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9. Der Arbeitsmarkt 9.1 Arbeitsnachfrage 9.1.1 Worauf richtet sich die Arbeitsnachfrage? Auf dem Arbeitsmarkt treffen Nachfrage nach und Angebot an Arbeitslei- stungen aufeinander. Diese einfache wirtschaftliche Umschreibung des Arbeits- marktes ist zu unterscheiden von den vielerorts anzutreffenden Argumentationen, nach denen auf dem Arbeitsmarkt Stellen angeboten oder nachgefragt wiirden, bzw. Arbeit von seiten der Arbeitgeber - gewissermaBen als Angebot - gegeben oder Arbeit von seiten der Arbeitnehmer - gewissermaBen als Nachfrage - genom- men wiirde. Derartige Argurnentationen verkehren die okonomischen Wirkungszu- sammenhange. Ein Arbeitgeber oder derjenige, der eine Stelle anbietet, ist wirt- schaftlich kein Anbieter auf dem Arbeitsmarkt, er fragt vielmehr Arbeitsleistun- gen nach, die er in einem Produktionsproze13 einsetzen mochte und die er damit fiir die Giiterproduktion benotigt. Ein Arbeitnehmer oder der derjenige, der eine Stelle nachfragt, ist gleichfalls wirtschaftlich kein Nachfrager auf dem Ar- beitsmarkt, sondem er bietet Arbeitsleistungen an, die er im Rahmen eines Ar- beitsverhaltnisses, auf einer Stelle, erbringen mochte. Die Stelle la13t sich am ehe- sten als raumlicher Ort verstehen, an dem die Arbeitsleistungen verrichtet werden. Eine Stellenbeschreibung legt die Qualifikationen dar, die von Arbeitsleistungen zu erwarten sind, damit sie sich in den ProduktionsprozeB einfiigen lassen. Die Arbeitsnachfrage ist daher eine Nachfrage nach Dienstleistungen, die im ProduktionsprozeB eingesetzt werden konnen. Die Nachfrage nach Arbeitslei- stungen oder die Arbeitsnachfrage ist eine Nachfrage, die vorwiegend von Unter- nehmen aber auch yom Staat und zum Teil yom Ausland ausgeiibt wird. Wie bei jeder anderen okonomischen Nachfrage gibt es zur Charakterisierung der Nachfra- gebeziehung wesentliche EinfluBgroBen, die sich auf das Niveau und die Verande- rungen der nachgefragten Mengen nach Arbeitsleistungen niederschlagen. Eine dieser Einflu6gro6en besteht im okonomisch bedeutsamen Preis fUr die Arbeits- leistungen. Denn jede Nachfrage, die im Rahmen okonomischer Knappheitsbedin- gungen ausgeiibt wird, muB sich an den Preisen der nachgefragten Giiter orientie- ren. Die Nachfrage nach Arbeitsleistungen erfolgt nicht urn ihrer selbst willen und wird auch nicht primar urn der Personen willen ausgeiibt, die Arbeitsleistungen erbringen konnen. Die Nachfrage nach Arbeitsleistungen ergibt sich vielmehr des- halb, wei! die Arbeitsleistungen in einem ProduktionsprozeB eingesetzt werden und dort dazu beitragen sollen, Giiter herzustellen. Die Arbeitsnachfrage steht daher in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Produktionsproze6 und mit dem Produktionsergebnis, das sich mit Hilfe der Arbeitsleistungen erzielen laBt. Die Arbeitsnachfrage kann insoweit als eine indirekte oder abgeleitete Nachfrage G. Graf, Grundlagen der Volkswirtschaftslehre © Physica-Verlag Heidelberg 2002

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9. Der Arbeitsmarkt

9.1 Arbeitsnachfrage

9.1.1 Worauf richtet sich die Arbeitsnachfrage?

Auf dem Arbeitsmarkt treffen Nachfrage nach und Angebot an Arbeitslei­stungen aufeinander. Diese einfache wirtschaftliche Umschreibung des Arbeits­marktes ist zu unterscheiden von den vielerorts anzutreffenden Argumentationen, nach denen auf dem Arbeitsmarkt Stellen angeboten oder nachgefragt wiirden, bzw. Arbeit von seiten der Arbeitgeber - gewissermaBen als Angebot - gegeben oder Arbeit von seiten der Arbeitnehmer - gewissermaBen als Nachfrage - genom­men wiirde. Derartige Argurnentationen verkehren die okonomischen Wirkungszu­sammenhange. Ein Arbeitgeber oder derjenige, der eine Stelle anbietet, ist wirt­schaftlich kein Anbieter auf dem Arbeitsmarkt, er fragt vielmehr Arbeitsleistun­gen nach, die er in einem Produktionsproze13 einsetzen mochte und die er damit fiir die Giiterproduktion benotigt. Ein Arbeitnehmer oder der derjenige, der eine Stelle nachfragt, ist gleichfalls wirtschaftlich kein Nachfrager auf dem Ar­beitsmarkt, sondem er bietet Arbeitsleistungen an, die er im Rahmen eines Ar­beitsverhaltnisses, auf einer Stelle, erbringen mochte. Die Stelle la13t sich am ehe­sten als raumlicher Ort verstehen, an dem die Arbeitsleistungen verrichtet werden. Eine Stellenbeschreibung legt die Qualifikationen dar, die von Arbeitsleistungen zu erwarten sind, damit sie sich in den ProduktionsprozeB einfiigen lassen.

Die Arbeitsnachfrage ist daher eine Nachfrage nach Dienstleistungen, die im ProduktionsprozeB eingesetzt werden konnen. Die Nachfrage nach Arbeitslei­stungen oder die Arbeitsnachfrage ist eine Nachfrage, die vorwiegend von Unter­nehmen aber auch yom Staat und zum Teil yom Ausland ausgeiibt wird. Wie bei jeder anderen okonomischen Nachfrage gibt es zur Charakterisierung der Nachfra­gebeziehung wesentliche EinfluBgroBen, die sich auf das Niveau und die Verande­rungen der nachgefragten Mengen nach Arbeitsleistungen niederschlagen. Eine dieser Einflu6gro6en besteht im okonomisch bedeutsamen Preis fUr die Arbeits­leistungen. Denn jede Nachfrage, die im Rahmen okonomischer Knappheitsbedin­gungen ausgeiibt wird, muB sich an den Preisen der nachgefragten Giiter orientie­ren.

Die Nachfrage nach Arbeitsleistungen erfolgt nicht urn ihrer selbst willen und wird auch nicht primar urn der Personen willen ausgeiibt, die Arbeitsleistungen erbringen konnen. Die Nachfrage nach Arbeitsleistungen ergibt sich vielmehr des­halb, wei! die Arbeitsleistungen in einem ProduktionsprozeB eingesetzt werden und dort dazu beitragen sollen, Giiter herzustellen. Die Arbeitsnachfrage steht daher in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Produktionsproze6 und mit dem Produktionsergebnis, das sich mit Hilfe der Arbeitsleistungen erzielen laBt. Die Arbeitsnachfrage kann insoweit als eine indirekte oder abgeleitete Nachfrage

G. Graf, Grundlagen der Volkswirtschaftslehre© Physica-Verlag Heidelberg 2002

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bezeichnet werden, die aus dem ProduktionsprozeB fur Giiter und deren Absatz­oder Verwendungsmoglichkeiten abgeleitet ist.

9.1.2 Produktionsfunktion

Ehe die Nachfrage nach Arbeitsleistungen naher umschrieben werden kann, sind zunachst grundlegende Uberlegungen zu den wirtschaftlichen Bedingungen der gesamtwirtschaftlichen Giiterproduktion zu machen. Hierzu dient die ganz allgemeine Erkenntnis, daB das physische oder mengenmaBige Produktionsergeb­nis Q in einer Volkswirtschaft vom Einsatz der volkswirtschaftlichen Produktions­faktoren Arbeit N und Kapital K abhangt. Dies laBt sich an hand einer ge­samtwirtschaftlichen Produktionsfunktion darstellen:

Q = fCN, K) .

Vnter N ist hierbei die Menge der in der Giiterproduktion eingesetzten Arbeitslei­stungen zu verstehen. K besteht aus dem Umfang des fur die Giiterproduktion benutzten Kapitalstocks in der Volkswirtschaft.

Diese allgemeine Produktionsfunktion muB nun von ihren technischen Gege­benheiten noch naher beschreiben werden, ehe aus ihr weitere Folgerungen fur die Nachfrage nach Arbeitsleistungen zu ziehen sind. Es ist beispielsweise die Zeitdi­mension zu klaren, fur die aus der Produktionsfunktion Aussagen gewonnen wer­den sollen. Wir gehen hier von einer kurzfristigen Betrachtung aus. In der kurzen Frist ist der Kapitalstock einer Volkswirtschaft oder die BestandsgroDe Sachanlagekapital weitgehend gegeben und kann somit als fix unterstellt werden. Diese Annahme beruht auf der plausiblen Beobachtung, daB nennenswerte Veran­derungen des Kapitalstocks in aller Regel einen langeren Zeitraum benOtigen.

Der in der kurzen Frist gegebene Kapitalstock kann aber in unterschiedlichem MaBe genutzt werden, d.h. die Arbeitsleistungen, die mit dem gegebenen Kapital­stock im ProduktionsprozeB zusammengefuhrt werden, sind eine variable GroDe, zumal Arbeitsleistungen als eine zeitraumbezogene StromgroDe zu verstehen sind. Das Volumen der Arbeitsleistungen, die im ProduktionsprozeB eingesetzt werden, kann daher in der kurzfristigen Betrachtung als variabel unterstellt werden. Hierbei mag es hilfreich sein, sich der V orstellung zu bedienen, daB in einem Un­temehmen mit einem gegebenen Kapitalbestand einerseits Kurzarbeit und anderer­seits auch Oberstunden oder Sonderschichten moglich sind.

Insoweit laBt sich die Produktionsfunktion bereits etwas enger fassen und wie folgt schreiben:

Q = fCN, K) ,

wobei mit K zum Ausdruck kommt, daB der Kapitalstock in der Beobachtungspe­riode eine fixe, vorgegebene Dimension besitzt.

