236
Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G. Heinrich ng Spannun Dehnung

Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

  • Upload
    leanh

  • View
    217

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

Physikalische und ychemische Grundlagen der KeramikTeil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe2. Auflage, 2005Jürgen G. Heinrich

ngSp

annu

n

Dehnung

Page 2: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

INHALTSVERZEICHNIS

SEITE

1. EINFÜHRUNG 3

2. MECHANISCHES VERHALTEN 5 2.1. Elastizität [1; 4; 5; 6; 7; 8, 23] 5

2.2. Anelastizität [1; 8] 34

2.3. Bruchverhalten [8; 9; 10] 42

2.4. Weibull-Statistik [8;10] 80

2.5. Hochtemperatur-Plastizität [8; 11] 86

3. THERMISCHE EIGENSCHAFTEN 115 3.1. Spezifische Wärme [8; 12] 115

3.2. Thermische Ausdehnung [8; 12] 126

3.3. Thermische Leitfähigkeit [8; 12; 13] 136

3.4. Thermoschockverhalten [8; 12; 14] 150

4. CHEMISCHE EIGENSCHAFTEN 160 4.1. Korrosion [1; 8; 13; 15] 160

5. ELEKTRISCHE EIGENSCHAFTEN 180 5.1. Elektrische Leitfähigkeit [8; 12; 17; 18] 180

5.2. Dielektrizität [8; 17; 18; 19] 196

5.3. Spezielle Keramiken für elektrische

und elektronische Anwendungen [8; 19] 211

6. MAGNETISCHE EIGENSCHAFTEN 225 6.1. Magnetismus [8; 12; 17; 19] 225

6.2. Keramische Magnetwerkstoffe 232

7. LITERATUR 236

Page 3: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

1. Einführung - 3 -

1. Einführung

Keramischer Werkstoffe zeigen eine völlig anderes Eigenschaftsprofil als Metalle und

Polymere. Die Ursachen hierfür sind auf atomistische Gegebenheiten zurückzuführen, die in

Teil 1 dieser Vorlesung: „Struktureller Aufbau keramischer Werkstoffe“ diskutiert werden.

Die für das Verständnis der Eigenschaften keramischer Materialien notwendigen Grundlagen

werden in dieser Vorlesungsreihe kurz wiederholt.

Beim Kauf von Porzellan wird im wesentlichen das Design, die Dekoration und natürlich der

Preis als Kriterium herangezogen. Aber schon bei Ziegeln und Steinzeugrohren, Gleitringen

oder Tuborladerrotoren aus Keramik spielt die mechanische Belastbarkeit für den

erfolgreichen Einsatz eine wesentliche Rolle. Die mechanischen Eigenschaften bei Raum-

und Hochtemperatur, wo Keramik deutliche Vorteile gegenüber Metallen aufweist, werden

daher gleich zu Beginn dieser Vorlesung besprochen.

Der Einsatz bei hohen Temperaturen, wo Metalle häufig bereits schmelzen, erfordert u. a. die

Kenntnis der Temperaturabhänigkeit der thermischen Eigenschaften, die in Kapitel 3

diskutiert werden. Die chemische Beständigkeit keramischer Werkstoffe gegenüber

metallischen Schmelzen in Hochöfen macht die feuerfeste Werkstoffgruppe zu einem

unerläßlichen Bestandteil z.B. bei der Stahlerzeugung. Das Korrosionsverhalten oxidischer

und das Oxidationsverhalten nichtoxidischer keramischer Werkstoffe wird daher in Kapitel 4

besprochen.

Dass die elektrische Leitfähigkeit von Keramik in der Regel mit steigender Temperatur zu,

bei Metallen dagegen abnimmt, hat mit dem Bindungscharakter zu tun. Diese

Zusammenhänge sind u.a. Inhalt von Kapitel 5, in dem auch die meisten supraleitenden

Keramiken vorgestellt werden.

Ohne keramische Magnetwerkstoffe würde sich heute kein Auto über unsere Straßen

bewegen. Die Besprechung magnetischer Eigenschaften bildet daher den Abschluss dieser

Vorlesungsreihe.

Die wesentlichen Kapitel sind der zitierten Literatur entnommen. Textauszüge sind zum Teil

wörtlich übernommen.

Page 4: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 4 - 1. Einführung

Ich danke Frau Dipl.-Ing. Sabine Meier für die kritische Durchsicht des Manuskripts und

Herrn Dipl.-Ing. Jung-Wook Kim für die Überarbeitung des Entwurfs und die Erstellung der

CD-ROMs sowie Herrn Daniel Raschke für die kritische Durchsicht des Manuskripts und die

Überarbeitung der ersten Auflage.

Jürgen G. Heinrich

Clausthal, 2005

Page 5: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 5 -

2. Mechanisches Verhalten 2.1. Elastizität

2.1.1 Bindungsarten

Um den Elastizitätsmodul als Materialeigenschaft verstehen zu können, soll zunächst das

Verständnis auf atomarem Niveau geschaffen werden. Dafür sind zwei Punkte von

Bedeutung:

1. Die atomaren Bindekräfte, d.h. die Kräfte, die zwischen benachbarten Atomen wie kleine

Federn wirken (Abbildung 2.1.1).

Schematische Darstellung der Bindekräfte zwischen Atomen [4]

Abb. 2.1.1

2. Die Atompackung, d.h. die Art und Weise, wie Atomschichten aufeinander liegen. Mit der

Atompackung wird angegeben, wieviele Federchen pro Einheitsvolumen vorkommen und

unter welchem Winkel sie beansprucht werden (Abbildung 2.1.2).

Schematische Darstellung verschiedener Atompackungen [4]

Abb. 2.1.2

Page 6: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 6 - 2.1. Elastizität

Atomare Bindungen kann man unterteilen in:

1. Primärbindungen: Die ionische, kovalente und metallische Bindung, die als relativ stark an-

zusehen sind.

2. Sekundärbindungen: Die Van-der-Waals- und Wasserstoffbrückenbindung, die beide als

relativ schwach gelten.

Diese Bindungen treten selten in reiner Form auf, es handelt sich in realen Werkstoffen meist

um Mischtypen.

Primärbindungen

Keramische Werkstoffe und Metalle werden vollkommen von Primärbindungen

zusammengehalten und zwar von Ionenbindung und kovalenter Bindung bei Keramik, von

Metallbindung und kovalenter Bindung bei Metallen. Diese starken Bindungsarten bewirken

große Elastizitätsmoduln.

Ein typisches Beispiel für die Ionenbindung ist das Natriumchlorid. Alkalihalogenide, Oxide

sowie bestimmte Zementbestandteile (Carbonate und Oxide) haben ganz oder teilweise

Ionenbindungscharakter.

Der Kern des Natriumatoms besteht aus 11 Protonen (und 11 Neutronen), die von 11

Elektronen umgeben sind (Abb. 2.1.3).

Die Ionenbindung am Beispiel von NaCl [4]

Abb. 2.1.3

Page 7: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 7 -

Die Elektronen werden durch elektrostatische Kräfte vom Kern angezogen, haben also

negative Energien. Aber nicht alle Elektronen haben die gleiche Energie. Die entfernteren

haben die geringste negative (höchste) Energie. Das Elektron, das am leichtesten vom

Natriumatom entfernt werden kann, ist demnach das am weitesten außen gelegene. Zu seiner

Entfernung benötigt man eine Arbeit von 5,14 eV. Wenn wir dieses Elektron einem

Chloratom zuführen, gewinnen wir 4,02 eV zurück. Wir können also Na+- bzw. Cl--Ionen

isolieren, indem wir eine Arbeit Ui von 5,14 eV - 4,02 eV ist gleich 1,12 eV verrichten.

Zur Ionenbildung müssen wir also Energie aufwenden. Andererseits ziehen sich das positive

und negative Ion gegenseitig an. Wenn wir sie zusammenbringen, gewinnen wir Arbeit durch

die Anziehungskraft, die den Kräften zwischen Punktladungen entspricht:

F q

r=

2

0

24 π ε (2.1.1)

q ist dabei die Ladung der Ionen, ε0 die Dielektrizitätskonstante im Vakuum und r der

Ionenabstand. Die gewonnene Arbeit bei Annäherung der Ionen (aus dem Unendlichen) ist

daher

U F dr qrr

= =∞

∫2

04πε. (2.1.2)

Energiebilanz der Ionenbindung [4]

Abb. 2.1.4

Page 8: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 8 - 2.1. Elastizität

Abb. 2.1.4 zeigt, wie der Arbeitsgewinn mit abnehmendem r zunimmt bis bei ungefähr

r = 1 nm, ein für Ionenbindungen typischer Wert, der Energieaufwand für die Ionenbildung von

1,12 eV wieder wettgemacht ist. Unterhalb von r = 1 nm können wir nur noch gewinnen, d.h.,

dass die Bindungsstärke mehr und mehr zunimmt. r kann aber nicht unendlich abnehmen und

immer mehr Energie freisetzen bis zur Verschmelzung der beiden Kerne. Wenn sich die Ionen

immer mehr annähern, würden sich irgendwann die Verteilungsfelder ihrer elektrischen

Ladungen überlappen, was zu einer starken Abstoßung führen würde. Abb. 2.1.4 zeigt den

Anstieg der potentiellen Energie, der damit verbunden ist. Die Ionenbindung hat ihre größte

Stabilität im Minimum der U(r) Funktion. Den Verlauf der Kurve kann man näherungsweise

angeben mit

U U qr

Bri n= − +

2

04πε. (2.1.3)

Dort, wo die potentielle Energie ihr Minimum aufweist, ist die Bindung am stabilsten.

Die Elektronenverteilungen jedes der beiden Ionen sind kompliziert geformte räumliche

Gebilde (Orbitale) um den Atomkern herum. In erster Näherung können die Ionen als Kugeln

betrachtet werden. Von daher lassen sich die Ionen beliebig anordnen, wodurch zum

Ausdruck kommt, dass die Ionenbindung nicht gerichtet ist. Trotzdem müssen

Ionenpackungen unterschiedlichen Vorzeichens so zueinander geordnet sein, dass sich

positive und negative Ladungen zu Null kompensieren.

Der kovalente Bindungstyp liegt in reiner Form beim Diamant, beim Silicium und

Germanium vor, die allesamt sehr große Elastizitätsmoduln aufweisen (der von Diamant ist

der höchste überhaupt). Ferner überwiegt dieser Bindungstyp bei Silicatkeramiken und

Gläsern. Er trägt außerdem in nennenswertem Maße zur Bindung hochschmelzender Metalle,

wie Wolfram, Molybdän und Tantal bei. Schließlich findet man kovalente Bindungsanteile

auch in Polymeren, wo Kohlenstoffatome zu langen Ketten verbunden sind. Da aber in

Polymeren auch andere deutlich schwächere Bindungstypen vorkommen, wird man im

allgemeinen eher kleine Elastizitätsmoduln erwarten.

Der einfachste Fall kovalenter Bindungen ist der des Wasserstoffmoleküls. Durch die enge

Nachbarschaft der beiden Atomkerne entsteht ein gemeinsames Elektronenorbital

(Abb. 2.1.5).

Page 9: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 9 -

Kovalente Bindung [4]

Abb.2.1.5

Der Energiegewinn, der dadurch hervorgerufen wird, ist Ursache einer stabilen Bindung, wie

Abb. 2.1.6 zeigt. Die Energie der kovalenten Bindung läßt sich empirisch angeben als

U Ar

Br

m nm n=−

+ <( ) . (2.1.4)

Energiebilanz der kovalenten Bindung [4]

Abb. 2.1.6

Ein typisches Beispiel kovalenter Bindung stellt der Diamant dar. Der Diamant ist eine

extrem harte Kohlenstoffmodifikation. Im Falle des Diamants besetzen die gemeinsamen

Elektronen die Ecken eines Tetraeders (Abb. 2.1.7).

- hier zwischen zwei Wasserstoffatomen unter Bildung eines Wasserstoffmoleküls

Page 10: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 10 - 2.1. Elastizität

Gerichtete kovalente Bindung der Diamantstruktur [4]

Abb. 2.1.7

Die symmetrische Form dieser Orbitale führt beim Diamant zu einer stark gerichteten

Bindung. Je nach Orbitalmuster weisen auch andere kovalente Bindungstypen eine starke

Ausrichtung auf, die dann ihrerseits Einfluss auf die Atompackung im Kristall hat.

Die metallische Bindung ist, wie der Name schon sagt, die vorherrschende Bindungsart in

Metallen und Metalllegierungen. In Metallen geben die Atome ihre äußeren Elektronen ab

(wobei Ionen entstehen), die dann einen See freibeweglicher Ladungsträger bilden

(Abb. 2.1.8). Die zugehörige Energiekurve ist derjenigen der kovalenten Bindung sehr

ähnlich und damit durch Gleichung 2.1.4 hinreichend definiert.

Metallische Bindung [4]

Abb. 2.1.8

Page 11: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 11 -

Das hohe Maß an Beweglichkeit der Elektronen ist Ursache für die sehr gute elektrische

Leitfähigkeit der Metalle. Die metallische Bindung ist in keiner Weise gerichtet, so dass sich

die Metallionen zu sehr dichten Strukturen zusammenlagern können, etwa wie kleine

Stahlkugeln, die man in einer Schachtel so lange schüttelt, bis sie ein Minimum an Raum

einnehmen.

Sekundärbindungen

Sekundärbindungen sind ungleich schwächer als Primärbindungen. Sie stellen z.B. die

Verbindung zwischen Makromolekülen in Polyethylen und anderen Kunststoffen her,

wodurch diese erst zu Festkörpern werden.

Van-der-Waals-Bindung [4]

Abb. 2.1.9

Die Van-der-Waals-Bindung beschreibt eine Dipolanziehung zwischen an sich ungeladenen

Atomen. Die zu jedem Zeitpunkt in Bezug auf den Atomkern unsymmetrische

Ladungsverteilung bewirkt ein Dipolmoment. Das Moment erzeugt bei einem benachbarten

Atom ein ebensolches, so dass sich beide anziehen können (Abb. 2.1.9). Die Energie der

Anziehung nimmt mit r6 ab. Die Gesamtenergie der Van-der-Waals-Bindung lässt sich

angeben als

U Ar

Br

nn=−

+6 12( ~ ) . (2.1.5)

Page 12: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 12 - 2.1. Elastizität

Als gutes Beispiel lässt sich flüssiger Stickstoff anführen, der bei -198°C von Van-der-Waals-

Kräften, die die kovalent gebundenen N2-Moleküle aufeinander ausüben, in flüssigem

Zustand gehalten wird. Dabei reicht die Wärmebewegung bei Raumtemperatur schon aus, um

die schwachen Van-der-Waals-Bindungen aufzubrechen.

Durch die Wasserstoffbrückenbindung bleibt Wasser bei Raumtemperatur flüssig und manche

polymeren Molekülketten verbinden sich zu Festkörpern. Auch die Bindung von Eis ist von

diesem Typ (Abb. 2.1.10). Die Bindung entsteht, wenn jedes Wasserstoffatom seine Ladung

an ein unmittelbar benachbartes Sauerstoffatom abgibt (das dann negativ geladen ist). Das

positiv geladene H-Atom wirkt dabei als eine Brücke zwischen benachbarten O-Atomen. Die

Ladungsumverteilung resultiert schließlich in einem Dipolmoment für jedes H2O-Molekül,

das dadurch zwei andere H2O-Moleküle anziehen kann.

Die Anordnung von H2O-Molekülen in Eis [4]

Abb. 2.1.10

Atomare Bindekräfte und physikalische Ursache des E-Moduls

Mit den Potentialen der verschiedenen Bindungstypen lassen sich die Kräfte zwischen den

Atomen abschätzen. Ausgehend von der U(r)-Kurve errechnet sich die Kraft F, die

erforderlich ist, um zwei Atome in einen Abstand r zu bringen, durch

F dUdr

= . (2.1.6)

In Abb. 2.1.11 ist dieser Sachverhalt grafisch dargestellt:

Die Wasserstoffbindungen halten die Moleküle auf Abstand; daher hat Eis eine geringere Dichte als Wasser

Page 13: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 13 -

Abschätzung der Kräfte zwischen Atomen [4]

Abb. 2.1.11

1. F ist Null im Gleichgewichtsabstand r0; wenn Atome um eine Strecke (r-r0 ) verrückt

werden sollen, so ist dazu eine bestimmte Kraft erforderlich. Bei kleinen Beträgen ist für alle

Stoffe die Kraft dem Abstand nahezu proportional, und zwar unter Zug- und unter

Druckbeanspruchung.

2. Die Steifigkeit S der Bindung ergibt sich aus

S dFdr

= . (2.1.7)

Ist die Auslenkung klein, so bleibt S konstant und ist dann

S d Udr0

2

2=⎛⎝⎜

⎞⎠⎟ bei r = r0, (2.1.8)

d.h. die Bindung verhält sich elastisch. S0 entspricht der Federkonstanten der Bindung. Die

Kraft zwischen zwei Atomen, die um eine Strecke r entfernt werden (wobei r ∼ r0) beträgt

F S r ro= −0 ( ) . (2.1.9)

Abb. 2.1.12 zeigt schematisch einen Festkörper, der von Federchen zusammengehalten ist.

dU/dr wird maximal am Wendepunkt der U/r-Kurve

r0 Ionenradius

Anziehung

Abstossung

Fmax F

(=dU/dr)

dU/r = 0

dU/r -> 0

r0 r

U

Page 14: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 14 - 2.1. Elastizität

Der Einfachheit halber hat man sich hier darauf beschränkt, die Atome an den Ecken eines

Würfels mit der Kantenlänge r0 anzuordnen. In der Realität folgen zwar nur wenige Stoffe

dieser einfachen Struktur, das Verständnis wird dadurch aber erheblich erleichtert.

