reflexionzu machen.Jugendliche beginnen,ihre Erkenntnis-se selbst zu problematisieren und zu reflektieren,ob es eine absolute Gewissheit geben kann.Das for-mal-operationalistische Stadium bildet die Grund-lage für alle komplexen geistigen Leistungen. Die-ser Quantensprung in der Veränderung des Denk-vermögens hat weit reichende Folgen für daspsychische und emotionale Erleben. Mertens(1996) hebt hier insbesondere die Suche nach demSelbst hervor, die Entwicklung eines Selbstbildes,welches sich von dem Bild, das die Eltern sich vonihrem Kind gemacht haben, unterscheidet. DieserProzess der Identitätssuche ist begleitet von einerhohen Kränkbarkeit und Kritikempfindlichkeit.Der Frühadoleszente kann und will auf Grund sei-ner körperlichen Veränderungen keine kindlich-abhängigen Bedürfnisse mehr zulassen, er ist je-

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12

286 Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus

doch auch noch kein »starker« Erwachsener. Dieverstärkten genitalen Triebimpulse und das damitzusammenhängende Wiedererstarken der ödipa-len Situation leiten dabei auch die allmähliche Los-lösung von den Eltern als Liebesobjekte und diedamit verbundene Entbesetzung von den elterlichvermittelten Über-Ich-Inhalten ein.

In der Hauptzeit der Adoleszenz,zwischen dem15. und 16. Lebensjahr, findet diese Entwicklungihren Höhepunkt. Das Wiederaufleben von ödipa-len Wünschen ist in dieser Zeit am intensivsten,wo-bei negative wie positive ödipale Strebungen sichnun zunehmend auf Gleichaltrige des eigenen unddes anderen Geschlechts richten (Blos 1983); die De-pressivität und die Selbstwertprobleme der ver-gangenen Jahre nehmen jetzt an Intensität ab. DieBewältigung der Triebkonflikte bedeutet dabei ins-gesamt eine Stärkung der Ich-Funktionen.

Nach Anna Freud (1988) lassen sich vor allemzwei Bewältigungsformen von Triebkonflikten un-terscheiden: Die jugendliche Askese und die Intel-lektualisierung. Die Askese ist gekennzeichnetdurch ein starkes Maß an Verdrängung von Trieb-impulsen, die jedoch in der Regel einen – nachAnna Freud heilsamen – Umschlag in einen Trieb-exzess findet. Die Intellektualisierung ist eine Be-wältigung des Triebkonflikts durch das Nachden-ken auf hohem Niveau über Familie, Freundschaft,Religion, Politik etc. Piaget spricht in diesem Zu-sammenhang von einer jugendlichen Egozentrik,die sich in einer Art Sendungsbewusstsein äußert.

Am Ende der Adoleszenz beginnen die grund-legenden Charakteristika der erwachsenen Männ-lichkeit und Weiblichkeit deutlich zu werden. Fra-gen nach dem eigenen Lebensentwurf und die ge-dankliche Auseinandersetzung mit erwachsenenLebensrollen treten in den Vordergrund. Im Ver-gleich zu den in der mittleren Adoleszenz nochstark flottierenden Vorstellungen über die Zukunftwerden Planungen jetzt realistischer und konkre-ter. In der heutigen Jugendforschung wird dieseZeit durchgängig als Zeit der beginnenden Iden-titätsfindung bezeichnet.Die Forschung knüpft da-bei an die Theorie von Erikson an, in der die Iden-titätsbildung zwar als eine lebenslange Entwick-lung dargestellt, zugleich aber als das zentraleThema im Jugendalter begriffen wird. Erikson be-schreibt die Jugend als »psychosoziales Morato-

rium«, »während dessen der Mensch durch freiesRollen-Experimentieren sich in irgendeinem derSektoren der Gesellschaft seinen Platz sucht, eineNische, die fest umrissen und doch wie einzig fürihn gemacht ist. Dadurch gewinnt der junge Er-wachsene das sichere Gefühl innerer und sozialerKontinuität, das die Brücke bildet zwischen dem,was er als Kind war und dem, was er nunmehr imBegriff ist zu werden. Eine Brücke, die zugleich dasBild,das er von sich selbst wahrnimmt,mit dem Bil-de verbindet, unter dem er von seiner Gruppe, sei-ner Sozietät erkannt wird (Erikson 1973, 137f). Er-ikson beschreibt die Krise im Jugendalter mit demSchlagwort »Identität gegen Identitätsdiffusion«und deutet damit die beiden möglichen Ergebnis-se der Entwicklungsaufgabe an.Entweder es gelingtdem Jugendlichen, ein konsistentes Bild von sichaufzubauen und eine klare Zukunftsperspektive zuentwickeln, zu der vor allem auch der Aufbau vonfesten Bindungen zählt, oder er bleibt in einem Zu-stand der Verwirrung gefangen und Selbstzweifelund innerer Zwiespalt verhindern die weitere Ent-wicklung und den Aufbau der Ich-Identität.

Die psychische Integration der verschiedenenEbenen der Veränderung – des körperlichenWachstums,der sich herausbildenden Geschlechts-identität, der Loslösung von den Eltern, der Fähig-keit zu einer intimen Beziehung, der größerenÜber-Ich-Autonomie, der reifer werdenden Ich-Ideale und der Entwicklung der abstrakten Denk-fähigkeit – ist eine Entwicklungsaufgabe, die fürviele Heranwachsende diese Zeit zur schwierigstenihres Lebens werden lässt. Dass sich die Herausfor-derungen für männliche und weibliche Jugendli-che dabei ganz verschieden darstellen, kann hiernur erwähnt werden. Ebenso kann an dieser Stellenur darauf hingewiesen werden,dass auf Grund ge-sellschaftlicher Veränderungen das Ende der Ado-leszenz nur schwer auszumachen ist. Generell istbei der Betrachtung und Beschreibung des Jugend-alters wichtig, dass Jugend nicht nur einen be-stimmten Abschnitt im individuellen Lebenslaufdarstellt, sondern dass sie inhaltlich auch für eineGeneration steht, die durch eigene kulturelle Ori-entierungen, Wertehaltungen und Verhaltenswei-sen aus soziologischer Perspektive eine innovativeFunktion für die Gesellschaft hat.

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12.2 · Entwicklungs- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf12287

12.2.3 Erwachsenenalter

In der Entwicklungspsychologie ist der Schwer-punkt der Forschung vor allem auf die Phase derKindheit und Jugend gelegt worden. Das Erwach-senenalter und das höhere Alter sind im Vergleichdazu relativ vernachlässigte biografische Abschnit-te in der Untersuchung von Entwicklungsprozessenim Leben des Menschen. Allerdings kann aus derSozialpsychologie, der Arbeits-, Betriebs- und Or-ganisationspsychologie sowie aus der Gerontopsy-chologie auf eine Fülle von Daten zurückgegriffenwerden,die das Erwachsenenalter und das hohe Al-ter unter verschiedenen Gesichtspunkten beschrei-ben. Von den vier einflussreichen Entwicklungs-theorien,die hier vorgestellt worden sind,bildet al-lerdings Erikson eine Ausnahme.Seine Darstellungder Krisen des Erwachsenenalters sowie verschie-dene Untersuchungsergebnisse aus anderen Teilge-bieten der Psychologie bilden die Grundlage für diefolgenden zusammenfassenden Ausführungenzum Erwachsenenalter.

Erikson geht davon aus,dass mit dem Eintritt indas Erwachsenenalter die Ich-Anteile deutlich her-vortreten.Er unterscheidet beim Erwachsenenalterzwei Stadien.

Das erste Stadium umfasst das junge Erwachse-nenalter, in welchem die Krise »Intimität und Dis-tanzierung gegen Selbstbezogenheit« bewältigt wer-den muss. Es geht um die Partnerwahl und um denAufbau einer Partnerschaft, die ein zentrales Ele-ment in der Entwicklung von jungen Erwachsenendarstellt.Viele Untersuchungen über Partnerschaftgehen von der Heterogamie-Theorie aus, die alsVoraussetzung von Partnerwahl das Moment derKomplementarität betont – oder wie es im Volks-mund heißt: Gegensätze ziehen sich an. Insbeson-dere Willi untersucht die Dynamik des Zusam-menwirkens psychischer Merkmale und die Kom-plementarität von Bedürfnissen in Paarbeziehun-gen (Willi 1982). Die Bedürfnisse können überein-stimmen (Ko-Evolution), sie können aber auch imVerlauf der Beziehung negativ korrelieren (Kollu-sion) und die Weiterentwicklung beider Partnerentscheidend behindern. Wodurch Partner fähigwerden, ihre Beziehung positiv zu gestalten und zuentwickeln, versucht das Altruismusmodell (Kirch-ler 1989) zu erklären. Danach ist eine gute Bezie-hung von der Bereitschaft und der Fähigkeit der

Partner abhängig,die Gefühle und Bedürfnisse desAnderen wahrzunehmen und sich empathisch aufihn zu beziehen. Konflikte können auf dieserGrundlage konstruktiv bearbeitet werden.In gutenPartnerschaften gewähren sich die Partner gegen-seitig »Kredit«, d. h., die Annehmlichkeiten, die siedem anderen bereiten oder die sie selbst empfan-gen,sind nicht an die Erwartung geknüpft,Gleicheszur selben Zeit zurückzubekommen. Die Kontrollevon Geben und Nehmen tritt hinter Liebe undAltruismus zurück. Gelingt dieser Schritt, wird diefür das Jugendalter noch charakteristische Bezo-genheit auf sich selbst überwunden. Die von Erik-son benannte Krise in diesem Stadium ist zu Guns-ten der Intimität entschieden.Der junge Erwachse-ne ist auf der Basis einer entwickelten eigenenIdentität in der Lage,eine enge sexuelle,soziale undemotionale Beziehung einzugehen. Gelingt diesnicht,droht nach Erikson eine Isolierung oder eineVerflachung und Formalisierung von Beziehungen,die die weitere Entwicklung des Menschen nach-haltig beeinträchtigt. Eine Reihe ineinander grei-fender gesellschaftlicher Veränderungen hat dazugeführt, dass die Bewältigung der Reifungskrisedieses biografischen Abschnitts schwieriger gewor-den ist. Die zunehmende Mobilität, die Verände-rung des Geschlechterverhältnisses und der Rolleder Frau sowie der Wandel von Werten und Orien-tierungen – um nur einige von vielen Veränderun-gen zu nennen – begünstigen die Bereitschaft zumraschen Partnerwechsel und zur Singularisierung.Durch den herrschenden Jugendkult in unserer Ge-sellschaft nehmen junge Erwachsene diese Ent-wicklung überwiegend aber nicht als Defizit wahr.Zunehmende Isolierung und das Gefühl von feh-lender Verbundenheit und sozialem Eingebunden-sein werden erst in späteren Lebensjahren spürbar.

Das zweite Stadium des Erwachsenenalters um-fasst nach Erikson das mittlere Erwachsenenalter.In dieser Entwicklungsphase steht die Bewältigungder Aufgabe einer möglichen Elternschaft im Vor-dergrund, die Erikson als Krise von »Generativitätgegen Stagnation« bezeichnet. Er geht davon aus,dass Erwachsene nach der Phase der Identitätsfin-dung und -stabilisierung, die den Aufbau intimerPartnerschaften und die berufliche Entwicklungeinschließt, den Wunsch haben, sich zu erweitern,generativ zu werden. Generativität fasst er als pri-märes Interesse an der Erzeugung und Erziehung

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12

288 Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus

der nächsten Generation auf.Mit einem solchen In-teresse tritt eine neue Qualität des Verhaltens vonErwachsenen auf: Sie richten ihre libidinöse Ener-gie auf andere, insbesondere auf die eigenen Kin-der, nehmen starken Anteil an deren Entwicklungund Reifungsprozesse und betrachten das eigeneWirken und das eigene Engagement zunehmendunter dem Aspekt der Relevanz,die es für die nächs-te Generation hat. Die oben angesprochenen ge-sellschaftlichen Veränderungsprozesse haben aller-dings auch in Bezug auf diesen Entwicklungsab-schnitt starke Auswirkungen. Seit den sechzigerJahren wird von Soziologen ein tief greifenderWandel der familiaren Formen des Zusammenle-bens beschrieben und analysiert. Charakteristischfür diesen Wandel sind ein kontinuierlicher Gebur-tenrückgang, zurückgehende Heiratsziffern, eineZunahme der unverheiratet zusammenlebendenPaare, steigende Scheidungsraten und eine verän-derte Sexualmoral. Insgesamt ergibt sich das Bildeiner Pluralisierung familiarer Lebensformen, dievor allem durch den zunehmenden (Arbeitsmarkt-) Individualisierungsprozess der Frauen (Beck u.Beck-Gernsheim 1990), die Bildungsreform, dieverstärkte Berufsorientierung der Frauen und diedurch den gesellschaftlichen Wertewandel beding-ten veränderten Lebensorientierungen begünstigtwurde (Nave-Herz u. Markefka 1989). Dennochwird die Elternschaft von jungen Erwachsenenheute weiter angestrebt und bleibt ein zentralerBestandteil in der Lebensplanung. Gegenüber denfrüheren Verläufen der Normalbiografie von Frau-en und Männern differieren jedoch die Vorstel-lungen stark. So ist in vielen Untersuchungendargestellt worden, dass sich die Anzahl dergewünschten Kinder auf zwei reduziert hat, wobeidie tatsächliche Geburtenrate rechnerisch bei 1,3Kinder pro Paar liegt. Verändert hat sich auch derZeitpunkt, zu dem die Familienplanung realisiertwerden soll. Dieser Zeitpunkt ist überwiegend ge-bunden an die Beendigung der Berufsausbildungder Frau bzw. an die Realisierung von Karriere-wünschen und die Möglichkeit, diese mit einerMutterschaft zu verbinden. Insbesondere bei Frau-en, die ein höheres Bildungsniveau haben, ist dasDurchschnittsalter der Erstgebärenden auf knapp30 Jahre angestiegen. Eine grundsätzliche Ent-scheidung gegen eigene Kinder ist häufiger alsfrüher anzutreffen, fällt jedoch mit ca. acht bis

zehn Prozent immer noch gering aus. Eine deut-liche Zunahme ist indes bei den ungewollt kinder-losen Paaren zu verzeichnen. Die Reproduktions-medizin hat in diesem Zusammenhang in den letz-ten Jahren eine große Bedeutung bekommen, undauch die steigende Anzahl adoptionswilliger Paareverdeutlicht den zentralen Stellenwert, den Kinderin der Lebensplanung von Erwachsenen haben.Anders als früher ist das Motiv für eine Elternschaftdabei heute viel weniger durch den Wunsch nachgesellschaftlicher Anerkennung und späterer Ver-sorgung geprägt als vielmehr durch den Wunschnach Sinnerfüllung. Kinder werden als emotionaleBereicherung erlebt, ihre bedingungslose Liebewird zur Quelle individueller Glückserfahrung.

Mit der Elternschaft sind weit reichende psy-chische und soziale Veränderungen verbunden.DieVersorgung und Erziehung des Kindes erfordertZugewandtheit und Zeit, die Berufstätigkeit, dieHausarbeit und die Aktivitäten im Freizeitbereichmüssen auf die neuen Erfordernisse abgestimmtwerden. Trotz wachsender Bereitschaft der Män-ner, die Familienarbeit mit zu tragen, müssen dienotwendigen Umstrukturierungsprozesse auchheute noch überwiegend von Frauen geleistet wer-den, wobei die gesellschaftliche Anerkennung vonHausarbeit und Kindererziehung nach wie vor ge-ring ist. Immer mehr Frauen entscheiden sich füreine Verbindung von Beruf und Mutterschaft, umebenfalls am gesellschaftlichen Leben teilnehmenund – wie Männer auch – eine berufliche Identitätentwickeln zu können. Damit geht eine Doppelbe-lastung einher, die ein hohes Konfliktpotenzial inPartnerschaften darstellt. Neuere Untersuchungenbelegen allerdings, dass Frauen unter Bedingun-gen der Doppel- und Mehrfachbelastung spezifi-sche Formen des Copings entwickeln, die sie ins-gesamt in die Lage versetzen, zu reiferen Formender Auseinandersetzung in der Partnerschaft undElternschaft zu gelangen (Bodemann et al. 1996).

Wird die Elternschaft als Herausforderung derEntwicklungsphase des mittleren Erwachsenenal-ters erfolgreich bewältigt, ist ein weiteres Wachs-tum der Persönlichkeit nach Erikson möglich.Hierbei ist nicht nur allein von Bedeutung, ob mantatsächlich ein Kind hat, sondern dass überhauptdie Bereitschaft entsteht,sich mit dieser Herausfor-derung auseinander zu setzen bzw. alternierendesinnstiftende Lebensaktivitäten zu entwickeln. Für

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12.2 · Entwicklungs- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf12289

viele gewollt oder auch ungewollt kinderlose Paareund Einzelpersonen rückt dann die berufliche Kar-riereentwicklung als ein fortgesetzter Prozess derAusformung und Umsetzung des Selbstkonzepts inden Vordergrund. Gelingt es, das eigene Wirkenund das eigene Engagement in einen übergeordne-ten Sinnzusammenhang einzuordnen, wird sicheine Verbundenheit in größerem Kontext herstel-len. Kann die Bereitschaft zur Auseinandersetzungmit den Herausforderungen dieser Reifungsphaseauf Grund psychischer Blockaden und Fixierungennicht entwickelt werden, droht nach Erikson dieStagnation und die Verarmung in zwischen-menschlichen Beziehungen. Häufig wird dann inder Lebensmitte die eigene Existenz als sinnlosempfunden und weiterführende Perspektiven nichterkannt.

12.2.4 Das höhere Lebensalter

Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dassebenso wie das Erwachsenenalter auch das höhereund hohe Lebensalter zu den vernachlässigten Un-tersuchungsgebieten in der Entwicklungspsycho-logie zählen – lediglich Erikson berührt diesen Le-bensabschnitt im Rahmen seiner Theorie dermenschlichen Reifungskrisen. Diese Lücke ist vonder noch recht jungen Gerontopsychologie gefülltworden, die die besonderen psychischen und psy-chosozialen Probleme im letzten Lebensabschnittuntersucht. Im Vordergrund stehen dabei Fragennach der Leistungsfähigkeit und Beanspruchbar-keit von älteren Menschen,nach der Gestaltung vonUmweltbedingungen,die altersgerecht sind und so-ziale Einbindung möglich machen, und nach dentherapeutischen Möglichkeiten,die das größtmög-liche Maß an Selbständigkeit älterer Menschen för-dern. Obgleich die Altersgrenze, ab der von älterenMenschen oder von hohem Lebensalter gesprochenwird, nicht eindeutig festgelegt ist, legen die meis-ten Untersuchungen den Zeitpunkt zu Grunde, abdem das Rentenalter beginnt, üblicherweise also65 Jahre.

Grundsätzlich ist das herrschende Alltagsver-ständnis von älteren Menschen noch sehr stark mitBegriffen wie Verlust,Abbau und Krankheit assozi-iert. Dieser Defizitannahme steht ein Kompetenz-modell gegenüber,welches durch viele Forschungs-

ergebnisse begründet worden ist.Dabei steht weni-ger in Frage, dass Altern tatsächlich mit einer Rei-he von Abbauerscheinungen und Verlusten ver-bunden ist; vielmehr wird betont, dass ältere Men-schen eine Vielfalt von Fähigkeiten haben, mittelsderer sie Anforderungen meistern und aktiv auf dieGestaltung ihrer Lebensbedingungen Einfluss neh-men. Als eine besondere Fähigkeit dieses Alterswird das wachsende Anpassungsvermögen be-schrieben, welches insbesondere im Hinblick aufKrankheit und Behinderung eine wichtige Bedeu-tung hat. Trotz vieler Einschränkungen sind ältereMenschen in der Lage, erhöhte Belastungen undAnforderungen infolge ihres gesundheitlich einge-schränkten Zustandes zu bewältigen. Charakteri-stisch für die Entwicklungsfähigkeit im hohen Al-ter ist die Mobilisierung von Ressourcen, die bis-lang noch nicht für die erfolgreiche Bewältigungvon alltäglichen Problemen benötigt wurden. Die-se bislang ungenutzten Ressourcen werden auch alsReservekapazität beschrieben und bilden die Basisfür Rehabilitationsansätze, die auf die Förderungund Nutzung der vorhandenen Kräfte abzielen unddamit die Entwicklung im Alter als beeinflussbarund optimierbar betrachten (Baltes u. Baltes 1994).

Da Entwicklungsfähigkeit immer etwas mitLernen, Gedächtnis und Intelligenz zu tun hat, ha-ben sich einige Untersuchungen speziell mit derEntwicklung der Intelligenz im Alter auseinandergesetzt. Unterschieden werden muss generell zwi-schen den flüssigen (fluiden) Intelligenzkomponen-ten und den kristallinen Intelligenzkomponenten.Erstere umfassen die Fähigkeiten zur Lösung vonneuartigen kognitiven Problemen. Die kristallineIntelligenz umfasst das im Laufe der Biografie er-worbene Wissen der Person und die Fähigkeit zumUmgang mit vertrauten kognitiven Problemen.Kruse (1989) kommt in einer gerontologischen Stu-die zu dem Ergebnis, dass die fluide Intelligenz imAlter leicht abnimmt und die erfahrungsgebunde-ne (kristalline) Intelligenz konstant bleibt. ÄltereMenschen besitzen ein ausgeprägtes Lebenswissen,Kenntnisse über Strategien der erfolgreichen All-tagsbewältigung, die Fähigkeit zur kontextuellenEinordnung einzelner Lebensereignisse und einedifferenzierte Urteilsbildung, da sie die Faktengenau betrachten und prüfen. In der Studie vonKruse wird weiterhin die Frage aufgeworfen, unterwelchen Bedingungen eine Steigerung der kogni-

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290 Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus

tiven Leistungsfähigkeit möglich ist. Er kommt zudem Schluss, dass sich sowohl die erfahrungsge-bundene als auch die fluide Intelligenz durch dasTraining kognitiver Strategien steigern lässt. Dabeiist es besonders effektiv, wenn selbständig neueStrategien zur Bewältigung von Problemen einge-übt und angewendet werden können.

Daraus folgen Konsequenzen für die Schaf-fung geeigneter Lernvoraussetzungen fürältere Menschen:5 Sie benötigen mehr Zeit,5 das Lernmaterial muss überschaubar

und gut gegliedert sein,5 Überforderungen sollten vermieden

werden,5 der Sinn des Lerninhaltes muss gut er-

kennbar sein und 5 die Lernmethoden sollten variieren und

zu einem großen Teil selbst bestimmbarsein (Kreativmethoden, Selbststudiumetc.).

Wie Kruse kommt auch Lehr zu dem Ergebnis,dass die kognitive Leistungsfähigkeit auch imhöheren Alter erhalten bleibt und ältere Menschenüber eine große Bandbreite an Kompetenzen ver-fügen,wenn das Umfeld leistungsdruckarm ist undausreichend Zeit für die Bewältigung der Aufgabenzur Verfügung steht (Lehr 1991).

Die Untersuchungen zeigen indes auch,dass äl-tere Menschen sich häufig nicht ernst genommenfühlen und ihnen auf Grund des fortgeschrittenenAlters die Kompetenz zur Bewältigung von – auchberuflichen – Anforderungen abgesprochen wird.Das hier zum Ausdruck kommende überholte ge-sellschaftliche Altersbild korrespondiert zum Teildurchaus mit dem Selbstbild älterer Menschen.Ins-besondere nach dem Eintritt in den Ruhestand se-hen sich viele von ihnen mit dem Problem kon-frontiert, keinen wertvollen Beitrag mehr für dieGesellschaft leisten zu können; sie fühlen sich nutz-los und nicht mehr eingebunden in die soziale Ge-meinschaft. Lehr und Kruse (1995, S 418ff) betonenallerdings, dass die Übergangsphase in die berufs-

freie Zeit zwar eine krisenhafte und labile Lebens-phase darstellt, die mit einem Prozess der Neuori-entierung verbunden ist,dass aber die Bewältigungder neuen Herausforderungen sehr stark abhängigist von der Persönlichkeitsstruktur des älterenMenschen, seinem Bildungsniveau, Lebensstil, so-zialen Status, seinen sozialen Netzwerken und fi-nanziellen Ressourcen. Die gerontologische For-schung richtet ihr Interesse entsprechend mehr aufdie unterschiedlichen Lebensformen im Alter undweniger auf die Lebensnormen.

Die krisenhafte Entwicklung im Alter ist insbe-sondere auch von Erikson herausgearbeitet wor-den. Nach seiner Auffassung stellt sich dem älterenMenschen die Aufgabe,sein bisheriges Leben zu bi-lanzieren und zu integrieren. Integration bedeutetin diesem Zusammenhang »die Annahme seines ei-nen und einzigen Lebenszyklus und der Menschen,die in ihm notwendig da sein mussten und durchkeine anderen ersetzt werden können […] und dieBejahung der Tatsache,dass man für das eigene Le-ben allein verantwortlich ist« (Erikson 1973,S 118f).Gelingt die Bewältigung dieser Herausforderung,findet ein Übergang in eine stabile Ich-Integritätstatt. Ein Mangel oder sogar Verlust dieser Ich-In-tegrität führt in die Verzweifelung darüber, dass die verbleibende Zeit zu kurz für einen Neubeginnist, zu kurz für das Einschlagen anderer Wege, dieeine Integrität ermöglichen könnten. Wichtig undhilfreich für die Gewinnung von Kontinuität im Er-leben der eigenen Person sind soziale Beziehungenund ein gesellschaftliches Umfeld, in dem ältereMenschen nicht ausgegrenzt werden, sondern woihnen Respekt und Achtung entgegengebrachtwird.Hier zeichnet sich langsam ein Wandel in denEinstellungen gegenüber älteren Menschen ab, dadurch ihre zahlenmäßige Zunahme nicht nur einequantitative demographische Veränderung statt-findet, sondern langsam auch ein qualitativer so-ziokultureller Wandel bewirkt wird. Die Verkür-zung der Lebensarbeitszeit und die Verlängerungdes Lebensabends bedürfen spezifischer Bewälti-gungsformen und institutioneller Regelungen, diesich allmählich herauszukristallisieren beginnen.Die Lebens- und Problemlösungsstrategien, dieältere Menschen heute entwickeln, sind für dienachfolgende Generation bereits von weit tragen-der Bedeutung und von großem Interesse.

Wichtig

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12.2 · Entwicklungs- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf12291

Viele Inhalte und Themen der Psychologiesind auch für die Ausbildung von Pflege-pädagoginnen und Pflegepädagogen rele-vant. Der Aufsatz beschränkt sich auf dieTeildisziplin der Entwicklungspsychologie,die viele verschiedene Einzelthemen derPsychologie integriert.Ausgehend von der Frage nach der Praxis-relevanz der Erforschung und Beschrei-bung der Entwicklung des Menschen wer-den für die Handlungsfelder und Hand-lungskompetenzen von Pflegepädagogenausgewählte entwicklungspsychologischePhasenmodelle vorgestellt. Die einfluss-reichsten Entwicklungstheorien sind vonFreud, Erikson, Piaget und Kohlberg ent-wickelt worden.Um ein komplexes Bild vonden Entwicklungs- und Reifungsprozessenvon Individuen im Zeitverlauf zu erhalten,ist es notwendig, die verschiedenen Ansät-ze zu synthetisieren. Dies erfolgt in einerzusammenfassenden Beschreibung desEntwicklungsverlaufs der einzelnen Pha-sen »Kindheit«,»Jugend«,»Erwachsenenal-ter« und »Höheres Lebensalter«.

3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung

In meinen Ausführungen habe ich die Praxisrele-vanz der entwicklungspsychologischen Phasenmo-delle für den Erwerb pädagogischer Handlungs-kompetenzen für jetzige und zukünftige Pflege-pädagogen beschrieben. Ein Seminar zu dieserThematik sollte diese Überlegungen an den Anfangstellen, sodass die nachfolgende Bearbeitung dertheoretischen Grundlagen in einem sinnhaften Be-zug zum zukünftigen beruflichen Handeln steht.

Vieles von dem, was die Entwicklungspsycho-logie an Veränderungen und Reifungsprozessenvon Individuen im Zeitverlauf beschreibt und er-klärt, existiert als Alltagswissen. Das Ansetzen andieses Alltagswissen fördert das Interesse der Se-minarteilnehmer sowie die innere Beteiligung undBereitschaft zur Auseinandersetzung mit der eige-nen Person als entscheidende Voraussetzung füreine kompetente und zugewandte Beziehung zu Pa-

tienten und Klienten. Um die Kenntnisse und dasErfahrungswissen der Seminarteilnehmer in einstrukturiertes Arbeitsergebnis münden zu lassen,bedarf es zunächst einer kurzen Erläuterung der inden verschiedenen Entwicklungstheorien gängigenEinteilung von Lebensabschnitten sowie ihrerSchwerpunktsetzung auf verschiedene Entwick-lungslinien. Diese Erläuterungen sollten auf Pinn-wänden visualisiert werden. Horizontal wird dasjeweilige Lebensalter eingetragen und vertikal wer-den die Entwicklungslinien notiert (psychosozialeEntwicklung, kognitive Entwicklung, moralischeEntwicklung, biologische Entwicklung). Der Auf-bau der Matrix kann sich dabei an Tabelle 12.1 ori-entieren. Ein erster Arbeitsauftrag an die Seminar-teilnehmer lautet dann, in Kleingruppen die Ent-wicklungs- und Reifungsprozesse für den erstenLebensabschnitt zu diskutieren und die Nennun-gen auf rechteckige Moderationskarten zu notie-ren (jeweils nur ein bis zwei Begriffe).Zur Einstim-mung in das Lebensalter kann den Gruppen einText, ein Gedicht, ein Lied oder ein Bild zur Verfü-gung gestellt werden. Ist diese Arbeit abgeschlos-sen, präsentiert jede Gruppe ihr Ergebnis imPlenum, wobei die Moderationskarten in die vor-bereitete Matrix geheftet werden.Es folgt ein Kurz-vortrag der Seminarleitung, in dem die For-schungsergebnisse und Erkenntnisse der vier ent-wicklungspsychologischen Ansätze für diesenLebensabschnitt dargestellt werden. Das Alltags-wissen der Seminarteilnehmer wird so um die wis-senschaftlichen Erkenntnisse ergänzt und erwei-tert. Ist die Perspektive der Betrachtung in diesemSchritt noch ganz auf eine gesunde Entwicklungausgerichtet, so wird im nächsten Schritt die Auf-merksamkeit auf Entwicklungsdefizite und -verzö-gerungen gelegt.

In Kleingruppen diskutieren die Seminarteil-nehmer nun Besonderheiten in der Reifungsphasedieses Lebensalters, welche eine krisenhafte Ent-wicklung hervorrufen können. Hier ist es sinnvoll,neben der Reflexion der eigenen Entwicklungskri-sen Kasuistiken aus der beruflichen Praxis zu dis-kutieren. Im Vordergrund stehen dabei Fragennach den Ursachen für die Entwicklungsdefizite,nach der Ausprägung der Symptome und den mög-lichen Interventionsformen des beruflichen Han-delns. Die Arbeitsergebnisse werden ebenfalls imPlenum präsentiert und gemeinsam dort bespro-

Zusammenfassung

Page 303: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

12

292 Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus

chen.Wichtige Handlungskompetenzen und Hand-lungsstrategien werden auf einem Flip-Chart zu-sammenfassend visualisiert.

Dieses vierschrittige Vorgehen wiederholt sichnun für alle weiteren Lebensabschnitte:4 Erfahrungswissen in der Kleingruppe diskutie-

ren,4 Präsentation im Plenum mit nachfolgendem

Kurzvortrag durch die Seminarleitung,4 Diskussion von Entwicklungsdefiziten anhand

von Kasuistiken aus der beruflichen Praxis,4 Präsentation im Plenum und Herausarbeiten

von wichtigen Handlungskompetenzen undHandlungsstrategien.

Insgesamt muss mindestens ein Zeitraum von 20Stunden zur Verfügung stehen. Ausführlicher undintensiver – vor allem in Bezug auf die Reflexion dereigenen Bewältigung von Entwicklungskrisen –wird der Arbeitsprozess und das Arbeitsergebnis,wenn 40 Stunden eingeplant werden können.

3 Empfehlungen zum Weiterlernen Zur Vertiefung der Thematik und zum Weiterler-nen kann folgende Literatur empfohlen werden:4 Mertens W (1996) Entwicklung der Psychose-

xualität und der Geschlechtsidentität. Bd II:Kindheit und Adoleszenz. 2. überarbeitete Aufl.Kohlhammer, Stuttgart

4 Mertens W (1992) Entwicklung der Psychose-xualität und der Geschlechtsidentität. Bd 1: Ge-burt bis 4. Lebensjahr. Kohlhammer, Stuttgart

4 Oerter R, Montada L (Hrsg) (1998) Entwick-lungspsychologie. Ein Lehrbuch. 4. korrigierteAufl. Beltz, München

Spezielle Literatur zur Säuglings- und Kleinkind-forschung:4 Dornes M (1993) Der kompetente Säugling. Die

präverbale Entwicklung des Menschen. Fischer,Frankfurt a. M.

4 Mahler MS, Pine F, Bergmann A (1978) Die psy-chische Geburt des Menschen. Fischer, Frankfurta. M.

4 Spitz RA (1959) Ursprünge menschlicher Kom-munikation. Klett, Stuttgart

Literatur

Balint M (1997) Die Urformen der Liebe und die Technik der Psy-

choanalyse. 2. Aufl. Klett, Stuttgart

Baltes P, Baltes M (1994) Gerontologie: Begriff, Herausforderung

und Brennpunkte. In: Baltes P, Mittelstraß J, Staudinger Z

(Hrsg) Alter und Altern: Ein interdisziplinärer Studientext. De

Gruyter, Berlin, S 1–34

Beck U, Beck-Gernsheim E (1990) Das ganz normale Chaos der Lie-

be. Fischer, Frankfurt am Main

Blanck G,Blanck R (1974) Angewandte Ich-Psychologie.Klett,Stutt-

gart

Blos P (1983) Adoleszenz: Eine psychoanalytische Interpretation.

3. Aufl. Klett, Stuttgart

Bodemann G, Perrez M, Gottmann JM (1996) Die Bedeutung

intrapsychischen Copings für die dyadische Interaktion unter

Stress. Z Klin Psychol 25: 1–13

Dornes M (1993) Der kompetente Säugling. Die präverbale Ent-

wicklung des Menschen. Fischer, Frankfurt am Main

Erikson EH (1973) Identität und Lebenszyklus.Suhrkamp,Frankfurt

am Main

Ewert O (1983) Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Kohl-

hammer, Stuttgart

Freud A (1988) Wege und Irrwege in der Kinderentwicklung. Klett,

Stuttgart

Freud S (1982) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In: Freud S

(1982) Studienausgabe. Bd 5: Sexualleben. Fischer, Frankfurt

am Main, S 37–134

Gilligan C (1984) Die andere Stimme. Pieper, München Zürich

Hartmann H (1972) Ich-Psychologie. Klett, Stuttgart

Kirchler E (1989) Zufriedenheit unterm gemeinsamen Dach. In:

Gruppendynamik 20: 75–94

Kohlberg L (1995) Die Psychologie der Moralentwicklung. Heraus-

gegeben von Althof W. Suhrkamp, Frankfurt am Main

Kohut H (1973) Narzissmus. Suhrkamp, Frankfurt am Main

Kruse A (1989) Psychologie des Alterns. In:Kisker KP et al (Hrsg) Psy-

chiatrie der Gegenwart. Bd 8: Alterspsychiatrie. Springer, Ber-

lin Heidelberg New York Tokyo, S 1–59

Lehr U (1991) Psychologie des Alterns. 7. Aufl. Quelle & Meyer, Hei-

delberg

Lehr U, Kruse A (1995) Ältere Mitarbeiter. In: Rosenstiel L v, Regent

E, Domsch M (1995) Führung von Mitarbeitern. 3. Aufl. Schäf-

fer Poeschel, Stuttgart, S 418–491

Mertens W (1996) Entwicklung der Psychosexualität und der Ge-

schlechtsidentität. 2. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart

Nave-Herz R, Markefka M (Hrsg) (1989) Handbuch der Familien-

und Jugendforschung. Bd I: Familienforschung. Luchterhand,

Neuwied

Peplau H (1995) Interpersonale Beziehungen in der Pflege.Recom,

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Piaget J, Inhelder B (1971) Die Entwicklung des räumlichen Den-

kens beim Kinde. Klett, Stuttgart

Stern DN (1979) Mutter und Kind. Die erste Beziehung. Klett, Stutt-

gart

Willi J (1982) Die Zweierbeziehung. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg

Page 304: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

13

Systemisches Pflegemanagementmit wachsender Zukunftsunsicherheit

Manfred Muster

13.1 Systemisches Pflegemanagement

als Handlungsstrategie 295

13.1.1 Die Schwierigkeiten von Führungspersonen

Reorganisationsprozesse anzustoßen 297

13.1.2 Merkmale systemischen Managements im Pflegebereich 299

13.2 Klärungsprozesse bei Führungspersonen 302

13.2.1 Widerstreitende Erwartungen und Strebungen

gegenüber einer Führungsperson 302

13.2.2 Klärung des Reorganisationsbedarf als Führungsaufgabe 303

13.2.3 Reduzierung von Komplexität als Teil des Problems

oder Teil der Lösung? 305

13.2.4 Grundprinzipien systemischen Managements 308

13.3 Die Strategie der lernenden Organisation

als Antwort auf die Dynamik sozialer Systeme 308

13.3.1 Strategieentwicklung durch systemische Kommunikation

und Führung 309

13.3.2 Systemische Prozessgestaltung als Kommunikations-

und Führungsaufgabe 312

13.3.3 Systemische Personalentwicklung: Die lernende Organisation

als Lernort für erfolgreiches Denken und Handeln 313

Page 305: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

13

294 Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit

> ThesenNicht nur bei den gegenwärtig beschäftigten Mit-

arbeitern der Pflegeeinrichtungen und den Pa-

tienten, sondern auch bei Studenten der Pfle-

gepädagogik bestehen Unsicherheiten, wie sich

das neue Vergütungssystem im Gesundheitswe-

sen auf ihre Zukunft auswirken wird. Bis zum Jahr

2003 soll das AR-Patientenklassifikationssystem

(Australian Refined Diagnosis Related Groups =

AR-DRG) eingeführt werden, das auf einer auf

Organgebiete bezogenen Differenzierung von

Hauptdiagnosegruppen aufbaut und Schwere-

gruppen (zur Berücksichtigung der Ressourcenin-

tensität) sowie Begleiterkrankungen (Co-Morbi-

ditäten) berücksichtigt. Es soll zwischen 600 bis

800 Fallgruppen umfassen. Die bisherige Kran-

kenhausfinanzierung wird damit abgelöst, ein

Mischsystem aus Pflegesatz und Preisen (Abtei-

lungspflegesatz, Basispflegesatz, Fallpauschalen

und Sonderentgelt für bestimmte Leistungen),

das durch die Investitionszuschüsse der Träger,

meist die Bundesländer, ergänzt wird. Hundert

Prozent der stationären und teilstationären Leis-

tungen sollen nach diesem System ab 2003 ver-

gütet werden. Die Preise ergeben sich aus Punkt-

zahlen für die einzelnen Fallgruppen, die bundes-

weit oder regional festgelegt werden. In einer

Übergangsphase bis 2003 wird für jedes Kran-

kenhaus ein individueller Punktwert ermittelt,der

dann an den einheitlichen DRG-Punktwert heran-

geführt wird.

Die Akteure der gesundheitspolitischen Rahmen-

setzung erwarten von dem DRG-System verein-

heitlichte Wettbewerbsbedingungen und mehr

Kostenkontrolle (Sachverständigenrat 2000/

2001,Simon 2000/2001).Die für das Gesundheits-

wesen zuständige Gewerkschaft ÖTV, inzwischen

mit anderen Gewerkschaften zur Vereinigten

Dienstleistungsgewerkschaft ver.di fusioniert,be-

fürchtet ebenfalls negative Wirkungen (ÖTV

2001):

5 Die Durchschnittskosten der Fallpauschalen

führen zu Gewinnern und Verlierern, weil sie

nicht auf die unterschiedlichen betrieblichen

Bedingungen eingehen. In einem Kranken-

haus mit alter Bausubstanz führt die ungün-

stige Raumgestaltung beispielsweise zu län-

geren Wegezeiten und damit zu höherem Per-

sonaleinsatz. Krankenhäuser mit ungünsti-

geren Bedingungen in Folge unzureichender

Modernisierungsinvestitionen werden aus

dem Markt gedrängt, da die Fallpauschalen

die Kosten nicht decken.

5 Der Versorgungsauftrag gerät in Gefahr,wenn

Einrichtungen in strukturschwachen Regio-

nen betriebswirtschaftlich nicht mehr mithal-

ten können.

5 Die Verweildauer der Patienten verkürzt sich,

was aber nicht zu einem geringeren Personal-

aufwand, sondern nur zu einem ungünstige-

ren Verhältnis der Personalkosten zu den an-

deren Kosten führt.

5 Es besteht die Gefahr der Leistungsminimie-

rung und/oder Risikoselektion, indem sich

Krankenhäuser und pflegerische Einrichtun-

gen nur auf solche Fälle und Leistungen kon-

zentrieren, die betriebswirtschaftlich günstig

sind.

Die Veränderung des Systems führt zu einem Ver-

änderungsdruck auf die Strukturen (Einrichtun-

gen) und wirkt darüber auf das Verhalten des Pfle-

gepersonals und möglicherweise auch der Pati-

enten. Wir stehen also vor einem Strukturwandel

in der Gesundheitsversorgung, auf den sich das

Pflegemanagement einstellen muss und der neue

Unsicherheiten schafft. Unsicherheiten sind die

typischen Bedingungen eines sektoralen Struk-

turwandels, der durch systemische Veränderun-

gen ausgelöst wird.Diese betreffen den Markt,die

darauf ausgerichteten Strukturen und Prozesse,

die Qualifikationsprofile der Beschäftigten, den

Organisationsaufbau sowie Betriebsgebäude und

-technik und natürlich insbesondere den daran

gebundenen Kapitalaufwand. Das Marktsystem

beginnt in der Pflege jene Systemeigenschaften

auszuprägen, die wir aus der typischen Markt-

ökonomie des Handels und des produzierenden

Gewerbes kennen: Kundenorientierung, Wettbe-

werb um Märkte und Kunden,Verdrängung nicht

marktfähiger Unternehmen, Gewinnstreben, In-

novationswettlauf und Hochleistungsorganisati-

on. Die Managementanforderungen in der Pflege

ähneln damit eher denen eines High-Tech-Unter-

nehmens, dessen Produktpalette die Sättigungs-

phase überschritten hat und das nun die wissen-

schaftlich-technischen Innovationen und den

Marktbedarf der nächsten Produktgeneration

Page 306: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

13.1 · Systemisches Pflegemanagement als Handlungsstrategie13295

realistisch prognostizieren muss, um auf dieser

Annahme systematisch die Investitionen in die

humanen und ökonomischen Ressourcen vorzu-

nehmen und für die Zukunft zu entwickeln.

Das Strategiemanagement in den zu erwartenden

Reorganisationsprozessen gehört damit im Pfle-

gemanagement zur Überlebensstrategie der Ein-

richtungen. Es ist ein entscheidendes Lern- und

Handlungsfeld der Zukunft sowohl in der Ausbil-

dung als auch in der Praxis.Es geht mir darum,ein

Verständnis für die Schwierigkeiten zu vermitteln,

die mit komplexen Reorganisationsprozessen

sachlich und menschlich einhergehen und Bewäl-

tigungsmöglichkeiten von Unsicherheiten, die

notwendigerweise damit verbunden sind, zu be-

schreiben.

3 Berufliche Handlungskompetenzen

2 FachkompetenzStrategiemanagement als Antwort aufveränderte Rahmenbedingungen desGesundheitssystems verstehen undWandlungsprozesse mitgestalten. DenSchwerpunkt auf das systemische Pro-zessdenken legen statt auf das konven-tionelle Denken in Funktionsstrukturen.

2 PersonalkompetenzDie eigene Unsicherheit mit offenen Fra-gen klären, geduldig mit der Unsicher-heit anderer umgehen.

2 SozialkompetenzWandlungsprozessen durch die aktiveBeteiligung von Mitarbeiterinnen undMitarbeitern mitgestalten.

2 MethodenkompetenzAdäquate Analysemethoden einsetzenund die Kommunikation über die Schluss-folgerungen strukturiert und offen ge-stalten.

3 PraxisrelevanzFührungstätigkeiten sind wesentlich dadurch ge-kennzeichnet, dass heute Entscheidungen gefällt

werden müssen, welche die Zukunft der geführtenOrganisation betreffen. Die Zukunft lässt sich je-doch nicht mit Sicherheit prognostizieren. Zusätz-lich müssen bei jeder Entscheidung für ein Teilsys-tem die Auswirkungen auf die anderen Teilsystemeund damit auf das Ganze bedacht werden.Anstößefür Entscheidungen entstehen meist durch verän-derte Rahmenbedingungen der Umwelt, in demsich das System bewegt (Systemumwelt).Daher sollhier skizziert werden, welche Schwierigkeiten undUnsicherheiten bei notwendigen Veränderungs-prozessen in den Organisationen zu bewältigensind (Unsicherheit kann nicht beseitigt, sondernnur bewältigt werden). Auch wird der Wert des»systemischen Managements« beschrieben.

Weiterhin ist wichtig, dass eine Führungsper-son, die Sachentscheidungen zu treffen hat, sehrunterschiedliche und zum Teil widersprechendeErwartungen integrieren muss und dabei die Be-ziehungsebene nicht aus dem Blick verlieren darf.

Wesentlich geht es um die lernende Organisa-tion als strategische Struktur für die Bewältigungvon Unsicherheit im Umgang mit einem dynami-schen Systemumfeld.An die Pflegepädagogik stelltdie lernende Organisation die Anforderung, dieStudierenden auf eine berufliche Realität vorzube-reiten,in der ständiges Lernen ein Schlüsselprozessbleibt, von dem zukünftig sowohl die persönlicheberufliche Weiterentwicklung als auch die ökono-mische Überlebensfähigkeit der Pflegeeinrichtun-gen abhängig sind.

3 Verfahrensstruktur (. Abb. 13.1)

13.1 Systemisches Pflegemanagementals Handlungsstrategie

Im Folgenden liegt der Fokus auf strategischen Re-organisationsprozessen, die eine systemische Be-trachtungsweise erfordern, weil sie neu definierteZiele für die langfristige Entwicklung einer Orga-nisation verwirklichen sollen.

Reorganisationsprozesse werden in immer kür-zeren Abständen erforderlich, da sich die wirt-schaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungender Pflege in Richtung einer stärkeren Marktorien-tierung verändern.Alle bisherigen politischen Ver-suche, die Kostenentwicklung in den Griff zu be-

Page 307: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

13

296 Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit

. Abb. 13.1. Verfahrensstruktur

Page 308: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

13.1 · Systemisches Pflegemanagement als Handlungsstrategie13297

kommen,sind erfolglos geblieben.Wie auch bei an-deren sozialen Sicherungssystemen,etwa dem Ren-tensystem, ist daher zu erwarten, dass das Prinzip,persönliche Lebensrisiken weitgehend gesell-schaftlich abzufedern, durch stärkere Eigenbeteili-gung auf der Grundlage einer Minimalabsicherungabgelöst werden wird. Mit der höheren Eigenbetei-ligung werden die Patienten stärker als bisher selbstauf die Kosten für ihre Gesundheit achten und beider Auswahl des Leistungsangebotes der Gesund-heitseinrichtung die Leistungsfähigkeit stärker inBetracht ziehen.Die Patienten erwarten dabei,dasssie einen hohen Leistungsstandard zu günstigenKosten erhalten. Um das zu gewährleisten, müssenPflegeeinrichtungen noch stärker als bisher ihreLeistungserbringung rationalisieren.

13.1.1 Die Schwierigkeiten von FührungspersonenReorganisationsprozesseanzustoßen

Jeder Reorganisationsprozess wirft bei den Mitar-beiterinnen und Mitarbeitern die Frage auf,warumihre bisherige Arbeitsorganisation und Leistungs-erbringung nicht die Anforderungen der Zukunfterfüllen. »Das haben wir doch immer so gemachtund das hat sich doch bewährt. Warum sollen wirdas denn jetzt ändern?« lautet die oft gestellte Fra-ge. Eine solche Reaktion hat mit der menschlichenEigenart zu tun, Veränderungen der Umwelt, diesich über längere Zeiträume entwickeln, nicht sowichtig zu nehmen wie Veränderungen, die raschund deutlich auftreten.Peter Senge (1996,S 34) ver-anschaulicht diese Verhaltensneigung mit demGleichnis vom gekochten Frosch:

7 Wenn Sie einen Frosch in einen Topf mit

kochendem Wasser setzen, wird er so-

fort versuchen herauszuklettern. Aber

wenn das Wasser Zimmertemperatur

hat und Sie den Frosch durch nichts er-

schrecken, bleibt er ganz ruhig sitzen.

Steht der Topf nun auf einer Wärme-

quelle und wird die Temperatur allmäh-

lich erhöht, geschieht etwas sehr Inter-

essantes.Während die Temperatur von

20 auf 30 Grad Celsius steigt, bewegt

sich der Frosch nicht. Er wird tatsächlich

alle Anzeichen von äußerstem Wohlbe-

hagen zeigen.Während die Hitze nach

und nach zunimmt, wird der Forsch im-

mer schlapper und schlapper, bis er un-

fähig ist, aus dem Topf herauszukraxeln.

Obwohl der Frosch durch nichts gehin-

dert wird, sich zu retten, bleibt er sitzen.

Warum? Weil der innere Wahrneh-

mungsapparat des Froschs auf plötzli-

che Veränderungen in seiner Umwelt

eingestellt ist und nicht auf langsam

wachsende Bedrohungen.

Dieses Gleichnis lässt sich auch auf unsere Wahr-nehmung anwenden.Eine der Schwierigkeiten,Re-organisationsprozesse in Unternehmen und Insti-tutionen erfolgreich durchzuführen, besteht in un-serer menschlichen Neigung, die Kontinuität desAlltäglichen als Stabilitätsbeweis und -garantie fürihre Existenz zu interpretieren. »Wir waren dochbisher erfolgreich, warum sollte das nicht auch inder Zukunft so sein?« Der Blick bleibt dabei stärkerauf die Organisation selbst (auf das wohltempe-rierte Wasser) als auf die Umwelt (die Wärmequel-le unter dem Gefäß) gerichtet. Viele Unterneh-menszusammenbrüche resultieren aus der exter-nen wie internen Wahrnehmung von scheinbarerStabilität bei tatsächlicher Instabilität, die erkenn-bar gewesen wäre,aber nicht wahrgenommen wur-de. Wie kommt es, dass Organisationen einer sol-chen Trägheit der Wahrnehmung erliegen?

Soziale Organisationen wie Unternehmen, so-ziale Einrichtungen usw. sind auf ihre Systemum-welt ausgerichtet und von einem Mindestmaß anStabilität abhängig, damit sie ihre gestellten Aufga-ben erfüllen können.Ihnen liegen Deutungsmustervon der sie umgebenden Realität zu Grunde undAnnahmen über die Tauglichkeit ihrer Organisa-tionsmuster, die gestellten Ziele in ihrem Hand-lungsfeld zu erfüllen. Die Deutungsmuster habendie Funktion, Wirklichkeit zu interpretieren. Siedienen der Identitätsbildung in einer Organisation,wodurch sie sowohl abgrenzend als auch ausgren-zend wirken. Sie erklären, was in einer Organisa-tion als erfolgreich, leistungsfähig, kompetent usw.bewertet wird. Sie haben damit nicht nur erklären-den, sondern auch normativen Charakter. Deshalbwerden sie nicht so leicht aufgegeben, selbst wenn

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13

298 Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit

sich ihr Erklärungswert zunehmend als unzurei-chend herausstellt. Organisationen verändern sichim Laufe ihrer Existenz meist evolutionär, weil siegelernt haben, sich den Änderungen ihrer Umweltanzupassen – oder sie sind untergegangen,weil dieerforderliche Anpassung zu spät erfolgte oder garausblieb.

Erfolgreiche Anpassung resultiert aus erfolg-reichem Lernen, die eigenen Deutungsmuster zuerweitern und zu präzisieren und Sichtweisen zuentwickeln,welche die Praxis erfolgreich verstehenund verändern helfen.Deutungsmuster sind hypo-thetische Interpretationen der Wirklichkeit, in de-nen positives Wissen ein Nischendasein führt. DasGleiche trifft auf die aus ihnen abgeleiteten Orga-nisationsmuster zu.Wir haben es also im Sinne desKonstruktivismus mit konstruierten Weltsichtenzu tun und nicht mit mathematisch genau berech-neten Abbildern der Wirklichkeit,die es im Übrigenin der Welt der Wirtschaft noch weniger gibt, als inden Naturwissenschaften (siehe dazu Arnold u.Siebert 1997, die einen Überblick über konstruk-tivistische Positionen geben).

Wenn schon die vorhandene Realität nur diewahrgenommene und nicht die objektive ist, wieviel weniger festgelegt und ungenauer ist dann dasZukunftsbild, das wir uns mit Visionen malen? Im-mer dann, wenn sich Veränderungen der Rahmen-bedingungen ankündigen, beginnt der Zweifel ander trügerischen Sicherheit des für die Gegenwarteingeschlagenen Weges zu nagen. Die Erkenntnis,mit den Mitteln der Vergangenheit und der Gegen-wart in der Zukunft nicht mehr bestehen zu kön-nen, also das Gefühl des Mangels an Zukunftsres-sourcen,beginnt,den schwierigen Prozess der Stra-tegiefindung allmählich in Gang zu setzen. EinProzess,bei dem der Mangel an Sicherheit über denerfolgreichen Ausgang der Suche, das Fehlen vonmathematisch berechenbarer Vorhersagbarkeit zuVerzagtheit führen kann und damit zu verspätetemHandeln. Den Ersatz von Sicherheit liefern intuiti-ve Visionen, welche die Funktion haben, Zukunfts-bilder als hypothetisch inszenierte Sicherheit fürzukunftweisendes Denken und Handeln zu sein.Siesollen als Leitbild vor allem die Kraft geben,sich insunbekannte Neuland zu wagen. Sie können aberauch in den Abgrund führen, wie spektakuläre Fir-menzusammenbrüche immer wieder belegen. De-

ren Unternehmensführer verführten selbst fakten-verliebte Banker mit visionären Entwürfen zu ris-kanten Krediten,obwohl das operative Geschäft be-reits deutliche Symptome von Missmanagementund Ressourcenverschleiß zeigten.

Solche Beispiele erschweren es dem redlichenVisionär auf die Zukunftssicherung hinzuweisen,denn wenig hat die visionäre Führungspersonihren Mitarbeitern an Fakten über die Zukunft zubieten, mehr daran, dass der Wandel unausweich-lich ist. Hinsichtlich der Faktenlage über die Zu-kunft steht sie kaum mehr bekleidet da als der Kai-ser in dem Märchen von Hans-Christian Andersen,der bekanntlich von einem Kind seiner Vision be-raubt wurde, er trage Kleider, die nur von klugenLeuten erkannt werden könnten. Der Verantwor-tungsdruck auf Führungskräfte für den Fortbe-stand der Pflegeeinrichtung und ihrer Arbeitsplät-ze ist in einer solchen Situation enorm. Sie sind imoperativen Geschäft gewohnt, aus der sicherenDomäne von Fakten,professioneller Erfahrung undRoutine zu denken und zu handeln. Nun treten sievor ihr Aufsichtsgremium und vor ihre Belegschaftund können gerade noch einige den Wandel auslö-sende Ursachen präzise und nur vage ihre mögli-chen Auswirkungen referieren. Bei dem, was diemöglichen Lösungen sein könnten, sind sie ge-zwungen, aus der Welt der Fakten in das Reich derVermutungen und Visionen zu treten. Hoffend,dass sie mit der von ihnen selbst konstruiertenPlausibilität überzeugen können. Die Versuchungist groß,die Zukunft mit Bildern der Vergangenheitund Gegenwart auf die Zukunft zu übertragen, umden verantwortlichen Gremien und den Mitarbei-tern die Zumutung zu extremer Verunsicherung zuersparen.Konfrontiert mit der Abwehr der Zuhörerin der Bandbreite von Verdrängung über Verleug-nung bis hin zum Widerstand gegenüber den He-rausforderungen zukünftiger Veränderungen gerätdie Führungsperson leicht in die Versuchung, zumTeil des Problems zu werden (Stagge 1997, S 58 ff).Es geht hierbei um die Balance zwischen der Auf-gabe, die Organisation zukunftsfähig zu machen,und der Notwendigkeit, als Führungskraft denRückhalt in den Entscheidungsgremien und derBelegschaft zu haben. Dies kann sich zum hand-festen persönlichen Zielkonflikt zwischen Loyalitätzur Organisation und Loyalität zu Menschen stei-

Page 310: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

13.1 · Systemisches Pflegemanagement als Handlungsstrategie13299

gern. Die entstehende Spannung sucht sich leideroft in mehr oder weniger undurchsichtigem Ma-növrieren und opportunistischen Taktieren Er-leichterung zu verschaffen, was sich letztendlich ineiner Serie von unerfüllten Versprechungen undverpassten Chancen rächen kann.

Bekannte Hindernisse für notwendigeVeränderungen in Organisationen

5 Verschiebung: »Das ist jetzt nicht so wich-

tig.Wir müssen erst mal sehen, wie sich

das entwickelt.«

5 Verharmlosung: »Das wird nicht so heiß

gegessen, wie es gekocht wird.«

5 Reduzierung: »Wir brauchen bloß die Per-

sonalkosten zu senken, dann haben wir

das Problem gelöst.«

13.1.2 Merkmale systemischenManagements im Pflegebereich

Systemisches Pflegemanagement denkt und han-delt nach den Erkenntnissen der Systemtheorie.Esist hier nicht der Ort, die verschiedenen Entwick-lungswege und die Entwicklungsgeschichte derSystemtheorie zu erörtern (Capra 1996). Vielmehrgeht es hier darum zu beschreiben, was systemi-sches Management in einer bestimmten Problem-konstellation bedeutet, was es von nicht-systemi-schem Management unterscheidet und welcherNutzen entsteht,systemisch zu denken und zu han-deln. Am Beispiel der Veränderungen des Gesund-heitssystems will ich die Topographie des Lern-und Handlungsfeldes skizzieren und die Chancenund Schwierigkeiten beleuchten, bei komplexenVeränderungsprozessen erfolgreich zu handeln.

Obwohl viele Manager von sich behaupten,ver-netzt, ganzheitlich und zirkulär zu denken und zuhandeln, fällt es schwer, eine so umfassende wiekurze Definition von systemischem Managementzu finden. Offensichtlich gehen wir intuitiv undvor-begrifflich mit einem Ganzen um, dessen Teilewir nicht vollständig kennen und präzise definierenkönnen. Es ist Aufgabe der wissenschaftlichenTheoriebildung, dieses Problem zu behandeln. FürPraktiker, die Wirklichkeit gestalten, muss einst-weilen eine phänomenologische Beschreibung rei-

chen, die sich aus den Ansätzen verschiedenerAutoren speist (Capra 1996,Senge 1996,Vester 1978;vgl. dazu auch Clausen in diesem Band). System-denken wird an der Art und Weise deutlich, wieProbleme erkannt, interpretiert und gelöst werden.

Die Systemtheorie unterscheidet zwischen Sys-temumwelt,System,Teilsystemen und Elementen.Für den Pflegebereich besteht die Systemumweltaus der Gesellschaft und ihren politischen und in-stitutionellen Akteuren, die Erwartungen an dasGesundheitssystem formulieren und in politischeRahmensetzung gießen. Dazu gehören auch dievorherrschenden gesellschaftlichen Normen undEinstellungen zur Gesundheit und zur Verpflich-tung, kranken Menschen zu helfen, sowie die Le-bensbedingungen und Lebensweisen, die zu be-stimmten Krankheiten führen. Die Systemumweltdefiniert den Versorgungsauftrag des Gesundheits-systems und seine Ressourcen in den Strukturenpolitischer Meinungsbildung und Normensetzung.

Das System der Gesundheitsversorgung verhältsich einerseits reagierend, indem es die Anforde-rungen erfüllt, andererseits generierend, indem esetwa durch neue Therapien oder organisatorischeInnovationen seine Leistungsfähigkeit steigert unddamit neue Ansprüche der Systemumwelt hervor-ruft.Besonders innovative Teilsysteme (z.B.die Un-fallchirurgie) können andere Teilsysteme (z. B. dienachfolgende Rehabilitation) positiv beeinflussenund sich gegenseitig verstärken.

Der Eingriff in ein System erzeugt Rückkoppe-lungen, die das System stärken oder schwächenkönnen.Die Menschen im Gesundheitssystem sindElemente, die sich einerseits in Bezug auf das Sys-tem und seine Strukturen reaktiv verhalten, ande-rerseits können sie sich auch pro-aktiv verhaltenund z. B. durch Einwirkung auf die Entscheidungs-strukturen eines sozialen Systems das System selbstverändern. Das ist möglich, wenn es ihnen gelingt,Hebelwirkungen zu erkennen und dort anzusetzen,wo sie wichtige Einflussfaktoren des Systems ver-ändern können.Systeme,Teilsysteme und Struktu-ren sowie Elemente bilden ein komplexes Netzwerkvon Wirkungen aufeinander.Die Organisation allerSysteme und Systemteile weist spezifische Musterauf, die sich auf deren Selbsterhaltung richten. Eshandelt sich um ein Netzwerkmuster (Capra 1996,S 100):

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13

300 Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit

7 Die erste und offenkundigste Eigen-

schaft jedes Netzwerkes ist seine Nicht-

linearität – es erstreckt sich in alle Rich-

tungen. Somit sind die Beziehungen in

einem Netzwerkmuster nichtlineare Be-

ziehungen. Insbesondere vermag sich

ein Einfluss oder eine Nachricht entlang

eines kreisläufigen Pfades fortzupflan-

zen, aus dem eine Rückkoppelungs-

schleife entstehen kann. Der Begriff der

Rückkoppelungsschleife ist eng mit dem

Konzept des Netzwerkmusters ver-

knüpft. […] So wird beispielsweise eine

Gemeinschaft, die ein aktives Kommu-

nikationsnetzwerk unterhält, aus ihren

Fehlern lernen, weil sich die Konsequen-

zen aus dem Fehler durch das Netzwerk

ausbreiten und entlang von Rückkop-

pelungsschleifen zum Ausgangspunkt

zurückkehren. Daher kann die Gemein-

schaft ihre Fehler korrigieren und sich

selbst regeln und organisieren. Ja, man

kann sagen, die Selbstorganisation ist

zum zentralen Begriff der systemischen

Anschauung vom Leben geworden.«

(Capra 1996, S 101)

Da wir es bei unserem Thema mit sozialen Syste-men zu tun haben, kommt noch ein weiterer we-sentlicher Aspekt hinzu, der für unser Denkenebenso revolutionär wie schwer verdaulich ist. AufGrund unserer westlichen Denktradition sind wirgewohnt, von objektiven Sachverhalten der äuße-ren Welt auszugehen und das,was wir sehen,für dieobjektive Realität zu halten. Doch das, was wir se-hen, ist nur die wahrgenommene und nicht die ob-jektive Wahrheit und »Kriterium unserer Wahr-nehmung und Kognition ist nicht die Wahrheit,sondern Überlebensdienlichkeit und lebensprakti-sche Orientierung« (Siebert 1996, S 16). Wirklich-keit ist also immer nach Interessenlage, Gewohn-heit,subjektiver Befindlichkeit und Zielen gedeute-te Wirklichkeit.Die Deutungsmuster,mit denen wirdie Umwelt interpretieren, sind Interpretationenund Verhaltensweisen, die sich bewährt haben unddie wir deshalb auf gleiche oder ähnliche Situatio-nen übertragen (Arnold 2000, S 81).