Aus dieser mit einem fixen Kapitalstock operierenden Produktionsfunktion ist nun der Zusammenhang abzuleiten, der sich zwischen unterschiedlichen Ar-

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beitseinsatzmengen N und dem quantitativen Produktionsergebnis Q ergibt. Mit vermehrtem Arbeitseinsatz wird das mengenmiiBige Produktionsergebnis eben­falls ansteigen. Wegen der unterstellten Konstanz des Produktionsfaktors Kapital durfte der Zuwachs beim Produktionsergebnis aber nicht im gleichen Verhalt­nis erfolgen, in dem die Arbeitseinsatzmengen steigen. Es ist vielmehr mit einem unterproportionalen Ansteigen des mengenmiiBigen Produktionsergebnisses zu rechnen. Man wird mit anderen Worten bei gleichformig steigendem Arbeitseinsatz auf abnehmende Zuwachse des Produktionsergebnisses stoBen. Abb. 51 stellt die sich hieraus ergebende Verlaufsform der Produktionsfunktion grafisch dar.

Die abgebildete Produktionsfunktion hat einen ertragsgesetzlichen Verlauf, d.h. sie entspricht den Beobachtungen des Ertragsgesetzes. Danach nehmen bei vermehrtem Einsatz eines Produktionsfaktors (hier: den Arbeitsleistungen ~) und bei Konstanz eines weiteren Produktionsfaktors (bier: dem Kapitalstock K) die Ertragszuwachse ab, auch wenn der Gesamtertrag weiterhin absolut zunimmt.

Q B

IQ = f(N, K) I

N

Abb. 51: Produktionsfunktion bei Konstanz des Produktionsfaktors Kapital

In der Abb. 51 werden die abnehmenden Ertragszuwachse bei vermehrtem Arbeitseinsatz durch die entlang der Produktionsfunktion eingezeichneten Zu­wachsgroBen LlQ deutlich. Bei geringeren Arbeitseinsatzmengen, z.B. dem Vo­lumen des Arbeitseinsatzes im Punkt A, fuhrt ein urn eine Einheit steigender Ar­beitseinsatz zu einem vergleichsweise groBen Zuwachs im Produktionsergebnis ~Q. Bei hOheren Arbeitseinsatzmengen, z.B. den Mengen im Punkt B, ist der Zu­wachs an Produktionsergebnis ~Q vergleichsweise gering, wenn von dort ausge­hend der Arbeitseinsatz wiederum urn eine Einheit steigt. Dies entspricht auch dem Inhalt des Ertragsgesetzes oder des Gesetzes vom abnehmenden Grenzertrag.

Das Ertragsgesetz beruht auf der immer wieder zu machenden Beobachtung, daB bei Produktionsprozessen ein Produktionsfaktor oder mehrere der Pro­duktionsfaktoren konstant oder gegeben sind und daB nur ein weiterer in seinen

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Einsatzmengen variiert werden kann. Der konstante Produktionsfaktor be­schrinkt damit die Moglichkeiten der Produktionsausweitung. Auch wenn durch zunehmenden Einsatz des variablen Produktionsfaktors, hier Arbeitsleistun­gen N, steigende Mengen an Produktionsergebnis Q zus~de kommen, so wirkt sich doch die Konstanz des Produktionsfaktors Kapital K insoweit aus, daB bei fortgesetzter Vermehrung des Arbeitseinsatzes Kapazititsprobleme oder Eng­passe aufireten, die ein gleichfOrmiges Anwachsen des Produktionsergebnisses verhindem. Historisch wurde das Ertragsgesetz vomehmlich in der landwirtschaft­lichen Produktion festgestellt, wenn dort die zu bebauende Flache, der Boden, als konstanter Produktionsfaktor angesehen wird. Aber auch industrielle Produktionen unterliegen zumindest bei gesamtwirtschaftlicher Betrachtung den yom Ertragsge­setz erfaBten technischen Beschriinkungen, die sich durch gegebene Kapazitaten auf die Produktionszuwachse auswirken.

Mit der Ertragsfunktion in Abb. 51 soIl der produktionstechnische Aspekt des Arbeitseinsatzes erfaBt werden, um die Grundlage zu verdeutlichen, die fUr den Arbeitseinsatz und die daraus abzuleitende Arbeitsnachfrage notwendig ist. Es muB sich nun die okonomische Uberlegung anschlieBen, daB ein Einsatz von zusatzli­chen Arbeitsleistungen in der Produktion zu Kosten rur die Arbeitsieistungen fiihrt, die zu vergleichen sind mit dem Ertrag, der aus dem Einsatz der zusitzli­chen Arbeitsleistungen resuItiert.

9.1.3 Die Arbeitsnachfragefunktion

Der Ertrag aus einer zusatzlichen Einheit an Arbeitsleistungen im Produktionspro­zeB entspricht beispielsweise den in Abb. 51 hervorgehobenen GroBen dQ. Diese mengenmiiBigen Ertragszuwachse sind aus Sicht eines Produzenten zugleich das jeweilige Maximum dessen, was er fUr die Bezahlung oder Entlohnung der zusatzlichen Arbeitsleistungen zur VerfUgung stellen kann, ohne seine wirtschaftli­che Situation zu beeintrachtigen. Wenn ein Produzent den zusatzlichen Ertrag dQ, der aus dem Einsatz einer weiteren Einheit an Arbeitsleistungen resultiert, voll­standig in Form beispielsweise eines Naturalentgelts an die zusatzlich eingesetzten Arbeitskrafte abgibt, hat er aus der vermehrten Gliterproduktion zwar keinen wirt­schaftlichen Vorteil, macht aber auch dadurch keinen Verlust. Insoweit stellen die Ertragszuwachse die aus Sicht des Produzenten maximale Entlohnungsmoglichkeit fUr einen weiteren Einsatz von Arbeitsleistungen dar.

Die Ertragszuwachse nehmen entlang einer Ertragsfimktion mit zunehmen­dem Arbeitseinsatz Nab. Fiir steigende Arbeitseinsatzmengen konnen aus dem ProduktionsprozeB daher immer nur geringere Entlohnungen zur VerfUgung gestellt werden. Damit ergibt sich der fUr die Arbeitsnachfrage wesentliche Zu­sammenhang, daB ein steigender Arbeitseinsatz bei einer yom Kapitalstock her gegebenen Produktionskapazitiit nur mit abnehmender Lohnhohe moglich ist oder daB Lohnhohe und Arbeitseinsatzmengen in einem gegenlaufigen Verh1iltnis zuein­ander stehen.

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Die Hohe der maximalen Entlohnung fUr eine weitere Einheit an Arbeitslei­stungen ergibt sich in Abb. 51 aus dem realen Ertragszuwachs aus der Produktion. Die maximale Entlohnung ist daher in Einheiten des Produktionsergebnisses oder des produzierten Gutes definiert. Gleichbedeutend damit kann die maximale Ent­lohnung als Reallohn verstanden werden. Der Reallohn besteht in dem realen Wert eines Geldlohns oder Nominallohns w. Zum Reallohn gelangt man dadurch, daB der Nominallohn w durch das Preisniveau P dividiert wird. Der Reallohn wird durch folgende Relation gebildet:

Reallohn w p

Die Nachfrage nach Arbeitsleistungen laBt sich dernnach in Abb. 52 grafisch als eine Funktion erfassen, bei der die nachgefragten Mengen nach Arbeitsleistun­

w gen N von der Hohe des Reallohns - abhangig sind. Hierbei ist zu erkennen, daB

p

bei einem hOheren Reallohn die nachgefragte Menge nach Arbeitsleistungen gering ist, bzw. daB bei einem geringeren Reallohn die nachgefragte Menge nach Ar­beitsleistungen groBer ausfallt. Die reallohnabhangige Arbeitsnachfrage verdeut­licht nochmals den aus der Ertragsfunktion gewonnenen Zusammenhang.

w p

N

N Abb. 52: Reallohnabhangige Arbeitsnachfrage

Die reallohnabhangige Arbeitsnachfrage verlauft wie jede Nachfragefunktion negativ und zeigt die inverse Beziehung zwischen Preis und nachgefragter Menge eines Gutes, hier den Arbeitsleistungen, auf.

9.1.4 Verlagerungen der Arbeitsnachfragefunktion

Die Produktionsfunktion oder Ertragsfunktion in Abb. 51 und die daraus abge­leitete Arbeitsnachfrage in Abb. 52 beruhen auf der Voraussetzung eines gege­benen Kapitalstocks, der unterschiedlich genutzt werden kann. Wesentliche andere EinfluBgroBen, die auf den ProduktionsprozeB einwirken, sind dabei konstant ge-

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halten, bzw. als gegeben unterstellt worden. Zwei dieser zunachst konstant gehal­tenen Einflu8gro8en sollen nun hervorgehoben und in ihren Auswirkungen auf den Verlauf der Produktionsfunktion und der Arbeitsnachfrage untersucht werden, zumal sie in der hier unterstellten kurzfristigen Betrachtung von Bedeu­tung sind. Es geht urn den Einflu8 von Produktivitatsanderungen, d.h. von An­derungen des Technologie- oder Produktivitatsniveaus, sowie urn unterschiedliche Auslastungsgrade der Produktionskapazitaten, die im Verlaufe von Konjunktu­rentwicklungen oder durch Veranderungen der Absatzmoglichkeiten auf einzelnen Miirkten auftreten.

Steigt das Technologieniveau des Produktionsprozesses, werden beispiels­weise ProduktivitatserhOhungen tiber RationalisierungsmaBnahmen erreicht, so fiihrt dies pro Einheit an Arbeitseinsatzmenge zu einem hOheren Produktionser­gebnis. In Abb. 53 wirkt sich eine ProduktivitatserhOhung so aus, daB ausgehend von einer Produktionsfunktion QI eine neue Produktionsfunktion Q2 zustande kommt, die steiler als QI ansteigt. Es wird damit deutlich, daB mit einem gegebe­nen Volumen an Arbeitseinsatz, z.B. No, ein insgesamt hoheres Produktionser­gebnis erreichbar ist. Dies tUhrt im tibrigen dazu, daB ein zusatzlicher Arbeitsein­satz urn eine Einheit tiber das Niveau von No hinaus auf dem durch Q2 reprasen­tierten Technologieniveau zu einem grofieren Zuwachs an Produktionsergebnis llQ2 beitragt als auf dem durch QI reprasentierten Technologieniveau, bei dem sich lediglich ein Zuwachs in Hohe von llQI ergibt.