Abschätzung des Elastizitätsmoduls aus der Steifikeit einzelner Atombindungen [4]

Abb. 2.1.12

Die Gesamtkraft, die durch die Fläche hindurchgreift, wenn die beiden Seiten

auseinandergezogen werden, ist definiert als die Spannung

σ = −N S r r0 0( ) , (2.1.10)

wobei N die Zahl der Bindungen pro Einheitsfläche darstellt, also 1/r02 ist (r0

2 ist die mittlere

Fläche pro Atom).

N r02 1= (2.1.11)

Wird die Auslenkung (r-r0) in eine Dehnung εn umgerechnet, indem man durch den

Ausgangsabstand r0 dividiert, so ergibt sich

εnr r

r= − 0

0 (2.1.12)

Page 15: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 15 -

damit gilt:

σ ε= ⋅ ⋅ ⋅1

02 0 0r

S rn (2.1.13)

σ ε= ⋅Sr n

0

0 (2.1.14)

Der E-Modul ist dann

E Sr

= 0

0

. (2.1.15)

S0 lässt sich aus den theoretisch hergeleiteten Kurven U(r) berechnen. Für die Ionenbindung

ist U(r) durch Gleichung 2.1.3 gegeben. Durch Differenzierung dieser Gleichung nach r erhält

man die Kraft zwischen den Atomen. Bei r = r0 muss sie Null sein. Aus dieser Bedingung

erhalten wir die Konstante

Bq r

n

n

=−2

01

04 π ε. (2.1.16)

S0 können wir dann angeben als

Sq

r0

2

0 034

=απ ε

(2.1.17)

mit α = (n - 1). Die Coulomb-Anziehung reicht sehr weit und hängt von 1/r ab. Daher steht

ein bestimmtes Na+-Ion nicht nur mit seinen 6 nächsten Cl--Ionen in anziehender

Wechselwirkung, sondern erfährt darüber hinaus eine abstoßende Kraft von seinen 12

übernächsten etwas weiter entfernten Na+-Nachbarn. Auch die nächsten 8 Cl--Ionen und die

übernächsten 6 Na+-Ionen spürt es noch. Um also S0 genau zu berechnen, müssen alle diese

Bindekräfte, anziehende und abstoßende, addiert werden. Das Ergebnis ist Gleichung 2.1.17

mit α = 0.58.

Aus Tabellen für physikalische Konstanten können die Werte für q und ε0 abgelesen werden.

Der Atomabstand r0 liegt bei etwa 2,5 10-10 m. Setzt man diese Werte in Gleichung 2.1.17 ein,

Page 16: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 16 - 2.1. Elastizität

so ergibt sich

S Nm0

19 5= −, , für NaCl.

Die Steifigkeit anderer Bindungstypen errechnet sich in ähnlicher Weise. Einen Überblick

über Bindungssteifigkeiten gibt Tabelle 2.1.1.

Bindungssteifigkeiten verschiedener Werkstoffe [4]

Tab. 2.1.1

Bindungsart S0 in N / m-1 E angenähert aus

(S0 / r0) in GN m-2

Kovalent, z.B. C – C

Rein ionisch, z.B. Na – Cl

Rein Metallisch, z.B. Cu – Cu

H – Bindung, z.B. H2O – H2O

Van-der-Waals, z.B. Wachse; viele Polymere

Kovalent / ionisch, z.B. Al2O3; Si3N4

180

9 – 21

15 – 40

2

1

1000

30 – 70

30 – 150

8

2

200 - 300

Vergleicht man die berechneten E-Modul-Werte mit gemessenen Werten, stellt man für

Metalle und keramische Werkstoffe durchaus akzeptable Übereinstimmungen fest. Die

Vorstellung einer Federauslenkung beschreibt die Steifigkeit in diesen Werkstoffen also ganz

gut. Eine Reihe von Polymeren und Gummiarten haben aber E-Moduln, die bis zu 100 mal

kleiner als der kleinste berechnete sind.

Dieses Phänomen hängt damit zusammen, dass Gummi wie viele weitere Polymere aus

langen spagettiähnlichen Kohlenstoffketten zusammengesetzt ist. Außerdem liegen die Ketten

kreuzweise übereinander. Die Kreuzverbindungen sind wie bei den Bindungen entlang der

Ketten kovalente, also sehr steife Bindungen. Sie tragen jedoch zur Gesamtsteifigkeit nur

wenig bei. Vielmehr sind es die viel weicheren Van-der-Waals-Bindungen, die sich dehnen,

wenn die Struktur belastet wird. Der Gesamtmodul resultiert also in der Hauptsache aus den

Van-der-Waalschen-Bindungen und nicht von den kovalenten Bindungen.

Bei tiefen Temperaturen entsprechen die beobachteten Moduln dem für diese Bindungsart

berechneten Wert von knapp 1 GN/m2. Sobald sich Gummi auf Raumtemperatur erwärmt,

schmelzen die Van-der-Waals-Bindungen. Tatsächlich ist die Bindungssteifigkeit eines

Stoffes proportional zu seinem Schmelzpunkt. Aus diesem Grund hat auch Diamant den

Page 17: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 17 -

höchsten Schmelzpunkt und den höchsten E-Modul (Abb. 2.1.13).

Anstieg des E-Moduls in Polymeren mit zunehmender Dichte an kovalenten Bindungen [4]

Abb. 2.1.13

2.1.2 Die elastischen Moduln

Der E-Modul ist ein Maß für den Widerstand eines Materials gegenüber elastischer

Verformung. Werkstoffe mit kleinem E-Modul haben eine geringe Steifigkeit; wenn sie

belastet werden, geben sie stark nach (Federn, Polstermaterial, Stabhochsprungstab).

Keramische Werkstoffe haben einen sehr hohen E-Modul, bei Belastung zeigen sie nur sehr

geringe elastische Verformung. Zu weiteren Erläuterungen müssen zunächst die Begriffe

Spannung und Dehnung definiert werden.

Spannung

Eine Kraft F soll auf einen Quader wirken wie in Abb. 2.1.14 dargestellt. Die Kraft greift

durch den Quader hindurch. Sie erfährt eine Gegenkraft, die die Unterlage auf den Quader

ausübt (andernfalls würde sich der Quader bewegen). Der Unterseite kann man also eine

gleichgroße entgegen gerichtete Kraft zuschreiben. F wirkt auf alle Querschnitte des Quaders,

die parallel zur Oberfläche liegen. Der gesamte Quader befindet sich im so genannten

Spannungszustand.

Page 18: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 18 - 2.1. Elastizität

Definition der Spannungsgrößen σ und τ [4]

Abb. 2.1.14

Die Spannung σ wird angegeben durch die Kraft F geteilt durch die Querschnittsfläche S0 des

Quaders

σ =FS0

. (2.1.18)

Wird die Spannung durch eine Zugkraft senkrecht zur Oberfläche hervorgerufen, spricht man

von Zugspannung.

Wirkt die Kraft nicht normal zur Oberfläche, sondern in einem bestimmten Winkel dazu

(Abb. 2.1.14b), kann die Kraft in zwei Komponenten zerlegt werden, in eine normal zur

Oberfläche und in eine parallel dazu. Die Normalkomponente bewirkt eine reine

Zugbeanspruchung. Ihre Größe ist, wie oben, Ft/S0. Die andere Kraftkomponente Fs belastet

den Quader ebenfalls, jedoch in Form von Scherung. Die durch die Scherung erzeugte

Spannung parallel zu Fs heißt Schubspannung τ und ist gegeben durch

τ =FS

s

0

. (2.1.19)

Die Größe der Spannung ist immer gleich der Kraft geteilt durch die Fläche, auf die diese

Zugspannung σ = F/S0

Gleichgewicht bedingt Scherung

Zugspannung σ = Fl/S0

Schubspannung τ = Fs/S0

F

Page 19: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 19 -

wirkt. Gebräuchliche Einheiten sind Mega-Newton pro Quadratmeter oder auch Mega-Pascal

(MN/m2 oder MPa).

Spannungszustände [4]

Abb. 2.1.15

Man unterscheidet gewöhnlich vier Spannungszustände, die in Abb. 2.1.15 illustriert sind.

Der einfachste ist reiner Zug oder reiner Druck (wie in einer Zugvorrichtung bzw. in einer

Säule unter Druckbelastung). Die Spannung errechnet sich als Kraft geteilt durch die

Querschnittsfläche. Der zweite Spannungszustand ist der unter zweiachsigem Zug. Wenn eine

kugelförmige Hülle (z.B. ein Ballon) von innen mit Gasdruck beaufschlagt wird, wird die

Hüllenwand in zwei Richtungen gleichermaßen beansprucht. (Es gibt auch zweiachsige

Spannungszustände, in denen die beiden Zugspannungen unterschiedlich sind.) Der dritte

Spannungszustand ist der hydrostatische Druck. Hydrostatischer Druck tritt tief im Erdinnern

auf oder in großen Ozeantiefen, wo ein Festkörper von allen Seiten gleich stark

zusammengedrückt wird. Nach einer Konvention werden Spannungen positiv angegeben,

wenn es sich um Zugspannungen handelt. Drucke in Druckrichtung sind allerdings ebenfalls

positiv anzugeben, so dass sich Druck und Druckspannungen in ihren Vorzeichen

Einachsiger Zug σ = F/S0 Einachsiger Druck σ = F/S0

Zweiachsiger Zug σ = F/S0 Hydrostatischer Druck p = -F/S0

Reine Scherung τ = Fs/S0

Page 20: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 20 - 2.1. Elastizität

unterscheiden. Ansonsten ist der Druck ebenso wie die Druckspannung als Kraft geteilt durch

Fläche definiert. Der vierte Spannungszustand ergibt sich bei reiner Scherbeanspruchung.

Wenn man ein dünnwandiges Rohr verdreht, dann sind die Wandelemente reiner Scherung

unterworfen. Die Schubspannung ist einfach die Scherkraft geteilt durch die Fläche, auf die

sie wirkt. Umgekehrt ist klar, dass, wenn man eine Spannung kennt, man die Kraft auf einen

bestimmten Querschnitt berechnen kann als Spannung mal Fläche.

Dehnung

Werkstoffe, auf die eine Spannung wirkt, dehnen sich. Steife Werkstoffe (wie Stahl) dehnen

sich nur wenig, nachgiebige Werkstoffe (wie Polyethylen) mehr. Dieser Sachverhalt drückt

sich im E-Modul aus. Aber bevor wir diesen angeben können, definieren wir zunächst, was

Dehnung ist.

1. Eine Zugspannung ruft eine Dehnung in Zugrichtung hervor. Wenn ein zugbeanspruchter

Würfel mit Ausgangskantenlänge l (Abb. 2.1.16) sich um den Betrag u parallel zur

Zugrichtung verlängert, definieren wird die zugehörige Dehnung als

ε nu

=l

. (2.1.20)

Dabei wird der Würfel gewöhnlich auch dünner. Das Verhältnis, um das er sich

zusammenzieht, heißt Poissonzahl oder Querkontraktionszahl ν. ν gibt das negative

Verhältnis von Querschnittsverminderung zu Längsdehnung an:

ν = - Querkontraktion/Längsdehnung.

Page 21: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 21 -

Definition der Dehnungsgrößen: εn, γ und Δ [4]

Abb. 2.1.16

2. Eine Schubspannung bewirkt eine Scherung. Wenn ein Würfel um den Betrag w

geschert wird, definiert sich die Scherung als

γ θ= =Wl

tan , (2.1.21)

wobei θ der Scherwinkel ist (Abb. 2.1.16). Da elastische Dehnungen i.a. sehr klein sind,

können wir in guter Näherung auch schreiben

γ θ= . (2.1.22)

3. Hydrostatischer Druck führt zu einer Volumenänderung, die auch Kompression genannt

wird. Bei einer Volumenänderung ΔV eines Würfels mit Volumen V ist die

Kompression definiert als

ΔΔ

=V

V. (2.1.23)

Dehnungen sind dimensionslos, da sie ein Verhältnis angeben.

technische Längenänderungεn = u / l

technische Querkontraktionεn = -v / l

Poissonzahl, ν = - Querdehnung / Längsdehnung

Kompression (Verdichtung) Δ = ΔV / V ΔV

technische Scherung γ = w / l = tan θ = θ für kleine Dehnungen

V − ΔV pp

p

p

l

w

σ

w

σ

τ

τ

u/2

u/2

v/2-v/2

Page 22: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 22 - 2.1. Elastizität

Das Hookesche Gesetz

Die mathematischen Zusammenhänge zwischen Spannungen und Dehnungen sind bereits um

1680 vom englischen Physiker HOOKE aufgrund von Experimenten beschrieben worden

(unabhängig von ihm auch vom französischen Physiker MARIOTTE um die gleiche Zeit).

Das heute noch für die Elastizitätslehre fundamentale HOOKEsche Gesetz ist bei festen

Körpern bis zur Grenze der Proportionalität zwischen Normalspannungen und Dehnungen im

elastischen (reversiblen) Bereich anwendbar.

Das Hookesche Gesetz stellt zunächst eine Beschreibung einer experimentellen Beobachtung

dar, nämlich, dass für kleine Dehnungen die Dehnung der angelegten Spannung mit sehr guter

Näherung proportional ist. So ist z.B. die Dehnung nominal zur Zugrichtung der angelegten

Zugspannung proportional:

σ ε= E n , (2.1.24)

wobei E der E-Modul ist. Die gleiche Beziehung gilt natürlich auch für Spannung und

Dehnung in Druckrichtung.

Auch die Scherung ist proportional zur Schubspannung:

τ γ= G (2.1.25)

mit G als Schubmodul.

Und schließlich ist die Kompression Δ proportional zum Druck:

p K= Δ; (2.1.26)

K heißt Kompressionsmodul.

Da die Dehnung dimensionslos ist, müssen die Moduln die gleiche Dimension wie die

Spannung haben: Kraft pro Fläche (N/m2). In der Praxis ist man übereingekommen, die

Moduln in Einheiten von Giga-Newton pro Quadratmeter anzugeben (GN/m2 oder GPa). Ein

Page 23: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 23 -

Giga-Newton sind 109 Newton.

Mit der linearen Beziehung zwischen Spannung und Dehnung lässt sich die Reaktion eines

Festkörpers auf eine angelegte Spannung im linear-elastischen Bereich auf einfache Weise

berechnen. Jedoch muss man sich im Klaren darüber sein, dass die meisten Festkörper nur bis

zu sehr kleinen Dehnungen elastisch reagieren (bis etwa 0,1%). Bei höheren Dehnungen

verformen sich die meisten Werkstoffe plastisch, andere wiederum brechen spröde. Aber

davon soll noch in späteren Kapiteln die Rede sein. Einige wenige Festkörper, wie etwa

Gummi, sind noch bei Dehnungen von mehreren 100% elastisch. Jedoch hören sie schon nach

etwa 1% auf, linear-elastisch zu sein, d.h. die Spannung ist dann der Dehnung nicht mehr

direkt proportional.

Die Poissonzahl als das negative Verhältnis von Querkontraktion und Längsdehnung ist eine

dimensionslose elastische Konstante. Insgesamt verfügt man also über vier elastische

Konstanten: E, G, K und ν. Dabei ist es aber nützlich zu wissen, dass für zahlreiche Metalle

gilt

K = E, (2.1.27 a)

G = 38

E, (2.1.27 b)

ν = 0,33. (2.1.27 c)

Gleichwohl können für viele Stoffe diese Beziehungen ungleich komplizierter ausfallen.

Page 24: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 24 - 2.1. Elastizität

Der E-Modul nach Werkstoffgruppen [4]

Abb. 2.1.17

Die Elastizitätsmoduln polymerer Werkstoffe sind im allgemeinen kleiner als diejenigen von

Metallen. Höchste Elastizitätsmoduln besitzen carbidkeramische Werkstoffe (Abb. 2.1.17).

Mit der Temperatur nehmen alle elastischen Eigenschaftskenngrößen in der Regel ab, weil sie

von der Stärke der atomaren Bindung abhängen. Da diese infolge der mit wachsender

Page 25: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 25 -

Temperatur zunehmenden mittleren Atomabstände im allgemeinen abnimmt, zeigen auch z.B.

die Elastizitätsmoduln mit steigender Temperatur fallende Tendenz (Abb. 2.1.18).

Temperaturabhängigkeit von Elastizitätsmoduln keramischer und metallischer Werkstoffe [5]

Abb. 2.1.18

Dieser Zusammenhang zwischen Bindung und elastischen Eigenschaftskenngrößen ist es

auch, der Elastizitätsmodul und Schmelzpunkt korreliert. So haben beispielsweise

hochschmelzende Werkstoffe i.a. auch hohe Elastizitätsmoduln. Für Metalle ist dies in Abb.

2.1.19 wiedergegeben.

