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6. Jahrgang, 7. Ausgabe 2012, 210-224 Pharmazeutische Bedenken und Arzneimittelsicherheit - - - Rubrik Apothekenpraxis - - - Gesetzliche Grundlagen Bioäquivalenz Polypharmakotherapie Geriatrie Nocebo-Effekt Applikationsformen Schwerwiegende Erkrankungen Praxishinweise

Pharmazeutische Bedenken und Arzneimittelsicherheit€¦ · Gesetzliche Grundlagen Bioäquivalenz ... z.B. Zytostatika, ... Problemkategorien mit Beschreibung und Beipielen für pharmazeutische

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6. Jahrgang, 7. Ausgabe 2012, 210-224

Pharmazeutische Bedenken und Arzneimittelsicherheit

- - - Rubrik Apothekenpraxis - - -

Gesetzliche Grundlagen

Bioäquivalenz

Polypharmakotherapie

Geriatrie

Nocebo-Effekt

Applikationsformen

Schwerwiegende Erkrankungen

Praxishinweise

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Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(7):210-224

Pharmazeutische Bedenken und Arzneimittelsicherheit

Tobias Kaufmann, Jennifer Pörschke* Heinrich–Heine-Universität,

Düsseldorf

*Korrespondenzadresse: Jennifer Pörschke

Fachbereich Pharmazie Universität Düsseldorf

Moorenstraße 5 40225 Düsseldorf

[email protected]

Lektorat: Stephanie Pick, Apothekerin

Institut für Pharmakologie und Klinische Pharmakologie Universitätsklinik, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf

Prof. Dr. Georg Kojda Institut für Pharmakologie und Klinische Pharmakologie Universitätsklinik, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf

Den Fortbildungsfragebogen zur Erlangung eines Fortbildungspunktes zum

Fortbildungstelegramm Pharmazie finden Sie hier:

http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/Kurzportraet.html

Titelbild : Universitätsbibliothek New York , Urheber: Photoprof, Lizenz: Fotolia

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Abstract

Since the introduction of health insur-ance rebate contracts, drugs are substi-tuted on a regular basis. Pharmacists and physicians can avoid this substitu-tion by using pharmaceutical concerns or using the aut-idem stipulation. Pharma-ceutical concerns should come into play, if the success of the therapy is in dan-ger, although there was an intensive consulting. Sources of concerns can be the incomprehension of patients, con-cerns about new drugs or the so called Nocebo-Effect. This article shall define the term pharmaceutical concerns, their legal roots, show dangers of drug substi-tution and is supposed as a guide for the correct use of pharmaceutical concerns. Furthermore the given article is deter-mined to take the doubts about using pharmaceutical concerns. The impor-tance of the utilization of this new possi-bility and expertise expansion should be the major task of every pharmacist.

Abstrakt

Seit Einführung der Arzneimittelrabatt-verträge werden Medikamente substitu-iert. Apotheker und Ärzte können den Austausch durch das Äußern pharmazeu-tischer Bedenken beziehungsweise durch das Setzen eines aut-idem Kreuzes verhindern. Pharmazeutische Bedenken sollten geltend gemacht werden, wenn der Therapieerfolg trotz intensiver Beratung gefährdet sein könnte. Gefah-renquellen können hierbei das Unver-ständnis der Patienten, die Angst vor neuen Arzneimitteln oder der sogenann-te Nocebo-Effekt sein. Der vorliegende Artikel soll definieren, was pharmazeuti-sche Bedenken sind, ihre gesetzliche Verankerung aufzeigen, Gefahren der Substitution verdeutlichen und ein Wegweiser zur richtigen Anwendung pharmazeutischer Bedenken darstellen. Darüber hinaus soll dieser Artikel die weitverbreitete Angst, pharmazeutische Bedenken anzumelden, mindern. Die Notwendigkeit der Inanspruchnahme dieser wichtigen neuen Möglichkeit und die damit verbundene Kompetenzerwei-terung sollte jedem Apotheker bewusst sein.

Einleitung

"Mein Arzt hat gesagt, ich solle mir nichts anderes andrehen lassen!" "Meine Kasse hat gesagt, ich bekomme das, was der Arzt verschreibt!" "Ich will Ihr Billig-produkt nicht, ich will mein gutes Origi-nal von Generic-Pharm" "Das können Sie gleich selbst in den Mülleimer werfen! Ich nehme das nicht!" "Das sind die falschen Tabletten! Bislang habe ich immer diese rote Packung bekommen! " "Das Zeug wirkt nicht, ich möchte meine alten Tabletten wieder." (Weblink 1) So oder ähnlich klingen seit einiger Zeit die Aussagen entrüsteter Kunden in der Apotheke. Schuld daran sind die soge-nannten Arzneimittelrabattverträge und die Folgen, die diese mit sich bringen. Mit Inkrafttreten des Beitragssatzsiche-runggesetzes (BSSichG) am 01.01.2003 wurde den Krankenkassen in Deutsch-land ein Weg geebnet, mit einem oder mehreren Arzneimittelherstellern „Exklu-sivverträge“ im Bereich der Arzneimittel-versorgung einzugehen. Durch eine erhoffte Absatzzunahme wurden den Krankenkassen durch die Hersteller Rabatte zugesagt, um das Budget der Krankenkassen zu entlasten und Ausga-bensteigerungen zu minimieren. Die praktische Umsetzung und damit ver-bunden eine Revolution der Arzneimittel-versorgung der gesetzlich Krankenversi-cherten erfolgte jedoch erst durch den Erlass des GKV-Wettbewerbsstärkungs-gesetz (GKV-WSG) im Jahre 2007. Für den Patienten bedeutet dies eine enorme Umstellung.