Daraus leiten sich wichtige Merkmalesystemischen Managementhandelns ab:

5 Wechsel der Betrachtungsweise von den

Teilen zum Ganzen.

5 Berücksichtigung von Rückkoppelungen

bei Interventionen in Teile auf das Ganze.

5 Wechselnde Betrachtung verschiedener

Systemebenen (vernetztes Denken).

5 Beschränkung auf Näherungswissen im

Sinne konstruktivistischer Deutungs-

muster.

5 Denken in kreisförmigen Prozessen, statt

in Zuständen und Eigenschaften.

5 Erkennen von zentralen Kreisläufen / Pro-

zessen.

5 Nutzen von Fähigkeiten der Selbstorgani-

sation (Autopoiesis) von Systemen.

5 Lernen als zentraler Entwicklungsprozess.

5 Identifizierung von Schlüsselfaktoren für

die Entwicklung von Systemen.

5 Identifizierung von Hebelwirkungen und

Gegenkräften und ihre Zeitläufe bei Ein-

griffen in Systeme.

Das Systemmodell hat für die Erklärung von Lernenund Handeln in sozialen Systemen und für komple-xe Probleme nicht nur eine erheblich größere Er-klärungsreichweite (.siehe Tabelle 13.1), sondern eseröffnet auch größere Chancen für erfolgreiche In-terventionen. Dörner (1989) belegt eindrucksvoll,wie lineare Erklärungsmodelle kläglich an derKomplexität von Systemen scheitern und kenn-zeichnet seine Befunde als »Logik des Misslingens«.

An den oben dargestellten Veränderungen imGesundheitssystem können wir das verdeutlichen.Der politisch beschlossene Wandel des Vergü-tungssystems (als Teilsystem des Gesundheits-systems) verändert die Grundlagen der Haushalts-führung der Krankenhäuser und pflegerischen Ein-richtungen.Die Auswirkungen dieser Veränderungkönnen für die Gesundheitsversorgung vielfältigsein: Es kann generell insgesamt schlechter,d. h.imSinne des Versorgungsauftrages oder nur in Teilbe-reichen bzw. bestimmten Regionen weniger leis-tungsfähig werden. Es kann aber auch besser wer-den oder es kann Verschlechterungen sowie Ver-besserungen geben.Tatsache ist,dass keiner,der ander politischen Entscheidung beteiligten Personen

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13.1 · Systemisches Pflegemanagement als Handlungsstrategie13301

absehen kann, welche Vielfalt an unerwarteten Ne-benwirkungen entstehen wird und auf welche Wei-se die weitere Entwicklung so gesteuert werdenkann, dass das Gesundheitssystem bei höhererQualität in den Leistungen kostengünstiger arbei-ten kann. Die Frage zu beantworten, wie beide Zie-le erreicht werden können,bleibt hauptsächlich den

einzelnen Einrichtungen, ihren Eigentümern undden politischen Entscheidungsträger im Versor-gungsgebiet überlassen. Sie selbst müssen dieHauptarbeit leisten, sich auf die neuen politischenRahmensetzungen einzustellen und ihre eigeneStrategie für die Sicherung und Weiterentwicklungder Pflegeeinrichtung zu entwickeln.

. Tabelle 13.1. Erklärungsmodelle

Erklärungsmodelle Hauptthesen Erklärungsreichweite für Lernen und Handeln in sozialen Systemen

Eigenschaftsmodell Menschliches Handeln ist durch relativ sta- Dieses Modell reduziert menschliches Handeln bile Eigenschaften geprägt. Persönlichkeits- auf dauerhafte Eigenschaften. Deshalb taugt eigenschaften ermöglichen die Vorhersage es nicht für Interventionen in soziale Systeme.des Verhaltens in einer bestimmten oder Sein Erklärungswert bleibt auf isolierte Einzel-einer ähnlichen Situation. Persönlichkeits- fakten beschränkt und ist damit für die Komple-eigenschaften sind über lange Zeiträume xität von Lernen und Handeln in sozialen Syste-stabil. men weitgehend ungeeignet.

Maschinenmodell Menschen funktionieren wie Maschinen und Was zwischen Reiz und Reaktion passiert bleibt sind entsprechend steuer- und veränderbar. in der »Black Box« verborgen. Dieses Modell hat Man muss nur die entsprechenden Verhal- einen sehr beschränkten Erklärungswert, weil tensgesetze kennen (Behaviorismus). es nur lineare Beziehungen zwischen wenigen

Variablen erlaubt. Außerdem ist es vom Men-schenbild her fragwürdig, weil es linear-mecha-nistisch ist.

Handlungsmodell Menschen reagieren nicht bloß auf äußere Das Handlungsmodell erklärt die Regulation Reize, sondern sie planen und steuern ihr sensomotorischer und kognitiver Prozesse als Verhalten entsprechend ihrer Ziele, Absich- Regelkreis von Planung, Handlung und Rück-ten und Einstellungen. Sie haben ein »inne- koppelung, von geistigen und äußeren Hand-res Modell« von der Veränderung (Ziel), die lungen. Innere und äußere Handlungen wer-sie mit der Handlung anstreben und verglei- den als einheitliches System gesehen. Die geis-chen die Resultate jeder vollständigen Hand- tige Vorstellung einer Handlung (Antizipation) lung durch ein operatives Abbildsystem wird als bewusst regulierter und zielorientierter (OAS) mit dem Ziel und seinen Teilzielen und Planungsprozess verstanden, in dem ein ge-lernen gezielt ihre Handlungsweisen zu dankliches Probehandeln stattfindet. Das Han-optimieren. Menschen organisieren ihr Han- deln wird durch Vergleichsoperationen mit deln sequentiell-hierarchisch, gesteuert dem vorgestellten Ziel abgeglichen und korri-durch sinnliche und kognitive Orientierungs- giert, wobei unerwartete Abweichungen in die prozesse. Zwischen Qualitätsmerkmalen der Ausführungsregulation integriert werden.Analyse und Handlungsplanung und Quali- Das Handlungsmodell erfasst komplexe Hand-tätsmerkmalen des Ergebnisses lassen sich lungen, z.B. bei Problemaufgaben. Daher wird lehrreiche Beziehungen herstellen, die sich es auch für die Gestaltung von Lernprozessen für die Verstärkung von Lerneffekten nutzen eingesetzt. Es ermöglicht die Diagnose von lassen. Das Handlungsmodell geht von einer Handlungsqualitäten und hat damit ein großes zirkulären Beziehung von Lernen und Han- Potenzial für Verbesserungsprozesse. Seine Be-deln aus. schränkung besteht in der Konzentration auf

kognitive Prozesse. Die zirkuläre Dynamik von emotionalen Prozessen bleibt eher unberück-sichtigt.

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13

302 Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit

13.2 Klärungsprozesse bei Führungspersonen

Führungspersonen müssen Klärungsprozesse vor-nehmen, um Teil der Lösung und nicht des Prob-lems zu werden. Sie müssen sich der widersprüch-lichen Erwartung an ihre Führungsrolle bewusstsein. Ein Beispiel soll diesen Klärungsprozess ver-anschaulichen. Anschließend werden die klassi-schen Erklärungsmodelle hinsichtlich ihrer Taug-lichkeit für das Lernen und Handeln in sozialenSystemen erläutert, um zu zeigen, wie problemina-däquate Erklärungsmodelle zu unzureichendenLösungen führen.Diese Aspekte werden in den Dis-ziplinen des systemischen Managements von PeterSenge (1996) integriert.

13.2.1 Widerstreitende Erwartungen und Strebungen gegenüber einer Führungsperson

Der Umgang mit Unsicherheit gehört allgemeinzum menschlichen Leben. Besonders im Arbeitsle-ben einer Managerin/eines Managers ist er festerBestandteil der Führungsaufgabe. In Zeiten immerschnelleren Wandels haben Führungspersonen im-

mer weniger Zeit, sich auf Veränderungen einzu-stellen und angemessene Antworten auf sie zu fin-den. Komplexität und Geschwindigkeit, mit derManager mit neuen Problemkonstellationen kon-frontiert werden,haben drastisch zugenommen.Ingleichem Maße sind die Anforderungen an strate-gischer und operativer Kompetenz gewachsen.Diesspiegelt sich auch in den rapide angestiegenen psy-chosomatischen Störungen bei Führungspersonenund einem immer schnelleren »Heuern und Feu-ern« von Führungskräften wieder.

Von der Führungsperson verlangen die Mitar-beiter Orientierung und von einer guten Führungs-person sagt man, sie habe feste Standpunkte, gebeklare Orientierung und wisse,wo es langgehe.Gehtdie Orientierung in die Irre und führen die Strate-gien des Managements geradewegs in das Verder-ben der Organisation, ist von den »Nieten in Na-delstreifen« (Ogger 1992) die Rede, von unfähigenManagerinnen und Managern und vor allem vonSchuld. Führungspersonen und die von ihnen Ge-führten bilden ein System gegenseitiger Erwartungauf der Grundlage eines informellen Vertrages: DieFührungsperson gewährt durch ihre fachliche undpersönliche Autorität jene Orientierungssicherheit,die Mitarbeiter von ihr erwarten. Ihre Orientie-rung, sei es durch Anweisung oder Ratschlag, be-

. Tabelle 13.1. Fortsetzung

Erklärungsmodelle Hauptthesen Erklärungsreichweite für Lernen und Handeln in sozialen Systemen

Systemmodell Menschen handeln als Elemente sozialer Die Erkenntnis, dass Menschen die Wirklichkeit Systeme (Familie, Betrieb usw.) auf der nach Mustern deuten und dass es sich bei der Grundlage von subjektiven Deutungen Wirklichkeit damit um ein selbst konstruiertes (Bildern von der Situation, den Menschen, Deutungsmuster handelt und nicht um die mit denen sie kommunizieren und koope- Widerspiegelung des Objektiven. Das Wissen rieren) nach den formellen und informellen um die zirkuläre Dynamik der Interaktion von Regeln (den Werten und Zielen) des sozialen Mensch und Systemumwelt und von Mensch Systems (z.B. der Organisation, des Betriebes) zu Mensch öffnet Möglichkeiten, die Kompe-im Rahmen der Interaktionsstrukturen des tenzentwicklung der Menschen eines sozialen sozialen Systems (z.B. der Führungskultur) Systems umfassend weiter zu fördern und und beeinflusst durch die Systemumwelt damit das soziale System zu stärken.(z.B. durch das Gesundheitssystem). Zwischen Humanwissenschaftliche Systemmodelle den Menschen als Elementen bestehen haben Ermöglichungswissen für menschliche Wechselbeziehungen ebenso wie zwischen und professionelle Verständigung über ge-dem System und den Elementen, welche die meinsames Lernen und Handeln generiert,Richtung und die Qualität ihrer Entwicklung mit dem sich lernende Organisationen und beeinflussen. damit nachhaltigere Chancen für Weiterent-

wicklung entfalten können.

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13.2 · Klärungsprozesse bei Führungspersonen13303

grenzt die eigene Verantwortung und damit die Un-sicherheit über die Richtigkeit von Entscheidun-gen.Im Tausch für den Schutz vor Unsicherheit leis-ten die Mitarbeiter Gefolgschaft.Es handelt sich fürdie Mitarbeiter um einen Pakt gegen die Unsicher-heit,welcher der Führungsperson wiederum die Si-cherheit gibt, die Führungsrolle unangefochtenauszuführen. Ihre Autorität steht und fällt mit derGültigkeit dieses inoffiziellen Vertrages, der solan-ge gilt,wie Managerinnen und Manager erfolgreichführen.

Durch die Erwartungen der Mitarbeiter wer-den der Führungsperson die eigenen Zweifel an derRichtigkeit ihrer Annahmen,Strategien und Hand-lungsweisen scheinbar genommen, so dass sie mitzunehmender Dauer in der Führungsrolle immermehr Sicherheit ausstrahlt und das Auftreten vonjemandem annimmt,von dem man sagt,er oder siesei eine »geborene Führungskraft«. Vom Manage-ment wird erwartet, die Probleme, die im Außen-verhältnis und innerhalb des Unternehmens bzw.Betriebes auftreten, zu erkennen und zu lösen.Führungskräfte müssen die Systemumwelt verste-hen und die richtigen Ziele und Strategien für dasUnternehmen erarbeiten, durch die seine strategi-schen Erfolgsfaktoren langfristig weiterentwickeltwerden. Die Eigentümer erwarten Rentabilität unddie Kunden ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnisder Dienstleistungen bzw.der Produkte.Die Mitar-beiter erwarten schließlich eine motivierende Per-sonalführung und attraktive Arbeitsbedingungen.Da sich diese Erwartungen in Konkurrenz zuein-ander befinden,sind die Ressourcen zu ihrer Erfül-lung strukturell knapp. Für die Eigentümer stehtdie betriebswirtschaftliche Rentabilität im Vorder-grund,für den Kunden das bessere Angebot,für dieArbeitnehmer menschengerechte Arbeitsbedin-gungen und berufliche sowie soziale Weiterent-wicklungsperspektiven.Das Management muss beigrundsätzlich knappen Ressourcen diese verschie-denen Erwartungen durch strategisch richtige Pla-nung und effizient geführte operative Prozesse in-tegrieren.Es bewegt sich dabei in der Welt der Sach-logik und der Welt der Psychologie, d. h. auf derSach- und auf der Beziehungsebene. Eine sachlo-gisch ausgefeilte Strategie scheitert, wenn sie nichtvon den Kunden, den Eigentümern und/oder denArbeitnehmern getragen wird. (Ich schließe hierPatienten in den Begriff des Kunden ein, obwohl

der Begriff im engeren Sinne die Beziehung zwi-schen Kunde und Lieferant dort begrenzt, wo derökonomische Nutzen für einen der beiden oder bei-de Akteure wegfällt.Das geht natürlich im Gesund-heitssystem ebenso wenig wie bei anderen rechts-staatlichen Aufgaben, weil es der humanitärenEthik unseres Grundgesetzes widerspräche).

Die Kunst des Managements ist die des Ermög-lichens.Dabei können Managerinnen und Managerim Umgang mit den Sachen nur Erfolg haben,wennsie es schaffen,erfolgreich mit Menschen umgehen,indem sie sie zu gemeinsamem Einsatz ihrer Res-sourcen für Ziele motivieren,die für alle Akteure at-traktiv sind.Dabei müssen Interessenkonflikte the-matisiert, geklärt und gelöst werden. Das führtmeist zu Kompromissen, über deren AkzeptanzKonsens besteht. Das aus dem lateinischen Wort»consens« abgeleitete Wort bedeutet »gemeinsameSichtweise, gemeinsames Verständnis«, womitdeutlich wird, wie sehr Managementhandeln aufden eigenen Sichtweisen basiert und gleichzeitigvon denen anderer abhängig ist.

13.2.2 Klärung des Reorganisationsbedarfals Führungsaufgabe

Die Geschäftsführerin einer Pflegeeinrichtung willin einer Leitungsteambesprechung mit ihren Kolle-ginnen und Kollegen darüber reden, welche Chan-cen und Risiken die Fallpauschale nach dem DRG-System für die Einrichtung haben wird. Sie nimmtsich vor, die nach ihrer Meinung wichtigstenSchlüsselfragen aufzuwerfen:4 1. Welche betriebswirtschaftlichen Wirkungen

hat das neue System für unsere Einrichtung?4 2. Welche Auswirkungen hat das neue System

auf die Leistungsressourcen unserer Einrich-tung?

4 3. Welche Strategien müssen wir einschlagen,um unter den neuen Bedingungen überlebens-fähig zu sein?

4 4. Welche Schritte müssen wir tun, um eineneue Strategie zu entwickeln?

4 5. Welche Stärken können wir mobilisieren,umdie Einrichtung langfristig zu sichern?

Sie weiß, dass über diese Fragen im Leitungsteamunterschiedliche Ansichten bestehen. Sie macht

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13

304 Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit

sich Gedanken über Lösungsansätze, weil die Ein-richtung in der Vergangenheit bereits in die be-triebswirtschaftliche Verlustzone geraten ist. Au-ßerdem hatte sie schon mehrmals versucht, Kos-teneinsparungen durchzusetzen.Die Erfolge warenspärlich und wurden durch Kostensteigerungen inanderen Bereichen wieder aufgezehrt. Die Ge-schäftsführerin befürchtet nun, dass die Einfüh-rung des DRG-Systems die wirtschaftliche Lagenoch verschlechtern wird. Ihr wird deutlich, dassnur solche Einrichtungen die Einführung der Fall-pauschale überleben werden, die Überschüsse er-wirtschaften, mindestens aber kostendeckend ar-beiten. Sie beunruhigt der Stau unerledigter oderhalbherzig zu Ende gebrachter Verbesserungspro-jekte in der Einrichtung,weil klar wird,dass die un-ausweichliche Veränderung des Vergütungssystemstief greifende Reorganisationsprozesse erfordert.Sie sieht dabei ihre Führungsaufgabe darin,schnelljene Stellgrößen für nachhaltige Wettbewerbs-fähigkeit zu finden, die auf den vorhandenen Stär-ken aufbauend, die wirksamsten betriebswirt-schaftlichen Hebelwirkungen entfalten, um ihreEinrichtung zu sichern und weiterzuentwickeln.Somit will sie prüfen, ob es erforderlich sein wird,die Einrichtung auf neue, betriebswirtschaftlichprofitablere Leistungsprofile umzuorientieren undden zu erwartenden höheren Wettbewerbsdruckdurch Umgestaltung und Optimierung aller Pro-zesse vorzubereiten.

Diesen Prozess zu planen, in Gang zu setzenund zu führen sieht sie als ihre Aufgabe an. Und ihrwird deutlich, dass ein solcher Prozess nur erfolg-reich sein kann, wenn es ihr nicht nur gelingt, dasFührungsteam für diese Aufgabe zu motivierenund anzuleiten, sondern die Beschäftigten für dieaktive Mitarbeit an dem Reorganisationsprozess zugewinnen.Da das bestehende Leistungsprofil mög-licherweise bei einem Strategiewechsel stufenweisesimultan abgelöst werden muss, sind alle Mitarbei-ter in allen Funktionsbereichen und Hierarchie-ebenen erforderlich, um die Verlustrisiken der er-forderlichen Veränderungen in den Organisations-und Arbeitstrukturen der Einrichtung zu minimie-ren.Schließlich kann es sich aus Verantwortung ge-genüber den Patienten keine Einrichtung leisten,die Pflegequalität während eines Reorganisations-prozesses zu verschlechtern.Die Geschäftsführerinder Einrichtung nimmt an, dass es schon schwierig

genug sein wird, die sachlichen Fragen einer rich-tigen Strategie und optimierter Prozesse zu klären,auf die sie ja selbst noch weniger Antworten als Fra-gen hat. Noch schwieriger erscheint ihr die Aufga-be, mit den vielen Fragen, Befürchtungen, Zweifelnund Widerständen zunächst im Leitungsteam undschließlich in der Belegschaft so umzugehen, dassalle Seiten motiviert und effektiv an der Lösung derProbleme mitarbeiten, zumal es möglicherweise»Gewinner« und »Verlierer« geben kann. Ganz zuschweigen von der Diskussion, die ihr bevorsteht,wenn sie weiteren Entscheidungsträgern ein Kon-zept vorstellen soll.

Welche Rolle soll sie einnehmen?4 1. Vorschlagen, eine Beratungsfirma zu enga-

gieren, die eine Lösung entwickelt, deren Um-setzung sie dann steuert? Wenn die Lösung aufwenig Akzeptanz stößt und/oder unzureichendsein sollte, kann sie das ja auf die Beraterfirmaabschieben.

4 2. Sich selbst an die Spitze der Bewegung set-zen, eine Lösung im »stillen Kämmerlein« aus-arbeiten und diese dann von oben anordnen?Falls sich Widerstand regt, werden die entspre-chenden Leute kalt gestellt oder zur Räson ge-bracht. Dabei kann sie sich als geniale Retterinder Einrichtung profilieren oder im Falle desScheiterns die Unverstandene spielen, die mitihrer Initiative »Perlen vor die Säue« geworfenhat.

4 3. Einen auf breite Beteiligung der Belegschaftangelegten Reorganisationsprozess in einerentsprechende Projektorganisation zu initiie-ren, in dem Strategiefindung, Gestaltungsent-wicklung und Umsetzung an selbst organisier-te und selbst gesteuerte Arbeitsformen an dieMitarbeiter delegiert wird und sie selbst mitdem Leitungsteam die Steuerung übernimmt?Einerseits könnte bei diesem Vorgehen das Ex-pertenwissen der Betroffenen bessere Ergeb-nisse hervorbringen, andererseits besteht auchdie Gefahr endloser Debatten mit halbherzigenKompromissen, die am Ende nur Zeit gekostethaben und nichts bringen.

Der innere Dialog der Geschäftsführerin verdeut-licht, dass ihre Überlegungen auf verschiedenenSystemebenen stattfinden (siehe dazu Schulz vonThun 1999):

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13.2 · Klärungsprozesse bei Führungspersonen13305

4 1. Mit sich selbstSie muss sich entscheiden, auf welche Weise siedie mit der Systemveränderung verbundenenUnsicherheiten kognitiv beantwortet, z. B.durch systematische Recherche und Analyse,und wie sie emotional mit den weiter bestehen-den Unsicherheiten umgeht.Sie muss entschei-den,in welcher Rolle sie ihre Führungsfunktiongegenüber dem Leitungsteam und der Beleg-schaft sowie ihre Verantwortung gegenüberbeispielsweise den Eigentümern der Einrich-tung wahrnimmt. Wie sie sich entscheidet,wirkt auf alle anderen Systeme und ist für Er-folg oder Misserfolg relevant.

4 2. Mit den spezifischen Auswirkungen desDRG-Systems des Leistungssystems auf die Ein-richtungSie muss herausfinden, wie negative Auswir-kungen durch Gegensteuerungsmaßnahmenaufgefangen werden können und welche Res-sourcen sie dazu einsetzen kann.Da ihr dies nurnäherungsweise gelingen kann, muss sie sichüberlegen,wie Risiken der Übersteuerung kon-trolliert werden können. Dies wiederum setztvoraus,dass Intensität und Zeitpunkt der Inter-ventionen plausibel geplant und reversibel ge-staltet werden können. Im Sinne eines ange-messenen Risikobewusstseins sollten Maßnah-men immer so geplant werden, dass sie bis zurvollständigen Erreichung ihres Ziels umkehr-bar sind, falls sich herausstellt, dass sie diesesnicht oder nur unzureichend erfüllen können.

4 3. Mit dem LeitungssystemSie ist auf das Vertrauen und die Zusammen-arbeit im Leitungsteam angewiesen. Wie sie indieser Situation mit Kolleginnen und Kollegenim Leitungsteam agiert,beeinflusst maßgeblichdie Führungsqualität in einem insgesamt sehrkomplexen Prozess.

4 4. Mit den BeschäftigtenSie benötigt die Akzeptanz ihrer Vorschlägeund Anweisungen und das Vertrauen der Be-schäftigten, weil sie nur so bereit sind, an demReorganisationsprozess motiviert mitzuarbei-ten und während seiner Dauer die Unsicher-heiten und Schwierigkeiten mitzutragen.

Sachebene und Beziehungsebene werden in derKommunikation und Führung des Reorganisa-

tionsprozesses in enger Wechselwirkung stehenund die Qualität, in der beide aufeinander bezogenwerden, sie sich ergänzen und verstärken, wird dieErgebnisse entscheidend beeinflussen. Systemi-sches Pflegemanagement bedeutet auf der Sach-und Beziehungsebene Klärungsprozesse zu initiie-ren und zu leiten (. Tabelle 13.2).

13.2.3 Reduzierung von Komplexität als Teil des Problems oder Teil der Lösung?

Einerseits ist Reduktion von Komplexität für Ma-nagemententscheidungen nötig, um die Problemeüberschaubar und damit handhabbar zu machen,andererseits hilft eine zu grobe Reduktion nicht,die Probleme zu lösen, sondern schafft eher zu-sätzliche.

Menschlichem Handeln geht immer die Redu-zierung von Komplexität voraus,um es steuerbar zuhalten. Entsprechend ihres hierarchisch-sequenti-ellen Organisationsmusters (Volpert 1974) werdenProblemeigenschaften entsprechend der Aufgabebzw. des Ziels versuchsweise rückgekoppelt und anden Zielkriterien gemessen.Manche werden als be-sonders zielrelevant betrachtet, andere als wenigerzielrelevant ausgeblendet.Wir nutzen dabei Model-le für die Beschreibung der Problemeigenschaften,die das Problem vereinfachen, verständlicher ma-chen und damit überhaupt dazu führen,dass wir zuhandeln beginnen und die Handlung bis zum Zieldurchführen. Zahlreiche Beispiele in unserer mo-dernen Zivilisation zeigen, wie als Problemlösunggedachte Handlungen das Problem nicht lösen,sondern verschlimmern.

Denken wir beispielsweise an die Strategie der

Thatcher-Regierung in Großbritannien, die

durch Rückzug des Staates aus wesentlichen

Versorgungsaufgaben per Privatisierung die

Staatsausgaben entlasten wollte. Der Staat

konnte zwar Ausgaben einsparen,aber die einst

so vorbildliche Gesundheitsversorgung Groß-

britanniens weist so eklatante Mängel auf, dass

britische Bürger sich inzwischen in Deutschland

Beispiel

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13

306 Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit

. Tabelle 13.2. Klärungsprozesse auf der Sach- und Beziehungsebene

intra-individuell inter-individuell meso-sozial makro-sozial (Selbstführung) (Führungsteam) (Belegschaft) (Markt) Selbstklärung/ Teamklärung Teamklärung Klärung derSelbstmanagement Corporate Identity

Selbst- Für welche Werte und Auf welche Denk- und Wie schaffen wir ein Wie bringen wir das Pro-klärung Ziele stehe ich? Verhaltensweisen, Per- akzeptierendes Klima, in fil unserer Pflegeeinrich-

Was kann ich mit meinen sönlichkeiten,Wertvor- dem jede(e) Mitarbei- tung als unverwechsel-eigenen Fähigkeiten und stellungen reagiere ich ter(in) die Leitbilder der bare Identität »rüber«?Überzeugungen dazu positiv oder negativ und Organisation in die eige- Wie konfliktfähig sind beitragen? Wo liegen warum? Wie ermutige ich nen Wertvorstellungen wir dabei?meine Stärken und meine Kolleginnen und integrieren kann?Schwächen? Was will ich Kollegen zur Selbstklä-erreichen, was will ich rung?vermeiden?

Werte- Um welche Werte geht Wie gelingt es mir,Wert- Wie entwickeln wir ge- Welche Werte und Ziele und Ziel- es dabei? Welche sachli- und Zielkonflikte bei mir meinsame Leitbilder, die kommunizieren wir mit klärung chen und humanen Ziele selbst und mit anderen wir in der Zusammen- dem Markt und mit den

sind möglich? Welche anzusprechen, zu klären arbeit zwischen uns und Trägern/Finanziers?Wert- und Zielkonflikte und zu bearbeiten? mit den Patienten ver- Welche Leitbilder wollen sehe ich bei mir selbst? treten? wir als Führung verkör-

pern?

System- Welche Systeme sind für Mit wem kann ich die Wie binden wir Wissen Welche Botschaften über klärung unser Handeln relevant? Systemklärung weiter- und Erfahrung der Be- den Nutzwert unserer

In welchen Wechselbe- entwickeln? legschaft in die System- Leistung, über unsere ziehungen stehen sie Wie kann ich was von klärung ein? Wie klären Stärken kommunizieren zueinander? anderen lernen? wir auf und initiieren wir als Pflegeeinrichtung Welche Einflussgrößen Systemklärungs- und nach außen und über-wirken wie auf die Sys- Strategiefindungs- zeugen mit unserer temeigenschaften und prozesse? Strategie?auf die Systemleistung?

Situations- Was ist in der jeweiligen Wie führe ich einen me- Wie führe ich einen me- Wie kommunizieren wir klärung Situation angemessenes takommunikativen Füh- takommunikativen Ko- mit den Patienten und

und stimmiges Handeln? rungsstil zunächst im operationsstil in der Be- mit ihren Angehörigen?Wie handele ich situa- Führungsteam ein, um legschaft ein? Wie treten wir in der tionslogisch und strate- ihn dann auch nach au- Wie können wir Bewusst- Öffentlichkeit und im gisch zugleich? ßen zu praktizieren? heit für Wahrheit und Umgang mit externenWie vermeide ich, mir Wie können wir Wahrheit Klarheit der Situation als Instanzen erfolgreich durch situativ-momen- und Klarheit der Situa- situationslogisches auf?tane Handlungsweise tion in unserem Füh- Strukturprinzip nutzen?strategische Fallen zu rungsstil situationslo-stellen? gisch richtig einsetzen?

Rollen- Welche Rollen nehme Wie leite ich die Rollen- Wie fördern wir die Ent- Welche Rolle will unsere klärung ich gerne ein, welche klärung im Führungs- wicklung stimmiger Rol- Pflegeeinrichtung in der

vermeide ich lieber? team ein und an? lenidentitäten in der Be- Region mit seinen Ver-Welche Persönlichkeits- Wie entwickeln wir im legschaft? sorgungsleistungen eigenschaften und Nei- Führungsteam gemein- Welche Unterstützung spielen?gungen »bediene« ich sam Rollenidentität und können wir bei Rollen-mit meinen Rollenprä- Rollenauthentizität? konflikten leisten?ferenzen? Wie klären wir Rollen-Welche Rollenerwartun- konflikte und wie gehen gen stellen andere an wir mit ihnen um?mich und wie gehe ich (selbst-)kritisch damit um?

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13.2 · Klärungsprozesse bei Führungspersonen13307

operieren lassen. Entsprechende Vermittlungs-

agenturen kommen kaum nach, die Anfragen

der zahlungskräftigeren Klientel zu erfüllen.Die

Eingriffe haben zwar die Staatsausgaben im Ge-

sundheitssektor gesenkt, zugleich aber beson-

ders in den einkommensschwachen Bevölke-

rungsschichten die gesundheitliche Situation

verschlechtert und damit in anderen Bereichen

der Volkswirtschaft zu Problemen geführt und

die soziale Differenzierung vergrößert.

Der Eingriff in Systeme setzt voraus, ihre Organi-sationsmuster und Funktionsstrukturen zu verste-hen, die Wechselwirkungen auf benachbarte Sys-teme zu überschauen sowie die zeitlichen Verzö-gerungen (»Trägheitsmomente«, siehe Frosch-Gleichnis) zu berücksichtigen. Da Systeme mehroder weniger dynamische Eigenschaften haben,können die Auswirkungen von Interventionen sehrunterschiedlich sein.Besonders soziale Systeme ha-ben eine komplexe, oft undurchschaubare Dyna-mik.

Die Qualität von steuernden Eingriffen in dieSysteme korreliert mit den Modellen (siehe Tabel-le 13.1), die bei der Analyse, Planung und Durch-führung herangezogen wurden.

Die Leiterin der Einrichtung im oben genann-ten Beispiel bringt das Thema »Wie stellen wir unsauf das neue Vergütungssystem ein?« in die Lei-tungssitzung ein.Zunächst stellt sie das System vor,indem sie anhand der wichtigsten Fallgruppen derEinrichtung eine Prognose der prospektiven Auf-wands- und Ertragsrechnung für die betriebswirt-schaftliche Entwicklung abgibt. Es wird deutlich,dass bei der Mehrheit der wichtigsten Fallgruppendie Kostendeckung fraglich ist und bei dem Restnur knapp erreicht wird.Im zweiten Schritt stellt siedie Kosten- und Ertragsstruktur der letzten fünfJahre dar und weist darauf hin, dass diese schonunter dem bisherigen Vergütungssystem unbefrie-digend war und zu mehrfacher Kritik seitens derEigentümer geführt hat. Sie erinnert an die ver-schiedenen gescheiterten Versuche, die Kosten zusenken.Schließlich fordert sie im dritten Schritt alleBeteiligten zu Vorschlägen auf, die Ertragsleistungder Einrichtung zu verbessern.

Der Finanzchef greift sich den größten Kosten-block, die Personalkosten, heraus und schlägt vor,

dort zuerst anzusetzen. Das Personal müsse einenSanierungsbeitrag leisten. Es habe sich in der Ver-gangenheit ein Besitzstandsdenken zu Eigen ge-macht, das nicht mehr in die Zeit passe. In der Pri-vatwirtschaft hätte sich das längst geändert, dawürden die Mitarbeiter viel mehr Verständnis fürdie betriebswirtschaftlichen Sachzwänge haben.Erbefürchte aber,dass ein Umdenken erneut vom Be-triebsrat verhindert werde. Schließlich sei noch andie Patienten zu denken, die ebenfalls ein übertrie-benes Anspruchsdenken hätten, was eben die Per-sonalkosten nach oben treibe. Ihre Serviceerwar-tungen müssten eben auch geändert werden. Manmüsse ihnen klarmachen,wo die Grenzen des Leist-baren lägen. Es werde notwendig, auch darauf zuachten, personalintensive Problemfälle möglichstschnell loszuwerden.Das wiederum würde Kosten-bewusstsein der Mitarbeiter voraussetzen. Damitsich das entwickelt, stütze er sich auf zwei Vor-schläge:

Erstens müsse die Leitung ihnen vermitteln,welche Kosten sie verursachen.Das würde langfris-tig ihre Einstellung zu mehr Kostenbewusstsein än-dern. Zweitens müsse man den Mitarbeitern einenAnreiz zum Sparen geben. Der könne darin beste-hen, ihnen deutlich zu machen, dass entweder Per-sonalabbau oder die Fremdvergabe bestimmterLeistungen, wie z. B. der Versorgungsabteilungen(Küche, Wäscherei, Instandhaltung usw.) die un-vermeidlichen Folgen seien, wenn es nicht zu Ein-sparungen käme. Eventuell könne man das Ent-geltsystem um eine Prämie ergänzen,die kostenbe-wusstes Verhalten abteilungsweise belohnt. Dannwürden sich die Mitarbeiter gegenseitig zum Spa-ren anspornen und sie würden folglich aus Eigen-interesse schon selbst stärker darauf achten, kos-tenintensive Wünsche der Patienten »abzuwim-meln«.

Der Finanzchef denkt zunächst in der Logik desEigenschaftsmodells. Die Mitarbeiter sind nichtkostenbewusst. Als Intervention schlägt er im Sin-ne des Maschinenmodells vor, eine Kombinationvon Druck und Anreiz einzusetzen.Die Mitarbeiterwürden schon aus Eigeninteresse (Sicherung desArbeitsplatzes, Erhalt des Einkommens) die ge-wünschte Einstellung und damit ein kostenbewuss-tes Verhalten entwickeln,zumal sie sich dabei selbstanspornen.

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308 Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit

Die Nebenwirkungen dieses Vorschlags könnensein:4 1. Die Mitarbeiter würden unter noch größeren

Druck geraten.4 2. Die Vorherrschaft des Kosten-Nutzen-Den-

kens widerspräche ihrer Ethik des Helfens. IhreArbeitsmotivation verringerte sich und nichtwenige reagierten mit »innerer Kündigung«.

4 3. Die Patienten würden unzufrieden mit denLeistungen sein und man würde ihnen nicht ge-recht werden können. Das würde letztlich auchdas Image der Einrichtung verschlechtern unddie Zahl der Patienten verringern.

Dieser Vorschlag verursacht auf Grund seiner Re-duzierung des Problems auf wenige Beziehungenoffenbar mehr unerwünschte Nebenwirkungen alsLösungen. Wichtige Ressourcen, wie die Mitarbei-termotivation, würden in ihrer Entwicklung ge-hemmt.

Was könnte die Alternative sein? Menschen,diesich für die Arbeit in der Pflege entschieden haben,leisten einen Dienst an den Mitmenschen. Ein Teilihres Lohnes für die Arbeit besteht in dem sinnstif-tenden Gefühl der mitmenschlichen Solidarität,dasbis zur Selbstaufgabe übertrieben werden kann.Zugleich kann es die Grenzen des berechtigten In-teresses überschreiten, auch durch entsprechendematerielle Gratifikation den Ausdruck gesellschaft-licher Wertschätzung zu erfahren. Die ethisch mo-tivierte Berufswahl in den Pflegeberufen ist eineausgezeichnete Grundlage, die Mitarbeiter in dieökonomischen Rahmenbedingungen der Pflege-einrichtung einzubeziehen und mit ihnen darüberzu beraten, wie die Kostenstruktur und das Leis-tungsprofil verbessert werden können. Im Sinneder Fürsorgepflicht der Vorgesetzten müssen Belas-tungsaspekte der Mitarbeiter dabei einbezogenwerden, so dass diese erkennen, dass ihr Einsatzwertgeschätzt wird. Konkrete Schritte sollten mitden Mitarbeitern in Zielvereinbarungen festgelegtwerden. Die Beteiligung am Verbesserungsprozessbedeutet aber auch Beteiligung an den Ergebnissen.Die erwirtschafteten Einsparungen sollten immerauch zu einem fair ausbalancierten Anteil den Mit-arbeitern zu Gute kommen. Das kann in Form ei-ner Jahreserfolgsprämie geschehen, die das Mana-gement mit dem Betriebsrat jährlich entsprechendder Ergebnislage aushandelt.

13.2.4 Grundprinzipien systemischenManagements

Die Entwicklung einer neuen Strategie ist trotz vie-lerlei analytischer Überlegungen und ausgefeilterMethodik ein intuitiver und visionärer Prozess.Dennoch habenVisionäre im Management oft ei-nen schweren Stand. Doch ohne Visionen gibt eskeine Erneuerungsimpulse.Ohne Visionen verwal-ten Organisationen nur ihren gegenwärtigen Zu-stand und entwickeln sich nicht aus sich selbstheraus weiter.Stattdessen werden sie erst durch dieZwänge der Umwelt zum Reagieren gezwungenund verlieren dadurch ihre Wahlfreiheit zwischenOptionen.Die erste wesentliche Veränderung mussin den Köpfen des Managements stattfinden, bevorsich Organisationen verändern können. Die men-talen Modelle, mit denen Menschen die Wirklich-keit deuten, beeinflussen die Qualität der Analysewie die der Interventionsstrategien ganz erheblich.Veränderungsprozesse in Organisationen sind nurso erfolgreich, wie die Fähigkeit, die Wechselwir-kungen systemisch zu überschauen, die der Verän-derungsprozess auslöst. Peter Senge (1996) nenntfünf Disziplinen, die zum systemischen Manage-ment gehören (. siehe Tabelle 13.3):

Ob sich die fünf von Peter Senge entwickeltenDisziplinen und ihre Potenziale entwickeln, hängtganz entscheidend von der Kommunikations- undFührungskompetenz des Managements ab. Vor al-lem aber von dem Grad der Selbstklärung der Füh-rungspersonen, ihre persönlichkeitsspezifischenStärken und Schwächen in Entscheidungssituatio-nen zu kennen.

13.3 Die Strategie der lernendenOrganisation als Antwort auf die Dynamik sozialer Systeme

Im Folgenden wird erörtert, wie Unsicherheit derZukunftsentwicklung durch Prozesse der Mobili-sierung und Vernetzung der Humanressourcen re-duziert werden kann und wie sich damit Nähe-rungslösungen für komplexe Reorganisationspro-jekte gewinnen lassen. Drei Kernprozesse derKommunikation und Führung (Strategieentwick-lung, Prozessgestaltung und Ressourcenoptimie-

Page 320: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

13.3 · Die Strategien der lernenden Organisation13309

rung) werden in Handlungsstrategien konkretisiertund veranschaulicht.

13.3.1 Strategieentwicklung durch systemische Kommunikationund Führung

Die Kernaufgabe jeden Managements besteht da-rin, die strategischen Erfolgsfaktoren für das Un-

ternehmen zu identifizieren und alle Wertschöp-fungsprozesse für einen positiven Beitrag zu op-timieren.Die Leistungen eines Unternehmens kön-nen auf dem Markt nur dann ökonomisch beste-hen, wenn ihr Nutzen Preise zu erzielen vermag,die mindestens kostendeckend sind. In der gesell-schaftlichen Diskussion hat die Einstellung zuge-nommen, dass dies auch öffentliche Einrichtungenbis zu diesem Grad tun müssen. Gleichzeitig wirdtrotzdem vernünftigerweise erwartet, dass das

. Tabelle 13.3. Disziplinen des systemischen Managements

Disziplinen Beschreibung Peter Senge Erläuterungen

Personal Mastery Man lernt, sein persönliches Können stetig Die eigenen mentalen Grenzen durch systemi-auszuweiten, um die Ergebnisse zu erzielen, sche Analyse, Selbstklärung und kontinuierli-die einem wirklich wichtig sind, und man ches Lernen erweitern und durch ein positives schafft eine Organisationsumwelt, die alle und andere Menschen motivierendes Führungs-Mitglieder ermutigt, sich selbst in die Rich- verhalten für sich und andere fruchtbar tung ihrer selbst bestimmten Ziele und Ab- machen.sichten zu entwickeln.

Mentale Modelle Man reflektiert über seine inneren Bilder Die unterschiedlichen individuellen Sichtwei-von der Welt, bemüht sich um ihre kontinu- sen von der Wirklichkeit bewusst machen und ierliche Klärung und Verbesserung und er- die Chance eröffnen, aus den verschiedenen kennt, wie sie die eigenen Handlungen und Perspektiven der beteiligten Menschen die Entscheidungen beeinflussen. Komplexität von Problemen adäquat zu erfas-

sen und somit gemeinsam zu einem vollstän-digeren Verständnis der Realität zu gelangen.

Gemeinsame Visionen Man fördert das Engagement in einer Motivation zur gemeinsamen Arbeit an inno-Gruppe, indem man gemeinsam Bilder von vativen und professionell wie menschlich pro-der angestrebten Zukunft entwickelt und duktiven Alternativen (Visionen) erzeugen und indem man die Prinzipien und die wich- zur Veränderung der bestehenden Strategie,tigsten Methoden klärt, mit deren Hilfe Strukturen und Verhaltensweisen ermutigen.man diese Zukunft gestalten will.

Team-Lernen Man entwickelt neue Kommunikations- Die individuellen Kompetenzen werden durch formen und kollektive Denkfähigkeiten, Team-Lernen und Teamarbeit vervielfältigt unddie sicherstellen, dass das Wissen und Kön- damit die Human-Ressourcen der Organisationnen einer Gruppe größer ist als die Summe gestärkt.der individuellen Begabungen.

Systemdenken Man entwickelt eine Denkweise und eine Durch vernetztes Denken wird die Ganzheit-Sprache, mit der man die Kräfte und Wech- lichkeit und Relevanz von Analyse und Ergeb-selbeziehungen, die das Verhalten des nis gefördert und die Hebelwirkungen der ein-Systems steuern, begreifen und beschrei- gesetzten Ressourcen und gefundenen Gestal-ben kann. Diese Disziplin hilft uns zu erken- tungslösungen gesteigert.nen, wie wir Systeme effektiver verändern können und wie wir in größerer Überein-stimmung mit den übergreifenden Prozes-sen der Natur und der Wirtschaft handeln können.

Page 321: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

13

310 Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit

Sozialstaatlichkeitsgebot des Grundgesetzes (Arti-kel 20 Abs. 1 GG) als tragendes Verfassungsprinzipunseres Staates einen allgemeinen Versorgungsan-spruch garantiert, damit sozial schwache Bevölke-rungsgruppen in ihren Grundrechten nicht einge-schränkt werden.

7 Das Leitbild der ‘gerechten Sozialord-

nung’ ist das der gesellschaftlichen

Gleichheit. Deshalb ist es Ziel des Sozial-

staatsprinzips,‘die Gleichheit fortschrei-

tend bis zu einem vernünftigerweise zu

forderndem Maße zu verwirklichen’

(BverfG, BverfGE 5, 85, 206). So wird dem

obersten Gebot des Grundgesetzes

Rechnung getragen, den Menschen in

den Mittelpunkt staatlicher Aktivitäten

zu stellen. (Kittner 1999)

Es geht darum, das Sozialstaatlichkeitsgebot mitdem Gebot wirtschaftlicher Vernunft zu verbinden.Auf der Ebene einer Pflegeeinrichtung bedeutetdas, die Ethik des Helfens und Heilens mit den Re-geln kaufmännischen Handels zu vereinen. BeideWerte haben ihre eigene Logik, die zu der anderen

gegensätzlich sein kann. Um sie zu verdeutlichen,nutzen wir das Werte- und Entwicklungsquadrat(Schulz von Thun 1989) (. siehe Abb. 13.2). In derkonkreten Diskussion über die Reorganisation ei-ner Pflegeeinrichtung, werden die berufsethischenAspekte mit denen der Betriebswirtschaftlichkeithäufig in Konflikt geraten. Deshalb muss dieserWertekonflikt von der Führung thematisiert undmit den Mitarbeitern ausgetragen werden, bevordie Arbeit an der Entwicklung einer Strategie be-ginnt. Anderenfalls werden die nicht geklärtenKonflikte im Umsetzungsprozess immer wiederauftreten und die Sacharbeit behindern. Manage-ment muss die humanen Werte des Helfens undHeilens mit denen der ökonomischen Rationalitätverbinden.

Die betriebswirtschaftliche Strategieplanungfür eine Pflegeinrichtung muss die Schlüsselfakto-ren (Gomez u. Probst 1999, S 47) bzw. strategischeErfolgsfaktoren für die folgenden Systeme abbil-den (. siehe Tabelle 13.4; siehe auch Nagel 1999):4 1. Marktsystem

Produktportfolio, Angebot/Nachfrage, Wettbe-werb, Kosten, Preise, Erlöse, Innovation, Inves-tition, Marketing, Marktposition.

. Abb. 13.2. Werte- und Entwicklungsquadrat (nach Schulz von Thun): Humane Professionalität und Ökonomische Rationa-lität

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13.3 · Die Strategien der lernenden Organisation13311

4 2. UnternehmensführungEigentümerschaft, Entscheidungsrechte, Ent-scheidungsstrukturen, Unternehmensziele,Strategien, Unternehmenskultur.

4 3. FinanzsystemBudgetierung, Controlling, Finanzierung, stra-tegisches Finanzmanagement.

4 4. OrganisationssystemAufbau- und Prozessorganisation, Entschei-dungsstrukturen,Führungsstil,Arbeitsstruktu-ren, Arbeitsbedingungen, Organisationsent-wicklung,Personalentwicklung,Aus-,Fort- undWeiterbildung, Beteiligung der Arbeitnehmeran Entscheidungen und Ergebnissen, Arbeits-,Gesundheits- und Umweltschutz.

4 5. ProduktionssystemQualitätskriterien/Qualitätssicherung,Produk-tivität, Kundennutzen/Kundenzufriedenheit,Innovation, Flexibilität.

4 6. Informations- und WissenssystemVerfügbarkeit relevanter Informationen, Wis-sensvermehrung, Informations- und Wissens-management.

Für jedes System werden Schlüsselfaktoren ent-wickelt und in ihrem Ausprägungsgrad im Ist-Zu-stand bewertet. Aus den daraus erkennbaren Stär-ken und Schwächen lassen sich die Ziele strategi-scher Neuorientierung ableiten. Bewertungen undidentifizierte Strategieorientierungen müssen na-

. Tabelle 13.4. Systeme und Erfolgsfaktoren

Systeme Erfolgsfaktoren Ausprägung Strategische Maßnahmen/Projekteim Ist-Zustand Neuorientierung

Markt- Versorgungsqualität Mittel: Stärkung von Entwick- Engpassbereiche dersystem z.B. lange Wartezeiten lungspotenzialen der regionalen Versorgung

bei HNO-Fällen Kernkompetenzen ausbauen

Unter- Ressourcenbereitstel- Gering: Investitionen auf strate- Beteiligungsmöglich-nehmens- lung es wird zu wenig für gische Marktchancen keiten zur Kapitalauf-führung Erneuerung investiert konzentrieren stockung prüfen,

Allianzen anbahnen

Finanz- Kostendeckung Kritisch: Kostentransparenz Kostenstrukturen durch system seit 5 Jahren keine organisieren und Bud- kontinuierliche Verbes-

Kostendeckung getverantwortung serungsprozesse opti-dezentralisieren mieren

Organisa- Leistungsqualität Mittel: Teamorganisation und Betriebsabläufe durch tions- etliche Betriebsabläufe Teamlernen durch sys- organisatorische und system sind durch mangelnde tematische Unterstüt- technische Verbesserun-

Investition zu aufwendig zung weiterentwickeln gen besonders an Eng-passstellen optimieren

Produk- Patientenzufriedenheit Mittel: belastungsorientierte Neueinstellungen durch tions- häufig überlastetes Personaleinsatzplanung vermehrte Anwendung system Personal von Teilzeitmodellen

ermöglichen

Informa- Bedarfsgerechtigkeit Kritisch: Wissensmanagement beteiligungsorientierte tions- und EDV wird nur für admi- einführen Bedarfsermittlung und Wissens- nistrative Abläufe ge- bedarfsorientierte system nutzt, zu Wissensdaten- Nutzung ermöglichen

banken besteht kein durchgängiger Zugriff

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13

312 Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit

türlich mit Fakten untermauert sein.Für die neuenstrategischen Ziele können interne ProjektgruppenProjektziele definieren und bearbeiten (siehe Ta-belle 13.4).

Die Vernetzung dieser Systeme wird nähe-rungsweise durch eine Vernetzungsmatrix deutlich(Nagel 1999, S 35).An der Matrix in Tabelle 13.4 las-sen sich bereits Zusammenhänge erkennen, etwadass im Marktsystem dem hohen Bedarf an Leis-tungen im HNO-Bereich keine ausreichenden Ka-pazitäten gegenüberstehen,was auf fehlende Inves-titionen zurückzuführen ist. Die fehlende Kosten-deckung hat eine schwache Kapitalausstattungverursacht und die Einrichtung in einen Teufelkreisgetrieben. Investitionen für die Leistungserweite-rung fehlen, selbst die vorhandene Leistungsqua-lität wird sich früher oder später ohne Investitionenverschlechtern. Patienten wie Mitarbeiter sindnicht völlig zufrieden. Betriebsabläufe sind nichtoptimiert worden, was die Leistungsqualität unddie Kostenstrukturen nicht verbessert. Es fehlt anGeld für die Einführung eines Wissensmanage-ments, was mittelfristig zur Verschlechterung derKernkompetenzen führt.

Im lebendigen Organismus einer Organisationsind die Wechselwirkungen so komplex vernetzt,dass es aussichtslos ist, sie wirklich vollständig zuüberblicken. Dörner spricht deshalb von Intrans-parenz:

7 Viele Merkmale der Situation sind

demjenigen, der zu planen hat, Ent-

scheidungen zu treffen hat, gar nicht

oder nicht unmittelbar zugänglich.

Er steht also – bildlich gesprochen –

vor einer Milchglasscheibe. Er hat Ent-

scheidungen hinsichtlich eines Systems

zu fällen, dessen augenblickliche Merk-

male er nur zum Teil, nur unklar, sche-

menhaft, verwaschen sehen kann –

oder auch gar nicht. […] Die Intranspa-

renz ist eine weitere Quelle der Unbe-

stimmtheit der Planungs- und Entschei-

dungssituationen.« (Dörner 1989, S 63f)

Entscheidungen von großer Tragweite müssen oftin relativ kurzer Zeit gefällt werden, so dass es sehrschwer ist, die Eingriffe in jedes Teilsystem für eineoptimale Gesamtwirkung hinsichtlich Zeitpunkt

und Intensität zu kombinieren.Eine Strategie kannnur eine Annäherung für operatives Handeln leis-ten. Strategien liefern heuristische Regeln für dasHandeln im Prozess, in dessen Verlauf bei jedemTeilschritt Merkmale der Ergebnisse gefunden wer-den, die denen des Gesamtzieles entsprechen. Stra-tegien haben den Charakter systemischer Hand-lungslogik. Sie integrieren Handlungen in einHandlungskonzept, das die Teilstrategien für dieoben genannten Systeme aufeinander abstimmt.

13.3.2 Systemische Prozessgestaltung als Kommunikations- und Führungsaufgabe

Menschen erfüllen ihre Aufgaben in Organisatio-nen innerhalb von Prozessen. Organisationen sindnur so leistungsfähig, wie die Gestaltung dieserProzesse sowie die Menschen, die sie planen undausführen. Prozesse können so unzureichendstrukturiert und gestaltet sein, dass selbst die hochqualifizierten Mitarbeiter keine befriedigende Leis-tung erbringen können. Ihre Qualität wird zusätz-lich durch die Arbeitsmittel und Arbeitsbedingun-gen beeinflusst, ebenso durch das soziale Klima imBetrieb.

Prozessbedingungen. Sie werden von den Fähig-keiten der Mitarbeiter und ihren Arbeitsbedingun-gen, von der Schwierigkeit der Aufgabe, den Be-triebsmitteln und situativen Faktoren bestimmt.

Prozesseigenschaften. Dazu gehören Bedeutungder Ziele des Ganzen, Problemhaltigkeit, Vorher-sagbarkeit, Dynamik, Stabilität, Dauer und Kom-plexität. Sie spielen ebenfalls eine bedeutende Rol-le. Heilprozesse verlaufen in Abhängigkeit vomKrankheitsbild,der Konstitution des Patienten undder Therapie sehr unterschiedlich. In der Literaturzu betrieblichen Reorganisationsprozessen wirdhäufig in der Standardisierung von Prozessen derKönigsweg für hohe Prozessqualität gesehen. Dastrifft sicherlich auf einen Großteil von Prozessenzu, die sich auf die Herstellung von Massengüternund einfacheren Dienstleistungen richten, aberkaum auf Kernprozesse im Heil- und Pflegebereich.Hier weichen viele Prozesse häufig von der Ideal-linie ab, weil jeder Patient ein Unikat ist.

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13.3 · Die Strategien der lernenden Organisation13313

Prozessgestaltung. In komplexen Aufgabenberei-chen bedeutet das,die Mitarbeiter nicht nur auf denRegelprozess vorzubereiten,sondern gerade auf dieAbweichungen, um die Qualitätsziele stabil zu er-reichen.

Prozesse müssen daher rückgekoppelt und re-versibel gestaltet sein, um zu ermöglichen, dass beiunerwartet auftretenden Schwierigkeiten das Zieltrotzdem erreicht wird. »Lernende Organisation«bedeutet gerade in der Prozessgestaltung,sich nichtdem Risiko der Standardisierung auszusetzen, dertrügerischen Sicherheit, alles laufe so wie geplant.Stattdessen werden durch Vernetzung mit anderenProzessen und deren Trägern (Mitarbeitern) dasProzesswissen, die Prozessbedingungen und dieProzesse selbst ständig verbessert. Prozesse rever-sibel anzulegen bedeutet, sie so zu gestalten, dassbei unerwarteten Ereignissen (Störungen,Fehlern)die Folgen eingegrenzt werden können.(Aus gutemGrund sind deshalb z. B. alle Energieleitungen fürSchlüsselprozesse eines Krankenhauses mit Not-stromaggregaten abgesichert.)

Natürlich gibt es Prozesse oder Prozessphasen,die nicht reversibel sein können, aber dort wo esmöglich und sinnvoll ist, sollte Reversibilität einKriterium für systemische Prozessgestaltung sein.Was in Prozessen falsch laufen kann,ist Gegenstandeiner gesonderten Risikoanalyse im Rahmen dersystematischen Qualitätssicherung.

7 Fehler sind wichtig. Irrtümer sind ein

notwendiges Durchgangsstadium für

Erkenntnis. (Dörner 1989, S 308)

Der erste Schritt der Prozessgestaltung ist die Iden-tifizierung von Kernprozessen oder Schlüsselpro-zessen, die durch die Funktionsbereiche ablaufen.Diese sind für die Leistungserbringung der Orga-nisation von zentraler Bedeutung, weil sie unmit-telbar auf den Kundennutzen und den Unterneh-menszweck zielen.Ein Prozessgliederungsplan sollden Überblick über die Hilfsprozesse verschaffenund die Nahtstellen der Vernetzung aufdecken. DieProzesse werden hinsichtlich ihrer Eigenschaftenund Bedingungen beschrieben und klassifiziert.

Im zweiten Schritt werden die Prozesse hin-sichtlich ihrer Erfüllungsfunktion für die strategi-schen Schlüsselfaktoren analysiert und bewertet.

Das Ergebnis ist ein Stärken-Schwächen-Profil, ausdem sich Optimierungsmöglichkeiten ableiten las-sen. Diese werden dann in Pilotprojekten einemTestlauf unterzogen, der systematisch ausgewertetwird.

Erst danach können die verbesserten Prozessenach einem Umsetzungsplan im dritten Schrittflächendeckend eingeführt werden.

Für alle drei Schritte sind Projektteams aus al-len Funktionsbereichen,die von dem Schlüsselpro-zess betroffen sind,verantwortlich.Für die Reorga-nisation der Nebenprozesse gilt die gleiche Vorge-hensweise. Prozessgestaltung bleibt auch danacheine Regelaufgabe im Sinne kontinuierlicher Ver-besserung.

13.3.3 Systemische Personalentwicklung:Die lernende Organisation als Lernort für erfolgreiches Denkenund Handeln

Personal Mastery lässt sich als Leitbild (Arnold u.Schüßler 1998, S 222 ff) persönlicher Kompetenz-entwicklung verstehen, das Meisterschaft in denArbeitsaufgaben, Meisterschaft in der Zusammen-arbeit mit anderen und Meisterschaft in der Selbst-führung anstrebt.In einer lernenden Organisation,die ihre Fähigkeiten ständig weiterentwickelnmuss, um hohen Kundennutzen zu stiften, ist Ler-nen ein strategischer Schlüsselprozess auf allenHierarchieebenen, in allen Funktionsbereichenund in allen Prozessen,der mit den praktischen Ar-beitsprozessen verbunden bleibt. Es geht nicht umAnhäufung von Faktenwissen, sondern um leben-diges Lernen an lebendigen Prozessen und ihrenProblemstellungen, das die fachlichen, methodi-schen, sozialen und humanen Kompetenzen för-dert. Es muss die Beteiligung der Mitarbeiter anEntscheidungen fördern, indem diese die strategi-schen Ziele und ihre systemischen Zusammenhän-ge verstehen, um kompetent mitreden zu können –in Analogie zum »mündigen Bürger« den »mündi-gen Mitarbeiter«. Das Konzept des »Open-Book-Management« geht geradezu offensiv mit der Be-teiligung der Mitarbeiter an den strategischen In-formationen des Unternehmens um:

Page 325: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

13

314 Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit

7 Die Überlebensfähigkeit der heutigen

Unternehmen steht und fällt mit einer

Art von koordiniertem Einsatz, zu dem

nur Menschen fähig sind, die im Rah-

men einer klaren, umfassenden Vision

informiert und motiviert sind und eine

gemeinsame Sprache sprechen, die ih-

nen eindeutige und schnelle Informa-

tionen vermittelt. Nur so können sie ihre

Prioritäten rasch genug ändern, um auf

Dauer die Bedürfnisse ihrer Kunden und

die Herausforderungen des Wettbe-

werbs zu erfüllen. (Schuster et al., 1997,

S 43)

Was sich für Vertreter konventioneller Organisa-tionskulturen wie ein frommer Wunsch anhörenmag, ist für die lernende Organisation zwingenderforderlich, weil sie auf Wissen, Erfahrung undKompetenzen in einem umfassenden Sinne setztund ihre Lernfähigkeit (im Sinne von hoher An-passungsfähigkeit in einem dynamischen undkomplexen Umfeld) darauf gründet. Aus der »Ad-lerperspektive« des strategischen Gesamtüber-blicks lässt sich verstehen, wohin sich Wissen undKompetenzen entwickeln müssen, um die Ziele zuerreichen.

Der Kultur der lernenden Organisation mitihren flachen Entscheidungshierarchien und ihrenPrinzipien der Selbstorganisation und Selbststeue-rung muss die Kultur des selbst bestimmten,an denlebendigen Prozessen und Problemen der Wert-und Sachentscheidungen orientierten Lernens zurSeite gestellt werden (Arnold u. Schüßler 1998,S 3ff). Dafür muss die Führung die Rahmenbedin-gungen bereitstellen. Die Mitarbeiter sollen selbstihre persönlichen und gemeinsamen Lernthemenund die Lernbedingungen bestimmen und regel-mäßig ihren Lernplan mit den Führungskräften ab-stimmen. In Teambesprechungen sollte stets auchein Lernanteil eingeplant werden.Lernberatung imRahmen der Personalentwicklung soll helfen, dieIntegration von prozessabhängigen und Prozessunabhängigen Qualifikationen zu fördern, ver-schiedene Lernformen in geeigneter Weise zu kom-binieren und die persönlichen Entwicklungsper-spektiven aufzudecken.

Die Lern- und Handlungsfelder systemischenPflegemanagements (. siehe Tabelle 13.5)sind in

Zeiten raschen strukturellen Wandels auch für dieMitarbeiter gültig, weil Management nur so erfolg-reich ist, wie es den Erfolg seiner Mitarbeiter orga-nisiert.

Führungstätigkeiten bedeuten ein Planenvon Prozessen auf einer Basis von Vermu-tungen und Annahmen. Zudem ist es fürdas Management notwendig, die Realitätvereinfacht zu betrachten, um das Wesent-liche gegenüber Details hervorzuheben.Die Wechselwirkungen zwischen verschie-denen Teilsystemen sind nicht immer über-schaubar.Auf dieser Basis müssen andere vom Sinn-gehalt des Konstruierten überzeugt wer-den und eventuell für die Zukunft des Un-ternehmens ausschlaggebende Entschei-dungen getroffen werden.Fehler und Irrtümer sind dabei nicht zu ver-meiden. Widersprechende Erwartungenmüssen berücksichtigt werden, die Bezie-hungsebene darf nicht außer Acht gelassenwerden.Strategien als Antwort auf die Dynamik derSozial- und Wirtschaftsysteme sind syste-misches Management und die lernende Or-ganisation. Auch für Pflegeeinrichtungengilt, dass die Bewältigung der zukünftigenUnwägbarkeiten systemischer Führung,Kommunikation und Prozessplanung be-darf.