Schmelzpunkt und Elastizitätsmodul von Metallen [5]

Abb. 2.1.19

Page 26: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 26 - 2.1. Elastizität

Die Veränderung der Konzentration der Komponenten in einem mehrkomponentigen

Werkstoff oder die Lösung einer zweiten Bausteinart in einem Einkomponentenwerkstoff

führt immer zu einer Veränderung der Bindungskräfte. Dies kann allerdings sowohl zu einer

Erhöhung als auch zu einer Erniedrigung der elastischen Eigenschaftskenngrößen führen

(Abb. 2.1.20).

Beziehung zwischen E-Modul und Zustandschaubild von Mg-Sn-Legierungen [5]

Abb. 2.1.20

Durch die Gefügestruktur werden die elastischen Eigenschaftskenngrößen einphasiger

Werkstoffe dann beeinflusst, wenn in polykristallinen Werkstoffen die Kristallite

Vorzugsorientierungen haben. Der Elastizitätsmodul eines Einkristalls z.B. ist anisotrop, da

die Bindungen in den verschiedenen Richtungen unterschiedlich stark sind. Besitzen die

Kristallite im polykristallinen Werkstoff eine Orientierung (Textur), so ist auch der

Elastizitätsmodul des polykristallinen Werkstoffes anisotrop. Ein ähnliches Verhalten ist bei

amorphen einphasigen Werkstoffen denkbar, wenn bestimmte Bindungen bevorzugt in

bestimmte Richtungen wirken.

Page 27: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 27 -

Verbundwerkstoffe

Verbundwerkstoffe weisen häufig höhere Moduln auf als die Matrix. Verbundwerkstoffe

verhalten sich außerdem mechanisch ausgesprochen anisotrop. Z.B. beträgt der E-Modul von

Holz längs der Faser etwa 10 GN/m2, quer dazu jedoch nur etwa 10% davon.

Zur Bestimmung des E-Moduls von faserverstärkten Verbundwerkstoffen gibt es eine

einfache Methode. Nimmt man an, dass ein Verbundwerkstoff mit einem Volumenanteil Vf

an Fasern längs zur Faser beansprucht wird (Abb. 2.1.21a) und geht man davon aus, daß sich

Fasern (f) und Matrix (m) gleichviel dehnen, dann ist die Spannung, die dem Werkstoff

aufgeprägt wird,

σ σ σ

ε ε

= + −

= + −

V V

V E V E

f f f m

f f n f m n

( )

( ) .

1

1 (2.1.28)

Da aber der Gesamtmodul EVwst = σ/εn ist, können wir andererseits schreiben

E V E V EVwst f f f m= + −( )1 . (2.1.29)

Diese Beziehung stellt offenbar eine obere Grenze des E-Moduls unseres Faserverbundwerk-

stoffes dar. Größer als dieser Wert kann EVwst nicht werden.

Belastet man den Verbundwerkstoff quer zur Faser (Abb. 2.1.21b) dann sieht man, dass die

Spannungen in den beiden Komponenten gleich sind und nicht die Dehnungen. In diesem Fall

ergibt sich dann die Gesamtdehnung als die mit dem Volumenanteil gewichtete Summe der

Einzeldehnungen:

ε ε ε

σ σn f n f f nm

ff

fm

V V

VE

VE

= + −

= + −

( )

( )

1

1. (2.1.30)

Aus Evwst = σε n

berechnet sich ein Gesamtmodul von Evwst = 11V

EV

Ef

f

f

m

+−

. (2.1.31)

Page 28: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 28 - 2.1. Elastizität

Unterschiedliche Belastung eines faserverstärkten Verbundwerkstoffes zur Erzielung eines

(a) maximalen E-Moduls (b) minimalen E-Moduls [4]

Abb. 2.1.21

Abb. 2.1.22, die die beiden Beziehungen 2.1.29 und 2.1.31 in grafischer Darstellung

gegenüberstellt, macht deutlich, dass faserverstärkte Werkstoffe ihren größten Zuwachs an

Steifigkeit haben, wenn man sie längs zur Faser belastet. Quer zur Faser steigt der

Gesamtmodul erst nennenswert an, wenn der Faseranteil schon relativ groß ist.

Faserverbundwerkstoffe verhalten sich also in der Tat sehr anisotrop.

E-Modul von Verbundwerkstoffen mit verschiedenen Volumenanteilen an Steifmachern [4]

Abb. 2.1.22

Auch Poren können prinzipiell als zweite Phase betrachtet werden. Der Einfluß der Porosität

auf den E-Modul ist mit folgenden Gleichungen beschrieben worden:

E E e bP= −0 . (2.1.32)

Page 29: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 29 -

Dieser Zusammenhang ist in Abb.2.1.23 graphisch dargestellt.

Relativer E-Modul von Al2O3 in Abhängigkeit der Porosität [8]

Abb. 2.1.23

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der E-Modul von Metallen, keramischen

Werkstoffen und glasartigen Kunststoffen bei Temperaturen unterhalb Tg der Steifigkeit der

Atombindungen entspricht. Gläser und glasartige Kunststoffe werden oberhalb Tg leder- oder

gummiartig bzw. verwandeln sie sich in viskose Flüssigkeiten, wobei der Modul stark

abnimmt. Die Moduln von Verbundwerkstoffen stellen ein gewichtetes Mittel der Moduln der

einzelnen Komponenten dar. Besteht die zweite Komponente in Form von regellos verteilten

kompakten Teilchen, so ist die Theorie dazu sehr komplex. Allerdings ist es z.B. sehr

preiswert, Sand in einer Polymermasse einzubringen, anstatt dünne Glasfasern feinsäuberlich

darin auszurichten. Der Modulgewinn durch Teilchenzusätze ist wirtschaftlich also durchaus

lohnend. Außerdem verhält sich der Werkstoff mechanisch isotrop. Man findet derartige

Werkstoffe in Automodellen als Stoßstangen, Kühlergrill oder als Auskleidung von

verschleißbeanspruchten Oberflächen.

2.1.3 Das Spannungs-Dehnungs-Diagramm

Trägt man die Spannungen mit den zugehörigen Dehnungen oder entsprechenden

Formänderungen wie Stauchungen oder Schiebungen in Prozent der Ausgangslänge in ein

Diagramm ein (Spannungs-Dehnungs-Diagramm), so ergibt sich eine charakteristische Kurve

(Abb. 2.1.24).

Page 30: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 30 - 2.1. Elastizität

Spannungs-Dehnungs-Kurve einer Aluminium-Legierung [23]

Abb. 2.1.24

Da Spannungen spezifische Kräfte (N/m2), Dehnungen (m/m) dagegen von diesen Kräften

zurückgelegte Wege darstellen, entspricht die Fläche unter dieser Kurve der

Formänderungsarbeit (Volumenarbeit = Formänderungsenergie in Nm/m3).

Bei den mit zunehmender Spannung auftretenden Formänderungen lassen sich drei Stadien

unterscheiden:

1. das elastische Stadium: die Formänderung ist reversibel; sie verschwindet, wenn die

Krafteinwirkung aufhört, und zwar

− entweder unmittelbar, d.h. zeitunabhängig (spontanelastisches Verhalten)

− oder nach einer gewissen Zeit (viskoelastisches Verhalten)

2. das plastische Stadium: die Formänderung ist irreversibel; sie bleibt auch nach

Beendigung

der Krafteinwirkung erhalten und wird erreicht

− entweder unmittelbar mit Aufbringung der Kraft, d.h. zeitunabhängig

(spontanplastisches Verhalten)

− oder nachdem die Kraft bereits eine zeitlang eingewirkt hat (viskoplastisches

Verhalten)

Page 31: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 31 -

3. das Bruchstadium: der Werkstoff wird in makroskopische Bereiche getrennt, was sowohl

unmittelbar im Anschluss an eine elastische Formänderung als auch an eine elastische

und

plastische Formänderung erfolgen kann.

Im Spannungs-Dehnungs-Diagramm steigen Spannung und Dehnung zunächst proportional

an. Erfolgt unterhalb der Streckgrenze Entlastung, so kehrt der Körper in den völlig

spannungsfreien und dehnungsfreien Zustand zurück. Bei der Streckgrenze beginnt das

plastische Fließen, ohne dass die Spannung wesentlich ansteigt, bis zum Bruch. Nimmt man

die Belastung vor dem Bruch zurück, geht der reversible Anteil der bisher erfolgten

Gesamtdehnung zurück. Der plastische Anteil der Gesamtdehnung stellt die „bleibende

Dehnung“ dar.

Die Streckgrenze teilt das Widerstandsverhalten eines Werkstoffs in einen elastischen und

einen plastischen Bereich. Wenn die Spannungsbeanspruchung die Streckgrenze übersteigt,

setzen Bewegungsvorgänge von Versetzungen ein; das Material wird plastisch verformt.

Dieses Verhalten wird bei den meisten metallischen Werkstoffen beobachtet.

Bei keramischen Materialien wird bei Raumtemperatur vor erreichen der Streckgrenze bereits

die Bruchfestigkeit erreicht. Der Werkstoff bricht daher spröde, also ohne jegliche plastische

Verformung (Abb. 2.1.25).

Vergleich des Spannungs-Dehnungs-Verhaltens

von Materialien unterschiedlicher Duktilität [23]

Abb. 2.1.25

Dies ist der Grund, warum eine Porzellantasse, wenn sie auf eine Steinplatte fällt, in viele

Page 32: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 32 - 2.1. Elastizität

Scherben zerspringt, ein Blechbecher dagegen nur eine Beule erhält, ansonsten aber

einigermaßen „funktionsfähig“ bleibt. Dieses Verhalten hat beim Konstruieren mit

keramischen Werkstoffen unter mechanischer Belastung erhebliche Konsequenzen (siehe

auch Kapitel 2.3 und 2.4)

2.1.4 Messung des E-Moduls

Zur Bestimmung des E-Moduls kann man z.B. einfach einen Block eines Materials mit einer

bestimmten Kraft zusammendrücken und die resultierende Dehnung (Stauchung) messen. Der

E-Modul ist dann gegeben durch die Beziehung E = σ/εn. Häufig wird auch die Durchbiegung

eines Probestabes in 3 Punkt- oder 4 Punkt- Biegeversuch ermittelt und in eine Dehnung bzw.

in den E-Modul umgerechnet.

Bei sehr großem E-Modul, wie bei Keramik üblich, ist die Längenänderung häufig zu klein,

um mit hinreichender Genauigkeit gemessen zu werden. Auf der anderen Seite kann der Wert

auch durch andere Beiträge verfälscht sein, etwa durch Kriechvorgänge (auf die wir in einem

späteren Kapitel noch zu sprechen kommen).

Eine wesentlich bessere Methode beruht auf der Messung der Eigenschwingungsfrequenz

eines Stabes, der an seinen Enden auf zwei Lagern aufliegt und in der Mitte von einem

Gewicht M in Schwingung versetzt wird, welches groß sein muß im Verhältnis zum

Eigengewicht des Stabes. Die Schwingungsfrequenz f eines Stabes der Länge l und des

Querschnitts π·d2/4 ergibt sich (in Schwingungen pro Sekunde (Hertz)) als

f EdM

=1

234

4

3ππl

. (2.1.33)

Der E-Modul bestimmt sich zu

E M fd

=16

3

3 2

4π l . (2.1.34)

Durch den Gebrauch eines Stroboskopes sowie sehr sorgfältig konstruierter Aufbauten führt

Page 33: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 33 -

diese Methode schon zu recht genauen Ergebnissen.

Die beste Methode zur Messung von E erfolgt zweifellos über die Messung der

Schallgeschwindigkeit in einem Material. Die Geschwindigkeit vl von Longitudinalwellen

hängt vom E-Modul und der Dichte in folgender Form ab:

v El =

ϕ (2.1.35)

vl wird gemessen, indem man einen Stab an einem Ende „anstößt“ (durch Anlegen einer

Ladungsdifferenz zwischen einem auf das Stabende geklebten Piezokristall und dem Stabende

selbst) und die Zeit misst, die der Schall benötigt, um am anderen Ende anzukommen

(ebenfalls über einen Piezokristall).

Page 34: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 34 - 2.2 Anelastizität / Innere Reibung

2.2. Anelastizität / Innere Reibung

Alle realen Werkstoffe verhalten sich in Wirklichkeit auch bei kleinen Verformungen nicht

nach den Voraussetzungen der Elastizitätstheorie. Das bedeutet, sie folgen nicht der strengen

Gültigkeit des Hookeschen Gesetzes mit der zeitunabhängigen Proportionalität zwischen

mechanischen Spannungen und Dehnungen. Auch bei sehr kleinen Verformungen treten nach

dem zeitlichen Ende einer Krafteinwirkung auf ein Werkstück bleibende und auch

zeitabhängig nachwirkende Verformungen auf. Entsprechend sind die elastischen Konstanten

(E-Modul, Schubmodul, Querkontraktionszahl, Kompressibilität) nicht zeitunabhängig.

Der mit dynamischen, d.h. durch Schwingungsmethoden gemessene E-Modul zeigt

typischerweise eine Zunahme mit verwendeter Messfrequenz. Bei keramischen Werkstoffen

sind die Effekte bei Raumtemperatur sehr gering, so dass sie mit statischen Methoden nur

schwer nachweisbar sind. Bei Raumtemperatur sind verlässliche Aussagen nur mit besonders

empfindlichen Methoden der Schwingungsdämpfung mit dynamischer Belastung möglich.

Folgende Gründe sind für die stofflich bedingten Ursachen der Relaxation (hierunter wird die

durch innere Energieumsetzungen im Festkörper [innere Reibung] verzögerte Einstellung

eines neuen Gleichgewichtszustandes bei Einwirkung oder Aufhebung äußerer Kräfte

verstanden) in ein- oder polykristallinen Werkstoffen verantwortlich:

a) Wärmeaustausch mit der Umgebung durch Ausbildung von Temperaturunterschieden

bei verschiedenen Spannungszuständen.

b) Platzwechsel von beweglichen Einzelbausteinen, die auf Zwischengitterplätzen zu einer

Gitterverzerrung führen.

c) Orientierungssprünge von Punktfehlerpaaren (z.B. Leerstellen). d) Versetzungsbewegungen. e) Kristallumwandlungen. f) Korngrenzengleitvorgänge. g) Schmelzen von kristallinen Anteilen. h) Poren, innere Oberflächen, Grenzflächen.

Page 35: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 35 -

2.2.1 Verhalten bei statischer Beanspruchung

Hierbei unterscheidet man die Verhaltensweise eines linearen Standardkörpers unter

statischer Beanspruchung bei Vorgabe von konstanter Last oder konstanter Dehnung (Abb.

2.2.1).

Verhalten des linearen Standardkörpers [1]

Abb. 2.2.1

σ0 = Spannung zur Zeit 0, ε0 = Dehnung zur Zeit 0, εu = Anfangsdehnung, σu= Angangsspannung, εf = Dehnung nach einer gewissen Zeit, σR = Spannung nach einer gewissen Zeit, Eu = unrelaxierter Modul, Ef und ER = Modul nach einer gewissen Zeit

Zur Zeit t = 0 wird schlagartig die Spannung σ0 an die Modellschaltung angelegt, wobei die

Dehnung von einem Anfangswert σ0/Eu auf einen Endwert zunimmt. Aus der Abbildung 2.2.1

wird deutlich, dass man zwei Dehnungen angeben kann, εu aus der sofortigen Ablesung und εf

nach einer gewissen Wartezeit. Bringt man zur Zeit t = 0 die Dehnung ε0 auf und hält diese

konstant ( &ε = 0), so relaxiert die Spannung von einem Höchstwert, gegeben durch den

unrelaxierten Modul nach einer Exponentialfunktion, auf einen niedrigeren Endwert.

Bei konstanter Spannung ergibt sich

t = 0t = 0

t = 0 t = 0

t

t

t

t

a) beim Fließversuch, b) beim Spannungsrelaxationsversuch

Page 36: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 36 - 2.2 Anelastizität / Innere Reibung

εσ

σ τσ( )t

u u fE E Ee= + ⋅ −

⎛⎝⎜

⎞⎠⎟⋅

−0

11 1

. (2.2.1)

Bei konstanter Dehnung ergibt sich

σ ε ετ

( ) ( )t u u R

t

E E E e M= ⋅ + ⋅ − ⋅−

0 0 . (2.2.2)

τσ ist die Retardationszeit bei vorgegebener Spannung, τM die Relaxationszeit bei Vorgabe der

Deformation.