Q

N

Abb. 53: Alternative Produktionsfunktionen bei unterschiedlichen Produktivitats­niveaus und Auslastungsgraden

Ein steigender Auslastungsgrad der Produktionsanlagen fiihrt in aller Regel zu einer Verbesserung der Produktivitatsverhaltnisse einer Produktion, so daB hieraus ebenfalls eine Verlagerung der Produktionsfunktion von QI nach Q2 resul­tiert. Der Auslastungsgrad kann sich aber im Konjunkturverlauf, z.B. im Ab­schwung, und im tibrigen bei Absatzproblemen auf einzelnen Markten immer wie-

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der verringern, wodurch eine Verlagerung der Produktionsfunktion in Richtung auf die durch QI dargestellte Ausgangslage oder gar darunter moglich wird. 1m Unterschied zu Produktivitatsveranderungen, die vorrangig die Produktionsfunk­tion nur in einer Richtung beeinflussen, wie oben in Abb. 53 durch die Verlagerung von QI nach Q2 dargestellt, werden Veranderungen im Auslastungsgrad des Pro­duktionsapparates jede beliebige Verlagerung der Produktionsfunktion hervor­rufen.

Die Arbeitsnachfragefunktion, die aus den Produktionsverhaltnissen abge­leitet wird, verlagert sich selbstverstandlich in Abhangigkeit von der Lage und dem Verlauf der jeweiligen Produktionsfunktion. Abb. 54 zeigt mit den Arbeits­nachfragefunktionen N 1 und N2 die den Produktionsfunktionen QI und Q2 aus Abb. 53 zuzuordnenden Nachfragefunktionen nach Arbeitsleistungen. Die hoher lie­gende Arbeitsnachfrage N2 entspricht einem hoheren Produktivitiitsniveau, bzw. einer hOheren Auslastung des Produktionsapparates. Es wird dabei deutlich, daB die Arbeitsleistungen im Umfang No in einem ProduktionsprozeB mit hOherer Produktivitat oder hOherer Auslastung einen gemaB der Arbeitsnachfragefunktion

w N2 hoheren Reallohn ( - )2 erhalten konnen als in einem ProduktionsprozeB, der

p

nach der Arbeitsnachfragefunktion N 1 lediglich zurn Reallohn ( w )1 fiihren wird. p

w p

No N

Abb. 54: Alternative Arbeitsnachfragefunktionen bei unterschiedlichen Produkti­vitatsniveaus und Auslastungsgraden

Die Hilfslinien in Abb. 54 machen auch deutlich, daB sich bei Konstanz des w

Reallohns auf dem Niveau von ( - )1 und einer Erhohung der Auslastung des Pro­p duktionsapparates mit einer Verschiebung der Arbeitsnachfrage von NI nach N2

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ein von No aufN3 anwachsendes Volurnen der Nachfrage nach Arbeitsleistungen, bzw. eine dementsprechende BeschaftigungserMhung ergabe.

9.2 Arbeitsangebot

9.2.1 Okonomische Einfliisse auf das Arbeitsangebot

Das Angebot an Arbeitsleistungen oder das Arbeitsangebot geht aus von den privaten Haushalten. Sie bieten Faktorleistungen an, urn daraus Einkommen zu erzielen. Das Arbeitsangebot ist dabei ein Faktorangebot, das die Haushalte neben ihrem Angebot an Kapital bereithalten. Wie bei jedem Angebot gibt es auch beim Arbeitsangebot die typische positive Preisabhangigkeit, d.h. die angebotene Menge an Arbeitsleistungen A nimmt mit steigendem Preis ilir diese Leistun­gen zu. Es ist dabei durchaus plausibeI anzunehmen, daB die Preisabhangigkeit des Arbeitsangebots sich sinnvollerweise auf den Reallohn bezieht, wodurch sich die in Abb. 55 dargestellte Arbeitsangebotsfunktion ergibt.

w p

A

A

Abb. 55: Reallohnabhangiges Arbeitsangebot

Die in Abb. 55 enthaltene Arbeitsangebotsfimktion spiegelt das Angebotsver­

halten typischer HaushaIte wider, wonach mit steigendem Reallohn W die Bereit-p

schaft zunimmt, das Volurnen an Arbeitsleistungen A zu erMhen, es aber zugleich eine im Verlauf der Angebotsfunktion angedeutete Starrheit oder unelastische Reaktion geben dOrfte, so daB bei steigendem Reallohn nur verhiiltnismiiBig ge­ringe Ausweitungen der angebotenen Mengen an Arbeitsleistungen zu erwarten sind.

Neben dem Preis- oder Lohnargument spielen fUr die Anbieter von Arbeitslei­stungen weitere okonomische Einflosse eine Rolle. So findet sich vielfach die mi­krookonomische Uberlegung, daB Anbieter von Arbeitsleistungen vor dem Abwa-

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gungsproblem stehen, ihre Zeiten des Arbeitseinsatzes mit dem entsprechenden Verzicht auf Freizeit zu vergleichen. 1st der Freizeitwunsch intensiver und steigt er gar mit hOheren Einkommensniveaus, so wird das Arbeitsangebot besonders starr oder geht sogar absolut zuriick. Bei diesem AbwagungsprozeB ist allerdings zu berUcksichtigen, daB Arbeitszeit und Freizeit nicht notwendigerweise in einem direkten Substitutionsverhaltnis zueinander stehen, denn das Einkommen oder Mehreinkommen aus einer verlangerten Arbeitszeit kann durchaus dazu benutzt werden, Guter insbesondere Serviceleistungen zu erwerben, die ein Freizeitaquiva­lent darstellen. Die mikrookonomische Entscheidungsproblematik fiihrt daher kei­nesfalls zu eindeutigen Resultaten, z.B. derart, daB mit steigendem Reallohn der Wert der Freizeit ansteigt. Das Gegenteil ist zumindest gleich wahrscheinlich und tendenziell eher beobachtbar.

Aus der hier zu vertretenden makrookonomischen Sicht des Arbeitsmarkts und des Arbeitsangebots werden sich im ubrigen viele mikrookonomischen Ver­haltensweisen kompensieren. Eine weitgehende Starrheit bei steigendem Real­lohn scheint am ehesten dem zu erwartenden gesamtwirtschaftlichen Verhalten zu entsprechen.

Zu Verlauf und Lage der Arbeitsangebotsfunktion sind jedoch noch weitere okonomische Einflussen zu betrachten. Hierzu zahlen tarifvertragliche Vereinba­rungen fiber die Arbeitszeit. Diese Vereinbarungen konnen sich auf die Gesamt­menge der Arbeitsleistungen, d.h. die Lage der Arbeitsangebotskurve gemessen an dem Abszissenwert in Abb. 55 auswirken. Kurzere Arbeitszeiten bedingen dem­nach eine we iter links verlaufende A-Funktion. Dies gilt allerdings nur insoweit, als sich die Anbieter von Arbeitsleistungen an den Tarifarbeitszeiten orientieren und geringere Tarifarbeitszeiten nicht dazu benutzen, an anderen Stellen des Ar­beitsmarktes mit einem verstarkten Angebot aufzutreten.

Die Arbeitsangebotsfunktion verlauft im ubrigen nicht beliebig weit nach unten, d.h. bei sinkenden Reallohnen ist nicht mit einem gleichbleibenden Anbie­terverhalten zu rechnen. Eine mogliche Begrenzung der A-Funktion nach unten kann sich von seiten des Tariflohnniveaus ergeben, das ein Mindestlohnniveau festschreibt. Gesamtwirtschaftlich existieren jedoch unterschiedliche Tariflohnni­veaus und es existieren daneben auch geringfUgige Beschaftigungsverhaltnisse, die zu einem positiven Arbeitsangebot unterhalb der Tarifniveaus beitragen. Eine einzelwirtschaftliche Verhaltensweise wird sich aber auch im gesamtwirtschaftli­chen Arbeitsangebot bemerkbar machen; dies ist die Moglichkeit des Sozialsy­stems, auf ein Einkommens- und Gutemiveau zu gelangen, ohne sich am Arbeits­prozeB zu beteiligen. Ein Arbeitsangebot unterhalb dieses Niveaus ware dann un­okonomisch. Einzelwirtschaftlich wiirde dies zu einem volligen Verschwinden von Arbeitsangebot fUhren. Gesamtwirtschaftlich werden sich Uberlagerungen ergeben, die mit einem elastischeren Auslaufen der A-Funktion nach unten in Abb. 55 ein­hergehen konnen.

Es bleibt noch darauf zu verweisen, daB selbstverstandlich auch andere oko­nomische Einflusse bedeutsam sein werden, wie beispielsweise die wirtschaftlichen Erwartungen und Vermogensbestande oder Vermogensziele bei den Haushalten.

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Nicht zuletzt ergeben sich auch einige Rtlckwirkungen zwischen diesen eher oko­nomischen GroBen und den nachfolgend behandelten Bevolkerungsentwicklungen sowie deren Einfltlssen auf das Arbeitsangebot in einer Volkswirtschaft.

9.2.2 Einfliisse von der BevOikerungsentwicklung auf das Arbeitsangebot

Die grundsiitzliche Verlaufsform der Arbeitsangebotsfimktion ist in Abb. 55 in ihrer positiven Abhangigkeit yom Reallohn dargestellt worden. Ftlr gesamtwirt­schaftliche Zusammenhange bleibt nun noch zu kliiren, welche wesentlichen Ein­fliisse es neben dem Reallohn geben kann, die zu Verlagerungen der Funktion fiib­reno Das gesamtwirtschaftliche Arbeitsangebot wird in seiner Lage vornehmlich von der BevOikerungszahl und dem damit verbundenen Erwerbspersonenpo­tential beeinfluBt. In einer von ihrer Bevolkerung her kleinen Volkswirtschaft konnen die angebotenen Arbeitsleistungsmengen von vornherein irnmer nur kleiner sein als in einer groBen Volkswirtschaft, wie z.B. den Vereinigten Staaten.

Die Ubersicht in Tab. 3 weist aus, welcher Zusammenhang zwischen Bevol­kerung und Erwerbspersonen besteht. Es ist Aufgabe der Amtlichen Statistik in Deutschland, die in der Ubersicht enthaltenen GroBen zu erheben. Das Statistische Bundesamt bedient sich hierzu der Erwerbsstatistik im Rahmen des jiihrlichen Mi­krozensus.