3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung

4 In einem erfahrungsbezogenen Einstieg lassensich zunächst in Einzelarbeit folgende Fragenschriftlich beantworten:Welche organisatorischen Veränderungspro-zesse habe ich in meiner Berufstätigkeit erlebt?Welche Befindlichkeiten wurden bei mir da-durch ausgelöst?Welche Reaktionen habe ich bei Anderen wahr-genommen?«

Zusammenfassung

Page 326: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

13.3 · Die Strategien der lernenden Organisation13315

. Tabelle 13.5. Lern- und Handlungsfelder systemischen Pflegemanagements

Hand- Lernfeld Handlungs- Handlungsanforde- Kommunikations- lungs- anforderungen rungen auf der und Führungs-feld auf der Sachebene Beziehungsebene techniken

Themati- Sich trauen,Visionen zu Sich Klarheit verschaffen Ein glaubwürdiges Leit- Vortrag und Diskussion sierung entwickeln und diese so über die Veränderungen bild für einen partizipa- z.B. auf Betriebsver-des erfor- zu kommunizieren, dass der Rahmenbedingun- tiven Reorganisations- sammlungen,Teambe-derlichen sie zu gemeinsamer gen (Makroebene) und prozess herstellen, bei sprechungen, einer Wandels Weiterarbeit einladen ihre möglichen Auswir- dem humane wie öko- speziell organisierten

und motivieren, neue kungen auf die Einrich- nomische Effizienzkrite- Zukunftsveranstaltung,Wege zu gehen tung (Meso- und Mikro- rien transparent ausba- Expertenrunden usw.

ebene) und Information lanciert werdender Mitarbeiter

Projekt- Die Kernthemen für die Projektsteuerung und Motivierung durch teil- Projektsteuergruppe,manage- Projektarbeit ableiten, Koordination, Control- nehmende Wertschät- Masterplan, Projekt-ment die geeigneten Ressour- ling, Informations- und zung und Förderung gruppengespräche,

cen mobilisieren und Wissensmanagement, von Stärke, Stabilisie- Lern- und Entwicklungs-die Einzelprojekte syner- Organisation von Lern- rung und Förderung pläne, Beratung und getisch vernetzen. Die prozessen durch Qualifizierung Coaching, Budget-, Pro-Projektarbeit durch an- und Mitarbeitergesprä- zess- und Ergebnisver-gemessenes Feedback che, gegebenenfalls antwortung der Projekt-unterstützen. Andere durch Coaching gruppe,Vernetzung der Sichtweisen als die eige- Projektgruppen, Bereit-ne akzeptieren stellung von internem

und externem Experten-wissen

Strategie- Lernen, Unsicherheiten Erschließung von Wis- Konstruktiver Umgang Strategieworkshops,manage- bei sich selbst und an- sens- und Erfahrungs- mit Ziel- und Wertekon- Systemanalyse, Kreati-ment deren durch die ge- ressourcen innerhalb flikten bei sich selbst, vitätsmethoden, Szena-

meinsame systemati- und außerhalb der Ein- mit anderen und zwi- rio-Methoden, Zielklä-sche Generierung von richtung und ihre Syn- schen anderen. rung, Rollenklärung,Wissen und die Mobili- these zu überprüfbaren Klärung von Konflikten Situationsklärung,sierung von Erfahrung Strategieoptionen mit humaner und sach- Selbstklärung,Team-reduzieren licher Kompetenz klärung, Konfliktklärung

Organisa- Das Organisationsmus- Partizipative Entwick- Raum und Unterstüt- Organisationsanalyse,tionsent- ter und sein System ver- lung und Umsetzung zung geben für die Be- Kommunikationsanalyse,wicklung stehen, seine Stärken von vernetzten Kommu- arbeitung von Unsicher- Arbeitsgestaltung,

und Schwächen identi- nikations- und Füh- heit,Widerständen und Teamentwicklungs-fizieren und für die zu- rungsmodellen, die Konflikten. seminare,Teamgesprä-künftige Weiterentwick- hohe Produktivität und Einführung eines meta- che, Erweiterung des lung oder Neuorientie- Ressourcenökonomie kommunikativen Handlungsspielraums rung lernförderliche ermöglichen und flexi- Führungsstils der Teams,Teamvertre-Organisationsmuster bel bei unerwarteten tungfinden Veränderungen sind

Change- Wege finden, die be- Ausarbeiten eines detail- Eine vertrauensvolle At- Feedbackrunden,manage- schlossenen Verände- lierter Umsetzungsplan mosphäre schaffen, bei Krisenmanagement,ment rungsprozesse im lau- durch die Steuergruppe, der Fehler und Schwä- Ansprechpartner,

fenden Betrieb ohne Vereinbarungen treffen chen offen und fair be- Controlling,Qualitätsverluste für die und Umsetzung koordi- handelt werden. Evaluationbestehenden und die nieren Unterstützung bei neuen Prozesse umzu- Überforderung anbietensetzen

Page 327: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

13

316 Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit

In einem zweiten Schritt kann in Kleingruppen einAustausch stattfinden mit dem Ziel, Gemeinsam-keiten und Unterschiede festzustellen.

Dies wird zurück ins Plenum getragen. Danachwird gesammelt, was dazu beigetragen hätte oderhat, einen Veränderungsprozess in einer Organisa-tion bzw. Institution als nicht oder zumindest we-nig bedrohlich zu erleben.4 Eine erste Annäherung an eine systemische Be-

trachtung von Organisationen lässt sich errei-chen, indem z.B. für eine Pflegeeinrichtung dasSystemumfeld, System, Teilsysteme und Ele-mente benannt werden. In Arbeitsgruppen las-sen sich die Aufgaben und die jeweils aneinan-der gerichteten Erwartungen erarbeiten. ImPlenum kann ein Strukturbild für das Gesamt-system erstellt werden.

4 Auf der Grundlage der Abschnitte 13.2.2 und13.2.3 lässt sich ein Rollenspiel durchführen, indem eine Führungsperson mit der Leitung derFinanzabteilung und dem Betriebsrat überEinsparmöglichkeiten verhandeln. Die Vorbe-reitung wird in Kleingruppen durchgeführt.Dabei sind die Interessen der Beteiligten her-auszuarbeiten und in einem weiteren Schritt zuprüfen,wie diese miteinander abgeglichen wer-den können.

4 Im Anschluss werden anhand des Strukturbil-des erwünschte und unerwünschte Wirkungeneiner Lösung auf Teilsysteme oder Elementekonstruiert.

3 Empfehlungen zum Weiterlernen4 Dörner D (1989) Die Logik des Misslingens. Stra-

tegisches Denken in komplexen Situationen. Ro-wohlt, Reinbek b. Hamburg

4 König E, Volmer G (2000) Systemische Organi-sationsberatung – Grundlagen und Methoden.7. Aufl. Deutscher Studien Verlag,Weinheim

4 Schulz von Thun F,Ruppel J,Stratmann R (2000)Miteinander reden: Stile, Kommunikationspsy-chologie für Führungskräfte. Rowohlt, Reinbekb. Hamburg

4 Senge P (1996) Die fünfte Disziplin. Kunst undPraxis der lernenden Organisation. Klett-Cotta,Stuttgart

4 Stagge C (1997) Mit der Gans über den Weih-nachtsbraten reden! Über den erfolgreichen Um-

gang mit schwierigen Situationen bei Verände-rungsprozessen in Organisationen. Materialienaus der Arbeitsgruppe Beratung und Training.Bd 6. Herausgegeben von A. Redlich. UniversitätHamburg, Hamburg

Literatur

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wicklung im lernenden Unternehmen. Deutscher Wirt-

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Arnold R, Siebert H (1997) Konstruktivistische Erwachsenenbil-

dung. 2. Aufl. Schneider, Hohengehren

Arnold R, Schüßler I (1998) Wandel der Lern-Kulturen. Ideen und

Bausteine für ein lebendiges Lernen.Wissenschaftliche Buch-

gesellschaft, Darmstadt

Capra F (1996) Lebensnetz. Ein neues Verständnis der lebendigen

Welt. Scherz, Bern München Wien

Dörner D (1989) Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken

in komplexen Situationen. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg

Gomez P, Probst G (1999) Die Praxis des ganzheitlichen Problem-

lösens. 3. Aufl. Haupt, Bern Stuttgart Wien

Kittner M (1999) Arbeits- und Sozialordnung. Ausgewählte und

eingeleitete Gesetzestexte. 24. Aufl. Bund, Frankfurt a. M.

König E, Volmer G (2000) Systemische Organisationsberatung –

Grundlagen und Methoden. 7. Aufl. Deutscher Studienverlag,

Weinheim

Nagel K (1999) Praktische Unternehmensführung. Analysen –

Instrumente – Methoden. Bd 1. Verlag Moderne Industrie,

Landsberg 1999

Ogger G (1992) Nieten in Nadelstreifen.Deutschlands Manager im

Zwielicht. Knaur, München

ÖTV (Hrsg) (2001) Neues Entgeltsystem für Krankenhäuser. ÖTV-

Hauptverwaltung, Stuttgart

Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheits-

wesen (2000/2001) Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlich-

keit. Bd 2: Qualitätsentwicklung in Medizin und Pflege.

http://dip.bundestag.de/btd/14/056/1405661.pdf 18.07.01

Schulz von Thun F (1989) Miteinander reden, Bd 2. Stile,Werte und

Persönlichkeitsentwicklung. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg

Schulz von Thun F (1999) Miteinander reden, Bd 3. Das »Innere

Team« und situationsgerechte Kommunikation. Rowohlt,

Reinbek b. Hamburg

Schulz von Thun F,Ruppel J,Stratmann R (2000) Miteinander reden:

Stile, Kommunikationspsychologie für Führungskräfte. Ro-

wohlt, Reinbek b. Hamburg

Schuster J, Carpenter J, Kane MP (1997) Open-Book Management

– Die neue Dimension der Mitarbeiterführung.Verlag Moder-

ne Industrie, Landsberg

Senge P (1996) Die fünfte Disziplin.Kunst und Praxis der lernenden

Organisation. Klett-Cotta, Stuttgart

Senge P et al. (1996) Das Fieldbook zur Fünften Disziplin. Klett-

Cotta, Stuttgart

Siebert H (1996) Bildungsarbeit konstruktivistisch betrachtet.Ver-

lag für Akademische Schriften, Frankfurt a. Main

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13.3 · Die Strategien der lernenden Organisation13317

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Teil 1–3. In: Pflegezeitschrift Heft 11/2000, 12/2000 und

01/2001

Stagge C (1997) Mit der Gans über den Weihnachtsbraten reden!

Über den erfolgreichen Umgang mit schwierigen Situationen

bei Veränderungsprozessen in Organisationen. In: Redlich A

(Hrsg) Materialien aus der Arbeitsgruppe Beratung und Trai-

ning Bd 6. Universität Hamburg, Hamburg

Vester F (1994) Denken, Lernen, Vergessen. 21. Aufl. dtv, München

Volpert W (1974) Handlungsstrukturanalyse als Beitrag zur Quali-

fikationsforschung. Pahl-Rugenstein, Köln

Page 329: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

14

Widersprüchliche Botschaften:Wie viel Gesundheitssoziologiebrauchen Pflegepädagoginnen,Pflegeexpertinnen und Pflegende?

Simone Kreher

14.1 Gesellschaftliche Erwartungen und Haltungen

gegenüber der Soziologie 321

14.2 Interaktion mit Schwerkranken

und Sterbenden (Grounded Theory) 322

14.3 Was heißt denn schon Gesundheit?

(Wissenssoziologische Ansätze) 325

14.4 Pflege und Pflegende

in den Netzwerken flexibler Gesellschaften

(Gesellschaftstheoretische Konzepte) 328

Page 330: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

14

320 Kapitel 14 · Widersprüchliche Botschaften

> ThesenAls Soziologin in einer »fremden Welt« mit wider-

sprüchlichen Botschaften leben?

Als ich im Frühjahr 1999 begann, in der Welt der

Pflege- und Gesundheitsexpertinnen, der Sozial-

medizinerinnen, Gesundheitsökonomen, Ge-

sundheitspsychologinnen und Gesundheitspäda-

goginnen zu arbeiten, befand ich mich recht

schnell in einer paradoxen Situation:

Einerseits erfuhr ich Akzeptanz und Anerkennung

der Soziologie als Wissenschaft, die beispielswei-

se in zahlreichen empirischen Studien wichtige

Erkenntnisse über Gesellschaft produziert, ande-

rerseits war da mehr oder weniger offen die Hal-

tung im Raum, dass die Soziologie den harten be-

triebs- oder volkswirtschaftlicher Kennziffern nur

schwerlich gewachsen sein dürfte.

Einerseits gaben mir die Studierenden zu verste-

hen, dass sie es als bedeutsam erachten, Gesund-

heit und Krankheit nicht vereinfacht als biomedi-

zinische Phänomene unter Zuhilfenahme des na-

turwissenschaftlichen Paradigmas zu begreifen.

Andererseits sei es für sie eine nicht leicht zu er-

bringende Abstraktionsleistung, Gesundheit und

Krankheit als historisch wandelbare, soziale Kon-

struktionen und sozialwissenschaftliche Begriffe

zu sehen.

Einerseits sei es in der Praxis mehr denn je erfor-

derlich, ganzheitliche Pflege und salutogeneti-

sche Konzepte zu verfolgen, andererseits blieben

solche Ideen regelmäßig auf der Strecke,wenn die

widrigen Bedingungen des Arbeitsalltags in Pfle-

ge- und Gesundheitseinrichtungen es einfach

nicht zuließen, nachhaltig salutogenetisch zu

denken und zu handeln.

Was nützen also soziologische Theorien,wenn die

Lücke zwischen theoretischer Ausbildung und er-

lebter Alltagspraxis so unermesslich groß er-

scheint?

Was bedeutet es, wenn die Gesundheitssoziolo-

gie selbst solche Dilemmata herausarbeitet und

sie künftigen Pflege- und Gesundheitsexpertin-

nen in ihrer ganzen Schärfe ins Bewußtsein rückt?

Gesundheitssoziologisches Wissen – das wird der

Text exemplarisch zeigen – stärkt Pflegepädago-

ginnen,Pflegeexpertinnen und Pflegende in ihrer

Professionalität,es macht sie wahrnehmungsfähi-

ger, diskurs- und handlungsfähiger.

3 Berufliche Handlungskompetenzen

2 FachkompetenzMit Hilfe gesundheitssoziologischen Wis-sens soziale Phänomene (Strukturen,Handlungen und Prozesse) in ihrer Kom-plexität, Widersprüchlichkeit, Veränder-lichkeit wahrnehmen, verstehen und da-rüber kommunizieren.Anteil an wichtigen gesellschaftstheore-tischen, gesellschaftspolitischen und ge-sundheitspolitischen Diskursen nehmen.Auf der Basis gesundheitssoziologischenWissens Gesundheit und Krankheit alshistorische, kulturell geprägte und sozi-ale Konstruktionen erfassen.Gesundheitsbezogenes Handeln der zuPflegenden als routinisiertes, habituali-siertes Alltagshandeln verstehen undPflegehandeln als routinisiertes, profes-sionelles Handeln sehen, dass jeweilsnicht kurzfristig zu verändern ist.

2 PersonalkompetenzSelbstreflexivität und Sensibilität durchgesundheitssoziologisches Wissen erhö-hen.Sich selbst als Akteure begreifen, die alsExperten an der gesellschaftlichen Kon-struktion von Wirklichkeit teilhaben.Möglichkeiten zur Veränderung des ei-genen Handelns entdecken und realisti-scher einschätzen. Die Lücke zwischentheoretischer Ausbildung und erlebterAlltagspraxis theoretisch fundiert reflek-tieren.

2 SozialkompetenzDie Übernahme einer anderen Perspekti-ve als Voraussetzung, um den professio-nellen und empathischen Umgang mitPatienten, den zu Pflegenden und ihrenAngehörigen in schwierigen, mitunterprekären Lebenssituationen zu beherr-schen.

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14.1 · Gesellschaftliche Erwartungen und Haltungen gegenüber der Soziologie14321

3 PraxisrelevanzGesundheitssoziologisches Wissen, sei es nun alstheoretisches Wissen oder als empirisches Wissen,wird für Pflegepädagoginnen, Pflegeexpertinnenund Pflegende in der Regel nicht unmittelbar, son-dern als Orientierungswissen über verschiedeneBereiche von Gesellschaft (insbesondere ihre Pra-xis- und Berufsfelder) und unterschiedliche Ebe-nen der Konstitution des Sozialen wirksam.

Dabei wird Soziologie, auch Gesundheitssozio-logie, nicht in dem Sinne praktisch, als sie un-mittelbar und kurzfristig zur Veränderung desHandelns von Individuen (Patienten, Angehörige,Pflege- und Gesundheitsexpertinnen oder Medizi-nerinnen), Gruppen (Professionsgruppen und ihreInteressenvertretungen) Organisationen (Kran-kenhäuser, Krankenversicherungen) und Netz-werken führt.

Gesundheitssoziologisches Wissen hilft Pfle-gepädagoginnen, soziales Handeln verschiedenerAkteure deutend zu verstehen und soziale Struktu-ren analytisch zu durchdringen, um an der Ent-wicklung gegenstandsbezogener, empirisch fun-dierter Theorien mitzuarbeiten.

3 Verfahrensstruktur (. Abb. 14.1)

14.1 Gesellschaftliche Erwartungen und Haltungen gegenüber der Soziologie

Was rechtfertigt es, Soziologie als eine der Bezugsdisziplinen der Pflege- undGesundheitswissenschaften zu verstehen?

Es spricht einiges dafür,die widersprüchlichen Bot-schaften, die der Soziologie seitens der Pflege- undGesundheitsexperten, aber auch von den Vertre-terinnen anderer Wissenschaftsdisziplinen undPraktikern entgegengebracht werden, als speziel-len Ausdruck der Erwartungen und Haltungen zuverstehen, die in unserer Gesellschaft in Bezug aufdie Leistungsfähigkeit der Sozialwissenschaftenexistieren.

7 Die Soziologie als Fachwissenschaft ist

mit drei zentralen Erwartungen kon-

frontiert. Sie soll, erstens, wahrheitsfähi-

ge, d. h. prinzipiell empirisch überprüf-

bare Aussagen über soziale Tatbestän-

de treffen. Sie soll, zweitens, gesell-

schaftliche Wirklichkeit aus deren ob-

jektiven Bedingungszusammenhängen

erklären und in ihren subjektiven Hand-

lungszusammenhängen verstehen. Und

sie soll, drittens, zum Selbstverständnis

und zur Orientierung gegenwärtiger

Gesellschaften sowie ihrer wahrschein-

lichen (oder gar wünschenswerten)

Zukunft maßgeblich beitragen

(Friedrichs et al. 1998, S 9).

Je nachdem, welche Erfahrungen mit der Soziolo-gie als Wirklichkeitswissenschaft gemacht wurden,dürften sich unter den Pflegepädagoginnen, aka-demisch gebildeten Pflegeexpertinnen und exami-nierten Pflegenden auch entsprechend Protagonis-tinnen, konstruktive Skeptikerinnen und Puristin-nen finden.

Die Protagonistinnen vertrauen auf die Er-kenntnisfähigkeit, das qualifizierte Methoden-repertoire und die prognostischen Potenziale, diesich aus empirischen Studien und theoretischenAnsätzen der Gesellschaftsanalyse ergeben.

Die konstruktiven Skeptikerinnen halten sozial-wissenschaftliche Analysen gesellschaftlicher Ent-wicklungen prinzipiell für notwendig und möglich,stehen bislang erreichten Leistungen, den empiri-schen Verfahren und den theoretischen Erklä-rungsmodellen jedoch kritisch gegenüber.

. Abb. 14.1. Verfahrensstruktur

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14

322 Kapitel 14 · Widersprüchliche Botschaften

Die Puristinnen dagegen halten soziologischeAnalysen und theoretische Interpretationen »we-gen der Komplexität gesellschaftlicher Zusammen-hänge und der historischen Kontingenz gesell-schaftlicher Entwicklungen« prinzipiell für proble-matisch und »raten der Soziologie zu größererBescheidenheit« (Friedrichs et al. 1998, S 10).

Die Leserinnen des Kapitels mögen an dieserStelle selbst entscheiden, zu welcher Haltung oderPosition sie neigen und am Ende des Textes nocheinmal zu dieser Frage zurückkehren. Möglicher-weise haben sie dann einige Denkanstöße erhalten,finden die eigene Haltung in Frage gestellt oder se-hen sie bestätigt.

Zu Beginn soll eine Arbeitsdefinition von So-ziologie mit auf den Weg gegeben werden, die einfür Pflege- und Gesundheitsexpertinnen praktika-bles Vorverständnis der Soziologie als empirischarbeitender, so genannter Wirklichkeitswissen-schaft begründet.

Soziologie als Wissenschaft untersucht so-ziales Handeln und soziale Beziehungen in-dividueller und kollektiver Akteure unterangebbaren gesellschaftlichen Bedingun-gen (Meier 1988, S 1). Sie will soziales Han-deln in seinem Ablauf und in seinem sub-jektiv gemeinten Sinn deutend verstehen(Weber 1980, S 1) sowie die Strukturen, indenen gehandelt wird und die durch Han-deln erzeugt bzw. reproduziert werden,empirisch fundiert beschreiben können.Soziologie können wir zunächst als Systemallgemeiner, spezieller und bereichsspezi-fischer Theorien sehr unterschiedlicherReichweite sowie als methodische Verfah-rensweisen verschiedenster Provenienz mitihren professionell und akademisch insti-tutionalisierten Arbeitsformen verstehen.Sie ist besonders charakterisiert durch:5 Theorien unterschiedlicher Reichweite5 Mehr-Ebenen-Modelle zur Analyse von

Gesellschaft5 Dialektik von empirischem und theore-

tischem Wissen

5 Qualitative und quantitative Paradig-men in der Forschung

5 Hypothesengenerierende und hypo-thesenprüfende methodische Verfah-ren.

Pflegepädagoginnen und die von ihnen ausgebil-deten Pflegenden und Pflegeexpertinnen – so mei-ne Behauptung – müssen nicht selbst Soziologin-nen sein oder werden, aber einige allgemeine so-ziologische und bereichsspezifische Ansätze relativgenau kennen. Und sie müssen kommunikations-fähig sein mit Wirtschafts-, Politik-, Kultur- undSozialwissenschaftlerinnen sowie den medizini-schen Professionen.

In der Diskussion einiger Beispiele aus der Pra-xis der Pflegenden bzw. aus der gesundheitswis-senschaftlichen Forschung zeigt sich, dass die einfür allemal gültig erscheinende Zuschreibung so-ziologischen Wissens zu dieser oder jener speziel-len soziologischen Theorie oder Bindestrich-So-ziologie nicht möglich ist. Vielmehr stehen be-reichs- oder gegenstandsbezogene soziologischeTheorien immer in einer dialektischen Beziehungzu den allgemeineren, formalen soziologischenTheorien; beide befruchten und durchdringen sichgegenseitig (Glaser u. Strauss 1974, S 252ff).

14.2 Interaktion mit Schwerkranken und Sterbenden (Grounded Theory)

Ilka Caspari (Mitte 20, gelernte Krankenschwesterund Studierende im Diplomstudiengang Pflegeund Gesundheit) erzählt im November 2000 übereine Situation, die sie während ihrer Ausbildungstark beeindruckt hatte:

»Ja und ich sah die Frau – weil die Bettwäsche

war dann auch so weiß gewesen – und hab ge-

dacht ‘Oh Gott was liegt da vor dir?’ Die Patien-

tin lag im Koma. Eigentlich hatte sie mal Brust-

krebs gehabt, aber die Metastasen sind ins Ge-

hirn gegangen, was meistens beim Brustkrebs

vorkommt. Ja und mein Mentor hat immer zu

Wichtig

Beispiel

Page 333: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

14.2 · Interaktion mit Schwerkranken und Sterbenden (Grounded Theory)14323

mir gesagt:‘Ilka, wenn Du eine Patientin siehst,

die Dir überhaupt nicht gefällt oder zusagt,oder

sonst da was, dann pflege doppelt so gut!’ Das

habe ich mir auch zu Herzen genommen und

hab die Frau wirklich sehr intensiv gepflegt,weil

sich kein anderer mehr dazu bereit erklärt hat,

dahin zu gehen. Ich hab dann die Frau gepflegt

mit meinem Mentor zusammen, war alles dann

immer ganz schön und alles gemacht und ich

kam dann eines Morgens dann wieder zum

Frühdienst und es hieß:‘Die Patientin ist wach!’

So, jetzt war es wieder ein neues Gefühl für

mich, ich kannte die Frau ja nun schon,aber nur

schlafend.Diese Frau war gar nicht verkabelt.Es

wurde dreimal täglich Blutdruck gemessen,

man hat nach der Atmung gesehen, wenn man

ins Zimmer kam. Der Brustkorb senkte sich und

hob sich, sie bekam jeden Tag Blut abgenom-

men, und es war auch so, es war jedem klar ge-

wesen, dass sie stirbt. Also hat man gesagt, ehe

wir jetzt überall Kabel anlegen und sonst was

machen, lassen wir sie in Ruhe damit,weil es so-

wieso nichts bringt und sorgen lieber für eine

andere Atmosphäre, also für eine bessere At-

mosphäre. Es war ein wunderschöner Frühling

gewesen,die Vögel zwitscherten schon,die Ein-

zelzimmer hatten auch Balkons gehabt und so

haben wir dann auch mal den Balkon aufge-

macht, dass die Luft da rein kam. Auf jeden Fall

kam ich dann zu ihr, hab sie dann begrüßt wie

jeden Morgen, also ich hab immer mit ihr ge-

sprochen auch als sie ‘schlief’ und da hat sie zu

mir gesagt, sie hat fast alles mitbekommen, sie

fand es auch schön, wie ich ihr gegenüber auf-

getreten bin und das war ein Donnerstag im

Frühdienst. Dann kam ich am nächsten Tag hin

und die Schwester, ich hatte Spätdienst gehabt,

die Schwester aus dem Frühdienst meinte, die

Patientin sei wieder ins Koma gefallen. Dann

hab ich – und mein Mentor meinte auch zu mir:

‘Mensch Ilka sei vorsichtig,wenn Du ins Zimmer

kommst, sie sieht sehr, sehr schlecht aus!’ Und

am gleichen Tag am Abend ist sie dann auch

verstorben. Also sie wusste, dass sie stirbt und

hat sich noch mal bei mir bedankt. Und das war

für mich so’n Erlebnis gewesen,das ich mein Le-

ben lang nicht vergesse und weshalb ich es lie-

be, Krankenschwester geworden zu sein.«

Diese Arbeitssituation, die Ilka Caspari als Aus-zubildende außerordentlich beeindruckte, die fürdie Pflege Schwerstkranker jedoch eher alltäglicherscheint, kann auf der Grundlage gesundheits-soziologischen Wissens analysiert, reflektiert undtheoretisch beschrieben werden. Eines der faszi-nierendsten und inzwischen schon klassischenKonzepte zu diesem Thema wurde von Anselm L.Strauss und Barney G. Glaser im Jahre 1965 veröf-fentlicht. Es behandelt die Kontexte des Wahrneh-mens, die sie bei Patienten, Krankenhauspersonalund Angehörigen während des Sterbeprozesses inamerikanischen Krankenhäusern entwickelt haben:

7 Was jeder Interagierende über einen be-

stimmten Zustand des Patienten weiß,

sowie sein Wissen darum, dass die an-

deren sich dessen bewusst sind, was er

weiß – also das Gesamtbild, wie ein So-

ziologe es zeichnen würde –, werden wir

Bewusstheits-Kontext nennen. Es ist

der Bereich, in dem diese Menschen in-

teragieren während sie ihn ständig be-

obachten. Der Kontext ist komplex und

kann sich im Lauf der Zeit verändern,

vor allem, wenn der Zustand des Patien-

ten sich verschlechtert und wenn der

Todkranke mehr oder minder deutliche

Hinweise versteht (Glaser u. Strauss

1974, S 16f).

Dynamik und strukturelle Bedingungen der Inter-aktion mit Sterbenden werden von Glaser undStrauss analysiert und den entsprechenden Kon-texten des Wahrnehmens zugeordnet:4 »Geschlossene Bewusstheit – der Patient ist ah-

nungslos;4 argwöhnische Bewusstheit – der Patient verfolgt

einen Verdacht;4 Bewusstheit der wechselseitigen Täuschung –

alle Beteiligten wissen Bescheid, gestehen esaber nicht ein;

4 offene Bewusstheit – der Patient kennt seinenZustand und gibt es zu« (Glaser u. Strauss 1974,S 17f).

In unserem Beispiel weiß Ilka Caspari ebenso wieihre Kolleginnen und Kollegen, dass die von ihr zu

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14

324 Kapitel 14 · Widersprüchliche Botschaften

pflegende Patientin sterben wird und auch die Pa-tientin selbst kennt ihren Zustand. Welche ihrerpflegerischen Handlungen die Patientin wahrge-nommen hat, konnte sie jedoch von vornhereinebenso wenig wissen, wie zu welchem Zeitpunktund inwiefern sich der Zustand der Patientin undderen Kontext des Wahrnehmens im Sinne vonGlaser und Strauss verändert hatte oder noch ver-ändern würde.

Mit Hilfe der Theorie der Bewusstheits-Kon-texte hätte Ilka Caspari ihr Handeln als Pflegendeund die gesamte Interaktionssituation theoretischreflektieren können.Aufgrund dieses analytischenVerständnisses,und entlastet vom Handlungsdruckin der Situation selbst, könnten Perspektivenüber-nahme und Empathie der am Pflegeprozess betei-ligten Fachkräfte jenseits von Mitleid und Betrof-fenheit auf neuer Ebene erlangt werden.

In unserem Beispiel agieren alle Beteiligten–wenn auch professionell und moralisch unter-schiedlich zu bewerten – unbewusst in einem offe-nen Bewusstheits-Kontext.

Nach der Lektüre des Buches von Glaser undStrauss argumentieren Studierende zumeist, dassSituationen des Sterbens wohl in der amerikani-schen Gesellschaft zu dieser Zeit besonders tabu-isiert gewesen seien. Die heute in Deutschland an-zutreffenden Zustände stellten sich jedoch völliganders dar; wir seien in der Regel mit offener Be-wusstheit konfrontiert. Dreierlei macht mich daskeptisch:4 1. Nachfragen an ausgebildete Pflegekräfte und

Medizinerinnen, ob ihnen diese Konzepte inihrem Arbeitsalltag jemals begegnet seien, lau-fen regelmäßig ins Leere.Vielmehr scheint auchdie Besprechung so diffiziler Interaktionssitua-tionen von allen Beteiligten eher vermieden zuwerden.Pflegekräfte fühlen sich zudem von der(mitunter selbst) zugeschriebenen Alleinver-antwortung für die Gestaltung des Interak-tionsrahmens in Sterbesituationen oftmalsaußerordentlich stark belastet.

4 2. Es sind mir keinerlei Forschungen über dieStruktur und Dynamik von Sterbesituationenin Deutschland bekannt. Es muss also offenbleiben,inwiefern und in welchem Ausmaß alleBewusstheits-Kontexte empirisch tatsächlichauffindbar sind und welche Unterschiede eshier zur Situation in Amerika gibt.

4 3. Solange Ärztinnen Patientinnen zwar gern inHospize »überweisen« würden,es ihnen jedochäußerst schwer fällt, die Ziele dieser Einrich-tungen offen zu legen, scheinen wir von einerEnttabuisierung des Sterbens und von derChance, den Stil des Sterbens ebenso frei zuwählen wie den individuellen Lebensstil, nochweit entfernt.

Die Leistungsfähigkeit des analytischen Konzeptesüber Bewusstheits-Kontexte als strukturelle Bedin-gungen von Interaktionssituationen beschränktsich zum einen nicht auf die Interaktion von Pfle-genden mit den zu Pflegenden, sondern schließtandere Kolleginnen im Team, das medizinischePersonal, andere Patienten sowie die Angehörigenmit in die umfassende Analyse und Gestaltung derInteraktionssituation ein.

Zum anderen bleibt diese soziologische Theorienicht auf die Sterbesituation beschränkt, sondernist »in der ganzen Breite der sozialen Interaktionanzutreffen« und kann demnach von einer be-reichsspezifischen zu einer systematischen forma-len (oder generellen) Theorie der Bewusstheits-Kontexte fortentwickelt werden (Glaser u. Strauss1974, S 254).

Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss selbstweisen darauf hin,dass ihr Paradigma dazu zwingt,»zwei wesentliche Eigenschaften der Interaktion zubeachten, die meist nicht ausreichend erfasst wer-den: Die eine ist der Entwicklungscharakter der In-teraktion. Die zweite berührt den Bereich der so-zialen Struktur, in dem die Interaktion stattfindet«(Glaser u. Strauss 1974, S 261). Gerade das machtsolche soziologischen Ansätze für Pflegefachkräfteund Pflegeexpertinnen so bedeutsam und sofruchtbar. Sie erfahren doch tagtäglich,

7 dass die Behandlung von Krankheit un-

ter dem Blickwinkel der medizinischen

Wissenschaft alle Anteile des Erlebens

von Kranksein und Gesundwerden so-

wie die Begleitung und Unterstützung

in der Auseinandersetzung mit Krank-

heit und Leiden nur unzureichend

berücksichtigt (Sieger 2001, S 16).

Begreifen sie sich selbst als Gestalterinnen gesell-schaftlicher Wirklichkeit, dann bieten solche inter-

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14.3 · Was heißt denn schon Gesundheit? (Wissenssoziologische Ansätze)14325

aktionstheoretischen Konzepte nicht nur Chancenzu theoretischer Reflexion, sondern auch für Ver-änderungen im Pflegeprozess und Arbeitsalltagselbst.

14.3 Was heißt denn schon Gesundheit?(Wissenssoziologische Ansätze)

Gesundsein und Gesundbleiben in einer »müden Gemeinschaft« (Lazarsfeld 1975).Es ist der 10.04.2001 gegen 10.30 Uhr. Das Wet-

ter ist nicht schlecht, es regnet nicht, ab und zu

scheint die Sonne,allerdings geht bei einer Tem-

peratur so um die 8 Grad Celsius ein frischer

Wind.Zwei Studierende des Studienganges Pfle-

ge und Gesundheit beobachten im Rahmen ei-

nes studentischen Forschungsprojektes zur be-

trieblichen Gesundheitsförderung eine Gruppe

von sechs Personen, drei Männer und drei Frau-

en, die mit dem Aufschichten einer Trocken-

mauer aus Natursteinen auf einem alten Fried-

hof in einem kleinen Dorf beschäftigt sind. Mit

einem Jutesack und einer Eisenstange als Hilfs-

mittel transportieren, d. h. schleifen, rollen und

heben sie Feldsteine,die auf dem angrenzenden

Areal liegen,auf die bereits 50 cm hohe Trocken-

mauer. Die Männer plagen sich mit den großen

Steinen ab, die schon einmal ein bis zwei Zent-

ner wiegen können,und die Frauen füllen die In-

nenräume der Mauer mit kleineren Steinen, die

schätzungsweise zwischen 5 und 12 kg wiegen.

Wenn alle vom »Steine hucken« ermüdet sind

oder es zu stark regnet,ziehen sie sich in ihren al-

ten Bauwagen zurück, essen die mitgebrachten

Brote, den Rest Braten vom Wochenende oder

einen Kassler vom Imbiss,trinken Tee und Kaffee

aus ihren Thermoskannen und rauchen viel. Es

wird gescherzt, auch viel über Privates und die

katastrophale Arbeitsmarktsituation sowie die

Tagespolitik geredet.Alle pflegen einen vertrau-

ten Umgang miteinander, scheinen sich schon

aus der frühesten Kindheit zu kennen.

Eine der drei arbeitenden Frauen ist Frau Frie-

drichshof, ca. 37 Jahre alt und Mutter von vier

Kindern. Sie hat in einem Thüringischen Groß-

betrieb Facharbeiterin für Feinoptik gelernt und

begann danach zu studieren. (Alle Namen und

Orte, die Rückschlüsse auf die Identität der Perso-

nen zulassen könnten,sind,wie in der qualitativen

Sozialforschung üblich, maskiert). Als sie mit 18

Jahren schwanger wurde,ging sie zurück in ihre

Heimat und arbeitete in einer Landwirtschaft-

lichen Produktionsgenossenschaft (LPG) als Se-

kretärin. Nach der Wende absolvierte sie eine

Ausbildung zur Fachfrau für Bürokommunika-

tion und war zuletzt im Nebenjob Busfahrerin

für eine soziale Einrichtung. Nach 5 Jahren Ar-

beitslosigkeit erhält sie eine ABM-Stelle in einer

Beschäftigungsgesellschaft des Garten- und

Landschaftsbaus.Alle hier Beschäftigten wissen,

sie dürfen nicht zu langsam arbeiten, die Fort-

schritte müssen für die Firma, den Projektleiter

und die Dorfbewohner, die gelegentlich schon

mal mit dem Fernglas auf sie schauen und ver-

meintlich zu lange Pausenzeiten monieren,

sichtbar sein.Viel schwerer ist es jedoch nicht zu

schnell zu arbeiten, um sich den Rücken, die

Hände und sämtliche Gelenke nicht zu verlet-

zen.

Stilisierung einer urbanen,arbeitszentrierten, genuss- und gesundheitsbezogenen LebensformEs ist Dienstag,der 17.April 2001 so gegen 13.30

Uhr in Düsseldorf. Draußen regnet es in Strö-

men, es ist grau in grau. Soeben haben alle Mit-

arbeiterinnen und Mitarbeiter eines kleinen In-

stitutes, das auf dem Gebiet der Arbeitsmarkt-

forschung tätig ist, gemeinsam zu Mittag

gegessen. Es gab Salat, eine Gemüse-Quiche,

Brot,Wasser,Tee und Kaffee.

Maria Clessens,eine Frau um die Vierzig,promo-

vierte Sozialwissenschaftlerin – verheiratet und

ohne Kinder – schließt ihre sonst immer offen

stehende Bürotür,rollt eine Schlafmatte aus und

hält für 20 Minuten Mittagsruhe. Obgleich das

geschäftige Treiben in den Institutsräumen

draußen nicht für einen Augenblick unterbro-

chen wird, die Kolleginnen und Kollegen hek-

tisch weiterarbeiten, telefonieren und die Tasta-

turen ihrer Computer bearbeiten, versucht sie,

dem Stress zu entkommen und für einige Au-

Beispiel

Page 336: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

14

326 Kapitel 14 · Widersprüchliche Botschaften

genblicke zu entspannen. Gelernt hat sie diese

Techniken in ihrem wöchentlichen Yogakurs

und in einem kürzlich besuchten Seminar zum

Zeitmanagement.

Kontrastreicher als in diesem Auszug aus dem Be-obachtungsprotokoll von Susanne Finck und Ale-xandra Rappolt (Studierende aus einem Projektüber betriebliche Gesundheitsförderung auf dem2. Arbeitsmarkt, FH Neubrandenburg 2000) undmeiner dichten Beschreibung der Mittagspause ei-ner mit mir befreundeten Sozialwissenschaftlerinkönnen sich Gesundheit und Gesundheitsvorstel-lungen kaum darbieten.

Helga Friedrichshof kann auf ihren Körper undihre Gesundheit relativ wenig Rücksicht nehmen.Ihre Familie ist auf das Einkommen aus der ABM-Tätigkeit angewiesen und sie war zunächst glück-lich, überhaupt eine Tätigkeit gefunden zu haben.Die schwere körperliche Arbeit unter herbstlichenWitterungsverhältnissen führte zu andauerndenRückenschmerzen und Erkältungskrankheiten,bissie im Dezember 2000 mit Herzbeschwerden insKrankenhaus kam. Dennoch ist ihr der Führer-schein ihres ältesten Sohnes – in einer struktur-schwachen Region Mecklenburgs essentielle Vor-aussetzung für Chancen/Mobilität auf dem desola-ten Arbeitsmarkt – wichtiger, als der Schaden, denihre ‘angeknackste’ Wirbelsäule mit ihren abge-nutzten Bandscheiben beim Bau der Trockenmau-er nehmen könnte.

Maria Clessens, die ihre inhaltlich befriedigen-de,sinnstiftende und selbstbestimmte Tätigkeit alsLebensinhalt begreift, die sich mit Yoga entspannt,genussvoll isst, mit Feng Shui Energie zu tankenversucht,praktiziert eine Lebensform,die sich nichtnur infolge ihrer Qualifikation und regionalerDisparitäten in der Lebensführung sehr deutlichvon der Helga Friedrichshofs unterscheidet.Wederfür die arbeitszentrierte, genuss- und gesundheits-bezogene, großstädtische Lebensform der Akade-mikerin noch für Wellness, Styling oder Bodycare,wie es uns bestimmte Hochglanzmagazine als Ga-rantie für eine erfolgreiche Karriere empfehlen,gibt es in der Lebenswelt von Frau Friedrichshofanschlussfähige kulturelle Traditionen und Hand-lungsmuster.

Ihre Gesundheitsvorstellungen sind geprägtvon der Alltagswirklichkeit, in einer struktur-schwachen, ländlichen Region von Mecklenburg-Vorpommern mit steigender Arbeitslosigkeit undsinkender Kaufkraft, die wiederum neue Arbeits-losigkeit erzeugt.

Dabei entspricht auch die körperlich schwereArbeit des Steineaufschichtens, der Entwilderungvon Grünanlagen und des Wegebaus keineswegsihrem ursprünglichen Lebensentwurf, etwa derPrüfung eines neu entwickelten Bauteiles mit ge-schultem Blick durchs Mikroskop und der Arbeitmit sensibler Hand, wie sie es aus der Forschungs-abteilung des optischen Großbetriebes gewöhntwar.

Vielmehr sorgt sie sich um ihre Gesundheit,indem sie den unmittelbaren Gefahren ihres Ar-beitsalltags (sich nicht die Hände zwischen denSteinen zu quetschen, die Füße vor herunterfallen-den Brocken zu schützen, sich beim Bücken undHeben nicht zu verheben) zu entkommen sucht,umweiter arbeitsfähig zu bleiben und die ökonomi-sche Existenz ihrer Familie mit den vier Kindern zusichern.

Ihre Gesundheitsvorstellungen beziehen sichganz unmittelbar darauf, überhaupt eine Arbeit zuhaben, um die latenten, identitätsstützenden undgesunderhaltenden Funktionen von Arbeit (Jahodazitiert nach Fleck 1994, S 31) zu erfahren, nicht ar-beitslos und in der Identität und materiellen Exis-tenz bedroht zu sein. Für protektives und selbst-reflexives Gesundheitshandeln scheint in ihrem Le-ben kein Platz zu sein.

Beobachtungsprotokolle oder dichte Beschrei-bungen als Protokolle von Interaktionssituationenermöglichen nicht nur Analysen von subjektivenTheorien und Laienvorstellungen von Gesundheit,sondern auch die Analyse und Rekonstruktion so-zialen Handelns, sowohl des Handelns in der All-tagspraxis – hier als Arbeiten in einer mehr oderweniger gesundheitsgefährdenden Arbeitswelt –als auch als gesundheitsbezogenes kommunikati-ves Handeln – hier im Sprechen über eingeschliffe-ne, routinisierte und habitualisierte Praktiken derLebensführung.

Gesundheit (und Krankheit) nur als Zustandeiner Person zu begreifen, geht nicht erst seit Anto-novskys Konzept der Salutogenese (1997) fehl, wiean diesen Beispielen sehr deutlich wird.Gesundheit

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14.3 · Was heißt denn schon Gesundheit? (Wissenssoziologische Ansätze)14327

auch als Ressource, als Potenzial, Prozess (Belz-Merk 1995) oder soziale Konstruktion zu verstehen,trifft die Sache schon eher, ist jedoch aus soziologi-scher Sicht in jedem Fall durch empirische Analy-sen zu fundieren.

Pflegepädagoginnen und die von ihnen ausge-bildeten Pflegenden und Pflegeexpertinnen leistendazu einen entscheidenden Beitrag. Sie benötigendafür ein sozialwissenschaftlich fundiertes, theo-retisches Wissen, d. h. Expertinnenwissen überKrankheit, Gesundheit, Leiblichkeit oder den Kör-per, das über Alltagswissen (insbesondere auchüber normative Gang-und-Gäbe-Vorstellungen)hinausgeht.Es muss sowohl über das Alltagswissenvon (informierten) Laien als auch über das Alltags-wissen, das Soziologinnen über Krankheit und Ge-sundheit haben, hinausreichen.

Dabei kommt es also darauf an, historisch kon-kret zu rekonstruieren (d. h. auch kulturell geprägtsowie geschlechts- und milieuspezifisch), wie Ge-sundheit – dieses als so selbstverständlich hinge-nommene, oft nur implizit thematisierte und den-noch so fragile Phänomen (Fischer-Rosenthal 1996,S 153f) – im Prozess der gesellschaftlichen Kons-truktion von Wirklichkeit »hergestellt« wird. WasGesundheit oder Krankheit für einen Menschen,für eine Familie oder eine Gesellschaft bedeutet,kann nicht vorab theoretisch entschieden werden,sondern muss durch empirisches Wissen aus quan-titativen oder qualitativen Forschungen begründetwerden.

Da wir momentan weder über eine in der scien-tific community der Gesundheitswissenschaftle-rinnen und Soziologinnen allgemein akzeptierteDefinition von Gesundheit verfügen, noch Ge-sundheitssoziologie als Begriff etabliert ist (Hur-relmann 2000, S 8), möchte ich die folgende wis-senssoziologisch fundierte Definition vorschlagen:

Gesundheitssoziologie hat alles das zu un-tersuchen,was in einer Gesellschaft als »Ge-sundheit« gilt.

Eine solche wissenssoziologische Definition von Ge-sundheit schließt alle Ebenen der Analyse von Ge-sellschaft ein.Von hier aus lassen sich sowohl struk-

turelle, institutionelle und subjektbezogene Per-spektiven einnehmen als auch handlungsbezogene,kognitive und emotionale Prozesse untersuchen.

Gesundheitssoziologie mit ihrer disziplinärenPerspektive kann so – wie Bernhard Badura undPetra Strodtholz (1993/1998) es vorschlagen – in eininterdisziplinäres Konzept von Gesundheitswis-senschaften integriert werden.

Diese Arbeitsdefinition von Gesundheitssozio-logie knüpft an die für die Soziologie sehr bedeut-same wissenssoziologische Konzeption von PeterL. Berger und Thomas Luckmann (1969) an. Beideunterscheiden hier Wissen in dem großen Bereichdes Alltagswissens, des »vortheoretischen, werk-tätigen Wissens« und dem des theoretischen Wis-sens, der »Ideen« und »Weltanschauungen«:

7 Theoretische Gedanken,‘Ideen’,Welt-

anschauungen, sind so wichtig nicht in

der Gesellschaft. Obwohl auch diese

Phänomene in sie hineingehören, sind

sie doch nur ein Teil dessen, was ‘Wissen’

ist. Nur ein begrenzter Kreis von Leuten

ist zum Theoretisieren berufen, zum Ge-

schäft mit ‘Ideen’ bestellt, zur Fabrika-

tion von Weltanschauungen. Aber je-

dermann in der Gesellschaft hat so oder

so Teil an Wissen […] Allerweltswissen,

nicht ‘Ideen’, gebührt das Hauptinteres-

se der Wissenssoziologie, denn dieses

‘Wissen’ eben bildet die Bedeutungs-

und Sinnstruktur, ohne die es keine

menschliche Gesellschaft gäbe

(Berger u. Luckmann 1969, S 16).

Alltagswissen oder Allerweltswissen – so behauptenBerger und Luckmann – bildet den weitaus größe-ren und bedeutsameren Teil des Wissensvorrats derMenschheit. Unsere Vorstellungen über Krankheitund Gesundheit gehören zunächst auch zu diesemtief in der Wirklichkeit unserer Alltagswelt verwur-zelten und »gewissen« Alltagswissen,das von uns inder Regel als gesichert und bewährt erlebt wird.

Darüber hinaus bezieht sich die von mir vorge-schlagene Arbeitsdefinition auf die von HerbertBlumer formulierten »theoretischen Prämissen dessymbolischen Interaktionismus«, der wiederumdas Denken von Berger und Luckmann stark be-einflusste:

Wichtig

Page 338: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

14

328 Kapitel 14 · Widersprüchliche Botschaften

7 Die erste Prämisse besagt, dass Menschen

‘Dingen’ gegenüber auf der Grundlage der

Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie

besitzen.

Die zweite Prämisse besagt, dass die Bedeu-

tung solcher Dinge aus der sozialen Interak-

tion, die man mit seinen Mitmenschen ein-

geht, abgeleitet ist oder aus ihr entsteht.

Die dritte Prämisse besagt, dass diese Be-

deutungen in einem interpretativen Prozeß,

den die Person in ihrer Auseinandersetzung

mit den ihr begegnenden Dingen benutzt,

gehandhabt und abgeändert werden

(Blumer 1973, S 81, Hervorhebungen der

Verf.).

Unter ‘Dingen’ wird hier alles gefaßt, was der

Mensch in seiner Welt wahrzunehmen ver-

mag – physische Gegenstände wie Bäume

oder Stühle; andere Menschen … Institutio-

nen … Leitideale … Handlungen anderer

Personen und solche Situationen, wie sie dem

Individuum in seinem täglichen Leben be-

gegnen (Blumer 1973, S 80).

Ich behaupte nun, diese Prämissen gelten auch fürgesundheitsbezogenes soziales Handeln:

5 Allgemein formuliert, handeln Men-schen gesundheitsbezogen auf derGrundlage der Bedeutungen, die Ge-sundheit als soziale Konstruktion (mitkognitiven, emotionalen und hand-lungsbezogenen Momenten) für siehat.

5 Gesundheit erhält ihre Bedeutung ausder Interaktion und Kommunikationmit Mitmenschen.

5 Bedeutungen – auch die von Gesund-heit – werden in einem interpretativenProzess je nach Situation wahrgenom-men, gehandhabt und verändert.

Pflegepädagoginnen, Pflege- und Gesundheitsex-pertinnen können sich auf der Grundlage diesertheoretischen Ansätze Expertinnenwissen über Ge-sundheit und Krankheit, Körper und Leiblichkeit

erarbeiten und diese »Phänomene«, die im weites-ten Sinne auch »Arbeitsgegenstände« für sie dar-stellen, in ihrer Historizität, in ihrer Widersprüch-lichkeit und Veränderlichkeit erfassen.

Methodisch anschlussfähig sind hier vor allemdie qualitativen Forschungsstrategien (Strauss1991), die sich dem Fallverstehen verpflichten (Hil-denbrand 1983), mit offenen Interviewformen undtext- oder diskursanalytischen Verfahren (Fischer-Rosenthal 1996) sowie mit ethnographischen An-sätzen (Hirschauer 1996) arbeiten.

14.4 Pflege und Pflegende in denNetzwerken flexibler Gesellschaften(GesellschaftstheoretischeKonzepte)

Nicole Lauterbach (26 Jahre, gelernte Kranken-schwester und Studierende im DiplomstudiengangPflege und Gesundheit) erzählt über ihre erste Ar-beitsstelle nach Beendigung ihrer Ausbildung:

»Ich kam rein in das Zimmer, es war ein Einzel-

zimmer, da war ein riesengroßes Pflegebett im

Zimmer, das hatte ich noch nie gesehen irgend

so ein ganz tolles, ganz besonderes Modell, da

lag ein junger Mann drin, 29 Jahre alt. Total ab-

gemagert, Rastalocken bis zum Po. Ringsrum

sah es aus wie – kann ich nicht beschreiben –

unaufgeräumt, schmuddelig nun einmal. Und

da saß er drinnen und meinte:‘Hi ich bin Micha

und wer bist Du?’ – ‘Ja Hallo ich bin die Nicole!’

Hin und her überlegt und es war ein sehr ei-

genwilliger Patient und an den mussten wir uns

erst gewöhnen, denke ich mir einfach. Es war

total Klasse, er hatte dann auch immer sehr ei-

genartige Vorlieben, würd’ ich sagen, gehabt.Er

hatte durchaus Drogen mit im Bett und durfte

das auch.War halt voll im Endstadium der Aids-

erkrankung; ist daran auch verstorben. … Nee,

nee er hatte auch noch nen Freund, der hat ihn

auch mal besucht und ansonsten auch also Piz-

zadienst und seine Freunde, das ging alles ein

und aus.

Wichtig

Beispiel

Page 339: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

14.4 · Pflege und Pflegende in den Netzwerken flexibler Gesellschaften14329

Das war schon irgendwo ein Lernprozess denke

ich mir gegenüber der Ausbildung, also ich bin

gleich nach der Ausbildung dahin gekommen.

Das erst mal so zu verarbeiten, dass so was halt

auch geht, dass so was halt auch Pflege sein

kann. Dass halt der Nachttisch aussehen darf,

wie er das möchte,und dass man da nicht jeden

Tag Staub wischen muss, sondern er kann da

mit seinem Tee rummatschen und seine Milch

da auskippen und ab und zu dann mal naja

‘Micha meinst du nicht – können wir da nicht

doch mal putzen?’ Wir machen denn doch mal

was.«

In diesem Beispiel wird sehr deutlich, dass eine soeben ausgebildete Krankenschwester mit ihrer pro-fessionellen Identität gefordert ist. Unmittelbarnach der Ausbildung trifft sie auf ein unüblichesPflegebett, das sie vorher noch nie gesehen hat, aufeinen Patienten,der nur wenig älter ist als sie selbstund nicht ihren Erfahrungen mit Schwerkrankenentspricht und schließlich auf eine für sie unge-wohnte Pflegesituation, mit der sie sich erst einmalauseinander setzen muss.

Sie wird mit den Gebräuchen des gesellschaft-lichem Umgang mit Aids konfrontiert und mit al-len sozialen Zuschreibungen,die den medialen Dis-kurs um die Immunschwäche prägen,die ihre eige-nen Erfahrungen aus dem Alltags- und Berufslebenoffensichtlich teilweise stützen, ihnen aber partiellauch widersprechen.

Das Beispiel zeigt auch, dass für Nicole Lauter-bach in dieser Situation über ihren Erfahrungsho-rizont hinausgehende Fragen im Raum stehen, diemit gesellschaftlichen Entwicklungen allgemeinerArt und demnach mit gesellschaftstheoretischenProblemen und soziologischen Erklärungsansät-zen zusammenhängen:4 1. Welchen Umgang, welche Versorgungsleis-

tungen und welche Art von Pflege sehen mo-derne Gesellschaften im Falle sterbender Aids-Patienten als angemessen an,was sind sie in derLage zu leisten und wie kann ein gesellschaftli-cher Konsens darüber gebildet werden? Bleibtein einmal gefundener Konsens erhalten oderwird er in Krisenzeiten knapper Kassen, in Zei-ten wirtschaftlicher Rezession sehr schnell wie-der in Frage gestellt?

4 2. Welche Netzwerke sozialer Beziehungen ste-hen Schwerkranken zur Erhaltung ihrer Le-bensqualität und Wahrung der menschlichenWürde zur Verfügung? Halten transgeneratio-nale, familiäre Beziehungen hier, was sie ver-sprechen? Weshalb besuchen Eltern ihren er-krankten Sohn nicht?

4 3. Welche theoretischen Vorstellungen, welcheBilder von Aids, Drogen und Sexualität existie-ren in unserer Gesellschaft, die scheinbar‘zwangsläufig’ zu Stigmatisierung, Diskrimi-nierung und Ausgrenzung führen? Was kannund muss professionelle Pflege oder Gesund-heitspolitik hier tun? Welche Konzepte und Mo-delle von Pflege als kultureller Leistung sindhier vonnöten? Wo zeigen sich Grenzen gesell-schaftlicher Intervention?

Zweifellos handelt es sich um Fragen, die NicoleLauterbach in der Situation selbst kaum zu formu-lieren wagt, die sich ihr bei genauer Reflexion ihrerErzählung jedoch stellen würden. Um diesen Fra-gen nicht ausweichen zu müssen,sich ihnen stellenzu können und die gesellschaftlichen Konstruk-tions-, Normierungs- und Zuschreibungsprozessezu verstehen, konfrontieren sich Pflegepädagogin-nen, Pflegeexpertinnen und Pflegende mit Fragendes sozialen Wandels, der Veränderung der Le-bensverhältnisse.

Dazu benötigen sie einen Zugang zu gesell-schaftstheoretischen Modellen, die gesellschaftli-che Veränderungen als komplex und in sich wider-sprüchlich begreifbar machen. Sie benötigen dazusoziologische Theorien, die gesellschaftliche Ent-wicklungen, seien sie nun globaler oder regionalerArt, nicht als stetige, lineare, durch deterministi-sche oder einfache Kausalzusammenhänge gepräg-te Entwicklungen, darstellen.

Nur so können Veränderungen, die das eigeneBerufsfeld betreffen, leichter interpretiert und ver-standen werden. Die Ambivalenzen, die wider-sprüchlichen Anforderungen des eigenen Han-delns, können wahrgenommen und Interessen-konflikte mit anderen Akteursgruppen gedeutetwerden.

Beispielsweise sind Pflegepädagoginnen, Pfle-geexpertinnen und Pflegende in dreifacher Weisevon dem betroffen,was in der sozialwissenschaftli-chen Fachdiskussion seit nunmehr etwa drei Jahr-

Page 340: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

14

330 Kapitel 14 · Widersprüchliche Botschaften

zehnten mit den Thesen von der Individualisierungund Flexibilisierung der Lebensverhältnisse (Beck1997, Sennett 1998) beschrieben wird:4 1. Vom Übergang von einer vorhersehbaren le-

benslangen Berufslaufbahn hin zu kurzfristige-ren, flexiblen Arbeitsverhältnissen und Jobs inder eigenen Arbeitswelt und den daraus erfor-derlichen Veränderungen des Berufs- und Le-bensentwurfs.

4 2. In wachsendem Ausmaß von der Prekarisie-rung (Einsatz sogenannter ungeschützter Ar-beitsverhältnisse wie Leiharbeit, befristete Ver-träge) der eigenen Arbeitsverhältnisse. Diesestehen im Widerspruch zum Anspruch einerauf den ganzen Menschen ausgerichteten Pfle-ge und den Erhalt oder die Wiederherstellungseiner Autonomie, die ihrerseits auf dem erstlangfristig entstehenden gegenseitigen Ver-trauen in emotionale und pflegefachliche Kom-petenzen beruhen.

4 3. Sie treffen auf Patientinnen und Klientinnen,die selbst unter anderen gesellschaftlichen Ver-hältnissen gelebt haben und auf Generationen-verhältnisse vertraut haben, die längst nichtmehr gegeben sind im Zuge der Veränderungfamiliärer Netzwerke; mit Patientinnen undKlientinnen,die die Veränderungen in ihrer All-tagswirklichkeit kaum noch für sich deutenkönnen, selbst wenn sie bei guter Gesundheitsind.

Gerade diese Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen,die biographisch und historisch verschiedene Er-fahrungsaufschichtung der Pflegepädagoginnen,Pflegeexpertinnen und Pflegenden einerseits undder zu Pflegenden, der Patientinnen und Klientin-nen andererseits, die sowohl durch langlebige kul-turelle Muster als auch durch sehr kurzfristige ge-sellschaftliche Veränderungen, plötzliche Krisenund Brüche geprägt sind, erschweren die Kommu-nikation zwischen beiden Gruppen, erfordern siejedoch zugleich.

Richard Sennett beschreibt in seinem Buch»Der flexible Mensch.Die Kultur des neuen Kapita-lismus« einen Übergang von einer eher langfristi-gen, auf Kontinuität angelegten Ordnung hin zukurzfristigen, flexiblen Zeiten.

Die etwa 30 Jahre andauernde Spanne der »sta-bilen Vergangenheit« mit wirtschaftlicher Ent-

wicklung,großen Unternehmen und Garantien desWohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkriegwürde nun abgelöst werden von einem »neuen Re-gime der kurzfristigen Zeit«, das begleitet »ist voneinem Wandel der modernen Unternehmensstruk-tur« (Sennett 1998, S 26). Auch die Unternehmenund Einrichtungen des Gesundheitswesens versu-chen in diesem Zuge, Bürokratien abzubauen undflexiblere Organisationen mit netzwerkartigen,wandlungsfähigen Strukturen zu werden. Das hat-te nach Sennetts Auffassung nachhaltige Wirkun-gen auf das Arbeits- und Gefühlsleben der Men-schen.

Zumeist wird angenommen, dass mit demWandel hin zu modernen institutionellen Netz-werken, die gerade »durch die Stärke schwacherBindungen gekennzeichnet« seien, starke sozialeBindungen an Bedeutung verlieren würden und»flüchtige Formen von Gemeinsamkeit den Men-schen nützlicher seien als langfristige Verbindun-gen« (Sennett 1998, S 28).

Damit müssen sich Pflege- und Gesundheitsex-pertinnen auseinander setzen, wenn ihre Patien-tinnen oder zu Pflegenden,die für ihr Alter oder imFalle einer Krankheit auf die generationenüber-greifende Solidarität gebaut haben, sich nun mitvöllig neuen Arrangements, der Erosion oder demWegfall sozialer Auffangnetze, konfrontiert sehen.

Darauf werden sich Pflege- und Gesundheits-expertinnen einstellen müssen,wenn sie seitens derInstitutionen des Gesundheitssystems immer neu-en Forderungen nach Ökonomisierung und Flexi-bilisierung der Versorgungsstrukturen gegenüber-stehen.

Solche Herausforderungen können Pfle-gepädagoginnen, Pflegeexpertinnen und Pflege-kräfte besser bewältigen, wenn sie über empiri-sches und theoretisches gesundheitssoziologischesWissen als Orientierungswissen verfügen. Ebensounterstützend wirkt, wenn sie zum einen auf allge-meine soziologische Theorien zurückgreifen kön-nen, um bereichsbezogene Theorien für pflege-und gesundheitswissenschaftliche Fragestellungenzu entwickeln und wenn sie zum anderen an derEntstehung allgemeiner soziologischer Theorienteilhaben, indem sie ihre bereichs- und gegen-standsbezogenen Ansätze so fortentwickeln, dassformale Theorien daraus entstehen können (Glaseru. Strauss 1974, S 252ff).

Page 341: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

14.4 · Pflege und Pflegende in den Netzwerken flexibler Gesellschaften14331

Als Soziologin in die Welt der Pflegepädagogin-

nen und Pflegenden zu kommen, bedeutet mit

widersprüchlichen Botschaften konfrontiert zu

sein: Einerseits wird die Soziologie als Leitwis-

senschaft für die sich auch im deutschsprachi-

gen Raum etablierenden Pflegewissenschaften

begriffen; andererseits wird sie als weiche, der

harten Realität der Praxis nicht gewachsenen

Wissenschaftsdisziplin teilweise ignoriert, mit-

unter nur mühsam toleriert.

Daraus ergibt sich die Frage, wie viel gesund-

heitssoziologisches Wissen Pflegeexpertinnen

und Pflegende für ihren Arbeitsalltag, für ihr

Selbstverständnis und für ihr professionelles

Standing in modernen Dienstleistungsgesell-

schaften tatsächlich benötigen, ohne sie selbst

zu Soziologinnen qualifizieren zu wollen oder

zu können. Auf der Grundlage von Beispielen

aus der Pflege- und Forschungspraxis werden

drei (vorläufige) Antworten gegeben:

1. Pflegepädagoginnen, Pflegeexpertinnen

und Pflegende sollen sozialwissenschaftli-

che,d.h.empirisch fundierte Aussagen über

soziales Handeln und soziale Strukturen im

Bereich der Pflege und des Gesundheitssys-

tems verstehen und für die eigene Tätigkeit

nutzen können sowie selbst an der Ent-

wicklung von pflege- und gesundheitswis-

senschaftlichen Konzepten mitwirken.

2. Sie sollen Gesundheit und Krankheit nicht

ausschließlich als biomedizinisch definiert

sehen, sondern auch als soziale Konstruk-

tionen in ihrer Komplexität und Wider-

sprüchlichkeit.

3. Auf der Grundlage gesundheitssoziologi-

schen Wissens sollen sie Orientierungswis-

sen über gesellschaftliche Entwicklungen,

die für die Berufs- und Praxisfelder von Pfle-

genden bedeutsam sind, aufbauen.

3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung

Lesen Sie zunächst das Einleitungskapitel der »Ein-ladung zur Soziologie« von Peter L. Berger (1969)als klassischen soziologischen Text und diskutierenSie über die Vorurteile und stereotypen Vorstellun-

gen gegenüber der Soziologie.Arbeiten Sie heraus,was Soziologie alles nicht sein will und kann underörtern Sie die Theorie-Praxis-Relation an Bei-spielen.