2.2.2 Verhalten unter dynamischer Beanspruchung

Zyklisch wechselnde Beanspruchungen sind für die Werkstoffforschung zur Erfassung auch

kleiner innerer Energiedissipationen von Interesse, da diese in der Amplitude kleingehalten

und aus der Phasenlage und Amplitudengröße systematische Schlüsse gezogen werden

können. Legt man z.B. eine sinusförmige Spannung an einen Standardkörper an und führt

diese in die Verhaltensgleichung

σ σ ω= ⋅ ⋅o tsin ( ) ( , )ω π= =2 f f Frequenz (2.2.3)

ein, ergibt sich - hier ohne Rechnung angegeben -, dass das Modell im eingeschwungenen

Zustand ein Nacheilen der ebenfalls mit gleicher Frequenz sich ändernden Deformation zeigt

(siehe auch Abb.2.2.5). Der Phasenwinkel ϕ ist von den Modellgrößen und von der Frequenz

abhängig:

tg E EE

u fϕϖτϖ τ

=−

⋅+

⎛⎝⎜

⎞⎠⎟1 2 2 (2.2.4)

bei ωτ = 1 gilt .maxtg =ϕ bei E

EE21 fu −

Für die Frequenzabhängigkeit des Elastizitätsmoduls gilt:

Page 37: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 37 -

E EE E

UU F( )ω

ωτ= −

−+1 2 (2.2.5)

mit

Mσ τττ ⋅= (2.2.6)

und E E EU F= ⋅ (2.2.7)

In Analogie zum dielektrischen Verhalten (siehe Kap.5.2) wird der Zusammenhang von

tgδ = f(ω) auch als Debye-Verhalten bezeichnet. Abb. 2.2.2 zeigt schematisch die

Frequenzabhängigkeit des Elastizitätsmoduls und des Verlustwinkels

Abhängigkeit des Elastizitätsmoduls E und des mechanischen Verlustwinkels tg ϕ von der Schwingungsfrequenz ϖ [8]

Abb. 2.2.2

Der Verlustwinkel durchläuft in einem bestimmten Messfrequenzbereich ein Maximum, aus

dessen Lage auf die dem Vorgang innewohnende typische Relaxationszeit geschlossen

werden kann. Auch der Wendepunkt im Modul-Frequenzgang ergibt – meist weniger

empfindlich – diesen Hinweis.

Zur Untersuchung der Frequenzabhängigkeit des Verlustwinkels hat sich das Torsionspendel

bewährt. Abb. 2.2.3 zeigt schematisch Aufbau und Wirkungsweise eines umgekehrten

Page 38: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 38 - 2.2 Anelastizität / Innere Reibung

Torsionspendels. Zur Vereinfachung wurden Vakuumglocke und Ofen weggelassen. Die

Probe S besteht üblicherweise aus einem Draht oder Band mit 0,5 mm bis 1,2 mm Dicke und

40 mm bis 100 mm Länge. Entsprechend dem Prinzip des umgekehrten Pendels ist das untere

Probenende fest eingespannt. Das obere Ende ist über eine vertikale Stange A, die mit einem

Querbalken B (mit trägen Massen B1, B2) verbunden ist, über Rollen R aufgehängt. Das

Gegengewicht G wird so eingestellt, dass nur eine geringe Zugkraft nach oben (ca. 0,1 N) auf

die Probe wirkt. Mit Hilfe des Permanentmagneten P, der mit der vertikalen Achse A

verbunden ist, und dem Helmholzspulenpaar C lässt sich ein Torsionsmoment erzeugen,

womit die Probe zu Torsionsschwingungen angeregt wird. Die Schwingungen werden über

ein optisches System, bestehend aus Halogenlampe L, Spiegel M und optischem Sensor D

(Schottky Diode) aufgenommen. Der mechanische Verlustwinkel φ (bzw. tg φ =Q-1) wird

nach folgender Beziehung aus dem freien Abklingen der Torsionsspannungen bestimmt.

Q-1 = tg φ = δ / π (2.2.8)

δ = Abklingkonstante

Für höhere Dämpfungswerte ist die genauere Beziehung Q-1 = d/p(1-d/2p) zu verwenden.

Diese enthält einen Korrekturterm für die Anharmonizität der gedämpften Schwingung. Das

Torsionspendel erlaubt Messungen der inneren Reibung Q-1 (T) und der Schwingfrequenz

f(T) in Abhängigkeit von der Temperatur. Hierzu sind entsprechende Kühl- und

Aufheizeinrichtungen (mit T bezeichnet) vorhanden. Die Messfrequenz kann durch

unterschiedliche träge Massen (B1, B2) im Bereich von etwa 0,5 Hz bis 20 Hz variiert werden.

Torsionspendel[10] Abb. 2.2.3

Page 39: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 39 -

(2.2.9)

Eine periodisch mit einer Sinusfunktion angeregte linear-viscoelastische Probe ergibt eine

Verformungsantwort im Sinne einer gleichen Frequenz nur mit einer Phasenverschiebung

(Abb.2.2.4). Man kann auch die Verformung als Abszisse und die sich einstellende Kraft als

Ordinate abbilden. Die letztere Verfahrensweise führt nach dem Einschwingvorgang zu einer

Hystereseschleife, die sich als Ellipse ausbildet und deren Flächeninhalt ein Maß für die

Energieverluste je Zyklus im zu prüfenden Material darstellt. In Abb. 2.2.4 sind einige

typische Hystereseschleifen der Wechsellastprüfung dargestellt. Untersuchungstechniken

dieser Art wurden von Astbury für die Kennzeichnung von Ton/Wasser-Mischungen

herangezogen.

Phasenverschiebung bei erzwungenen Schwingungen [1]

Abb. 2.2.4

Temperatureinfluss auf das anelastische Verhalten

Die Temperaturabhängigkeit der Anelastizität wird üblicherweise bei konstanter Frequenz

verfolgt. Das experimentelle Problem besteht in der Realisierung einer störungsfreien

Halterung der Prüfkörper in einem Ofen und der temperaturbeständigen Zuführung der

Erzwungene Schwingungen führen im eingeschwungenen Zustand bei linear viskoelastischen Verhalten zu einer Phasenverschiebung von Spannungs- und Dehnungsfunktion, die in der Auftragung gegeneinander eine elliptische Hysteresisschleife mit schräger Hauptachse ergeben. c) zeigt ideal-elastisches Verhalten an, d) reinviskose Flüssigkeit mit waagerechter Hauptachse der Hysteresisellipse, e) nichtlineares Verhalten eines Ton/Wasser-Gemisches

Page 40: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 40 - 2.2 Anelastizität / Innere Reibung

Schwingungsanregung und Abfuhr der Amplitudeninformation. In Abb. 2.2.5 sind zwei

Versuchsaufbauten schematisch dargestellt. Da bei atomaren Vorgängen die Temperatur-

abhängigkeit der inversen Relaxationszeit nach einer Arrhenius-Beziehung

τ τ− −=−1

01 exp( )Q

RT (2.2.10)

angenommen werden darf, verschiebt steigende Temperatur die Vorgänge der inneren

Veränderungen zu kürzeren Zeiten.

Biegeschwingapparaturen zur Resonanzerregung von Prüfstäben bis zu 1400°C [1]

Abb. 2.2.5

Die Zunahme der Atomabstände mit steigender Temperatur und die damit verbundene

abnehmende Attraktion der Gitterbausteine führt zu einer Abnahme des E-Moduls mit

steigender Temperatur. Der Effekt der Anelastizität äußert sich in einer Stufe innerhalb einer

abfallenden Kurve. Wesentlich empfindlicher erfassbar ist das bei der gleichen Temperatur

des Wendepunkts des ΔE-Effekts auftretende Maximum der Verlustgrößen. Bild??? Meist

erlaubt erst die Hinzunahme der Dämpfungsmessung eine eindeutige Zusage, ob ein

Relaxationsvorgang mit thermisch aktiviertem Zeitverhalten vorliegt.

links: Starre Ankopplung mit Hilfe dünner Oxidkeramikstäbe (geeignet für Werkstoffe mit hoher Ausgangsdämpfung) rechts: Ankopplung mit Schallwellen (für Werkstoffe mit geringer Eigendämpfung)

Page 41: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 41 -

Messungen der mechanischen Verluste von TZP-2-Mol% Y2O3 3Hz, 3kHz [10] Abb. 2.2.6

Abbildung 2.2.6 zeigt Messungen der mechanischen Verluste von TZP-2-Mol% Y2O3 für

Messfrequenzen von 3 Hz (Torsionsschwingungen) und 3 kHz (Biegeschwingungen).

Die Probenabmessungen betrugen 50 x 50 x 1 mm³. Der mechanische Verlustwinkel wurde

aus der Dämpfung von abklingenden Schwingungen bestimmt und ist in Abhängigkeit von

der Temperatur aufgetragen. Die Messungen zeigen ein ausgeprägtes Maximum, dessen

Temperaturlage frequenzabhängig ist (370 K bzw. 480 K).

Page 42: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 42 - 2.3 Bruchverhalten

2.3. Bruchverhalten

2.3.1 Theoretische Festigkeit fester Körper

Ein fester Körper wird durch Bindungskräfte zwischen den Atomen zusammengehalten. Dies

ist schematisch in Abb. 2.3.1 an einem Ausschnitt aus einem idealen Kristallgitter dargestellt.

Eine Zerstörung der Bindungen längs einer Gitterebene (angedeutet durch die Schlangenlinie

in Abb. 2.3.1) hat eine Zertrennung des festen Körpers zur Folge, die mit einer Schaffung

neuer Oberflächen verbunden ist.

Zur mikrostrukturellen Erklärung des Bruchvorgangs [9]

Abb. 2.3.1

Als theoretische oder ideale Zerreißfestigkeit (Kohäsionsfestigkeit) bezeichnet man die

Spannung, die erforderlich ist, um die Atome längs dieser Gitterebene voneinander zu

trennen.

Page 43: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 43 -

Zwischenatomare Energie und Kraftverteilung [9]

Abb. 2.3.2

In Abb. 2.3.2 ist die potentielle Energie der Wechselwirkung zwischen zwei Atomen im

Kristallgitter in Abhängigkeit von ihrem Abstand, sowie der sich daraus ergebende Verlauf

der Kohäsionskraft dargestellt. Der atomare Abstand d für die Gleichgewichtslage der Atome

entspricht dem Minimum der potentiellen Energie (Abb. 2.3.2 a).

Die Verschiebung aus dem Gleichgewichtsabstand d sei x, dann ist σth die maximale

Spannung, die aufgebracht werden muss, um die Atome zu trennen. Man bezeichnet diese

Spannung als theoretische Zerreißfestigkeit oder Kohäsionsfestigkeit (Abb. 2.3.2 b).

Gemäß Abb. 2.3.2 c kann die Kraft- Abstandskurve durch eine Sinuskurve

λπx2sinσσ th= (2.3.1)

approximiert werden. Für kleine Verschiebungen x gilt näherungsweise

λπx2σσ th= (2.3.2)

Page 44: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 44 - 2.3 Bruchverhalten

(linearer Anstieg der Kurve in Abb. 2.3.2 c), andererseits ist nach dem Hookeschen Gesetz

dxEσ = (2.3.3)

wobei E den Elastizitätsmodul bedeutet. Aus den letzten beiden Gleichungen folgt

dπ2λEσ th

⋅= (2.3.4)

und eine Berechnung von σth ist möglich unter der Annahme, dass die gesamte zur Trennung

der Atome aufgebrachte Arbeit in Oberflächenenergie übergeht. Es wird also nur elastische,

keine plastische Formänderung in Betracht gezogen.

Die Arbeit beim Auseinanderreißen der Atome pro Flächeneinheit ergibt sich als die

schraffierte Fläche unter der Kurve in Abb. 2.3.2 c), sie wird vollständig in

Oberflächenenergie der zwei neugebildeten Oberflächen übergeführt. Es gilt also

∫=

==2/

00

th γ2πλσ

xσλ

x

d (2.3.5)

wobei γ0 die spezifische Oberflächenenergie (Oberflächenenergie pro Flächeneinheit)

bedeutet.

Setzt man λ = 2 γ0 π / σth in Gleichung 2.3.4 ein, so folgt

σγ

thE

d=

⋅ 0 (2.3.6)

zur Abschätzung der theoretischen Zerreißfestigkeit kristalliner Körper.

Die spezifische Oberflächenenergie γ0 ist eine Größe, die gemessen werden kann, sie beträgt

größenordnungsmäßig

γ0 ≈ 10-4 MPa·cm

Page 45: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 45 -

für Metalle und keramische Materialien. Mit den weiteren Daten E ≈ 100 GPa sowie d ≈

2.5. 10-8 cm ergibt sich eine theoretische Zerreißfestigkeit

σth = 2 · 104 MPa, d.h. σth ≈E5

Demgegenüber liegen gemessene Zerreißfestigkeiten fester Körper um zwei bis drei

Größenordnungen niedriger. Sehr große Festigkeiten werden z.B. ermittelt bei

Klavierseitendraht E70

, Eisenwhisker E25

Wolframdraht E50

, Silicawhisker E4

Die gemessenen Zerreißfestigkeiten normaler fester Körper sind im allgemeinen geringer. Die

Unterschiede zwischen gemessenen und theoretischen Festigkeiten werden durch das

Vorhandensein von Fehlordnungen im Kristallgitter, durch Gefügefehler wie beispielsweise

Korngrenzen oder durch das Auftreten anderer Bruchmechanismen z.B. infolge plastischer

Verformung erklärt.

Da die Größe derartiger Gefügefehler statistisch verteilt ist, beobachtet man auch eine

Streuung der gemessenen Festigkeitswerte keramischer Werkstoffe (Abb. 2.3.3, siehe auch

Kap.2.3.2).

Auf die statistische Verteilung von Gefügefehlern und die damit verbundene Streuung der

Festigkeit wird an anderer Stelle ausführlich eingegangen. Typische Festigkeitswerte einiger

keramischer Werkstoffe zeigt Tabelle 2.3.1. Typische Bruchflächenenergien von Einkristallen

sind aus Tabelle 2.3.2 ersichtlich.

Page 46: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 46 - 2.3 Bruchverhalten

Festigkeit einiger spröder Werkstoffe [8]

Abb. 2.3.3

1 Kg/cm2 ≈ 10-1 Mpa 1 Kg/mm2 ≈ 10 MPa

Festigkeit einiger keramischer Werkstoffe [8]

Tab. 2.3.1

(psi = 0,006895MPa)

Page 47: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 47 -

Bruchflächenenergie von Einkristallen [8]

Tab. 2.3.2

(1 erg/cm2 = 10-1 Pa·cm)

2.3.2 Grundlagen der Bruchmechanik

Der Bruch von keramischen Werkstoffen geht von Fehlern aus. Diese können während der

Werkstoffherstellung in Form von Poren, Rissen oder Einschlüssen oder während der

Oberflächenbearbeitung entstehen. Das Versagen erfolgt durch die Ausbreitung von Rissen,

die von diesen Fehlern ausgehen. Die Sprödigkeit der keramischen Werkstoffe wird durch

den geringen Widerstand gegen die Rissausbreitung verursacht. Die große Streuung der

mechanischen Eigenschaften ist auf die Streuung der Fehlergröße zurückzuführen. Die

Bruchmechanik befasst sich mit den Gesetzmäßigkeiten der Ausbreitung von Rissen. Dabei

wird von der Idealvorstellung eines flächenhaften Fehlers mit einer unendlich scharfen Spitze

ausgegangen. Ein solcher Fehler wird als Riss bezeichnet. Reale Fehler dagegen sind häufig

Volumenfehler.

Für die Belange der Bruchmechanik sind die singulären Spannungsfelder in der Umgebung

einer Rissspitze von grundlegender Bedeutung. Die Stärke dieser Spannungsfelder lässt sich

mit einem einzigen Faktor, der nur von der Geometrie der Rissanordnung und der äußeren

Belastung abhängt, kennzeichnen.

Page 48: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 48 - 2.3 Bruchverhalten

Nach Irwin lassen sich drei grundlegende Arten des Rissöffnungsverhaltens festlegen, die drei

voneinander unabhängigen Bewegungsmöglichkeiten der beiden Rissoberflächen

gegeneinander entsprechen (Abb. 2.3.5).

Die drei grundlegenden Rissöffnungen I, II, III [9]

Abb. 2.3.5

Der Fall 1 ist charakteristisch für Zugbelastung, wenn sich die Rissoberflächen bezüglich der

Rissebene symmetrisch voneinander entfernen.

Der Fall 2 tritt bei ebener Schubbelastung in Rissrichtung auf.

Der Fall 3 entspricht dem nicht ebenen Schubspannungszustand. Die Rissoberflächen werden

quer zur Rissrichtung gegeneinander verschoben. Dies tritt bei Schub- und

Torsionsproblemen auf.

Außenriss in Platte [10]

Abb. 2.3.6

Page 49: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 49 -

In Abb. 2.3.6 wird der Außenriss der Länge a in einer Platte der Dicke B und der Breite W

betrachtet. Die wichtigste Beanspruchung ist die Belastungsart 1, also Zugbeanspruchung

senkrecht zur Rissebene.

Ein Punkt vor der Rissspitze wird durch die Koordinaten x und y oder r und θ charakterisiert.

Der Verlauf der Spannungen in Rissspitzennähe bei Belastungsart 1 ist gegeben durch

σπ

θ θ θx

IKr

= −2 2

12

32

cos ( sin sin ) (2.3.7 a)

σπ

θ θ θy

IKr

= +2 2

12

32

cos ( sin sin ) (2.3.7 b)

τπ

θ θ θxy

IKr

=2 2 2

32

sin cos cos (2.3.7 c)

σz = 0: für z = + B/2 und z = - B/2 (am Probenrand, Abb. 2.3.6) ebener Spannungszustand (ESZ)

σz = ν (σx + σy): in der Mitte genügend dicker Proben - ebener Dehnungszustand (EDZ)

Für die Belastungsarten II und III sind die Gleichungen wesentlich kompliziertr. KI ist der

Spannungsintensitätsfaktor, der von der Höhe der Belastung σ, der Größe des Risses a und

der Geometrie des Bauteils Y(a, W) abhängt. Er kann geschrieben werden als

KI = σ· a ·Y(a, W) (Spannungsbetrachtung) (2.3.8)

Die Spannungen vor der Rissspitze sind also eindeutig durch die Größe des

Spannungsintensitätsfaktors KI bestimmt. Das Rissausbreitungsverhalten ist von dieser Größe

abhängig. Wird ein Bauteil oder eine Probe mit Riss belastet, dann nimmt KI mit

zunehmender Belastung zu, bis bei einem kritischen Wert instabile Rissausbreitung einsetzt.