Um den Patienten den Umgang zu erleichtern und die korrekte Versorgung des Einzelnen zu gewährleisten, obliegt es Ärzten und Apothekern auf die Ra-battverträge durch den Einsatz der beiden Fachtermini „aut-idem“ sowie „pharmazeutische Bedenken“ Einfluss zu nehmen. Gerade für Apotheker bedeutet dies eine große Kompetenzerweiterung und zeigt, wie wichtig der gezielte Einsatz ist sowie die Bedeutsamkeit diese auch als solche zu verstehen. Denn untersagt der Arzt bei seiner Verordnung den Austausch nicht ausdrücklich, ist der Apotheker verpflichtet dem Patienten ein rabattbegünstigtes Präparat auszuhändi-gen. Dieses muss zwar in Wirkstoff, Dosierung, Normgrößenpackung, Indika-tionsbereich, Freisetzungs- bzw. Resorp-

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tionsverhalten entsprechen und eine möglichst vergleichbare Arzneiform aufweisen, nicht aber dem namentlich genannten Präparat auf dem Rezept entsprechen. Gerade geriatrischen Patienten sowie chronisch Kranken, also Patientengruppen, welche vielleicht schon über Jahre dieselben Medikamente erhalten haben, fällt dieser Austausch oft schwer. Viel zu groß ist die Angst ein qualitativ schlechteres, unwirksames oder nebenwirkungsreicheres Präparat zu erhalten.

Hier sind also Ärzte und Apotheker gleichermaßen gefragt, dieser Angst entgegenzuwirken, oder aber auch berechtigten Einwänden nachzugehen und entsprechend zu handeln. Hinter dem Begriff aut-idem (lateinisch für „oder das Gleiche“) verbirgt sich ein Verfahren, bei welchem es dem Apothe-ker ursprünglich gestattet war, statt dem genannten ein vergleichbares Fertigarz-neimittel abzugeben. Hierzu musste der Arzt lediglich das aut-idem Kreuz auf dem Rezeptformular ankreuzen. Was als Versorgungsverbesserung geplant war, um beispielsweise im Notdienst eine problemlose Belieferung zu gewährleis-ten, dient in heutiger Zeit mehr der Kosteneinsparung. Der gezielte Aus-tausch in Sonderfällen ist zum Regelfall geworden. Heutzutage kann der Arzt durch Verwendung des aut-idem Ver-merks den Austausch unterbinden. Doch nicht nur den Ärzten wurde diese Art Vetorecht zugestanden. Auch Apothekern steht die Entscheidung sich Krankenkas-sen und ihren Verträgen zu widersetzen zu, indem sie „pharmazeutische Beden-ken“ geltend machen.

„Pharmazeutische Bedenken bestehen, wenn durch den Präparateaustausch trotz zusätzlicher Beratung des Patienten der Therapieerfolg oder die Arzneimittel-sicherheit im konkreten Einzelfall gefähr-det sind. In bestimmten Situationen besteht besonderer Anlass, die Ersetzung mit einem rabattbegünstigten Arzneimit-tel auf pharmazeutische Bedenken hin zu überprüfen. Eine Nichtabgabe eines rabattbegünstigten Arzneimittels kann aus einem schwerwiegendem Problem oder einer Kombination mehrerer Prob-leme aus verschiedenen Fallgruppen resultieren.“(1). Ist dies der Fall, so ist von einer Arzneimittelsubstitution abzu-

sehen. Ziel dieser Neuregelungen ist somit eine Gewährleistung der Arznei-mittelsicherheit. Die Wichtigkeit der Inanspruchnahme dieser Kompetenz soll im folgenden Text näher erläutert wer-den.

Gesetzliche Grundlagen

Im Jahre 2007 traten die Arzneimittel-rabattverträge in Kraft. Diese Rabattver-träge ermöglichten es Krankenkassen Verträge mit Arzneimittelherstellern einzugehen. Ziel dieser Verträge war die Kostensenkung für Arzneimittel, Konse-quenz die Substitution von Arzneimitteln in der Apotheke. Die Resonanz in der Bevölkerung war größtenteils negativ. Patienten befürchteten ihr gewohntes Medikament nicht mehr zu bekommen oder durch Lieferengpässe lange auf ihr Medikament warten zu müssen. Wie sich herausstellte, war diese Angst nicht unbegründet. So hatten beispielsweise kleinere Pharmahersteller wie die Firma Teva plötzlich einen viel größeren Markt-anteil (Marktsteigerung von 6 auf 29% innerhalb weniger Wochen), konnten aber ihre Lieferaufträge nicht immer zeitnah erfüllen. Gesetzlich verankert sind die Rabattverträge im Sozialen Gesetzbuch V (SGB V) § 129 Absatz 2: „Der Spitzenverband Bund der Kranken-kassen und die für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen gebildete maßgebliche Spitzenorganisation der Apotheker regeln in einem gemeinsamen Rahmenvertrag das Nähere.“ (2). Im Kommentar zu diesem Rahmenvertrag werden die Handlungsmöglichkeiten von Apotheken präzisiert. So sind Apotheken dazu verpflichtet preisgünstigere Arz-neimittel abzugeben, wenn das Arznei-mittel nur unter seiner Wirkstoffbezeich-nung verordnet wurde oder der Arzt die Substitution nicht ausgeschlossen hat. Das abgegebene Präparat muss dabei die gleiche Wirkstärke, Normgröße und den gleichen Wirkstoff besitzen, für das gleiche Anwendungsgebiet zugelassen sein und der identische Darreichungs-form entsprechen. Verordnet der Arzt ein Arzneimittel ohne Bezug auf den Herstel-ler oder Handelsnamen nur durch die Aufführung des Wirkstoffes, so ist der Apotheker dazu verpflichtet aus den drei preisgünstigsten Arzneimitteln zu wäh-

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len, wenn kein rabattbegünstigtes Arzneimitel vorhanden ist (Anhang). Verordnet der Arzt ein Präparat nament-lich, so muss der Apotheker prüfen, ob die Krankenkasse des Patienten mit einer Pharmafirma einen Rabattvertrag bezüg-lich des Arzneimittels abgeschlossen hat und dementsprechend beliefern. In zwei Fällen kann von der Belieferung des rabattbegünstigten Arzneimittels aus-nahmsweise abgesehen werden:

• Akutversorgung und Notdienst

• pharmazeutische Bedenken

Pharmazeutische Bedenken Ärzten und Apothekern ist jeweils eine Möglich-keit gegeben, um unerwünschte Arznei-mittelsubstitutionen einzuschränken. Ärzte sind berechtigt durch das Setzen eines aut-idem – Kreuzes auf dem Rezept die Substitution des Arzneimittels zu unterbinden. Folglich ist der Apothe-ker dazu verpflichtet eben jenes verord-nete Präparat, oder einen Import dessen, den Patienten auszuhändigen. Dabei sind Importe nur mit dem Original gleichzu-setzen, wenn keine Generika existent sind.