Beispiel für den Aufbau eines Seminars,das persönliche Erfahrungen und Bedeutungender Lernenden mit Theorien und Modellen verbindet

4 Seminarthema:Die Bedeutung von Gesundheit und Krankheitim Persönlichen und Beruflichen

4 Schwerpunkte:1. Anfertigen eines Selbstbeobachtungsproto-

kollsÜbergeordnete Selbstbeobachtungsfragen(beispielhafte Auswahl, beispielhafter Ab-lauf):

Welche Lebenssituationen mit Bezug auf Ge-sundheit und Krankheit erinnere ich, die fürmich explizit bedeutsam sind und in mein Le-ben hineinwirken?Wie erlebe ich mich selbst in Zeiten von Krank-sein? Welche Bilder steigen in mir auf, welcheGefühle und Bedürfnisse herrschen vor?Welche Bilder habe ich im Laufe meines Lebensverinnerlicht,wodurch oder durch wen sind siein welcher Weise geprägt worden?In welcher Weise wirken diese Bilder in meinenBeruf hinein?Wie helfe ich mir und pflege ich mich selbst,wenn ich gesund bin und wenn ich krank bin?Welche professionelle Haltung habe ich dage-gen, wenn ich helfe und pflege, oder wenn ichlehre zu pflegen und zu helfen?Wie sehe ich mir anvertraute Patientinnen undKlientinnen im Kontext von Gesundheit undKrankheit (an prägnanten und möglichst selbsterlebten Fallbeispielen)?Wie zeigt sich nach außen einerseits meine per-sönliche Auffassung von Gesundheit undKrankheit und andererseits, was lenkt meinprofessionelles Handeln und wie wird dieses imBeruf sichtbar?2. Eigen- und/oder Fremdanalyse des Proto-

kolls nach bestimmten Gesichtspunkten/her-meneutischen Verfahren

3. Interpretationen und Vergleiche unterein-ander

Zusammenfassung

Page 342: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

14

332 Kapitel 14 · Widersprüchliche Botschaften

4. Rezeption verschiedener geeigneter gesund-heitssoziologischer Modelle und Theorien

5. Überdenken der bisherigen Bilder/Haltun-gen/Verhaltensweisen bezüglich Gesundheitund Krankheit

6. Herausarbeiten der Bedeutungen für zu-künftiges berufliches Handeln.

3 Empfehlungen zum WeiterlernenMethodische Hinweise finden Sie unter anderembei:4 Lüders C (2000) Beobachten im Feld und Ethno-

graphie. In: Flick U, Kardorff E v., Steinke I(Hrsg), Qualitative Forschung. Ein Handbuch.Rowohlt, Reinbek b. Hamburg

4 Strauss AM (1991) Grundlagen qualitativer So-zialforschung. Datenanalyse und Theoriebil-dung in der empirischen soziologischen For-schung. Fink, München

Literatur

Antonovsky A (1997) Salutogenese. Zur Entmystifizierung der

Gesundheit. Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie,

Tübingen

Badura B (1993) Soziologische Grundlagen der Gesundheitswis-

senschaften. In: Hurrelmann K, Laaser U (Hrsg) Gesundheits-

wissenschaften. Handbuch zur Lehre, Forschung und Praxis.

Beltz, Weinheim Basel, S 63–87

Badura B, Strodtholz P (1998) Soziologische Grundlagen der Ge-

sundheitswissenschaften. In: Hurrelmann K, Laaser U (Hrsg)

Handbuch Gesundheitswissenschaften. Neuausgabe. Juven-

ta, Weinheim München, S 145–174

Beck U (1997) Kinder der Freiheit: Wider das Lamento über den

Werteverfall. In:Beck U (Hrsg) (1997) Kinder der Freiheit.Suhr-

kamp, Frankfurt a. M., S 9–33

Belz-Merk M (1995) Gesundheit ist alles und alles ist Gesundheit.

Die Selbstkonzeptforschung zur Beschreibung und Erklärung

subjektiver Vorstellungen von Gesundheit und Gesundheits-

verhalten. Peter Lang, Frankfurt a. M.

Berger PL (1969) Einladung zur Soziologie.Eine humanistische Per-

spektive. Walter-Verlag, Olten Freiburg i. Breisgau

Berger P,Luckmann T (1969) Die gesellschaftliche Konstruktion der

Wirklichkeit.Eine Theorie der Wissensoziologie.Fischer,Frank-

furt a. M.

Blumer H (1973) Der methodologische Standort des symbolischen

Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen

(Hrsg) Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirk-

lichkeit. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg, S 80–146

Fischer-Rosenthal W (1996) Strukturale Analyse biographischer

Texte. In: Brähler E, Adler C (Hrsg) Quantitative Einzelfallana-

lysen und qualitative Verfahren. Psychosozial-Verlag, Gießen,

S 147–209

Fleck C (1994) Sozialpsychologie der Politik und Kultur. Ausge-

wählte Schriften. Nausner & Nausner, Wien

Friedrichs J, Lepsius MR, Mayer KU (1998) Diagnose und Prognose

in der Soziologie. In: Friedrichs J, Lepsius MR, Mayer KU (Hrsg)

Die Diagnosefähigkeit der Soziologie. Westdeutscher, Opla-

den, S 9–31

Glaser B, Strauss A (1974) Interaktion mit Sterbenden. Vanden-

hoeck & Ruprecht, Göttingen

Hildenbrand B (1983) Alltag und Krankheit. Ethnographie einer

Familie. Klett-Cotta, Stuttgart

Hirschauer S (1996) Die Fabrikation des Körpers in der Chirurgie. In:

Borck C (Hrsg) Anatomien medizinischen Wissens. Medizin,

Macht, Moleküle. Fischer, Frankfurt a. M., S 86–121

Hurrelmann K (2000) Gesundheitssoziologie. Eine Einführung in

sozialwissenschaftliche Theorien von Krankheitsprävention

und Gesundheitsförderung. Juventa, Weinheim München

Jahoda M, Lazarsfeld PF, Zeisel H (1975) Die Arbeitslosen von

Marienthal. Ein soziographischer Versuch. Suhrkamp, Frank-

furt a. M.

Lazarsfeld P (1975) Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziogra-

phischer Versuch.Vorspruch zu neuen Ausgabe. In: Jahoda M,

Lazarsfeld PF,Zeisel H (Hrsg) Die Arbeitslosen von Marienthal.

Ein soziographischer Versuch. Suhrkamp, Frankfurt a. M.,

S 9–23

Lüders C (2000) Beobachten im Feld und Ethnographie. In: Flick U,

Kardorff E v., Steinke I (Hrsg) Qualitative Forschung. Ein Hand-

buch. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek b. Hamburg

Meier,Artur (1988).Das marxistische soziologische Paradigma.Zur

Diskussion von Gegenstand und Struktur der soziologischen

Wissenschaft. Institut für Soziologie,Humboldt-Universität zu

Berlin. unveröffentlichtes Manuskript, Berlin

Sennett R (1998) Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapi-

talismus. Berlin Verlag, Berlin

Sieger M (Hrsg) (2001) Pflegepädagogik. Handbuch zur berufli-

chen Bildung. Hans Huber, Bern Göttingen Toronto Seattle

Strauss AM (1991) Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Da-

tenanalyse und Theoriebildung in der empirischen soziologi-

schen Forschung. Fink, München

Weber M (1980) Soziologische Grundbegriffe. In: Winckelmann J

(Hrsg) Wirtschaft und Gesellschaft. Mohr, Tübingen

Page 343: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15

Aufnehmen,Verarbeiten,Speichern und Abrufen:Grundlagen der biologischenInformationsverarbeitung am Beispiel von Gehirn und Immunsystem

Friederike Störkel

15.1 Das Gehirn 336

15.1.1 Fallgeschichte 336

15.1.2 Hinführung 337

15.1.3 Bausteine des Nervensystems –

Struktur und Funktion von Nervenzellen 338

15.1.4 Übersicht über das zentrale Nervensystem 338

15.1.5 Horizontale Verbindungen im Großhirn –

die Großhirnrinde und die Großhirnhälften 340

15.1.6 Vertikale Verbindungen im Großhirn –

die Großhirnrinde und das limbische System 341

15.1.7 Lernen und Gedächtnis 342

15.2 Das Immunsystem 347

15.2.1 Fallgeschichte 347

15.2.2 Hinführung 348

15.2.3 Das Immunsystem im Überblick 348

15.2.4 Infektionsabwehr am Beispiel der Immunabwehr von Viren 350

15.2.5 Analogien zwischen Gehirn und Immunsystem 352

Page 344: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15

334 Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen

> ThesenUnter dem Begriff »Naturwissenschaftliche

Grundlagen der Pflege« werden die naturwis-

senschaftlichen Grundlagenfächer Biologie,

Chemie und Physik und die medizinischen

Grundlagenfächer Anatomie, Physiologie, all-

gemeine und spezielle Krankheitslehre sowie

Arzneimittellehre zusammengefasst. Anders

als bisher üblich müssen diese Grundlagen

zukünftig von den Pflegepädagogen erarbei-

tet und vor dem Hintergrund pflegespezifi-

scher Fragestellungen reflektiert und gelehrt

werden. Dies erfordert eine eigenständige

Auseinandersetzung mit den grundlegenden

biologischen Vorgängen des menschlichen

Organismus.

Der vorliegende Beitrag soll tätigen und

zukünftigen Pflegepädagogen als Grundlage

bei der Erarbeitung des Stoffes zu Themen auf

den Gebieten Gehirn und Immunsystem die-

nen und sie anregen, über ein ergänzendes

Eigenstudium Unterrichtsentwürfe zu ent-

wickeln.

Am Beispiel von Gehirn und Immunsystem

wird beschrieben,wie ein menschlicher Orga-

nismus in Kontakt und Austausch mit der

Außenwelt tritt und versucht, sein inneres

Gleichgewicht zu erhalten oder wiederherzu-

stellen. Grundlegende biologische Prinzipien

und Ähnlichkeiten beider Organsysteme so-

wie das Strukturieren von Wissensgebieten

werden exemplarisch dargestellt.

3 Berufliche Handlungskompetenzen

2 FachkompetenzGrundprinzipien der biologischen Infor-mationsaufnahme und -verarbeitung amBeispiel von Gehirn und Immunsystemverstehen und ihre Bedeutung für dieGestaltung des eigenen Arbeitsfeldesund für die Pflege Kranker ermitteln.

2 PersonalkompetenzVorgänge im menschlichen Organismusnicht nur kennen und verstehen,sonderndarüber hinaus das eigene Verständnis

über sich und über andere erweitern so-wie den Umgang mit sich und anderenüberdenken.

2 Kommunikative KompetenzBegriffe und inhaltliche Bedeutung infachlichen Diskussionen sachgerechtverwenden.

2 MethodenkompetenzDie dargestellten naturwissenschaftli-chen Grundlagen der biologischen Infor-mationsaufnahme und -verarbeitung fürdie Erarbeitung pflegerelevanter The-men in Aus-, Fort- und Weiterbildungnutzen, z. B. bei den Themen Infektions-prophylaxe, Pflege dementer Menschenoder Lerntechniken/Lerntraining.

3 PraxisrelevanzGehirn und Immunsystem sind übergeordneteKommunikations- und Gleichgewichtsinstanzendes Organismus. Trotz aller Verschiedenheit ihrerAufgaben arbeiten sie eng zusammen und in wei-ten Teilen nach ähnlichen Prinzipien. Sie tauschenbeständig biochemische Signale aus, häufig ent-lang gemeinsamer Kommunikationsstrukturenund gemeinsamer Überträgerstoffe (Transmitter)sowie interzellulärer Mediatoren (Zytokine). Dieserklärt auch den Zusammenhang zwischen man-chen psychischen Störungen bei körperlichen Er-krankungen und umgekehrt.

In den Handlungsfeldern der Aus-, Fort- undWeiterbildung findet sich eine Vielzahl von The-men, die mit einem oder beiden Organsystemen inZusammenhang stehen. Aufbauend auf die hierdargestellten Grundlagen können diese Themen er-arbeitet werden. Exemplarisch aufgeführt seien:4 Lernen:

in Aus-, Fort- und Weiterbildung.4 Lehren:

Fähigkeitsstörungen und Behinderungen, z. B.Pflege von Menschen mit seniler Demenz vomAlzheimer-Typ sowie Beratung und Unterstüt-zung der Angehörigen; ambulante und sta-tionäre Pflege von Menschen mit Schlaganfalloder Schädel-Hirn-Verletzungen.

Page 345: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15.1 · Das Gehirn15335

Infektionserkrankungen, z. B. Vermeidung vonnosokomialen Infektionen; Pflege von Men-schen mit herabgesetzter Immunabwehr.Beeinflussung der Krankheitsabwehr durch psy-chische Faktoren, wie beispielsweise Stressreak-tionen, z. B. unterstützende, nicht-medika-mentöse Maßnahmen bei Menschen mit akutenoder chronischen Erkrankungen; gesundheits-förderliche Arbeitsplatzgestaltung in der Pflege.

3 VerfahrensstrukturDurch das Verstehen der Grundmuster der kom-plexen Organsysteme Gehirn und Immunsystem(. Abb. 15.1) gewinnt die inhaltliche und didakti-sche Darstellung sowie die praktische Bearbeitungeinzelner Themen in den verschiedenen pflegeri-schen Handlungsfeldern an Qualität und Profes-sionalität.

Hilfen zum weiterführenden Erarbeitenund Verknüpfen von Wissensinhalten

Die Arbeitshilfen sind für diejenigen Leser ge-

dacht, die ausgehend von den hier dargestell-

ten Inhalten weiterarbeiten wollen. Zu diesem

Zweck enthält der nachfolgende Text der Ab-

schn. 15.1 und 15.2 fortlaufend sowohl kursiv

gedruckte Begriffe in Klammern als auch fettge-

druckte Begriffe oder Satzteile.

Die im Text erscheinenden kursiv gedruckten

Begriffe in Klammern sind als Anknüpfungs-

punkte und Querverweise zum vorhandenen

Wissen des Lesers zu verstehen.

Beispiel: »Der Transport der Informationen ge-

schieht durch elektrische Energie (Ruhe- bzw.

Aktionspotenzial), die an den Synapsen in che-

mische Energie überführt wird (Neurotrans-

mitter).«

. Abb. 15.1. Verfahrensstruktur

Page 346: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15

336 Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen

Für das weitere Verständnis des Textes ist die

hier genannte Information ausreichend. Möch-

te der Leser jedoch genauer nachvollziehen,

wie die elektrische Energie an den Nervenzel-

len aufgebaut wird und sich im Rahmen eines

Aktionspotenzials verändert, so kann er unter

dem Stichwort Ruhe- bzw. Aktionspotenzial z. B

in seinen eigenen früheren Arbeitsaufzeich-

nungen, in Lehrbüchern oder in Wissensbiblio-

theken online weitere Informationen abrufen.

Die fett gedruckten Begriffe im fortlaufenden

Text sind als Oberbegriffe innerhalb einer Wis-

senshierarchie aufzufassen.Von ihnen aus

können, analog zur Netzwerkstruktur unseres

Gehirns,Wissensdimensionen vertiefend erar-

beitet werden.

Beispiel: »Beim Betrachten des Gehirns fällt

auf, dass es zwei symmetrische Großhirnhälf-

ten (Hemisphären) aufweist, die miteinander

in Verbindung stehen…. Zunächst soll die

äußere Schicht der Großhirnhälften, die

Großhirnrinde (Cortex), ausführlicher be-

schrieben werden…. Die wichtigsten Aufga-

ben der Großhirnrinde liegen daher in der Ver-

arbeitung von Sinneseindrücken und in der

Steuerung unserer willkürlichen Bewegun-

gen.«

Für das weitere Verständnis des Textes ist die

hier genannte Information ausreichend. Darü-

ber hinaus kann jedoch vom Leser ein Netz-

werk angelegt werden. Dieses Netzwerk ent-

hält eine Oberflächenstruktur sowie verschie-

dene Schichten einer Tiefendimension des zu

vernetzenden Wissens. So könnte anhand der

im Beispiel genannten, fettgedruckten Begriffe

zunächst die anatomische Hierarchie zwischen

Großhirnhälften und Großhirnrinde und an-

schließend die Funktionen der Großhirnrinde

grafisch dargestellt werden, z. B. in Form eines

Graphen oder eines Mind Maps.

15.1 Das Gehirn

15.1.1 Fallgeschichte

Im Dezember 1958 wurde bei einem 52-jähri-

gen Mann im Royal Birmingham Eye Hospital in

England an jedem Auge eine Hornhauttrans-

plantation durchgeführt. Im Alter von zehn Mo-

naten waren seine Hornhäute infolge einer Au-

geninfektion degeneriert und er war seitdem

völlig blind gewesen.

Die Operation galt als großer Erfolg und erreg-

te in England beträchtliche öffentliche Auf-

merksamkeit. Der »Daily Telegraph« brachte

eine Artikelserie und berichtete, wie wenige

Stunden nach der Operation die wiedergewon-

nene Sehkraft einsetzte.Diesen Bericht las auch

der Psychologe Richard Gregory, der sich für

Wahrnehmungsprozesse interessierte. Mit sei-

ner Kollegin Jean Wallace begann Gregory zu

untersuchen, wie die Welt aus der Sicht des Pa-

tienten beschaffen war,der in der wissenschaft-

lichen Literatur den Namen S. B. erhielt.

S. B. war vor der Operation ein aktiver und le-

bensfroher Mensch gewesen, der viele Dinge

beherrschte,die man Blinden gewöhnlich nicht

zutraut. Er konnte (mit Hilfe eines Sehenden)

Rad fahren, Werkzeuge benutzen und ohne

Stock gehen. Er ertastete seine Umgebung und

hatte zum Beispiel Spaß daran, das Auto seines

Schwagers zu waschen, wobei er sich dessen

Form vorstellte.

Gregory berichtete,was nach der Operation ge-

schah.»Als der Verband zum ersten Mal von sei-

nen Augen entfernt wurde, so dass er nicht

mehr länger blind war, hörte er die Stimme des

Chirurgen. Er wandte sich in Richtung der Stim-

me,sah aber nichts als einen verschwommenen

Fleck. Er stellte sich vor, dass dies wegen der

Stimme ein Gesicht sein musste, denn sehen

konnte er es nicht. S. B.nahm also nicht plötzlich

die Umwelt wahr wie wir, wenn wir unsere

Augen öffnen«.

Als S. B. nach Ablauf weniger Tage seine Seh-

kraft zurückgewonnen hatte,konnte er Objekte

wiedererkennen, die ihm durch Berührung ver-

Beispiel

Page 347: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15.1 · Das Gehirn15337

traut waren: Tiere, Autos, Buchstaben, Uhrzei-

ger usw. Er lernte sehr schnell zu zeichnen,

jedoch mit seltsamen Fehlern. Einen Bus stat-

tete er mit Speichenrädern aus, obwohl Busse

keine Speichen mehr hatten – S.B.hatte als Kind

einen Bus abgetastet, dessen Räder mit Spei-

chen versehen waren.

Der Mond überraschte S. B., da er sich den Vier-

telmond stets als Tortenviertel vorgestellt hatte.

S. B. bediente sich Erinnerungen seines Tast-

sinns, um zu sehen und der Mond gehörte zu

den Dingen, die er nicht betasten konnte.

Als ihm eine Drehbank gezeigt wurde,sagte er,er

könne sie nicht sehen.Als er sie berührte,schloss

er die Augen, betastete sie, öffnete die Augen

und sagte: »Jetzt, wo ich sie gefühlt habe, kann

ich sie auch sehen«.Er konnte anfangs nur sehen,

was der Tastsinn ihm vertraut erscheinen ließ.

Die Geschichte von S.B.endete tragisch.Er starb

ein Jahr nach der Operation in tiefer Depres-

sion. Es hatte ihn enttäuscht, die Welt zu er-

blicken,und er hatte abends oft bei gelöschtem

Licht im Dunkeln gesessen. (Modifiziert nach

Norretranders 1998)

1. Was erfahren Sie aus dem Text über dieMöglichkeiten eines Menschen zur Auf-nahme von Informationen aus derAußenwelt und über den Umgang mitdiesen Informationen?

2. Welche Fragen nach Grundlagen, Hin-tergründen, Zusammenhängen, Haltun-gen/Einstellungen ergeben sich für Sieaus dem Text?

3. Welche Konsequenzen für die Pflege,imSinne eines umfassenden Handelns zurErhaltung, Anpassung oder Wiederher-stellung der normalen physischen,geis-tigen und sozialen Funktionen und Ak-tivitäten des täglichen Lebens (Beske u.Hallauer 1999), würden Sie aus der Fall-geschichte ableiten?

Sammeln und sortieren Sie Ihre Ideen undüberlegen Sie in einem anschließendenSchritt die Formulierung von möglichenpflegerischen Zielen.

15.1.2 Hinführung

Wie erlebt und begreift man die Welt als Außenweltund sich selbst als eigenständige Person? Wodurchund womit? Wie unterscheidet und wie verbindetder Mensch »außen« und »innen«? Am Beispiel derFallgeschichte des blinden S. B. können für das Ge-hirn die wesentlichen Aspekte dieses Vorganges be-leuchtet werden.Der Schwerpunkt der Betrachtun-gen liegt auf den hirnbiologischen Grundlagen die-ses Vorganges.

Das Gehirn hat zwei wesentliche Grundfunk-tionen: Zum einen die Organismus-Umwelt-Inter-aktion (»außen«) und zum anderen die Regulationder biologischen Lebensbedingungen im Körper-inneren (»innen«). Auch das Immunsystem leisteteine fortwährende Abgrenzung zwischen außenund innen,zwischen »selbst« und »fremd«.Sowohlbeim Gehirn als auch beim Immunsystem erlebenwir die Schritte der Informationsaufnahme und -verarbeitung nicht bewusst, sondern spüren le-diglich die Ergebnisse dieses Prozesses. Wir sehenbeispielsweise den Mond,aber wissen nicht,wie wirvon dem Sinnesreiz, den unsere Netzhaut empfan-gen hat, zu dieser bewussten Wahrnehmung ge-langt sind. Wir erkranken an einer Infektionser-krankung, z. B. an Pocken oder an Influenza, aberwissen nicht, wie unser Immunsystem die Infek-tion vom Zeitpunkt der Infektion bis zum Aus-bruch und schließlich dem Abklingen der Symp-tome wahrgenommen und verarbeitet hat. Wirvergleichen aufgenommene Informationen mit Be-kanntem, wie in der Fallgeschichte von S. B. be-schrieben, und das Ergebnis dieses Vergleiches be-einflusst unser aktuelles und zukünftiges Erkennenund Verarbeiten von Informationen und unsereGefühlswelt. In sehr ähnlicher Weise vergleichenspezialisierte Zellen des Immunsystems neue In-formationen von außen mit bereits (innen) abge-legten, ein Vorgang, auf dem auch die Wirkung ei-ner Impfung beruht. Offensichtlich können Zellendes Immunsystems auch von angenehmen oder un-angenehmen Erlebnissen eines Individuums be-einflusst werden, wie die Ergebnisse der seit Endeder siebziger Jahre sich entwickelnden For-schungsrichtung der Psycho- Neuro- Immunologie(PNI) zeigen.

Wichtig

Page 348: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15

338 Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen

15.1.3 Bausteine des Nervensystems –Struktur und Funktion von Nervenzellen

Die vielfältigen Sinneseindrücke, die wir aus derUmwelt erhalten, müssen empfangen, aufgenom-men, verarbeitet, gespeichert und abgerufen wer-den. Diese Aufgabe übernehmen die hochspeziali-sierten, miteinander vielfältig verknüpften Ner-venzellen. Die Anzahl der Nervenzellen, nicht aberZahl und Art ihrer Verknüpfungen, ist bereits beiGeburt festgelegt. Wachstum und Reifung, z. B. inder Entwicklungsphase vom Säugling zum Schul-kind, bezieht sich somit nicht auf eine quantitativeZunahme von Nervenzellen, sondern auf den Zu-gewinn von Verknüpfungen (Synapsen).In den fol-genden Abschnitten werden Struktur und Funk-tion von Nervenzellen sowie die wichtigsten Zent-ren des Gehirns dargestellt. Es schließen sichÜberlegungen zum Thema Lernen,Wissenserwerbund Gedächtnis an.

Strukturell werden die Verknüpfungen zwi-schen den Nervenzellen ermöglicht durch zweiArten von Fortsätzen, die vom Zellkörper einerNervenzelle (Neuron) ausgehen und ein unter-schiedliches Erscheinungsbild und voneinanderabweichende Funktionen haben: den von vielenStellen des Zellkörpers ausgehenden, baumartigverzweigten Dendriten und dem von einer Stelledes Zellkörpers entspringenden, mehr strangartigerscheinenden, »nur« Seitenzweige abgebendenAxon, das eine beträchtliche Länge annehmen undgemeinsam mit anderen Axonen zu Nervenfaserngebündelt werden kann (markhaltige/markloseNervenfasern). Beide Arten von Fortsätzen ermög-lichen die Verknüpfung verschiedener Nervenzel-len miteinander. Dabei berühren sich die zu ver-knüpfenden Fortsätze der Nervenzellen an denKontaktstellen (Synapsen) nicht, sondern sie blei-ben durch einen dünnen Spalt getrennt (synapti-scher Spalt). Funktionell unterscheiden sich Den-driten und Axone darin,dass die Dendriten die ein-gehenden Informationen (Inputs) dem Zellkörperder Nervenzelle zuleiten, während Axone die vonder Nervenzelle ausgesendeten Informationen(Outputs) weitertransportieren. Der Transport derInformationen geschieht durch elektrische Energie(Ruhe/bzw. Aktionspotenzial),die an den Synapsenin chemische Energie überführt wird (Neurotrans-

mitter). Zu Beginn der modernen neurowissen-schaftlichen Forschung hoffte man, durch genaueUntersuchungen einzelner Nervenzellen und ihrerVerknüpfungen und den daraus gewonnenen Er-kenntnissen zu biologischen Grundlagen geistigerProzesse möglichst bald auch die komplexen Funk-tionen des Gehirns, wie abstraktes Denken, Emo-tionen, Gedächtnis, »Ich«-Bewusstsein usw., er-schließen zu können. Diese Hoffnung erwies sichjedoch als nicht einlösbar,da das Gehirn als Ganzesoffensichtlich weit mehr an Strukturen und Funk-tionen darstellt,als die Summe seiner einzelnen Be-standteile (Nervenzellen; Gliazellen; graue undweiße Substanz; Aufbau der Großhirnrinde). DerBegriff des Netzwerkes beschreibt die Komplexitätund Struktur des Gehirns sowie die Funktion sei-ner mannigfaltigen Verknüpfungen.

Um sich den Bauprinzipien von Netzwerkennähern zu können, ist es mit Hilfe von Elektronikund Computerwissenschaft möglich, in einigenFällen plausible Modelle von Nervenfunktionenund Netzwerken des Gehirns zu erhalten bzw.Vor-gänge zu simulieren.

15.1.4 Übersicht über das zentraleNervensystem

Nach der feinstrukturellen Kenntnis der Bausteinedes Nervengewebes ist eine Übersicht über das Ner-vensystem (.Abb.15.2) ein nächster Schritt,um dieLokalisation und den Zusammenhang der einzel-nen Bereiche zu verstehen,in denen Informationenaufgenommen, bearbeitet, abgelegt und abgerufenwerden.

Der hierfür wichtigste Teil des Gehirns, auf densich auch alle nachfolgenden Ausführungen bezie-hen, ist das Großhirn mit seinen verschiedenenStrukturen (die Großhirnrinde mit den entwick-lungsgeschichtlich älteren Teilen des Palaeo- undArchicortex und dem entwicklungsgeschichtlichneueren Neocortex, dem Sitz höherer kognitiverProzesse und die Basalkerne).

Page 349: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15.1· D

as Geh

irn15

33

9

. Abb. 15.2. Übersicht über das menschliche Nervensystem

Page 350: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15

340 Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen

15.1.5 Horizontale Verbindungen im Großhirn – die Großhirnrinde und die Großhirnhälften

Beim Betrachten des Gehirns fallen zwei symmet-rische Großhirnhälften (Hemisphären) auf,die mit-einander in Verbindung stehen. Die Verbindungzwischen rechter und linker Hemisphäre wirddurch den Balken (Corpus callosum) hergestelltund sichert einen fortwährenden Austausch zwi-schen beiden Hemisphären.Zunächst soll die äuße-re Schicht der Großhirnhälften, die Großhirnrinde(Cortex) ausführlicher beschrieben werden.

In der Großhirnrinde wird das Wissen nieder-gelegt, das wir im Lauf des Lebens erwerben. Diesbeinhaltet die Kenntnis der Umwelt und alle er-worbenen Fertigkeiten,einschließlich der Sprache.Die Beschaffenheit und die Zusammenhänge derAußenwelt werden in der Großhirnrinde über dieAktivierung von miteinander verbundenen Neuro-nen dargestellt; d. h., was »außen« geschieht, ent-spricht in der Großhirnrinde bestimmten Abfolgenvon Aktivitätszuständen der Neuronen. Unabhän-gig von der Außenwelt können wir aber auch »in-nere Geschehnisse« ablaufen lassen, die ebenfallszu bestimmten Abfolgen von Aktivitätszuständender Neuronen führen.Dieser Möglichkeit bedienenwir uns, wenn wir »denken«. Kenntnis der Umweltund Erwerb von Fertigkeiten werden im weitestenSinne durch die Verarbeitung von Sinneseindrückenund durch willkürlich ausgeführte Bewegungen er-langt. Die wichtigsten Aufgaben der Großhirnrindeliegen daher in der Verarbeitung von Sinnes-eindrücken und in der Steuerung der willkürlichenBewegungen.(Sensoren und Sinnessysteme; zentra-le sensorische Systeme – Motorische Systeme; Pyra-midenbahn und extrapyramidale Bahnen).

Sowohl die Verarbeitung von Sinneseindrückenals auch die Steuerung der willkürlichen motori-schen Bewegungen erfolgt in spezialisierten Berei-chen der Großhirnrinde, im so genannten senso-rischen sowie im motorischen Rindenfeld. Senso-risches und motorisches Rindenfeld weisen spe-zialisierte Areale auf, denen jeweils ein bestimmterTeil des Körpers zugeordnet ist. Die Größe dieserAreale gibt nicht »maßstabgerecht« die Größe derjeweiligen Körperteile wieder, sondern hängt viel-mehr von der jeweils erforderlichen Präzision einermotorischen Steuerung oder der jeweils benötigten

Sensibilität eines Sinnesorganes ab. So werden bei-spielsweise Gesicht und Hände auf ein weitausgrößeres Areal der Großhirnrinde projiziert alsRumpf oder Beine (sensorischer und motorischerHomunkulus).

Die Mehrzahl der verschiedenen Areale dessensorischen und des motorischen Rindenfeldesund damit der sensorischen und motorischenFunktionen finden sich symmetrisch auf jederHirnhälfte. Hierfür steht die Bezeichnung funktio-nelle Symmetrie. Im Laufe der Entwicklungsge-schichte wurden die sensorischen und motorischenFunktionen einer Großhirnhälfte der jeweils ge-genüberliegenden Körperhälfte zugeordnet,so dasssich die meisten Nervenfasern, die von den Sinnes-organen zum Großhirn bzw. vom Großhirn zu denMuskeln ziehen, kreuzen (z. B. teilweise Kreuzungder Sehnerven). Funktionelle Asymmetrie bedeu-tet,dass einige Funktionen nur einer Hirnhälfte zu-geordnet sind.In der linken Hirnhälfte befindet sichbei 98% aller Menschen das Sprachzentrum. Dieshat nichts mit der Händigkeit zu tun, da auch diemeisten Linkshänder ihr Sprachzentrum in der lin-ken Hirnhälfte haben. Weitere Unterschiede zwi-schen beiden Hirnhälften sind zum Beispiel dielinksseitig lokalisierte Verbindung zum Bewusst-sein und die rechtsseitig vorhandene Fähigkeit zurBild- und Mustererkennung (spezifische Funktio-nen der Hemisphären; Experimente von Sperry anSplit-Brain-Patienten; verschiedene Begriffe von Be-wusstsein).

In der Fachliteratur wird häufig von der linkenGehirnhälfte als der dominanten Hemisphäre undder rechten Gehirnhälfte als der subdominanten(untergeordneten) Hemisphäre gesprochen. Zwei-fellos sind Sprache, abstraktes Denken, Schreibenund Rechnen sowie die Kontrolle motorischer Vor-gänge (bei Rechtshändern) die herausragendenLeistungen der linken Hemisphäre,aber der Begriff»dominant« lässt leicht den Schluss zu, dass dieLeistungen der linken Gehirnhälfte bedeutsamerseien als die der rechten. Doch auch die rechte Ge-hirnhälfte stellt einen ebenso hoch entwickeltenund spezialisierten Teil des menschlichen Gehirnsdar und ist bei manchen Fähigkeiten, z. B. der Bild-und Mustererkennung, der eindeutig überlegenereTeil.Die Verschiedenartigkeit beider Gehirnhälftenund die daraus resultierende Vielfalt an Möglich-keiten, die Welt zu erschließen, lassen sich derge-

Page 351: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15.1 · Das Gehirn15341

stalt wertschätzen, dass wir die Begriffe dominan-te und subdominante Hemisphäre zu Gunsten desBegriffes komplementäre (sich einander ergän-zende) Hemisphären abändern. Dies bedeutetauch, dass sich Lehrende bei der Planung und Ge-staltung von Unterrichtsveranstaltungen überlegenmüssen, mit welchen Unterrichtsanteilen sie dieunterschiedlichen Fähigkeiten der Gehirnhälftenansprechen können, um ein (Lern-) Gebiet mög-lichst vielfältig zu erfassen.

Betrachten wir erneut die Fallgeschichte vonS. B., so könnte sie uns unter anderem dazu anre-gen, verschiedene Erfahrungen des Sehens bzw.Nicht-Sehens und des Tastens anhand praktischerÜbungen zu erfahren.Diese und weitere eigene Er-fahrungen können mit der Erarbeitung der Anato-mie, Physiologie und Pathophysiologie des Sehensund des Tastens sowie mit unseren bisherigen Er-lebnissen im Umgang mit Gepflegten verbundenund daraus ableitend Ziele für pflegerisches Han-deln entwickelt werden.

An dieser Stelle lässt sich leicht eine Brückezum »Lernen« schlagen, denn zwangsläufig führtdie Anmerkung zur Unterrichtsgestaltung zu derFrage,»wie« wir lernen.Doch zuvor ist ein weitererZwischenschritt erforderlich, um zu verstehen, wieGefühl und Motivation mit den Leistungen der bei-den Gehirnhälften verbunden sind und welcheStrukturen, außer der Großhirnrinde, eine bedeu-tende Rolle bei der Entstehung von Gedächtnisspielen.

15.1.6 Vertikale Verbindungenim Großhirn – die Großhirnrinde und das limbische System

Zwischen den einzelnen Bereichen des Gehirns be-steht eine komplexe Vernetzung. Neben der be-schriebenen horizontalen Integration der beidenGroßhirnhälften steht die Großhirnrinde mit »tie-feren« (subcorticalen) Anteilen des Gehirns in Ver-bindung.Ein Beispiel für diese Art von Verbindungist die zwischen Großhirnrinde und dem limbi-schen System (corticale und subcorticale Bestand-teile des limbischen Systems; corticale Kontroll-instanzen des limbischen Systems).Gemeinsam mitder Großhirnrinde kommt dem limbischen Systembei der Interaktion zwischen Organismus und Um-

welt die wichtige Rolle der Zusammenstellung undSteuerung von Stimmungen und Handlungsbe-reitschaften zu. Motivation und Emotion sowieSchlüsselfunktionen bei Lern- und Gedächtnispro-zessen gehen vom limbischen System aus. Aktuellaus der Umwelt aufgenommene Information wirdim limbischen System mit Informationen,die in derVergangenheit gespeichert worden sind,verglichenund erhält eine für den jeweiligen Organismus re-levante Bedeutungszuweisung. Als Folge dieser»Bearbeitung« entsteht ein bestimmtes, von Emo-tionen geprägtes Verhalten, das sich für den Orga-nismus als Reaktion auf seine Umwelt als bisherzweckmäßig und bewährt erwiesen hat.

Das komplexe Zusammenwirken zwischen denFähigkeiten der Großhirnrinde, den beiden Ge-hirnhälften und den subcorticalen Anteilen deslimbischen Systems wird als vertikale Integrationbezeichnet. Analog zu der Oberflächen- und Tie-fenstruktur von Netzwerken besitzt das Gehirn alsGanzes dieses Verknüpfungsmuster, wie sich amBeispiel der horizontalen Integration der beidenGehirnhälften und der vertikalen Integration voncorticalen und subcorticalen Strukturen erkennenlässt.

Die Fallgeschichte von S. B. zeigt, dass er trotz(oder wegen?) der wiedererlangten Sehfähigkeit ineine schwere Depression verfiel. Es wird deutlich,dass das »bloße« Aufnehmen und Verarbeiten vonEindrücken und Informationen aus der Außenweltnur ein Mosaikstück ist, uns die Welt zu erschlie-ßen, die Bewertung und Bedeutungszuweisung einweiteres. Richard L. Gregory schreibt, dass Depres-sionen bei Menschen, die das Sehen nach vielenJahren der Blindheit wiedererlangen, fast immerauftreten und vermutet:

7 Die Ursachen sind wahrscheinlich kom-

plex, doch zum Teil scheinen sie durch die

Erkenntnis bedingt zu sein, was ihnen

[den Menschen; Anmerk. d.Verf.] alles

entgangen ist – und zwar nicht nur im

Bereich der visuellen Erfahrung, sondern

auch an praktischen Möglichkeiten, die

ihnen während der Jahre der Blindheit

versagt waren. Einige Personen kehrten

sogar sehr bald in ihr lichtloses Leben

zurück und machten keinen weiteren

Versuch zu sehen (Gregory 2001, S. 192).

Page 352: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15

342 Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen

Neben der Steuerung von Stimmungen und Hand-lungsbereitschaften hat ein Teil des limbischen Sys-tems, der Hippocampus, die Aufgabe bei der Aus-bildung des Gedächtnisses mit den corticalenStrukturen (Großhirnrinde) zusammenzuarbei-ten. Somit wird Gedächtnis und Lernen erst durchdas Zusammenspiel beider Großhirnhälften, derGroßhirnrinde und den subcorticalen Strukturendes limbischen Systems möglich, das heißt durchdie horizontale und die vertikale Integration unse-rer Gehirnanteile (siehe auch Abb. 15.2).

15.1.7 Lernen und Gedächtnis

Lernen,Gedächtnis und Erinnerung befähigen uns,unser individuelles Verhalten den Bedingungen derUmwelt anzupassen.Ohne die Fähigkeit der neuro-nalen Netzwerke des Gehirns, Informationen auf-zunehmen, zu speichern und abzurufen, wäre dasÜberleben von Individuen und von Gruppen nichtmöglich.

Lernen ist von Wachstum und Reifung zu un-terscheiden, die als Voraussetzungen für Lernpro-zesse anzusehen sind.

Unter Lernen wird hier die Fähigkeit von Le-bewesen verstanden, aufgrund von Infor-mationen und Erfahrungen ein neues Ver-halten zu erwerben,das in ihrem bisherigenVerhaltensrepertoire nicht vorhanden war.

Um Lernen zu können, bedarf es neben äußerenGegebenheiten auch »innere« Voraussetzungen desNervengewebes: Durch genetisch gesteuerteWachstumsprozesse reifen beispielsweise synapti-sche Verbindungen heran und es werden »Grob-verbindungen« zwischen verschiedenen Bereichendes Nervensystems ermöglicht. Die genetisch ge-steuerten Wachstumsprozesse bilden eine Grund-lage, reichen jedoch alleine nicht aus, um Wahr-nehmung, Verhalten und Lernen zu ermöglichen.Dazu erfolgt die Ausbildung spezifischer Verbin-dungen zwischen Neuronen bzw. zwischen Synap-sen unter dem Einfluss biografisch früher Umwelt-auseinandersetzung.Eine lebenszeitlich frühe undangemessene Stimulation von Nervenzellen inner-

halb einer bestimmten, sogenannten »kritischenEntwicklungsperiode« ist somit die Voraussetzungfür alle weiteren (Lern-) Erfahrungen im Laufe desLebens. Werden beispielsweise nach der Geburtund in der frühen Kindheit bestimmte sensorischeKanäle (z. B. Sehen und Hören) oder motorischeAktivitäten nicht von außen angeregt, so bildensich die synaptischen Verbindungen für eine be-stimmte Fähigkeit nicht aus und das zugehörigeVerhalten kann auch später nicht mehr erlernt wer-den. Diese Beobachtung konnte an zahlreichenTierexperimenten bestätigt werden: Isoliert manjunge Affen von ihrer sozialen Umgebung, so ent-wickeln sie eine dauerhafte und irreversible Stö-rung ihres gesamten Sozialverhaltens und könnendieses auch zu einem späteren Zeitpunkt nichtmehr erlernen. Beim Menschen seien hier die Be-richte über Störungen nach dauerhafter Isolation(Kaspar Hauser) oder fehlenden sozialen Bezie-hungen (Beobachtungen an Waisenkindern vonR.A.Spitz 1973) erwähnt (Assoziation, Hebb’sche Re-gel; Neuroplastizität).

So ist auch in der Fallgeschichte von S. B. anzu-nehmen,dass durch die Erblindung in früher Kind-heit das »Sehen lernen« nicht vollständig erfolgenkonnte. Beim »Sehen lernen« werden die sensori-schen Signale, die über das Auge aufgenommenund im Gehirn bearbeitet werden, zum Wissen über die »gesehenen« Objekte in Beziehung gesetzt.Es geht somit bei der Verarbeitung der sensori-schen Signale im weitesten Sinne um das Erkennenund die Bedeutungszuweisung dessen,was wir »mitden Augen sehen«. Arbeiten die Augen »normal«,ist aber die Bedeutung der sensorischen Signalenicht vorhanden, so kann es, wie in der Fallge-schichte von S. B., dazu führen, dass trotz wieder-hergestellter Sehfähigkeit zunächst Dinge nichterkannt werden können. Obgleich verschiedeneSinneserfahrungen in unterschiedlichen,hoch spe-zialisierten Bereichen des Gehirns getrennt verar-beitet werden, kommen üblicherweise alle Sinnes-erfahrungen zusammen und ergeben eine einheit-liche Wahrnehmung (Perzeption) eines Objektes.Die genauen Vorgänge,die dies bewirken,sind nochnicht vollständig erforscht.Die Geschichte von S.B.zeigt aber auch, dass ein »Wissenstransfer« voneinem Sinnessystem zum anderen möglich ist, indiesem Fall vom Tastsinn zum (Seh-) Gesichtssinn:Er bediente sich seines Tastsinnes, um die Dinge

Wichtig

Page 353: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15.1 · Das Gehirn15343

wieder zu erkennen und zu »sehen«. Er hatte ge-lernt, wie man sieht, bevor er »sehen« konnte. Dassfür S. B. Sehen, wenn auch mit den beschriebenenEinschränkungen und Folgen, überhaupt wiedermöglich war, ist einem Phänomen zuzuschreiben,dessen Wichtigkeit im Alltag nur wenig beachtetwird: der neuronalen Plastizität.

Unter neuronaler Plastizität wird die bemer-kenswerte Fähigkeit des Gehirns verstanden, sichbeständig den Herausforderungen seines Ge-brauchs anzupassen. Dieser Fähigkeit liegen elek-trochemische Veränderungen an den Dendritenund im weitesten Sinne Abänderungen der Ver-knüpfungen zwischen den Neuronen zugrunde.Das heißt, das Gehirn und hier insbesondere dieHirnrinde ist eine sehr anpassungsfähige und sichselbst beständig optimierende Struktur.Durch denbesonderen Gebrauch des Tastsinns wird beispiels-weise den Fingern im sensorischen Rindenfeld derGroßhirnrinde ein größeres Areal zugeordnet.Ähnliches ist für Leser der Blindenschrift (Braille-schrift) bekannt.Ihrer rechten Zeigefingerkuppe istim Gehirn ein größeres sensorisches Areal zu-geordnet. Diese Anpassung erfolgt zeitlebens,wenngleich es, wie beschrieben, »kritische Ent-wicklungsperioden« gibt, in denen bestimmteFähigkeiten vollständig erworben werden. Mit zu-nehmendem Alter läuft der Anpassungsvorganglangsamer ab. Daher verlangt diese einzigartigeFähigkeit unseres Gehirns eine bewusste Fürsorge.Der Psychiater Manfred Spitzer schreibt in der »Ge-brauchsanweisung für Ihr Gehirn«:

7 Plastizität ist selbst ein positiver Wert und

lässt sich z. B. durch das Vermeiden von

Eintönigkeit fördern. Sie mahnt jedoch

auch, auf dem Menschen gemäße Erfah-

rungshorizonte zu achten. Um es dra-

stisch zu formulieren: Wer täglich zwei

Stunden Horror- und Gewaltfilme an-

schaut (oder, schlimmer noch, seine Kin-

der anschauen lässt), der sollte wissen,

dass dies Veränderungen im Gehirn be-

wirkt, die entsprechendes Verhalten be-

günstigen und damit letztendlich zu

mehr Horror und Gewalt in der realen

Welt beitragen.Wir sind es gewohnt, sehr

auf den Input für den Magen zu achten;

im Hinblick auf unser wichtigstes Organ,

das Gehirn, ist uns der Gedanke an eine

Diät sehr fremd. Dabei ist unser Gehirn

im Gegensatz zum Magen zeitlebens

plastisch wie eine Wachstafel. Achten

wir in Zukunft besser auf die Eindrücke!

(Spitzer 2000, S. 335)

Die Plastizität des Gehirns ist somit eine Voraus-setzung für das Lernen.Das Lernen selbst kann sichsowohl auf das Erlernen von Verhalten (implizitesLernen) als auch auf die Aneignung von Wissen (ex-plizites Lernen) beziehen (. Abb. 15.3; Behavioris-mus; kognitive Psychologie).

Diese Trennung von implizitem und explizitemLernen ist weitgehend eine analytische und sie istbedingt durch die verschiedenen wissenschaft-lichen Herangehensweisen und Forschungsgebiete,wie z. B. Neurophysiologie, Neuropsychologie, Pä-dagogik.

Wie in den vorangehenden Abschnitten darge-legt und aus der Fallgeschichte abzuleiten, ist imAlltag der Erwerb von Wissen eng mit emotionalenund motivationalen Aspekten verbunden. Ebensosind Lernen und Gedächtnis nicht voneinander zutrennen. Beide Begriffe bezeichnen den Vorgangder menschlichen Informationsverarbeitung, wo-bei Lernen die Prozesse der Aneignung und Ge-dächtnis die Vorgänge des Speicherns und Abru-fens von Informationen meint.Analog zum Lernenwerden zwei Arten des Gedächtnisses beschrieben,die in der Psychologie von verschiedenen For-schungsrichtungen untersucht werden: das explizi-te oder deklarative Gedächtnis, unter dem wir diebewusste Wiedergabe von Fakten und Ereignissenverstehen, und das implizite oder prozedurale Ge-dächtnis, welches beispielsweise für die Wiederga-be von Fertigkeiten und Gewohnheiten, Bewe-gungsfolgen und Regeln verantwortlich ist (sieheAbb. 15.3). Natürlich sind die Grenzen zwischen ex-plizitem und implizitem Lernen und Gedächtnisfließend.Während Verhaltensweisen auch ohne Be-teiligung des Bewusstseins erworben werden kön-nen, geschieht der Erwerb und die Wiedergabe vonWissen und Ereignissen bewusst. Es ist durch denWillen kontrollierbar und kann sprachlich ausge-drückt werden. Im Nachfolgenden soll auf das ex-plizite Lernen und Gedächtnis eingegangen werden.

Durch Wahrnehmung,Vorstellung,Denken,Ur-teilen und Sprache erlangt ein Mensch Kenntnis

Page 354: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15

344 Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen

von seiner Umgebung.Diese Vorgänge werden auchKognitionen genannt und durch sie wird Wissenerworben.Der Wissenserwerb ist kein passiver Vor-gang, bei dem analog des Bildes vom NürnbergerTrichter einem Menschen von außen Wissen einge-trichtert wird, sondern es wird ein vom Individu-um, ein von »innen« ausgehender, aktiver Struktu-rierungsprozess in Gang gesetzt. Dabei wird nichtnur völlig Neues gelernt,sondern häufig findet auchein »Umlernen« bzw. »Neuordnen« von bereits Er-worbenem statt. Durch kognitive Prozesse schafftsich der Mensch nicht nur (s)ein Bild von der Um-gebung, vielmehr beinhalten kognitive Prozessedie«inneren« geistigen Konstruktionen über dieUmwelt.Die Schilderungen über S.B.verdeutlichendabei die verschiedenen »Abbilder« von Wirklich-keit und ihren Einfluss auf die Existenz eines Men-schen.

Von den aus lernpsychologischer Sicht ver-schiedenen Aspekten des Wissenserwerbs sollen andieser Stelle zwei hervorgehoben werden: Die Ver-ankerung von neuem Wissens im Vorwissen wird inder Lernpsychologie als sinnvolles Lernen (Assi-milation) bezeichnet. Als praktisches Beispiel zur

Assimilation wurden im vorliegenden Text für dieLeser Verweise zu den bereits bekannten Wissens-gebieten kursiv dargestellt.

Umfangreiche Wissensgebiete können nur er-fasst und langfristig behalten werden, wenn sie alsNetzwerke abgespeichert wurden. Netzwerkezeichnen sich unter anderem durch eine hierarchi-sche Organisation (siehe das Inhaltsverzeichnisdieses Lehrbuches!) aus. Im vorliegenden Text sindsowohl die kursiv- als auch die fettgedruckten Be-griffe als Oberflächenstruktur eines Netzwerkesanzusehen,von der aus der Leser verschiedene Wis-sensdimensionen in die Tiefe erarbeiten kann.

Ebenso wie der Wissenserwerb als ein aktiver,vom Individuum ausgeführter Strukturierungs-prozess zu verstehen ist, ist das Gedächtnis keinpassiver Speicher. Lernen und Gedächtnis steht fürden Vorgang der menschlichen Informationsverar-beitung. Als Grundmodell lassen sich Aneignung,Speicherung und Abruf von Informationen analy-tisch voneinander trennen, deren konkrete Ab-grenzung »in der Realität« nicht wahrgenommenwerden (. Abb. 15.4).

. Abb. 15.3. Klassifikation und Lokalisation der Informationsverarbeitung. (Modifiziert nach Thompson 2001 und nachSchmidt 1998)

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15.1 · Das Gehirn15345

Auf die Wahrnehmung eines Außenreizes(Input) erfolgt die Informationsverarbeitung unddie Informationsspeicherung.Dabei ist Gedächtnisnicht als ein Ort im Großhirn zu verstehen, son-dern vielmehr als ein Zusammenwirken verschie-dener anatomischer Strukturen. Die Speicherungvon Gedächtnisinhalten erfolgt an verschiedenenStellen. So sind beispielsweise Teile des Schläfen-lappens für die Wiedererkennung von Bildern zu-ständig, Teile des Stirnlappens für die Speicherungder Reihenfolge der Bilder.Für den Erwerb von Fer-tigkeiten (implizites Lernen und Gedächtnis) istvor allem die Funktionstüchtigkeit sensomotori-scher Systeme und der Basalganglien des zentralenNervensystems erforderlich. Bei der Aneignungund Speicherung von Sachwissen spielen das me-diale Temporallappensystem (Hippocampus undumliegende corticale Strukturen) eine entschei-dende Rolle (siehe auch Abschn. 15.1.6). Bei derAlzheimer-Erkrankung findet sich eine Atrophie(Gewebsverlust) im Bereich des Hippocampus undin Arealen des Cortex. Dies erklärt unter anderemden Verlust an kognitiven Fähigkeiten, den Men-schen mit Alzheimer-Erkrankung erleiden.

Verarbeitete und gespeicherte Informationenkönnen ihrerseits die Aufnahme neuer Informatio-nen beeinflussen. Ob gespeicherte Informationenerfolgreich abgerufen und als Output (Leistung)abgegeben werden können, hängt eng mit der Artder zuvor stattgehabten Informationsverarbeitungzusammen.

Der Informationsfluss und die Speicherung vonInformationen lassen sich über das Dreispeicher-modell des Gedächtnisses (. Abb. 15.5) beschrei-ben: Das sensorische Gedächtnis nimmt Informa-tionen der Sinne auf. Die Speicherdauer ist sehr

kurz (weniger als eine Sekunde), die gespeicherteInformationsmenge sehr hoch. Die gespeichertenInformationen werden nicht alle bewusst wahrge-nommen und Informationen,denen wir keine Auf-merksamkeit zuwenden, gehen verloren. Das Kurz-zeitgedächtnis enthält bereits bearbeitetes Infor-mationsmaterial.Die Informationen werden für ca.3–4 Minuten gespeichert.Durch verschiedene Kon-trolltechniken, z. B. willentlich getätigte Wiederho-lungen von Worten oder Zahlen oder durch dasaktive Bearbeiten (wie beispielsweise die Verknüp-fung von neuem Wissen mit alten Gedächtnisin-halten) kann verhindert werden, dass Informatio-nen vergessen werden. Im Unterschied zum senso-rischen Gedächtnis hat das Kurzzeitgedächtnis nureine geringe Kapazität. Bei einem einmaligen In-formationsangebot können nur 7 Elemente behal-ten werden, wobei es sich überwiegend um Phone-me (sprachliche Einheiten) wie Buchstaben,Silben,Wörter, aber auch Zahlen handelt. Daraus ergibtsich,dass nicht mechanisches Wiederholen von In-formationen, sondern vor allem die Organisationvon Informationen – und damit von Lernmaterialim Rahmen des Studiums – eine bedeutsame Rollespielen. Dabei ist es für das jeweilige Individuumebenfalls von Bedeutung, ob die Informationen alsAussage,durch Bild und Sprache (d.h.analog),oderdurch Handlungen repräsentiert werden. In dasLangzeitgedächtnis abgelegte Informationen kön-nen dauerhaft, über die gesamte Lebensspannehinweg behalten werden. Die Informationskapa-zität ist sehr hoch und umfasst alle Lebenserinne-rungen und Kenntnisse. Eine umfangreiche undgut gegliederte Bibliothek mag hierfür als bildhaf-te Beschreibung dienen.

. Abb. 15.4. Differenzierte Betrachtung von Lernen und Gedächtnis als Vorgang menschlicher Informationsverarbeitung

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15

346 Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen

Informationen sind im Langzeitgedächtnisvor allem nach ihren Bedeutungen organi-siert und abgelegt. Der Abruf von Informa-tionen hängt eng mit der Verarbeitung zu-sammen, d. h. die Ähnlichkeit zwischenLern- und Abrufsituation spielt bei der Ge-dächtnisleistung eine Rolle. Ebenso ist be-kannt, dass das Wiedererkennen leichtergelingt als die aktive Reproduktion von Ge-lerntem und dass das Vergessen häufig aufnicht erfolgreich angewandte Suchmecha-nismen zurückgeführt werden kann (»esgeht mir im Kopf herum, aber ich bringe esnicht auf die Zunge«).

Die einzelnen Gedächtnisspeicher müssen zusam-menarbeiten, um die Informationsspeicherungbzw. den Informationsabruf zu gewährleisten: DieEinprägung in das Langzeitgedächtnis läuft stetsüber das Kurzzeitgedächtnis, die Wiedergabe vonInformationen aus dem Langzeitgedächtnis über

das Kurzzeitgedächtnis (Arbeitsspeicher). ZurÜberführung der Information vom Kurzzeitge-dächtnis in das Langzeitgedächtnis (Konsolidie-rung von Lerninhalten) ist die Intaktheit des Hip-pocampus erforderlich. Bei einer Schädigung desHippocampus können Individuen keine neuen In-formationen mehr speichern (anterograde Amne-sie) und die Fähigkeit des expliziten Lernens ist ge-stört. Nachdem die Informationen im Hippocam-pus konsolidiert wurden,erfolgt ihre Weitergabe indas Langzeitgedächtnis, d. h. an die verschiedenenAreale der Großhirnrinde.

Welche zellulären Prozesse liegen dem Drei-speichermodell zugrunde? Der Speicherprozess imKurzzeitgedächtnis beruht nicht auf permanentenÄnderungen der Verbindungen im Nervensystemwie z. B. der Ausbildung neuer Nervenbahnen oderneuer Synapsen.Es kommt stattdessen zu einer ver-stärkten Ausschüttung und damit erhöhten Akti-vität der Neurotransmitter aus den Synapsen deram Lernen beteiligten Neuronen.Der Überführungvon Inhalten vom Kurzzeit- in das Langzeitge-dächtnis (Konsolidierung) liegen spezielle elektro-physiologische Vorgänge an den Neuronen (Lang-

. Abb. 15.5. Der Informationsfluss durch das Gedächtnis

Wichtig

Page 357: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15.2 · Das Immunsystem15347

zeitpotenzierung, LTP) zugrunde.Es kommt hier zueiner über Minuten bis zu Stunden andauerndenerhöhten Erregbarkeit von Nervenzellen im Be-reich des Hippocampus und des Cortex. Währenddieser Zeit kann die Konsolidierung von Gedächt-nisinhalten stattfinden. Die Informationsspeiche-rung im Langzeitgedächtnis beruht auf struktu-rellen Veränderungen an den Neuronen, wie z. B.einer größeren Anzahl von synaptischen Verbin-dungen zwischen zwei Neuronen oder einemgrößeren aktiven Areal einer Synapse. Im Lauf derLernprozesse bleiben häufig benutzte Nervenver-bindungen erhalten,während selten oder kaum be-nutzte reduziert werden.

15.2 Das Immunsystem

15.2.1 Fallgeschichte

Die am längsten bekannte Infektionskrankheit desMenschen sind die Pocken. Pockennarben findensich bereits bei der aus dem Jahr 1160 vor Christusstammenden Mumie von Ramses V. Bis zum Endedes 18.Jahrhunderts waren die Pocken weltweit ver-breitet und wegen ihrer hohen Letalität für 20%aller Todesfälle weltweit verantwortlich, da ca. 70%der Erkrankten starben.

1772 kehrte der englische Arzt Eward Jenner

nach Abschluss seiner Ausbildung zum Chirur-

gen aus London in seine Heimat Gloucestershi-

re zurück und ließ sich als Landarzt nieder. Die

Pocken, gegen die noch kein entsprechendes

Mittel gefunden war, befielen auch die Region

Gloucestershire und zahlreiche Menschen er-

krankten und verstarben.Wie auch seine Kolle-

gen kannte Jenner die so genannte »Variola-

tion«, bei der gesunden Menschen der Eiter ei-

nes Pockenkranken geimpft wurde, um ihn mit

Pocken – deren Harmlosigkeit man erhoffte,

aber nicht nachweisen konnte – anzustecken

und auf diese Weise für die nachfolgende Infek-

tion (Reinfektion) zu immunisieren. Bei dieser

präventiven Anwendung der Variolation zeigte

sich allerdings, dass die Todesrate sehr hoch

war,da sie die Gefahr einer Ansteckung mit töd-

lichem Ausgang in sich barg. Jenner gab sich

mit diesem gefährlichen Verfahren nicht zufrie-

den und begann,die in ländlichen Gebieten be-

kannte Tatsache, dass an Kuhpocken Erkrankte

gegen (»Menschen«-) Pocken immun seien, zu

untersuchen.

Kuhpocken werden durch das Kuhpockenvirus,

Pocken beim Menschen durch das Variolavirus

hervorgerufen. Beide Virenarten gehören zur

Familie der Pockenviren (Poxviridae), zu der

auch das Vakziniavirus zählt, das heute zur Vak-

zinierung gegen Pocken verwendet wird. 1776

führte Jenner einen legendären Versuch durch,

der in dieser Form aufgrund ethischer Verein-

barungen und Vorschriften heute nicht mehr

möglich wäre. Beteiligt waren die an Kuh-

pocken erkrankte Magd einer Farm, Sarah Nel-

mes, und der junge, gesunde James Phipps.

Jenner impfte den Inhalt einer Kuhpockenpus-

tel von der Hand Sarah Nelmes in den Arm des

gesunden Jungen. 10 Tage später erschien an

der Impfstelle eine Impfpustel, die ohne Zwi-

schenfälle abheilte. Anschließend wurde der

weiterhin gesunde James mit dem Eiter eines

Pockenkranken geimpft. Diese Impfung blieb

ohne die befürchtete Nebenwirkung der Po-

ckenerkrankung mit unter Umständen tödli-

chem Ausgang; ein Beweis dafür, dass der

Knabe durch die zuvor erfolgte Impfung mit

den Kuhpockenviren gegen die (»Menschen«-)

Pocken immun war. Da er bewiesen hatte, dass

Kuhpockenerreger von Mensch zu Mensch

übertragen werden konnten und dabei ihre ge-

gen die Pocken schützende Eigenschaft behiel-

ten, wurde Jenners Impfung 1800 in der eng-

lischen Armee angewendet.

Dies war die Grundlage für die weltweite Anwen-dung dieser Impfung. In zahlreichen Ländern wur-de sie bis zur Ausrottung der Pocken 1980 zeitwei-se zur Pflichtimpfung erklärt (in Deutschland bis1983). Mittlerweile gelten die Pocken weltweit alsausgerottet.In Deutschland wurde 1972 zum letztenMal eine eingeschleppte Pockenerkrankung gemel-det. Zuletzt erkrankten 1977 in Somalia ca. 2000Menschen an Pocken. Das 1967 von der WHO ge-startete Ausrottungsprogramm der Pocken (Pro-

Beispiel

Page 358: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15

348 Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen

phylaxe durch Impfung) wurde am 8. Mai 1980 fürerfolgreich beendet erklärt.Auch wenn die Pockenin diesem Jahrhundert nicht mehr zu den Haupt-sorgen weltweiter Gesundheitsgefährdung zählen,darf nicht vergessen werden, dass wirkliche Ruhevor Pocken tatsächlich nur in den Ländern mithoch entwickelten wirtschaftlichen und sozialenStrukturen herrscht.

1997 trat in Zaire eine vom Affenpockenvirusverursachte Epidemie beim Menschen auf, die sichim Hinblick auf Übertragung,Verbreitung und Ver-lauf deutlich von allen bisher dokumentiertenPockenepidemien unterschied. Es stellt sich daherdie Frage, ob Mitglieder der Familie der Pockenvi-ren (Poxviridae; s. oben) über Tierpopulationenwieder den Weg in die menschliche Populationnehmen können. (Für weitergehende und aktuelleInformationen hierzu: Robert-Koch-Institut inDeutschland: http://www.rki.de und Weltgesund-heitsorganisation (WHO): http://www.who.ch)

1. Analysieren Sie die Fallgeschichte undbeschreiben Sie den Weg von der Infor-mationsaufnahme bis zur Reaktion desKörpers

2. Welche Fragen nach Grundlagen, Hin-tergründen und Zusammenhängen er-geben sich für Sie aus dem Text?

3. Verdeutlichen Sie die Hauptbestandtei-le des Immunsystems und ihre Bezie-hungen in einer graphischen oder sche-matischen Darstellung, wie Flussdia-gramm, Mind Map o.ä.

4. Fügen Sie als weiteren Schritt in Ihr Bildpraktische Beispiele aus der Pflege ein,die die Bedeutung des Immunsystemssowohl für Pflegende als auch für Ge-pflegte verdeutlichen.