Dieser kritische Wert ist die Risszähigkeit KIc, die auch als Bruchzähigkeit bezeichnet wird.

Die Risszähigkeit ist eine Werkstoffkenngröße und kann experimentell ermittelt werden.

Page 50: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 50 - 2.3 Bruchverhalten

Die Dimension des Spannungsintensitätsfaktors bzw. der Risszähigkeit ist Nmm-3/2 oder

MNm-3/2 = MPa m .

σCICK

a Y=

⋅ (2.3.9)

Die Beschreibung des Rissausbreitungsverhaltens mit dem Spannungsintensitätsfaktor basiert

somit auf der Betrachtung der Spannungen vor der Rissspitze. Alternativ dazu kann die

Rissausbreitung mit Hilfe von Energiebetrachtungen erfolgen. Als Risswiderstand GIC wird

die Energie bezeichnet, die aufzubringen ist, um den Riss um die Flächeneinheit zu

vergrößern. Die Dimension des Risswiderstandes in N/m oder N/mm.

Die spezifische Bruchflächenenergie γf ist die notwendige Energie, um die Flächeneinheit

einer Bruchfläche zu erzeugen. Da bei der Rissausbreitung zwei Bruchflächen entstehen, ist

GIC = 2γf (2.3.10)

Der Belastungszustand eines Risses kann somit alternativ durch den Spannungsintensitäts-

faktor KI oder durch die Energiefreisetzungsrate GI charakterisiert werden. Instabile Rissaus-

breitung erfolgt bei

KI = KIC (2.3.18 a)

oder

GI = GIC (2.3.18 b)

Irwin hat gezeigt, dass zwischen GI und KI eine Beziehung besteht

KI2 = GI E´, (2.3.19)

mit

′ =−

⎧⎨⎩

EEE

ebenerSpannungszustandebener Dehnungszustand/ ( )1 2ν

(2.3.20)

Page 51: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 51 -

Gl. (2.3.19) führt damit die beiden Versagensbedingungen ineinander über. Es muß somit

auch gelten

KG E E

ICIC f2

2 2121

=−

=−νγ

ν (Energiebetrachtung) (2.3.21)

wobei der ebene Dehnungszustand vorausgesetzt wurde.

Aus der Energiebetrachtung lässt sich die höhere Bruchzähigkeit von Metallen gegenüber

keramischen Werkstoffen erläutern. An der Rissspitze tritt bei Metallen in Gegensatz zur

Keramik in der Regel plastische Verformung auf, die spezifische Bruchflächenenergie nimmt

zu. Die Bruchzähigkeit erhöht sich damit gemäß

2plastisch2

IC 1E)γγ(2

Kν−

⋅+= f (2.3.22 )

Den Spannungsverlauf in Abhängigkeit der bruchauslösenden Fehlergröße zeigt Abb.2.3.7

Spannungsverlauf in Abhängigkeit der bruchauslösenden Fehlergröße bei Keramik und Metall

Abb. 2.3.7

σ cIC

c

Ka Y

=⋅

Wegen der geringen Bruchzähigkeit keramischer Werkstoffe wird die Bruchspannung schon

bei relativ kleinen Fehlergrößen (im µm-Bereich) erreicht. Aufgrund der Bindungsarten

(ionisch, kovalent) liegen die zur plastischen Verformung notwendigen Spannungen

wesentlich höher als die Bruchspannung. Keramik bricht daher spröde. Da die

Page 52: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 52 - 2.3 Bruchverhalten

bruchauslösenden Fehler (Korngrenzen, Poren, Oberflächenrauhigkeiten, Bearbeitungsfehler)

stark streuen, streut auch die Festigkeit keramischer Werkstoffe entsprechend (Abb. 2.3.8).

Streuung der bruchauslösenden Fehlergröße

und der Bruchspannung bei keramischer Werkstoffen

Abb. 2.3.8

Die Rissgröße, die notwendig wäre, damit der Werkstoff vor erreichen der Streckgrenze

bricht, liegt bei metallischen Werkstoffen wegen der höheren KIC-Werte im Bereich einiger

Millimeter. Diese Fehlergrößen treten in Metallen praktisch nicht auf. Die Festigkeit wird

daher von den Bindekräften des Werkstoffs bestimmt und die Streuung ist sehr gering

(Abb. 2.3.9).

Festigkeitsstreuung keramischer und Metallischer Werkstoffe

Abb. 2.3.9

Page 53: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 53 -

2.3.3 Bestimmung der Festigkeit

Die Festigkeit keramischer Werkstoffe wird üblicherweise durch den Widerstand des

Materials gegenüber Zugspannungen charakterisiert. Die Druckfestigkeit ist demgegenüber

von geringerer Bedeutung, auch wenn sie wesentlich größer ist als die Zugfestigkeit.

2.3.3.1 Zugfestigkeit

Der Zugversuch ist wegen seiner homogenen Spannungsverteilung und des rein einachsigen

Spannungszustandes das übersichtlichste Verfahren zur Bestimmung der Zugfestigkeit. Seine

Probleme liegen in der schwierigen Krafteinleitung und in der Vermeidung überlagerter

Biegespannungen. Als Prüfkörperformen werden fast ausschließlich kreisförmige

Probenquerschnitte verwendet. Die Einspannbereiche sind als zylindrische und konische

Schultern ausgebildet. Die Vorteile der Keramik gegenüber Metallen zeigt sich vor allem im

Hochtemperaturbereich. Bei diesen Temperaturen können die Einspanngestänge nicht mehr

aus metallischen Werkstoffen hergestellt werden. Es sind dann Keramikeinspannungen zu

verwenden, die zur Reduzierung der Zugspannungen mit relativ großen Querschnitten

ausgeführt werden. Die beiden wichtigsten Ursachen für das Auftreten störender

Biegespannungen sind seitlicher Versatz der unteren Einspanneinheit relativ zur oberen und

ein exzentrischer Einbau bei ansonsten fluchtenden Einspannklemmen (Abb. 2.3.10). Die

Festigkeit im Zugversuch errechnet sich zu

σα

= ±FS

F LWb

tan2

(2.3.23)

wobei F die Zugkraft, S den Probenquerschnitt, L die Probenlänge und Wb das Widerstands-

moment gegen Biegung bedeutet.

Die Exzentrizität lässt sich durch Vergrößerung des Probenquerschnitts beträchtlich

verringern. In manchen Fällen ist neben der reinen Festigkeitsangabe auch noch eine Aussage

über die Bruchdehnung von Interesse. Bei Raumtemperatur und Temperaturen, wie sie bei der

Metallprüfung üblich sind, genügt das Ansetzen von mechanisch-elektrischen

Wegaufnehmern. Im Hochtemperaturbereich wird in den einfachsten Ausführungen die

Page 54: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 54 - 2.3 Bruchverhalten

Änderung des Abstandes der Einspanneinheiten gemessen. Im Hochtemperatureinsatzbereich

sind optische Dehnungsmessvorrichtungen von Vorteil.

Einspannfehler beim Zugversuch [10]

Abb. 2.3.10

Um den hohen versuchstechnischen Aufwand der so einfach erscheinenden Zugversuche zu

umgehen und um die aufwendige Probenvorbereitung (Schleifen von Rundstäben) zu

vermeiden, wurden andere Methoden zur Ermittlung der Zugfestigkeit entwickelt.

2.3.3.2 Der Biegeversuch

Abb. 2.3.11 zeigt die Abmessungen und die Belastungsanordnung am Beispiel des 4-Punkt-

Biegeversuchs. Die Biegezugfestigkeit berechnet sich aus der Versagenslast F zu

σCS S F

W B=

−32

1 22

( ) (2.3.24)

wobei S1 und S2 die Abstände der Belastungsrollen, W die Probenhöhe und B die

Probenbreite sind. Diese Versuchsanordnung hat den Vorteil, dass die Herstellung

entsprechender Proben im Vergleich zum Zugversuch relativ einfach ist. Darüber hinaus ist

der Biegeversuch hinsichtlich seiner Messfehlerbeurteilung der am umfassendsten

untersuchte Festigkeitstest.

Page 55: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 55 -

Vierpunkt-Biegeprobe [10]

Abb. 2.3.11

2.3.3.3 Versuche an Rohrabschnitten

Während die mechanische Prüfung zur Materialcharakterisierung keramischer Werkstoffe oft

an Proben erfolgt, die aus speziell gesinterten Keramikplatten herausgearbeitet wurden oder

sogar als Einzelprobe hergestellt werden, müssen in der Praxis oft die Probekörper aus

Produktionsteilen entnommen werden. Liegen Produkte in Form von Rohren vor, sind zwei

Versuche anwendbar:

a) Der Kreisring-Test

Kreisringtest [10]

Abb. 2.3.12

Im Kreisringtest (Abb. 2.3.12) werden Ringe, die von rohrförmigen Fertigteilen abgeschnitten

wurden, diametral zwischen zwei planparallelen Platten durch eine Linienlast auf Druck

belastet. Dabei treten an den Ringinnenseiten direkt an der Lastlinie sowie auf den

Ringaußenseiten in maximalem Abstand von der Lastlinie maximale Zugspannungen auf.

Bedeutet t die Ringdicke, r den mittleren Radius und B die Länge des Rohrabschnitts, dann

folgt aus der Versagenslast F die Zugfestigkeit zu

Page 56: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 56 - 2.3 Bruchverhalten

σC =−⎛

⎝⎜⎞⎠⎟

−⎛⎝⎜

⎞⎠⎟

⋅F r

B t

trtr

2

16

12

(2.3.25)

Um den effektiv belasteten Probenanteil zu erhöhen, ist in einer für Steinzeug entwickelten

Norm (DIN 1230) die Krafteinleitung in die Probe durch flächige Belastungselemente

homogener in die Probe eingeleitet worden (Abb. 2.3.12 b). Aus der beim Probenbruch

vorliegenden Scheiteldruckkraft F resultiert als Zugfestigkeit

σC = 1,8 F r

B ttr

tr2 1

21

3+⎛

⎝⎜⎞⎠⎟

+⎛⎝⎜

⎞⎠⎟

(2.3.26)

b) Der C-Ring-Test

Im C-Ring-Test wird ein Ringsegment auf Druck oder Zug belastet. Abb. 2.3.13 zeigt die

Probe als Hälfte eines Kreisrings und schematisch die beiden Belastungsanordnungen. Durch

Anwendung des Druckversuchs kann die Zugfestigkeit im Bereich der äußeren

Rohroberfläche gemessen werden. Im Zugversuch, der eine etwas kompliziertere

Lasteinleitung erfordert, geht das Versagen von der inneren Rohroberfläche aus.

Bezeichnet F die Versagenslast, B die Breite und t die Dicke der Probe, dann berechnet sich

die Versagensspannung zu

σc K FBt

= (2.3.27)

Nach Timoshenko und Young ist im Druckversuch mit dem „aktuellen Hebelarm“ q

Kq t r L

r r L=

− −

−−

( ) ( )

( )

12 1

0

0

(2.3.28)

und im Zugversuch

Kq t d L r

r r L

i

i

=− − −

−+

( )( )

( )

12 1 (2.3.29)

mit ri = r - t/2, ro = r + t/2, L = t/[ln(r0/ri)].

Bei exakt diametraler Belastung sind die in Abb. 2.3.13 definierten Größen q = r0 und d = 0.

Page 57: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 57 -

Die größten Fehlermöglichkeiten entfallen auf die Dickenmessung. Eine typische

Messgenauigkeit von 5% in t führt zu ca. 10% Fehler der Festigkeit. Aufgrund der relativ

großen Dickentoleranz der unbearbeiteten Keramikprodukte empfiehlt sich die nachträgliche

Messung direkt an der Versagensstelle.

C-Ring-Test [10]

Abb. 2.3.13

2.3.3.4 Messung der Druckfestigkeit

Unter Druckbeanspruchung ertragen keramische Werkstoffe sehr viel höhere Belastungen als

unter Zugbeanspruchung. Beim Druckversuch an zylindrischen Proben erfolgt die Belastung

zwischen planparallelen Druckstempeln. Als Bruchfestigkeit wird die auf dem Zylinderquer-

schnitt bezogene Prüfkraft im Moment des Versagens bezeichnet. Die Problematik dieses

Versuchs liegt in der Kraftanleitung in die Probe. Es treten Störeffekte im Bereich des

Übergangs von den Druckstempeln auf die Probe auf.

a) Der Druckversuch an zylindrischen Proben

Im allgemeinen ist der Probendurchmesser kleiner als der Durchmesser der Druckstempel.

Dadurch kommt es entlang der äußersten Kontaktlinie zu einer linienförmigen

Spannungssingularität. Im Extremfall kann die sich einstellende Spannungsverteilung aus

dem elastizitätstheoretisch wohlbekannten Problem des Eindrückens eines starren Zylinders

vom Radius R in einen unendlich ausgedehnten elastischen Körper abgeschätzt werden. Man

Page 58: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 58 - 2.3 Bruchverhalten

erhält dann die Spannungen im Abstand r von der Symmetrieachse zu

σπ

=−

FR R r2 2 2 1 2( ) / (2.3.30)

und folglich für r = R unendliche Spannungen. Die Spannungsverteilung wird homogener,

wenn man berücksichtigt, dass auch die Keramikproben einen endlichen E-Modul besitzen

und die Belastungsstempel eine mit dem Probenquerschnitt vergleichbare Größe haben. Die

Spannungssingularität bleibt jedoch erhalten.

b) Der Druckversuch am Hohlzylinder

Hohlzylinder für Druckversuche [10]

Abb. 2.3.14

Abb. 2.3.14 zeigt eine rohrförmige Probe, deren tragender Querschnitt im Mittenbereich auf

ca. ein Viertel des Endquerschnitts verjüngt ist. Durch die Rohrform werden einige der bei

Vollzylindern auftretenden Schwierigkeiten eliminiert. Die Belastung erfolgt über

„Compliance-Rohre“, die aus dem gleichen Material wie der Prüfling bestehen. Ihre

eigentliche Bedeutung finden die Hohlzylinderproben jedoch bei hydrostatistischen

Druckversuchen (Abb. 2.3.14 b). In diesem Belastungszustand sind Biegemomente und axiale

Exzentrizitäten ohne Bedeutung. Ein Nachteil der Hohlzylinderproben gegenüber den

Vollzylinderproben ist der wesentlich höhere Aufwand bei der Probenherstellung.

Page 59: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 59 -

Druckfestigkeit in MPa von polykristallinen Keramiken nach Rice [10]

Tab. 2.3.3

Verhältnis der Druckfestigkeit zur Biegefestigkeit bei Raumtemperatur [10]

Tab. 2.3.4

Die Druckfestigkeit keramischer Werkstoffe (Tab. 2.3.3) liegt um Faktor 4 - 30 höher als die

Biegefestigkeit, was mit der Rissempfindlichkeit von Keramiken zu erklären ist.

Tab. 2.3.4 zeigt das Verhältnis der Druckfestigkeit zur Biegefestigkeit einiger Werkstoffe.

Page 60: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 60 - 2.3 Bruchverhalten

2.3.4 Experimentelle Methoden zur Ermittlung der Risszähigkeit

Die prinzipielle Vorgehensweise bei der Ermittlung der Risszähigkeit KIC besteht in

folgenden Schritten:

− Erzeugung eines Risses in einer Probe,

− Messung der Bruchlast bzw. Bruchspannung

− Berechnung von KIC aus der Bruchspannung und der Risslänge nach der Beziehung

K aYIC = σ (2.3.31)

oder

KIC = FB W

Y * (2.3.32)

Bei der Schreibweise nach Gl. 2.3.32 ist die Risslängenabhängigkeit vollständig in der

Funktion Y* (a/W) enthalten.

Das Problem besteht in der Erzeugung eines Anrisses und in der Vermessung der Risslänge.

An dieser Stelle soll lediglich die Biegeprobe mit durchgehendem Riss und die Methode der

Vickers-Härteeindrücke beschrieben werden.

2.3.4.1 Biegeprobe mit durchgehendem Riss

Die Probe wird üblicherweise im Vierpunktbiegeversuch belastet (Abb. 2.3.15). Die

Kantenlängen der Proben betragen einige Millimeter für den Querschnitt und 40-50 mm für

die Probenlänge. Die üblichen Auflagerlängen sind S1 = 40 mm und S2= 20 mm.

Page 61: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 61 -

Biegeprobe mit einseitigem Außenriss [9]

Abb. 2.3.15

Der Riss wird häufig als feiner Schlitz eingesägt, wobei die relative Risslänge α = a/W

meistens 0.5 beträgt. Die Risszähigkeit berechnet sich aus der maximalen Kraft Fmax und der

relativen Risslänge α nach

KIC = FB W

S SW

Mmax/( )

⋅ ⋅−

−13 2

2 32 1

Γ αα

(2.3.33)

mit

ΓM = − −− + −

+19887 1326 349 0 68 135 1

1

2

2. . ( . . . ) ( )( )

αα α α α

α (2.3.34)

Der Vorteil dieser Methode besteht in der relativ einfachen Erzeugung der Kerbe.