Tabelle 3: Die Beteiligung der Bevolkerung am Erwerbsleben

Bevolkerung Erwerbspersonen I Nichterwerbspersonen

Erwerbstiitige I Erwerbslose I

Die Bevolkerung besteht im wesentlichen aus der im Inland wohnenden BevOikerung, die statistisch am Ort der alleinigen Wohnung bzw. der Hauptwoh­nung ermittelt wird. Zur Bevolkerung in Deutschland ziihlen damit neben den im Inland wohnenden Deutschen auch die hier gemeldeten Auslander, allerdings nicht die AngehOrigen der auslandischen Stationierungsstreitkriifte sowie die auslandi­schen diplomatischen und konsularischen Vertretungen mit ihren FamilienangehO­rigen.

Nicht aIle zur Bevolkerung ziihlenden Personen sind aber fUr das Arbeitsan­gebot von Bedeutung. Die Bevolkerung urnfaBt auch Kinder und Alte, die keine Arbeitsleistungen anbieten. Das Arbeitsangebot wird daher vorrangig von jenen Personen gebildet, die als Erwerbspersonen bezeichnet werden. Erwerbsperso­nen sind aIle Personen mit Wohnsitz im Bundesgebiet, die eine unmittelbar oder mittelbar auf Erwerb gerichtete Tiitigkeit ausiiben oder suchen. Die Erwerbsper­sonen konnen mithin Erwerbstiitige sein oder Erwerbslose, d.h. Personen ohne Arbeitsverhiiltnis, die sich jedoch urn eine Arbeitsstelle bemiihen. Neben den Er­werbspersonen urnfaBt die Bevolkerung auch die Nichterwerbspersonen, d.h. die

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Personen, die keinerlei auf Erwerb gerichtete Tiitigkeit ausiiben oder suchen. Nichterwerbspersonen sind vorwiegend Kinder, alte Menschen sowie Hausfrauen bzw. Hausmanner.

Das Arbeitsangebot setzt sich in jedem Fall aus den Erwerbspersonen zusam­men, die ihre Arbeitsleistungen typischerweise in Abhiingigkeit yom Preis, d.h. yom Reallohn, anbieten. Daneben kann man eine statistisch nicht gemessene, aller­dings in ihren Auswirkungen bemerkbare Personengruppe unterstellen, die dem Arbeitsangebot zumindest teilweise zuzurechnen ist. Diese Gruppe heiBt "Stille Reserve". Wie es der Name ausdrtickt, ist diese Personengruppe nicht durch di­rekte statistische Beobachtung und Messung erfaBbar und im iibrigen auch nicht durch ein einheitliches Merkmal gekennzeichnet. Es sind Personen, die statistisch im wesentlichen als Nichterwerbspersonen ausgewiesen werden, d.h. als solche, die zumindest im Erfassungszeitpunkt einer amtlichen Erhebung nicht erwerbstiitig sind und sein wollen. Hierzu ziihlen beispielsweise Hausfrauen mit kleinen Kindem oder liingerfristig Arbeitslose, die ihre Suche nach einem Arbeitsplatz vorliiufig und bis aufweiteres aufgegeben haben, bzw. auch Berufsanfanger, die ihre Ausbil­dung verliingem. Diese Personen konnen aber iiber die Zeit hin, wenn z.B. die Kinder iilter geworden sind, oder sich die Arbeitsmarktverhiiltnisse aus Sicht der Betroffenen zum Positiven wenden wieder eine Erwerbstiitigkeit anstreben und daher in den Kreis der amtlich erfaBten Erwerbspersonen iiberwechseln oder zu­riickkehren. Sie machen daher einen Teil des Potentials fUr das Arbeitsangebot aus, das sich den okonomischen, preisabhiingigen Wirkungen nicht verschlieOt. Das bedeutet mit anderen Worten, daB die zur Stillen Reserve zu rechnenden Per­sonen sich urn so eher mit konkreten und steigenden Arbeitsleistungsmengen am Erwerbsleben beteiligen wollen, je hoher der fur sie erreichbare Reallohn ist. Selbstverstiindlich konnen sich die Einfliisse auch umgekehrt auswirken, mit der Folge, daB die Stille Reserve ansteigt.

Nach allem ist das Arbeitsangebot in einer Volkswirtschaft nicht vollig mit der registrierten Zahl der Erwerbspersonen identisch. Die in Abb. 55 enthaltene Abhiingigkeit des Arbeitsangebots von der Hohe des Reallohns bleibt jedoch ein wesentliches Charakteristikurn ebenso wie die auch fur das Volumen der Stillen Reserve geltende grundsiitzliche Abhiingigkeit von der BevOlkerungsgroBe einer V 0 lkswirtschaft.

9.2.3 Die Entwicklung des Arbeitsangebots im friiheren Bundesgebiet

Der Zusammenhang des Arbeitsangebots mit der Erwerbspersonenzahl solI an­hand der Entwicklungen im Gebiet der friiheren Bundesrepublik Deutschland etwas niiher erliiutert werden, zumal in der volkswirtschaftlichen Literatur hierzu kaum systematische Uberlegungen anzutreffen sind. Die seit den 70er lahren an­gewachsene und anhaltende Arbeitslosigkeit muB namlich mit den vorhandenen makrookonomischen Instrumenten und Modellen zu erfassen und zu erkliiren sein. Als Ausgangspunkt sei hier die Darstellung der fur das Arbeitsangebot wesentli-

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chen EinfluBgroBen gewahlt. Die Tabelle 4 enthalt deshalb die Entwicklung von BevOlkerung, Erwerbspersonen und Erwerbstatigen im frliheren Bundesgebiet.

Tabelle 4: Entwicklung von Bevolkerung, Erwerbspersonen, Erwerbstatigen und Arbeitslosen im frliheren Bundesgebiet von 1960 - 1997

Jahr Wohnbevolkerung Erwerbspersonen Erwerbstatige Arbeitslose Tausend

1960 55.433 26.518 26.247 271 1961 56.185 26.772 26.591 181 1962 56.837 26.845 26.690 155 1963 57.389 26.930 26.744 186 1964 57.971 26.922 26.753 169 1965 58.619 27.034 26.887 147 1966 59.148 26.962 26.801 161 1967 59.286 26.409 25.950 459 1968 59.500 26.291 25.968 323 1969 60.067 26.535 26.356 179 1970 60.651 26.817 26.668 149 1971 61.284 26.957 26.772 185 1972 61.672 27.121 26.875 246 1973 61.976 27.433 27.160 273 1974 62.954 27.411 26.829 582 1975 61.829 27.184 26.110 1.074 1976 61.531 27.034 25.974 1.060 1977 61.400 27.038 26.008 1.030 1978 61.326 27.212 26.219 993 1979 61.359 27.528 26.652 876 1980 61.566 27.948 27.059 889 1981 61.682 28.305 27.033 1.272 1982 61.638 28.558 26.725 1.833 1983 61.423 28.605 26.347 2.258 1984 61.175 28.659 26.393 2.266 1985 61.024 28.897 26.593 2.304 1986 61.066 29.188 26.960 2.228 1987 61.077 29.386 27.157 2.229 1988 61.449 29.608 27.366 2.242 1989 62.063 29.799 27.761 2.038 1990 63.253 30.369 28.486 1.883 1991 64.074 30.662 28.973 1.689 1992 64.865 30.943 29.135 1.808 1993 65.534 30.947 28.677 2.270 1994 65.858 30.872 28.316 2.556 1995 66.156 30.646 28.081 2.565 1996 66.444 30.565 27.769 2.796 1997 66.648 30.505 27.484 3.021

Quelle: Jahresgutaehten 1998/99 des Saehverstllndigenrates zur Begutaehtung der gesamtwirtsehaftli­chen Entwieklung, Tabelle 16*, S. 339. Die neueren Daten ab 1997 weisen gegeniiber den dargestellten erhebungsteehnisehe Abweiehungen auf. Sie sind deshalb nieht ausgewiesen. Die hier vorgetragene Argumentation wird jedoeh davon nieht beeinfluBt.

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Der Beobachtungszeitraurn von 1960 bis 1997 ist in der Tabelle 4 in drei un­terschiedliche Entwicklungsphasen eingeteilt. Die erste Entwicklungsphase umfaBt den Zeitraurn von 1960 bis 1972 bzw. zum Teil 1973; sie sei als Phase I bezeichnet. Kennzeichnend flir die Phase list zum einen der deutliche Zuwachs bei der BevOikerungszahl. Sie steigt urn fiber sechs Millionen Menschen an. Zum anderen kann festgestellt werden, daB die Erwerbspersonenzahl auf einem Niveau zwischen 26 und 27 Millionen Menschen stagniert und erst gegen Ende der Phase I die Dimension von 27 Millionen tiberschreitet. Der Anteil der Personen an der Bevolkerung, die eine auf Erwerb gerichtete Tatigkeit austiben oder suchen, hat in dieser Phase nachhaltig abgenommen. Die Erklarung hierfllr ist im wesent­lichen auf den Zuwachs der Bevolkerung durch die geburtenstarken Jahrgange jener Jahre zurUckzuflihren. Dadurch nahm die Zahl der Bevolkerung tiber die Kinderzahl zu. Kinder zahlen jedoch zu den Nichterwerbspersonen. Die Erwerbs­personenzahl wurde durch die geburtenstarken Jahrgange noch nicht beeinfluBt.

Die in der Tabelle 4 gekennzeichnete zweite EntwickJungsphase umfaBt die Jahre 1973 bis 1988, sie sei als Phase II bezeichnet. In der Phase II ist zunachst festzustellen, daB nun die BevOikerungszahl bei gut 61 Millionen Menschen sta­gniert. ZugJeich steigt die Zahl der Erwerbspersonen urn rd. zwei Millionen Menschen an. Als wesentliche Erklarung fUr den bemerkenswerten Anstieg der Erwerbspersonenzahl bei stagnierender Bevolkerung ist zu nennen, daB die gebur­tenstarken Jahrgange aus Phase I im Verlaufe der Phase II ins Erwerbsleben ein­treten sind und damit die Zunahme der Erwerbspersonen verursachen. Es kommt hinzu, daB seit den 70er Jahren die Erwerbstatigkeit bei Frauen generell zugenom­men hat, was wiederum bei Konstanz der Bevolkerung ein Anwachsen der Erwerb­spersonen bedingt.