Pharmazeutische Bedenken gestatten es dem Apotheker eine Arzneimittelsubsti-tution zu umgehen. Sieht der Apotheker in einem konkreten Fall den Therapieer-folg oder die Arzneimittelsicherheit in Gefahr, kann er sich weigern, die Substi-tution durchzuführen und das ursprüng-lich verordnete Arzneimittel abgeben. Rechtlich ist dieses Verfahren in der Apothekenbetriebsordnung (§ 17 Absatz 5) und dem SGB V (§ 129) verankert. Besteht ein konkreter Problemfall (siehe Tab. 1), liegt es in der Verantwortung des Apothekers in einem persönlichen Gespräch mit dem Patienten oder dessen Angehörigen bzw. dem Pflegepersonal die bestehenden Probleme zu hinterfra-gen. Sind diese Probleme durch intensive Beratung und Aufklärung nicht zu lösen, ist das Äußern von pharmazeutischen Bedenken angebracht und eine Alternati-ve zum Rabattarzneimittel muss gesucht werden. Um pharmazeutische Bedenken geltend zu machen, ist der Apotheker verpflichtet, stichwortartig die Gründe, die zu seinem Vorgehen führten, nieder zu schreiben und das Rezept mit dem Sonderkennzeichen „Nichtverfügbarkeit“ (PZN: 2567024) zu bedrucken.

Bioäquivalenz

„Frau G., 78 Jahre, betritt die Offizin. Sie kennen die alte Dame schon eine Weile. Etwas zögerlich beginnt sie: ‚Es tut mir leid, aber ich glaube mit meinen Tablet-ten stimmt etwas nicht. Ich bin immer so müde, habe Kopfschmerzen und mir ist manchmal schwindelig, besonders beim Aufstehen. Haben Sie sich vielleicht mit den Tabletten von vor ein paar Tagen vertan?‘. Nach einem Blick in die Kun-denkartei fällt auf, dass Sie ein verord-netes Generikum (Verapamil 80mg Filmtabletten) gegen ein Rabatt-Generikum ausgetauscht haben. Auf den ersten Blick erscheint alles korrekt, doch ist es das wirklich?“ (Weblink 2).

Als wichtigster Parameter ist hierbei sicherlich die Bioäquivalenz zu nennen. Auf ihr lastet ein großes Augenmerk im Rahmen der Arzneimittelindustrie und der Generikaherstellung. Als Parameter der Pharmakokinetik vergleicht und bewertet sie zwei wirkstoffgleiche Arz-neimittel, welche sich in Herstellung und Hilfsstoffzusatz unterscheiden. Daher sollte bei der Entwicklung eines Generi-kums auch das gesamte Fertigarzneimit-tel im Fokus des Betrachters stehen (siehe Abb. 1).

Abb. 1: Qualitätsmerkmale von Generi-ka. Nicht nur der Nachweis der Bioäqui-valenz sollte bei der Generikaproduktion im Vordergrund stehen, sondern eben-falls die Einhaltung der Qualität, der Beschriftung, der Reinheit der Rohstoffe, der Zusammensetzung und der Good Manufacturing Practice-Richtlinien (GMP-Richtlinien) (Weblink 2).

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Problemkategorien Beschreibung mit Beispielen

A

Problematische Arzneistoffe

- Geringe therapeutische Breite: z.B. Digitalis-Präparate, Immun suppressiva wie Ciclosporin - Hohes Nebenwirkungspotenzial: z.B. Zytostatika, Opioide

B

Problematische Applikationsformen beziehungsweise Ap-plikationssysteme bei Austausch

- Inhalationssysteme (Sprays, Pulverinhalatoren) - TTS/ Pflaster (z.B.Fentanyl, Nitroglycerin) - Pen (Insuline, Interferone) - Injektions- und Infusionslösungen - Pellets vs. monolithische Darreichungsformen - Disperse Tabletten vs. „normale“ Tabletten - teilbare vs. nicht teilbare feste Peroralia

C

Gefährdung des Therapieerfolgs oder der Arzneimittel-sicherheit durch Non-Compliance

- Depressive Patienten - Ältere Patienten mit Polypharmazie (>5 Dauermedikamente)

D Problematische Dosierung (mit Applikationshilfen)

- Tropfen (Peroralia, Nasalia, Ophtalmika) - Säfte (Peroralia)

E

Problematische (lebensbedrohliche) Erkrankungen

- Maligne Tumorerkrankungen - Autoimmunerkrankungen - HIV/ Aids - Herzinsuffizienz in fortgeschrittenem Stadium - Niereninsuffizienz (Dialysepatienten) - Leberinsuffizienz im fortgeschrittenem Stadium - Patienten nach Transplantationen

F

Problematische Patientengruppen

- Patienten mit Hör- oder Sehstörungen - Patienten mit sensorisch motorischen Einschränkungen (z.B. Parkinson oder Rheumapatienten) - Patienten mit Schluckproblemen - Patienten mit neurologischen oder psychischen Krankheiten - Kinder - ältere, multimorbide Patienten

G

Problematische Hilfs- und Zusatzstoffe für bestimmte Patienten

- Allergie gegen Farb- oder Konservierungsstoffe (z.B. Parabene, Benzylalkohol) - Allergie gegen Sulfite (z.B. Natriumdisulfit in Injektionslösungen) - Alkohol, zum Beispiel bei Alkoholikern

Tab. 1: Problemkategorien mit Beschreibung und Beipielen für pharmazeutische Beden-ken. (nach (1)).