Experimentelle Untersuchungen über den Einfluss der Kerbbreite bzw. des Kerbradius haben

den in Abb. 2.3.16 angegebenen Zusammenhang ergeben.

Page 62: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 62 - 2.3 Bruchverhalten

Einfluss des Kerbradius auf die gemessene Risszähigkeit [9]

Abb. 2.3.16

Der gemessene Wert von KIC nimmt oberhalb eines kritischen Kerbradius ρC linear mit der

Wurzel aus dem Kerbradius zu. Nur für ρ < ρC wird ein korrekter KIC Wert gemessen. Dabei

hängt der kritische Wert ρc vom Werkstoff ab. Es muss daher für jeden Werkstoff überprüft

werden, ob mit der kleinsten herstellbaren Schlitzbreite ein korrekter KIC-Wert ermittelt

werden kann.

Die übliche Methode der Risserzeugung ist das Kerben mit dünnen diamantbeschichteten

Scheiben oder mit diamantbeschichteten Drähten. Dabei können ohne große Schwierigkeiten

Kerbbreiten von 0.1 mm gefertigt werden. Mit größerem Aufwand ist die Erzeugung von

Kerbbreiten von 60 μm in Extremfällen bis zu 10 μm möglich.

2.3.4.2 Vickers-Härteeindrücke

Entwicklung von Vickers-Rissen [10]

Abb. 2.3.17

Page 63: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 63 -

Bei der Ermittlung der Risszähigkeit mit Hilfe von Vickers-Härteeindrücken wird die

Risszähigkeit aus der Belastung beim Härteeindruck und aus der Länge der sich auf der

Oberfläche ausbildenden Risse ermittelt (Abb. 2.3.17).

Unterhalb des pyramidenförmigen Härteeindrucks bildet sich eine Deformationszone aus.

Während der Belastung und der anschließenden Entlastung entstehen zwei senkrecht

aufeinander stehende Risse, die von der tiefsten Stelle ausgehen, sich bis zur Oberfläche

ausbreiten und etwa halbkreisförmige Gestalt haben. Die Oberflächenrisslänge ist 2c, die

Länge der Diagonale des Härteeindrucks 2a (Abb. 2.3.18).

Palmquist-Risse [10]

Abb. 2.3.18

Aufgrund von theoretischen Überlegung folgt

K H a EH

caIC = ⋅ ⎛

⎝⎜⎞⎠⎟

⋅ ⎛⎝⎜

⎞⎠⎟

1 2 3 2/ /

(2.3.35)

wobei sich die Härte H aus der Belastung F und der Größe a berechnet.

H = Fa2 2 (2.3.36)

Der Exponent E/H wird in der Literatur mit 0.4 angegeben. Für die praktische Anwendung

wird in Munz [10] die Beziehung

KIC = 0.032 H a EH

ca

( ) ( )/ /1 2 3 2− (2.3.37)

Page 64: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 64 - 2.3 Bruchverhalten

empfohlen, da sie die beste theoretische Grundlage besitzt und das umfangreichste

Datenmaterial beschreibt.

Risszähigkeit in MPa·m1/2 [10]

Tab. 2.3.5

Tab. 2.3.5 zeigt Risszähigkeitswerte einiger keramischer Werkstoffe. Die Risszähigkeit hängt

von den angewandten Meßmethoden aber auch vom Reinheitsgrad und dem

Herstellungsverfahren der Keramik ab. Deshalb enthält Tabelle 2.3.5 in einigen Fällen

Bereiche von KIC. Sind nur Einzelwerte angegeben, so sind diese als Anhaltswerte zu

betrachten.

Die Risszähigkeit ist wie alle Werkstoffgrößen temperaturabhängig. Bei einer Erhöhung der

Temperatur ändert sich bei den meisten Keramiken die Risszähigkeit zunächst nicht oder nur

gering. Ein deutlicher Einfluss der Temperatur wird beobachtet, wenn Kriecheffekte

auftreten. Dies wird z.B. bei Siliciumnitrid beobachtet (Abb. 2.3.19).

Page 65: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 65 -

Kritische Werte des Spannungsintensitätsfaktors in Abhängigkeit

von der Temperatur für heißgepresstes Siliciumnitrid [10]

Abb. 2.3.19

Bis zu etwa 1000°C zeigt die Kraftverlängerungskurve rein lineares Verhalten. Die

Bruchkraft Fc ist mit der maximalen Kraft Fmax identisch. Oberhalb von 1100 °C gibt es eine

auf stabiles Risswachstum zurückzuführende Abweichung von der linearen

Kraftverschiebungskurve. In diesem Temperaturbereich erweicht die amorphe

Korngrenzenphase und ermöglicht Kriechvorgänge. Dies führt zu einem Anstieg des

Spannungsintensitätsfaktors.

Vergleichsweise einfach ist das Verhalten von Materialien ohne oder mit nur geringer

viskoser Korngrenzenphase, wie dies in Abb. 2.3.20 für heißgepresstes SiC wiedergegeben

ist. Einer bis 1000°C nahezu konstanten Risszähigkeit folgt eine stetige Abnahme.

Page 66: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 66 - 2.3 Bruchverhalten

Einfluss der Temperatur auf die Risszähigkeit von heißgepresstem Siliciumcarbid [10]

Abb. 2.3.20

Ähnlich wie bei der Betrachtung des E-Moduls kann dies mit der Abnahme der Bindekräfte

zwischen den elementaren Bausteinen in der Materie gedeutet werden.

2.3.5 Unterkritisches Risswachstum und Lebensdauer

Bei vielen Keramiken geht dem instabilen Bruch ein unterkritisches Risswachstum voraus.

Dabei verlängert sich ein Riss der Anfangsgröße ai langsam bis zu der von der Belastung

abhängigen kritischen Größe ac, bei der dann instabiler Bruch einsetzt. Im Bereich der

Gültigkeit der linear-elastischen Bruchmechanik wird die Risswachstumsgeschwindigkeit v

eines Werkstoffs in einem bestimmten Umgebungsmedium ausschließlich durch den

Spannungsintensitätsfaktor bestimmt.

v dadt

f KI= = ( ) (2.3.38)

In Abb. 2.3.21 ist ein typischer Verlauf einer v-KI-Kurve aufgezeichnet.

Page 67: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 67 -

Typische v - KI - Kurve [10]

Abb. 2.3.21

In der doppeltlogarithmischen Darstellung tritt in einem großen Bereich der

Rissgeschwindigkeit ein linearer Bereich auf, der durch das Potenzgesetz

dadt

AKIn= (2.3.39)

mit den temperaturabhängigen Materialkonstanten A und n beschrieben wird. In einigen

Fällen wurde ein unterer Grenzwert des Spannungsintensitätsfaktors KI0 gemessen, unterhalb

dessen kein unterkritisches Risswachstum auftritt. Bei großen Rissgeschwindigkeiten kann

ein Plateau (II) auftreten, in dem die Rissgeschwindigkeit unabhängig von KI ist. Nach einem

weiteren Anstieg der Rissgeschwindigkeit (III) setzt bei KI = KIC instabile Rissausbreitung

ein.

Die Lebensdauer eines keramischen Bauteils bei vorgegebener Belastung kann aus dem

Zusammenhang zwischen der Rissgeschwindigkeit und dem Spannungsintensitätsfaktor

berechnet werden.

Abb. 2.3.22 zeigt den Zusammenhang zwischen Rissgeschwindigkeit und

Spannungsintensitätsfaktor am Beispiel von Porzellan.

Page 68: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 68 - 2.3 Bruchverhalten

Rissgeschwindigkeit bei statischer und zyklischer Belastung für Porzellan [10]

Abb. 2.3.22

2.3.5.1 Lebensdauer unter statischer Last

Aus der Definition des Spannungsintensitätsfaktors nach Gl. (2.3.8) und der

Risswachstumsgesetzmäßigkeit nach Gl. (2.3.39) ergibt sich bei Annahme einer konstanten

Geometriefunktion Y für das Zeitdifferential

dtA Y a

dan n n=1

2σ / (2.3.40)

Integration der Gl. (2.3.40) von der Anfangsrisstiefe ai bis zum kritischen Wert ac liefert für

beliebige zeitabhängige Spannungen σ (t)

σ( )( )

t dtAY n

a ann i

n

c

nBt

=−

⋅ −⎡

⎢⎢

⎥⎥

− −

∫2

2

2

2

2

2

0

(2.3.41)

Die Anfangsrisstiefe ai eines Werkstoffs lässt sich indirekt aus der sogenannten Inertfestigkeit

σc und der Risszähigkeit KIC berechnen:

Page 69: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 69 -

a KYi

IC

C

=⎡

⎣⎢

⎦⎥σ

2

(2.3.42)

Dabei ist σC die Versagensspannung, die sich bei einem Versuch ohne vorausgehendes

unterkritisches Risswachstum ergibt. Dies wird durch eine sehr hohe Belastungs-

geschwindigkeit erreicht. Durch ein inertes Umgebungsmedium oder durch tiefe

Temperaturen kann unterkritisches Risswachstum zusätzlich unterdrückt werden.

Zwischen der kritischen Risslänge aC und der Spannung σB im Moment des Bruches besteht

die Beziehung

aK

YCIC

B

=⎡

⎣⎢

⎦⎥σ

2

(2.3.43)

Durch Einsetzen in Gleichung (2.3.41) ergibt sich für den Fall der statischen Belastung

σ = const.

t BB Cn n= − −σ σ2 (Lebensdauer im statischen Versuch) (2.3.44)

d.h. eine starke Spannungsabhängigkeit der Bruchzeit aufgrund des hohen

Spannungsexponenten n.

Die Konstante B fasst die bruchmechanischen Daten KIC, Y und A zusammen.

BA Y n

KICn=

−−2

222

( ) (2.3.45)

Page 70: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 70 - 2.3 Bruchverhalten

Lebensdauer im statistischen Biegeversuch an Al2O3

in einer konzentrierten Salzlösung bei 70°C [10]

Abb. 2.3.23

Abb.2.3.23 zeigt den Zusammenhang zwischen Festigkeit und Lebensdauer am Beispiel

von Al2O3.

2.3.5.2 Lebensdauer bei wechselnder Belastung

In der Praxis wichtig sind Belastungsfälle mit zeitlich veränderlichen Spannungen σ(t). Bei

einer periodischen Belastung (Abb. 2.3.24) mit der Periodendauer T und somit σ(t + T) = σ(t)

gilt im Falle der Überlagerung einer konstanten Mittelspannung σm und einem reinen

zyklischen Anteil σa . f (t)

σ(t) = σm + σa f(t), f(t) = f (t + T) (2.3.46)

Page 71: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 71 -

Verlauf von Spannung und Spannungsintensitätsfaktor bei zyklischer Belastung [10]

Abb. 2.3.24

Die Lebensdauer im zyklischen Versuch und die durch

TBz = NBT (2.3.47)

definierte Zyklenzahl bis zum Bruch resultieren durch Einsetzen von Gl.(2.3.46) in Gl.

(2.3.44) zu

tg n

BBza m

cn

mn= − −1 2

( , / )σ σσ σ (Lebensdauer im zyklischen Versuch) (2.3.48)

wobei die Funktion g(n, σa/σm) durch

g nT

f t dta m

T a

m

n

( , / ) ( )σ σσσ

= +⎡

⎣⎢

⎦⎥∫

1 10

(2.3.49)

definiert ist.

2.3.5.3 Methoden zur Bestimmung von Risswachstumsgeschwindigkeiten

Es existieren eine Reihe von Bestimmungen des unterkritischen Risswachstums an

makroskopischen Rissen. Hier soll lediglich auf die Bestimmung des unterkritischen

Risswachstums an natürlichen Rissen eingegangen werden.

Page 72: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 72 - 2.3 Bruchverhalten

a) Der dynamische Biegeversuch

Der dynamische Biegeversuch wurde erstmals von Charles zur Bestimmung der

Risswachstumsparameter vorgeschlagen. In diesem Versuch werden Proben mit jeweils

konstanter Belastungsgeschwindigkeit &σ = dσ/dt bis zum Bruch belastet und die von &σ

abhängige Festigkeit σB registriert. Einen formelmäßigen Zusammenhang erhält man durch

Einsetzen von

dt = dσ/ &σ (2.3.50)

in das Integral auf der linken Seite von Gl. (2.3.41). Nach Ausführung der Integration folgt

σBn+1 = B σc

n-2 &σ (n+1) [1 - (σB/σc) n-2] (2.3.51)

Diese implizite Abhängigkeit σB = f ( &σ ) ist in Abb.2.3.25 dargestellt.

Abhängigkeit der Biegefestigkeit von der Beanspruchungsgeschwindigkeit [10]

Abb. 2.3.25

Zwei asymptotische Grenzfälle sind aus Gl. (2.3.51) zu erkennen. Für kleine

Beanspruchungs-geschwindigkeiten ( &σ → 0) ergibt sich

σ Bn + 1 = B &σ c

n-2 (n + 1) &σ (2.3.52)

Diese Beziehung eignet sich zur Ermittlung des Risswachstumsparameters n und der Größe B

Page 73: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 73 -

und damit nach Gl. (2.3.45) des Parameters A. Der Exponent n ergibt sich aus der Steigung

der lg(σB) - lg( &σ )-Abhängigkeit. Der Wert Bσcn-2 folgt aus dem Ordinatenabschnitt.

Im Grenzfalle extrem hoher Belastungsgeschwindigkeit strebt die Festigkeit σB gegen die

Inertfestigkeit, d.h.

σB → σc bei ( &σ → ∞) (2.3.53)

Zur Auswertung dynamischer Biegeversuche nach Gl. (2.3.52) muss daher immer

sichergestellt werden, dass diese Abhängigkeit in einem hinreichend großen &σ - Bereich

erfüllt ist. Hierzu sind Messungen über mehrere Zehnerpotenzen von &σ erforderlich, wobei

nur der bei doppelt-logarithmischer Auftragung von σB gegen &σ auftretende lineare Bereich

auszuwerten ist.

In Abb. 2.3.26 sind Ergebnisse dynamischer Biegeversuche an heißgepresstem Siliciumnitrid

bei hohen Temperaturen dargestellt. Bei diesen Ergebnissen ist deutlich der Übergang in die

Inertfestigkeit zu sehen.

Biegefestigkeit von heißgepresstem Siliciumnitrid bei hohen Temperaturen [10]

Abb. 2.3.26

Page 74: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 74 - 2.3 Bruchverhalten

Vorteile dieser Prozedur sind:

− Die Durchführung der Versuche ist einfach und ohne aufwendige Testapparaturen

möglich.

− Das Risswachstum wird an Proben mit natürlichen Fehlern untersucht, wodurch

Übertragungsprobleme entfallen.

Nachteilig sind folgende Faktoren:

− Der Typ der v - KI-Kurven muss bekannt sein, um eine Integration von Gl. (2.3.38) zu

gestatten. Er muss bei Verwendung von Gl. (2.3.52) durch ein Potenzgesetz gegeben

sein.

− Die Biegefestigkeit wird hauptsächlich durch das Risswachstum bei relativ hohen

Risswachstumsgeschwindigkeiten beeinflusst. Dieses ist aber für Lebensdauer-

vorhersagen von geringerem Interesse.

b) Bestimmung der Risswachstumsparameter im statistischen Biegeversuch

Eine einfache Bestimmung der Parameter des Potenzgesetzes - Gl. (2.3.39) kann aus Lebens-

dauermessungen erfolgen. Führt man statische Versuche bei unterschiedlichen Lastniveaus

mit den Spannungen σ durch und misst die bis zum Bruch vergehende Zeit tB, dann ist eine

Bestimmung von n und B (bzw. A) aus Gl. (2.3.44) möglich.

Trägt man - wie in Abb. 2.3.22 für Versuche an einer Al2O3-Keramik in konzentrierter

Salzlösung dargestellt - die Belastungsgröße σ gegen die Lebensdauern tB in doppelt-

logarithmischer Weise auf, dann resultiert nach Gl. (2.3.44) der Exponent n aus der Steigung

der erhaltenen Geraden und der Wert Bσcn-2 aus dem Ordinatenabschnitt. Bei Kenntnis der

Inertfestigkeit σc und der Risszähigkeit KIC kann auch der Parameter A aus Gl. (2.3.45)

berechnet werden.

Die Bestimmung von n und A ist aufgrund der größeren Streuungen relativ unsicher. Aus

diesem Grund wird die Lebensdauerauswertung auch mit Hilfe der Weibull-Statistik

durchgeführt, die im folgenden Kapitel beschrieben ist.

Page 75: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 75 -

Zyklische Ermüdung an heißgepresstem Siliciumnitrid mit MgO - Zusätzen bei 1200°C [10]

Abb. 2.3.27

Bei einigen Werkstoffen kann das Verhalten bei zyklischer Belastung aus den Ergebnissen

der statischen Belastung vorhergesagt werden (wenn z.B. Gl. 2.3.48 erfüllt ist). Beispielhaft

sind Ergebnisse für das Ermüdungsverhalten von Si3N4 in der Abb. 2.3.27 dargestellt.