Die dritte Entwicklungsphase beginnt ab dem Jahr 1989 und halt bis zum Ende der Beobachtungsperiode an. Sie sei als Phase III bezeichnet. Kennzeich­nend flir diese Phase III ist zunachst der rasche Anstieg der BevOikerungszahl urn rd. flinf Millionen Menschen. Es kommt hinzu, daB die Zahl der Erwerbs­person en ebenfalls deutlich steigt, jedoch nicht im gleichen relativen AusmaB wie die Bevolkerung. Begriinden laBt sich diese Entwicklung mit den Zuwanderungen durch Obersiedler (aus der ehemaligen DDR) und Aussiedler (aus den ehemaligen Ostblockstaaten), die vomehmlich den Bevolkerungsanstieg verursachen. Mit den Zuwanderungen ergibt sich auch die ErhOhung der Erwerbspersonenzahl.

Obertragt man die Essenz aus der Entwicklung der Erwerbspersonenzahlen in den drei hervorgehobenen Phasen in die hier verwendete Arbeitsangebotsfimktion, so laBt sich das Ergebnis in Abb. 56 grafisch darstellen. Die Arbeitsangebotsfunk­tion im fiiiheren Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ist nach allem keine im Beobachtungszeitraum von 1960 bis 1997 gegebene oder konstante Beziehung zwischen dem Reallohn und dem Volurnen an angebotenen Arbeitsleistungen. Sie wird vielmehr durch die deutlichen Zuwachse der Erwerbspersonenzahlen beein­fluBt, was dazu fiihrt, daB die Angebotsfunktion sich tiber die Zeit hin nach rechts verschiebt.

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Die in Abb. 56 enthaltenen Angebotsfunktionen sollen die oben unterschie­denen drei Phasen kennzeichnen. Somit zeigt die Arbeitsangebotsfunktion A1972

die Situation des Arbeitsangebots in der Phase I an. Nach dem Eintritt der gebur­tenstarken Jahrgange ins Erwerbsleben wahrend der 70er und 80er Jahre haben wir eine Verlagerung zur Arbeitsangebotsfunktion A1988, mit der das Ergebnis der Entwicklung in der Phase II verdeutlicht sein solI. SchlieBlich tUhren die Zuwan­derungen in das Gebiet der friiheren Bundesrepublik Deutschland zu einer erneuten Ausweitung des Arbeitsangebots, wodurch sich die Arbeitsangebotsfunktion A1997 ergibt. Diese die Phase III kennzeichnende Verlagerung mag zwar durch Verkiirzungen der Tarifarbeitszeit begrenzt worden sein. Gleichwohl erscheint es angebracht, flir die Phase III die angegebene weitere Verlagerung der Arbeitsange­botsfunktion nach rechts zu untersteIlen, da in jedem Fall das Potential an Arbeits­leistungen wahrend dieses Zeitraums zugenommen hat.

w p

A

Abb. 56: Ausweitung des Arbeitsangebots im Gebiet der friiheren Bundesrepublik Deutschland

9.3 Prozesse auf dem Arbeitsmarkt

9.3.1 Darstellung eines Arbeitsmarktgleichgewichts

FUr den Okonomen ist es Ublich, und auch die Leser werden die entsprechende Vorgehensweise bereits wie selbstverstandlich nachvoIlziehen kannen, daB nach der je separaten Darstellung der Nachfrage- und der Angebotsbedingungen eines Marktes das Marktgleichgewicht aufgezeigt wird, das sich hier aus dem Zusam­mentreffen von Nachfrage nach und Angebot an Arbeitsleistungen ergibt. FUr den Fall des Arbeitsmarktes gelten prinzipiell gleiche Uberlegungen wie fiir andere Markte mit freiwilligen Tauschprozessen. Es solI daher in einem Schaubild das Zusammentreffen von Nachfrage nach Arbeitsleistungen N und Angebot an Ar­beitsleistungen A, die jeweils reallohnabhangig sind, demonstriert werden. Abb. 57

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enthait die Funktionen der Arbeitsnachfrage und des Arbeitsangebots fiir einen gegebenen Zeitpunkt und verdeutlicht das Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt im Schnittpunkt der beiden Kurven N und A.

w p

w (- )0

p

A

No,Ao

Abb. 57: Das Arbeitsmarktgleichgewicht

N

N,A

Das Arbeitsmarktgleichgewicht ergibt sich in Abb. 57 bei einem Reallohn in w

Hohe von ( - )0 und fiihrt dort zu einem Volumen an Arbeitsleistungen, das sich p

mit den Vorstellungen und Planen seitens der Nachfrager No und der Anbieter Ao deckt.

1m so abgeleiteten Arbeitsmarktgleichgewicht gibt es mithin keine Uber­schu6mengen, weder ein UberschuBangebot an Arbeitsleistungen, noch eine UberschuBnachfrage nach Arbeitsleistungen. Es werden mit anderen Worten aIle

Anbieter an Arbeitsleistungen, die zum Reallohn ( w )0 arbeiten wollen, eine Er-p

werbstatigkeit tinden, denn ihre Arbeitsleistungen werden zu dies em Reallohn vollstandig nachgefragt.

Diese Darstellung des Arbeitsmarktes mit dem Arbeitsmarktgleichgewicht beruht auf der fiir Okonomen typischen Vorstellung von der Funktionsweise von Marktprozessen in offenen Markten. Hinter solchen freien Marktprozessen hat man sich als beobachtbare Beispiele vorrangig Markte zu denken, die wie gut organisierte Borsen oder gro6e Auktionen ablaufen. Solche Borsen- und Auk­tionsmarkte sind unter anderem dadurch gekennzeichnet, daB es dort bei dem gefundenen Marktpreis zu keinen Uberschu6mengen, weder auf seiten des Ange­bots noch auf seiten der Nachfrage, kornmt. Die Ubereinstimmung der gehandel­ten Mengen wird durch rasche Veranderungen des Marktpreises sichergestellt. Die Preisveranderungen, einschlieBlich groBerer Preisausschlage, erfolgen so lange bis ein Preis gefunden ist, zu dem die Mengenvorstellungen der Marktparteien sich decken und der Markt geraumt ist. Kurzfristige, beispielsweise auch tagliche Preis-

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veranderungen oder Preisausschliige in noch kiirzerer Folge sind kennzeichnend fUr Auktionsmarkte und fUr Borsen. In den Preisausschlagen werden im iibrigen auch die jeweiligen Veranderungen der wirtschaftlichen Bedingungen bzw. deren Einschatzung durch die Marktteilnehmer fur aIle Beteiligten unverziiglich sichtbar gemacht, was dementsprechend fur die Marktteilnehmer mit Uberraschungen ver­bunden sein kann und zudem rasche Anpassungen an die yom Markt vermittelten Informationen erforderlich macht.

9.3.2 Institutionelle Gegebenheiten auf dem Arbeitsmarkt

Der Arbeitsmarkt ist nun aber nicht nur in Deutschland, sondem auch in den europaischen Partnerlandem, keineswegs wie eine Borse organisiert, bei der taglich sich andemde und neue Informationen zu jeweils geanderten Preisfestset­zungen fUhren. Zu den wesentlichen institutionellen Gegebenheiten des Arbeits­markts zahlt vielmehr, daB die Tarifpartner ein Tariflohnniveau vereinbaren, das als Festsetzung eines Mindestpreises fUr Arbeitsleistungen zu werten ist, da untertarifliche Bezahlungen unzulassig, iibertarifliche Entlohnungsformen aber durchaus erlaubt sind. Mit der Festlegung eines zumindest fur den Zeitraurn des Tarifvertrages festen Lohnes, tragen die Tarifpartner nicht nur zur Kalkulierbarkeit wesentlicher okonomischer Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt bei, sie kommen damit auch einem zentralen Wunsch nach sozialer Sicherheit der Beschaftigten nacho In Deutschland ist die Tarifvertragsfreiheit durch die hochrangige Rechts­norm des Art. 9, Abs. 3 Grundgesetz garantiert. Das Tarifvertragsgesetz regelt zu diesem Grundrecht der Koalitionsfreiheit nahere inhaltliche Details.

Die Tarifautonomie als wirtschaftspolitische Norm gibt den Tarifpartnem in der Findung und Festlegung des nominellen Tariflohns und wesentlicher die Ko­sten der Arbeitsleistungen pragender Lohnnebenleistungen einen selbstandigen Gestaltungsspielraum. Sie sind autonom und insbesondere unabhangig yom Staat. Der Staat taucht als direkt Beteiligter auf dem fur den Arbeitsmarkt grundlegen­den Gebiet der Lohnfindung nieht auf. Er hat den Tarifparteien die Verantwor­tung fUr die Funktionsweise des Arbeitsmarktes im allgemeinen und auch bei Ein­zelfragen iibertragen.

Der Staat nimmt auch nieht in direkter Form auf die Arbeitsnaehfrage und das Arbeitsangebot Einflull. Soweit er EinfluJ3 ausiiben kann, mag das allen­falls in indirekter Form geschehen, indem er durch staatliche Normen auf die Pro­duktionsbedingungen einwirkt. 1m Rahmen dieser Normen kann er beispielsweise durch Steuergesetzgebung oder Sozialgesetzgebung auch Lohnkostenbestandteile beeinflussen, die jedoch immer nur anteilig zu den Kosten der Arbeitsleistung beitragen. Daneben existieren noch einige EinfluJ3moglichkeiten des Staates, die sich u.a. in der Einstellungspraxis fUr Staatsbedienstete niederschlagen, und im iibrigen in bevolkerungspolitischen, familienpolitischen, rentenpolitischen MaBnahmen sowie in Regeln fur Zuwanderungen bestehen.

Zu den Gegebenheiten des Arbeitsmarktes zahlt das fur die Ermittlung des Reallohns bedeutsame Preisniveau P. Fiir deutsche Verhaltnisse ist hier allerdings

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darauf hinzuweisen, daB die von der Bundesregierung unabhangige Europaische Zentralbank in erster Linie die Verantwortung fUr das Preisniveau und dessen Ent­wicklung besitzt, entsprechendes galt friiher fUr die Deutsche Bundesbank. Der EinfluB der Regierung auf das Preisniveau diirfte daher nahe bei null liegen. 1m iibrigen gehen von den Veranderungen des Preisniveaus im Rahmen des Beobach­tungszeitraums keine vollig eigenstandigen Tendenzen aus, die das nomine lie Lohnniveaus w in seiner okonomischen Bedeutung nachhaltig in andere Richtun­gen hatten umlenken konnen.