15.2.2 Hinführung

In Abschn. 15.1 wurde bereits angedeutet, dass dasImmunsystem hinsichtlich des Umganges mit In-formationen bemerkenswerte Parallelen zu unse-rem Gehirn aufweist. Lange Zeit wurden verschie-

dene Organsysteme unseres Körpers isoliert be-trachtet und erforscht. Gerade bei Gehirn und Im-munsystem zeigt sich, dass von Seiten der Natur-wissenschaften das Begreifen von gemeinsamenLebensprinzipien verschiedener Organsysteme so-wohl für das wissenschaftliche Verständnis einesOrganismus als auch für den praktischen Umgangmit dem Individuum ein entscheidender Beitrag zueinem ganzheitlichen Verständnis des Menschenist. Damit wird auch ein Schritt zur Überwindungdes kartesianischen Weltbildes möglich, das bis aufden heutigen Tag die Medizin und in Teilen auchdie Pflege prägt. (Das kartesianische Weltbild um-fasst die Lehre des französischen Philosophen RenéDescartes (1596–1650), die unter anderem von derSelbstgewissheit des Bewusstseins und dem Leib-Seele-Dualismus gekennzeichnet ist.)

Die Fallgeschichte beschreibt die Geburtsstun-de der heutigen aktiven Impfung und ist vielen si-cher bekannt.Anders als bei den Fragen zur erstenFallgeschichte von S. B. sollten die Leserinnen undLeser durch diese Fallgeschichte dazu angeregt wer-den,sich die Bestandteile des Immunsystems noch-mals in das Gedächtnis zu rufen (siehe auch Ab-schn. 15.1.7) und ein Netzwerk »Immunsystem« zuerarbeiten. Dabei kann . Abb. 15.6 als Anregungund Diskussionsgrundlage für die Erarbeitung derFragen zur Fallgeschichte genutzt werden. Die ein-zelnen Bestandteile des Immunsystems werden inden nachfolgenden Abschnitten nicht mehr im De-tail vorgestellt.

Für die Auffrischung bereits bekannter Grund-lagen sei der Leser auf die Hilfen zum weiter-führenden Erarbeiten und Verknüpfen von Wissens-inhalten verwiesen. Die folgenden Erörterungenzeigen auf, wie die einzelnen Bestandteile des Im-munsystems miteinander kommunizieren und ver-weisen dabei auf die zentrale Eigenschaft des Im-munsystems: die Kommunikation. Außerdem sol-len Ähnlichkeiten mit der Informationsverarbei-tung im Gehirn dargestellt und betrachtet werden.

15.2.3 Das Immunsystem im Überblick

Für den menschlichen Organismus bedeutet derBegriff Immunität Abwehr von beziehungsweiseSchutz vor Erkrankungen, zum Beispiel vor Infek-tionskrankheiten, wie in der Fallgeschichte darge-

Wichtig

Page 359: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15.2 · Das Immunsystem15349

stellt.Als Immunsystem werden die Organe, Zellenund Botenstoffe bezeichnet, die für die Aufrechter-haltung der Immunität eines Organismus verant-wortlich sind (angeborenes und erworbenes Im-munsystem; zelluläre und humorale Bestandteiledes angeborenen Immunsystems; zelluläre und hu-morale Bestandteile des erworbenen Immunsys-

tems). Ständig wirken Informationen aus der be-lebten und unbelebten Außenwelt, aber auch ausdem Körperinneren auf das Immunsystem ein (An-tigene). Nach heutigem Verständnis wird die ge-meinsame und nach vorgegebenen, strukturiertenbiologischen Abläufen stattfindende Reaktion desImmunsystems auf diese Informationen als Im-

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Page 360: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15

350 Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen

munantwort bezeichnet. Die Immunantwort be-steht aus zwei Komponenten, der sogenannten un-spezifischen (angeborenen) und der sogenanntenspezifischen (erworbenen) Immunität.Bei der Ver-arbeitung von Informationen aus der Außenweltund aus dem Köperinnern arbeiten das unspezifi-sche und das spezifische Immunsystem zusammen,um so Veränderungen des immunologischenGleichgewichts zu verhindern und Krankheiten ab-zuwehren.

15.2.4 Infektionsabwehr am Beispiel der Immunabwehr von Viren

Gehen wir zurück zur Fallgeschichte: Was ge-schieht, wenn sich ein Mensch mit Pockenviren in-fiziert und an Pocken erkrankt? Ähnlich wie bei derInformationsverarbeitung im Gehirn bedeutet eineInfektion, dass Informationen von der Außenweltin den Organismus gelangen, die dieser weiter ver-arbeitet. Und ebenfalls den Vorgängen im Gehirnsehr ähnlich,wird auch hier überprüft, ob diese In-formation »völlig neu« ist oder bereits schon ein-mal »gespeichert« wurde. Dies ist eine Aufgabe dessogenannten immunologischen Gedächtnisses.

Diese Gedächtnisfähigkeit ist eines der zentra-len Charakteristika des Immunsystems (Gedächt-niszelle, aktive Impfung). Ein weiteres Charakteris-tikum ist die Fähigkeit zwischen »selbst« und»nicht-selbst« zu unterscheiden. Das bedeutet,dassdas Immunsystem zwischen den körpereigenenZellen (selbst) und körperfremden Zellen oderPartikeln (z. B. Bakterien,Viren, Pilzsporen, Staub-oder Asbestfasern) unterscheiden kann und nurKörperfremdes angreift und zerstört. Anders istdies bei allen Autoimmunkrankheiten, wie z. B.rheumatoider Arthritis, Diabetes mellitus Typ I,Colitis ulcerosa oder M.Basedow,bei denen das Im-munsystem mit den bislang als »selbst« erkannten,körpereigenen Zellen der Synovia, der Bauchspei-cheldrüse, des Darmes oder der Schilddrüse durchnoch nicht vollständig bekannte Prozesse plötzlichverfährt als seien sie »nicht-selbst«. Diese »Fehl-einschätzung« führt zur Zerstörung der köpereige-nen Zellen, analog der Zerstörung von körper-fremden Bakterien oder Viren. Und anders als beider Zerstörung von eingedrungenen Bakterienoder Viren wird nun der Zerstörungsprozess nicht

nach Beseitigung des Antigens beendet, sondernüber unbestimmt lange Zeitintervalle fortgesetzt(Autoimmunerkrankungen).

Gedächtnis und Unterscheidung zwischen»selbst« und »nicht-selbst« sind entschei-dende Charakteristika unseres Immun-systems.

Kehren wir zurück zu den in den Organismus ein-gedrungenen Pockenviren: Frei in der Blutbahn be-findliche Pockenviren könnten an Antikörper ge-bunden werden und dann mit Hilfe des aktiviertenKomplementsystems (Abb. 15.6, angeborenes Im-munsystem) so verändert werden, dass sie nichtmehr fähig wären, menschliche (Wirts-) Zellen zuinfizieren.Allerdings ist es ein Merkmal von Viren,dass sie sich in die Zellen und die Erbsubstanz(DNA) des Wirtsorganismus einschleusen und so-mit der Abwehr durch die Antikörper entgehenkönnen. Wie aber geht das Immunsystem mit Zel-len um, die zwar das Merkmal »selbst« tragen, abervon »nicht-selbst« infiziert sind (z. B. von Pocken-viren; gleiches gilt aber auch für HIV und andereViren)? Wie unterscheidet es beispielsweise die in-fizierten Haut- oder Schleimhautzellen im Falle ei-ner Pockeninfektion von den nicht-infizierten Zel-len?

Hier zeigt sich ein weiteres Charakteristikumder Informationsverarbeitung im Immunsystem:Wenn Informationen erkannt und weiterverarbei-tet werden sollen,müssen sie »nach außen«,»an dieOberfläche« gebracht werden.Die Oberfläche einerZelle,die als Kontaktfläche nach außen dient,ist dieZellmembran.Das Präsentieren von Informationenan der Zellmembran ist ein Weg, wie das Immun-system eine virusinfizierte Zelle des Wirtsorganis-mus erkennen kann.

In den vergangenen Jahren wurden grundle-gende Details der Struktur und Funktionsweise desImmunsystems erforscht, aus denen ein besseresVerständnis für die Entstehung und die Therapieeiner Vielzahl von Erkrankungen (z. B. Autoim-munerkrankungen, chronischen Wunden und In-fektionen, Allergien, Krebserkrankungen) abgelei-tet wurde.Diese Grundlagen lassen sich vereinfachtwie folgt darstellen:

Wichtig

Page 361: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15.2 · Das Immunsystem15351

Um dem Immunsystem die Information zu ge-ben, dass virusinfizierte Zellen im Körper vorhan-den sind,bringen die infizierten Wirtszellen Virus-teile an die Zelloberfläche und präsentieren sie denZellen des Immunsystems. Die Präsentation ge-schieht mit Hilfe einer bestimmten, taschenähnli-chen Struktur auf der Zelloberfläche, dem MHC-Klasse I-Komplex (Major Histocompatibility Com-plex), in die das Viruspartikel »hineingeschoben«wird. Üblicherweise werden in den »Taschen« desMHC-Klasse I-Komplexes, der sich auf der Ober-fläche aller kernhaltigen Zellen und den Thrombo-zyten befindet, körpereigene Partikel präsentiert,um so körpereigene Zellen gegenüber dem Im-munsystem als »selbst« zu kennzeichnen. DieserVorgang ist vergleichbar mit einer Passkontrolle aneiner Grenze. Die Zellen des Immunsystems habeneine Aufgabe analog der Aufgabe der Grenzschüt-zer: Sie kontrollieren einen »Ausweis« (MHC-Klas-se I-Komplex), der die Information »selbst« trägt.Zellen des Organismus, die diesen Ausweis »zei-gen«, werden nicht durch das Immunsystem ange-griffen (Ausnahmen sind die Autoimmunerkran-kungen). Zellen die den Ausweis »nicht-selbst«(z.B.Teile eines Pockenvirus) zeigen,werden durchdas Immunsystem angegriffen und zerstört. Durchdie Zellzerstörung wird dem Virus buchstäblich dieLebensgrundlage entzogen – es kann sich auf Kos-ten der Wirtszelle nicht weiter vermehren.

Bleibt genauer zu betrachten,wodurch und wievirusinfizierte Zellen zerstört werden. Hier kom-men die Zellen des spezifischen Immunsystems zumEinsatz: Präsentiert eine virusinfizierte Wirtszelleim MHC-Klasse I-Komplex Viruspartikel (Virusanti-gene), so docken zytotoxische T-Zellen (. Abb. 15.6),die auf ihrer Oberfläche eine spezifische Antigen-erkennungsstruktur, den T-Zellrezeptor, aufweisen,an den MHC-Klasse I-Komplex der Wirtszelle anund töten diese ab. Betrachten wir die Vielzahl voninfizierten Wirtszellen bei einer Pockenerkran-kung,so ist es einleuchtend,dass eine möglichst ra-sche und umfassende Zerstörung von virusbefalle-nen Zellen aus Sicht des Wirtsorganismus optimalwäre. Hier kommen die T-Helferzellen zum Einsatz:Auch sie können an einer Wirtszelle, die Viruspar-tikel als »nicht-selbst« im MHC-Klasse I-Komplexpräsentiert, andocken. Dabei zerstören sie jedochnicht unmittelbar die Wirtszelle. Vielmehr setztensie Botenstoffe frei (z. B. verschiedene Interleukine),

die über den Blutweg andere Zellen des spezifischenImmunsystems wie Makrophagen oder zytotoxi-sche T-Zellen anlocken.Die so angelockten und ak-tivierten Zellen töten die virusbefallene Wirtszelleab. Wie bei allen über den Blutweg in Gang ge-brachten, komplexen Reaktionsabläufen (verglei-che z.B.auch das Blutgerinnungs- und Fibrinolyse-system oder das Hormonsystem), führt die Akti-vierung der Makrophagen und der zytotoxischenT-Zellen zu einer kaskadenartigen Zunahme desgewünschten Effektes: Zytotoxische T-Zellen wer-den nicht nur angelockt, sondern vermehren sichauch durch die von den T-Helferzellen abgegebe-nen Botenstoffe und verstärken damit die Immun-antwort.

Trotz der beschriebenen Verstärkung der Im-munantwort durch die T-Helferzellen könnte es ge-schehen, dass eine virusinfizierte Zelle nicht recht-zeitig erkannt und zerstört wird,sich die Viren ver-mehren,die Wirtszelle zerstören und über die Blut-und Lymphbahnen durch den Körper wandern undneue Wirtszellen befallen.

Welche Möglichkeiten hat der Organismusdann zu reagieren? Im Blut und in den verschie-densten Organen befinden sich die Makrophagensowie die ortsständigen Zellen aus der Familie derantigenpräsentierenden Zellen (APZ) des angebo-renen Immunsystems (.Abb.15.6).Sie nehmen dasVirus auf (Antigenaufnahme), bearbeiten es (Anti-genprozession) und zeigen den anderen Zellen desImmunsystems (Antigenpräsentation) mit Hilfe desMHC-Klasse II-Komplexes, der sich ausschließlichauf den Makrophagen und den Lymphozyten be-findet,Viruspartikel an der Zelloberfläche. Es istdas gleiche Prinzip wie bei dem erworbenen Im-munsystem: Informationen, d. h. Kenntnisse überdie Struktur des Antigens (z. B. des Pocken-Virus),werden – diesmal nicht von Wirtszellen, sondernvon Immunzellen – in die Zelle aufgenommen undbearbeitet. Schließlich werden sie an die Zellober-fläche gebracht, um den anderen Zellen des Im-munsystems präsentiert zu werden. Dadurch kanndie Immunreaktion in Gang kommen. Im Falle derAntigenpräsentation durch die Makrophagen bzw.durch andere Mitglieder der APZ-Familie könnendie T-Helfer-Zellen des erworbenen Immunsystemsan den MHC-Klasse II-Komplex andocken. Im wei-teren Verlauf vermehren sich zytotoxische T-Zellenund zerstören noch im Organismus befindliche,

Page 362: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15

352 Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen

infizierte Wirtszellen,die sich über den MHC-Klas-se I-Komplex als virusinfiziert (»nicht-selbst«) zuerkennen geben. Über diesen Weg ist es möglich,die Immunantwort ebenfalls zu verstärken, so dassdurch das Zusammenspiel zwischen den Zellen derAPZ-Familie und der T-Zell-Familie (und somit desangeborenen und des erworbenen Immunsys-tems) eine höchst effektive Bekämpfung der in denOrganismus eingedrungenen Erreger möglich ist.

Nach erfolgter Bekämpfung der Erreger mussdas Immunsystem vom aktivierten Zustand wiederin den »Normalzustand« überführt werden. Hier-für sorgen die T-Suppressorzellen, indem durch sieund über Botenstoffe die Aktivität der zytotoxi-schen T-Zellen und der T-Helferzellen herunterre-guliert wird.Fände dieser Vorgang nicht statt,kämees zu einer andauernden Immunreaktion mit nach-teiligen Folgen für den Organismus.An dieser Stel-le sei darauf verwiesen, dass Arzneistoffe, die dasImmunsystem unspezifisch »anregen«, unter Um-ständen gerade sinnvolle Vorgänge des Herunter-regulierens des Immunsystems ungünstig beein-flussen können. Hier ist weitere Forschung und einvorsichtiger Umgang mit verschiedenen, zum Teilfrei verkäuflichen, oft pflanzlichen Substanzen, de-nen eine »Anregung« oder »Unterstützung« desImmunsystems nachgesagt wird, geboten.

Doch die T-Helferzellen nehmen noch eine wei-tere Aufgabe wahr: Einmal aktiviert, »helfen« siebei der Aktivierung der Zellen der B-Familie. Durchdie von den T-Helferzellen ausgeschütteten Boten-stoffe entstehen Plasmazellen und B-Gedächtnis-zellen; die Plasmazellen produzieren Antikörper,die in der Lage sind,freie Antigene (z.B.freie Viren)zu binden (Antigen-Antikörper-Reaktion). Eineausreichende Anzahl von Antikörpern findet sichnach ca. 8 –10 Tagen; schwere Krankheitssympto-me bei Infektionserkrankungen klingen meist nach8–10 Tagen ab.

Die produzierten Antikörper sind für das je-weilige Antigen spezifisch. Antigenspezifität, so-wohl bei den Antikörpern als auch bei den T-Zell-rezeptoren, ist ein weiteres Charakteristikum desImmunsystems. Somit konnte die Pockenimpfungvon Jenner nur Erfolg haben,weil eine große Über-einstimmung in der Struktur des Antigens »Kuh-pocken« und des Antigens »Menschenpocken« be-steht und die Antikörper, die der Impfling auf diegeimpften Kuhpocken bildete,auch zur Abwehr der

Menschenpocken dienen.Es sei an dieser Stelle an-gemerkt, dass viele Viren ihre Oberflächengestalthäufig verändern und so die durch Impfungen er-zeugten Antikörper einen Impfling nur bedingtoder auch gar nicht schützen können. Dieser Sach-verhalt ist beispielsweise in der Herstellung vonwirksamen Impfstoffen gegen HIV relevant und er-klärt, warum solche Impfstoffe derzeit noch nichtverfügbar sind.

Die Gedächtniszellen, sowohl in der T- als auchin der B-Familie, dienen dazu bei erneutem Kon-takt des Organismus mit einem bekannten Erregerdie gesamte Reaktion des Immunsystems schnellerund damit noch effektiver ablaufen zu lassen. Da-bei kann es dazu kommen, dass bei einem zweitenoder weiteren Kontakt des Organismus mit einemErreger ein subjektives Krankheitsgeschehen nichtmehr bemerkt wird, wie auch in der Fallgeschichtedargestellt.

Als Charakteristika des Immunsystems bei derInformationsverarbeitung ergeben sich zusam-menfassend:4 Erkennen von »selbst« und »nicht-selbst«,4 Spezifität (der T- und B-Zell-Reaktion)4 Gedächtnis und4 Kommunikation über Oberflächenstrukturen

(MHC-I und II-Komplexe) und Botenstoffe.

15.2.5 Analogien zwischen Gehirn und Immunsystem

Betrachtet man sowohl im Nervensystem als auchim Immunsystem diejenigen Strukturen,die für dieAufnahme,Verarbeitung,Speicherung und den Ab-ruf von Informationen verantwortlich sind, so er-geben sich faszinierende Ähnlichkeiten (. Abb.

15.7).Die Zellen des Gehirns und die Zellen des Im-

munsystems verfügen über zum Teil identischeKommunikationsmoleküle. Die biologischen Ant-worten auf Informationen aus der Außen- und In-nenwelt des Organismus, die jeweils das Gehirnoder das Immunsystem oder beide Systeme gleich-zeitig erreichen, können auf diese Weise äußerstdifferenziert abgestimmt werden. Spätestens hierzeigt sich, dass aufbauend auf die beiden darge-stellten Organsysteme Gehirn und Immunsystemeine vertiefende Beschäftigung mit dem Zusam-

Page 363: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15.2 · Das Immunsystem15353

menspiel von Gehirn und Immunsystem und dendaraus resultierenden Auswirkungen auf unsereGesundheit und auf den Verlauf verschiedener Er-krankungen ein lohnendes interdisziplinäres (Un-terrichts-) Projekt sein kann. Die in diesem Beitragdargestellten Informationen sollten als Grundlage

für solche zukünftigen Projekte dienen. In der wei-terführenden thematischen und inhaltlichen Vor-bereitung der Projekte können auch die in den letz-ten Jahren veröffentlichten Forschungsergebnisseaus dem Gebiet der Psycho-Neuro-Immunologievielfältige Anregungen bieten (siehe auch Empfeh-

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Page 364: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15

354 Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen

lungen zum Weiterlernen). Als Einstieg hierzu die-nen folgende Fragen:4 Welche Gemeinsamkeiten und welche Unter-

schiede in der Informationsverarbeitung vonGehirn und Immunsystem können Sie heraus-arbeiten? Nutzen Sie dazu auch die Abb. 15. 7.5 Stellen Sie die Ergebnisse in einer Tabelle

oder einer anderen grafischen Struktur ge-genüber.

5 Welches Wissen und welche praktischenKonsequenzen können Pflegende für ihreunterschiedlichen Tätigkeitsfelder darausableiten?

5 Welche didaktischen Konsequenzen leitenSie als Pflegepädagoge daraus für die Unter-richtsplanung,die Unterrichtspraxis und diePraxisanleitungen ab?

3 ZusammenfassungDie vielfältigen Eindrücke, die wir ständig aus derUmwelt erhalten,werden von unserem Organismusempfangen,aufgenommen,verarbeitet,gespeichertund abgerufen. Diese Vorgänge ermöglichen es»außen« und »innen« zu unterscheiden, uns abzu-grenzen, aber auch Verbindungen zwischen »au-ßen« und »innen« herzustellen und zu gestalten.Dies kann bewusst oder unbewusst, d. h. nicht wil-lentlich herbeigeführt und bemerkt, geschehen.Ausgehend von je einer Fallgeschichte in Bezug aufdas Gehirn und das Immunsystem wird dargestellt,wie die einzelnen Schritte der Informationsauf-nahme und -verarbeitung vollzogen werden undauf Ähnlichkeiten beider Organsysteme in der In-formationsverarbeitung eingegangen. Dabei wer-den immer wieder Verknüpfungen zu bereits vor-handenem Kontextwissen der Leserinnen und Le-ser aufgezeigt. Ganz im Sinne der biologischenInformationsverarbeitung in unserem eigenen Ge-hirn können bei der Lektüre des Kapitels von denLeserinnen und Lesern eigene Netzwerke zumThema Gehirn und Immunsystem angelegt, bzw.bereits bestehende, erweitert werden. Diese Netz-werke ermöglichen auch Verknüpfungen zu ande-ren Grundlagenfächern wie Pädagogik, Psycholo-gie oder Ethik.

Beschäftigen wir uns auf eine solche Weise mitden naturwissenschaftlichen Grundlagen der Pfle-ge, eröffnen wir uns die Möglichkeiten, uns selbstund andere besser zu verstehen und mit uns selbst

und anderen besser umzugehen – auch in der Aus-übung unseres Berufes.

3 Methodische Hinweise für die Seminargestaltung

1. Fallgeschichten, praktische Übungen, Modelle,Medien

Sowohl für die Beschäftigung mit dem Gehirn alsauch mit dem Immunsystem bilden Fallgeschichtenoder praktische Übungen zum Lernen oder Wahr-nehmen den besten Einstieg,um Neugier zu weckenund Wissen über pflegerelevante biologischeGrundlagen zu vermitteln. Des Weiteren ist es hilf-reich, Modelle selbst herzustellen, um anatomisch-räumliche Vorstellungen zu entwickeln und physio-logische Vorgänge zu »begreifen«. Beispielsweisekönnte eine Nervenzelle oder Synapse gezeichnetoder mit Ton bzw. ähnlichen Materialien plastischdargestellt und eingefärbt werden, ebenso die ein-zelnen Zellen des Immunsystems. Dazu könnenVorlagen aus Büchern genutzt werden. Neben derAneignung von Wissen schärft die eigene Herstel-lung von Modellen den ästhetischen Sinn der Ler-nenden und gibt Sicherheit, um unter dem Einflussder Medienflut bei der Auswahl neben einer mög-lichst naturgetreuen auch auf eine würdevolle Dar-stellung zu achten. Für Studierende der Pflege-pädagogik würde sich an dieser Stelle eventuell einfächer- oder fachbereichsübergreifender Exkurs imAufsuchen und Bewerten von Lehr- und Lernmate-rial verschiedener Anbieter, einschließlich frei ver-fügbarer Bilddateien im Internet, empfehlen.

Ein weiteres Projekt zu einem jeweiligen Unter-richtsthema wäre es, einen Reader anzulegen mitAngaben, wo und wie das Thema in der Literatur,der Musik, der Malerei oder dem Film behandeltwird.

2. Planung und Verknüpfung weiterer verwandter Themen

Ausgehend von den hier dargestellten Grundlagenbeider Organsysteme können fächerübergreifendeUnterrichtseinheiten zu weiterführenden Themengeplant werden. Nach der Beschäftigung mit demThema Lernen könnte z. B. die senile Demenz vomAlzheimer-Typ besprochen werden. Dabei könnendie Lernenden in verschiedenen Arbeitsgruppen

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15.2 · Das Immunsystem15355

die unterschiedlichen Aspekte der Erkrankung undPflege der Betroffenen sowie die Probleme der An-gehörigen erarbeiten.Dies kann durch Kontaktauf-nahme zu örtlichen Selbsthilfegruppen, Interviewsmit Angehörigen und Pflegenden der Altenpflegeergänzt werden. Die gesammelten Erkenntnissekönnen gemeinsam ausgewertet werden. Darankönnen sich Überlegungen zu Möglichkeiten undGrenzen anschließen, wie und wo Pflegende dieRessourcen von Betroffenen,von Angehörigen undvon sich selbst stärken können. Des Weiteren kannüberlegt werden, an welcher Stelle externe Exper-ten einen Teilaspekt, z. B. über den personenzen-trierten Ansatz von Tom Kitwood oder über Pro-bleme der Pflegeversicherung bei Menschen mitDemenz, referieren können.

3 Empfehlungen zum Weiterlernen

Lehrbücher bzw. populärwissenschaftlicheBücher über das Gehirn und die Neurowissenschaften

4 Fonds »Jahr des Gehirns 1999« (Hrsg) (1999)Das menschliche Gehirn. Aufbau, Funktions-weisen und Fähigkeiten eines erstaunlichen Or-gans. Christian Brandstätter,Wien, München

4 Herschkowitz N (2002) Das vernetzte Gehirn.2. Aufl. Huber,Bern, Göttingen,Toronto,Seattle

4 Norretranders T (1998) Spüre die Welt. Die Wis-senschaft des Bewusstseins. Rowohlt, Reinbekbei Hamburg

4 Schmidt RF (Hrsg) (1998) Neuro- und Sinnes-physiologie. Springer, Berlin, Heidelberg, NewYork

4 Spitzer M (2000) Geist im Netz. Modelle für Ler-nen, Denken und Handeln. Spektrum, Heidel-berg, Berlin

4 Spitzer M (2002) Lernen. Gehirnforschung unddie Schule des Lebens. Spektrum, Heidelberg,Berlin

4 Thompson RF (2001) Das Gehirn: von der Ner-venzelle zur Verhaltenssteuerung. Spektrum,Heidelberg, Berlin

Weitere Informationen und viele interessanteBeiträge zu Forschungsergebnissen der Neurowis-senschaften sind im Internet zu finden unterwww.spektrum.de

Ein vertiefendes Buch zum Thema Lernen

4 Edelmann W (2000) Lernpsychologie. 6.Auflage.BeltzPVU,Weinheim

Bücher zum Thema »Konstruktivismus;Konvergenz von Natur- und Geisteswissenschaften«

4 Maturana HR,Varela FJ (1987) Der Baum der Er-kenntnis. Die biologischen Wurzeln menschli-chen Erkennens. Scherz, Bern München

4 Watzlawick P (Hrsg) (1985) Die erfundene Wirk-lichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glau-ben? Piper, München Zürich

Populärwissenschaftliche Bücher über das Immunsystem und über Psycho-Neuro-Immunologie

4 Miketta G (1991) Netzwerk Mensch. Psychoneu-roimmunologie: Den Verbindungen von Körperund Seele auf der Spur. Eine neue Wissenschaftrevolutioniert unser medizinisches Weltbild.Thieme, Stuttgart

4 Zänker K (1996) Das Immunsystem des Men-schen: Bindeglied zwischen Körper und Seele.Beck, München

Weitere Informationen und interessante Beiträgezu Forschungsergebnissen der Immunologie undder Psycho-Neuro-Immunologie, auch in Verbin-dung mit Erkenntnissen aus der Stressforschung,sind im Internet zu finden unter www.spektrum.de

Literatur

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3. Aufl. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln

Edelmann W (2000) Lernpsychologie. 6. Aufl. BeltzPVU, Weinheim

Fonds »Jahr des Gehirns 1999« (Hrsg) (1999) Das menschliche Ge-

hirn. Aufbau, Funktionsweisen und Fähigkeiten eines er-

staunlichen Organs. Christian Brandstätter, Wien München

Gregory RL (2001) Auge und Gehirn. Psychologie des Sehens. Ro-

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gang mit verwirrten Menschen . Hans Huber, Bern Göttingen

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Maturana HR,Varela FJ (1987) Der Baum der Erkenntnis. Die biolo-

gischen Wurzeln menschlichen Erkennens.Scherz, Bern Mün-

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Miketta G (1991) Netzwerk Mensch. Psychoneuroimmunologie:

Den Verbindungen von Körper und Seele auf der Spur. Eine

neue Wissenschaft revolutioniert unser medizinisches Welt-

bild. Thieme, Stuttgart

Page 366: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

15

356 Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen

Norretranders T (1998) Spüre die Welt. Die Wissenschaft des Be-

wusstseins. Rowohlt, Reinbek

Schmidt RF, Thews G, Lang F (Hrsg) (2000) Physiologie des Men-

schen. 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York

Schmidt RF (Hrsg) (1998) Neuro- und Sinnesphysiologie. Springer,

Berlin Heidelberg New York

Spitz RA (1973) Die Entstehung der ersten Objektbeziehungen.

3. Auflage. Klett, Stuttgart

Spitzer M (2000) Geist im Netz. Modelle für Lernen, Denken und

Handeln. Spektrum, Heidelberg Berlin

Thompson RF (2001) Das Gehirn: von der Nervenzelle zur Verhal-

tenssteuerung. Spektrum, Heidelberg Berlin

Watzlawick P (Hrsg) (1985) Die erfundene Wirklichkeit.Wie wissen

wir, was wir zu wissen glauben? Piper, München Zürich

Zänker K (1996) Das Immunsystem des Menschen: Bindeglied zwi-

schen Körper und Seele. Beck, München

Page 367: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

16

Public Health in Deutschland –Entwicklungen in der Forschung,der Lehre und Transfer in die Versorgungspraxis

Ulla Walter, Martina Plaumann

16.1 Was ist Public Health? 358

16.1.1 Inhalte und Felder von Public Health 359

16.1.2 Charakteristika von Public Health 362

16.2 Entwicklung und Konsolidierung von Public Health

in Deutschland 362

16.2.1 Förderung von Public Health 362

16.2.2 Was wurde erreicht? Bilanz und Perspektiven 363

Page 368: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

16

358 Kapitel 16 · Public Health in Deutschland

> ThesenIn der aktuellen Diskussion um das Gesund-

heitswesen in Deutschland stellen sich in der

täglichen Versorgungspraxis wie auch für die

Gesundheitspolitik viele Fragen, die nur ge-

meinsam und schrittweise gelöst werden kön-

nen. Schlüsselfragen sind u. a.

5 Wie kann die Gesundheit der Bevölkerung

verbessert bzw. gesichert werden?

5 Verbessert sich die Gesundheit der Bevölke-

rung in den kommenden Jahren weiter? Wie

können die Krankheitsrisiken vermindert und

die Gesundheitsressourcen gefördert wer-

den?

5 Wie wirkt sich die (zunehmende) soziale Un-

gleichheit auf die Gesundheit der Bevölke-

rung aus?

5 Wie und in welchen Bereichen kann und soll-

te die Kompetenz und Selbstverantwortung

der Bürger gestärkt werden?

5 Wie sieht die Inanspruchnahme von Gesund-

heitsleistungen durch die Bevölkerung aus?

Gibt es Unterschiede zwischen einzelnen Be-

völkerungsgruppen? Haben Frauen,sozial Be-

nachteiligte und Ältere hinreichenden Zu-

gang zur gesundheitlichen Versorgung? Wie

könnte dieser Zugang optimiert werden?

5 Wie wirkt sich der (gesellschaftlich ge-

wünschte) demographische Umbau auf die

gesundheitliche und soziale Versorgung aus?

Wie kann der prognostizierte Zusatzversor-

gungsbedarf bewältigt werden?

5 Was bestimmt die Wirksamkeit von Gesund-

heitsleistungen? Wie kann diese gemessen

werden?

5 Wie können die Gesundheitsleistungen wirk-

sam und effizient erbracht werden? Wie las-

sen sich Über-, Unter- und Fehlversorgung

verringern?

5 Welche Bedeutung haben Anreize beim An-

gebot und bei der Inanspruchnahme von Ge-

sundheitsleistungen? Wie können sie gesteu-

ert werden?

5 Welche Faktoren bestimmen die Kostenstei-

gerung im Gesundheitswesen? Wie kann die

Finanzierung von Leistungen des Gesund-

heitswesens am besten gewährleistet wer-

den?

3 Berufliche Handlungskompetenzen

2 FachkompetenzInhalte und Themenfelder von PublicHealth aufzeigen.Charakteristika von Public Health benen-nen.Die Entwicklung von Public Health inDeutschland kennen und historisch ein-ordnen.Möglichkeiten eines Transfers einer an-wendungsorientierten »Disziplin« ermit-teln und ihre Bedeutung beurteilen.

3 PraxisrelevanzPublic Health ist mittlerweile auch in Deutschlandein zentraler Bestandteil der Gesundheitspolitik.Dementsprechend ist es für Pflegepädagogen un-verzichtbar, Inhalte und Methoden von PublicHealth im eigenen Studium kennen zu lernen.

Im zukünftigen Arbeitsfeld der Pflegepädago-gen wird die Relevanz dieses Bereichs noch zuneh-men, da Strukturveränderungen im Gesundheits-wesen zur Generierung eines einheitlichen Qua-litätsstandards und zur Sicherung der Finanzier-barkeit dringend geboten erscheinen.

Dies betrifft nicht nur die Pflegeforschung,son-dern auch die Lehre, da die zukünftigen Auszubil-denden sich in den Strukturen des Gesundheits-systems zurechtfinden müssen.

3 VerfahrensstrukturDas Mind Map verdeutlicht, um was es sich bei»Public-Health« handelt (. Abb. 16.1). Dazu zählenzuvorderst verschiedene Charakteristika, eine De-finition von Public-Health sowie ihre Inhalte undFelder. Im Wesentlichen geht es darum herauszu-stellen,welcher Entwicklungsstand in Deutschlandzu verzeichnen ist, und was bis dato erreicht wor-den ist.

16.1 Was ist Public Health?

Public Health greift aktuelle Probleme zur Gesund-heit der Bevölkerung sowie zentrale Fragen des Ge-sundheitssystems auf.Public Health versucht dabei

Page 369: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

16.1 · Was ist Public Health?16359

aus wissenschaftlicher Sicht die Situation zu analy-sieren, (alternative) Verfahren hinsichtlich ihrerWirksamkeit und Wirtschaftlichkeit zu evaluierenund Lösungsansätze sowie vorausschauende Hand-lungsstrategien aufzuzeigen.

Public Health hat sich in Deutschland erst inden 90er Jahren des 20. Jahrhunderts etabliert.Wörtlich übersetzt bedeutet Public Health öffentli-che Gesundheit und weist damit auf den Bevölke-rungsbezug hin. Aufgrund der Nähe dieser Über-setzung zum öffentlichen Gesundheitswesen wirddie direkte Übersetzung allerdings kaum verwen-det.

Teilweise wird auch der Begriff »Gesundheits-wissenschaften« in Anlehnung an den Terminus»Gesundheitswissenschaft« von Gottsein, Schloss-mann und Teleky 1925 und in Abgrenzung zur Me-dizin als »Krankheitswissenschaft« verwendet(Hurrelmann u.Laaser 1998).Allerdings sind wederPublic Health noch die Medizin ausschließlichgesundheits- bzw. krankheitsbezogen. Vielmehrergänzt Public Health mit der vor allem auf dieBevölkerung bzw. Teilpopulationen gerichtetenPerspektive die individuenbezogene Sichtweise z.B.der Medizin (und Psychologie) und geht mit derSystembetrachtung über die klinische Perspektivehinaus (zu Public Health und klinische Medizin sie-he Raspe 2003, zu Public Health und Gesundheits-psychologie siehe Weitkunat et al. 1997). Dieseswird in der nachfolgenden Definition deutlich.

»Public Health umfasst alle Analysen undManagement-Ansätze,die sich vorwiegendauf ganze Populationen oder größere Sub-gruppen beziehen, und zwar organisierba-re Ansätze bzw. Systeme der Gesundheits-förderung, der Krankheitsverhütung undder Krankheitsbekämpfung unter Einsatzkulturell und medizinisch angemessener,wirksamer, ethisch und ökonomisch ver-tretbarer Mittel.« (Schwartz 2003, S. 3)

16.1.1 Inhalte und Felder von Public Health

Entsprechend dieser Definition sind die Inhalte vonPublic Health vielfältig. Sie umfassen:4 die Identifikation von Krankheitsrisiken und

Gesundheitsressourcen,4 die systematische Erfassung von Krankheiten,

Gesundheitsstörungen und Behinderungen,4 die Entwicklung von Strategien der Vermei-

dung von Gesundheitsstörungen/Krankheitenund der Verbesserung der Gesundheit,

4 die Analyse der gesundheitlichen Versorgungund die Optimierung des gesundheitlichenOutcomes sowie

4 die Analyse und Optimierung der Inputs undProzesse zur Steuerung der Gesundheitsversor-gungssysteme bzw. -subsysteme.

. Abb. 16.1. Verfahrensstruktur

Wichtig

Page 370: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

16

360 Kapitel 16 · Public Health in Deutschland

Die Ermittlung von Belastungen, die die Gesund-heit der Bevölkerung bzw. von Teilgruppen häufigund nachhaltig beeinflussen, ist Gegenstand derEpidemiologie.Für die wichtigsten infektiösen undchronischen Krankheiten wurden im vergangenenJahrhundert die wesentlichen Hauptrisikofaktorenidentifiziert.Dabei zeigt sich für chronische Krank-heiten wie z.B.Herz-Kreislauf-Erkrankungen,aberauch für Diabetes mellitus,Bronchialkarzinom undAtemwegserkrankungen, dass zahlreiche Risiko-faktoren in soziökonomisch benachteiligten Grup-pen oft ungünstigere Durchschnitts- bzw. Vertei-lungswerte haben als in der sozialen Mittel- bzw.Oberschicht (Mielck 2000, Brenner 1999). Grund-sätzlich können folgende Faktoren diese Unter-schiede mit erklären: Lebensbedingungen (Ar-beitsbedingungen, Wohnumfeld, gesundheitlicheVersorgung etc.), gesundheitsrelevantes Verhalten(Ernährung, Bewegung etc.), verfügbare Gesund-heitsressourcen sowie soziodemographische Vari-ablen (Bildung, beruflicher Status, Einkommen).

Einen Überblick über die Gesundheit (undKrankheitshäufigkeit und -verteilung) der Bevöl-kerung und ausgewählter Teilgruppen gibt die Ge-sundheitsberichterstattung (GBE). Sie umfasst pe-riodische Berichte auf kommunaler, Landes- undBundesebene über die Gesundheit der Bevölke-rung, über bedeutsame Gesundheitsrisiken undüber erreichte oder angestrebte Strukturmerkmale,über Präventions- und Versorgungsziele sowie Leis-tungen und Ergebnisse des Gesundheitswesens. Sieist damit nicht nur ein wichtiges Instrument vonPublic Health,sondern hilft auch,relevante Zusam-menhänge aufzudecken. So sind Ziele der regiona-len GBE die Verbesserung gesundheitlicher Versor-gungsnetze, die Analyse von Versorgungslückenund die Gestaltung neuer Versorgungsstrukturensowie die stärkere Hinwendung zu sozial benach-teiligten Bevölkerungsgruppen (Bardehle u.Annuß1998). In den 90er Jahren wurde die Gesundheits-berichterstattung in Deutschland erheblich verbes-sert und um wesentliche Themen und Indikatorenerweitert. Dennoch besteht in Deutschland im Ver-gleich z. B. zu Großbritannien und den skandinavi-schen Ländern ein erhebliches Defizit an bevölke-rungsbezogenen Daten zur Morbidität.

Prävention (Krankheitsverhütung) umfasst allezielgerichteten Maßnahmen und Aktivitäten, dieeine bestimmte gesundheitliche Schädigung ver-

hindern,weniger wahrscheinlich machen oder ver-zögern.Ziel der Prävention auf Bevölkerungsebeneist die Verringerung von vermeidbarer Krankheits-last (Senkung der Häufigkeit, Dauer und Schwerevon Krankheitsereignissen, Erhöhung der Lebens-erwartung mit krankheitsfreien Jahren) und Be-hinderung (Erhöhung der behinderungsfreien Le-bensjahre) und damit die Vermeidung von vorzei-tigem Tod. Dies schließt einen möglichst langenErhalt der Selbstständigkeit im Alter ein.

Die Erhöhung der Lebenserwartung und ihrergesundheitlichen Qualität in den vergangenenJahrzehnten ist nur zu 20–40% auf medizinischeMaßnahmen zurückzuführen. Der größte Anteilentfällt auf Verbesserungen der Lebens- und Ar-beitsbedingungen, Bildung, Hygiene, Ernährung,Verminderung der Umweltbelastungen u. a. (Sach-verständigenrat 2001).Hier müssen auch zukünftigPräventionsmaßnahmen ansetzen.

Bislang unausgeschöpfte Präventionspotenzia-le bestehen vor allem bei den weit verbreiteten undmedizinisch nicht heilbaren chronischen Beein-trächtigungen sowie bei physiologischen Alte-rungsprozessen mit hoher Plastizität. Sie werdenals zentraler Ansatzpunkt für mehr zukünftige Ge-sundheit,Unabhängigkeit und Mobilität angesehen(Walter u. Schwartz 2001). So betont die Weltge-sundheitsorganisation (WHO) in ihrem Jahresbe-richt 1998, dass der demographische Umbau undder damit einhergehende Zusatzversorgungsbe-darf nur durch vermehrte Investitionen in Präven-tion als bisher bewältigt werden kann.

Gesundheitsförderung im Sinne der OttawaCharta der WHO (World Health Organization 1986)setzt vor allem bei der Analyse und Stärkung derGesundheitsressourcen und -potenziale an. Diesbezieht sich zum einen auf den einzelnen Men-schen (höheres Maß an Gesundheitskompetenzenund an Selbstbestimmtheit) und zum anderen aufalle gesellschaftlichen Ebenen (z. B. partizipativeVeränderung der politisch-rechtlichen Rahmenbe-dingungen) mit dem Ziel, vor allem sozial- oderausbildungsbedingte Ungleichheiten in der Ge-sundheits- und Lebenserwartung zu reduzieren.Der Ansatz der Gesundheitsförderung wird auchals salutogen bezeichnet. Er verwendet häufig denSetting-Ansatz, d. h. Maßnahmen, die auf den fa-miliären, beruflichen oder gemeindebezogenenKontext abzielen, in denen die Betroffenen leben

Page 371: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

16.1 · Was ist Public Health?16361

(z. B. Kindergarten, Schule, Betrieb, Stadt, sieheTrojan u. Legewie 2001).

Sowohl die krankheitsorientierte Herange-hensweise der Prävention als auch der salutogeneAnsatz der Gesundheitsförderung zielen letztlich –wenn auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln undmit verschiedenen Strategien – auf die Gesundheitder Bevölkerung und sollten als einander ergän-zend betrachtet werden.

Das System der gesundheitlichen Versorgungsetzt sich aus einer Vielzahl von Einrichtungen,Professionen und Trägern im präventiven, kurati-ven, rehabilitativen und pflegerischen Bereich zu-sammen, die zudem in einen ambulanten und sta-tionären Sektor getrennt sind. Neben diesem pro-fessionellen System besteht das Laiensystem, dasmit den Selbsthilfegruppen in den vergangenenJahrzehnten bundesweite Strukturen aufgebaut hat.

Hier stellen sich u. a. die Fragen, inwieweit derInformationsfluss innerhalb und zwischen den be-teiligten Einrichtungen und Professionen gewähr-leistet wird und wie diese Schnittstellen optimiertwerden können.

Der demographische Wandel wird in dennächsten Jahrzehnten zu einem Zusatzversor-gungsbedarf bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen,Erkrankungen des Bewegungsapparates, Krebser-krankungen, obstruktiven Lungenerkrankungenund Demenz führen. Ausgehend von der derzeiti-gen Morbidität steigt allein für den stationären Be-reich der Versorgungsbedarf für Krankheiten desHerz-Kreislauf-Systems um fast 44%. Der Versor-gungsbedarf bei den über 75-Jährigen erhöht sichbei Schlaganfall und Herzinsuffizienz um 77%, beiOberschenkelhalsbruch um 63%,Diabetes mellitusum 69% und bei organischen Psychosen um 74%(Schulz et al.2000).Dies erfordert eine rechtzeitigeAnpassung des Versorgungssystems, die auch eineHinwendung zu vermehrter Prävention einschlie-ßen muss.

Mit der Steuerung des Gesundheitswesens undseiner Institutionen befasst sich die Gesundheits-systemforschung, die einen zentralen Bereich vonPublic Health darstellt. Im Mittelpunkt stehen Be-darf, Inanspruchnahme, Zugangsbarrieren, Anrei-ze,Ressourcen,Strukturen,Funktionsweisen sowieKosten und Erträge des Gesundheitswesens. ImVergleich zur Gesundheitssystemforschung,die aufdas Gesundheitssystem als Ganzes (Makroebene)

sowie auf Subsysteme wie Großeinrichtungen undregionale Strukturen (Mesoebene) fokussiert, un-tersucht die Versorgungsforschung die Versorgungeinzelner Patienten und der Bevölkerung (Mikro-ebene) mit gesundheitsrelevanten Produkten undDienstleistungen unter Alltagsbedingungen. Hier-zu analysiert sie, wie Finanzierungssysteme, sozia-le und individuelle Faktoren sowie Organisations-strukturen, -prozesse und Gesundheitstechnologi-en den Zugang zur Kranken- und Gesundheits-versorgung sowie deren Qualität und Kosten undletztendlich Gesundheit und Wohlbefinden beein-flussen. Die Beobachtungseinheiten umfassen In-dividuen, Familien, Populationen, Organisationen,Institutionen, Kommunen etc.

Betrachtet werden4 die zugrundeliegende Struktur (Input),die zum

einen die Gesundheit der zu versorgenden Be-völkerung und ihren Zugang zum Gesund-heitssystem (risikobezogener Input), zum an-deren die finanziellen und personellen Res-sourcen sowie die organisatorischen Struktu-ren umfasst,

4 die ablaufenden Prozesse (Throughput) und4 die (oft für die Bewertung entscheidenden)

mittel- bis langfristigen Ergebnisse, das ge-sundheitliche Resultat (Outcome).

Das Outcome kann sowohl die Wirksamkeit (Effek-tivität) als auch die Wirtschaftlichkeit (Effizienz)von Systemen umfassen. Letztere ist Gegenstandder Gesundheitsökonomie, die sich mit Fragen derAusgaben und Finanzierung,aber auch mit den Ko-sten und der Kosten-Nutzen-Bewertung einzelnergesundheitlicher Maßnahmen befasst (Schwartz u.Pfaff 1999, Schwartz u. Busse 1998). Inzwischen lie-gen mehrere Publikationen vor, die die Gesund-heitssysteme verschiedener Länder vergleichen.

Ein wichtiger Aspekt ist die Frage der Kosten.Neben der demographischen Alterung belastet vorallem die Technisierung der Medizin mit ihren gen-technischen, zellbiologischen und transplanta-tionstechnischen Entwicklungen die Finanzierungdes Gesundheitswesens. Dabei sind die Finanzie-rungsrisiken der gesetzlichen Krankenversiche-rung, dem größten Kostenträger im Gesundheits-wesen, teilweise exogen durch die langfristigeSchwäche des Arbeitsmarktes,die wachsenden undvorgezogenen Verrentungstendenzen und sozial-

Page 372: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

16

362 Kapitel 16 · Public Health in Deutschland

politischen Eingriffe zu Lasten der Krankenkas-seneinnahmen bedingt.

Als ein Ansatz zum Umgang mit der Knappheitvon Ressourcen wird die Prioritätensetzung(Schwerpunktheft 32 (2001) des Public Health Fo-rum: Prioritäten im Gesundheitswesen) gesehen.Hierzu muss nicht zuletzt der tatsächliche Bedarfbestimmt werden.Dieser schließt nicht nur subjek-tive, wissenschaftliche, professionelle und gesell-schaftliche Urteile über die Behandlungsbedürf-tigkeit einer Krankheit, Gesundheitsstörung oderBehinderung ein, sondern auch hinreichende In-formationen über den Nutzen von Behandlungs-verfahren. Generell ist der individuelle Bedarf(need) von der Nachfrage (demand), die demWunsch des Patienten nach einer Leistung ent-springt, und der tatsächlichen Inanspruchnahmebzw. Nutzung des Systems (utilization) zu unter-scheiden. Der Nachfrage (demand) steht das Ange-bot einer Leistung (supply) gegenüber. Letztereskann, muss aber nicht deckungsgleich mit derNachfrage sein.Dem »subjektiven« Bedarf steht derprofessionell bestätigte »objektive« Bedarf gegen-über, der die objektivierende Feststellung einerKrankheit oder Funktionseinschränkung voraus-setzt (Schwartz 2001).

Bislang lagen allerdings nur unvollständigeInformationen über die Bedarfsgerechtigkeit derVersorgung vor. Erstmals befasste sich der damali-ge Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktionim Gesundheitswesen mit der Über-, Unter- undFehlversorgung und den Möglichkeiten zur Aus-schöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven.Hierzuwurden über 200 Stellungnahmen von Fachgesell-schaften, Verbänden, Selbsthilfegruppen und Ein-richtungen des Gesundheitswesens systematischausgewertet und in einem Gutachten zusammen-gefasst.Das Gutachten wurde Ende August 2001 derÖffentlichkeit vorgestellt (http://www.svr-gesund-heit.de 10.01.2005).

16.1.2 Charakteristika von Public Health

Die umfassende Bearbeitung von Gesundheitspro-blemen,ihrer Erfassung,der Entwicklung und Eva-luation von Interventionen, der Analyse beeinflus-sender Faktoren im Gesundheitssystem auf derMikro-,Meso- und Makroebene bis hin zum Trans-

fer von neuen Erkenntnissen in die Versorgungs-praxis, ist erfolgreich nur durch ein Zusammen-wirken von zahlreichen Disziplinen möglich. Einderartiger multidisziplinärer Zugang gewährleistetzugleich die professionelle Anwendung einer Viel-zahl von Methoden.

Disziplinen, die einen wesentlichen Beitrag zuPublic Health leisten, sind die Epidemiologie,Sozialmedizin, Umwelt-Hygiene, Soziologie, So-zialwissenschaften,Psychologie,aber auch die Öko-nomie sowie die Politik- und Managementwis-senschaften. Letztlich müssen alle Professioneneinbezogen werden, die im Gesundheits- und So-zialwesen eine entscheidende Rolle spielen,um dasZiel, mehr Gesundheit für die Bevölkerung, zu er-reichen. Hierzu zählen Lehrer, Sozialarbeiter undSozialpädagogen,Pflegewissenschaftler und -päda-gogen, aber auch Architekten und Juristen.

Charakteristika von Public Health sind damitein multidisziplinärer Zugang, die Anwendungeiner Vielzahl von Methoden, der überwiegendeFokus auf die Bevölkerung und Subpopulationen,ein Fokus auf Strukturen und Systeme, ein ange-messenes Management kollektiver Probleme, ohneindividuelle Präferenzen und Bedürfnisse zu ne-gieren, sowie ein hoher Anwendungsbezug.

16.2 Entwicklung und Konsolidierungvon Public Health in Deutschland

Public Health ist in Deutschland – anders als in denangelsächsischen und skandinavischen Ländern –eine vergleichsweise junge »Disziplin«, die im letz-ten Drittel des 20. Jahrhunderts ihren Ausgangfand. Im Folgenden wird die Entwicklung von Pu-blic Health in den 70er und 80er Jahren skizziert(zur historischen und aktuelleren Entwicklung im20. Jahrhundert siehe Schwartz et al. 1999, Hurrel-mann u. Laaser 1998, Kirsch 2004, Troschke 2000)und ein Überblick über den bislang erreichtenStand der Forschung,Lehre und den Transfer in dieVersorgungspraxis gegeben.

16.2.1 Förderung von Public Health

Vor dem Hintergrund eines zunehmenden Pro-blembewusstseins der Wirksamkeit und Wirt-

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16.2 · Entwicklung und Konsolidierung von Public Health in Deutschland16363

schaftlichkeit des Gesundheitswesens wurde in den70er Jahren des 20.Jahrhunderts ein Bedarf an wis-senschaftlich fundierten Entscheidungsgrundla-gen deutlich,um das Gesundheitswesen adäquat zusteuern. Allerdings standen hierfür damals inDeutschland nur sehr wenige Einrichtungen undWissenschaftler zur Verfügung. In den 80er Jahrenerfolgte deshalb zunächst eine Ist-Analyse derstrukturellen Bedingungen zur Entwicklung derPublic-Health-Forschung und -Lehre in Deutsch-land,bei der auch die Erfahrungen in den USA undSkandinavien einbezogen wurden. Diese von meh-reren Trägern (u.a.Bundesforschungsministerium,Robert Bosch Stiftung,Stifterverband für die Deut-sche Wissenschaft,DFG) unterstützte Bestandsauf-nahme reichte von der Einrichtung von Schools ofPublic Health (Schwartz u. Badura 1991) bis hin zuden Einflussmöglichkeiten einer Forschungsförde-rung (Braun 1990). Es wurden eine Arbeitsgemein-schaft zu Stand und Perspektiven der Forschung(Schwartz et al. 1991) eingerichtet, Experten zurPublic-Health-Forschung in Deutschland befragt(Klein-Lange 1990), der Bedarf an Gesundheits-systemforschung analysiert (Schwartz et al. 1995)und Sachstandsberichte zur Förderung der Ge-sundheitsforschung (u. a. Wissenschaftsrat 1988)ausgearbeitet.

Auf dieser Ausgangslage schlug der damaligeBundesforschungsminister 1989 vor, Gesundheits-forschung und -ausbildung gemeinsam mit denLändern in einem Aufbauprogramm unter Beteili-gung der Länder zu fördern. Public Health wurdeals ein Schwerpunkt in das Programm Gesund-heitsforschung 2000 aufgenommen.

Da nach den bis dahin vorliegenden Erfahrun-gen der Forschungsförderung in einem neuen For-schungsbereich nachhaltige Fortschritte nur beigleichzeitiger Verbesserung der Rahmenbedingun-gen und der Forschungsqualität möglich sind, er-folgte eine Förderung in Form regionaler und in-terdisziplinärer Forschungsverbünde. Fünf For-schungsverbünde wurden 1992/94 in Berlin,Norddeutschland, Nordrhein-Westfalen, Bayernund Sachsen an Standorten mit bereits bestehendenoder in absehbarer Zeit beginnenden Public-Health-Postgraduierten-Studiengängen etabliertund bis 2001 vom Bundesforschungsministeriumunterstützt (Bayerischer Forschungsverbund PublicHealth http://www.bfv.web.med.uni-muenchen.de,

Berliner Zentrum Public Health http://www.bzph.de, Norddeutscher Forschungsverbund PublicHealth http://www.mh-hannover.de/institute/epi/ext/nfv/ index.html, Nordrhein-Westfälischer For-schungsverbund Public Health http://www.uni-duesseldorf.de/medfak/ nwph,ForschungsverbundPublic Health Sachsen und Sachsen-Anhzalt e. V.http://www.public-health.tu-dresden.de 10.01.2005).

Ziel war der Aufbau und die langfristige Insti-tutionalisierung von Public Health in Forschung,Lehre und Praxis.

Im Laufe der Forschungsförderung wurdedurch die Etablierung einer Methodenberatungund eines Qualitätsmanagements sowie durch dieFokussierung auf verbundspezifische Themen-schwerpunkte die Public-Health-Forschung opti-miert und zunehmend auf internationalen Stan-dard gebracht.

Zeitgleich förderte der Stifterverband für dieDeutsche Wissenschaft mit Mitteln der Fritz undHildegard Berg-Stiftung ein Sonderprogramm»Gesundheitswissenschaften/Public Health«.Die indiesem Kontext gegründete Koordinierungsstellesollte dabei eine Mittlerfunktion zwischen Hoch-schulen und außeruniversitären Forschungsein-richtungen sowie den Wissenschaftsorganisatio-nen wahrnehmen, engen Kontakt mit den zustän-digen Stellen des Bundes und der Länder haltenund durch eigene Fördermaßnahmen die Bedin-gungen für die Entwicklung von Public Health/Ge-sundheitswissenschaften verbessern (http://www.medsoz.uni-freiburg.de/dkgw/welcome.htm10.01.2005).

Nach fast zehnjähriger Forschung erfolgte eine(Selbst-)Evaluation der Forschungsverbünde zumwissenschaftlichen Impact, zu Transferleistungen,zur Lehre,zum akademischem Nachwuchs und zurWeiterqualifizierung sowie zur strukturellen Nach-haltigkeit der Fördermaßnahme. Wesentliche Er-gebnisse werden nachfolgend dargestellt.

16.2.2 Was wurde erreicht? Bilanz und Perspktiven

Nach zehnjähriger dynamischer Entwicklung weistdie Public-Health-Forschung in Deutschland – wiedie Evaluation der Public-Health-Forschungsver-bünde zeigt (Deutsche Gesellschaft für Public

Page 374: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

16

364 Kapitel 16 · Public Health in Deutschland

Health 2001) – dank der bundesdeutschen Förde-rung (von 1992 bis 2001) eine erfolgreiche Bilanzauf.An allen Standorten wurden zunächst Struktu-ren und Schwerpunkte geschaffen, die ein Potenzi-al für eine weitere Entwicklung boten.Zudem wur-den neue Einrichtungen etabliert. So kam z. B. 1999mit der Gründung des Bremer Zentrums PublicHealth ein weiteres Zentrum hinzu. Insgesamt hatsich eine beachtliche Scientific Community heraus-gebildet.

Allerdings trugen der Abbruch der Förderungund das deutliche Fehlen hinreichender Drittmit-telförderung bei gleichzeitigen erheblichen Ein-sparungen an den Universitäten an einigen Stand-orten Anfang des Jahrhunderts zu einer Stagnationund einem Strukturabbau bei.

Die Wahrnehmung und Akzeptanz von PublicHealth in der Politik und in anderen wissenschaft-lichen Disziplinen ist deutlich gestiegen. Inzwi-schen wurde selbst an einigen medizinischen Fa-kultäten Public Health als ein zukünftiger, hoch-schulspezifischer Forschungsschwerpunkt heraus-gestellt.

Forschung

Insgesamt wurden über 300 Forschungsprojekte inden Verbünden durchgeführt, von denen 200 vomBundesforschungsministerium gefördert wurden.Einen Überblick über die Public-Health-Forschungund Schwerpunkte gibt vor allem ein 1999 erschie-nener Sammelband (Deutsche Gesellschaft fürPublic Health 1999), der themenspezifisch For-schungsergebnisse insbesondere der ersten För-derhälfte darstellt.Forschungsdatensätze stehen alsPublic Use Files interessierten Arbeitsgruppen zurweiteren Auswertung zur Verfügung.

Ein Indikator für die internationale und natio-nale Präsenz von Forschungsgruppen ist die Publi-kation von Monographien und Zeitschriftenbeiträ-gen sowie ihre Aufnahme in Literaturdatenbanken.(Bislang existiert jedoch keine Datenbank, die allePublic-Health-Bereiche und Public-Health-rele-vanten Publikationsorgane umfassend berück-sichtigt.)

Allein im Zeitraum 1995–2000 wurden über1000 Artikel von Mitarbeitern der Public-Health-Forschungsverbünde in Peer-Reviewed Journalsveröffentlicht.Mehrere Verlage (z.B.Juventa,Huber,Asgard) haben Buchreihen zur Publikation von

Lehr- und Handbüchern, Monographien und For-schungsberichten aufgelegt. 950 wissenschaftlicheBuchbeiträge wurden 1995–2000 publiziert; hinzukommen gut 1000 Public-Policy-orientierte Publi-kationen (Deutsche Gesellschaft für Public Health2001).

Die Forschungsergebnisse wurden 1995–2000in über 1000 Vorträgen auf nationalen und 800 aufinternationalen Tagungen präsentiert. Darüberhinaus wurden in den vergangenen Jahren zahlrei-che Kongresse zu Public Health gemeinsam vonden Verbünden und der Deutschen Koordinie-rungsstelle ausgerichtet (z. B. Internationaler Pub-lic-Health-Kongress 1999 in Freiburg, Einbindungvon Public Health in den fast sechswöchigen Welt-kongress Medicine Meets Millennium während derEXPO in Hannover). 2002 hat die Tagung derEuropean Public Health Association erstmals inDeutschland (Dresden) stattgefunden.

Mit der Public-Health-Förderung wurden zahl-reiche Nachwuchswissenschaftler herangebildet,die sich durch ihre Sozialisation mit Public Healthidentifizieren und für die Inter- und Multidiszipli-narität sowie Methodenvielfalt selbstverständlichsind. Für ihre wissenschaftliche Weiterqualifizie-rung besteht inzwischen an einigen Standorten dieMöglichkeit, den Titel eines Dr. PH zu erwerben.Auch mehrere Habilitationen, z. T. mit der Vergabeder Venia Legendi in Public Health, liegen inzwi-schen vor. Zahlreiche Professuren an Fachhoch-schulen sowie einige Professuren an Universitäten,z. T. mit spezifischem Fokus auf Gesundheitssy-stem, Versorgungsforschung und Management,konnten mit Nachwuchskräften aus dem Public-Health-Bereich besetzt werden. Seit 2004 gibt es inDeutschland erstmalig an der MedizinischenHochschule Hannover eine Stiftungsprofessur fürPrävention und Rehabilitation in der System- undVersorgungsforschung.

Parallel hat sich mit der Einrichtung von über30 gesundheitsbezogenen Studiengängen (sieheAbschnitt Lehre) sowie zugehörigen Professurenauch die Fachhochschullandschaft im Bereich Ge-sundheit erheblich verändert. Eine wesentlicheStärkung erfuhren die Gesundheitswissenschaf-ten/Public Health sowie, infolge der Akademisie-rung, die Pflege (Management, Wissenschaft,Pädagogik). Auch die soziale Arbeit erweiterte ihrSpektrum um gesundheitsbezogene Aspekte. In

Page 375: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

16.2 · Entwicklung und Konsolidierung von Public Health in Deutschland16365

einer Synopse stellen Mühlum, Bartholomeyczikund Göpel (1997) das jeweilige Selbstverständnis,die Berufsentwicklung, die wissenschaftliche Fun-dierung,den Entwicklungsstand und das Potenzialder drei »neuen Disziplinen« Sozialarbeitswissen-schaften, Pflegewissenschaften und Gesundheits-wissenschaften dar. Ihr Ziel ist es auch, einen ge-staltenden Diskurs anzuregen, in der Hoffung derEntwicklung einer gemeinsamen Scientific Com-munity.

Mit der Einrichtung eines Förderschwerpunktszur Pflegeforschung im Jahr 2003 sollen erstmals(regionale) Forschungsnetze auch unter Einbezie-hung von Fachhochschulen zur bedarfsgerechtenVersorgung Pflegebedürftiger eingerichtet undüber einen Zeitraum von sechs Jahren unterstütztwerden.

Den Forschungsschwerpunkt »Versorgungsfor-schung« fördert das Bundesministerium für Bil-dung und Forschung (BMBF) seit 2001 (bis 2007)mit den Zielen, versorgungs- und praxisrelevanteFragestellungen mit besonderem Bezug zur Ge-setzlichen Krankenversicherung (GKV) zu unter-suchen, die Umsetzung der erzielten Ergebnisse indie Regelversorgung voranzutreiben und dadurcheine gezielte Verbesserung der Patientenversor-gung zu erreichen. Dadurch sollen die Qualität, dieWirtschaftlichkeit und die Bedarfsgerechtigkeit dermedizinischen Versorgung optimiert werden.

Das BMBF sieht zudem Prävention und Ge-sundheitsförderung als gesellschaftlich wichtigesForschungsgebiet an und fördert die Weiterent-wicklung der interdisziplinären, anwendungsori-entierten Präventionsforschung für eine Laufzeitvon 2004 bis 2007. Diese ermöglicht es, Hinweiseund Ansatzpunkte für eine effektive und effizientePräventionspraxis unter wissenschaftlichen Ge-sichtspunkten zu erarbeiten und zu ihrer Evalua-tion und Qualitätssicherung beizutragen.