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Ziel dieser strengen Anforderungen bei Entwicklung und Herstellung ist die Sicherheit der Präparate im Hinblick auf Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklich-keit. Als Voraussetzung gilt hierbei §24b AMG, Zulassung Generika, Absatz 2: „Die Zulassung als Generikum nach Absatz 1 erfordert, dass das betreffende Arzneimittel die gleiche Zusammenset-zung der Wirkstoffe nach Art und Menge und die gleiche Darreichungsform wie das Referenzarzneimittel aufweist und die Bioäquivalenz durch Bioverfügbar-keitsstudien nachgewiesen wurde.“ (Weblink 3). Weltweit zählt der Nach-weis der Bioäquivalenz zu den wichtigs-ten Kriterien der Zulassung, um die Austauschbarkeit von Fertigarzneimitteln ohne Gefährdung der Patienten vorneh-men zu können. Man versteht unter bioäquivalenten Arzneimitteln Medika-mente mit gleichartiger Bioverfügbarkeit. Dies bedeutet, dass die Resorption der Wirkstoffe nach Applikation der Zuberei-tungen mit identischem Ausmaß (relative Bioverfügbarkeit = 1) und gleicher Geschwindigkeit (cmax und tmax identisch) erfolgt (Abb. 2).

Zur Ermittlung dieser Parameter werden Plasmaspiegelkurven erstellt (siehe Abb. 2). Die zuständigen Zulassungsbe-hörden fordern bei einem 90 prozenti-gem Konfidenzintervall Bioverfügbarkei-ten von 80-125% zwischen Originalprä-parat und Generikum. Laut European Medicines Agency (Europäische Arznei-

mittelagentur, EMA) Richtlinien aus dem Jahre 2001 werden Bioäquivalenzstudien besonders bei Präparaten verlangt bzw. als sinnvoll erachtet, wenn

• Änderungen der Bioverfügbarkeit den Therapieerfolg oder die Ver-träglichkeit negativ beeinflussen,

• sie eine geringe therapeutische Breite aufweisen (z.B. Stoffe wie Digitoxin, Theophyllin),

• bei Kombinationspräparaten von pharmakokinetischen Interaktio-nen auszugehen ist welche eine Veränderung der Bioverfügbarkeit mit sich bringen oder

• eine modifizierte Wirkstofffreiset-zung vorliegt (beispielsweise Re-tardierung) (Weblink 2).

Zu beachten ist hierbei, dass gewisse Faktoren wie die Zerfallsgeschwindigkeit der Darreichungsform, die Freisetzung oder das Ausmaß präsystemischer Elimination die Bioäquivalenz beeinflus-sen können. Diese Parameter müssen daher natürlich mitberücksichtigt wer-den. Verschiedene Bioäquivalenzstudien ergaben deutliche Schwankungen im Bereich Wirkstärke, Wirkungseintritt und Wirkdauer, wodurch eine sichere Arz-neimitteltherapie nicht gewährleistet werden kann und die Zweifel einiger Patienten, im Hinblick auf substituierte Rabattarzneimittel, bestätigt (siehe Abb. 3).

Abb. 2: Plasmaspiegelkurve, welche anhand der Parameter Area Under the Curve (AUC) das Ausmaß, sowie durch tmax und cmax die Geschwindigkeit darstellt (Weblink 2).

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Abb. 3: Generikum und Originalpräparat unterscheiden sich jeweils in AUC, cmax und tmax. Dadurch kommt es zu Änderungen in Wirkstärke, Wirkungseintritt und Wirkdauer, die eine Bioäquivalenz ausschließen (Weblink 2).

Als problematisch anzufügen ist hierbei auch der Punkt, dass sich die Zulas-sungsstudien auf Vergleiche zwischen Original und Generikum beziehen, wobei eine gewisse Schwankungsbreite toleriert wird. Der Regelfall allerdings, die Substi-tution verschiedener Generika unterein-ander, wird nicht hinreichend überprüft, was zur Folge hat, dass Generika unter-einander nicht zwingend bioäquivalent zueinander sein müssen (siehe Abb. 4). Gerade diese Tatsache kann auch für Frau G’s Unwohlsein verantwortlich sein. Durch den Wechsel von einem Generi-kum auf ein anderes kann es zu enor-men Schwankungen der AUC im Hinblick auf die relative Bioverfügbarkeit kom-men, wie die herangezogene Studie belegt: Verglichen wurden hierbei die relativen Bioverfügbarkeiten verschiede-ner Verapamil Generika. Als Bezugssub-stanz wurde Isoptin® 80 mg gewählt (3).

Betroffen von diesem Problem ist aber leider nicht nur Frau G. Zu finden ist dieses Phänomen bei einer Vielzahl verschiedener Indikationsbereiche. Gerade auch bei Arzneimitteln mit engen Dosierungsregimen (siehe Tab. 2) wie beispielsweise den Schilddrüsenpräpara-ten wirken sich kleine Veränderungen im Bereich der Bioverfügbarkeit umso stärker aus. Denkt man beispielsweise an L-Thyroxin mit seinen vielen unter-schiedlichen Dosierungsmöglichkeiten im Mikrogrammbereich, wird schnell klar, dass die kleinste Schwankung schon einen großen Effekt bedingen kann, der sich im schlimmsten Fall negativ aus-

wirkt (Unter/Überdosierung). Daher sollten gut eingestellte Patienten auch möglichst ihr bisheriges Präparat weiter-hin erhalten.

Polypharmakotherapie

Etwa ein Drittel der Patienten mit chroni-schen Erkrankungen erhalten Mehrfach-medikationen von vier oder mehr Arz-neimitteln (4). Mit täglich mehr als vier Tagesdosen ist der Arzneimittel-verbrauch in der Altersgruppe der 85 – 94 jährigen am höchsten (5). Durch wechselnde Rabattgeschäfte der Kran-kenkassen variieren auch die Fertigarz-neimittel der Patienten.

Allopurinol Furosemid Naproxen

Atenolol Imipramin Nifedipin

Beta-methason

Levodopa Pirenzepin

Carbama-zepin

L-Thyroxin Prednisolon

Chloroquin Methyl-

thiouracil Propranolol

Digitalis-glykoside

Molsidomin Triamcino-

lonon

Diltiazem Morphin Verapamil

Tab. 2: Eine Auswahl biopharmazeutisch problematischer Arzneistoffe (nach Weblink 2).