Inwieweit auf dem Arbeitsmarkt daher ein Gleichgewicht wie in Abb. 57 ge­funden wird, ist zunachst nahezu ausschlie6lich Aufgabe der Tarifparteien, da sie den ProzeB der Lohnbildung und der Festsetzung des nomine lien Lohns w

direkt steuem. FUr den Fall, daB das Tariflohnniveau dem Reallohn ( w )0 gemiiB p

der Abb. 57 entspricht, wird ein Arbeitsmarktgleichgewicht in dem Sinne erreicht, daB zu dies em Lohn keine UberschuBmengen an Arbeitsleistungen auftreten und dam it insbesondere kein UberschuBangebot oder keine Arbeitslosigkeit entsteht.

Diese Aussage fUr den makrookonomischen Arbeitsmarkt gilt in erster Linie nur als globale Beschreibung der Zusammenhange. Zu den institutionellen Gege­benheiten des Arbeitsmarkts ziihlt aber auch, daB es "den" gesamtwirtschaftliche Arbeitsmarkt gar nicht gibt. Er besteht vielmehr aus einer Vielzahl von regional und qualitativ differenzierten Teilmarkten. Daraus folgt auch, daB bei der Viel­zahl der Teilmarkte und der Vielzahl von Anlassen fUr das Wechseln eines Ar­beitsplatzes sowie den unterschiedlichsten Grunden fUr das Suchen eines neuen Berufes oder Arbeitsplatzes Arbeitslosigkeit nie vollig ausbleiben kann und eine registrierte Arbeitslosigkeit von null von vornherein auszuschlieBen ist. Ein mehr oder weniger groBer Bestand an Arbeitslosigkeit wird sich angesichts der diffe­renzierten Gegebenheiten auf dem Arbeitsmarkt einer Volkswirtschaft immer ergeben; er ist nicht zuletzt auch das Resultat von im wesentlichen freien Markt­prozessen, die dort niemals unendlich schnell ablaufen konnen.

Dieser Bodensatz an Arbeitslosigkeit wird "friktionelle Arbeitslosigkeit" genannt. Diese ergibt sich aus den Reibungsverlusten zwischen Kiindigungen, Entlassungen und Einstellungen, die zeitlich nicht vollig synchron laufen. Frik­tionelle Arbeitslosigkeit ist in einem marktwirtschaftlichen System immer zu er­warten. Eine andere Umschreibung dieser Art von Arbeitslosigkeit, die ihre Unver­meidbarkeit hervorhebt, benutzt hierfUr den Begriff "natiirliche Arbeitslosigkeit". Die narurliche Arbeitslosigkeit ist der in Marktwirtschaften immer vorhandene Bestand an Arbeitslosigkeit, der sich auch durch glob ale wirtschaftspolitische MaBnahmen nicht weiter reduzieren laBt. Das in Abb. 57 veranschaulichte Arbeits­marktgleichgewicht darf insoweit nicht miBverstanden werden. Auch eine Tarif-

lohnsetzung in Hohe des gleichgewichtigen Reallohns ( w )0 reduziert das AusmaB p

der tatsachlichen Arbeitslosigkeit nicht auf nUll, sondem allenfalls auf das Niveau der friktionellen oder narurlichen Arbeitslosigkeit. Ein Phanomen wie "VolIbe­schaftigung" ist angesichts der Marktgegebenheiten nicht realistisch.

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Zu den fur die Charakterisierung des Arbeitsmarkts und seiner Gegebenheiten wesentliehen MaBgroBen zahlt schlieBlich die amtlich registrierte Zahl der Ar­beitslosen, die in der wirtschaftspolitischen Diskussion eine groBe Rolle spielt und nieht selten aIs MaB fur die Zielerreichung (oder Zielverfehlung) des hohen Be­schaftigungsstandes gewertet wird. Arbeitslose sind Personen, die sich beim Ar­beitsamt als arbeitssuchend gemeldet haben, eine wochentliche Beschaftigung von mindestens 15 Stunden suchen, fur eine Arbeitsaufnahme sofort zur Verfii­gung stehen, nicht arbeitsunfahig erkrankt sind und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Sie durfen allerdings einer geringfugigen Beschaftigung nachgehen.

Diese verwaltungstechnische Abgrenzung des Begriffs der registrierten Ar­beitslosigkeit ist personenbezogen. Sie moB und wird sich nach aller Erfahrung nicht mit einer moglichen Abweichung yom Arbeitsmarktgleiehgewicht in Abb. 57 decken. Dies liegt zum einen daran, daB in der Abbildung des Arbeitsmarktes Mengen an Arbeitsleistungen zum Tragen kommen und nicht Personen, die Ar­beitsleistungen anbieten. Es kommt hinzu, daB neben der amtlich registrierten ZahI an Arbeitslosen weitere Personen Arbeitsleistungen anbieten konnen, die nicht die Kriterien fur die amtliche Registrierung erfiillen. SchlieBlich ist die Registrierung selbst nicht immer gleichbedeutend mit einem tatsachlichen okonomischen Ange­bot an Arbeitsleistungen. Es kann zumindest nicht ausgeschlossen werden, daB in Einzelfallen die mit der Registrierung und der Erfiillung weiterer Kriterien verbun­denen finanziellen Leistungen aus Sieht der Betroffenen gewichtiger sind als die tatsachliche Bereitschaft, Arbeitsleistungen anzubieten.

Die angesprochenen institutionellen Gegebenheiten, zu denen die Tarifauto­nomie, die Tarifvertrage sowie die staatliehen Rahmenbedingungen des Arbeits­und SoziaIsystems zahlen und die bis hin zu den amtlichen Abgrenzungen fur regi­strierte Arbeitslose reichen, sollten verdeutlichen, daB die hier prasentierten einfa­cheren wirtschaftstheoretischen Konzepte nicht ohne Vorbehalte oder Einschran­kungen auf konkrete Erscheinungen des Arbeitsmarkts ubertragen werden konnen, zumal es im Detail noch weitere Regeln oder institutionelle Besonderheiten geben mag, die erganzend zu berucksichtigen waren. 1st man sich dieser Einschrankungen bewuBt, kann man gleichwohI das Instrumentarium der Arbeitsmarkttheorie zu einigen wesentlichen Analysen heranziehen.

9.3.3 Entstehung von Arbeitslosigkeit

An dieser Stelle solI nun ein Blick auf die tatsachliche Entwicklung von Er­werbstatigkeit und Arbeitslosigkeit im friiheren Bundesgebiet gerichtet werden. Hierzu dient nochmals die Tabelle 4, in der fur den Beobachtungszeitraum 1960 bis 1997 auch die Zahlen der Erwerbstatigen und der Arbeitslosen ausgewiesen sind.

In der ersten Phase des Beobachtungszeitraums, d.h. der Phase I, die von 1960 bis 1972 reicht, ist ein Erscheinungsbild der Arbeitsmarktdaten festzustellen, das weitgehend dem eines Arbeitsmarktgleichgewichtes wie in Abb. 57 ent-

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spricht. Die Erwerbstatigenzahlen liegen mit Ausnahme der Jahre 1967 und 1968 auf einem durchweg hohen Niveau und betragen deutlich liber 26 Millionen Men­schen. Die absolute Zahl der Arbeitslosen erreicht wiederum mit Ausnahme der Jahre 1967 und 1968 kaurn die GroBe von 200.000 Personen. Die nicht ausgewie­sene Arbeitslosenquote liegt in den meisten Jahren eher unter dem Wert von einem Prozent als darUber. Dies kann insgesamt als Beleg dafiir genommen werden, daB in der Phase I die Arbeitsmarktverhaltnisse im Gebiet der fiiiheren Bundesrepublik Deutschland mit der Modellvorstellung der Abb. 57 plausibel beschrieben werden konnen.

Gleichwohl sind zwei erginzende Bemerkungen hinzufligen. Zum einen ist ein Hinweis auf die hier nicht ausgewiesenen Offenen Stellen erforderlich. Die bei den Arbeitsamtem gemeldeten Offenen Stellen sind ein Zeichen dafiir, daB die Nachfrage nach Arbeitsleistungen, zumindest regional und fiir spezifische berufliche Qualifikationen, gro6er ist als es dem mengenmafiigen Angebot an Arbeitsleistungen entspricht. Die Zahl der Offenen Stellen betragt in der Phase I fast durchweg mit Ausnahme der Jahre 1967 und 1968 mehr als eine halbe Million. Dies kann nicht nur als allgemeiner Beleg fiir eine intensive Nachfrage nach Ar­beitsleistungen gewertet werden. Zwei konkrete weitere Entwicklungen sind damit im Zusammenhang zu sehen: einerseits ergibt sich eine anhaltende Tendenz zu steigenden Lohnen, die den Marktgegebenheiten folgten; andererseits kommt es in jenen Jahren zu einem durch Anwerbeaktionen verursachten starken Zuzug von Gastarbeitern, mit dem die Knappheiten auf seiten des Arbeitsangebots liberwun­den werden sollten. Die Zahl der beschaftigten auslandischen Arbeitnehmer oder Gastarbeiter steigt in der Phase I urn rd. zwei Millionen Menschen an und erreicht bereits damals ein Niveau, das seither nie mehr wesentlich liberschritten wurde.

Die zweite erganzende Bemerkung zur Phase I als Zeitraum eines weitge­hen den Arbeitsmarktgleichgewichts bezieht sich auf die erwahnten Ausnahme­Jahre 1967 und 1968. Die Erwerbstatigenzahlen waren damals gegenUber den Vorjahren urn liber 800.00 Personen gesunken und die Arbeitslosenzahlen waren zugleich deutlich liber den in dieser Entwicklungsphase lib lichen Durchschnitt angestiegen. Diese Veranderungen oder Ausschlage blieben aber vorubergehend, d.h. in den nachfolgenden Jahren der Phase I (1969 - 1972) ergibt sich annabemd wiederum die gleiche Situation der Zahlenwerte von Erwerbstatigen und Arbeitslo­sen wie in der ersten Halfte der 60er Jahre.