2.3.6 Bruchverhalten von Faserverbundwerkstoffen Die Faserverstärkung in einem keramischen Verbundwerkstoff hat allgemein zum Ziel, die

Duktilität und die Bruchzähigkeit des Werkstoffs zu erhöhen.

Aufgrund der vielfältigen Einflüsse kann von der Summe der Festigkeiten der

Einzelkomponenten nicht auf die Festigkeit des Composites geschlossen werden. Der Grund

dafür ist im so genannten Faser/Matrix-Interface-Verhalten zu suchen. Die

Wechselwirkungen zwischen Verstärkungsfaser und Matrix beeinflussen das mechanische

Verhalten des Composites entscheidend.

Da Faser und Matrix meist unterschiedliche Bruchspannungen haben, kommt es abhängig

davon zu verschiedenartigem Bruchverhalten.

Im Falle eines Composites, dessen Faser-Bruchdehnung niedriger ist als die Matrix-

Bruchdehnung (z.B. keramikfaserverstärktes Metall MMC) kommt es zu einem einfachen

Bruchverhalten

Page 76: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 76 - 2.3 Bruchverhalten

σƒuVƒ > σmuVm-σ’mVm (2.3.54)

Vƒ = Volumenanteil Faser

Vm = Volumenanteil Matrix

Aus Gleichung 2.3.54 wird mit der zur Bruchdehnung der Faser gehörenden Matrixspannung

σ’m und der maximalen Bruchspannung von Faser σƒu und Matrix σmu wird deutlich, dass im

Falle des Faserbruchs die Matrix der eingeleiteten Spannung nicht mehr standhalten kann. In

diesem Fall brechen Fasern und Matrix in einer Ebene.

Die Bedingung 2.3.55 ist erfüllt, wenn die maximale Faserfestigkeit geringer als die der

Matrix ist. Die Fasern werden bereits vor dem Versagen der Matrix zerstört und haben keinen

Verstärkungseffekt.

σƒuVƒ < σmuVm-σ’mVm (2.3.55)

Ist die Bruchdehnung der Faser hingegen größer als die der Matrix (z.B. im C/SiC), so kommt

es zum multiplen Bruch. Für diesen Fall gilt Gleichung 2.3.56.

σƒuVƒ > σmuVm+σ’ƒVƒ (2.3.56)

Mit der Faserspannung σ’ƒ, die bei der entsprechenden Matrix-Bruchdehnung auftritt.

Die mechanischen Eigenschaften der faserverstärkten Verbundwerkstoffe werden

hauptsächlich von zwei Faktoren bestimmt:

1. Die eigenen mechanischen Eigenschaften der Komponenten selbst (Fasern,

Matrix),

2. Wechselwirkung zwischen Fasern und Matrix, die wiederum durch die

Volumenanteile, die Haftung, die chemische sowie mechanische Kompatibilität

Page 77: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 77 -

zwischen beiden Komponenten beeinflusst werden.

Zwei vereinfachende Modelle beschreiben die Faserverstärkung von Werkstoffen:

1. Spröde Matrixkomponenten mit Fasern hohen Elastizitätsmoduls (z.B.

Hochmodul-(HM)-Fasern) und eine vollständige (ideale) Haftung zwischen Fasern

und Matrix:

Die Bruchdehnung des Composites wird hier nur durch die Bruchdehnung der Matrix

bestimmt. Bei Überschreitung dieser Matrix-Bruchdehnung pflanzen sich die primär

entstandenen Risse transkristallin über die Fasern fort. Es ergibt sich dann ein einfaches

Bruchverhalten, bei dem die Zugfestigkeit der Fasern nicht mehr von Bedeutung ist.

2. Spröde Matrixkomponenten mit Fasern niedrigen Elastizitätsmoduls und eine

unvollständige Haftung zwischen Fasern und Matrix:

Wenn der Volumenanteil der Fasern einen kritischen Wert überschreitet, wobei die

Biegefestigkeit des Verbundwerkstoffs nur von der Faserfestigkeit abhängt, tritt ein so

genanntes „multiples Bruchverhalten“ auf.

Durch die unvollständige Haftung zwischen Fasern und Matrix können Mikrorisse, die in der

Matrix beginnen, umgeleitet und teilweise an den Fasergrenzen abgelenkt oder zum Stillstand

gebracht werden. Hierbei tritt eine Delamination oder ein teilweiser „Pull-Out“ der Fasern

auf. Die Bruchdehnung der Fasern spielt hier insofern eine Rolle, als diese Fasern zusätzlich

oder gänzlich die Matrixrisse überbrücken können.

Es gibt also eine grundlegende Bedingung für die Zähigkeitssteigerung des faserverstärkten

Verbundwerkstoffs, den so genannten „Debonding-Effekt“. Das bedeutet, die Fasern müssen

zunächst von der Matrix abgelöst werden. Durch das Ablösen kann Bruchenergie abgebaut

werden, was einen erneuten Anstieg der Bruchspannung und die Erhöhung der Bruchdehnung

zur Folge hat.

Abb. 2.3.28 zeigt schematisch den Faser-Pull-Out in einem endlos-faserverstärkten

Composite. In Abb. 2.3.29 ist der Faser-Pull-Out in der Bruchfläche eines C/CSiC-

Verbundwerkstoffs zu sehen.

Page 78: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 78 - 2.3 Bruchverhalten

Pull-Out-Schema in einem endlosfaserverstärkten Composite

Abb. 2.3.28

Pull-Out in C/C-SiC (Dissertation R.Goller 1996)

Abb. 2.3.29

Durch eine Beschichtung der Fasern wird die Faser/Matrix-Anbindung beeinflusst. Die

Beschichtung muss so ausgelegt sein, dass möglichst viel Debonding-Energie verbraucht

wird. Bei zu schwacher Anbindung wird die Festigkeit vermindert, bei zu starker tritt kein

Debonding auf und der Werkstoff bricht spröde.

Es ist also neben der Auswahl der Fasern und der Herstellungsverfahren des Composites

zusätzlich eine genaue Auslegung der Faserbeschichtung von besonderer Bedeutung für die

Page 79: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 79 -

mechanischen Eigenschaften des Endprodukts.

Dies kann prinzipiell am unterschiedlichen Spannungs/Dehnungs-Verhalten von Composites

im Vergleich zur monolithischen Keramik verdeutlicht werden. Während bei monolithischer

Keramik ein sprödes Bruchverhalten mit nahezu linearem Spannungs/Dehnungs-Verlauf bis

zum Bruch beobachtet wird, verläuft die Kurve bei den faserverstärkten Keramiken meist

nichtlinear (Abb. 2.3.30).

Spannungs/Dehnungs-Diagramm für monolithische Keramik,

faserverstärkte Keramik und Stahl (schematisch).

Abb. 2.3.30

Page 80: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 80 - 2.4. Weibull-Statistik

2.4. Weibull-Statistik

Die Streuung der Festigkeit von keramischen Werkstoffen ist wesentlich größer als diejenige

von metallischen Werkstoffen. Dies hängt mit der Bruchursache zusammen. Wie in Kapitel

2.3 besprochen, geht der Bruch keramischer Materialien von kleinen, im Werkstoff

vorhandenen Fehlern aus. Die Streuung der Festigkeit ist daher auf die Streuung der

Fehlergröße (Korngrenze, Poren, Einschlüsse, kleine Risse) zurückzuführen. Dies ist auch die

Ursache eines ausgeprägten Einflusses der Bauteilgröße auf die Festigkeit Der Bruch kann

sowohl von Oberflächenfehlern als auch von Volumenfehlern ausgehen. Abb. 2.4.1 zeigt die

typische Streuung der Festigkeit keramischer Werkstoffe.

Histogramm der Festigkeit [10]

Abb. 2.4.1

Nach Weibull errechnet sich die Überlebenswahrscheinlichkeit Pü bei einer wirkenden

Spannung σ zu

P = exp -V üσσ

c

m

0

⎛⎝⎜

⎞⎠⎟

⎣⎢⎢

⎦⎥⎥

(2.4.1)

mit den Weibull-Parametern m und σ0 und dem Einheitsvolumen V.

Zwischen Überlebenswahrscheinlichkeit Pü und Versagenswahrscheinlichkeit F gilt der

Zusammenhang

Pü = 1 - F. (2.4.2)

Page 81: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 81 -

Mit dem Einheitvolumen V = 1 ergibt sich

10

− = −⎛⎝⎜

⎞⎠⎟

⎣⎢⎢

⎦⎥⎥

F c

m

exp σσ

(2.4.3)

Gleichung 2.4.3 wird allgemein zur Beschreibung der Verteilung der Festigkeit von

keramischen Bauteilen verwendet. Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt in einem sog.

Weibull-Diagramm. Aus Gl. 2.4.3 folgt durch zweimaliges logarithmieren

ln ln ln ln11 0−

= −F

m mcσ σ (2.4.4)

Dies bedeutet, dass sich bei der Auftragung von ln ln 1/(1-F) über ln σc eine Gerade mit der

Steigung m ergibt, deren Lage durch dem Parameter σ0 bestimmt ist. Bei σ = σ0 ist

ln ln 1/(1-F) = 0 oder F = 0,632 (Abb.2.4.2).

Darstellung der Streuung der Festigkeit von Al2O3 im Weibull-Diagramm [10]

Abb. 2.4.2

Bei der graphischen Ermittlung vom m und σ0 werden die gemessenen Bruchfestigkeiten der

Größe nach geordnet und von 1 bis n durchnummeriert. Dann werden den einzelnen

Festigkeiten Überlebenswahrscheinlichkeiten zugeordnet. Dies geschieht mit der Beziehung

Page 82: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 82 - 2.4. Weibull-Statistik

P k n knü ( ) = + −+1

1 n = Anzahl der Proben (2.4.5)

k = k-te Probe

Schließlich wird ln ln 1/(1-F) gegen ln σi aufgetragen (Abb. 2.4.2)

Anschaulicher ist die doppeltlogarithmische Darstellung der Versagenswahrscheinlichkeit F

als Funktion der Bruchspannung (Abb. 2.4.3). Hieraus kann m ebenfalls aus der Steigung der

Gerade und σ0 bei F=0,632 ermittelt werden. In Abb. 2.4.3 wurden die Geraden mit den

experimentell gemessenen Festigkeitswerten von Si3N4-Ventilwerkstoffen extrapoliert und

die notwendige Festigkeit ermittelt, um eine Ausfallwahrscheinlichkeit von 10-6 zu

garantieren. Um sicherzustellen, dass von 1Million Ventilen max. 1 Stück versagt, dürfen die

maximalen Spannungen in den Bauteilen 460 MPa (bei HCT 90) bzw. 670 MPa (bei HOE

120) nicht übersteigen.

Versagenswahrscheinlichkeit von Si3N4-Ventilwerkstoffen

Abb. 2.4.3

(m >> 1 bedeutet sehr geringe Streuung, m klein bedeutet große Streuung.)

Page 83: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 83 -

2.4.1 Größeneinfluss

Für eine vorgegebene Versagenswahrscheinlichkeit verhalten sich die Festigkeiten zweier

Komponenten mit den Volumina V1 und V2 wie

σσ

1

2

2

1

1

=⎛⎝⎜

⎞⎠⎟

VV

m/

(2.4.6)

Abb. 2.4.4 zeigt diesen Einfluss im Weibull-Diagramm.

Einfluss des Volumens auf die Verteilung der Festigkeit [10]

Abb. 2.4.4

Die Wahrscheinlichkeit, dass im Bereich der maximalen Belastung ein bruchauslösender

Fehler auftritt, nimmt mit zunehmender Bauteilgröße zu, die Festigkeit nimmt daher ab.

Diesem Phänomen ist nur mit extrem sorgfältiger Kontrolle aller

Herstellungsbedingungen zu begegnen.

2.4.2 Streuung der Lebensdauer

Der Zusammenhang zwischen der Lebensdauer eines Bauteils und den Kenngrößen des

unterkritischen Risswachstums lässt sich bei zeitlich konstanter Spannung herleiten nach

Gleichung

tB

Bc

n

n=−σ

σ

2

(2.4.7)

Page 84: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 84 - 2.4. Weibull-Statistik

mit Bn A Y KIc

n=− −

22 2 2( )

(2.4.8)

(siehe Kap. 2.3.5)

σ war dabei eine charakteristische Spannung im Bauteil und σc die inerte Festigkeit des

Bauteils. Die Lebensdauer verschiedener identisch belasteter Bauteile streut, da die

Ausgangsfehlergröße, welche die Lebensdauer bestimmt, ebenfalls streut. Die Streuung der

Lebensdauer lässt sich aus der Streuung der inerten Festigkeit herleiten. Wie in Abb. 2.4.5

schematisch gezeigt wird, hängen die Verteilungsdichten der Lebensdauer und der

Verteilungsdichte des maximalen Fehlers zusammen.

Zusammenhang zwischen Verteilungsdichte von Festigkeit und Lebensdauer [10]

Abb. 2.4.5

Für die Verteilungsfunktion der Lebensdauer gilt eine Weibull-Verteilung mit den Parametern

t0 und m*

F tttBB

m( ) exp= − −

⎛⎝⎜

⎞⎠⎟

⎢⎢

⎥⎥

∗1

0 (2.4.9)

mit

m mn

*=− 2

(2.4.10)

Page 85: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 85 -

und t B n

n00

2

=−σ

σ. (2.4.11)

Für verschiedene Spannungen ergeben sich in einem Weibull-Diagramm, in dem

ln ln 11- F⎛⎝⎜

⎞⎠⎟

gegen ln tB aufgetragen ist, Geraden mit der Steigung m*. Diese Steigung ist

nach Gl. (2.4.10) vom Weilbull-Parameter der Festigkeit und vom Risswachstumsexponenten n

abhängig. Die Lage der Weibull-Gerade hängt nach Gl. (2.4.11) von der Spannung σ, dem

Weibull-Parameter σ0, vom Exponenten n der Rissgeschwindigkeitsbeziehung sowie von der

Größe B ab.

In Abb. 2.4.6 ist die Lebensdauer von Al2O3 für verschiedene Biegespannungen im Weibull-

Diagramm dargestellt.

Darstellung der Lebensdauer von Al2O3 im Weibull-Diagramm [10]

Abb. 2.4.6

Mit zunehmender Belastung der Proben nimmt die Lebensdauer erwartungsgemäß ab.

Ausfallwahrscheinlichkeiten und Lebensdauervorhersagen sind wichtige Kriterien für

mechanisch belastete keramische Konstruktionsbauteile. Weil Konstrukteure im Umgang mit

Keramiken noch sehr wenig Erfahrung besitzen und bislang nur geringe praktische

Überprüfungsmöglichkeiten des vorhergesagten Bauteilverhaltens vorliegen, haben sich

keramische Konstruktionswerkstoffe nur in Ausnahmefällen in der Anwendung durchgesetzt.

Meist sind es zusätzliche Eigenschaften wie z.B. thermische oder chemische Beständigkeit im

Vergleich zu Metallen, die den Einsatz von Keramik notwendig machen.

Page 86: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 86 - 2.5. Hochtemperaturplastizität

2.5. Hochtemperaturplastizität

Das Werkstoffverhalten unter mechanischer Beanspruchung bei hoher Temperatur ist

Gegenstand dieses Kapitels. Die Beanspruchung kann entweder bei vorgegebener Spannung

σ erfolgen, wobei eine zeitabhängige Dehnung der Probe beobachtet wird, oder durch das

Erzwingen einer bestimmten Verformungsgeschwindigkeit dε / dt = &ε , wozu eine

zeitabhängige Spannung σ erforderlich ist. In beiden Fällen spielen die Temperatur und die

jeweilige Struktur des Werkstoffs eine maßgebliche Rolle.

Die plastische Verformung eines Werkstoffs wird häufig gemessen, indem man die Belastung

einer Probe mit konstanter Geschwindigkeit erhöht und die dazugehörige Verformung misst.

Die Ergebnisse dieser Versuche führen zu einer Spannungs-Dehnungs-Kurve (Abb. 2.5.1).

Diese Kurve kann beschrieben werden mit dem E-Modul E, der Streckgrenze Y und der

Bruchspannung S. Der E-Modul ist das Verhältnis von Spannung zu Dehnung im linear-

elastischen Bereich. Die Streckgrenze ist diejenige Spannung, die zu einer Dehnung von

beispielsweise 0,05% führt (Abb. 2.5.1).

Spannungs-Dehnungskurve für KBr- und MgO-Kristalle im Biegeversuch bei 25 °C [8]

Abb. 2.5.1

Page 87: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 87 -

Die starke Temperaturabhängigkeit der Verformungsgeschwindigkeit bei konstanter

Spannung, die insbesondere für feuerfeste Werkstoffe von Bedeutung ist, hat zum

Druckerweichungsversuch geführt. Bei diesen Untersuchungen wird bei einer konstanten Last

die Temperatur der Probe mit konstanter Geschwindigkeit erhöht. Die resultierende

Verformung setzt sich aus thermischer Ausdehnung und Kriechprozessen zusammen

(Abb. 2.5.2).