Beide Förderschwerpunkte sind jedoch finan-ziell verhältnismäßig gering ausgestattet

Die Bundesregierung förderte in Deutschlandknapp 10 Jahre lang die Entwicklung der Public-Health-Forschung mit dem Ziel ihrer institutionel-len Verankerung.Diese gezielte Unterstützung truginsgesamt zu einer deutlich sichtbaren wissen-schaftlichen Entwicklung, Professionalisierungund strukturellen Verankerung von Public Healthin Deutschland bei. Die fehlende staatliche An-

schlussförderung macht sich – trotz erfolgreicher,aber aufgrund der potenziellen Förderer begrenz-ter Drittmittelförderung – bereits nach 2 Jahrendurch Abwanderung des wissenschaftlichen Nach-wuchses bemerkbar.Ausländische Erfolgsmodelle,wie z.B. in Großbritannien, den Niederlanden undKanada, weisen auf die Notwendigkeit einer um-fassenden Strategie hin, bei der neben einer lang-fristigen staatlichen Unterstützung der Public-Health-Forschung die Gründung universitärer oderaußeruniversitärer Forschungseinrichtungen er-folgte sowie eine ausgeprägte Überzeugung zentra-ler Leitungsträger im Gesundheitswesen besteht,dass durch Public-Health-Forschung die Aufgabender Gesundheitspolitik besser gelöst werden könn-ten (Siegrist et al. 2001).

Lehre

1989–1995 wurden acht universitäre Postgraduier-ten-Studiengänge für Public Health an den Stand-orten Bielefeld, Hannover, Berlin, München, Dres-den, Düsseldorf, Bremen und Ulm1 eingerichtet.Darüber hinaus besteht ein englischsprachiger Stu-diengang in Heidelberg mit Fokus auf Entwick-lungsländer. Gemeinsam wurden für alle Studi-engänge abgestimmte und verbindliche Mindest-standards entwickelt,die inzwischen für alle Fächervorliegen.

Insgesamt werden 300 Studierende pro Jahraufgenommen,über 800 haben inzwischen die Stu-diengänge mit einem Master of Public Health ab-solviert. Die Studiengänge eröffnen den Absolven-ten neue Perspektiven in Einrichtungen des natio-nalen und internationalen Gesundheitssystems.Verbleibsforschungen bestätigen den »hohenMarktwert« der Absolventen (Dierks 2003).

Eine Umfrage bei Arbeitgebern (n = 996) zeigt,dass 57% das (universitäre) Public-Health-Studiumkennen (Schienkiewitz et al. 2001). Dieses sind vorallem Kostenträger und staatliche (Forschungs-)Einrichtungen. Weniger bekannt ist es (noch) denLeistungserbringern der Privatwirtschaft, die aberprinzipiell Einsatzmöglichkeiten sehen. Besondersbei Krankenkassen und Unternehmensberatungenwird ein steigender Bedarf gesehen. Insgesamt

1 Im Juli 2003 wurde die Aufhebung des Studienganges »Pu-blic Health« zum Wintersemester 2003/04 beschlossen.

Page 376: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

16

366 Kapitel 16 · Public Health in Deutschland

zeigt sich, dass die nachgefragten Inhalte denLehrinhalten entsprechen.

Neben diesen Public-Health-Studiengängenwird seit dem Jahr 2000 verbundübergreifend einMaster of Science-Programm für Epidemiologieangeboten.

Darüber hinaus wurden weitere Aufbaustu-diengänge mit Bezug zu Public Health an Univer-sitäten und Fachhochschulen eingerichtet (z.B.Ge-sundheitsökonomie, Köln, Master of HannoverSchool of Health Management).

Zahlreiche Fachhochschulen bieten grundstän-dige Studiengänge zu Gesundheitswissenschaften(u. a. Magdeburg) und/oder Pflege an (wie Berlin,Münster, Bochum). Auch ein berufsbegleitenderFernstudiengang (Bielefeld/Magdeburg) hat sichetabliert. Seit 2004 kann in Bremen ein 3-jährigerBachelor-Studiengang »Public Health/Gesund-heitswissenschaften« belegt werden. In den ver-gangenen Jahren wurden über 30 verschiedene Stu-diengänge im Bereich Gesundheit eingerichtet.

Insgesamt fanden Public-Health-Inhalte Ein-gang in zahlreiche Studiengänge. Nach einer Erhe-bung an deutschen Hochschulen ermittelten Kälbleund Troschke 1997 knapp 200 gesundheitsbezoge-ne Studienangebote mit über 60 verschiedenenStudienabschlüssen (Kälble u. Troschke 1998). Dievergangenen zehn Jahre sind auch charakterisiertdurch eine zunehmende Akademisierung des Ge-sundheitssektors sowie eine gesundheitsbezogeneSpezialisierung von Studiengängen, die bislangkaum in das Gesundheitswesen involviert waren,wie die soziale Arbeit und die Betriebswirtschaft.

Die Institutionalisierung eines Faches zeigt sichauch in der Entwicklung von Lehrbüchern. 1998erschien erstmals ein umfassendes Lehrbuch fürPublic Health (Schwartz et al.1998),in dem der Ver-such einer eigenständigen Grundlagendarstellungvon Public Health sowohl hinsichtlich Theorie alsauch Praxisanwendung unternommen wurde. DasLehrbuch liegt als Paperback-Ausgabe vor und istim Jahr 2003 in der 2. erweiterten und überarbeite-ten Auflage erschienen. In einem Handbuch wur-den – ebenfalls mit Beteiligung zahlreicher Autorenverschiedener Verbünde – theoretische und me-thodische Grundlagen dargestellt und eine Über-sicht über Strukturen und Bereiche des Gesund-heitswesens gegeben (Hurrelmann u. Laaser 1998).Wichtige Fachbegriffe werden in einem ausführ-

lichen Glossar (Haisch et al. 1999) und in einemvoraussichtlich Ende 2005 erscheinenden Lexikonerläutert.

Transfer

Anwendungsbezug von Public Health bedeutetnicht nur das Aufgreifen und die wissenschaftlicheBearbeitung von Fragen der Versorgungspraxis. Erumfasst zugleich den Transfer von Erkenntnissenin die Politik und Versorgung sowie in die Aus-,Fort- und Weiterbildung.

Mit der Vertretung von Public-Health-Expertenin wichtigen Beratungsgremien wie dem Sachver-ständigenrat für die Konzertierte Aktion im Ge-sundheitswesen (seit 2004 Umbenennung in: Sach-verständigenrat zur Begutachtung der Entwicklungim Gesundheitswesen),dem Wissenschaftsrat,demRunden Tisch des Bundesministeriums für Ge-sundheit, Beiräten für verschiedene Einrichtungenund Aufsichtsräten erfolgt ein Transfer in Ent-scheidungsgremien der Politik und Versorgungs-praxis.

Auch wenn die Einbindung von Public-Health-Wissenschaftlern in Beratungsgremien beachtlichist, so kann dennoch nicht von einer kontinuierli-chen Nachfrage und Nutzung des vorhandenenWissens seitens der Politik gesprochen werden.Eine begleitende systematische Information derÖffentlichkeit über gesundheitsbezogene Themenund damit die Förderung eines öffentlichen Be-wusstseins sowie einer damit einhergehenden ho-hen Akzeptanz für Public Health in den Gesund-heitsprofessionen und der Öffentlichkeit ist inDeutschland im Vergleich zu anderen europäischenLändern (Großbritannien, Niederlande) nur unzu-reichend erfolgt (Siegrist et al. 2001).

Der Transfer an der Versorgungsbasis erfolgt(e)teilweise projektbezogen. So wurden von denForschungsverbünden beispielsweise 1995–2000340 Veranstaltungen mit Practice-Policy-Impactdurchgeführt. Hinzu kommen die bereits oben er-wähnten gut 1000 auf die Versorgungspraxis ge-richteten Veröffentlichungen.

Die Aufgabe des Transfers wird auch von dervierteljährlich erscheinenden Zeitschrift PublicHealth Forum übernommen, die seit 1993 gemein-sam von den fünf Forschungsverbünden PublicHealth und der deutschen KoordinierungsstelleGesundheitswissenschaften herausgegeben wird.

Page 377: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

16.2 · Entwicklung und Konsolidierung von Public Health in Deutschland16367

Sie wendet sich mit aktuellen Themenheften anEntscheidungsträger und Mitarbeiter von Ministe-rien, Verbänden und Einrichtungen im Gesund-heitswesen sowie an Studierende und Wissen-schaftler im Public-Health-Bereich. Nach achtjäh-riger Förderung durch den Stifterverband für dieDeutsche Wissenschaft erscheint das Public-Health-Forum seit Juli 2001 im Urban & FischerVerlag, der seit Januar 2003 dem Wissenschaftsver-lag Elsevier angehört. (Nähere Informationen zumPublic-Health-Forum siehe http://www.elsevier.de10.01.2005).

Innere Konsolidierung der »Multidisziplin« Public Health

In den vergangenen zehn Jahren wurden fachwis-senschaftliche sowie practice-policy-orientiertePublikationsorgane zu Public Health im deutsch-sprachigen Raum implementiert und weiter ent-wickelt. Hierzu zählen die Zeitschriften »PublicHealth Forum«, »Journal of Public Health/Zeit-schrift für Gewundheitswissenschaften«,»Gesund-heitswesen« sowie »Sozial- und Präventivmedizin«.

Neben den bereits erwähnten Standardwerkenwurden in den vergangenen Jahren Schriftenreihenzu Public Health inauguriert und weiterentwickeltsowie zahlreiche Bücher zu einzelnen Themen he-rausgegeben.

Ausgehend von einer Arbeitsgemeinschaft derForschungsverbünde und Postgraduiertenstudi-engänge Public Health erfolgte 1997 die Gründungder Deutschen Gesellschaft für Public Health(DGPH e.V.). Ziel dieser Dachgesellschaft ist es, dienationale und internationale Kooperation zu för-dern,den Austausch zwischen Wissenschaft,Praxisund Politik zu intensivieren und die Public-Health-Forschung und Lehre weiterzuentwickeln. Mitglie-der der Gesellschaft sind inzwischen 32 Fachgesell-schaften, Berufsverbände und Organisationen imGesundheitswesen (http://www.tu-berlin.de/bzph/dgph/ 10.01.2005).

Die traditionellen Fachgesellschaften wie dieDeutsche Gesellschaft für Sozial- und Präventiv-medizin (DGSMP) sowie die Deutsche Arbeitsge-meinschaft Epidemiologie (DAE) und ihre Tagun-gen boten für viele Mitarbeiter der Public-Health-Verbünde jahrelang die einzige wissenschaftlicheVerortung mit der Möglichkeit einer persönlichenMitgliedschaft (http://www.dgsmp.de 10.01.2005).

Im Jahr 2000 wurde die Gesellschaft zur Förde-rung der Public Health in Deutschland (GFPHD)gegründet. Ziel ist es, entsprechend der AmericanPublic Health Organisation (APHA) alle Personenin der Forschung,Lehre und Praxis in Public Healthzusammenzuführen und eine gemeinsame, wirk-same Interessenvertretung zu schaffen.Bereits 1992entstand der Deutsche Verband für Gesundheits-wissenschaften (DVGe) als Berufsorganisation. ImDezember 2001 haben der GFPHD und der DVGebeschlossen,die Ressourcen unter der Bezeichnung»Deutscher Verband für Gesundheitswissenschaf-ten und Public Health e. V. – German Associationfor Health Sciences and Public Health (DVGPH)« zubündeln. Dies soll zu einer mitgliederstarken, pro-fessionsübergreifenden Public-Health-Gesellschaftführen. Ein zentrales Ziel dabei ist, die DeutscheGesellschaft für Public Health (DGPH) als Dach-verband in ihrer Arbeit zu unterstützen (www.dvgph.de 10.01.2005).

Im Jahre 1997 gründete sich der Alumni-Ver-band PHAD (Public Health Absolventen Deutsch-land), der die Interessen der Public-Health-Absol-venten vertritt (http://www.phad.de 10.01.2005).

Ausgehend von einer kaum vorhandenenStruktur konnte Public Health, unterstütztu. a. durch Förderung des Bundesfor-schungsministeriums, in der deutschenHochschullandschaft verankert werden.Die Einrichtung der Forschungsverbündezog die Entwicklung und Etablierung wei-terer Strukturen und Studiengänge an Uni-versitäten und Fachhochschulen nach sich.Inzwischen liegt ein großes Potenzial anKnow-how vor, mit dem aktuelle Problemedes Gesundheitssystems und der Gesund-heit der Bevölkerung bearbeitet werdenkönnen. Dieses sollte zur notwendig ge-wordenen Optimierung der gesundheitli-chen Versorgungspraxis und des Gesund-heitssystems genutzt werden. Allerdingskann nur durch eine weitere Unterstützungder – in dem derzeitigen Forschungspro-gramm der Bundesregierung nicht hinrei-chend vorgesehenen – Public-Health-For-

Zusammenfassung

Page 378: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

16

368 Kapitel 16 · Public Health in Deutschland

schung der bisher erreichte Forschungs-stand gesichert sowie erweitert werden,der eine fundierte Basis für versorgungs-praktische und gesundheitspolitische Ent-scheidungen darstellt und damit letztlichder Gesundheit der Bevölkerung zugutekommt.

3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung

Erarbeiten Sie in arbeitsteiliger Gruppenarbeit, inwelcher Beziehung die Pflege (Pflegemanagement,Pflegepädagogik) zu Public Health steht und zuwelchen Themen sich Kooperationen für die For-schung und Praxis ergeben.Erörtern Sie dabei,wel-che Inhalte bzw.Bereiche und Methoden von PublicHealth für die Pflege besonders relevant sind. Wel-che Themen und Erfahrungen kann die Pflege inPublic Health einbringen? Wo erscheint eine Zu-sammenarbeit besonders wünschenswert?

3 Empfehlungen zum Weiterlernen

Bücher

4 Deutsche Gesellschaft für Public Health (Hrsg)(1999) Public-Health-Forschung in Deutsch-land. Huber, Bern

4 Schwartz FW, Badura B, Busse R, Leidl R, RaspeH, Siegrist J, Walter U (Hrsg) (2003) Das PublicHealth Buch. Gesundheit und Gesundheitswe-sen. 2. Aufl. Urban & Fischer, München

Zeitschriften:

4 Public Health Forum. Elsevier; Information:http://www.elsevier.de 10.01.2005

4 Das Gesundheitswesen. Thieme4 Journal of Public Health/Zeitschrift für Gesund-

heitswissenschaften. Springer

Literatur

Bardehle D,Annuß R (1998) Gesundheitsberichterstattung. In:Hur-

relmann K, Laaser U (Hrsg) Handbuch Gesundheitswissen-

schaften. Juventa, Weinheim München, S 329–356

Braun D (1990) Die Einflußmöglichkeiten der Forschungsförde-

rung auf strukturspezifische Probleme der Gesundheitsfor-

schung in der Bundesrepublik – Zwischenbericht. Max-

Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln

Brenner H (1999) Epidemiologie: Die wichtigen und die weniger

wichtigen Einflussfaktoren. In: Deutsche Gesellschaft für Pub-

lic Health (Hrsg): Public-Health-Forschung in Deutschland.

Huber, Bern, S 41–43

Deutsche Gesellschaft für Public Health (Hrsg) (1999) Public-

Health-Forschung in Deutschland. Huber, Bern

Deutsche Gesellschaft für Public Health (2001) Selbstevaluation

der fünf Forschungsverbünde. Zusammenfassender Bericht.

Erstellt von der Redaktionsgruppe der Forschungskommis-

sion der DGPH, Düsseldorf Bielefeld

Dierks ML (2003) Postgraduierte Public-Health-Ausbildung und

Berufsfelder im Bereich von Public Health. In: Schwartz FW,

Badura B, Busse R, Leidl R, Raspe H, Siegrist J, Walter U (Hrsg)

Das Public Health Buch. Gesundheit und Gesundheitswesen.

Urban & Schwarzenberg, München, S 772–782

Haisch J, Weitkunat R, Wildner R (Hrsg) (1999) Wörterbuch Public

Health. Huber, Bern

Hurrelmann K, Laaser U (1998) Entwicklung und Perspektiven der

Gesundheitswissenschaften. Juventa, Weinheim München

Hurrelmann K, Laaser U (1998) Entwicklung und Perspektiven der

Gesundheitswissenschaften. In:Hurrelmann K,Laaser U (Hrsg)

Handbuch Gesundheitswissenschaften. Juventa, Weinheim

München, S 17–45

Kälble K, Troschke J (1998) Studienführer Gesundheitswissen-

schaften. Bd 9. Schriftenreihe der Deutschen Koordinierungs-

stelle für Gesundheitswissenschaften, Freiburg

Kirch W (Hrsg) (2004) Public Health in Europe. Springer, Berlin Hei-

delberg New York Tokyo

Klein-Lange M (1992) Public-Health-Forschung in der Bundesre-

publik. GSF-Projektberichte 3/90, München

Mielck A (2000) Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Empirische

Ergebnisse, Erklärungsansätze, Interventionsmöglichkeiten.

Huber, Bern

Mühlum A, Bartholomeyczik S, Göpel E (1997) Sozialarbeitswis-

senschaft Pflegewissenschaft Gesundheitswissenschaft.Lam-

bertus, Freiburg i. Breisgau

Public Health Forum (2001): Prioritäten im Gesundheitswesen.

Nr. 32

Raspe HH (2003) Public Health und klinische Medizin. In: Schwartz

FW, Badura B, Busse R, Leidl R, Raspe H, Siegrist J, Walter U

(Hrsg) Das Public Health Buch. Gesundheit und Gesundheits-

wesen. Urban & Schwarzenberg, München

Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheits-

wesen (2001) Gutachten 2000/2001. Bedarfsgerechtigkeit

und Wirtschaftlichkeit. Bd I: Zielbildung, Prävention, Nutzer-

orientierung und Partizipation. Nomos, Baden-Baden

Schienkiewitz A, Lotz E, Martin S, Dierks ML (2001) Die berufliche

Situation von Public-Health-Absolventen in Deutschland aus

der Sicht von Arbeitgebern. In: Public Health Forum. 9. Jhrg.

Heft 30: 22

Schulz E, König HH, Leidl R (2000) Auswirkungen der demographi-

schen Alterung auf den Versorgungsbedarf im Krankenhaus-

bereich.Modellrechnungen bis zum Jahr 2050.In:Deutsches In-

stitut für Wirtschaftforschung.Wochenbericht 44 (67):739–759

Schwartz FW (1998) Public Health: Zugang zu Gesundheit und

Krankheit der Bevölkerung, Analysen für effektive und effi-

ziente Lösungsansätze.In:Schwartz FW,Badura B,Leidl R,Raspe

H,Siegrist J (Hrsg) Das Public Health Buch.Gesundheit und Ge-

sundheitswesen. Urban & Schwarzenberg, München, S 2–5

Page 379: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

16.2 · Entwicklung und Konsolidierung von Public Health in Deutschland16369

Schwartz FW (2001) Bedarf und bedarfsgerechte Versorgung aus

Sicht des Sachverständigenrates. Gesundheitswesen 63:

127–132

Schwartz FW, Badura B (1991) Public Health. Aufsätze zu Aufbau-

studiengängen in Deutschland. – Erfahrungen aus dem Aus-

land. In: Robert Bosch Stiftung (Hrsg) Materialien und Berich-

te 36. Bleicher, Stuttgart

Schwartz FW, Busse R (2003) Denken in Zusammenhängen. In:

Schwartz FW,Badura B,Busse R,Leidl R,Raspe H,Siegrist J,Wal-

ter U (Hrsg) Das Public Health Buch. Gesundheit und Ge-

sundheitswesen. Urban & Schwarzenberg, München, S 516–

545

Schwartz FW,Pfaff A (1999) Analyse komplexer Strukturen und mo-

netärer Aspekte: Gesundheitssystemforschung und Gesund-

heitsökomonie. In: Deutsche Gesellschaft für Public Health

(Hrsg) Public-Health-Forschung in Deutschland. Huber, Bern,

S 359–361

Schwartz FW, Badura B, Brecht JG, Hofmann W, Jöckel K-H,Trojan A

(Hrsg) (1991) Public Health. Texte zu Stand und Perspektiven

der Forschung. Springer, Berlin

Schwartz FW, Badura B, Blanke B, Henke KD, Koch U, Müller R unter

Mitarbeit von Hofmann W, Haase I (1995) Gesundheitssys-

temforschung in Deutschland. Denkschrift. Deutsche For-

schungsgemeinschaft. VCH-Verlagsgeselllschaft, Weinheim

Schwartz FW, Badura B, Busse R, Leidl R, Raspe H, Siegrist J, Walter

U (Hrsg) (2003) Das Public Health Buch. Gesundheit und Ge-

sundheitswesen. Urban & Schwarzenberg, München

Schwartz FW,Troschke J v.,Walter U (1999) Public Health in Deutsch-

land. In: Deutsche Gesellschaft für Public Health (Hrsg) Public-

Health-Forschung in Deutschland. Huber, Bern, S 23–32

Siegrist J, Ebert M, Huber M et al. M (2001) Selbstevaluation der For-

schungsverbünde Public Health (1992–2000). Kurzfassung des

zusammenfassenden Berichts (Teil B) und der fünf Teilberichte

der Forschungsverbünde Public Health (Teil A) vom Juni 2001,

erstellt für den Wissenschaftlichen Ausschuss des Gesundheits-

forschungsrates. Düsseldorf

Trojan A, Legewie H (2001) Nachhaltige Gesundheit und Entwick-

lung. Leitbilder, Politik und Praxis der Gestaltung gesund-

heitsförderlicher Umwelt- und Lebensbedingungen. VAS,

Frankfurt

Troschke J (2000) Gesundheitswissenschaften dienen der Public

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Walter U, Schwartz FW (2001) Gesundheit der Älteren und Poten-

ziale der Prävention und Gesundheitsförderung. In: Deut-

sches Zentrum für Altersfragen (Hrsg) Expertisen zum Dritten

Altenbericht. Bd I Personale, gesundheitliche und Umwelt-

ressourcen im Alter. Leske+Budrich, Leverkusen, S 153–261

Weitkunat R, Haisch J, Kessler (Hrsg) (1997) Public Health und Ge-

sundheitspsychologie. Huber, Bern

Wissenschaftsrat (1988) Empfehlungen des Wissenschaftsrates zu

den Perspektiven der Hochschulen in den 90er Jahren. Wis-

senschaftsrat, Köln

World Health Organization (1986) Ottawa Charta for Health Pro-

motion. First International Conference on Health Promotion,

Ottawa [http://www.who.int/hpr/archive/docs/ottawa.html

18.08.2002]

World Health Organization (1998) The World Health Report 1998.

Life in the 21st century. A vision for all. Report of the Director

General, Geneva

Page 380: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

17

Entscheidungsunterstützung mitHilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse –Auswahl eines EDV-gestütztenSchulverwaltungsprogramms

Sigrun Schwarz

17.1 Vorgehen der Kosten-Nutzwert-Analyse 373

17.2 Auswahl der Entscheidungskriterien 374

17.3 Bestimmung der Kriteriengewichte 374

17.4 Suche nach relevanten Alternativen 376

17.5 Bewertung der Alternativen 378

17.6 Nutzwertermittlung 380

17.7 Ermittlung der Kosten

nach der Kostenvergleichsrechnung 381

17.8 Entscheidung mit Hilfe der Dominanzbetrachtung 384

17.9 Durchführung von Sensitivitätsanalysen 385

17.10 Kritische Reflexion des Verfahrens 385

Page 381: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

17

372 Kapitel 17 · Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse

> FragenEine Vielzahl von Entscheidungen sind täglich zu

fällen.Häufig wird intuitiv entschieden – und dies

nicht nur bei Entscheidungen im persönlichen

Umfeld, sondern auch bei kostenintensiven Ent-

scheidungen in Einrichtungen,die Auswirkungen

auf eine Vielzahl monetärer, aber auch qualitati-

ver Aspekte haben. Immer wieder führt dies zu

Fehlentscheidungen, aber auch zur Verärgerung

der beteiligten und betroffenen Personengrup-

pen: Wieder einmal standen Machtverhältnisse

statt rationaler Entscheidungskriterien im Vor-

dergrund,wieder einmal wurde die Entscheidung

nicht mit den wirklich Betroffenen abgestimmt.

In dem hier diskutierten Beispiel erwägt eine Pfle-

geschule ein EDV-gestütztes Schulverwaltungs-

programm zu beschaffen, das Funktionen zur Ad-

ministration und Planung enthält. Die Hersteller

bieten Produkte mit unterschiedlichem Leis-

tungsumfang zu sehr unterschiedlichen Kondi-

tionen an. Einerseits sind bei der Auswahl eines

geeigneten Programms die angebotenen Pro-

grammmodule möglichst umfassend zu bewer-

ten, andererseits sind die Kosten der jeweiligen

Alternative in die Entscheidung einzubeziehen.

Eine Entscheidung muss u. a. folgende Fragestel-

lungen berücksichtigen:

5 Welches Programm erfüllt die geforderten

Leistungsmerkmale am besten?

5 Ist für die Schule eine Einzelplatzversion oder

ein lokales Netzwerk besser geeignet?

5 Soll die Wartung durch Mitarbeiter vor Ort

vorgenommen oder vom Hersteller über Fern-

wartung garantiert werden?

Wie wären Sie selbst vorgegangen? Haben Sie

sich nicht auch schon einmal gefragt, ob komple-

xe Entscheidungen durch den Einsatz von Metho-

den unterstützt werden können?

3 Berufliche Handlungskompetenzen

Multikriterielle Investitionsentscheidun-gen für alle Beteiligten und Betroffenentransparent und unter Zuhilfenahme vonMethoden der Investitionsentscheidungdurchführen.

2 FachkompetenzMultikriterielle Investitionsmethoden,insbesondere die Kosten-Nutzwert-Ana-lyse,nutzen,um Entscheidungen anhandaller verfügbaren Informationen transpa-rent und nachvollziehbar für alle Interes-sensgruppen eines Unternehmens bzw.Projektbeteiligten (Stakeholder) zu fäl-len.Wesentliche Leistungsmerkmale vonSchulverwaltungsprogrammen als Ent-scheidungsgrundlage kennen lernen.

2 PersonalkompetenzEigene Entscheidung im Hinblick auf Mo-tivation und Berücksichtigung wesentli-cher Entscheidungskriterien selbstkri-tisch reflektieren und Schlüsse für eige-nes zukünftiges Handeln daraus ableiten.

2 SozialkompetenzAls Entscheidungsträger eine Gruppe zurationalem Handeln anleiten. Dies bein-haltet die Leitung der Zieldiskussion unddie Unterstützung der Gruppe bei derAbleitung wesentlicher Kriterien für dieEntscheidung.

2 MethodenkompetenzMethoden der Entscheidungsunterstüt-zung sachgerecht einsetzen.

2 Kommunikative KompetenzDen Einsatz der Methoden fachlich rich-tig und für die Gruppenmitglieder ver-ständlich begründen.

3 PraxisrelevanzIn Schulen, Ausbildungsstätten, aber auch in Ein-richtungen des Gesundheitswesens sind eine Viel-zahl von Investitionsentscheidungen fundiert zutreffen. Immer wieder werden diese jedoch intuitivgetroffen, statt die einzelnen Aspekte im Hinblickauf die angestrebten Ziele gegeneinander abzuwä-gen. Die Wirtschaftswissenschaften stellen Verfah-ren zur Verfügung, die eine Entscheidungsfindungunterstützen können.

Page 382: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

17.1 · Vorgehen der Kosten-Nutzwert-Analyse17373

Während Entscheidungen im Allgemeinen undals Forschungsobjekt der Psychologie im Besonde-ren nicht notwendig rational begründet sein müs-sen, wird in den Wirtschaftswissenschaften davonausgegangen,dass Entscheidungen rational getrof-fen werden. Das heißt, dass eine Handlungsalter-native gewählt wird, die im Hinblick auf ein ange-strebtes Ziel oder Zielsystem die benötigten Res-sourcen möglichst optimal einsetzt. Nur dadurchlassen sich Effizienz und Effektivität einer Investi-tionsentscheidung sicherstellen. Überträgt mandas Rationalprinzip auf das skizzierte Beispiel, be-deutet dies, dass ein EDV-Programm nicht gewähltwird, wenn ein anderes Programm mit gleichemLeistungsumfang und geringerem Preis zur Verfü-gung steht oder ein Programm mit besseren Leis-tungen zu gleichem Preis.

In Dienstleistungsbetrieben sind meist Alter-nativen zu bewerten, die bei jeweils unterschiedli-chen Kosten eine Vielzahl verschiedener Zielkrite-rien verschieden gut erreichen. Ein Teil der Zielesind nichtmonetärer Art und mit unterschiedlichenSkalen zu messen. Für diese Entscheidungssitua-tionen ist die Kosten-Nutzwert-Analyse ein geeig-netes Instrument der Entscheidungsunterstützung.

3 VerfahrensstrukturZiel des Beitrags ist es,ein Vorgehen zur fundiertenEntscheidungsunterstützung vorzustellen.. Abbil-

dung17.1 zeigt die Struktur des Artikels auf.

17.1 Vorgehen der Kosten-Nutzwert-Analyse

Die Kosten-Nutzwert-Analyse ist eine Methode,dieangewendet wird, wenn verschiedene Alternativensowohl hinsichtlich quantifizierbarer, monetärerGrößen wie Kosten und Erlöse zu bewerten sind alsauch qualitative Kriterien wie Personalzufrieden-heit und Planungsqualität einzubeziehen sind.

Nutzwerte und Kosten werden in separatenSchritten ermittelt und anschließend gegenüberge-stellt.

Die Ermittlung der Nutzwerte entspricht demVorgehen der Nutzwertanalyse. Ihr BegründerZangemeister definiert die Nutzwertanalyse als»Analyse einer Menge komplexer Handlungsalter-nativen mit dem Zweck, die Elemente dieser Men-ge entsprechend der Präferenzen des Entschei-dungsträgers bezüglich eines multidimensionalen

. Abb. 17.1. Verfahrensstruktur

Page 383: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

17

374 Kapitel 17 · Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse

Zielsystems zu ordnen« (Zangemeister 1976, S. 45).Dabei werden Alternativen mit dem Ziel bewertet,die qualitativen Aspekte in einer synthetischenKennzahl zu erfassen (Oppitz 1995, S. 379). Hierzugehören beispielsweise technische,psychologische,soziale oder ökologische Tatbestände (Däumler2000, S. 34).

17.2 Auswahl der Entscheidungskriterien

Wer nicht weiß, wo er hin will, ist immerrichtig – kommt aber nie zum Ziel.

Der erste Schritt hin zu einer fundierten Entschei-dung ist die Festlegung der Entscheidungskriterienin Abstimmung mit dem Leitbild und dem Ziel-system der Einrichtung. Zu den Kriterien gehörenquantitativ erfassbare wie auch qualitative Aspek-te.Insbesondere die Kosten wie Investitionskosten,Schulungskosten und Personalkosten sind quanti-tativ erfassbar. Qualitative Kriterien sind beispiels-weise die Güte des erstellten Stundenplans und derGrad der Unterstützung bei der Planung.

Damit alle Stakeholder bei der Entscheidung an-gemessen berücksichtigt werden, sind die Kriteriengemeinsam von Beteiligten und Betroffenen zu dis-kutieren.Das Team kann zum Beispiel aus der Schul-leitung, dem Schulsekretariat und den Unterrichts-koordinatoren gebildet werden. Die Kriterien müs-sen vollständig sein,das heißt,alle für die Beteiligtenund Betroffenen relevanten Kriterien umfassen.

Formulierung operationalisierbarerZielkriterien

Die Zielkriterien müssen »operational formuliertwerden« (Götze u.Blöch 1993,S. 134).Es muss mög-lich sein, jedes Kriterium hinsichtlich seiner Errei-chung zu messen (siehe Kap.17.5).Häufig ist die An-gabe von übergeordneten Kriterien für eine Be-wertung nicht ausreichend. In diesem Fall ist einZielbaum aufzustellen, in dem die Kriterien hierar-chisch weiter untergliedert werden. Die Konkreti-sierung der Kriterien und damit auch die Messbar-keit nehmen mit abnehmender Hierarchieebene

zu. Dabei ist aus methodischen Gründen darauf zuachten, dass die einzelnen Kriterien vergleichbardetailliert aufgeführt werden.

Eine Mehrfacherfassung von Kriterien solltevermieden werden. Zudem ist eine weitgehendeNutzenunabhängigkeit der Zielkriterien zu ge-währleisten. »Nutzenunabhängigkeit ist gegeben,wenn die Erreichung eines Zielkriteriums möglichist, ohne dass dies die Erfüllung eines anderen Kri-teriums voraussetzt.« (Götze u. Blöch 1993, S. 134)

Für das gewählte Beispiel wird der in .Abb.17.2

dargestellte Baum der Entscheidungskriterien an-genommen.Für die einzelnen Kriterien sind exem-plarisch Unterkriterien angegeben.Zur vereinfach-ten Nachvollziehbarkeit der Berechnungen werdenin den folgenden Kapiteln jedoch nur die überge-ordneten qualitativen Kriterien weiter verwendet.

Erläuterung zu Abb. 17.2: Unter dem Punkt 5dwird das Controlling einschließlich geeigneter Aus-nahmeberichte und graphischer Darstellung der Er-gebnisse bewertet. Die Unterstützung der Stunden-planerstellung (Punkt 6b) fragt nach unterstützen-den Funktionen wie der Meldung bei Überschnei-dungen hinsichtlich Klassen,Räumen,Personal undUnterrichtsmaterial sowie einer automatischenBerücksichtigung von Richtlinien und gesetzlichenVorgaben. Selbsterklärungsfähigkeit (Punkt 7a)misst, inwieweit ein Programm selbsterklärend istbzw. umfangreiche Schulungen benötigt.

Datensicherheit als K. o.- Kriterium

Eine Vielzahl vertraulicher Daten ist in einemSchulverwaltungsprogramm abgelegt. Datensi-cherheit (Punkt 3, Abb. 17.2), beispielsweise durcheinen passwortgeschützten Daten- und Programm-zugriff, ist daher bei der Programmauswahl einK.o.-Kriterium. Programme, die diese Anforde-rung nicht erfüllen können, werden nicht als Alter-native in Betracht gezogen. In die weitere Bewer-tung ist dieses Kriterium daher nicht einbezogen.

17.3 Bestimmung der Kriteriengewichte

Einzelne Kriterien haben im Hinblick aufden Nutzwert unterschiedliche Bedeutung.

Wichtig

Wichtig

Page 384: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

17.3 · Bestimmung der Kriteriengewichte17375

. Abb. 17.2. Baum der Entscheidungskriterien

Page 385: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

17

376 Kapitel 17 · Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse

Die Stakeholder werden den einzelnen Kriterien imHinblick auf den Nutzwert der zu beurteilendenProjekte unterschiedliche Bedeutung beimessen.Diesem Aspekt wird bei der Vergabe von Gewich-tungen Rechnung getragen. Eine Möglichkeit be-steht darin, die Gewichte mit einer normiertenSumme von 100% oder 1 als Ergebnis eines Eini-gungsprozesses frei auf die Kriterien zu verteilen.Die Abstände sollen die Präferenzunterschiede derStakeholder widerspiegeln. Dabei ist es auch mög-lich, dass Kriterien als gleich wichtig eingestuftwerden und die gleiche Gewichtung erhalten.

Bei einem mehrstufigen Kriterienbaum erfolgtdie Gewichtung für alle Hierarchieebenen. Inner-halb jedes Zweiges wird die normierte Summe von100% oder 1 vergeben.

Der Prozess der Zuordnung beliebiger Zielge-wichte ist für eine Gruppe meist sehr schwierig.Einfacher ist die Vergabe von Rangfolgen (Götze u.Blöch 1993, S. 135). Jedes Kriterium enthält entspre-chend seiner Bedeutung einen aufsteigenden Rangzugeordnet, wobei das wichtigste Kriterium denhöchsten Rang erhält. Falls davon ausgegangenwerden kann, dass zwischen den einzelnen Rang-plätzen jeweils gleiche Präferenzunterschiede be-stehen, lassen sich die Ränge in Gewichte umrech-nen.Auch hierbei wird eine normierte Summe von100% oder 1 vergeben.

In . Tabelle 17.1 ergibt die Summe der aufstei-genden Ränge 21. Um für die einzelnen Ränge dieGewichtung in Prozent zu berechnen, ist der Rang

durch 21 zu dividieren. Damit ergibt sich für diePersonalzufriedenheit beispielsweise 3 : 21 = 14,3%.

Eine weitere Möglichkeit für die Vergabe vonGewichtungen ist die Durchführung eines paar-weisen Kriterienvergleiches, auch Matrixverfahrengenannt, das den Einigungsprozess unterstützt(Henning 1998,S.134).Auf dieses Verfahren soll hierjedoch nicht weiter eingegangen werden.

Die Zielgewichtung hat entscheidendenEinfluss auf das Ergebnis.

Eine freie Vergabe der Gewichte kann zu erheblichabweichenden Werten von der Zielgewichtungdurch Ränge führen. Da die Gewichtung wesentli-chen Einfluss auf die ermittelten Nutzwerte und da-mit das Ergebnis hat, ist offensichtlich entschei-dend, dass die Gewichte die Präferenzen der Stake-holder richtig wiedergeben. Es muss also eineadäquate Methode zur Bestimmung der Zielge-wichtung ausgewählt werden.

17.4 Suche nach relevanten Alternativen

Informationsbeschaffung

Die Informationsbeschaffung für eine Investitions-entscheidung ist möglichst umfassend durchzu-führen. Hierfür steht neben Produktbroschüren,den Veröffentlichungen in Fachzeitschriften unddem Besuch von Fachmessen heute insbesonderedas Internet zur Verfügung.

Durchsuchen Sie mit Hilfe von Suchmaschi-nen die Internetseiten nach geeignetenProdukten. Beachten Sie dabei eine pas-sende Wahl von Schlüsselworten. Diese istvon entscheidender Bedeutung für denSucherfolg. (Mit den Schlüsselworten»Schulverwaltungsprogramm« und »Kran-kenpflege« konnten für das Fallbeispiel beimehreren Suchmaschinen gute Erfolge er-zielt werden.)

. Tabelle 17.1. Zielgewichtung durch Ränge

Kriterien Rang Gewichtung (%)

1. Personalzufriedenheit 3 3 : 21 = 14,3

2. Gute Verwaltungsprozesse 4 4 : 21 = 19,0

3. Planungsverbesserung 5 5 : 21 = 23,8

4. Gute Ergonomie d. Produkts 2 2 : 21 = 9,5

5. Service 1 1 : 21 = 4,8

6. Investitionssicherheit 6 6 : 21 = 28,6

Gesamt 21 100

Wichtig

Wichtig

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17.4 · Suche nach relevanten Alternativen17377

Von einigen Herstellern werden Demoversionenangeboten, die es ermöglichen, sich selbst ein Bildvon der Funktionalität der Programme zu machen.Weitere Informationen insbesondere über die Be-nutzerfreundlichkeit, den Schulungsaufwand undden Service des Softwareherstellers erhält mandurch die Befragung oder den Besuch von Refe-renzeinrichtungen,die diese Programme einsetzen.

Leistungsumfang angebotener Programme

Schulverwaltungsprogramme bieten eine Vielzahlverschiedener Programmmodule mit unterschied-licher Funktionalität. Hierzu gehören insbeson-dere:4 Verwaltung der Aus-, Fort- und Weiterbil-

dungslehrgänge für verschiedene Fachrichtun-gen bzw. Lehrgänge einschließlichHinterlegung von Richtlinien und gesetzlichenVorgaben für die Lehrgänge (Anzahl der Stun-den,Anzahl der Leistungsnachweise etc.),Verwaltung eines Lehrplans/Curriculums jeLehrgang mit Lerninhalten, Lernzielen, Me-dienhinweisen, Zielen, Kompetenzen und denMöglichkeiten zu Auswertungen und Berich-ten.

4 Allgemeine VerwaltungsfunktionenTeilnehmerverwaltung einschließlich Rech-nungserstellung,Dozenten-/Referentenmanagement einschließ-lich Bewerberverwaltung, Modul zur Personal-entwicklung sowie Abrechnungserstellung,Bücher und Medienverwaltung,Kostenplanung.

4 Organisatorische Planung des UnterrichtsStundenplanerstellung unter Berücksichtigungder zur Verfügung stehenden Zeit, Lehrkräfteund Räume meist anhand einer grafischenOberfläche, teilweise mit automatischer Erstel-lung eines Ausgangsstundenplans anhand desCurriculums,Möglichkeiten Prüfungswochen, Theorie undPraxis-Blöcke,Projektwochen und Kurszusam-menlegungen zu berücksichtigen,Darstellung der Stundenpläne für unterschied-liche Perioden und Kurse.

4 Organisatorische Planung der PraxiseinsätzePlanung von Praxisanleitung/fachpraktischemUnterricht,3-Jahres-Ansicht.

4 EinsatzverfolgungDokumentation der Abweichungen vom Stun-denplan einschließlich Darstellung von Fehl-zeiten,Ausdruck von Klassenbüchern,Dokumentation der praktischen Einsätze.

4 Prüfungsrelevante Funktionen wie Verwaltungder Leistungsnachweise.

4 Controlling- und Berichtsfunktionen.

Neben den genannten Funktionen ist es wün-schenswert, Daten in gängige Marktprodukte vonTextverarbeitung, Tabellenkalkulation und Grafik-programmen exportieren zu können,um beispiels-weise Serienbriefe oder eigene Listen erstellen zukönnen.

Alternativen im Fallbeispiel

Die einzelnen Alternativen für das Fallbeispiel kön-nen im Folgenden nur kurz charakterisiert werden.Um die spätere Bewertung genau begründen zukönnen, wäre eine sehr detaillierte Beschreibungerforderlich,die hier den Rahmen sprengen würde.

Im Fallbeispiel stehen folgende Alternativenzur Auswahl:

Alternative A:

Alternative A ist die Ist-Situation der Pflege-

schule. Diese Alternative wird ebenfalls be-

leuchtet, da ein Programm nur eingesetzt wer-

den soll, wenn dadurch Qualitätssteigerungen

oder Kostensenkungen erreicht werden kön-

nen.

In der derzeitigen Situation wird kein durch-

gängiges Schulverwaltungsprogramm einge-

setzt; die administrativen Tätigkeiten werden

über handelsübliche Textverarbeitungs- und

Tabellenkalkulationsprogramme unterstützt.

Die Stundenplanung erfolgt manuell und für

die Verwaltung der Medien wird ein eigenes

Programm eingesetzt. Es kommt immer wieder

zu Fehlplanungen und Verzögerungen in der

Informationsweitergabe, was alle Betroffenen

verärgert.

Beispiel

Page 387: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

17

378 Kapitel 17 · Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse

Alternative B:

Die Alternative B sieht den Einsatz eines Schul-

verwaltungsprogramms als Einzelplatzlizenz

vor. Ein Zugriff auf das Programm ist somit nur

von einem Rechner aus möglich.Der Leistungs-

umfang beinhaltet die meisten der genannten

Verwaltungsfunktionen, nicht jedoch die auto-

matische Erstellung von Stundenplänen und

die Einsatzverfolgung. Beides wird von dem

Hersteller des Produktes nicht angeboten. Die

Sekretärin wird in der Bedienung geschult und

übernimmt alle damit verbundenen Eingaben.

Auf ergonomische Aspekte wurde bei diesem

Produkt besonderer Wert gelegt. Die Ergebnis-

se können allen Beteiligten gedruckt zur Verfü-

gung gestellt werden.

Alternative C:

Alternative C ist der Einsatz einer Einzelplatz-

version eines Konkurrenzproduktes, das eben-

falls am Arbeitsplatz der Sekretärin eingesetzt

werden würde. Der Leistungsumfang beinhal-

tet alle genannten Verwaltungsfunktionen

einschließlich einer automatischen Erstellung

von Stundenplänen und der Einsatzplanung.

Bei einem späteren Umstieg auf die Mehrplatz-

lizenz (Alternative D) wird der Preis der Einzel-

platzversion auf den Kaufpreis angerechnet.Da

das Produkt zudem auf einer gängigen Daten-

banklösung aufbaut, ist Investitionssicherheit

gewährleistet. Die Ergebnisse können allen Be-

teiligten gedruckt oder per Email zur Verfügung

gestellt werden.

Alternative D:

Das Programm der Alternative C wird als Mehr-

platzlizenz für fünf User eingerichtet.Die Schul-

leitung, die Sekretärin und die Koordinatoren

erhalten unterschiedliche Rechte hinsichtlich

Planung und Administration. Für alle Lehrkräf-

te ist ein PC im Aufenthaltsraum verfügbar, der

eine Vielzahl von Abfragen den Nutzerrechten

entsprechend online ermöglicht und die Infor-

mationsweitergabe sowie die Einsatzverfol-

gung unterstützt. Die Lehrkräfte werden über

ein Multiplikatorenmodell am PC ausgebildet.

Alternative E:

Ein weiteres Konkurrenzprodukt enthält über

den Leistungsumfang des Produkts der Alter-

native C bzw. D weitere Funktionen wie die Me-

dienverwaltung und den Export der Daten. Im

Rahmen der Lizenz können fünf Arbeitsplätze

eingerichtet werden. Die Programme unter-

scheiden sich zudem in der Gestaltung der Be-

nutzeroberfläche.

. Tabelle 17.2 stellt die Alternativen mit ihren

wesentlichsten Leistungsmerkmalen im Über-

blick noch einmal dar.

. Tabelle 17.2. Leistungsmerkmale der Alternativen

Funktionen Alternativen

A B C D E

Grundfunktionen Verwaltung × × × ×

Stundenplanmodul × × ×

Einsatzverfolgung × × ×

Medienverwaltung ×

Controlling/Berichtswesen × × × ×

Datenexport ×

Einzelplatzlizenz × ×

Mehrplatzlizenz × ×

17.5 Bewertung der Alternativen

Jede der Alternativen ist hinsichtlich der relevantenKriterien zu bewerten. Als Methoden kommenhierbei in Abhängigkeit von den untersuchten Kri-terien experimentelle Analysen, Beobachtungensowie Befragungen zur Anwendung.

Um die weiteren Rechenoperationen durchzu-führen, ist eine Skalierung zu verwenden, die kar-dinale Eigenschaften erfüllt.

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17.5 · Bewertung der Alternativen17379

Skalierung

Die Messvorschrift, wie empirische Tatbestände inden reellen Zahlen abgebildet werden sollen undwelche Relationen dabei erhalten bleiben, bezeich-net man als Skala. Empirische Eigenschaften wer-den durch numerische Eigenschaften repräsentiert.Je mehr Eigenschaften der reellen Zahlen Verwen-dung finden, desto höher ist das Skalenniveau. Fol-gende Skalenniveaus werden unterschieden:

Nominalskala. Sie teilt Merkmale in Klassen ein,dienur zwischen gleich und ungleich unterschiedenwerden können. Zwischen den Klassen gibt es kei-ne Größenrelationen. Ein Beispiel ist »Farbe« mitden Merkmalen »rot«, »grün«, »gelb« etc. Rechen-operationen können in dieser Skala nicht durchge-führt werden.

Ordinalskala. Merkmale, die in eine Rangfolge ge-bracht werden können, werden durch eine Ordi-nalskala dargestellt. Der Abstand zwischen denRängen ist jedoch nicht interpretierbar.So kann beider Olympiade zwar eindeutig festgestellt werden,dass Platz 1 besser ist als Platz 2 und Platz 2 besserals Platz 3 und es kann daraus der Schluss gezogenwerden, dass Platz 1 auch besser ist als Platz 3. Umwie viel der jeweilige Athlet jedoch besser ist, kannnicht abgeleitet werden. Aussagen wie »… ist dop-pelt so gut wie …« sind nicht möglich.Auch Notensind ordinal skaliert,da die Abstände zwischen denNoten nicht identisch sind, sondern ebenfalls nurdie Aussage »ist besser als« zulassen.Eine Additionder Ränge oder eine Mittelwertberechnung ist nichtzulässig.

Kardinalskala/metrische Skala. Bei Kardinalskalen,auch metrische Skalen genannt, ist auch der Ab-stand der Merkmale von Bedeutung und wird inden numerischen Eigenschaften repräsentiert. Eswerden Intervall- und Verhältnisskalen unterschie-den.

Intervallskala. Der Abstand der Werte ist interpre-tierbar. Addition, Subtraktion und Mittelwertbil-dung sind erlaubt, die Werte selbst können jedochnicht zueinander ins Verhältnis gesetzt werden.DieTemperatur gemessen in Grad Celsius ist beispiels-weise intervallskaliert. Der Abstand zwischen 0°Cund 1°C sowie zwischen 1°C und 2°C ist zwar iden-

tisch, man kann jedoch nicht sagen, dass 2°C dop-pelt so warm ist wie 1°C. Das Verhältnis der Zahlenist also nicht interpretierbar.

Verhältnisskala. Eine Verhältnisskala zeichnet sichdurch einen natürlichen Nullpunkt aus. Daher istauch das Verhältnis der numerischen Eigenschaf-ten interpretierbar.Dies ist beispielsweise bei EUR-Beträgen der Fall. Der Quotient der Werte besitztAussagewert. 2 EUR ist doppelt so viel wie 1 EUR.

Die Rechenoperationen, die mit numerischenEigenschaften durchgeführt werden dürfen, sindvom Skalenniveau abhängig.So darf mathematischgesehen aus ordinal skalierten Werten kein Durch-schnitt oder gewichteter Durchschnitt gebildet wer-den, da die Abstände nicht interpretierbar sind.

Für die Kosten-Nutzwert-Analyse hat dies zurFolge, dass die Alternativen bezüglich der Ent-scheidungskriterien anhand einer Verhältnisskalagemessen werden müssten.Eine derart exakte Nut-zenschätzung ist zum einen sehr schwer handhab-bar,zum anderen können die Entscheider den Nut-zen zu diesem Zeitpunkt selten so genau bestim-men. Daher werden meist ordinal einzustufendeSkalen verwendet.Wichtig ist,dass die Skala für alleKriterien einheitlich sein sollte (Götze u. Blöch1993, S. 135). Der Zielerreichungsgrad der Kriterienist gegebenenfalls auf diese Skala zu transformie-ren. Wenn also für einige Kriterien nur eine Rang-folge erstellt werden kann, ist auch für die anderenKriterien eine Rangfolge aufzustellen, selbst wennbei diesen eine genauere Messung möglich wäre.

Im einfachsten Fall werden die Alternativen ineine Rangfolge gebracht. Dabei entspricht die An-zahl der zu vergebenden Ränge der Anzahl der Al-ternativen. Der niedrigste Rang ist im Fallbeispieldie beste Bewertung. Werden zwei Alternativengleich gut bewertet, wird der mittlere Rang verge-ben. Im Beispiel sind die Alternativen A und Bgleich schlecht hinsichtlich des Kriteriums Pla-nungsverbesserung. Rang 4 und 5 wären zu verge-ben, somit erhalten beide Alternativen den mittle-ren Rang, also 4,5 (. siehe Tabelle 17.3).

Bei diesem Verfahren gehen jedoch Informa-tionen über die Abstände der Alternativen verloren.Dies lässt sich am einfachsten anhand der Bewer-tung einer Klassenarbeit verdeutlichen, bei der derLeistungsbeste mit 98 Punkten die Note 1 bekom-

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17

380 Kapitel 17 · Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse

men würde, der Zweitbeste mit 96 Punkten dieNote 2 und der Drittbeste mit 65 Punkten die Note 3.

Statt der Vergabe von Rängen können die Alter-nativen mit Noten bewertet oder bepunktet wer-den. Dem genaueren Ergebnis steht ein höhererAufwand zur Bewertung der Alternativen durch dieGruppe entgegen.

Für das Ergebnis ist wesentlich, dass die Zieler-reichung der einzelnen Kriterien korrekt gemessenund in der verwendeten Skala repräsentiert wird.Dabei sollte beachtet werden, dass die Wahl derSkala die Güte der verwendeten Daten berücksich-tigt. Liegen der Bewertung Schätzungen zugrunde,führt eine Benotung mit zwei Stellen nach demKomma nur zu einer Scheingenauigkeit des Ergeb-nisses.

Für das Beispiel werden Ränge vergeben,da dieangegebenen Informationen eine differenziertereBewertung nicht erlauben (siehe Tabelle 17.3). DieVergabe der Ränge baut auf den im Kapitel 17.4,Abschnitt Alternativen im Fallbeispiel, angegebe-nen Leistungsumfang der Alternativen auf.

In die Reihung der Kriterien Personalzufrie-denheit, Ergonomie, Service und Investitionssi-cherheit sind darüber hinaus zusätzliche Annah-men eingeflossen, die für den Leser so nicht offen-sichtlich sein werden. Eine ausführliche Darstel-lung der Alternativen,die eine eindeutige Eingrup-pierung nachvollziehbar machen würde, geht je-doch über den Rahmen dieser Arbeit weit hinaus.

Bewerten Sie die in Ihrer Recherche selbstgefundenen Alternativen anhand aller ver-fügbaren Informationen und führen Sie aufdieser Grundlage die Methode der Kosten-Nutzwert-Analyse mit den folgendenSchritten durch.

17.6 Nutzwertermittlung

Die Ermittlung des Nutzwertes erfolgt in zwei Schrit-ten. Zunächst werden die Gewichtungen der ein-zelnen Kriterien mit den Bewertungen der jeweili-gen Alternativen multipliziert.Für das Beispiel wer-den die Gewichtungen aus Tabelle 17.1 verwendet.

So wurde beispielsweise die Alternative B hin-sichtlich der Personalzufriedenheit mit der Note 4bewertet (siehe Tabelle 17.3). Das Kriterium Perso-nalzufriedenheit ist mit 14,3% am Gesamtergebnisbeteiligt (siehe Tabelle 17.1). Die Multiplikation derNote mit dem Gewicht ergibt 4 · 14,3% = 0,57 (. sie-

he Tabelle 17.4).In der Zeile »Summe« sind die Teilnutzwerte

addiert. Dies ist die gewichtete Note für die einzel-nen Alternativen. Das Vorgehen entspricht der Be-rechnung eines gewichteten Notendurchschnitts.Das Ergebnis zeigt, welche Alternative die festge-legten qualitativen Kriterien am besten erfüllt. Al-ternative E mit einem Nutzwert von 1,86 erfüllt diegeforderten qualitativen Aspekte somit am besten.

Bei einem mehrstufigen Kriterienbaum wirdmit der Ermittlung der Teilnutzwerte auf der un-tersten Hierarchieebene begonnen.Für das Beispieldes Kriterienbaums in Abb. 17.2 ist zunächst derTeilnutzwert für die Personalzufriedenheit aus derBewertung und Gewichtung der Unterkriterien»rasche Verfügbarkeit der Informationen«, »Über-sichtlichkeit der Ergebnisse« und »gute Schulung«gemäß der Schritte der Kapitel 17.3, 17.5 und 17.6 zuermitteln. Die jeweiligen Ergebnisse der Berech-nungen für alle Teilnutzwerte der einzelnen Zwei-ge werden mit der festgelegten Gewichtung dernächsten Hierarchieebene zu dem Teilnutzwert fürdie nächste Hierarchieebene verdichtet.Dieses Ver-fahren wird fortgesetzt, bis der Nutzwert der Alter-nativen ermittelt ist.

. Tabelle 17.3. Bewertung der Alternativen

Kriterien/Alternative A B C D E

1. Personalzufriedenheit 5 4 3 1 2

2. Verwaltungsprozesse 5 4 3 2 1

3. Planungsverbesserung 4,5 4,5 2 2 2

4. Gute Ergonomie 2 1 4,5 4,5 3

5. Service 5 3 3 3 1

6. Investitionssicherheit 4 5 2 2 2

Wichtig

Page 390: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

17.7 · Ermittlung der Kosten nach der Kostenvergleichsrechnung17381

17.7 Ermittlung der Kosten nach der Kostenvergleichsrechnung

Die Kosten werden in diesem Verfahren separat be-trachtet.Hierfür stehen verschiedene monokriteri-elle Verfahren zur Verfügung. Einfach zu handha-ben ist die Kostenvergleichsrechnung, die im Fol-genden vorgestellt werden soll. Dieses Verfahrenkann angewendet werden, falls die Erlöse unab-hängig von der gewählten Investitionsalternativesind, wie dies im Fallbeispiel gegeben ist.

Die Kostenvergleichsrechnung berücksichtigtexplizit nur eine Periode der Nutzungsdauer bzw.Laufzeit, also beispielsweise ein Jahr. Entwederhandelt es sich hierbei um eine Periode, die als re-präsentativ für den Zeitraum angesehen werdenkann,oder um eine Durchschnittsperiode (Götze u.Blöch 1993,S.152).Für das Beispiel wird eine Durch-schnittsperiode verwendet. Es werden sowohl dieInvestitionskosten als auch die Betriebskostenberücksichtigt (. siehe Abb. 17.3).

Die Investitionskosten enthalten die Kosten fürHard- und Software,soweit sie für diese Investitionanzuschaffen sind, zuzüglich der Kosten für dieInstallation der Systeme. Die Kosten können weit-gehend den Angeboten der Hersteller entnommenwerden. Im Fallbeispiel wird davon ausgegangen,dass die Hardware an der Schule bereits vorhandenist.

Getätigte Investitionen,hier die anzuschaffendeSoftware, stehen der Einrichtung nicht nur in dem

Jahr zur Verfügung, in dem diese angeschafft wer-den,sondern über mehrere Jahre.Daher sind die In-vestitionskosten über die Abschreibungen einzube-ziehen. Die Abschreibung der Investition einer Pe-riode, in der Regel ein Jahr, steht für denWerteverlust in dieser Zeit. Falls damit gerechnetwerden kann,dass nach der geplanten Nutzungszeitdie getätigte Investition verkauft werden kann, istder Verkaufserlös abzüglich eventueller Kosten fürdie Beendigung der Nutzung (Entsorgungskostenetc.) in die Rechnung einzubeziehen. Die durch-schnittlichen Abschreibungen werden ermittelt, in-dem der abzuschreibende Betrag auf die Periodender Nutzungsdauer verteilt wird. Somit ergibt sichder Abschreibungsbetrag durch folgende Formel:

Ab =

Erläuterung der Formel:

Ab AbschreibungI0 Investition, die zum Zeitpunkt 0

(Beginn des Einsatzes der Investition)getätigt wird

n Nutzungsdauer (Perioden)Ln Liquidationserlös nach n Perioden =

Verkaufserlös nach n Perioden – Kosten für Beendigung der Nutzung

Zu den Anschaffungskosten der Investition gehö-ren neben dem Anschaffungspreis die Anschaf-

I0 – Ln

n

0,57

. Tabelle 17.4. Nutzwertermittlung

Kriterien/Alternative Gewichtung der Kriterien (%)

A B C D E

1. Personalzufriedenheit 14,3 0,72 0,43 0,14 0,29

2. Verwaltungsprozesse 19,0 0,95 0,76 0,57 0,38 0,19

3. Planungsverbesserung 23,8 1,07 1,07 0,48 0,48 0,48

4. Gute Ergonomie 9,5 0,19 0,10 0,43 0,43 0,29

5. Service 4,8 0,24 0,14 0,14 0,14 0,05

6. Investitionssicherheit 28,6 1,14 1,43 0,57 0,57 0,57

Gesamt 100,0 4,31 4,07 2,62 2,14 1,86

Page 391: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

17

382 Kapitel 17 · Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse

fungsnebenkosten, z. B. Frachtkosten und Errich-tungskosten.

Im Beispiel ist davon auszugehen, dass ein Ver-kauf der Software im Anschluss an die Nutzungs-dauer nicht möglich ist. Am Beispiel der Alternati-ve B ermittelt sich die Abschreibung wie folgt:

I0 4.000 EURn 4 JahreLn 0, da Verkaufserlös nach vier Jahren nicht

erzielt werden kann.

Ab = = 1.000 [EUR]

Die Investitionskosten einschließlich der Installa-tionskosten für die Alternativen sind in . Tabelle

17.5 dargestellt.Der Investitionsbetrag ist zudem maßgeblich

für die Höhe des gebundenen Kapitals. Das gebun-dene Kapital steht während der Investitionszeitnicht für andere Investitionen zur Verfügung bzw.kann während der Zeit keine Zinsen erbringen.Dies wird über die Ermittlung kalkulatorischerZinsen einbezogen.

K–

=I0 + Ln

2

4.000 [EUR] – 0 [EUR]

4 [Jahre]

Erläuterung der Formel:

K–

durchschnittlich gebundenes Kapital

Für die Alternative B ergibt sich als durchschnitt-lich gebundenes Kapitel:

K–

= = 2.000 [EUR]

Der kalkulatorische Zins wird ermittelt mit derFormel:

Zkalk = · K–

Erläuterung der Formel:

Zkalk kalkulatorische Zinsenp Zinsfuß

Der Zinsfuß p gibt an, welche Zinsen für eine Inve-stitionssumme von 100 in einer Periode, üblicherWeise ein Jahr, gezahlt werden. Der Zinsfuß musssich am jeweiligen Marktzins orientieren.Wird einZinsfuß von 8 für das Beispiel der Alternative B zu-grunde gelegt, ergibt sich der kalkulatorische Zinswie folgt:

Zkalk = · 2.000 [EUR] = 160 [EUR]8

100

p

100

4.000 [EUR] + 0 [EUR]

2

. Abb. 17.3. Kostenpositionen

Page 392: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

17.7 · Ermittlung der Kosten nach der Kostenvergleichsrechnung17383

Die Betriebskosten werden ebenfalls als jährlicherDurchschnittswert angegeben. Hierzu zählen fol-gende Kosten:4 Personalkosten für die Schulverwaltung,4 Kosten der Schulung/Nachschulung der Mitar-

beiter für das Produkt,4 Wartung, soweit dies nicht in den Investitions-

kosten enthalten ist.

Falls weitere Kostenpositionen signifikant vonein-ander abweichen, sind diese ebenfalls einzubezie-hen.

.Tabelle 17.6 enthält alle Kostenpositionen.Fürdas Beispiel sind die Abschreibung und die kalku-latorischen Zinsen entsprechend der obigen Be-rechnung in die Tabelle übernommen.Dabei ist einZinsfuß von 8 zugrunde gelegt.Die Personal-,Schu-lungs- und Wartungskosten sind entsprechend derAngaben aus Kapitel 17.4 fiktiv bestimmt.

Versuchen Sie die Kosten für die von Ihnengefundenen Alternativen möglichst genauzu ermitteln.

Berechnen Sie die einzelnen Alternativen,wenn bisher nur das Sekretariat einen PCzur Verfügung hat. Gehen Sie davon aus,dass die für Alternative D und E benötigtenvier zusätzlichen PCs zu einem Preis von je3000 EUR inklusive Wartung beschafft wer-den können und ebenfalls auf vier Jahreabgeschrieben werden.

. Tabelle 17.5. Investitionskosten

Kostenart/Alternative A B C D E

Investitionskosten (einschließlich Installation) –* 4.000 EUR 4.000 EUR 7.500 EUR 7.000 EUR

Abschreibung (bei Nutzungsdauer von 4 Jahren) –* 1.000 EUR 1.000 EUR 1.875 EUR 1.750 EUR

* Entfällt, da Produkt vorhanden ist und auch für andere Einsatzgebiete benötigt wird.