Die Erklirung flir diese Phanomene auf dem Arbeitsmarkt ist darin zu sehen, daB das Jahr 1967 ein Rezessionsjahr mit einem gegenliber dem Vorjahr absolut geringeren realen Bruttoinlandsprodukt war. Ein soIcher Konjunktureinbruch fiihrt liber die damit verbundene Veranderung in der Auslastung der Produktionsanlagen zu einer Verschiebung der Nachfrage nach Arbeitsleistungen. Der Nachfrage­ruckgang auf dem Arbeitsmarkt bedingt flir sich allein angesichts des starren Ar­beitsangebots keine automatische Abnahme der Erwerbstatigen oder Zunahme der Arbeitslosen. Die Marktparteien auf dem Arbeitsmarkt haben im konkreten Fall jedoch anders reagiert. Das beobachtete Tarifverhalten der Tarifpartner hat zumin­dest bei den Nominallohnen keine Reaktion nach unten aufgewiesen, wie sie fiir

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Borsen oder Auktionsmarkte typiseh ware. Aueh fUr die Reallohne ergibt sieh kein anderes Bild. Abb. 58 versueht, den ArbeitsmarktprozeB sehematiseh zu erfassen, wie man sieh ibn fUr das Rezessionsjahr 1967 und das davon noeh betroffene Jahr 1968 vorstellen kann.

w p

w (- )0

p No

N,A rbeitslosigkeit

Abb. 58: Die Entstehung von Arbeitslosigkeit bei einem Naehfragerliekgang

Die Rezession des Jahres 1967 bewirkte zunaehst tiber eine verringerte Auslastung der Produktionsanlagen eine Verlagerung der Naehfragefunktion naeh Arbeitsleistungen von No naeh Nt. Die Arbeitsangebotsfunktion A bleibt von der Konjunktursehwankung unbeeinflu8t, es sei denn, die Stille Reserve steigt oder es nimmt die Zahl der Niehterwerbspersonen dauerhaft zu. Die letzte Mog­liehkeit soIl nieht vollig ausgesehlossen werden, dUrfte aber eher von geringerer quantitativer Bedeutung gewesen sein. Insoweit wird vereinfaehend unterstellt, daB die Arbeitsangebotsfunktion sieh in ihrer Lage nieht verandert. Urn bei einem Naehfragerliekgang das Gleiehgewieht auf dem Arbeitsmarkt zu erhaiten, ware

eine Anpassung des Reallohnniveaus von ( w )0 auf ( w )1 erforderlieh gewesen. p p

Dies ist allerdings nieht eingetreten, vielmehr blieb das Tariflohnniveau und das Reallohnniveau zumindest auf dem alten Stand (Es ergab sieh tatsaehlieh sogar

w eine Erhohung, die hier nieht dargestellt ist). Zum gegebenen Reallohn ( - )0 wur-

p

den aber naeh der nun geltenden Naehfragefunktion NI nur die Mengen an Ar­beitsleistungen naehgefragt, die denen im Punkt F entspreehen. Das Volumen an angebotenen Arbeitsleistungen war weitgehend unverandert geblieben. Beim alten Reallohnniveau uberstieg damit die Angebotsmenge die naehgefragte Menge

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an Arbeitsleistungen, so daB im Umfang der horizontalen Differenz der Punkte F und G ein Uberschu8angebot entstand, was als Begriindung fUr die damit verbun­dene Arbeitslosigkeit zu werten ist.

Die Arbeitslosigkeit im Jahr 1967 ist auf einen konjunkturellen EinfloB zu­rtickzufiihren. Diese Form der Arbeitslosigkeit wird daher auch als konjunkturelle Arbeitslosigkeit bezeichnet. Konjunkturelle Arbeitslosigkeit entsteht mithin in Konjunkturzyklen, und zwar in der Folge eines wirtschaftlichen Abschwungs, der zu geringerer Gfiterproduktion, geringerer Auslastung der Produktionsanlagen und zu zeitlich nachfolgenden Entlassungen oder geringeren Einstellungen fiihrt. Urn aus der reduzierten Nachfrage nach Arbeitsleistungen tatsachlich Arbeitslosigkeit resultieren zu lassen, moB allerdings das fUr heutige Arbeitsmarkte in Europa typi­sche Preissetzungsverhalten hinzukommen, das in einer Lohnstarrheit nach unten besteht.

Sofem die Lohne in der Nahe des fiiiheren Gleichgewichts auf dem Arbeits­markt verharren, kann jedoch bei einer konjunkturellen Erholung, die mit einer wiederum steigenden Nachfrage nach Gfitem und Arbeitsleistungen einhergeht, auch damit gerechnet werden, daB die zuvor entstandene Arbeitslosigkeit wieder abgebaut wird. Die Daten aus Tab. 4 fUr die Phase I stUtzen diese Hypothese, denn fUr die Jahre 1969 bis 1972 liegen annahemd die Bedingungen bei Erwerbs­tatigen und Arbeitslosen vor, die fUr das Arbeitsmarktgleichgewicht der fiiihen 60er Jahre charakteristisch sind. Konjunkturelle Arbeitslosigkeit ist danach eine voriibergehende Erscheinung. Sie beruht auf einem speziellen Marktverhalten der Tarifparteien, weshalb sich Aoderungen im Wirtschaftsablauf vomehmlich in Mengenanderungen und nicht in Preisanderungen niederschlagen. Die konjunktu­relle Arbeitslosigkeit baut sich als vortibergehende Erscheinung im Wirtschaftsauf­schwung bzw. durch ein positives Wirtschaftswachstum wieder ab, so daB daraus keine dauerhafte Arbeitslosigkeit wird.

Ahnliches, allerdings in im allgemeinen abgemilderter Form, gilt fUr das Pha­nomen der saisonalen Arbeitslosigkeit. Saisonale Arbeitsiosigkeit entsteht im Jahresverlauf durch Nachfragertickgange nach Arbeitsleistungen beispielsweise in witterungsabhangigen oder kalenderabhangigen Produktionsbereichen. Solche saisonalen Arbeitslosigkeiten sind jedoch vortibergehend und bauen sich im weite­ren Jahresverlaufwieder abo

Ffir die an die Phase I anschlieBenden Zeitraume der Beobachtungsperiode aus der Tab. 4, d.h. die Phase II (1973-1988) und Phase III (1989-1997) sind die oben im Zusammenhang mit dem Arbeitsangebot erlauterten Einflfisse von zen­traler Bedeutung. Damit sind in erster Linie die in Abb. 56 skizzierten Verlage­rungen der Arbeitsangebotsfunktion gemeint. Die ins Erwerbsleben eintretenden geburtenstarken Jahrgange und die Bevolkerungszunahme fiber die Zuwanderun­gen haben zu einer Ausweitung des Arbeitsangebots gefiihrt. Die Arbeitsnach­frage hat sieh in den gleichen Zeitraumen bei weitem nieht so stark vergroBert, obwohl es in jenen Jahren zu einem trendmaBigen Wirtschaftswachstum gekom­men war. SchlieBlich stieg das Niveau des nomine lIen Lohns w und des Reallohns

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W deutlich an, so daB sich beispielsweise die zu Ende der Phase II entstandene p

Situation auf dem Arbeitsmarkt mit Abb. 59 darstellen laBt. Die in der Phase II zu beobachtende Ausweitung des Arbeitsangebots ist in

Abb. 59 durch die Verlagerung der Arbeitsangebotsfunktion von Ao nach Al veranschaulicht. Zur Vereinfachung ist unterstellt, daB sich die Nachfrage nach Arbeitsleistungen N nicht veriindert hat, was auch durch die durchschnittliche Entwicklung der Erwerbstatigenzahlen in dieser Zeitphase gestiitzt wird (Tatsach­lich ist die Nachfrage N in einem AusmaB angestiegen, das in etwa dem Zuwachs des Nominallohns w entspricht. Dies laBt sich durch eine entsprechende Streckung der Ordinatenwerte auf der Nachfragefunktion erfassen). SchlieBlich wird in Abb. 59 mit der Annahme gearbeitet, daB die Tarifparteien das Reallohnniveau auf dem

W Stand von (-)0 halten konnten, was tatsachlich nicht zutrifft, denn das

p

Reallohnniveau hat sich in dem Zeitraum erkennbar erh6ht. Wiirde man dies in der Abb. 59 berUcksichtigen, kame das hier vorgetragene Argument noch deutlicher zum Tragen.

W

p

W (- )0

p

N

N,A

Abb. 59: Die Entstehung von Arbeitslosigkeit bei einer Angebotsausweitung

Ausgehend vom Arbeitsmarktgleichgewicht im Punkt G zu Beginn der Phase II ergibt sich durch die in dieser Phase festzustellende Ausweitung des Arbeitsangebots nach Al beim nach unten fixierten Reallohnniveau ein Angebots­iiberschu6 im Ausma6 der mengenmaBigen Differenz zwischen den Punkten G und F. In diesem Umfang entsteht damit Arbeitslosigkeit. Aus der Tab. 4 ist die Zunahme der Arbeitslosenzahlen urn rd. zwei Millionen Personen erkennbar. Zu­gleich wird aus Tab. 4 auch ersichtlich, daB das Arbeitsangebot, gemessen an der Zahl der Erwerbspersonen, um annahemd die gleiche Zahl an Personen gestiegen ist. Abb. 59 zeigt insoweit recht deutlich den WirkungsprozeB auf, der in dieser

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Phase die Arbeitsmarktverhaltnisse gepragt hat. Die Angebotsausweitung fiihrt angesichts einer gegebenen Arbeitsnachfrage nicht zu einer Reduktion des Preises fiir Arbeitsleistungen. Der konstante oder vielmehr noch ansteigende Reallohn schlagt sich vielmehr vollstandig in einem AngebotsuberschuB nieder, der weitge­hend der mengenmaBigen Angebotsausweitung entspricht.