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Abb. 4: Vergleich von zwölf Generika untereinander, die alle als bioäquivalent zum Originalpräparat Isoptin® gelten. Die Abbildung zeigt jedoch erhebliche Schwankungs-breiten zwischen den einzelnen Generika (Azupamil 80, Azuchemie; Cardiagutt 80, Engelhard; Cardioprotect 80, Efeka; durasoptin 80, Durachemie; VeraHexal 80, Hexal; Veramex 80, Labaz; Verapamil 80 mg, Sanol; Verapamil AL 80, Aliud; Verapamil OPT 8, Braun u.Herberg; Verapamil-ratiopharm 80, ratiopharm; Verapamil-Wolff 80, Wolff; Veroptinstada 80, STADApharm) (Weblink 2, (3)).

So ändern sich Verpackung, Größe, Farbe und Form der Tablette. Verunsi-chert fühlt sich dadurch jeder zweite, jeder fünfte klagt über unerwünschte Wirkungen (7). In einer Umfrage bestä-tigten 20 % der Befragten, dass es nach einem Arzneimittelwechsel Probleme bei der Stellung gab. Einige berichteten sogar, dass es zu Verwechslungen kam (7). 50 % der Patienten haben bereits den Überblick über ihre Medikamente verloren (6). Die potentiellen Gefahren sind Verwechslungen, die mehrfache Einnahme eines Medikaments, damit verbunden eine Gefahr der Überdosie-rung, und/ oder die Einnahme der Arz-neimittel zu falschen Zeitpunkten. Bei Abgabe an Patienten, die durch mehrere Arzneimittel gleichzeitig therapiert werden, ist also Vorsicht geboten. Kom-men Verwechslungen der Medikamente vor, ist die Arzneimittelsicherheit in Frage gestellt. Die gefühlte Unsicherheit der Patienten gegenüber ihren ausge-tauschten Medikamenten führt zu einer Verminderung der Compliance, bis hin zur kompletten Nicht-Einnahme von Arzneimitteln. Für den Apotheker bietet es sich an, von seinem Recht, pharma-

zeutische Bedenken zu äußern, Gebrauch zu machen und stets die gleichen, dem Patienten vertrauten, Arzneimittel ab-zugeben.

Geriatrie

Ältere Patienten gehören zu einer Patien-tengruppe, die stets mit besonderer Sorgfalt zu therapieren ist (Weblink 4). Häufig werden ältere Patienten mit mehreren Arzneimitteln gleichzeitig therapiert. So nehmen, laut einer Um-frage, Patienten zwischen 70 und 80 Jahren täglich durchschnittlich 8,6 Tabletten zu sich. Bei Patienten über 80 Jahren sind es sogar durchschnittlich 9,3 Tabletten (8). Bei einer solch großen Menge an täglich eingenommenen Medikamenten ist die Verwechslungsge-fahr sehr hoch. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Patienten meist eingeschränkt in ihren Handlungen sind, oder kognitive Defizite aufweisen. Sieht ein Patient zum Beispiel schlecht, kann es sein, dass er die substituierten Medi-kamente verwechselt. Leiden Patienten an den ersten Anzeichen einer Demenz

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kann es sein, dass sie vergessen das neue Medikament einzunehmen. Gerade ältere Patienten sind in der Apotheken-praxis immer besonders intensiv zu beraten und zu betreuen. Dies fordert auch § 7 Absatz 1 der Berufsordnung: „Die Apothekerin und der Apotheker sind verpflichtet, Patienten, Ärzte und Ange-hörige anderer Gesundheitsberufe über Arzneimittel unabhängig zu beraten und zu informieren, soweit dies aus Gründen der Arzneimittelsicherheit oder einer sinnvollen Therapiebegleitung erforder-lich ist.“ (Weblink 5).

Wird ein Medikament ausgetauscht kann es auch sein, dass der Patient Probleme hat das neue Medikament aus der Ver-packung, beziehungsweise aus dem Blister zu entnehmen. Eine große Hürde für ältere Patienten stellt meist das Teilen von Tabletten dar. Erhält ein Patient ein neues Medikament ohne Bruchkerbe, oder ist diese lediglich eine Zierkerbe, kann es zu Verunsicherungen über die Teilbarkeit kommen, bis hin zur Nichteinnahme des Medikaments. Große Skepsis herrscht meist bei Patienten, die plötzlich ihr seit Jahren eingenommenes Medikament substituiert bekommen. Das Vertrauen in das neue Präparat ist meistens sehr gering. Diese Zweifel können sich bei Patienten in dem bereits erwähnten Nocebo-Effekt oder als kom-plette Einnahmeverweigerung manifes-tieren. Durch die gesteigerte Sensibilität sind ältere Patienten besonders empfind-lich für Nebenwirkungen, oder Wechsel-wirkungen aufgrund ihrer Polypharma-kotherapie. Bei einer Arzneimittelsubsti-tution muss ihnen genauestens erklärt werden, dass das neue Medikament qualitativ dem bisherigen Medikament gleichwertig ist. Auch bei Besuchen der Patienten in der Apotheke ist regelmäßi-ges Nachfragen über das Befinden und das Zurechtkommen der Patienten mit den Arzneimitteln angebracht. Darüber hinaus ist das in Kenntnis setzen von Angehörigen und Pflegenden ein weiterer Schritt in Richtung Therapieerfolg. Zusätzlich besteht die Möglichkeit die Angehörigen und Pflegenden zu bitten die Arzneimittelvorbereitung und Sortie-rung für den Patienten zu übernehmen. Ist ein Medikament für den Patienten nicht geeignet, kommt er damit nicht zurecht, oder ändern sich die Medika-mente zu oft, wäre es für den Apotheker

sinnvoll pharmazeutische Bedenken zu äußern und damit eine Arzneimittelkon-stanz zu gewährleisten.