. Tabelle 17.6. Durchschnittliche Gesamtkosten

Kostenart/Alternative A B C D E

Abschreibung (s.oben) – 1.000 EUR 1.000 EUR 1.875 EUR 1.750 EUR

Kalkulatorische Zinsen – 160 EUR 160 EUR 300 EUR 280 EUR

Personalkosten für Verwaltung/Planung 18.000 EUR 14.000 EUR 8.500 EUR 8.000 EUR 8.000 EUR

Schulungskosten – 500 EUR Inkl. 800 EUR 800 EUR

Wartung – – 200 EUR 400 EUR –

Durchschnittliche Gesamtkosten je Periode 18.000 EUR 15.660 EUR 9.860 EUR 11.375 EUR 10.830 EUR

Wichtig

Wichtig

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17

384 Kapitel 17 · Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse

Die bisher dargestellten Kosten sind Fixkosten derInvestition. Das heißt, sie sind unabhängig von derAnzahl der mit Hilfe der Investition erbrachtenLeistung. Falls Kostenbestandteile abhängig vonder Anzahl der zukünftig erbrachten Leistungensind, die zudem, wie auch die Anzahl der Leistun-gen zwischen den einzelnen Alternativen, unter-schiedlich sein kann, ist die Höhe der Leistungen zu schätzen und die Kosten als variable Kosteneinzubeziehen.

Für das genannte Beispiel könnten variableKosten die benötigte Energie für die Geräte sein,dieentsprechend der Arbeitsstunden einzubeziehenist. Da dies jedoch nur einen verschwindend gerin-gen Teil der Gesamtkosten ausmachen würde, wer-den diese Kosten hier selbstverständlich nicht ein-bezogen.

Bei der Investitionsentscheidung »Autokauf«ist der Faktor »benötigte Energie« anders zu be-werten. Die variablen Kosten, die durch unter-schiedlichen Benzinverbrauch auf 100 km verur-sacht werden, sind wesentlich für die Investitions-entscheidung. Das Ergebnis ist abhängig davon, obein Auto für Langstrecken oder kurze Distanzenbeschafft werden soll.

17.8 Entscheidung mit Hilfe der Dominanzbetrachtung

Die Entscheidung, welche Alternative gewählt wer-den soll, kann sehr gut durch eine graphische Ge-genüberstellung der Nutzwerte und der Kosten un-terstützt werden.Dies ist Grundlage für eine Domi-nanzbetrachtung der Alternativen. Für das Beispielergibt sich das in .Abb. 17.4 dargestellte Bild.

Alternative C dominiert die Alternativen A undB,da sie sowohl besser als auch günstiger ist.Daherkönnen Alternativen A und B bei der Entscheidungaußer Betracht bleiben.Auch Alternative D kommtnicht in Frage, da sie schlechter und teuerer ist alsAlternative E.

Somit ist eine Entscheidung zwischen den Al-ternativen E und C zu fällen. Die Mehrplatzvarian-te E würde vielen Nutzern mit sehr umfangreichenFunktionen zur Verfügung stehen, ist jedoch auchvergleichsweise teuer.Alternative C dagegen ist einevergleichsweise günstige Variante, bei der jedochzum einen nur ein Arbeitsplatz zur Verfügung steht,zum anderen die Medienverwaltung und der Da-tenexport nicht angeboten werden.

Die Entscheidung zwischen den Alternativen Cund E kann durch diese Methode nicht weiter un-terstützt werden, da der höhere Nutzwert der Al-

. Abb. 17.4.Dominanzbetrachtung

Page 394: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

17.10 · Kritische Reflexion des Verfahrens17385

ternativen auch zu höheren Kosten führt. Die Ent-scheidung hängt damit sowohl von dem angestreb-ten Nutzen der Investition als auch von den Budget-restriktionen ab.

In realen Entscheidungssituationen kann dieMethode zum Ausschluss eines Großteils der Alter-nativen führen und damit die Entscheidungsfin-dung deutlich erleichtern.

Weitere Alternativen können ausgeschlossenwerden, falls ein Mindeststandard für die qualitati-ven Kriterien festgelegt wurde, der nicht von allenAlternativen erreicht wird. Das gilt auch, wenn nurein begrenztes Budget zur Verfügung steht,das voneinigen Alternativen überschritten wird.

17.9 Durchführung von Sensitivitätsanalysen

Bei Investitionsentscheidungen wird versucht, diezukünftigen Auswirkungen von Investitionen vor-wegzunehmen. Dies bedeutet jedoch auch, dasseine Vielzahl von Daten für das Verfahren geschätztwerden müssen. Das Ergebnis der Berechnungenist aber nur so genau wie die geschätzten Daten.Um diese Ungewissheit in dem Verfahren ange-messen zu berücksichtigen, werden Sensitivitäts-analysen durchgeführt. Dazu werden verschiedeneSzenarien erstellt,das heißt,das Verfahren wird mitunterschiedlichen Datensätzen durchgerechnet.

So können die Investitionskosten meist den An-geboten entnommen werden, während die Be-triebskosten beispielsweise zum Investitionszeit-punkt noch sehr ungenau sind.

Führen Sie das Verfahren mit einer realisti-schen, einer optimistischen und einer pes-simistischen Schätzung der Werte durch.Ist das Modell in dem Tabellenprogram Ex-cel erstellt, ist am Ergebnis sofort ersicht-lich, ob sich die Rangfolge der Nutzwertedadurch verändert.

Weitere Szenarien können berechnet werden,wenndie beteiligten und betroffenen Personengruppenunterschiedliche Standpunkte bezüglich der Krite-

riengewichtung und der Alternativenbewertungvertreten und eine Einigung im Team nicht möglichist. Durch die Berechnung alternativer Szenarienwird ersichtlich, welchen Einfluss die unterschied-lichen Gewichtungen auf das Ergebnis haben. Imgünstigsten Fall ändern sich die absoluten Werteoder auch die Reihenfolge der in Betracht zu zie-henden Alternativen, nicht jedoch die zu präferie-renden Alternativen und die auszuschließenden Al-ternativen. In diesem Fall kann die Entscheidungs-findung bereits deutlich erleichtert werden.

17.10 Kritische Reflexion des Verfahrens

Einfaches Verfahren bei Mehrzielproblemen

Die Kosten-Nutzwert-Analyse ist ein vergleichs-weise einfaches und gut nachvollziehbares Verfah-ren zur Entscheidungsunterstützung bei Mehrziel-problemen. Die Berechnungen und damit auch dieErgebnisse für alternative Szenarien können mitHilfe eines einfachen Excel Spreadsheets ermitteltwerden.

Transparenz als Grundlage für eine offene und fundierte Sachdiskussion

Wesentlicher Vorteil des dargestellten Verfahrensist die systematische Strukturierung der Entschei-dung. Die Entscheidungskriterien sind für alle Be-teiligten und Betroffenen transparent und könnenauf ihre Vollständigkeit überprüft werden. Die Ge-wichtung der Entscheidungskriterien wird eben-falls transparent. Falls bezüglich der Gewichtungunterschiedliche Standpunkte bestehen, kann diesim Rahmen von Szenarienrechnungen einbezogenwerden. Die unterschiedlichen Ergebnisse könnenbei der weiteren Entscheidungsfindung berück-sichtigt werden. Das Verfahren legt damit dieGrundlage für eine offene und fundierte Sachdis-kussion bei Investitionsentscheidungen.

Reduzierung der Entscheidungsalternativen

Für den Einsatz der Kosten-Nutzwert-Analysespricht zudem, dass die zur Verfügung stehendenAlternativen für die Entscheidung auf eine hand-habbare Zahl reduziert werden. Aus Sicht des Ent-scheiders werden eindeutig schlechtere Investi-tionsalternativen ersichtlich und können ausge-klammert werden.

Wichtig

Page 395: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

17

386 Kapitel 17 · Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse

Ergebnis abhängig von Wertvorstellung der Entscheider

Das Verfahren kann hinsichtlich der Nutzwerte je-doch kein objektives Ergebnis ermitteln. Die Be-stimmung der Zielgewichte und die Bewertung derAlternativen sind von den einzelnen Wertvorstel-lungen der Entscheider abhängig und damit sub-jektiv (Oppitz 1995, S. 379). Es gibt keine verbindli-chen Regeln für die Festlegung von Detailzielenund Gewichtungen.Die Ermittlung der subjektivenEinschätzung durch eine Gruppe ist zudem mitdeutlichem Aufwand verbunden.

Da über die Festlegung der Kriterien und Ge-wichte das Ergebnis wesentlich beeinflusst werdenkann, besteht die Gefahr, dass das Verfahren zur»wissenschaftlichen Verbrämung« von Entschei-dungen genutzt wird, die zuvor bereits gefallensind.

Methodische Schwächen

Das Verfahren hat zudem einige methodischeSchwächen. Wie oben erläutert, ist es, um die er-forderlichen Rechenoperationen durchzuführen,erforderlich, dass die Skalierung der Bewertungenkardinale Abstandseigenschaften erfüllen muss.Aus pragmatischen Gründen werden jedoch meistals ordinal einzustufende Skalen verwendet. DieDurchführung der erläuterten Rechenoperationenist aus mathematischer Sicht dann jedoch eigent-lich unzulässig.

Die in Kap. 17.2 Auswahl der Entscheidungskri-terien erwähnte weitgehende Nutzenunabhängig-keit der Kriterien ist ebenfalls kritisch zu prüfen.

Aufgrund der dargestellten Vorteile ist das Ver-fahren als wesentliche Hilfestellung für multikrite-rielle Investitionsentscheidungen zu werten.

Investitionsentscheidungen werden, selbstwenn sie mit größeren Beträgen verbun-den sind, häufig intuitiv getroffen. Dieskann sowohl zu Fehlinvestitionen als auchzur Verärgerung der beteiligten und be-troffenen Personengruppen, deren Mei-nung nicht ausreichend einbezogen wur-de, führen. Die Betriebswirtschaftslehrebietet eine Vielzahl von Methoden, um

mono- und multikriterielle Investitionsent-scheidungen zu unterstützen. Der Beitragstellt die Kosten-Nutzwert-Analyse als Ver-treter der multikriteriellen Methoden an-hand eines Beispiels vor. Bei aller Güte undAusgefeiltheit der verwendeten Methodenkönnen diese dem Entscheider die Wahl je-doch nicht abnehmen. Sie dienen aber we-sentlich zur Entscheidungsunterstützung,indem sie Transparenz schaffen und dieKonsequenzen einer Entscheidung ver-deutlichen.

3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung

Das Fallbeispiel kann in einem Rollenspiel erarbei-tet werden. Im Plenum wird zunächst über denmöglichen Leistungsumfang eines Schulverwal-tungssystems diskutiert und auf dieser Grundlagedie Stakeholder festgelegt. Die Studierenden über-nehmen die Rollen der einzelnen Stakeholder inGruppen von drei bis maximal fünf Teilnehmern.In der Gruppe erfolgt zunächst die Zieldiskussion,dann die Zielgewichtung.

Die einzelnen Gruppen stellen die Ergebnisseim Anschluss vor. Unterschiede und Gemeinsam-keiten der Gruppen werden diskutiert.Die weiterenSchritte werden auf der Grundlage der jeweiligenZielgewichtung der Gruppen durchgeführt. Ein in-teressantes Ergebnis ist meist, dass auch bei abwei-chenden Zielgewichtungen die gleichen Alternati-ven aus der Entscheidung herausfallen. Dies istauch ein mögliches Vorgehen in realen Entschei-dungssituationen, in denen in der Gruppe keinKonsens über die Zielgewichtung erreicht werdenkann (siehe Kap. 17.9 Durchführung von Sensiti-vitätsanalysen).

Soweit entsprechende Möglichkeiten zur Ver-fügung stehen, sollten die Informationen über dieLeistungen der auf dem Markt angebotenen Schul-verwaltungssysteme über eine Internetrechercheerhoben werden.Falls die Studierenden noch nichtmit Suchmaschinen im Internet vertraut sind, bie-tet sich an, dies als Lerneinheit mit aufzunehmen.Alternativ können vor der Unterrichtseinheit imRahmen eines Messebesuchs ausführliche Infor-

Zusammenfassung

Page 396: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

17.10 · Kritische Reflexion des Verfahrens17387

mationen eingeholt oder Prospektmaterial vonHerstellern angefordert werden.

Die Zielerreichung der einzelnen Alternativenwird anhand der Produktinformationen von deneinzelnen Gruppen bewertet. Auch wenn dasRechnen mit der Ordinalskala problematisch ist,empfiehlt sich diese Variante aufgrund der einfa-cheren Bewertung.

Die Gruppen sollten ihre Grafik der Domi-nanzbetrachtung präsentieren. Das Vorgehen derSensitivitätsanalyse kann anhand der unterschied-lichen Ergebnisse der einzelnen Gruppen verdeut-licht werden.

Die Berechnungen sollten nach Möglichkeit inExcel durchgeführt werden. Die Tabelle lässt sichleicht in Excel übertragen, da sich die benötigtenRechenoperationen auf die Grundrechenarten be-schränken.In einem Punktdiagramm kann die gra-fische Darstellung der Kosten und Nutzwerte erfol-gen.Vorteil der Berechnung in Excel ist es,dass jedeGruppe ohne zusätzlichen Rechenaufwand ver-schiedene Szenarien erstellen und deren Auswir-kungen auf das Ergebnis beobachten kann. Zudemkann das erstellte Rechenmodell Grundlage für denspäteren Einsatz der Methode in der Praxis sein.

Die Methodik der Kosten-Nutzwert-Analyse istauf alle Investitionsentscheidungen übertragbar,

bei denen nicht nur monetäre Auswirkungen zuberücksichtigen sind,sondern auch qualitative Un-terschiede der zur Verfügung stehenden Alternati-ven relevant sind. Stehen Entscheidungen aktuellzur Diskussion, wie zum Beispiel die Einführungeines Qualitätsmanagementsystems, Outsourcingverschiedener Leistungen, die Durchführung einerSchulungsmaßnahme zum Thema Hygiene oderdie Entscheidung für ein Pflegedokumentations-system, sollte dies als Anwendungsbeispiel in derUnterrichtseinheit zur Kosten-Nutzwert-Analysegenutzt werden.

3 Empfehlungen zum WeiterlernenMultikriterielle Verfahren sind universell einsetz-bar.Sie werden,zum Teil unbewusst,von den meis-ten von uns gelegentlich genutzt. Däumler gibt alsBeispiel aus dem Alltag eine Partnerwahl mittelsNutzwertanalyse an (Däumler 2000, S. 34). In Risi-koanalysen finden multikriterielle Verfahren eben-falls ihren Einsatz (Däumler 2000, S. 35), Henninggibt ein Fallbeispiel für Outsourcing (Henning1998).

Die Betriebswirtschaftslehre nutzt verschiede-ne Methoden (. siehe Abb. 17.5), um zur Wahl ste-hende Investitionsalternativen miteinander zu ver-gleichen. Es gibt eine Vielzahl von verständlichen

. Abb. 17.5. Auswahl von Methoden zur Unterstützung von Investitionsentscheidungen

Page 397: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

17

388 Kapitel 17 · Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse

Büchern und Artikeln zu diesem Themengebiet. Injeder Bibliothek der Wirtschaftswissenschaften fin-den sich gute Lehrbücher zu diesem Thema.

Die Verfahren können nach der Anzahl der ein-fließenden Kriterien unterschieden werden.

Wird nur ein Kriterium für die Entscheidungherangezogen, in der Regel sind dies die Kostenoder Gewinne,kommen monokriterielle Verfahrenzur Anwendung. Zu unterscheiden sind die klassi-schen Verfahren der Investitionsrechnung und dieKosten-Nutzen-Analyse (Lücke u. Bloech 1991,S. 292).

Zum Teilbereich der statischen Investitions-rechnung gehört die oben dargestellte Kostenver-gleichsrechnung.Weitere statische Modelle sind dieGewinnvergleichsrechnung (Götze u. Blöch 1993,S. 60 ff), die Rentabilitätsvergleichsrechnung (Göt-ze u. Blöch 1993, S. 63 ff) sowie die statische Amor-tisationsrechnung (Götze u. Blöch 1993, S. 66 ff).Alle statischen Verfahren berücksichtigen Durch-schnittsgrößen und sind damit eine vereinfachteSchätzung. Sie eignen sich für die Bewertung dermonetären Aspekte nur dann, wenn die Zahlungenüber den entsprechenden Zeitraum weitgehendstabil bleiben.Tatsächlich zeichnen sich viele Inves-titionen jedoch dadurch aus, dass am Anfang derInvestition das Geld in der gesamten Höhe bereit-stehen muss und etwaige Rückflüsse (Einzahlun-gen) über die Zeit hinweg in unterschiedlicherHöhe erfolgen. Um dies genauer in der Investi-tionsrechnung zu berücksichtigen, wurden dyna-mische Modelle entwickelt, die auf der Zinseszins-rechnung basieren. Hierzu gehören die Kapital-wertmethode (Götze u. Blöch 1993, S. 73 ff), dieMethode des internen Zinsfußes (Götze u. Blöch1993, S. 90 ff), die Annuitätenmethode (Götze u.Blöch 1993,S.87 ff) sowie die Methode der dynami-schen Amortisationsrechnung (Götze u.Blöch 1993,S. 100 ff).

Bei der Kosten-Nutzen-Analyse werden alleVor- und Nachteile einer Alternative monetär be-wertet. Es erweist sich jedoch als sehr schwierig,qualitative Kriterien monetär zu bewerten.

Die Kosten-Nutzwert-Analyse ist eines vonmehreren multikriteriellen Verfahren, also Verfah-ren, die mehrere Kriterien bei der Entscheidungs-unterstützung einbeziehen. Die multikriteriellenVerfahren werden in qualitative Verfahren undquantitative Verfahren unterschieden. Ein einfa-

ches, aber wenig differenziertes qualitatives Ver-fahren ist die Erstellung einer Argumentenbilanz(Staehelin 1993,S.28 f).Alle Argumente für und ge-gen eine Alternative werden in einer Tabelle ge-genübergestellt. Versucht man, Pro und Contragleich detailliert auszuarbeiten, ist ein Ungleichge-wicht der Bilanz ein Indiz dafür, ob die Alternativezu befürworten ist oder nicht.

Bei den quantitativen multikriteriellen Verfah-ren lassen sich klassische Verfahren,zu denen auchdie Nutzwert-Analyse gehört, von entscheidungs-technologischen Ansätzen unterscheiden (Götze u.Blöch 1993, S. 129). Bei den klassischen Verfahrenwird von der Existenz einer Ordnung ausgegangen,d. h. dass der Entscheider über genügend Informa-tionen verfügt, die ihm erlauben, die Alternativenin eine Ordnung zu bringen.Dies setzt auch voraus,dass die einzelnen Kriterien kompensierbar sind.Am Beispiel bedeutet dies, dass auch eine Alterna-tive in Frage kommt, die bezüglich der Investi-tionssicherheit sehr schlecht abschneidet, soweitder Gesamtnutzwert zu einem guten Ergebnisführt. Weitergehende klassische Verfahren sindAnalytic Hierarchy Process (AHP) (Götze u. Blöch1993,S.141 ff),das MAUT-Verfahren (Götze u.Blöch1993, S. 159 ff) und SMART (Henning 1998, S. 130 f).

Die entscheidungstechnologischen Ansätzedienen in erster Linie dem Selektieren, Sortierenund Ordnen von Alternativen, wenn nicht genü-gend Informationen vorliegen, um eine Ordnungzu erstellen. Eine unvollständige Kompensierbar-keit der Kriterien wird dabei berücksichtigt.Zu denVerfahren zählen u. a. PROMETHEE (Götze u.Blöch 1993, S. 171 ff) und ELECTRE (Henning 1998,S. 160) sowie darauf aufbauende Verfahren (u. a.Stummer 2001, Stummer 1998).

Einen Überblick über die Verfahren bietet Hen-ning (Henning 1998). Eine weitergehende Eintei-lung der Methoden nach der Art der vorhandenenInformationen finden sich bei Götze und Blöch(Götze u. Blöch 1993, S. 129 ff). Andere Autoren ge-hen insbesondere auf Investitionsentscheidungenunter Risiko ein (u. a. Pflaumer 1992) oder berück-sichtigen im Rahmen der Methode Inflation oderSteuern (u. a. Staehelin 1993).

Die Verfahren sind mathematisch vergleichs-weise anspruchsvoll und daher nur für »Fortge-schrittene« geeignet.

Page 398: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

17.10 · Kritische Reflexion des Verfahrens17389

Literatur

Däumler KD (2000) Grundlagen der Investitions- und Wirtschaft-

lichkeitsrechnung:mit Aufgaben und Lösungen,Tests und Ta-

bellen. Anwendersoftware auf CD-Rom. Neue Wissenschafts-

Briefe, Herne Berlin

Götze U, Bloech J (1993) Investitionsrechnung, Modelle und Ana-

lysen zur Beurteilung von Investitionsvorhaben.Springer,Ber-

lin Heidelberg New York

Henning S (1998) Out- und Insourcing im Krankenhaus: Potentiale

und entscheidungsunterstützende Verfahren. Schriftenreihe

von Prof. Meyer in Eigenverlag. Nürnberg

Lücke W , Bloech J (Hrsg) (1991) Investitionslexikon. Vahlen, Mün-

chen

Oppitz V (1995) Gabler Lexikon Wirtschaftlichkeitsrechnung. Ga-

bler, Wiesbaden

Pflaumer P (1992) Investitionsrechnung. R. Oldenbourg Verlag,

München Wien

Staehelin E (1993) Investitionsrechnung. Rüegger, Chur Zürich

Stummer C (2001) Faire Gruppenentscheidungen in der Investi-

tionsplanung. In: OR-Spektrum 23/4: 431–443

Stummer C (1998) Projektauswahl im betrieblichen F&E-Manage-

ment. Gabler, Wiesbaden

Zangemeister C (1976) Nutzwertanalyse in der Systemtechnik.Wit-

temannsche Buchhandlung, Berlin

Page 399: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

18

Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall

Alfred Schneider

18.1 Rechtliche Situation in der Pflegeausbildung 392

18.1.1 Formale Strukturen 392

18.1.2 Berufszulassungsgesetze für die Pflegeberufe 393

18.1.3 Reformansätze 2003 in den Pflegeberufen 394

18.2 Gesetzgebungskompetenz für die Ausbildung

in den Pflegeberufen 396

18.3 Das duale Bildungssystem 397

18.4 Gemeinsamkeiten und Unterschiede:

Duale Ausbildung und Ausbildung

in den Pflegeberufen 397

18.4.1 Berufsbildungsgesetz und Krankenpflegegesetz 397

18.4.2 Anerkennung der Länderhoheit im Schulrecht 398

18.4.3 Berufsschule oder Berufsfachschule –

länderrechtliche Sonderregelung 399

18.4.4 Rechtsstatus des Schülers/der Schülerin 400

18.4.5 Anforderungen an die Schulen 404

18.4.6 Gesamtverantwortung für die Ausbildung 405

18.5 Pflegeausbildung »sui generis«

und ihre Problemfelder 406

18.5.1 Lernortvernetzung 407

18.5.2 Praxisanleitung und Praxisbegleitung 407

18.5.3 Curriculare Planung 407

Page 400: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

18

392 Kapitel 18 · Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall

> ThesenTrotz innovativer Reformen durch das Kranken-

pflegegesetz 2003 einerseits und das Inkrafttreten

eines bundeseinheitlichen Altenpflegegesetzes

im gleichen Jahr andererseits stellt sich Interes-

sierten die Frage, warum es im Gegensatz zu an-

deren Berufsfeldern bisher nicht gelungen ist,eine

einheitliche Pflegeausbildung für Deutschland zu

etablieren. Es muss kritisch hinterfragt werden,

warum es im Bereich »Pflege« so viele Sonderre-

gelungen und Ausnahmen gibt.

Dieser Artikel stellt die rechtliche Situation aus

Sicht ihrer historischen Entwicklung und ihre Pro-

blematik hinsichtlich zukünftiger weiterer Re-

formnotwendigkeiten dar.

3 Berufliche Handlungskompetenzen

2 FachkompetenzDie rechtliche Situation der pflegerischenAusbildungen im föderalen System er-kennen und einordnen.Gemeinsamkeiten, Überschneidungenund Unterschiede in den pflegerischenAusbildungen sowie zu anderen (dualen)Berufsausbildungen erkennen und be-werten.Aufgrund der rechtlichen Situation Kon-sequenzen für die Pflegeausbildung unddamit für Lernende und Lehrende ablei-ten.

3 PraxisrelevanzStudierende,Absolventen und Hochschullehrer imBereich der Pflegewissenschaften finden in denverschiedenen Pflegeausbildungen von einanderabweichende und komplexe rechtliche Grundlagenvor. Um die Problematik zu verstehen, ist es wich-tig, die verschiedenen Rechtsvorschriften ausGrundgesetz,Bundesgesetzen und Ländergesetzge-bung als unverzichtbare Grundlage für die diffizileSituation heranzuziehen. Erst die Kenntnis der imFolgenden dargestellten, nicht unproblematischenrechtlichen Verhältnisse und Zuständigkeiten bie-tet die Möglichkeit, weiterhin notwendige Refor-men zu formulieren und beim richtigen Ansprech-partner einzufordern.

3 VerfahrensstrukturDie Problematik der rechtlichen Situation der Pfle-geausbildung wird in der zweiteiligen Verfahrens-struktur visualisiert. Das Mind Map (. Abb. 18.1)geht von den einzelnen Beteiligten aus, . Tabelle

18.1 stellt die strukturellen Unterschiede zwischenAusbildungen des dualen Bildungssystems und denPflegeausbildungen dar.

18.1 Rechtliche Situation in der Pflegeausbildung

18.1.1 Formale Strukturen

Die Ausbildung in den Berufen der Krankenpflegehat eine weit zurückreichende Geschichte, die inEuropa im Wesentlichen ihren Ursprung im karita-tiven Wirken christlicher Schwestern- und Ordens-gemeinschaften hat und von daher auch grundle-gend geprägt wurde. Nach einzelstaatlichen Län-derregelungen in Deutschland folgten das erstereichseinheitliche Krankenpflegegesetz von 1938sowie bundeseinheitliche Krankenpflegegesetzevon 1957,1965 und 1985 bis zum derzeit gültigen Ge-setz, das im Jahre 2003 verabschiedet wurde. Wiedas geltende Krankenpflegegesetz stellen auch dasHebammengesetz aus dem Jahre 1985 und das Al-tenpflegegesetz aus dem Jahre 2000 Bundesgesetzedar.

Die Ausbildung in der Gesundheits- und (Kin-der-)Krankenpflege und in der Altenpflege sowiedie Ausbildung zur Hebamme und zum Endbin-dungspfleger umfassen sowohl einen theoretischenals auch einen praktischen Ausbildungsteil. Damitwerden der Lernort Schule (theoretische Ausbil-dung) und der Lernort Betrieb (praktische Ausbil-dung) angesprochen. Bemerkenswert ist, dass dieSchulen nach dem Krankenpflegegesetz nach wievor in Verbindung mit einem Krankenhaus stehenmüssen (§ 4 Abs. 2 KrPflG). Dies mutet wider-sprüchlich an,da das Gesetz verpflichtend vorsieht,dass Teile der praktischen Ausbildung in ambulan-ten Pflegeeinrichtungen abzuleisten sind. Mit dergesetzlichen Regelung besteht das Risiko, dass dieLehrenden an Krankenpflegeschulen den (organi-satorischen) Vorgaben des Krankenhauses ver-pflichtet sind, das Schulträger ist. Dies könnte v. a.für die Verwendung gesetzlich ausgewiesener Stun-

Page 401: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

18.1 · Rechtliche Situation in der Pflegeausbildung18393

denfreiräume zutreffen, die vom Ausbildungsträ-ger, an dem die Schule angesiedelt ist, beanspruchtwerden.

18.1.2 Berufszulassungsgesetze für die Pflegeberufe

Für viele Gesundheitsfachberufe sind sog. Berufs-zulassungsgesetze maßgeblich, und zwar i. d. R. fürden jeweiligen Beruf das entsprechende Bundesge-setz.

Als relevante Berufszulassungsgesetze (nebstAusbildungs- und Prüfungsverordnung) für Pfle-geberufe sind folgende zu nennen:4 Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege

vom 16.07.2003 (BGBl. I, 1442 ff) einschließlichder Ausbildungs- und Prüfungsverordnung fürdie Berufe in der Krankenpflege vom 10.11.2003(BGBl. I, 2263 ff).Geschützt werden die BerufsbezeichnungenGesundheits- und Krankenpfleger/-in,Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/-in.

4 Gesetz über die Berufe in der Altenpflege vom17.11.2000 (BGBl. I, 1513 ff) einschließlich der

. Abb. 18.1. Verfahrensstruktur

Wichtig

Ausbildungs- und Prüfungsverordnung vom26.11.2002 (BGBl. I, 4418 ff).Geschützt wird die Berufsbezeichnung Alten-pfleger/-in.

4 Gesetz über den Beruf der Hebamme und desEntbindungspflegers vom 04.06.1985 (BGBl. I,902 ff) einschließlich der Ausbildungs- undPrüfungsverordnung für Hebammen und Ent-bindungspfleger vom 16.03.1987 (BGBl.I,929 ff).Geschützt wird die Berufsbezeichnung Heb-amme und Endbindungspfleger.

Die Berufsbezeichnungen »Krankenpflegerhel-fer/-in« und »Altenpflegerhelfer/-in« können zu-künftig allenfalls noch länderrechtlich geregeltwerden.

Krankenpflegegesetz, Hebammengesetzund Altenpflegegesetz sind also Bundes-gesetze, die die Zulassung zur Berufsaus-übung und Führung der Berufsbezeich-nung regeln, nicht aber die Inhalte der spä-teren Berufsausübung.

Page 402: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

. Tabelle 18.1. Verfahrensstruktur

Duales Bildungssystem Pflegeausbildungen

Lernorte Betrieb Krankenhaus/unterschiedliche ambulante, stationäre Pflegeeinrichtungen, Reha-Einrichtungen

Berufsschule Krankenpflege-, Hebammen- und Altenpflegeschulen

Vertragspartner Betrieb Ausbildungsträger

Verantwortlich für Betrieb Schulendie Ausbildung

Gesetzliche Regelung Berufsbildungsgesetz Krankenpflegegesetz (Berufszulassungsgesetz)Altenpflegegesetz (Berufszulassungsgesetz)Hebammengesetz sowie die entsprechendenPrüfungs- und Ausbildungsverordnungen

Rechtsstatus Auszubildender Schüler (mit Charakter eines Auszubildenden)des Lernenden In Bayern:

– für theoretischen Unterricht: Schulrecht,– für praktische Ausbildung: Arbeitsrecht

Probezeit Mindestens 1 Monat, 6 Monatemaximal 4 Monate

Beendigung des Arbeitsverhältnis endet Ausbildungsverhältnis endet mit Ablauf des Ausbildungsverhältnisses nach bestandener Ausbildungsvertrages nach 3 Jahren, auch bei an

Prüfung einem früheren Termin bestandener PrüfungAusnahme: mit bestandener Prüfung, wenn vor-geschriebene Stundenzahl erbracht wurde

Mitbestimmungsrechte Betriebs-/Personalrat oder In der Regel wie bei dualer Ausbildung, mit Ausnahme sonstige Mitarbeiter- schulrelevanter Aspektevertretung

Status der Lehrer Berufsschullehrer (Studium) Lehrhebamme bzw. -entbindungspfleger (HebG,Weiterbildung bzw. Studium der Pflegepädagogik) (Pädagogisch) qualifizierte Fachkraft mit abge-schlossener Hochschulausbildung (KrPflG, AltPflG)

18

394 Kapitel 18 · Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall

18.1.3 Reformansätze 2003 in den Pflegeberufen

Mit der Novellierung des Krankenpflegegesetzes imJahre 2003 und dem »Durchbruch« zur Verabschie-dung eines bundeseinheitlichen Altenpflegegeset-zes wollte der Gesetzgeber gesellschaftlichen, v. a.demographischen Veränderungen ebenso Rech-nung tragen wie auch – in erster Linie mit demKrankenpflegegesetz – Veränderungen sozialrecht-licher, insbesondere pflegeversicherungsrechtli-cher Vorschriften, aber auch den Entwicklungender Pflegewissenschaft.

Erstmalig werden in der Krankenpflege Ge-sundheit und Pflege kranker Menschen miteinan-der verknüpft, nach außen verdeutlicht durch dieneuen Berufsbezeichnungen.

Es werden hierdurch neue Ausbildungsakzentegesetzt und neue Handlungsfelder erschlossen.DieGesundheits- und (Kinder-) Krankenpflegeausbil-dung berücksichtigt neben dem – früher schwer-punktmäßig behandelten – kurativen Aspekt ver-mehrt präventive, gesundheitsfördernde, rehabili-tative und palliative Elemente, die auch sozial-rechtlich intensiver in den Vordergrund getretensind.

Page 403: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

18.1 · Rechtliche Situation in der Pflegeausbildung18395

Zugunsten einer inhaltlichen Differenzierungwird die bisherige Teilung der Ausbildung in Kran-ken- und Kinderkrankenpflege aufgehoben, wenn-gleich es bei zwei Berufsbildern mit unterschiedli-cher Berufsbezeichnung bleibt. Die grundsätzlich3-jährige Ausbildung (in Teilzeitform 5 Jahre) siehteinen generalisierenden Teil vor sowie eine sichdaran anschließende Phase der Spezialisierung.

Ausdrücklich weisen in diesem Zusammen-hang die Gesetzesmaterialien auf eine Kooperationder Berufe in der Krankenpflege einerseits und inder Altenpflege andererseits hin.

Die gesetzliche Regelung räumt den LändernModellversuche ein,die auf eine Weiterentwicklungder Pflegeberufe unter Berücksichtigung berufs-feldspezifischer Anforderungen abzielen (§ 4Abs.6 KrPflG).Damit berücksichtigt der Gesetzge-ber u. a. Studien, die eine hohe Schnittmenge zwi-schen den einzelnen (Kranken-, Kinderkranken-und Altenpflege-)Ausbildungen festgestellt haben.

Beim Erlass der jeweiligen Ausbildungs- undPrüfungsverordnung wird ein abgestimmtes Vor-gehen der jeweils zuständigen Bundesressorts ge-fordert (§ 8 Abs. 1 S. 1 KrPflG).

Zudem spiegelt sich – jedenfalls zum Teil – derGedanke einer umfassenden Pflege in unterschied-lichen Versorgungskontexten in der Formulierungdes Ausbildungsziels für die Gesundheits- und(Kinder-)Krankenpflegeberufe wider (§ 3 KrPflG).Unter Berücksichtigung einschlägiger europäi-scher Vorgaben und Empfehlungen der Weltge-sundheitsorganisation (WHO) wird in eigenver-antwortliche, mitwirkende und interdisziplinäreAufgabenbereiche der Krankenpflege differenziert.Insbesondere der auf Eigenverantwortlichkeit ab-zielende Bereich in der späteren Berufsausbildung,der v. a. die Feststellung des Pflegebedarfs bis hinzur Evaluation der Pflege (Pflegeprozess), die Si-cherung und Entwicklung der Pflegequalität sowie– neu – Beratung, Anleitung und Unterstützungvon zu pflegenden Menschen und ihrer Bezugper-sonen umfasst, ist ein wichtiger Schritt hin zur Au-tonomie des Gesundheits- und (Kinder-)Kranken-pflegeberufs.

Darüber hinaus weist das Ausbildungsziel ei-ner interdisziplinären Zusammenarbeit mit ande-ren Berufsgruppen – etwa im Bereich der ambu-lanten Pflegeeinrichtungen,wie überhaupt im inte-grierten Versorgungssystem auch mit Hausärzten,

Wichtig

mit (Alten-)Pflegeheimen und weiteren Einrich-tungen des Gesundheitswesens – auf die Entwick-lung berufsübergreifender Lösungen von Gesund-heitsproblemen hin. Dem erklärten Ziel, dieAusbildungen in den Pflegeberufen auf eine ge-meinsame Grundlage zu stellen, trägt u. a. dasKrankenpflegegesetz 2003 bereits Rechnung.

Das neu formulierte Ausbildungsziel ver-langt zur Umsetzung in den Pflegealltagentsprechende Umgestaltungen von Orga-nisations- und Führungsstrukturen inner-halb der einzelnen Berufsgruppen im Kran-kenhaus.

Als unterstützend sollte hierbei die Einführung des sog. DRG-Systems (DRG: »diagnosis-related-groups«/diagnoserelavante Gruppen) angesehenwerden.Die Einführung dieses Entgeltsystems wirdzu einer Neustrukturierung und Optimierung be-triebsinterner Abläufe führen.

So gesehen kann den Pflegeberufen als Folgeder Neuordnung der Pflegeausbildung gemeinsammit der Einführung des DRG-Systems eine Art»pflegerischer Organisationshoheit« zukommen.

Wünschenswert wäre in diesem Zusammen-hang jedoch eine weitere Anpassung auch in derSozialgesetzgebung (Sozialgesetzbuch), die nachwie vor die Begriffe »Grundpflege« und »Behand-lungspflege« verwendet (z. B. § 37 Abs. 1 SGB V).Diese dürften angesichts der Neuausrichtung in derPflegeausbildung zukünftigen Tätigkeitsfeldernder Pflege nicht mehr entsprechen.

Ausdrücklicher als in der Altenpflege (§ 3 Alt-PflG) soll die Vermittlung krankenpflegerischerKompetenz auf »dem allgemeinen Stand pflege-wissenschaftlicher,medizinischer und weiterer be-zugswissenschaftlicher Erkenntnisse« basieren(§ 3 Abs. 1 KrPflG). Damit entfernt sich die Ausbil-dung in der Krankenpflege ein Stückweit von demfrüheren, eher »medizinlastigen« und auf Erfah-rungswissen gründenden Ausbildungskonzept.Dem entspricht die Ausbildungs- und Prüfungs-verordnung – ähnlich der Altenpflege – mit einemneuen Stundenverhältnis zugunsten der theoreti-schen Ausbildung (früher 1600 Stunden, jetzt

Page 404: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

18

396 Kapitel 18 · Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall

Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten ab, be-zieht er sich in der Gesundheits- und (Kinder-)Krankenpflege zukünftig auf die Vermittlung fach-licher,personaler,sozialer und methodischer Kom-petenzen, pflegewissenschaftlich untermauert.

18.2 Gesetzgebungskompetenz für die Ausbildung in den Pflegeberufen

Die Zuständigkeit zum Erlass von Gesetzen (Ge-setzgebungskompetenz) regelt sich nach der Ver-fassung,d.h.nach dem Grundgesetz der Bundesre-publik Deutschland.

Danach liegt die Gesetzgebungskompetenzgrundsätzlich bei den Ländern, soweit nicht aus-drücklich der Bund für zuständig erklärt ist (Arti-kel 70 GG). Die Abgrenzung zwischen Landes- undBundeszuständigkeit erfolgt nach den Vorschriftendes Grundgesetzes über die ausschließliche und diekonkurrierende Gesetzgebung (Artikel 70 Abs. 2GG). »Konkurrierende Gesetzgebung« heißt, dassdie Gesetzgebungsbefugnis bei den Ländern liegt,soweit nicht der Bund von seinem Gesetzgebungs-recht Gebrauch macht (Artikel 71 GG). Dieses Ge-setzgebungsrecht des Bundes besteht jedoch nurdann, wenn ein Erfordernis zu einer bundesein-heitlichen Regelung vorliegt.Gegenstände der kon-kurrierenden Gesetzgebung, für die das Grundge-setz eine bundeseinheitliche Regelung vorsieht,sind im Katalog des Artikels 74 GG aufgezählt.Dar-unter fällt z. B. die Zulassung zu ärztlichen und an-deren Heilberufen (Artikel 74 Nr. 19 GG).

Demgegenüber ergibt sich aus der Kompetenz-verteilung des Grundgesetzes, dass – vorbehaltlicheines Zusammenwirkens von Bund und Ländernbei der Bildungsplanung (Artikel 91 b GG) – aus-schließlich die Länder für das Schulrecht (Schulge-setzgebung/Schulverwaltung) zuständig sind. DerBund hat auf diesem Gebiet weder Gesetzgebungs-noch Verwaltungsbefugnis.

Der schulische Teil der Pflegeausbildungen istdaher durch die aus dem föderativen Staatsaufbauder Bundesrepublik Deutschland folgende verfas-sungsrechtliche Kompetenzzuweisung grundsätz-lich durch die Länder zu regeln. Die Länder besit-zen insoweit die Gesetzgebungshoheit, von der je-doch nur einige Bundesländer Gebrauch gemacht

Wichtig

2100 Stunden). Hiermit realisiert der Gesetzgeberdie Forderung, Pflegetätigkeit auf die Basis einerwissenschaftlich fundierten theoretischen Ausbil-dung zu stellen. Nicht ganz auszuschließen ist je-doch, dass die Verwirklichung dieser Anforderungin der praktischen Ausbildungssituation zunächstproblematisch sein kann,da es – worauf zutreffendhingewiesen wird – schwierig sein dürfte, das er-worbene theoretische Wissen in der praktischenAusbildung einzuüben. Die ausbildenden Pflege-einrichtungen sind somit besonders gefordert,ebenso wie die in der Praxisbegleitung und Praxis-anleitung eingesetzten Personen (§ 4 Abs.5 KrPflG,§ 4 Abs. 4 AltPflG).

Mit der Praxisanleitung und -begleitungwerden die Vernetzungsstrukturen vonschulischer und praktischer Ausbildungverdeutlicht. Sie sollen zu einer wesentli-chen Verbesserung der Ausbildungsqua-lität beitragen.

Die Sicherstellung der Praxisbegleitung ist gesetz-liche Pflicht der Schulen. Ihre Aufgabe besteht inder Betreuung der Schüler während der prakti-schen Ausbildung in den Einrichtungen sowie inder Beratung der für die Praxisanleitung zuständi-gen Fachkräfte.

Die Praxisanleitung erfolgt durch geeigneteFachkräfte, die von der ausbildenden Einrichtungzu stellen sind.Aufgaben der Praxisanleiter sind dieschrittweise Heranführung der Schüler an die ei-genverantwortliche Wahrnehmung der beruflichenAufgaben sowie die Gewährleistung der Verbin-dung mit der Schule.

Mit der Vermittlung krankenpflegerischerKompetenz in eigenverantwortliche, mitwirkendeund interdisziplinäre Bereiche folgt der Gesetzge-ber dem Konzept einer Präzisierung des Ausbil-dungsverfahrens, das auf Handlungs- und Lernfel-der ausgerichtet ist nicht, jedoch in der Ausbildungzur Altenpflege, zur Hebamme und zum Entbin-dungspfleger eingeführt ist.

Dementsprechend unterscheidet sich auch derpädagogische Ansatz. Stellt dieser in den letztge-nannten Berufsbildern auf die Vermittlung von

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18.4 · Gemeinsamkeiten und Unterschiede18397

haben (z. B. Bayern, Mecklenburg-Vorpommern).Das erklärt die unterschiedlichen Ausbildungs-strukturen in Teilen der Bundesrepublik und dieSchwierigkeit,hinsichtlich des schulischen Teils derPflegeausbildung eine Einheitlichkeit in Deutsch-land herbeizuführen.

Es bestand und besteht Konsens darüber, dassdie Gesundheits- und (Kinder-)Krankenpflegebe-rufe sowie der Beruf der Hebamme und des Ent-bindungspflegers zu den »anderen Heilberufen« imSinne des Grundgesetzes zählen. Umstritten wardiese Zuordnung für den Beruf der Altenpflege.Dieser wurde – v.a.aus Ländersicht – den sozialbe-zogenen Pflegeberufen zugeordnet. Diese Zuord-nung verhinderte bis in die Mitte des Jahres 2000die Anerkennung einer Gesetzgebungskompetenzdes Bundes zur Verabschiedung eines bundesein-heitlichen Ausbildungsgesetzes für die Altenpflege.

Die Differenzierung der Einzelberufe nach ge-sundheitspflegerischen oder sozialpflegerischenBereichen konnte jedoch mit dem Altenpflegege-setz vom 17.11.2000 im Wesentlichen beigelegt wer-den.So leitet denn auch der Bundesgesetzgeber sei-ne Gesetzgebungskompetenz für ein Gesetz überdie Berufe in der Altenpflege aus Artikel 74 Abs. 1Nr. 19 GG her. Bestätigung fand diese Auffassung ineiner Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtsvom 24.10.2002.

Zudem wird zutreffend auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12GG hingewiesen, wonach dem Bund die Gesetzge-bungskompetenz für Regelungen über Ausbil-dungsverhältnisse zusteht.

18.3 Das duale Bildungssystem

Trotz vieler Sonderregelungen ähneln die Pflege-ausbildungen dem dualen Bildungssystem.

Die Berufsbildung im dualen System ist die äl-teste Form der Berufsausbildung.Der Begriff »dua-les System« wurde in den 1960er Jahren durch dendeutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bil-dungswesen (1953–1965) für einen Sachverhalt fest-gelegt, den es allerdings schon lange vorher gab.

Der Begriff »duales System« kennzeichnet dieZusammenarbeit von Betrieb und Berufsschule beider beruflichen Erstausbildung. Die Ausbildungfindet an zwei Lernorten statt: im Betrieb und inder Berufsschule.Innerhalb der gemeinsam zu leis-

Wichtig

tenden Ausbildungsaufgabe hat jeder der zweiLernorte seine eigene rechtlich vorgegebene Ver-antwortung.

Soweit die Ausbildung im Betrieb stattfindet,basiert das dual-betriebliche System auf dem Be-rufsbildungsgesetz (BBiG in der Fassung vom23. März 2005). Das Berufsbildungsgesetz legt ins-besondere die Regelungen über die Begründungdes Berufsausbildungsverhältnisses durch den Aus-bildungsvertrag fest, regelt den Inhalt des Berufs-ausbildungsverhältnisses durch Festschreibungvon Pflichten des Ausbildenden und des Auszubil-denden, legt die Berechtigung zu Einstellung undAusbildung fest, trifft weiter Regelungen über dieAusbildungsvergütung sowie den Beginn und dieBeendigung des Berufsausbildungsverhältnissesund reglementiert die Überwachung der Berufs-ausbildung und vieles mehr.

Die dual-betriebliche Struktur ist im We-sentlichen durch den betrieblichen Teil derAusbildung gekennzeichnet.Der Betrieb istVertragspartner für den Auszubildendenund verantwortlich für die Ausbildung. Er-gänzend zur betrieblichen Ausbildung trittder an Berufsschulen vermittelte theoreti-sche Teil der Berufsausbildung. Der LernortBerufsschule hat seine Rechtsgrundlage inden Schulgesetzen der Länder.

18.4 Gemeinsamkeiten und Unterschiede:Duale Ausbildung und Ausbildungin den Pflegeberufen

18.4.1 Berufsbildungsgesetz und Krankenpflegegesetz

Bis zum Inkrafttreten des Krankenpflegegesetzesim Jahre 1985 mussten sich Gerichte vielfach mitder Frage auseinandersetzen,inwieweit das Berufs-bildungsgesetz subsidiär neben dem Krankenpfle-gegesetz aus dem Jahre 1965 Anwendung fand. Die-se Streitfrage wurde im Jahre 1993 durch einen Be-schluss des Gemeinsamen Senats der Obersten

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18

398 Kapitel 18 · Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall

Gerichtshöfe des Bundes dahingehend entschie-den,dass bei einem »überwiegend arbeitsrechtlich-betrieblich ausgestalteten Ausbildungsverhältnis inder Krankenpflege« der Anwendung des Berufsbil-dungsgesetzes neben den Vorschriften des Kran-kenpflegegesetzes aus dem Jahre 1965 nichts entge-gensteht. Eine der Voraussetzungen für diese Ent-scheidung war die Feststellung, dass es sich bei derKrankenpflegeausbildung um eine überwiegendarbeitsrechtlich-betriebliche, d. h. um eine nicht-schulische Ausbildung gehandelt hat. Ähnlich ur-teilte das Bundesarbeitsgericht im Jahre 1990 zurFrage der Ausbildung zur Altenpflegerin.

Unter anderem aus verfassungsrechtlichenGründen scheiterte zwischenzeitlich der gesetzge-berische Versuch, die Ausbildungen in der Kran-kenpflege (sowie zur Hebamme) weitgehend in dasSystem des Berufsbildungsgesetzes zu integrieren,so wie schon Versuche, die Krankenpflegeausbil-dung rein schulisch zu regeln,Mitte der 1970er Jah-re gescheitert waren.

Bereits mit Verabschiedung des Krankenpflege-gesetzes im Jahre 1985 hat der Gesetzgeber die zu-vor durch die subsidiäre Anwendung des Berufs-bildungsgesetzes entstandene Rechtsunsicherheitdadurch beseitigt, dass bestimmt wurde, dass eineAnwendung der Vorschriften des Berufsbildungs-gesetzes ausgeschlossen ist. Bei dieser Regelungblieb es auch im Krankenpflegegesetz 2003 (§ 22)und gleichlautend im Altenpflegegesetz sowie imHebammengesetz.

Diese Regelung konnte getroffen werden,nach-dem der Gesetzgeber den nach alter Rechtslage un-geregelten Rechtsstatus der Schüler vornehmlich inAbschnitt III (Ausbildungsverhältnis) des Kran-kenpflegegesetzes eigenständig geregelt hat. DieVorschriften dieses Abschnittes sind den entspre-chenden Regelungen des Berufsbildungsgesetzesangeglichen, indem sie insbesondere Form und In-halt des Ausbildungsvertrags, Rechte und Pflichtender Schulen und Schüler, den Anspruch desSchülers auf Ausbildungsvergütung, die Probezeitund die Kündigung regeln.In gleicher Weise verhältes sich mit den gesetzlichen Ausbildungsregeln fürdie Berufe in der Altenpflege, zur Hebamme sowiezum Entbindungspfleger. Auch für diese Ausbil-dungssysteme findet das Berufsbildungsgesetz kei-ne Anwendung (§ 26 HebG, § 28 AltPflG).

Wichtig

Die Ausbildung zu den Berufen der Ge-sundheits- und (Kinder-)Krankenpflegeund der Altenpflege sowie zu Hebammeund Entbindungspfleger sind eigenständi-ge Ausbildungen – das Berufsbildungsge-setz findet keine Anwendung.Trotzdem istder Rechtsstatus der Schüler dem des Aus-zubildenden nach dem Berufsbildungsge-setz angeglichen.

18.4.2 Anerkennung der Länderhoheit im Schulrecht

Die Klarstellung des Rechtsstatus des Schülers bzw.der Schülerin in den Ausbildungssystemen derPflegeberufe findet allerdings keine Entsprechungbei der Frage nach Status und Charakter der Aus-bildungsstätten für den theoretischen Unterricht.In diesem Zusammenhang ist in den einzelnenBerufszulassungsgesetzen von »Schulen« (§ 4KrPflG),von »Hebammenschulen« (§ 6 HebG) undvon »Altenpflegeschulen« (§ 4 Abs. 2 AltPflG) dieRede.

Als nähere Bestimmung wird lediglich auf dieVoraussetzung »staatliche Anerkennung« und ggf.auf einzelne personelle, sächliche und räumlicheBedingungen verwiesen, die zur staatlichen Aner-kennung erfüllt sein sollen. Verglichen mit denSchulgesetzen der Länder, die sehr viel detaillierte-re Bestimmungen für berufliche und andere Schu-len enthalten,wird hier ein Regelungsmangel deut-lich.Vor allem fällt auf,dass an keiner Stelle von der»pädagogischen Freiheit« oder der »pädagogischen(Selbst-)Verantwortung« der Lehrkräfte an denschulischen Ausbildungsstätten die Rede ist.

Die Begründung hierfür liegt in der Verfassung.Wie bereits eingangs ausgeführt, liegt im Schul-recht die Gesetzgebungskompetenz bei den Län-dern. Damit war es dem Bundesgesetzgeber ver-wehrt, in den in Rede stehenden Gesetzen zurAusbildung in den Pflegeberufen nähere Ausge-staltungen zum Schulwesen zu treffen. Diese über-lässt der Bundesgesetzgeber – ausweislich der Ge-setzesmaterialien zu den einzelnen Ausbildungs-systemen – ausdrücklich den Bundesländern (z. B.

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18.4 · Gemeinsamkeiten und Unterschiede18399

§ 4 Abs. 2 KrPflG, § 5 Abs. 1 AltPflG). Auch die Ent-scheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Gel-tung des Altenpflegegesetzes als Bundesgesetz be-stätigt in seinen Entscheidungsgründen dieseKompetenzverteilung (BVerfG, Urteil vom 24.10.2002). Ob die Länder von dieser Organisations-möglichkeit Gebrauch machen, liegt in deren Ent-scheidungskompetenz. Diese Entscheidungskom-petenz betrifft nicht nur die Frage, ob die Bundes-länder von dieser Regelungskompetenz Gebrauchmachen wollen, sondern auch die Frage, in welcherSchulform der theoretische und der praktische Un-terricht in der Pflegeausbildung zu erfolgen haben.Es bleibt den Ländern überlassen, ob sie diese Ent-scheidungskompetenz nutzen oder nicht. Die Un-einheitlichkeit der Pflegeausbildungen, soweit esden schulischen Teil betrifft, überrascht unter die-sen Voraussetzungen nicht.

18.4.3 Berufsschule oder Berufsfachschule– länderrechtliche Sonderregelung

Das Krankenpflegegesetz – und diesem entspre-chend folgend das Hebammengesetz und das Al-tenpflegegesetz – spricht ausdrücklich von einer»Schule«.Das deutet darauf hin,dass der Gesetzge-ber an den herkömmlichen Begriff der »Schule« alseine auf gewisse Dauer, unabhängig vom Wechselder Lehrer und Schüler,in überlieferten Formen or-ganisierte Einrichtung der Erziehung und des Un-terrichts mit planmäßiger und methodischer Un-terweisung in einer Mehrzahl allgemeinbildenderoder berufsbildender Fächer angeknüpft hat.

Berufsschulen haben die Aufgabe, die Allge-meinbildung zu vertiefen sowie eine fachtheoreti-sche, berufsfeldbezogene und berufliche Fachbil-dung zu vermitteln. Die Berufsschulen werdeni. d. R. in Teilzeitform (möglich ist auch Blockun-terricht) nach Erfüllung der Schulpflicht, d. h. nach9- oder 10-jährigem Schulbesuch, von denjenigenSchülern besucht, die in einem Berufsausbildungs-verhältnis mit Ausbildungsvertrag stehen.

Berufsfachschulen dagegen sind Vollzeitschu-len, die die Berufsausbildung vermitteln und dieAllgemeinbildung fördern.

Eines der Bundesländer, die von der Entschei-dungskompetenz Gebrauch gemacht haben, istBayern.Hier wird die Organisation des Unterrichts

durch eine Berufsfachschulordnung für Kranken-pflege und Hebammen länderrechtlich geregelt.

Die betreffende Schulordnung hat der Bayri-sche Verwaltungsgerichtshof als verfassungskon-form angesehen. Er hat im Wesentlichen in seinerEntscheidung darauf abgestellt,dass der Bund nachArtikel 74 Abs. 1 Nr. 19 GG keine Regelungen treffenkönne, die unmittelbar die Organisation und denUnterrichtsbetrieb von (Fach-)Schulen betreffen.Wenn der Bund im Grundsatz eine schulmäßigeAusbildung festlege, könne er daher diese Ausbil-dung nicht gleichzeitig zur einheitlich betriebli-chen, nur dem Arbeitsrecht unterworfenen Ausbil-dung durchführen, sondern müsse für die Anwen-dung landesrechtlicher Normen schulrechtlicherArt den Bundesländern Raum lassen,da ihm – demBund – solche Regelungen versagt seien. Mit Rück-sicht auf diesen begrenzten Kompetenzbereich – sodas Gericht weiter – bezeichne die Gesetzesbe-gründung bewusst die Krankenpflegeschulen als»Einrichtungen im Bereich zwischen dual-betrieb-licher Ausbildung nach dem Berufsbildungsgesetzeinerseits und den schulischen Ausbildungsgängenandererseits«.

Nur die der Regelungskompetenz des Bundesaus Artikel 74 Abs. 1 Nr. 12 GG unterliegende prak-tische Ausbildung konnte und sollte arbeitsrecht-lich geregelt werden, während der schulrechtlicheAusbildungsteil für eine schulrechtliche Normie-rung durch den dafür allein kompetenten Landes-gesetzgeber offen gehalten werden musste.

Auch mit der – durchaus strittigen – Frage, obdie z. B. in Bayern gewählte Schulform der Berufs-fachschule gesetzeskonform sei, hat sich der bayri-sche Verwaltungsgerichtshof auseinandergesetzt.Hinsichtlich der Krankenpflegeschulen in Bayernkommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass mit dereinheitlichen schulischen und praktischen Ausbil-dung in den Krankenpflegeschulen im Ergebnistatsächlich »Vollzeitunterricht« erteilt wird. Damithat das Bundesland Bayern die Krankenpflege- undHebammenschulen als Berufsfachschulen dem län-dereigenen Schulrecht eingegliedert und damit diesich aus Krankenpflegegesetz und Hebammenge-setz ergebende schulrechtliche Regelungslücke ge-schlossen.

Andere Bundesländer sind dem Beispiel Bay-erns – ähnlich auch in Mecklenburg-Vorpommern– nicht gefolgt. So sind etwa in Nordrhein-Westfa-

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18

400 Kapitel 18 · Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall

dungsverhältnis durch das rechtlichePflichten- und Ordnungsgefüge des beson-deren Rechtsverhältnisses ihrer Gemein-schaft ersetzt.

Auf den i. d. R. zwischen Schüler und Träger derAusbildung geschlossenen Ausbildungsvertragsind grundsätzlich die ausbildungs- und arbeits-rechtlich relevanten Rechtsvorschriften undRechtsgrundsätze anzuwenden,soweit sich aus denAusbildungsgesetzen und sonstigen Rechtsvor-schriften nichts anderes ergibt.Dies bedeutet auch,dass die »Schüler und Schülerinnen« sozialversi-cherungsrechtlich so gestellt sind wie Auszubil-dende nach dem Berufsbildungsgesetz und damitKranken-, Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversi-cherung bestehen. Inhalt des Ausbildungsvertrags,Pflichten der Ausbildungsvertragsparteien,Beginnund Beendigung des Ausbildungsverhältnisses so-wie die Verpflichtung zur Zahlung einer Ausbil-dungsvergütung sind im Wesentlichen Inhalt derjeweiligen Abschnitte zur Regelung des Ausbil-dungsverhältnisses.

Die Angleichung dieser Vorschriften an das Be-rufsbildungsgesetz erfolgt jedoch unter besonde-rer Berücksichtigung der Ausbildung in der Pflege.So ist beispielsweise die Dauer der Probezeit mitjeweils 6 Monaten (§ 13 KrPflG, § 18 AltPflG, § 16HebG) gegenüber dem Berufsbildungsgesetz(§ 13 BBiG: mindestens 1 Monat, maximal 4 Mona-te) wesentlich verlängert. Im Gegensatz zum Be-rufsbildungsgesetz (§ 14 Abs. 2) endet das Ausbil-dungsverhältnis im Fall des Bestehens der vorzeiti-gen Prüfung erst mit Ablauf der Ausbildungszeit(§ 5 Abs. 1 KrPflG, §§ 17 Abs. 1, 6 Abs. 1 HebG,§ 19 Abs. 1 AltPflG). Nach dem Krankpflegege-setz 2003 endet das Ausbildungsverhältnis – nachneuer Regelung – mit erfolgreicher Ablegung derPrüfung,sofern die vorgeschriebenen 4006 Ausbil-dungsstunden vollständig erbracht wurden. Ausverfassungsrechtlich begründetem Gleichbehand-lungsgrundsatz dürfte dies auch für die Beendi-gung der Ausbildung für die Berufe der Altenpfle-ge sowie zur Hebamme und zum Entbindungs-pfleger gelten. Insofern hat sich auch hier eineAngleichung an das Berufsbildungsgesetz erge-ben.

Wichtig

Wichtig

len die Krankenpflegeschulen und sonstigen Aus-bildungseinrichtungen für Heilberufe und Heil-hilfsberufe ausdrücklich von der Geltung desSchulverwaltungsgesetzes ausgenommen (§ 37Schulverwaltungsgesetz NRW).

Damit wird deutlich, dass es sich bei denAusbildungssystemen in der Pflege wedereindeutig um eine Berufsausbildung imdualen System noch um eine rein schuli-sche Berufsbildung handelt.Es handelt sichum eine Berufsbildung zwischen der dual-betrieblichen Ausbildung einerseits undden schulischen Ausbildungsgängen ande-rerseits.

18.4.4 Rechtsstatus des Schülers/der Schülerin

Der Rechtsstatus des Schülers/der Schülerin in denAusbildungen der Pflegeberufe ist zwar dem derAuszubildenden nach dem Berufsausbildungs-gesetz angeglichen worden, es bestehen aber wei-terhin Unterschiede. Der Rechtsstatus wird im -Wesentlichen bestimmt durch die Vorschriftenüber den Inhalt der Ausbildungsverhältnisse. Diessind:4 §§ 9–18 KrPflG,4 §§ 11–21 HebG sowie4 §§ 13–23 AltPflG.

Anders stellt sich die Situation für das Ausbil-dungsverhältnis von Schülern und Schülerinnendar, die Diakonissen, Diakonieschwestern oderMitglieder geistlicher Gemeinschaften sind (§ 18KrPflG, § 21 HebG, § 23 AltPflG). Hier findet sicheine der oben angekündigten Ausnahmen, derenGründe in der historischen Entwicklung der Pfle-geberufe in Deutschland zu finden sind.

Bei Diakonissen, Diakonieschwestern oderMitgliedern geistlicher Gemeinschaftenwerden die Vorschriften über das Ausbil-

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18.4 · Gemeinsamkeiten und Unterschiede18401

Im Berufsbildungsgesetz sowie in den in Redestehenden Ausbildungsgesetzen ist allerdings glei-chermaßen geregelt, dass eine Beschäftigung un-mittelbar im Anschluss an das Ausbildungsverhält-nis ein Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit be-gründet, jedenfalls dann, wenn nicht ausdrücklichGegenteiliges vereinbart ist.

Und schließlich befähigt eine bestandene Prü-fung nicht automatisch (wie nach dem Berufsbil-dungsgesetz) zum Zugang zum entsprechendenBeruf. Hierzu bedarf es zusätzlich einer entspre-chenden Erlaubnis (§ 1 Abs. 1 KrPflG, § 1 HebG,§ 1 AltPflG). Auch kann – wiederum im Gegensatzzu anderen Berufen nach dem Berufsbildungsge-setz – die erteilte Erlaubnis unter bestimmten, ge-setzlich formulierten Voraussetzungen zurückge-nommen bzw. widerrufen werden.

Die staatliche Zulassung zum Beruf lässt sich inder besonderen Vertrauensposition der Pflegekräf-te begründen.Im Gegensatz zu den Berufen des dua-len Systems besteht hier die Notwendigkeit, auchnachträglich noch eine (neu aufgetretene) mangeln-de Eignung zum Beruf berücksichtigen zu können.

Besteht der Schüler die staatliche Prüfung inder Ausbildung zur Pflege bzw. Altenpflege nicht,kann er – wie bisher – die Prüfung einmal wieder-holen (§ 19 Abs.2 AltPflG,§ 14 Abs.2 KrPflG).An diegenannten Vorschriften hat sich nunmehr durchdas Berufsbildungsreformgesetz (BerBiRefG vom23.März 2005) auch das neue Berufsbildungsgesetzangepasst. Nach § 21 Abs. 3 BBiG verlängert sichauch in der gewerblichen Wirtschaft das Berufs-ausbildungsverhältnis bis zur höchstmöglichenWiederholungsprüfung, höchstens um ein Jahr,wenn die Abschlussprüfung nicht bestanden wur-de.