Fur den dritten Zeitraum der Beobachtungsperiode, die Phase III, ist wegen der steigenden Bevolkerungszahlen eine weitere Erhohung der Erwerbsperso­nen festzustellen. Vom groben Ablaufher gilt der gleiche WirkungsprozeB wie in der Phase zuvor. Der Angebotsausweitung steht weder eine entsprechende gleich starke Nachfrageausweitung, noch eine dem Mehrangebot entsprechende Verbil­ligung der Arbeitsleistungen gegenuber. Insoweit lassen sich die Entwicklungen in Phase III wieder durch Abb. 59 erfassen. Eine Betrachtung der konkreten Arbeitsmarktdaten in der Tab. 4 zeigt jedoch, daB etwa die Halfte des Anstiegs der Erwerbspersonen und damit des Arbeitsangebots durch die Nachfrageausweitung aufgesogen wird und damit zu einem Anstieg der Erwerbstatigen fllhrt. Die verblei­bende Halfte aus der Zunahme der Erwerbspersonen wird angesichts des nach unten starren Reallohns in die Arbeitslosigkeit verdrangt.

1m Unterschied zur konjunkturellen Arbeitslosigkeit, die auf einem Riickgang der Arbeitsnachfrage beruht, setzt die in Abb. 59 gewahlte Erklarung der Arbeitsiosigkeit an der Ausweitung des Arbeitsangebots an. In jedem Fall miis­sen Strukturprobleme der Marktpreisbildung, d.h. hier der Lohnbildung, hinzu­kommen, damit aus Nachfrage- oder Angebotsveranderungen Arbeitslosigkeit entsteht. In den letzten Jahren ist es daher iiblich geworden, von struktureller Arbeitsiosigkeit zu sprechen, ohne allerdings hinreichend deutlich auf die zugrunde liegende Ausweitungen des Arbeitsangebots einzugehen.

Die Betrachtung der hier besonders hervorgehobenen drei Entwicklungspha­sen des Arbeitsmarkts im friiheren Gebiet der Bundesrepublik Deutschland hat sich auf die jeweils hauptsachlichen Einfliisse in den betreffenden Zeitraumen be­schrankt. Es sollte unter anderem gezeigt werden, daB das okonomische Instrumen­tarium (Nachfrage und Angebot) durchaus in der Lage ist, konkrete Erscheinungen des Arbeitsmarktes zusammenhangend und aus einem geschlossenen Ansatz heraus zu erklaren. Notwendig ist dabei allerdings die Beriicksichtigung institutioneller Rahmenbedingungen, wie z.E. die markante Verlagerung der Arbeitsangebots­funktion in den Phasen II und III und das typische Lohnsetzungsverfahren. Kommt es hierbei zu Anderungen, so miiBte dies bei der Analyse eines neuen Marktpro­zesses beriicksichtigt werden. Die Ergebnisse der Arbeitsmarktentwicklungen, die hier betrachtet wurden, sind daher lediglich fiir die konkreten Zeitperioden bedeut­sam. In anderen Zeitraumen mogen andere und erganzende Einfliisse herrschen, die hier vemachlassigt werden konnten. So ist z.E. nur der Konjunktureinbruch von 1967/68 mit seiner Auswirkung auf den Arbeitsmarkt dargestellt worden. Die Kon­junktureinbriiche der Jahre 1975, 1981/82 und 1993 wurden hingegen in ihren Konsequenzen fiir den Arbeitsmarkt nicht naher erlautert, zumal sie keineswegs die wesentlichsten Erklarungen fiir das relativ hohe Niveau der Arbeitslosigkeit bei­steuem konnen.

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Der Arbeitsmarktproze8 in den neuen BundesUindern kann selbstver­standlich ebenfalls mit der hier vorgelegten Arbeitsmarktanalyse behandelt werden. FUr die neuen Bundeslander ist kennzeichnend, daB sich eine langer anhaltende Reduktion der Arbeitsnachfrage ergeben hat, weil alte Produktionen eingestellt wurden und neue Absatzmoglichkeiten nur allmiihlich einen Teilausgleich bei der Giitemachfrage schaffen. Zugleich steigt das Reallohnniveau besonders stark an. Auch das durch Abwanderungen reduzierte Arbeitsangebot fmdet beim herrschen­den Lohnniveau nun keine vollstandige Nachfrage mehr. Insoweit treffen fUr die neuen Lander die Verhaltnisse aus der Abb. 58 zu, wobei die Reduzierung der Nachfrage nach Arbeitsleistungen nicht nur konjunktureller, sondem langerfristiger Natur ist. Die entstandene Arbeitslosigkeit ist daher entsprechend umfangreich und dauerhaft.

In der Arbeitsmarkttheorie stOBt man neben den hier vorgelegten Erklarun­gen fUr das Entstehen von Arbeitslosigkeit auf weitere Ansatze, wobei die meisten allerdings lediglich mikrookonomisch begrUndet sind und als Erklarungsziel die dauerhafte Arbeitslosigkeit haben.

Die Mismatch-Arbeitslosigkeit ergibt sich beispielsweise deshalb, weil die Qualifikationen zwischen nachgefragten und angebotenen Arbeitsleistungen nicht immer Ubereinstimmen und gegebenenfalls Hingere Suchprozesse (mit Arbeitslo­sigkeit) anfallen, ehe tatsachlich neue und dauerhafte Beschaftigungsmoglichkeiten gefunden sind.

Die inflationsstabile Arbeitslosigkeit findet sich zumeist unter der Ober­schrift NAIRU (fUr: Non-Accelerating Rate of Unemployment). Sie entspricht einer Arbeitslosigkeit, bei der die Anspruche an die gesamtwirtschaftliche Leistung von Arbeitgebem und Arbeitnehmem so weit ausgeglichen sind, daB die Inflations­rate stabil bleibt. Die NAIRU ist von ihrem wirtschaftstheoretischen Konzept her eine Erweiterung der namrlichen Arbeitslosigkeit urn keynesianische Uberlegun­gen, die vorwiegend auf der Phillips-Kurve beruhen.

Insider-Outsider-Erklarungen stellen darauf ab, daB die Beschaftigten, die Insider, es den Outs idem, den arbeitslos gewordenen Personen, erschweren, in ein Arbeitsverhaltnis zuruckzukehren. Zielsetzung der Insider ist es, einen moglichst hohen Lohnsatz in einem ungefahrdeten Beschaftigungsverhaltnis zu erreichen und die Outsider ihrem Schicksal zu Uberlassen.

Effizienzlohntheorien heben hervor, daB es fUr Arbeitgeber okonomisch sinnvoll sein kann, keine Arbeitslosen einzustellen, selbst wenn sie geringere Lohne erhalten wollten, denn es entstehen dadurch gegebenenfalls erhebliche Ein­arbeitungskosten und Motivationsprobleme bei den noch oder bereits Beschaf­tigten. Arbeitgeber zahlen statt dessen lieber den bereits Beschaftigten hohere Lohne. Die hOheren Lohne steigem deren Leistungsintensitat, verringem die Fluk­tuation und haben insgesamt eine Anreizfunktion fUr die Beschaftigten.

Mit Hysterese solI ebenfalls dauerhafte Arbeitslosigkeit begrUndet werden. Hierbei gilt als Erklarung der Dauerhaftigkeit oder Persistenz der Arbeitslosigkeit, daB eine eiomalige Abweichung yom Gleichgewicht (des Arbeitsmarkts) bei Weg­fall des Grunds fUr die StOrung keine kompensatorische Entwicklung zulaBt, son-

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dem in Abhangigkeit yom StOrungsgrund ein langeres Zuruckbleiben gegeniiber dem Ausgangszustand auslOst. Arbeitslosigkeit baut sich deshalb in besseren Kon­junkturphasen nicht so rasch ab wie sie im Konjunkturabschwung entstanden ist.

AIle diese erganzenden Erklarungsansatze der Arbeitsmarkttheorie heben durchaus beobachtbare Phanomene hervor. Sie operieren allerdings vorwiegend mit mikrookonomischen Wirkungszusammenhangen und gehen im iibrigen von der Grundannahme eines gegebenen gesamtwirtschaftlichen Arbeitsangebots aus. Die Erklarungsansatze erfassen daher irnmer nur die eher geringfiigigeren Aspekte des Arbeitsmarktgeschehens, zumal viele der Erganzungen von der Grundkonzep­tion her Arbeitslosigkeit jeweils als Konjunkturphanomen ansehen.

Dahingegen sind im vorliegenden Abschnitt wesentliche Prozesse auf dem Arbeitsmarkt aus der jiingeren deutschen Wirtschaftsgeschichte mit einer bewuBt anderen, makrookonomischen Fragestellung aufgegriffen worden. Die Instrumente Arbeitsnachfrage und Arbeitsangebot wurden nicht von vornherein verengt, son­dem in ihrer Variabilitat erfaBt. Es sollte damit verdeutlicht werden, daB Arbeitslosigkeit nicht einfach nur auf konjunkturelle Schwankungen zuriick­gefiibrt werden kann.

Es ware nun selbstverstandlich auch interessant, die Frage zu diskutieren, welche Wege beschritten werden konnen, urn die entstandene Arbeitslosigkeit zu reduzieren oder gar vollig abzubauen. Fiir diese wirtschaftspolitisch und sozial­politisch wichtige Fragestellung eignet sich das hier verwendete Marktinstrumenta­rium ebenfalls. 1m Rahmen dieses einfiihrenden Lehrbuchs muB gleichwohl auf die Behandlung des Problemkreises verzichtet werden, da hierfiir ein makrookonomi­scher Gesamtansatz unter Verwendung aller makrookonomischen Markte er­forderlich ist. Damit sei zumindest vor vereinfachten und voreiligen Schliissen gewamt. Denn aus der makrookonomischen Analyse ist bekannt, daB wirtschafts­politisch bedeutsame Eingriffe in den ArbeitsmarktprozeB iiber die Kreislaufzu­sammenhange nicht nur Konsequenzen auf dem Arbeitsmarkt selbst haben, sondem sich auch auf den anderen Markten niederschlagen, wodurch kompensatorische Riickwirkungen nicht auszuschlieBen sind. Angesichts der aus einer Angebotsaus­weitung entstandenen Arbeitslosigkeit ergibt sich jedoch die allgemeine Feststel­lung, daB die Instrumente, die mit einer konjunkturellen Erklarung der Arbeitslo­sigkeit operieren, tendenziell unwirksam bleiben werden. Insoweit kann man sich allenfalls von jenen Instrumenten eine Verbesserung der Arbeitslosensituation versprechen, die von einer Angebotsausweitung an Arbeitsleistungen ausgehen und an den Strukturen des Marktprozesses ansetzen.