Compliance In vorangegangenen Abschnitten wurde häufig der Aspekt der Compliance aufgegriffen. Generell be-zeichnet der Begriff die Zuverlässigkeit von Patienten, eine Therapieanweisung durch den Arzt, Apotheker oder den Beipackzettel zu befolgen. Synonym wird daher auch gelegentlich der Ausdruck „Therapietreue“ verwendet. Ein immer häufiger zu findendes Problem stellt sich allerdings durch das Verweigern dieser Anweisungen dar. Man spricht in diesem Fall von Non-Compliance (Weblink 6). Unterschieden wird hierbei in primäre (Nichteinlösen eines Rezeptes) und sekundäre Non-Compliance (Einlösen des Rezeptes, aber Nichteinnahme des Arzneimittels oder Einnahme in nicht hinreichender Dosierung). In beiden Fällen ist der Therapieerfolg gefährdet und eine Verschlechterung des Gesund-heitszustandes oder schwere Folgeer-krankungen werden möglich. Laut WHO wird eine gute Compliance lediglich bei 50% der Patienten erreicht, weswegen es eine Hauptaufgabe der Heilberufler ist, diese zu fördern. Die Ursachen für dieses Phänomen sind vielseitig. Vonein-ander abzugrenzen sind versehentliche Non-Compliance, durch unzureichende Beratung, oder Eingeschränktheit der Patienten z.B. durch Vergesslichkeit. So haben gerade ältere, multimorbide oder psychisch instabile Patienten Probleme mit der konsequenten Einhaltung ihrer Therapiepläne. Ein anderer Teil umfasst die bewusste Non-Compliance aus Angst oder Unsicherheit, welche gerade durch die Einführung der Rabattverträge und der damit verbundenen Arzneimittelsub-stitution noch weiter geschürt wurde. Ständige Änderungen im Verpackungs-design, Farbe, Form oder Größe der Tabletten je nach Hersteller irritiert Patienten zunehmend. Aufgabe der Apotheker ist daher umfangreiche Bera-tung (siehe § 7 Berufsordnung, Absatz 1). Da diese allein in manchen Fällen allerdings nicht ausreichend ist, sollte auch gezielt über den Einsatz pharma-zeutischer Bedenken nachgedacht wer-den. Sobald die Sicherheit gefährdet ist, weil der Patient aus Angst vor eventuel-len Nebenwirkungen oder Unwirksamkeit aufgrund einer anderen Verpackung, auf

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die Einnahme seines Medikamentes verzichtet, ist der Apotheker zum Han-deln angehalten.

Nocebo-Effekt

Im Jahr 2007 wollte sich ein junger Amerikaner das Leben nehmen, weil er unter Liebeskummer litt. Er schluckte 29 Kapseln eines Antidepressivums, wor-aufhin sein Blutdruck dramatisch absack-te und er in die Notaufnahme eingeliefert wurde. Im Krankenhaus stellten die Ärzte jedoch fest, dass der Mann Pro-band in einer Medikamentenstudie war und zu jener Hälfte der Patienten gehör-te, die nur ein Scheinmedikament und kein Antidepressivum erhalten hatte. Als er erfuhr, dass er statt eines echten Medikaments nur Placebos geschluckt hatte, verschwanden sämtliche Sympto-me schlagartig (Weblink 7). Als Noce-bo-Effekt bezeichnet man das Phäno-men, nach dem Patienten durch die bloße Erwartungshaltung negative Auswirkungen, nach Einnahme von Arzneimitteln, erleiden (Weblink 8). Der Begriff Nocebo wurde erstmals im Jahr 1961 geprägt. In klinischen Studien fiel auf, dass Teilnehmer, die der Placebo-gruppe zugewiesen waren, über gesund-heitliche Beschwerden nach Einnahme ihres „Medikaments“ klagten. Analog zum Placebo-Effekt, bei der eine positive Auswirkung eintritt, wo keine sein dürfte, wurde dieses Phänomen Nocebo-Effekt genannt. Der Begriff Nocebo-Effekt ist heute allerdings nicht nur auf die Ein-nahme von Placebos in klinischen Stu-dien begrenzt, sondern auch im medizi-nischen Alltag zu finden. Durch eine überdurchschnittliche Angst vor Krank-heiten wird die betroffene Person wirklich krank. Dieses Phänomen tritt bei bis zu 27 Prozent aller Patienten auf. Ursachen dafür können zum Beispiel Fehldiagnosen oder das Aufklären über mögliche Ne-benwirkungen sein. Aber auch nicht medizinische Aspekte, wie die Nähe zu einem Atomkraftwerk oder zu Funkmäs-ten, können die Leiden auslösen. In klinischen Studien ist es meist nicht möglich zwischen Nocebo-Effekt und wahren Beschwerden der Nebenwirkun-gen zu differenzieren. Die meisten Symptome, die sich bei einem Nocebo-Effekt zeigen sind subjektiv: Übelkeit,

Kopfschmerzen oder Erschöpfung. Es sind aber auch objektive Symptome erkennbar: Hautausschlag, erhöhter Blutdruck und erhöhte Herzfrequenz. Die Beschwerden können temporär auftreten aber auch chronisch werden und schlimmstenfalls zum Tode führen.

Frauen und ältere Patienten leiden häufiger an diesem Effekt als Männer und junge Menschen. „Zu den gesicher-ten Mechanismen der Placeboantwort gehört Lernen durch Pawlowsche Kondi-tionierung und Reaktion auf Erwartun-gen, ausgelöst durch verbale Information oder Suggestion.“ (Weblink 8). In der Apothekenpraxis kann dieser Effekt eine große Rolle spielen: Wird ein Arzneimit-tel substituiert kann der Patient zu der Überzeugung gelangen, dass er ein qualitativ minderwertiges Präparat einnehmen muss. Wurde ihm zum Beispiel ein Arzneimittel eines großen namhaften Pharmakonzerns verschrie-ben und der Patient bekommt stattdes-sen ein Präparat einer Firma, die ihm nicht bekannt ist, kann dies die Befürch-tungen steigern von diesem Präparat nicht gesund zu werden. Die Verpackung des Medikaments kann das Phänomen ebenfalls auslösen. Erhält der Patient zum Beispiel nach einem Medikamen-tenwechsel ein Präparat mit einem schlichteren Layout, so kann dies eben-falls zum Nocebo-Effekt führen. Zusätz-lich kann das Medikament selbst eine Rolle spielen. Blauen Kapseln wurde nach Untersuchungen eine beruhigende Wirkung zugesprochen, wo hingegen rote oder gelbe eine belebende, antide-pressive Wirkung zeigen sollen. Erfährt der Patient nach Einnahme eines substi-tuierten Arzneimittels eine gesundheitli-che Verschlechterung, so wird er das Medikament höchstwahrscheinlich abset-zen und die Compliance ist nicht mehr gegeben. Eine erfolgreiche Arzneimittel-therapie ist unter diesen Umständen nicht sichergestellt und das Äußern pharmazeutischer Bedenken angebracht.