Schlussendlich wurde mit dem Krankenpflege-gesetz 2003 klargestellt, dass auch Lehrbücher zuden Ausbildungsmitteln gehören, die dem Schülerkostenlos zur Verfügung zu stellen sind (§ 10 Abs. 1Nr. 2 KrPflG). Hierbei handelt es sich um einenÜberlassungsanspruch; kostenlos bedeutet dieleihweise Zurverfügungstellung.

Das somit nach arbeitsrechtlichen Grundzügenausgestaltete Ausbildungsrecht in den Pflegeberu-fen wird zumindest in den Bundesländern, in de-nen die Ausbildung im theoretischen und prakti-schen Unterricht in einem öffentlich-rechtlichenSchulverhältnis organisiert wird (z. B. Bayern),

Wichtig

durch schulrechtliche Vorschriften ergänzt. Damithat der Schüler bzw. die Schülerin einen doppeltenRechtsstatus: Die praktische Ausbildung unterliegtRegeln des Arbeitsrechts, der theoretische und derpraktische Unterrichtsteil werden durch Schulrechtbestimmt.

In Bundesländern, die von ihrer Kulturho-heit im Schulrecht im Rahmen der Ausbil-dungssysteme für Pflegeberufe keinen Ge-brauch gemacht haben, bestimmt sich derRechtsstatus der Schüler ausschließlichnach arbeitsrechtlichen Grundsätzen. Eskann aber auch zusätzlich ein öffentlich-rechtliches Schulverhältnis bestehen,wennein Bundesland (wie z. B. Bayern) seinerechtlichen Regelungsmöglichkeiten nutzt.

Diese Situation zweier unterschiedlich ausgestalte-ter Rechtsbeziehungen kann durchaus Problemeaufwerfen.

Trifft beispielsweise eine geltende Schulord-nung Regeln über Entlassungen aus der Schule, sobeträfe dies formal ausschließlich das öffentlich-rechtliche Schulverhältnis, nicht gleichzeitig undautomatisch auch das arbeitsrechtlich ausgestalte-te Ausbildungsverhältnis. Neben einer schulrecht-lich wirksamen Entlassung müsste demnach einearbeitsrechtliche Kündigung ausgesprochen wer-den.Wollte der Betroffene gegenüber der einerseitsschulrechtlichen, andererseits arbeitsrechtlichenMaßnahme Rechtsschutz suchen, deutete dies aufzwei hierfür unterschiedliche Gerichtsbarkeitenhin: die Verwaltungsgerichtsbarkeit für die schuli-sche Angelegenheit und die Arbeitsgerichtsbarkeitfür die arbeitsrechtliche Maßnahme.Beide Gerich-te könnten zu unterschiedlichen Beurteilungser-gebnissen kommen.

Ein derartiges Ergebnis wäre zwar weitgehenddadurch zu vermeiden, dass in einem sowohl ar-beitsrechtlich als auch schulrechtlich ausgestalte-ten Ausbildungsverhältnis durch sorgfältige Über-prüfung ein übereinstimmendes Ergebnis für dieEntlassungs-/Kündigungsgründe erzielt wird – zu-mal eine schulrechtliche Entlassung i. d. R. einen»sonstigen wichtigen Grund« zur außerordentli-

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402 Kapitel 18 · Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall

chen fristlosen Kündigung des Ausbildungsver-hältnisses darstellen dürfte –, dennoch verbliebedem Betroffenen ein nicht unerhebliches Prozess-risiko.

Vieles spricht dafür, einen entsprechendenRechtsstreit ausschließlich der Zuständigkeit derArbeitsgerichte zuzuordnen.Dies setzt voraus,dassder Betroffene »zu seiner Berufsausbildung Be-schäftigter« im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 des Ar-beitsgerichtsgesetzes ist. Der Begriff der »zu ihrerBerufsausbildung Beschäftigten« wird im Arbeits-gerichtsgesetz nicht näher definiert.Was unter »Be-rufsausbildung« zu verstehen ist, bestimmt § 1BBiG. Nach dem Berufsbildungsgesetz ist die Be-rufsausbildung ein Teilbereich der Berufsbildung.Zu dieser zählen ferner berufliche Fortbildung undberufliche Umschulung. Für die drei Bereiche derBerufsbildung kommen nach § 2 Abs. 1 BBiG jedrei Orte der Durchführung in Betracht.

Das Berufsbildungsgesetz unterscheidet zwi-schen:4 Berufsbildung in Betrieben, durchgeführt in

Betrieben der Wirtschaft oder in vergleichba-ren Einrichtungen außerhalb der Wirtschaft,insbesondere des Öffentlichen Dienstes, derAngehörigen freier Berufe, und in Haushalten(betriebliche Berufsbildung),

4 Berufsbildung in berufsbildenden Schulen(schulische Berufsbildung),

4 Berufsbildung in sonstigen Berufsbildungsein-richtungen außerhalb der schulischen und be-trieblichen Berufsbildung (außerbetrieblicheBerufsbildung).

»Beschäftigte« im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 Arbeits-gerichtsgesetz können grundsätzlich auch Auszu-bildende in berufsbildenden Schulen und sonstigenBerufsbildungseinrichtungen sein.

Ausschlaggebend für die Stellung als Beschäf-tigter sind – so das Bundesarbeitsgericht – wederder jeweilige Lernort gemäß § 2 Abs. 1 BBiG nochdie jeweilige Lernmethode als solche.Entscheidendist nicht, wo und wie die Ausbildung erfolgt, ob inBetrieb, Schule oder sonstiger Einrichtung, obüberwiegend praktisch innerhalb eines laufendenProduktions- oder Dienstleistungsprozesses oderüberwiegend theoretisch, systematisch geordnetoder lehrplanmäßig außerhalb eines solchen Pro-zesses. Maßgeblich soll stattdessen sein – wie für

das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses auch –,welche vertraglichen Rechte und Pflichten die Par-teien des Ausbildungsvertrags für die Durch-führung des Ausbildungsverhältnisses begründethaben.

Bestehen aus dem Ausbildungsvertrag wechsel-seitige Pflichten über die mit dem unmittelbarenLeistungsaustausch verbundenen hinaus – ist ins-besondere der Auszubildende weitergehendenPflichten und Weisungen unterworfen –,kann nachder Rechtsprechung der für eine Beschäftigungnotwendige Bezug zum Arbeitsverhältnis gegebensein. Dies ist etwa anzunehmen, wenn der pri-vatrechtliche Ausbildungsvertrag eine Pflicht desAuszubildenden zum Schulbesuch festlegt, derenNichteinhaltung kündigungsbewährt ist, wenn erOrdnungs- und Verhaltensmaßregeln vorsieht, dieüber den Charakter einer reinen Hausordnung hin-aus gehen,wenn er die Teilnahme an Zwischenprü-fungen vorschreibt oder wenn er bestimmte Ver-pflichtungen für die Zeit nach dem Ende der Aus-bildung vorsieht. Hier schuldet nicht nur derAusbildende die Lehre, sondern auch – und sei esmittelbar – der Auszubildende das Lernen.

Für Auszubildende besteht nicht nur Anwesen-heitspflicht (entsprechend der Schulpflicht fürSchüler), sondern auch die Verpflichtung zu lernen(entsprechend der Pflicht eines Arbeitnehmers zuarbeiten).

Unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechungdes Bundesarbeitsgerichts dürfte die ausschließli-che Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachenauch dort begründet sein, wo das Ausbildungsver-hältnis z. T. landesrechtlich schulischen Charakterträgt.

Der verfassungsrechtlich vorgegebene Ausbil-dungscharakter wirkt sich u. a. auch im sog. kol-lektiven Arbeitsrecht, z. B. den Mitbestimmungs-rechten des Betriebs-/Personalrats oder sonstigerMitarbeitervertretungen, aus. Das Mitbestim-mungsrecht des Betriebsrats beschränkt sichgrundsätzlich auf Arbeitnehmer im Sinne des§ 5 Abs. 1 Betriebsverfassungsgesetz als Mitgliederder vom Betriebsrat repräsentierten Belegschaft.Arbeitnehmer in diesem Sinne sind auch die zuihrer Berufsausbildung Beschäftigten.

Die Verwendung des Begriffs »Schüler/Schüle-rin« sowie die Bestimmung der Nichtanwendungdes Berufsbildungsgesetzes könnten den Schluss

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18.4 · Gemeinsamkeiten und Unterschiede18403

nahe legen, dass die Betroffenen aus dem betriebs-verfassungsrechtlichen/personalvertretungsrecht-lichen Bereich auszunehmen seien. Auch wenn aufdie Pflegeausbildung nicht unmittelbar zu übertra-gen,könnte zur Stützung dieser Annahme eine Vor-schrift aus dem Bundespersonalvertretungsgesetzherangezogen werden, wonach Auszubildende de-finiert werden als Beschäftigte, die in einem Be-rufsausbildungsverhältnis nach dem Berufsbil-dungsgesetz stehen. Das aber ist gerade nach denAusbildungssystemen für Pflegeberufe ausge-schlossen. Nach höchstrichterlicher Rechtspre-chung zählen zu dem Personenkreis, »die zu ihrerBerufsausbildung« beschäftigt werden,auch solcheAuszubildenden, die nicht aufgrund eines Berufs-ausbildungsvertrags im Sinne des Berufsausbil-dungsgesetzes beschäftigt werden. Voraussetzungist jedoch,dass es sich um eine betriebliche Ausbil-dung im Unterschied zu einer nur schulischen Aus-bildung handelt.

Beschäftigung setzt eine Eingliederung in denBetrieb voraus. In dieser Frage könnten sich durchdie Neuregelung der Einbindung von Pflegeein-richtungen außerhalb des Krankenhauses in dieAusbildung Probleme ergeben, da das Kranken-pflegegesetz ebenso wie das Altenpflegegesetz nichtklarstellt, wie die Einbindung der »anderen Ein-richtungen« erfolgen soll. Problemlos ist die Ein-bindung – und damit auch die betriebliche Einglie-derung –, wenn der Ausbildungsträger selbst z. B.ambulante Einrichtungen betreibt; andernfallsmuss er Kooperationsverträge schließen. Wird imletzteren Fall die Ausbildung in der Pflegeeinrich-tung mit Personal der Hauptausbildungsstättedurchgeführt, dürfte eine Zuordnung, d. h. eine be-triebliche Einbindung des Schülers zur Pflegeein-richtung,nicht stattfinden.Wird der Schüler jedochdurch das Personal der Pflegeeinrichtung angewie-sen, verhält es sich anders: Es bestehen Mitwir-kungsrechte des Betriebs-/Personalrats der auf-nehmenden Pflegeeinrichtung.

Es darf schließlich nicht nur eine schulische,sondern es muss auch eine betrieblich-praktischeUnterweisung erfolgen, in der der Auszubildendeberuflich aktiv tätig ist. Findet jedoch eine Ausbil-dung ausschließlich in Form rein schulischer Un-terrichtung statt,kann von einer betrieblichen »Be-schäftigung« zum Zweck der Berufsausbildungnicht gesprochen werden. Da die Vorschriften zur

Wichtig

Ausbildung in den Berufen der Gesundheits- und(Kinder-)Krankenpflege und der Altenpflege sowiezur Hebamme und zum Entbindungspfleger einepraktische Ausbildung vorsehen,ist damit zugleichauch eine Beschäftigteneigenschaft im Sinne derMitbestimmungsgesetze gegeben.

Trotz der Bezeichnung »Schüler/Schülerin«werden also die Auszubildenden der Pfle-geberufe von den Mitwirkungs- bzw. Mit-bestimmungsrechten einer Personalvertre-tung bei allen personellen und sozialenAngelegenheiten mit erfasst (etwa bei Ein-stellungen, Kündigungen sowie dem Fest-legen von materiellen Arbeitsbedingun-gen).

An dieser rechtlichen Einordnung der Ausbildungändert auch die nach Landesrecht mögliche Ein-ordnung der Schulen in das Schulrecht der Ländernichts. Auch die Reduzierung der Stundenzahl fürdie praktische Ausbildung von 3000 auf 2500 Stun-den beeinflusst nicht die frühere Rechtslage. Diesewird vielmehr durch die gesetzliche Klarstellungeiner Nichtanrechnung von Freistellungsansprü-chen, z. B. als Jugendvertretung, auf Unterbre-chungszeiten (§ 7 KrPflG) bekräftigt.

Durch die Aufteilung in einen schulischen undeinen betrieblichen Anteil der Pflegeausbildungensind jedoch Mitbestimmungsrechte der Personal-räte begrenzt.Auch wenn die Krankenpflegeschuleund der betriebliche Einsatzort, das Krankenhaus,den gleichen Träger haben, gelten hier vorrangigdie Vorschriften der jeweiligen Ausbildungsgesetzebzw.Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen.So-weit die Berufsausbildung gesetzlich festgelegt ist,kann sich das Mitbestimmungsrecht nur auf dieAnpassung an die betrieblichen Verhältnisse er-strecken. Das Mitbestimmungsrecht entfällt bei-spielsweise dort, wo die Ausbildung durch beson-dere gesetzliche Regelungen festgelegt ist.Dabei istauch zu beachten, ob es im Rahmen der gesamtenBerufsausbildung um den theoretischen und prak-tischen Unterricht einerseits und die praktischeAusbildung andererseits geht.Es verbleibt also keinRaum für eine Anpassung oder die Ausfüllung der

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404 Kapitel 18 · Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall

betrieblichen Gegebenheiten, soweit es um dieDurchführung des Unterrichts geht,der in staatlichanerkannten Schulen an Krankenhäusern vermit-telt wird. Für den Bereich des theoretischen undpraktischen Unterrichts liegt i. d. R. eine Ausbil-dungsverordnung vor, die im Einzelnen den Gangund die Inhalte der Ausbildung festlegt.

Aus diesem Grund hat ein Betriebsrat auch imRahmen der Durchführung beispielsweise von pro-jektorientierten Unterrichtseinheiten kein Mitbe-stimmungsrecht. Bei derartigen Maßnahmen han-delt es sich nicht um eine besondere betrieblicheAusbildungsveranstaltung, sondern um normalenUnterricht.

Ein Projektunterricht wird nicht zu einer be-sonderen betrieblichen Ausbildungsveranstaltung,nur weil dieser Unterricht nicht zu den regulärenUnterrichtszeiten, für jede Klasse getrennt undnicht nach dem normalen Lehrplan angebotenwird.

18.4.5 Anforderungen an die Schulen

Die (Pflege-)Ausbildung wird an staatlich aner-kannten (Altenpflege-/Hebammen-)Schulen durch-geführt (§ 4 KrPflG, § 5 AltPflG, § 6 HebG).

Die staatliche Anerkennung erfolgt, wenn dieentsprechenden gesetzlichen Mindestanforderun-gen erfüllt sind.

Bei grundsätzlich ähnlichen Anforderungen andie Vorraussetzungen der Geeignetheit fallen aller-dings auch Unterschiede in den Mindestanforde-rungen der genannten Ausbildungssysteme beson-ders auf.

Weitgehend stimmen die Anforderungen an er-forderliche Räumlichkeiten, sowie ausreichendeLehr- und Lernmittel, die Sicherstellung der prak-tischen Ausbildung und den Nachweis einer aus-reichenden Zahl – auch pädagogisch – qualifizier-ter Fachkräfte im Verhältnis zu den Ausbildungs-plätzen überein.

Unterschiedliche Anforderungen werden je-doch an die jeweilige Schulleitung bzw. die Lehr-kräfte gestellt.So muss nach dem Altenpflegegesetz(§ 5 Abs.2 Nr.1) die hauptberufliche Leitung der Al-tenpflegeschule durch eine pädagogisch qualifi-zierte Fachkraft mit abgeschlossener Berufsausbil-dung im sozialen oder pädagogischen Bereich und

Wichtig

mehrjähriger Berufserfahrung oder einem abge-schlossenen pflegepädagogischen Studium besetztsein.

Zwar fordert ebenso das Krankenpflegegesetz(§ 4 Abs. 3 Nr. 1) für die Schulleitung eine qualifi-zierte Fachkraft mit abgeschlossener Hochschul-ausbildung; die Frage der pädagogischen Qualifi-kation bleibt – da nicht angesprochen – allerdingsoffen. Demgegenüber wird von Lehrkräften in derKrankenpflege eine Hochschulqualifikation gefor-dert (§ 4 Abs. 3 Nr. 2 KrPflG), was in der Alten-pflege wiederum nicht der Fall ist (§ 5 Abs. 2 Nr. 3AltPflG).

Trotz dieser »Ungereimtheiten« ist festzu-stellen,dass gegenüber dem bisherigen Re-gelungsstand die Anforderungen an dieSchulleitung und an die Lehrkräfte mit demgrundsätzlichen Erfordernis einer Hoch-schulausbildung gestiegen sind.

Einrichtungen, die bereits nach den früheren Re-gelungen anerkannt waren, genießen Bestands-schutz (§ 24 KrPflG).

Mit den höheren Anforderungen an die Schulensollen die Pflegeausbildung aufgewertet und demFortschritt der Pflegewissenschaft Rechnung ge-tragen werden.

Angesichts der verfassungsrechtlich gewähr-leisteten Länderhoheit im Schulwesen verdeutli-chen Krankenpflege- und Altenpflegegesetz, dassdurch Landesrecht,z.B.Schulrecht,sowohl über dieMindestanforderungen hinausgehende Anforde-rungen geregelt werden können als auch Nähereszu den Mindestanforderungen länderrechtlich be-stimmt werden kann.

Im Hinblick auf die Hochschulqualifikation fürSchulleitungen und Lehrkräfte werden die Länderzudem ermächtigt, durch Rechtsverordnungen Re-gelungen zur Beschränkung der Hochschulausbil-dung auf bestimmte Hochschularten, z. B. Fach-hochschulen oder Universitäten, und bestimmteStudiengänge zu treffen.

Wird die staatliche Anerkennung erteilt,handeltes sich bei den Schulen um Schulen besonderer Art.Sind sie länderrechtlich in das Schulrecht einge-

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18.4 · Gemeinsamkeiten und Unterschiede18405

18.4.6 Gesamtverantwortung für die Ausbildung

Die – nunmehr gesetzliche – Festschreibung derGesamtverantwortung der Schulen für die theore-tische und praktische Ausbildung im geltendenKrankenpflegegesetz und Altenpflegegesetz hatAuswirkungen auf Rechte und Pflichten der Schu-le, ihre Leitung und ihre Lehrkräfte. Ähnliches gilt– auch ohne gesetzliche Festschreibung – für dieHebammenschulen.

Rechte und Pflichten können durch Individual-verträge – wie etwa den Ausbildungsvertrag – oderdurch Gesetz begründet werden.Aufgrund des mitdem Ausbildungsträger, z. B. dem Träger des Kran-kenhauses, geschlossenen Ausbildungsvertrags istdieser dem Schüler gegenüber zur umfassendenAusbildung nach der jeweiligen Ausbildungs- undPrüfungsverordnung verpflichtet. Diese Verpflich-tung überträgt der Ausbildungsträger der Schule,der wiederum vom Gesetzgeber die Gesamtverant-wortung überantwortet wird. Die Pflicht zur um-fassenden Ausbildung erfolgt damit gegenüberdem Schüler ebenso wie gegenüber dem Träger derAusbildung.

Zu den Pflichten zählt die planmäßige,zeitlicheund sachliche Gliederung der gesetzlich vorgege-benen Ausbildungsinhalte, etwa durch Aufstellungeines Lehrplans für den Unterricht ebenso wiedurch die Planung der praktischen Ausbildung.DieSchule,namentlich die Schulleitung,trägt die Über-wachung der Ausbildung und ist zugleich verant-wortlich für den ordnungsgemäßen Prüfungsab-lauf. In diesem Zusammenhang ist neu, dass derVorsitz im staatlichen Prüfungsausschuss an Pfle-geschulen der Schulleitung als »geeigneter Person«im Auftrag der Fachaufsichtsbehörde übertragenwerden kann.

Mit der Gesamtverantwortung der Schule gehtein Weisungsrecht gegenüber den Schülern einher.Auch im Fall der Entsendung des Schülers in eine(Pflege-)Einrichtung zur praktischen Ausbildungbleibt die Ausbildungsverantwortung bei dem Trä-ger der entsendenden Schule. Gegebenenfalls kanndas Weisungsrecht der empfangenden Einrichtungim Innenverhältnis übertragen werden. Weisungs-befugt ist die Schulleitung auch gegenüber den sog.Praxisanleitern.Die Sicherstellung der Praxisanlei-tung obliegt den Einrichtungen, in denen die prak-

Wichtig

bunden, handelt es sich i. d. R. um Berufsfachschu-len, mit der Folge, dass entsprechende Lehrkräftedie Befähigung zum Lehramt haben. Dies ist eineVoraussetzung, die von den Ausbildungssystemenfür die Pflegeberufe nicht gefordert wird.

Infolge der abweichenden Bestimmungen desAltenpflegegesetzes von den vergleichbaren Vor-schriften des Krankenpflegegesetzes und des Heb-ammengesetzes ist zusätzlich denkbar, dass Alten-pflegeschulen im Sinne des Schulrechts vom Alten-pflegegesetz abweichende Leitungsstrukturenhaben können.

Unabhängig von ihrer – ländergesetzlich be-einflussbaren – Organisation und Struktur wird inden Schulen theoretischer und praktischer Unter-richt vermittelt.Ebenso trägt die Schule die Verant-wortung für den praktischen Teil der Ausbildung –und damit die Gesamtverantwortung, gleichgültigob sich – z. B. nach dem Krankenpflegegesetz – dieSchule an einem Krankenhaus befindet, also derTräger der Schule das Krankenhaus ist, oder ob essich – nach neuer Regelung – um Verbundschulenoder Schulzentren handelt. Letztere sind Schulen,die organisatorisch und räumlich nicht unmittelbar»an Krankenhäusern« angesiedelt sind; sie könnendamit in »freier Trägerschaft« (§ 4 Abs. 2 KrPflG)stehen.

Auch nach dem Altenpflegegesetz trägt dieSchule die Gesamtverantwortung für die Ausbil-dung (§ 4 Abs. 4), obwohl der Ausbildungsvertraghier i. d. R. mit dem Träger der praktischen Ausbil-dung geschlossen wird (§ 13).

In den Ausbildungssystemen der Pflegebe-rufe hält somit – anders als bei der Ausbil-dung im dual-betrieblichen System – dieSchule die Fäden für die Ausbildung an denLernorten Schule einerseits und Kranken-haus/sonstige (Pflege-)Einrichtungen an-derseits in der Hand.

Der »Betrieb« Krankenhaus/sonstige Einrichtungspielt also eine grundlegend andere Rolle als in derdualen Ausbildung nach dem Berufsbildungsge-setz.

Page 414: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

18

406 Kapitel 18 · Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall

tische Ausbildung erfolgt; die geeigneten Fachkräf-te sind von der Einrichtung zu stellen.Sie sind – wieetwa die früheren Mentoren – für Anleitung undBegleitung der Schüler in der praktischen Ausbil-dungszeit partiell von ihren sonstigen (pflegeri-schen) Tätigkeiten freizustellen. Während ihrer»Ausbildertätigkeit« sind die Praxisanleiter nichtihrem eigentlichen Arbeitgeber unterstellt.Dies giltim Übrigen auch für die Pflegedienstleitung undsonstige mit der Ausbildung befassten Personen.Diese unterstehen bei Tätigkeiten zu Zwecken derAusbildung der Schulleitung. Insoweit besteht einweiterer Unterschied zur dualen Ausbildung nachdem Berufsbildungsgesetz, wonach der Ausbilderdem ausbildenden Betrieb untersteht.

Der für die Ausbildung verantwortliche Trägermuss die rechtlichen Folgen sowohl von Fehlleis-tungen seiner Krankenpflegeschule als auch vonFehlleistungen seiner Schüler tragen. Bildet bei-spielsweise der für die Ausbildung Verantwortlichenicht umfassend aus und erleidet der Schüler hier-durch einen Schaden, indem beispielsweise die Ab-schlussprüfung nicht bestanden wird, so kann derfür die Ausbildung Verantwortliche schadenersatz-pflichtig gemacht werden. Beweispflichtig für eineordnungsgemäße Ausbildung ist stets der Trägerder Ausbildung. Die Haftung des Ausbildungsträ-gers kann auch dann begründet sein,wenn er einenDritten (z.B.die Schule) mit der Durchführung derAusbildung beauftragt und dieser Dritte demSchüler bzw. der Schülerin schuldhaft einen Scha-den zufügt.

Es ist also notwendig, die ordnungsgemäßeAusbildung nicht nur durchzuführen, sondern sieauch beweiskräftig zu dokumentieren.Dies ist eineSituation, die Pflegepädagogen aus ihrem früherenBeruf vertraut sein dürfte.

Auch gegenüber Dritten (z. B. Patienten) kannsich eine Schadenersatzpflicht des Ausbildungsträ-gers daraus ergeben, dass er seine Pflicht zur Be-aufsichtigung verletzt hat. Dabei beschränkt sichdie Aufsichtspflicht grundsätzlich auf den räum-lichen Bereich der Ausbildungsstätte und der Aus-bildungszeit, soweit nicht der Schüler auf An-ordnung weisungsberechtigter Personen darüberhinaus tätig geworden ist.

Ferner kann eine Schadenersatzpflicht entste-hen, wenn der Schüler in Erfüllung einer vertragli-chen Verpflichtung des Ausbildungsträgers Dritten

Wichtig

(z.B.Patienten) gegenüber eingesetzt wird.Das Ver-schulden des Schülers gegenüber dem Patienten hatder Ausbildungsträger in diesem Fall genauso zuvertreten wie eigenes Verschulden.Schließlich kannDritten (Patienten) gegenüber eine Haftungspflichtdes Ausbildungsträgers auch entstehen, wenn erden Schüler zu einer Verrichtung bestellt und die-ser in Ausführung der Verrichtung einem Dritten(Patienten) widerrechtlich Schaden zufügt,z.B.beinicht sachgerechter Verabreichung einer Injektionim 3.Ausbildungsjahr.Hier spielt das Schulrecht derLänder keine Rolle. Für das Haftungsrecht sind dieVerträge zwischen den Schülern und den Trägernder Ausbildung entscheidend.

18.5 Pflegeausbildung »sui generis«und ihre Problemfelder

Die komplexen rechtlichen Voraussetzungen in denAusbildungen der Pflegeberufe führen zu einerSonderstellung der Pflegeausbildungen im deut-schen Berufsbildungssystem.

Die derzeitigen Ausbildungssysteme fürdie Pflegeberufe sind weder dem dual-be-trieblichen noch dem ausschließlich schuli-schen System eindeutig zuzuordnen. Eshandelt sich vielmehr um ein Ausbildungs-system »sui generis« (eigener Art).

Die Pflegeausbildungen sind auf keinen Fall schu-lische Ausbildungen,dazu ist der zeitliche Anteil anPraxiseinsätzen im Betrieb Krankenhaus bzw. Al-tenheim zu groß. Als »normale« duale Ausbildungkönnen sie auch nicht gelten, dazu hat die Ausbil-dungsstätte Schule eine zu dominierende Rolle inder Ausbildungsgestaltung.Diese Sonderkonstruk-tion hat nicht nur Vorteile. Insbesondere die vomGesetzgeber angestrebte Vernetzung von theoreti-scher und praktischer Ausbildung,v.a.durch die In-stitutionalisierung von Praxisbegleitung und Pra-xisanleitung (§ 4 Abs. 5 KrPflG, § 4 Abs. 4 AltPflG)mit dem Ziel einer Qualitätsverbesserung der Aus-bildung, kann in der praktischen Umsetzung prob-lematisch werden.

Page 415: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

18.5 · Pflegeausbildung »sui generis« und ihre Problemfelder18407

Spezialisierung sinnvoll lernortbezogen miteinan-der zu verbinden.

18.5.2 Praxisanleitung undPraxisbegleitung

Die Praxisanleitung erfolgt durch geeignete Pflege-kräfte der an der praktischen Ausbildung beteilig-ten Einrichtungen. Die Eignung erfordert nach derAusbildungs- und Prüfungsverordnung für die Be-rufe in der Krankenpflege (KrPflAPrV) neben einermindestens 2-jährigen Berufserfahrung als exami-nierte Pflegekraft eine berufspädagogische Zusatz-qualifikation von mindestens 200 Stunden (§ 2Abs.2).Nach der entsprechenden Ausbildungs- undPrüfungsverordnung für den Beruf des Altenpfle-gers/der Altenpflegerin (AltPflAPrV) wird der Um-fang der Fort- bzw. Weiterbildung in der berufs-pädagogischen Qualifikation des Praxisanleitersnicht bestimmt, bleibt also offen (§ 2 Abs. 2). Zu-zustimmen ist den kritischen Anmerkungen, diedarauf verweisen, dass »eine wissenschaftlich ba-sierte Praxis in diesem Zeitraum kaum vermitteltwerden kann«. Dies gilt v. a. vor dem Hintergrundder neuen Ansätze in der Ausbildung der Gesund-heits- und (Kinder-)Krankenpflegeberufe, sowieder Altenpflege.

Zudem muss sich der Praxisanleiter, wiewohlgrundsätzlich Mitarbeiter des Pflegeteams der ander Ausbildung beteiligten Einrichtung, als »ver-längerter Arm« der Schule verstehen,als Bindegliedan der Nahtstelle zwischen Theorie und Praxis.Die-se Einbindung auch in curriculare Planungen derSchule erfordert ein hohes Maß an Abstimmungmit der Schule in Bezug auf das spezifische Lern-angebot des Ausbildungsplatzes.

Und nicht zuletzt steht der Praxisanleiter imSpannungsfeld zwischen den Arbeitserfordernis-sen seines Arbeitgebers einerseits und dem Ausbil-dungs- und Lernbedarf des Schülers andererseits.Hierbei können und sollen ihm die Praxisbegleiterzur Seite stehen.

18.5.3 Curriculare Planung

Nicht nur die Gesamtverantwortung der Schule fürdie theoretische und praktische Ausbildung sowie

Wichtig

18.5.1 Lernortvernetzung

Die gesetzliche Vorgabe von Praxisbegleitung –gewährleistet durch die Schule – und Praxisanlei-tung – sichergestellt durch die für die praktischeAusbildung gewählte Einrichtung – ist grundsätz-lich zu begrüßen. Zur Umsetzung der Vorgabe be-darf es jedoch entsprechender organisatorischerMaßnahmen.

Ausbildungsträger wie auch ausbildungs-beteiligte Einrichtungen müssen arbeitsor-ganisatorische sowie dienst- bzw. arbeits-rechtliche Rahmenbedingungen schaffen,die den gesetzlichen Forderungen entspre-chen.

Vor allem muss gewährleistet sein,dass der Schülerin den Praxisstellen der Einrichtungen ausbil-dungsgemäße Arbeitsabläufe in Überstimmungmit dem theoretischen Kenntnisstand vorfindet.Maßgeblich werden hier die Schulen gefordert sein,denen die inhaltliche und organisatorische Ab-stimmung der theoretischen wie auch der prakti-schen Ausbildung zukommt (§ 4 Abs. 5 KrPflG,§ 4 Abs. 4 AltPflG). Es sind deshalb Organisations-und Kooperationsmodelle zu finden,die den Trans-fer von Theorie und Praxis im Sinne des Gesetzge-bers sicherstellen.Dabei ist ein Ausgleich zwischenden – möglicherweise – divergierenden Interessender Beteiligten – hier Erfüllung des Ausbildungs-ziels (Schule), dort Abrufen einer Arbeitsleistung(Einrichtung) – herbeizuführen.

Wenig hilfreich scheinen in diesem Zusam-menhang jedenfalls die – nach wie vor – auf Ar-beitsleistung abstellenden Finanzierungsvorgabenfür die Pflegeausbildung zu sein, selbst wenn dieAnrechnung der Schüler auf den Stellenplan desKrankenhauses mit einem verbesserten Verhältnisvon 9,5 Schülern zu einer vollbeschäftigten exami-nierten Pflegekraft neu definiert wurde.

Die strukturelle und zugleich inhaltliche Ver-knüpfung der unterschiedlichen Lernortbereichestellt eine große Herausforderung dar. Diese be-steht u. a. darin, große Teile der Ausbildung zu ver-einheitlichen sowie generalistische Ausbildung und

Page 416: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

18

408 Kapitel 18 · Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall

Die Herausbildung unterschiedlicher Ausbil-

dungssysteme lässt sich durch die historische

Entwicklung und die föderale Struktur als we-

sentliche Grundlage bundesdeutscher Ge-

setzgebung erklären. Um in Zukunft notwen-

dige Änderungen formulieren und durch-

setzen zu können, ist es notwendig, dass

Studierende,Absolventen und Hochschulleh-

rer mit der aktuellen Gesetzeslage vertraut

sind und erkennen können, was veränderbar

und was durch das Grundgesetz festgelegt ist.

3 Methodische Vorschläge zur Seminargestaltung

Das Thema eignet sich besonders zur Bearbeitungin arbeitsteiliger Gruppenarbeit. Nach einer Ein-führung in die Gesetzgebungskompetenzen desBundes bzw. der Länder auf Grundlage des Grund-gesetzes kann eine getrennte Beschäftigung mitdem Berufsbildungsgesetz einerseits (Gruppe 1)und den Vorschriften für die Systeme in der Pflege-ausbildung andererseits (Gruppe 2) erfolgen. Imanschließenden Vergleich der Gruppenergebnissesollten sich die Unterschiede in den Ausbildungs-regelungen und deren rechtliche Relevanzen auchin Bezug auf schulrechtliche und arbeitsrechtlicheAbweichungen zeigen.

3 Empfehlungen zum WeiterlernenZur Vertiefung des Stoffes empfiehlt sich die Be-schäftigung mit den Schulverwaltungs- und Schul-ordnungsgesetzen der einzelnen Bundesländer.Dabei ist die Auseinandersetzung mit den entspre-chenden grundgesetzlichen Regelungen unerläss-lich. Unter berufspolitischen Aspekten sollten dieunterschiedlichen Vorschläge der relevanten ge-sellschaftlichen Gruppen (etwa Berufsverbände,Gewerkschaften, wissenschaftliche Institutionen,Gesetzgebungsorgane) zu deren Reformvorstellun-gen verfolgt werden.Hierzu eignet sich v.a.die Lek-türe von Fachzeitschriften sowie entsprechenderDokumentationen betroffener Verbände und Insti-tutionen, wie sie u. a. aus dem Literaturverzeichnisersichtlich sind.

Zusammenfassung

deren Vernetzung durch Praxisbegleitung und -an-leitung wirkt sich u. a. auf die curriculare Planungder Schule aus.Dies gilt insbesondere aufgrund dererfolgten neuen Ausbildungsstruktur nach Kom-petenzbereichen beziehungsweise Lernfeldern.

Erforderlich ist ein Curriculum, das theoreti-sche und praktische Ausbildung gemeinsam um-fasst.

Damit sind – anders als bisher – alle am Aus-bildungsprozess Beteiligten einzubeziehen. Es be-darf intensiver Abstimmungsvorgänge und eineskontinuierlichen Austausches.

Eine besondere Herausforderung im Rahmender curricularen Planung dürfte die Berücksichti-gung der neu eingeführten »Differenzierungspha-se« (Unterricht) bzw. des »Differenzierungsbe-reichs« (praktische Ausbildung) darstellen. Undschließlich fordert die Umstellung vom traditionel-len Fächerkatalog zur Vorgabe von Themenberei-chen in der Ausbildung zur Gesundheits- und (Kin-der-)Krankenpflege unter Beachtung pflegewissen-schaftlicher Erkenntnisse bzw. zur Vorgabe vonLernfeldern in der Altenpflege eine Neuausrichtungnicht nur bei der curricularen Planung, sonderngleichfalls im Rahmen der Unterrichtsgestaltung,der Schulorganisation und nicht zuletzt im Prü-fungswesen.

In den Pflegeberufen haben sich eigenständi-

ge Bildungssysteme herausgebildet,die nicht

in das Berufsbildungsgesetz integriert wur-

den. Aus verfassungsrechtlichen Gründen

handelt es sich bei diesen Bildungssystemen

um Ausbildungsgänge »eigener Art«,die eine

Anwendung des Berufsbildungsgesetzes aus-

drücklich ausschließen. Die Novellierung des

Krankenpflegegesetzes (2003) nähert sich je-

doch – ähnlich wie das nunmehr bundesein-

heitliche Altenpflegegesetz – weitgehend

den Vorschriften des Berufsbildungsgesetzes

an,sodass frühere »Schlechterstellungen« des

in der Pflege Ausgebildeten gegenüber dem

in der Wirtschaft Ausgebildeten vermieden

werden.

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18.5 · Pflegeausbildung »sui generis« und ihre Problemfelder18409

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Page 418: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

A – B411

Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt 273Abschreibung 381f– Betrag 381action 183Adaption 185Akkomodation 185, 205Aktionspotential 338aktiver Strukturierungsprozess 344Alltagswissen 327Alltagsberatung 66Altenpflegegesetz 31Altenpfleger 29Aneignung 186Aneignungsstruktur, subjektive 88Anschaffungskosten 381Antigenpräsentation 351Antigenspezifität 352Antikörper 352Äquilibration 205Arbeitshandeln 90Arbeitsprozess 83ff, 86Arbeitsrecht 401Arbeitssystemwissen 84Arbeitswelt 82, 85Arbeitszusammenhänge 84Arnold, Rolf 125Artikulationsschema 81Assimilation 185, 204, 344Aufgabenstellungen 9– komplexe 80Aufklärung 64Aufsichtspflicht 406Ausbilder 95Ausbildungs- und Prüfungsverordnung

403– für die Berufe in der Krankenpflege

vom 10.11.2003 393– für Hebammen und Entbindungs-

pfleger vom 16.03.1987 393– vom 26.11.2002 393Ausbildungsgesetze 400, 403Ausbildungsverhältnis 398, 401Ausbildungsverhältnis, Regelung 400ffAusbildungsvertrag 400ff, 405Ausbildungsziel 395Auswertungsphase 108, 134Authentizität 206Autobiographie 41Autoimmunkrankheiten 350

Autonomie 281– bestreben 71– entwicklung 282Autopoiese 171, 189autopoietisch 236autopoietische Systeme 186– operationell geschlossen 171

Bachelor (BA) 5Bachelorstudiengänge 199Bader, Reinhard 125Bateson, Gregory 176Baum der Entscheidungskriterien 375Bedarfsgerechtigkeit der Versorgung

362Bedingungswissen 202Begründungswissen 84Behandlungspflege 395behavior 183Behaviorismus 178, 201Benediktinerregel 30Beobachter 175, 186Beratung 60–74– berufsgruppenspezifische 67– fachgruppenspezifische 67– Gesundheits- 65– integrative 69– methodengeleitete 66– zielorientierte 66Beratungsanlässe 64Beratungsansatz 70Beratungsbedarf 65Beratungsbeziehung 70fBeratungsdiskurs 68Beratungspflege 63Beratungsprozess 64Beratungsprozess, Phasen 71Beratungssituation 65Beratungstheorie 68Berne 150Berufsalltag 86Berufsausbildung 397– dualer Partner 82Berufsbildende Schulen 80Berufsbildungsforschung 120Berufsbildungsgesetz 397, 400ffBerufsbiographie 83

Berufsethos 253Berufsfachschule 399Berufsfeldanalyse 86Berufsfelder 5Berufsmündigkeit 85Berufspädagogik 117Berufsschule 399Berufstüchtigkeit 85Berufswelt 85Betrieb 102, 210, 397, 405Betriebskosten 383, 385Betriebspädagogik 123Betriebsprozesse 210Betriebswissen 210Bewerter 143Bewertung 180Bewusstheit 324– argwöhnische– der wechselseitigen Täuschung– geschlossen– offenBewusstheits-Kontexte 324Beziehung 152– Ich-Du- 86– pflegerische 68– professionelle 68– Vertrauens- 46Beziehungsebene 153, 306Beziehungsverhalten 283Bildung 84, 208Bildungsauftrag 87Bildungskommission 85Bildungskonferenzen 102Bildungsplanung 396Bildungssystem 193– duales 397binäres Schema 191Biographical Assesment in Community

Care 50Biographie 42– Bögen 51– Forschung 39– Handlungsschemata 48– Konstruktionen 42– Sinntransformation 54Biographieträger 47Bischoff, Claudia 35black box 183Bologna 5Botenstoffe 351Botschaften, widersprüchliche 321Bürgerliche Wohlfahrtspflege 30

Stichwortverzeichnis

A

B

Page 419: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

412 Anhang

Capra, Fritjof 299Case-Management 63Chairman-Postulat 153Chicagoer School 39Christliche Liebestätigkeit 30Cohn, Ruth 150Compliance 72consens 303Corporate Identity 83curriculare Arbeit 9curriculare, didaktisch-, Ebene 95curriculare Entscheidung 9curriculare Planung 407f

Deduktion 221deklaratives Gedächtnis 343Dekonstruktion 200– Konstruktivismus 200, 233, 298demographischer Wandel 361Denken, formal-operationales 285Deprofessionalisierung 8Detailierungszwang 45Deutsche Gesellschaft für Public Health

367Deutscher Verband für Gesundheits-

wissenschaften und Public Health367

Deutungsmuster 143, 297f, 300Dezionismus 265diagnosis-related-groups

(s. DRG-System)Diakonisse 26Diätetik 23Didaktik– Abbild- 10– Aneignungs- 89– Bereichs- 9– Berufsfeld- 117– Ebene 20– Entscheidung 9– Ermöglichungs- 89, 120– Erzeugungs- 97, 120– Orientierungen 9– Vermittlungs- 120didaktisch-curriculare Ebene 95didaktische Illusion der Machbarkeit

133didaktische Landkarte, Entwurf 129didaktischer Kommentar 136Didaktisch-unterrichtliche Ebene 96

Dieffenbach, Johann Friedrich 31Dienstleistungsbetriebe 373Dienstleistungsgesellschaft 83Dienstleistungssektor 83Dienstleistungsunternehmen 83Differenz – Person/ Umwelt 186System/ Umwelt 190Differenzierungsphase 408Differenzlernen 187Differenzschemata 191Dilthey,Wilhelm 231Diskurs 233– herrschaftsfreier 265Dispositionsbestimmung 90Doktorgrad (PhD) 5Dreierschritt 126Dreispeichermodell des Gedächtnisses

345DRG-System 303f, 395Dualität 203– von Wissen und Handeln 202

Eigenschaftsmodell 301Einstiegsphase 106Emanzipation 135Emotion 341emotionale Anteile 128emotionale Entwicklung 275Empfehlungen der Weltgesundheits-

organisation 395empirisch-analytische Vorgehensweise

227empirisch-analytische Wissenschaften

225, 231Empowerment 70Entscheidungsebene 100Entscheidungsunterstützung 373Entwicklungsphasen 157, 275Entwicklungstheorien 273Epidemiologie 366Epistemologie 220Erarbeitungsphase II 107Erfahrungsaspekt 43Ergebnisoffenheit 73Erikson, Erik H. 274, 287Erinnerungsarbeit 42Erkennen und Verarbeiten

von Informationen 337Erkenntnis 200, 220, 227, 234Erkenntnisinteresse, aktionales 225Erkenntnisinteresse, kausales 225Erkenntnisinteresse, phänomenales

225

Erklärungsprinzip 189Erwachsenenbildung 171Erzählung 44– Erzählkoda 46f– Erzählmodus 46– Erzählsegment 45– Haupterzählphase 46Erzählen, autobiographisches 44Erzählen, Stehgreif- 47Erzeugungsdidaktik 97Erziehung 172Erziehungswissenschaft 174ES 152Esoterik 252Ethik – deskriptive Ethik 251– formale Ethik 252– Berufsethik 252– Individualethik 251– normative Ethik 251f– System der Ethik 249– Wertethik 252Etikettierungstheorie 233EU-Richtlinien 5Europäischer Bildungsraum 5Europäischer Hochschulraum 5Europäischer Rat 4Europäischer Wirtschaftsraum 5European Credit Transfer

and Accumulation System 5Euthanasie 253Ev. Diakonieverein 23Evaluation 99Evaluationsphase 134Evidenz-basierte Pflege 6Existenzialismus 227Expertenfalle 75Expertengespräche 55

Fächerintegration 81Fächerorientierung 81Fachhochschulen 366Fachsystematik 86Fähigkeiten– kommunikative 70– methodische 70Faktenwissen 84ff, 202Falsifikation 221Feedback 47Fliedner,Theodor 26Forschung 6, 221Fort- und Weiterbildung 117Frankfurter Schule 231Freiwilligkeit 75

C

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E

F

Page 420: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

StichwortverzeichnisC – I413

Fremdevaluation 99Freud, Sigmund 274funktionelle Asymmetrie 340funktionelle Symmetrie 340Funktionspflege 83Funktionssysteme 173, 189Funktionssysteme der Gesellschaft 193

Gadamer, Hans Georg 231Ganzheitlichkeit 131Gedächtnis– prozedurales 343Gedächtnisinhalte 345Gedächtnisspeicher 346Gedächtniszellen 352Gefühle 158Gehirn 334, 338ff, 352f– Hemisphären 340– Hippocampus 346Gehorsam 281– vier Stufen 276Generativität 287Gerontopsychologie 289Gesamtverantwortung der Schule 405fGesellschaft zur Förderung der Public

Health 367Gesetz über den Beruf der Hebamme

und des Entbindungspflegers vom04.06.1985 393

Gesetz über die Berufe in derAltenpflege vom 17.11.2000 393

Gesetz über die Berufe in derKrankenpflege vom 16.07.2003 393

Gesetzgeber 395Gesetzgebung, konkurrierende 396Gesetzgebungshoheit 396Gesetzgebungskompetenz 396Gestaltpädagogik 178, 185Gestaltschließungszwang 45Gesundheitsberichterstattung (GBE)

360Gesundheitsförderung 8, 27, 359f, 365Gesundheitsforschung 363Gesundheitsökonomie 361Gesundheitspädagogik 173Gesundheitspolitik 8Gesundheitssoziologie 327Gesundheitssystem 2, 358Gesundheitssystemforschung 361Gesundheitsversorgungssubsysteme

359Gesundheitsversorgungssysteme 359Gesundheitswesen 360, 363Glaser, Barney 324

Globalisierungsprozess 83Grounded Theory 44Grundhaltung 150Grundpflege 35Grundrechte 261fgrundsätzliches Rechts- und Ethikwis-

sen 249Gruppe 149Gruppenleitung 156Gudjons, Herbert 125

»Handreichungen für die Erarbeitungvon Rahmenlehrplänen« der KMK 80

Habermas, Hürgen 225, 265fHaftungsrecht 406Halfpap, Klaus 125Handeln 69– eklektisch-integratives 71Handlung 7– Abläufe 8f– Alltagshandeln 8– Befähigung 9– Begründung 7– berufliche 117– komplexe 83– orientierte Ansätze 117– Orientierung 9– Plan 133– Produkte 119– Profile 8– Repertoire 8– Schritte 106– schulische 117– vollständige 81, 88– Ziele 133Handlungsalternativen 373Handlungsarten– gegenständlich-materielle 128– sozial-kommunikative 128Handlungsaspekt 43Handlungsbereitschaft 91Handlungsfähigkeit 91Handlungsfelder 2, 86, 394Handlungsfreiheit 258Handlungskompetenz 85, 90handlungsleitende Theorien 157Handlungsmodell 301Handlungsmuster 10– kasuistische 88Handlungsorientierter Unterricht 90,

94Handlungsorientierung 95Handlungspraxis, rechtliche 254Handlungsregulationsschema 96

Handlungsregulationstheorie 120Handlungsschema 209Handlungsstrukturtheorie 120handlungstheoretische Aneigungsdi-

daktik 135Handlungszyklus 88Hebamme 28Heilberufe 400Heilgehilfe 28Heilhilfsberufe 400Heilkunde 27Herangehensweise, kasuistische 81Hermeneutik 230fhermeneutischer Zirkel 231Heterogamietheorie 287Hilfsbedürftigkeit 256Hilfsfähigkeit 256Hippokrates 26historisch-hermeneutische Wissen-

schaften 225Hochschulqualifikation für Schulleitun-

gen und Lehrkräfte 404Horkheimer, Max 232humanistische Psychologie 128, 150Humanressourcen 308Humanwissenschaften 228Husserl, Edmund 227Hypothesen 223

ICH 152Ich-Du-Beziehung 86Ich-Integrität, stabile 290Identität 286Identitätsbildung 39Identitätsentwicklung 274Identitätskonzept 39Identitätskonzeption 52Identitätsleistung 42Identitätssicherung 39Identitätssuche 285Imitationslernen 183immunologisches Gedächtnis 350Immunsystem 334, 337, 348ff, 352f– angeborenes 351– spezifisches 351Individualisierung 330Individualisierungsprozess der Frauen

288Induktion 221Informationsverarbeitung 345, 350– menschliche 344inkongruente Äußerung 156Input-Output-Systeme 183Integration 203

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Page 421: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

414 Anhang

– vertikale 341Integrationsleistung 42Intellektualisierung 286Intelligenz, symbolisch-repräsentationa-

le 279intentional 236Interaktion 189, 324– Gefüge 11– nichtdirektive 71– Strukturen 11Interaktionssysteme 192, 208Interaktionszirkel 154Internationalisierung 83Interpenetration 191Interview 43– biographisch-narratives 43Investitionsentscheidung 373, 376Investitionskosten 381, 385Investitionsrechnung, statische 388

Jank,Werner 125Jugendalter 285jugendliche Askese 286

Kaiserwerth 26Karitas, Gedanke 26Karitativer Gedanke 21Karll, Agnes 30Klafki,Wolfgang 86Klasse-I-Komplex 351Klientenorientierung 83Koch, Robert 29Kognition 281, 344Kognitionspsychologie 120kognitive Entwicklung, Stufenmodell

275Kognitive Figuren 47kognitive Handlungstheorie 120kognitive Leistungsfähigkeit 290kognitive Schemata 205kognitiver Transfer 198kognitives System 200, 207Kommunikation 172, 177, 190, 207f, 281Kommunikationstheorie 235Kompetenz 8, 20, 396– emotionale 86, 93– Erwerb 132– Fach- 92– kommunikative 93

– Lern- 32f– Methoden- 32, 92– personale 93– Sozial- 92– sozialkommunikative 63– Teil- 92Kompetenzbegriff 90Konditionieren 184, 187Konsolidierung von Gedächtnisinhalten

347Konstruktivismus 200, 233, 298– neuer 204konstruktivistische Erkenntnistheorie

186konstruktivistische Lehr-

und Lernforschung 204konstruktivistischer Wissensbegriff 180konsueller Bereich 204, 209Kooperation 200kooperatives Arbeiten 207kooperatives Lernen 131, 207Kosten 374Kosten-Nutzwert-Analyse 385Krankenpflegegesetz 3, 27, 392, 397,

405Krankenpflegeschule 403Krankheitsbekämpfung 359Krankheitsverhütung 359krisenhafte Entwicklung 290Kriterienbaum 380Kritische Theorie 231Kuhn,Thomas S. 222Kündigung 401Kurzzeitgedächtnis 345fKybernetik 235

Langzeitgedächnis 345fLaur-Ernst, Ute 125lebende Systeme 184Lebensalltag 86Lebensbedingungen, biologische 337Lebenslauf 42Lebensraum 104Lebenswelt 44, 228Lebenszyklus 40Lehrarrangement 88Lehrkraft 103, 404Lehr-Lern-Prozess 72Lehr-Lern-Situationen 193Lehrplan, Rahmen- 86Lehrplanentwicklung 100, 103Lehrplangestaltung 100Leistungsbeurteilung 133Lern- und Gedächtnisprozesse 341

Lernarrangement 88Lernbegriff, konstruktivistischer 176Lernberater 130Lernebenen, vier 176Lernen 168, 174, 201, 342– mit Anderen 209– entdeckendes 34– Ermöglichung 210– exemplarisches 85, 126– fächerübergreifendes 97– Feed-back-Prinzip 126– forschendes 34– Gruppen 133Lernen, in Lernschleifen 126– kooperatives 126, 131– lebendiges 121– lebenslanges 84– persönlichkeitsentwickelndes 126–selbstorganisiertes 126– tötendes 121lernende Organisation 313Lernerperspektive 96Lernfelder 2, 81Lernfeldkonzept 199– arbeitsorientiert 109Lernort 102, 198– Betrieb 392– Schule 392Lernortkooperation 102, 198, 207LernprozessLernprozessbegleiter 89Lernprozessgestalter 89, 143Lernpsychologie 120Lernsituation 81, 88– fachsystematische 81, 88– Lernsituation, handlungs-

systematische 81, 88– Lernsituation, lernsubjekt-

systematische 81, 88Lernumgebung 189– starke 206Lernwege 129Lernzuwachs 32limbisches System 341Logos 223Lösungen– autoritative 264– sachorientierte 264Luhmann 176, 189, 200, 207, 235

Mai, Fran z Anton 26Makrophagen 351Mandl, Heinz 205Masterabschluss 5

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Page 422: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

StichwortverzeichnisJ – P415

Masterstudiengänge 199materialistische Tätigkeitstheorie 120Maturana 171, 189, 205, 235Mead, Georg Herbert 232Mehrplatzvariante E 384Mehrzielprobleme 385Menschenbild 148Menschenwürde 255Metakommunikation 209Methode, erfahrungsorientierte 75Methoden 106Methodenmix 126Methodentreppe 121Methodologie 221MHC-Klasse-II-Komplex 351Mitbestimmung 132Mitwirkungsrechte 403Modell der Bündelung 104Modell der Vereinigung 104Modelllernen 183Modellversuch NELE 103Moderatorin/ Moderator 143monistische Konzeption 224monokriterielle Verfahren 388Montessori 142Motivation 341multiple Kontexte 207multiple Perspektiven 207Mündigkeit 133, 135Mutterhausmodell 30Mythos 223

Nähe und Distanz 151narrativer Anker 206negative Schutzfreiheit 258Nervenfasern 338Nervensystem 338Nervenzellen 338Netzwerkmuster 299neuronale Netzwerke 342Neuroplastizität 342Neurotransmitter 346Nichtlernen 168Nichtwertung 150Nightingale, Florence 31nursing is teaching 72Nutzenschätzung 379Nutzwertanalyse 373

Objektformel 261offene Systeme 182, 185Offenheit des Unterrichts 124Offenheit im Unterricht 126Ökonomisierung der Gesellschaft 258Ontogenese 176Open-Book-Mangement 313Oralität 274Organisationen 189Organisationssysteme 200, 208Organismus-Umwelt-Interaktion 337originale Verwendungssituation 209orientiertes Lernen 124Ottawa Charta der WHO 360Output 338

pädagogische Freiheit 398Paradigmen 223Pasteur, Louis 29Patientenanleitung 63Patientenedukation 63, 73Patienteninformationszentrum 63Patientenorientierung 83Patientenschulung 63Pearls, Fritz 150Peplau, Hildegard 273Personal Mastery 313Personalvertretung 403Persönlichkeitsentwicklung 85, 283perturbieren 186Pflege– Anlässe 14– Aufgabenbereiche 14– Problembereiche 14– Sachbereiche 14Pflegeausbildung 9, 400f– Erstausbildung 5Pflegebedarf 12, 395Pflegebedarfserhebung 75Pflegebedürftigkeit 7, 68Pflegebegriff 11Pflegeberatung 63Pflegeberufe 395Pflegedidaktik 9Pflegedokumentation 13, 193Pflegeforschung 5, 365– angewandte 6Pflegehandeln 6, 8, 13

Pflegenotstand 21Pflegepädagogik 173Pflegepflichteinsatz 63Pflegeprozess 6, 63, 15, 395Pflegequalität 395Pflegeregeln 25pflegerische Beziehung 6Pflegeschulen 110Pflegesituation 13, 256– komplexe 8Pflegestudiengänge 4Pflegetheorien 6, 24Pflegeüberleitung 63Pflegeversicherungsgesetz (SGBXI) 8Pflegeversorgung 26Pflegeverständnis 68Pflegewissenschaft 6, 217, 404pflegewissenschaftliche Erkenntnisse

408Phasen 47f, 211– Deutungsphase 47– Haupterzählphase 47– Nachfragephase 47– Vorbereitungsphase 47Phasenkonzept 32Phasenstruktur 81Phasentheorie 274Piaget, Jean 185, 204, 275Planung 95– aufgabenbezogene 139Planungsgespräch 34Planungsraster 117, 126Pluralisierung familiarer Lebensformen

288Popper, Karl 229Postulate 153Pragmatischer Eklektizismus 68Präsentationsmöglichkeiten 129Prävention 8, 365– sekundäre 27Praxisanleiter 209– Qualifikation 407Praxisanleitung 396, 405Praxiseinsätze 405Praxisphänomen 219Priesterärzte 27Prinzip der minimalen Hilfe 129Problem– Lösung 8– Wahrnehmung 8Problemstellungen, komplexe 80Produktebene 100Produktorientierung 124Produktvereinbarung 137Professionalisierung 30Prozessbedingungen 312Prozesseigenschaften 312Prüfungsverordnung 3

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Page 423: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

416 Anhang

Prüfungswesen 408psychisches System 172Psychoanalyse 231, 274psychodynamisches Entwicklungs-

modell 274Psychologie 272Psychologik 153Psycho-Neuro-Immunologie 337psychosoziale Faktoren 275psychosoziales Moratorium 286Public-Health-Forschung 363fPublic-Health-Forum 366

Qualifikation 4– berufliche 92Qualifikationsbegriff 92Qualität– Entwicklung in der Pflege 8– Ergebnis- 30– Prozess- 30– Struktur- 30qualitative Forschung 237quantitative Forschung 237

Raum der Lernenden 124Realisierungsebene 100Realität 234Rechtsstatus der Schüler 398ffReflektierte Meisterschaft 84Reflexion 10, 193, 200, 205, 285– gesamter Lernprozess 140Reformpädagogik 121Rehabilitationsansätze 289Reich, Kersten 205Relativismus 257Reliabilität 237Reorganisationsprojekte 308Reorganisationsprozess 304Reservekapazität 289Robert Bosch Stiftung 6, 80Rogers, Carl R. 150Rolle 142– Objekt 142– Subjekt 142Rotkreuzschwester 23Rückkoppelung 299Rückkopplungsschleifen 182Ruhepotential 338

Sachebene 153, 306Sachlogik 153Sachverständigenrat für die

Konzentrierte Aktion im Gesundheitswesen 4, 362

Säftelehre 27Salutogenese 326Säuglingsforschung 277Schadenersatzpflicht 406Schemata, sensomotorische 279Schlüsselproblem 86Schlüsselqualifikation 84Schlusskoda 47Schule 63, 102, 399, 404Schulgesetze der Länder 397Schulleitung 405fSchulordnung 399Schulorganisation 100, 103, 408Schulrecht der Länder 403, 406Schulträger 392Schulungsprogramme 73Schulverwaltungsprogramm 374Schulz von Thun, Friedemann 151science community 220Seidler, Eduard 35Selbstakzeptanz 156Selbstbeschreibung 44Selbstbezogenheit 287Selbsterhaltung 207Selbstermächtigung 70Selbsterschließungskompetenz 84Selbstevaluation 99Selbstkongruenz 150Selbstorganisation 203, 235Selbstpräsentation 43Selbstverstärkung 183Selektion 173SGBXI (s. Pflegeversicherungsgesetz)Siebert 205Singularisierung 287Sinn 50, 189, 207Sinnerkenntnis 230Sinneseindrücke 338, 340Sinnkontext 202Sinnvermittlung 230Situationen, authentische 209Situationsbezogenheit 9Situiertheit 206Skalierung 379Software 381Softwarehersteller 377soziale Konstruktion der Wirklichkeit

233soziale Organisationen 297

soziale Systemtheorie 200sozialer Entwicklungsprozess 157sozialer Kontext 207soziales Lernen 285soziales System 171Sozialethik 251Sozialgesetzbuch 395Sozialgesetzgebung 60, 63Sozialisation 50, 172Sozialisationstheorie 233Sozialpsychologie 232Sozialsystem 2Sozialethik 251Sozialwissenschaften 228Sprache 192, 202, 204, 235Sprachentwicklung 278staatliche Anerkennung 398, 404staatliche Zulassung 401Stakeholder 373, 376Steppe, Hilde 30Sterbende 323Stifteverband für die Deutsche

Wissenschaft 367Stimmungslabilität 285Strategiefindung 298Struktur 50, 179– systemimmanente 85Strukturaspekt 43Strukturdefiziterklärungen 85strukturdeterminiert 186strukturelle Kopplung 171, 174, 191,

205strukturelle Leistung 187Studiengänge 366Stufenmodell des handlungs-

orientierten Unterrichts 127subjektorientierte Wende 121Subkulturen 233Symbole, signifikante 233Synergetik 235System– biologisch 235– geschlossen 235– körperlich 181– kulturelle 235– offene 235– psychische 235– soziale 235– visuell-motorisch 277systematische Handlungs-

wissenschaften 225Systemgrenzen 235systemisches Management 309systemisches Pflegemanagement 315Systemreferenz 188systemtheoretischer Ansatz 120Systemtheorie 231, 299

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Page 424: Pflegepädagogik: Für Studium und Praxis 2. Auflage

StichwortverzeichnisQ – Z417

Tätigkeitsfelder 8, 11, 87tätigkeitsstrukturiert 126Tausch/ Tausch 150Teamarbeit 90, 98Teambildung 99Teamentwicklung 99Teamregeln 99Teamsitzung 99Teamteaching 99technische Wissenschaften 225teilnehmerorientierter Einstieg 55Teilnutzwerte 380Tetradisches Modell 62Teufelskreis 154T-Helferzellen 351Theorie– der moralischen Entwicklung 276– Merkmale 230– -Praxis-Transfer 407Tiefenpsychologie 183träges Wissen 206Training 75Trajectory 48Transparenz 234trianguläre Struktur 283Triebimpulse 286triviale Maschinen 183Typen der Legitimation 264T-Zellrezeptor 351

Umgang mit Unsicherheit 302Umwelt 177, 182, 205Umweltauseinandersetzung 242Ungleichheit 249Unterricht– fachübergreifender 97– fachverbindender 97– handelnder 120– handlungsorientierter 90, 94Unterrichtsgestaltung 75, 100, 408Unterscheidung System/ Umwelt 184Ursache-Wirkungsdenken, lineares 236Urvertrauen 279

Validiät 237Varela, Francisco 171, 189, 205Verhalten (s. behavior)Verhältnisskala 379Vermittlung, lehrerzentrierte 86Versorgung, gesundheitliche 359Versorgungsforschung 365Versorgungspraxis 366Versorgungsstrukturen 330Verstärkung 184Verstehen 177, 189, 193– einfühlendes 151Virchow, Rudolf 30Vollzeitschule 399von Bingen, Hildegard 26von Eschenbach,Wolfram 27von Foerster, Heinz 174, 235von Glasersfeld, Ernst 174, 204

Wahrnehmung 342Werte 151, 235Werte- und Entwicklungsquadrat 151,

310Wertekonflikt 310Wertfreiheit 230Wertschöpfungsprozesse 309WHO 27Wilde Schwester 30WIR 152WIR-Gefühl 160Wirklichkeitskonstruktionen 187Wissen 340, 343– explizites 81, 90– implizites 81, 90, 209– prozedurales 89– situiertes Erwerben 87– träges 85Wissenskontext 84Wissenstransfer 84, 89Wissensverfahren 202Wissenschaft– Aufbau 4– Entwicklung 4, 6– objektive 226– Tradition 4Wissenschaftsorientierung 9Wissenserwerb 344Wissensvermittler 142Wissensvermittlung 202

Zeitrichtwerte 87Zieldimensionen 102Zielerreichungsgrad 379Zielformulierung 87zirkuläres Systemmodell 236

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