Applikationsformen

„Ein 66-jähriger Patient kommt mit einer Verordnung für Pulmicort Turbo 200, 200 ED in die Apotheke. Die Apothekensoft-ware schlägt fünf rabattbegünstigte Arzneimittel vor. Alle besitzen den

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gleichen Wirkstoff, die gleiche Packungs-größe, die gleiche Darreichungsform und den gleichen Indikationsbereich. Jedoch unterscheiden sich alle in der Applikati-onsform.“ (Weblink 9). Der grundle-gende Rahmenvertrag fordert die identi-sche Darreichungsform, dies ist nicht immer gegeben. Die Substitution spezifi-scher Applikationssysteme ist schwierig. Durch den Austausch von zum Beispiel Inhalatorsystemen oder Injektionssys-temen kann es beim Patienten zu Unsi-cherheiten und Verwirrung kommen. Eine intensive fachliche Beratung über die Bedienung des neuen Applikations-systems ist unumgänglich. Bleibt die Bedienung des Applikationssystems für den Patienten dennoch umständlich und unverständlich ist von einer Substitution abzusehen. Die richtige Bearbeitung des Rezepts in diesem Fall lässt sich in Abbildung 5 entnehmen.

Tabletten gelten als sichere und simple Applikationsformen. Doch durch das Teilen von Tabletten aus Kostengründen ergibt sich auch hier eine Vielzahl von Gefahren. Von den in Deutschland verkauften Tabletten werden 25% geteilt. 50% der deutschen Patienten halbieren mindestens eine ihrer Tablet-ten. Im European Journal of Clinical Pharmacology wurde 2006 eine Studie veröffentlicht, die detaillierte Informatio-nen hervorbrachte. 24,7 % der verord-neten Tabletten und Dragees wurden geteilt. 8,7 % davon enthielten keine

Bruchkerbe. Nur bei 3,8 % war eine Teilung überhaupt möglich, ohne auf die Wirkung oder galenische Eigenschaften Einfluss zu nehmen. Aber auch Patienten sind meistens über die Teilbarkeit ihrer Tabletten schlecht informiert. 16 % gaben an unsicher zu sein, ob ihre Tabletten überhaupt teilbar sind. 46 % wurden von ihrem Arzt über das richtige Teilen von Tabletten informiert. 73 % halten das Teilen von Tabletten für schwierig, auch wenn eine Bruchkerbe vorhanden ist (Weblink 10). Geht bei der Teilung einer Tablette deren Wirkung verloren, zum Beispiel durch die Teilung einer magensaftresistenten Tablette muss der Apotheker von einer Substitu-tion absehen und das teilbare Präparat abgeben. Doch nicht nur die Teilbarkeit birgt Gefahren im Umgang mit der Substitution von Tabletten, sondern auch deren unterschiedliche Applikationsarten. So fordert die Apothekensoftware oft-mals den Austausch einer magensaftre-sistenten Tablette gegen z.B. eine Brausetablette, oder gar den Austausch einer Tablette gegen eine Kapsel. Neh-men Patienten ihre ausgetauschten Medikamente weiterhin auf die übliche Art ein, kann es zu Missverständnissen und Komplikationen führen. Durch die Substitution kann der Erfolg der Arznei-mitteltherapie gefährdet sein, wenn z.B. eine gewöhnliche, nicht überzogene, Tablette gegen eine retardierte Form ausgetauscht werden soll.

Abb. 5: Beispiel für einen Fall von pharmazeutischen Bedenken bei einem Patienten, dem wegen Schwierigkeiten beim Umgang mit Inhalatoren kein Wechsel auf ein anderes System zugemutet werden kann, wenn Compliance und Therapieeffektivität erhalten bleiben sollen (modifiziert nach: Weblink 9).

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Schwerwiegende Erkrankungen

Bei schwerwiegenden Erkrankungen muss die Medikation individuell auf den Patienten abgestimmt werden (siehe Tab. 3). Hierzu zählen beispielsweise Demenz, Epilepsie, Alzheimer, Parkinson, Asthma, Schmerztherapie und Diabetes. Ein Wechsel auf ein anderes Medikament ist im Stande vorher erzielte Therapieer-folge zu mindern. Arzneimittelsubstituti-onen können durch veränderte Plas-maspiegel bei zuvor gut eingestellten Patienten Krankheitsrückfälle bedingen. So wird das Potential von Suiziden bei Patienten mit bipolaren Störungen beispielsweise erhöht, die Häufigkeit der Krampfanfälle bei Epileptikern gesteigert, das Verhältnis erwünschter und uner-wünschter Wirkungen, beispielsweise im Bereich der Schmerztherapie, gestört und so das Nebenwirkungspotential vergrößert.

Epilepsie chronische bzw.

starke Schmerzen

Herzrhythmus-störungen

venöse Thrombose

Mykosen HIV- Infektion

Tuberkulose und Malaria

chronisch ent-zündliche Erkran-

kungen

Schizophrenie Depression

Tab. 3: Gelistet wird hier eine Auswahl schwierig einzustellender Therapien, bei denen auf die Substitution in jedem Fall verzichtet werden sollte (nach (3)).

Diese negativen Auswirkungen der medikamentösen Therapie wirken sich weitestgehend auch auf nichtmedika-mentöse Therapien wie Verhaltensthera-pien oder Erinnerungstherapien (Alzhei-mer) und somit auf die Therapieprogno-se aus. Daher ist auch hier der Einwand pharmazeutischer Bedenken berechtigt.

Praxishinweise

Als oberstes Ziel sollte die Konstanz der Verordnungsbelieferung stehen. Nur so ist gewährleistet, dass Patienten auf ihre Medikamente vertrauen und die korrekte

Einnahme befolgen. Als schwierig gestal-tet sich in diesem Punkt allerdings die Kooperation mit den Krankenkassen. Denn natürlich sind Apotheker hier ebenfalls auf die Mithilfe eben dieser angewiesen. Sie können durch längere Vertragslaufzeiten die Konstanz der Belieferung fördern.

Abb. 6: Falsch bedrucktes Rezept. Anstatt 311 hätte 131 aufgedruckt werden müssen (Zahlendreher), da sich die Ziffern auf die Verordnungszahlen beziehen (Weblink 11).

Die vorherrschende Angst vor Retaxatio-nen von Apothekern pharmazeutische Bedenken zu äußern, ist größtenteils unbegründet. Der Großteil der retaxier-ten Fälle ging auf formelle Fehler zurück.

Das Äussern pharmazeutischer Bedenken ist nicht nur eine Option

sondern eine Pflicht.

So wurde zum Beispiel die Sonder-PZN durch einen Zahlendreher falsch aufge-druckt (siehe Abb. 6). Die richtige Bezifferung müsste „131“ lauten. Die Positionen dieser drei Ziffern beziehen sich hierbei immer auf die Verordnungs-zeilen, während die Ziffern an der jewei-ligen Stelle den Grund der Nichtabgabe darstellen. 1 steht hier für Abgabe nach Maßgabe des Rahmenvertrags, 3 für Nichtverfügbarkeit eines Importarznei-mittels.

Fazit

Das Äussern pharmazeutischer Bedenken ist nicht nur eine Option sondern eine Pflicht.

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Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(7):210-224

Weblinks 1. Non-Compliance bei Arzneimitteltherapie Deutsches Apotheken Portal

http://www.deutschesapothekenportal.de/compliance-probleme.html

2. Kojda G., Aut-idem und Rabattverträge aus pharmakologischer Sicht Pharmazeu-tische Bedenken Fortbildungsvortrag im Auftrag der Apothekerkammer Berlin 06.09.2012 http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/fortbildungkoeln/Aut_Idem_Apothekerkammer_Berlin_2012.pdf

3. Juris: Gesetze im Internet; § 24b Zulassung eines Generikums, Unterlagenschutz http://www.gesetze-im-internet.de/amg_1976/__24b.html

4. Kojda G. Der geriatrische Patient in der Apotheke. Empfehlungen zur Unterstüt-zung der Arzneimittelsicherheit bei alten Menschen. Fortbildungstelegramm Phar-mazie 2008;2:136-151 http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/Fortbildungsartikel.html

5. Kommentar Berufsordnung AKNR §7 Absatz 1 http://www.aknr.de/service/berufsordnung.php

6. Kojda G. Non-Compliance bei Arzneimitteltherapie. Fortbildungstelegramm Phar-mazie 2008;2:123-135 http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/SerieApothekenpraxis.html

7. Der Nocebo-Effekt - 14 Tipps für den Umgang mit Sorgen http://www.birgit.permantier.de/index.php/75.html

8. Nocebophänomene in der Medizin: Bedeutung im klinischen Alltag (Nocebo phe-nomena in medicine: their relevance in everyday clinical practice) Dtsch Arztebl Int 2012; 109(26): 459-65; DOI: 10.3238/arztebl.2012.0459 http://www.aerzteblatt.de/archiv/127205/

9. Pharmazeutische Bedenken Tipps für die Praxis Pharmazeutische Zeitung online http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=6728

10. Tablettenteilen – aus eins mach zwei Pharmazeutische Zeitung online http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=35463

11. Retaxfalle “falscher Faktorbezug“ Deutsches Apothekenportal http://www.deutschesapothekenportal.de/newsletter_beitrag.html?id=126

12. Kojda G. Aut-Idem bei BTM – Keine Bedenken? http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/SerieApothekenpraxis.html

Jennifer Pörschke wurde 1986 in Bochum geboren. Nach dem Abitur 2005 am Goethe-Gymnasium in Bochum, absolvierte sie eine PTA-Ausbildung an der Westfalen-Akademie in Dortmund. Seit 2008 studiert sie Pharmazie an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf.

Tobias Kaufmann wurde 1986 in Essen geboren. Er studiert momentan Pharmazie an der Heinrich-Heine Universität zu Düsseldorf im achten Semester.

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Literaturverzeichnis

1. Kommentar des DAV zum Rahmenvertrag nach §129 SGB V i.d.F. vom 01.02.2011

2. SGB V § 129 Absatz 2 3. Kojda, G., Hafner, D., Bedenkenloser Austausch bei problematischen Arzneistoffen

und Therapien? Pharm. Ztg. 25 (2008) 58-62 4. Müller-Mundt G, Schaeffer D: Bewältigung komplexer Medikamentenregime bei

chronischer Krankheit im Alter. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 1; 2011: 6–12.

5. Coca V, Nink K: Arzneimittelverordnungen nach Alter und Geschlecht. In: Schwa-be U, Paffrath D (Hrsg.): Arznei-Verordnungsreport 2010. Berlin, Heidelberg, New York: Springer Verlag 2010: 933–46.

6. Rottlaender D, Scherner M, Schneider T, Erdmann E: Multimedikation, Compliance und Zusatzmedikation bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen. Deut-sche Medizinische Wochenschrift 2007; 132: 139–44.

7. R.Leutgeb et al.: Krankenkassen-Rabattverträge: Probleme und Risiken für den Hausarzt bei der Betreuung chronisch kranker Patienten. DMW Deutsche Medizini-sche Wochenschrift 2009; 134 (5): S. 181-186

8. Rottlaender D, Scherner M, Schneider T, Erdmann E: Multimedikation, Compliance und Zusatzmedikation bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen. Deut-sche Medizinische Wochenschrift 2007; 132: 139–44.

Anhang

Ablaufschema zum Umgang mit aut-idem nach der Änderung des Rahmenvertrages zur Arzneimittelversorgung nach § 129 Abs. 2 SGB V. Zu beachten ist, dass für die Verpflich-tung zum Austausch eine einzige gleiche Indikation ausreicht (Abb. Weblink 12). Impressum: http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/impressum.html