Verformung einer MgO-Probe bei konstanter Last (0,2N/mm²) und steigender Temperatur [8]

Abb. 2.5.2

Derartige Untersuchungen lassen zwar keinen Schluss auf den Verformungsmechanismus zu,

geben aber gute Anhaltspunkte für die praktische Anwendung feuerfester Materialien.

Beim Druckerweichen handelt es sich um eine Art Kompressionsversuch, bei dem eine

konstante Nennspannung von 0,2 N/mm2 auf die kalte Probe aufgebracht wird. Die

zylindrische Probe ist wegen des oft heterogenen Gefüges keramischer Stoffe relativ groß. Sie

hat nach DIN51053 einen Durchmesser von 50 mm bei einer Höhe von ebenfalls 50 mm. Eine

zentrale Bohrung nimmt den Dehnungsfühler auf. Bei der beschriebenen konstanten

Belastung wird linear mit 5 K/min aufgeheizt, wobei die Änderung der Probenlänge l

kontinuierlich gemessen wird. l/l0 wird als Höhenänderungs-Temperaturkurve über der

Temperatur aufgetragen. Wie bereits erwähnt, überlagert sich die thermische Dehnung des

Werkstoffs mit der Verkürzung durch plastische Verformung, die wegen der starken

Temperaturabhängigkeit der Kriechrate allerdings erst bei hoher Temperatur einsetzt. Als

Kenngrößen werden die Temperaturen T0,5 und T1 ermittelt, welche 0,5 bzw. 1% Verkürzung

der Probe - gemessen vom Maximum der Kurve - entsprechen.

Page 88: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 88 - 2.5. Hochtemperaturplastizität

Der charakteristische Verlauf von ε(T) lässt sich durch Gleichung 2.5.1 beschreiben.

ε α( ) ( ) ( / ) exp( / )T T T A BT

TQ RT dT= − − ∫ −0

0

, (2.5.1)

wobei α der Ausdehnungskoeffizient ist, A und B Konstanten darstellen und Q die

Aktivierungsenergie der Kriechverformung ist.

Die Gesamtdehnung errechnet sich also aus der Summe des Ausdehnungskoeffizienten des

Werkstoffes und der temperatur- und spannungsabhängigen Kriechverformung.

In den folgenden Abschnitten werden zunächst die Grundeigenschaften des Kriechprozesses

und danach die mikrostrukturellen Verformungsmechanismen diskutiert.

2.5.1 Grundeigenschaften des Kriechprozesses

Das Kriechverhalten keramischer Werkstoffe beschreibt Ilschner nach folgenden Gesichts-

punkten:

1. Die Kriechkurve ε(t), Abb. 2.5.3, beschreibt die Dehnung als Funktion der Zeit bei

konstanter Temperatur und Belastung.

Grundform der Kriechkurve ε(t) [11]

Abb. 2.5.3

Page 89: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 89 -

2. Die Kriechkurve lässt sich in der Regel in drei Bereiche gliedern: primäres oder

Übergangskriechen (engl.: transient creep) - sekundäres oder stationäres Kriechen (engl.

steady-state creep) - tertiäres Kriechen (engl.: ternary creep). Vor dem Einsetzen der

zeitabhängigen Dehnung wird eine Anfangsdehnung ε0 (engl.: instantaneous strain)

festgestellt.

3. Bei Belastung setzt im Regelfall der Kriechvorgang mit großer Geschwindigkeit ein;

die Geschwindigkeit nimmt im Übergangsbereich ab, erreicht im stationären Bereich

einen konstant bleibenden Minimalwert & & minε ε= und steigt im tertiären Bereich

abermals an, bis der Bruch eintritt.

4. Die Temperaturabhängigkeit von &ε kann innerhalb nicht zu großer σ-Bereiche durch

eine Exponentialfunktion (ARRHENIUS- Funktion) angenähert beschrieben werden:

& (S, ) exp( /ε σs cA Q RT)= − , (2.5.2)

wobei die Konstante A von einem Strukturparameter S, der Gefügeeinflüsse

berücksichtigt, und der Spannung σ abhängig ist.

5. Die Spannungsabhängigkeit von &ε s kann innerhalb nicht zu großer σ-Bereiche durch

eine Potenzfunktion angenähert beschrieben werden:

& ( , )ε σsnB S T= , (2.5.3)

wobei die Konstante B von dem Strukturparameter S und der Temperatur T abhängig ist.

Für einfach aufgebaute Werkstoffe ist der Spannungsexponent häufig n = 4. Bei

höheren Spannungen nimmt n zu, so dass sich anstelle von Gleichung (2.5.3) eine

angenähert exponentielle Spannungsabhängigkeit ergibt. Mit zunehmender Spannung

bzw. Temperatur nimmt die Kriechgeschwindigkeit zu (Abb. 2.5.4).

6. Bei Beanspruchung durch eine vorgegebene Verformungsgeschwindigkeit &ε ist der

Spannungsverlauf durch die Spannungs-Dehnungs-Kurve σ ε( )gegeben. Deren Form

und Wertebereich hängt wiederum von T und von &ε ab. Für vergleichbare Dehnungen

Page 90: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 90 - 2.5. Hochtemperaturplastizität

gilt dabei oft

σ ε= C m& (2.5.4)

mit typischen Werten für m von 0,1 bis 0,3. Die Konstante C ist wiederum vom

Strukturparameter S und der Temperatur abhängig.

Einfluss von Temperatur und Spannung auf die Kriechkurve [8]

Abb. 2.5.4

7. Der Strukturparameter S umfasst Angaben über Korngröße und Kornform,

Volumenanteil, Dispersionsgrad, Form, Größe, Textur und Anordnung der

verschiedenen Phasen, ggf. von Poren, über Lage und Winkelunterschied von

Zellgrenzen, Zahl, Dichte und Form isolierter Versetzungen sowie die Konzentration

von Punktfehlstellen.

2.5.2 Messgrößen und Messverfahren

Als vergleichbarer Messwert wird im Kriechversuch die relative Dehnung gemessen. Am

einfachsten ist die Normierung mit der Ausgangslänge l0 der Messstrecke

.l

ll(t)

0

00

−=ε (2.5.5)

Die Dehnungsgeschwindigkeit berechnet sich zu

Page 91: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 91 -

.tl

l1

t 00

0

dd

dd

== εε

& (2.5.6)

Dehnungsgeschwindigkeiten werden bei Kriech- und Warmverformungsversuchen meist in

der Maßeinheit s-1 angegeben. Für Zeitstandsversuche ist die kleinere Einheit %/h=2,78.10-6s-1

üblich. Zur Bestimmung der Kriechgeschwindigkeit ist bei metallischen Werkstoffen neben

dem Zugversuch der Stauchversuch und der Torsionsversuch üblich. Keramische Werkstoffe

zeigen sehr viel geringere Verformungen als metallische Materialien. Aus diesem Grunde und

wegen der einfacheren Probenform (einfache Bearbeitung) werden keramische Werkstoffe

häufig im Vierpunkt-Biegeversuch charakterisiert. Bei sehr kleinen Verformungsraten und

flachen Proben zeigt sich hier eine wesentlich höhere Messempfindlichkeit.

Man unterscheidet zwischen dem Dreischneiden- und dem Vierschneiden-Versuch, je

nachdem, ob die Last als Einzellast zwischen den Stützen der frei aufliegenden Probe oder

durch zwei Schneiden symmetrisch zur Probenmitte aufgebracht wird. Im Vierpunkt-

Biegeversuch (Abb. 2.5.5 und 2.5.6) ergibt sich zwischen den beiden mittleren Schneiden ein

konstantes Biegemoment, nahezu kreisbogenartige Verformungen und gleichartige

Beanspruchung aller Gefügequerschnitte im Bereich des maximalen Biegemoments.

Schema der Versuchsanordnung und Erläuterung

der Messgrößen im Vierschneiden-Biegeversuch [11]

Abb. 2.5.5

Page 92: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 92 - 2.5. Hochtemperaturplastizität

Versuchsanordnung und Messgrößen im 4-Punkt-Biegekriechversuch (schematisch) [11]

Abb. 2.5.6

Der Biegeradius r des Mittelstückes der Probe mit dem Schneidenabstand lp ist gegeben durch

.8l

28lr

22

p

pp

p

p

ff

f≈+= (2.5.7)

Dabei wird fp üblicherweise als Durchbiegung des Mittelteiles bezeichnet. Die Näherung gilt

für Durchbiegungen, die relativ zum Abstand lp der mittleren Schneiden klein sind (fp < lp/2).

Eine Beziehung zu der im Zugversuch verwendeten Messgröße Dehnung ε0 lässt sich

herstellen, wenn man annimmt, dass trotz der Quetscheffekte infolge des hohen

Auflagedruckes der Schneiden die Mittelebene der Probe als „neutrale Faser“ keine Dehnung

erleidet. Dann gilt wegen Gl. 2.5.7 für die Zugfaser

;r

l

8rr

ll

20

Δ⋅=Δ

p

pf (2.5.8)

setzt man für Δ r die halbe Probendicke, also h/2, so folgt

.l4

20 pp

fh=ε (2.5.9)

In der Regel wird fp nicht direkt ermittelt; vielmehr liefert die Maschine die gesamte

Durchbiegung fs zwischen den Stützen,(vgl. Abb. 2.5.5). fp lässt sich jedoch aus dem

Verhältnis von ls und lp ableiten, wenn fs gemessen ist. Ist z.B. lp = ls/3 wie in Abb. 2.5.6, so

ist fp = 0,13 fs.

Page 93: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 93 -

2.5.3 Der Kriech-(Zeitstand-)Versuch

Beim Kriechversuch wird die Probe bei konstanter Temperatur einer gleichbleibenden

Beanspruchung unterworfen, und zwar im Sinne von Zug, Druck, Biegung oder Verdrehung.

Die resultierende Formänderung - Dehnung, Stauchung usw. - wird in der Regel als Funktion

der Zeit t kontinuierlich oder aber nach bestimmten Beanspruchungsintervallen t1, t2, t3, ...

gemessen. Eine erhebliche Verringerung des Aufwandes stellt es dar, wenn man sich darauf

beschränkt, die Zeit tB bis zum Bruch der Probe (Zug- oder Biegebeanspruchung) sowie die

bis dahin erzielte Formänderung εB zu messen.

Auswertung des Kriechversuches [11]

Abb. 2.5.7

Die Kriechkurve ε(t) stellt die Basisinformation dieses Versuchstyps dar. Von hier aus erfolgt

in der Praxis ein Prozess der numerischen oder graphischen Auswertung, der in Abb. 2.5.7

Page 94: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 94 - 2.5. Hochtemperaturplastizität

dargestellt ist. Dieser Weg gabelt sich in zwei Äste.

Der eine - a, b, c - entspricht dem in der technischen Werkstoffprüfung üblichen Zeitversuch.

Er führt auf Grenzwerte der Belastung, welche innerhalb einer vorgegebenen Zeitdauer

gerade noch nicht zum Bruch bzw. zu einer vorgeschriebenen maximal zulässigen Dehnung -

bzw. Biegung usw. - führen. Im Falle der technischen Werkstoffprüfung wird aus den

Messdaten a, die aus Kriechversuchen bei verschiedener Nominalspannung gewonnen

wurden, nur eine Teilmenge entnommen, nämlich diejenigen Zeiten tB oder tε, zu denen bei

gegebener Belastung entweder der Bruch eintritt oder eine vorgegebene Maximaldehnung

erreicht ist. Durch Interpolation zwischen diesen Wertetripeln ( σ, ε, t) entsteht unter Verzicht

auf einen erheblichen Teil der in a enthaltenen Information das Zeitstandschaubild b. Dass die

darin enthaltenen Zeitbruchlinien (σ, tB) bzw. Dehngrenzlinien (σ, tε) bei der üblichen

doppelt-logarithmischen Auftragung die Form von Geraden annehmen, soll hier zunächst als

empirischer Befund hingenommen werden. In einem zweiten Schritt wird nun das

Zeitstandschaubild, wie Abb. 2.5.7 andeutet, auf einzelne Werkstoffkennwerte reduziert,

insbesondere auf die Zeitstandfestigkeit σB/t und auf die Zeitkriechgrenze σε/t.

Der andere Weg - a, d, e, f - entspricht mehr dem wissenschaftlichen Interesse an einem

Verständnis der Grundlagen derjenigen Vorgänge, welche das Fließen oder Kriechen der

Festkörper bei hohen Temperaturen ermöglichen. Er führt auf andere Kennwerte, die solchen

Funktionen der Zeit, der Spannung und der Temperatur zugeordnet sind, welche einer

theoretischen Deutung fähig erscheinen. In der wissenschaftlichen Analyse des

Kriechversuchs wird in neuerer Zeit das Basisdatenmaterial a zunächst durch Differenziation

nach der Zeit in das Kriechdiagramm d überführt. Dieses stellt die Kriechgeschwindigkeit &ε

logarithmisch als Funktion der Dehnung ε w (εw = wahre Dehnung, berücksichtigt die

Querschnittsveränderung bei metallischer Werkstoffe) dar. Dadurch wird ein fundamentalerer

Zusammenhang zweier Größen herausgestellt, als es die anwendungstechnisch wichtigere

Funktion ε( )t ist. Ferner lassen sich in einem solchen &( )ε ε -Diagramm primäre, sekundäre

und tertiäre Kriechbereiche, vgl. Abb. 2.5.3, sowie Überlagerung von

Rekristallisationsprozessen besser voneinander trennen.

Eine „Informationsverdichtung“ führt nun von d zu e: Auftragung der zu einem bestimmten

Wert von ε oder zu einem bestimmten Stadium der Kriechkurve a - z.B. dem stationären

Bereich - gehörenden Kriechgeschwindigkeiten &ε über dem Parameterwert σ . Dass auch hier

Page 95: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 95 -

wie bei b doppeltlogarithmische Auftragung zu einer angenähert linearen Darstellung führt,

soll wiederum als empirischer Befund vorgemerkt werden. Ein weiterer Schritt führt von der

Kurve e zu einem Kennwert, dem Spannungsexponenten n.

Ganz analog würde die Auswertung einer Schar von Kriechkurven, die bei gleicher

Spannung, aber verschiedener Temperatur gewonnen wurden, verlaufen. In der zu d

entsprechenden Stufe wäre log &ε über 1/T - statt über log σ - aufzutragen. Als Kennwert

würde sich analog zu n die Aktivierungsenergie Q ergeben.

2.5.4 Verlauf der Kriechkurve

Anfangsdehnung

Ein Kriechversuch findet zwar bei konstanter Spannung σ statt, jedoch wird der Soll-Wert σ

wegen der Trägheit des Systems nicht momentan, sondern innerhalb eines endlichen

Zeitintervalls Δt aufgebracht. Δt ist relativ zur Dauer des Kriechversuchs sehr klein. Am Ende

von Δt - unmittelbar nach Lastaufgabe - wird eine Anfangsdehnung ε0 gemessen. Da die

Spannung σ von der gesamten Probe getragen wird, enthält ε0 einen elastischen (reversiblen)

Anteil von der Größenordnung σ/E und ferner einen plastischen Anteil, wie er sich auch bei

einem Verformungsversuch mit der vorgegebenen Geschwindigkeit & /ε ε≈ 0 Δt eingestellt

hätte.

ε0 ist experimentell schwer festzulegen, zumal dann, wenn die Kriechgeschwindigkeit im

anschließenden Übergangsbereich mit ε0/Δt vergleichbar ist. Es bleibt dann nur die

Möglichkeit, die innerhalb von 1 bis 2 s nach Lastaufgabe gemessene Dehnung als ε0

auszuwerten, wobei erhebliche Streuungen auftreten können. ε0 hängt naturgemäß auch vom

Probenzustand unmittelbar vor der Lastaufgabe und vom Verlauf von σ(t) zwischen t = 0 und

Δt ab. Vom atomistischen Standpunkt aus kann ε0 als diejenige Dehnung verstanden werden,

welche durch die Summe von elastischer Verzerrung, sowie athermischen und thermisch

aktivierten Versetzungsbewegungen unter Einschluss von Gleit- und Schneidprozessen

innerhalb der Lastaufgabezeit Δt bewirkt wird. Die thermisch aktivierten Prozesse sind

naturgemäß zeitabhängig. Dies führt nicht nur zur Geschwindigkeitsabhängigkeit von ε0,

Page 96: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 96 - 2.5. Hochtemperaturplastizität

sondern auch dazu, dass diese Prozesse für t > Δt weiterlaufen: Die Anfangsdehnung setzt

sich im Übergangskriechen fort.

Übergangskriechen

Ein „klassischer“ Ansatz zur empirischen Beschreibung des Verlaufs der Kriechkurve

zwischen ε0 und ε1 (Abb. 2.5.3) geht auf Andrade zurück (sog. „β-flow“)

l t l ß t k t( ) ( ) exp( )= + ⋅ ⋅0 1

1/3

(2.5.10)

l(t) = Länge zur Zeit t

l0 = Ausgangslänge

ß und x = Konstanten

t = Zeit

Der Exponentialterm sollte das Aufsteigen der Kriechkurve im sekundären und tertiären

Bereich erfassen. Nachdem später der Begriff des stationären Kriechens entwickelt war,

formten Cottrell und Ayetekin obigen t1/3-Ansatz so um, daß er eine zeitproportionale

Dehnung enthält:

ε ε ε( ) & .

/

t ß t ts= + ′ ⋅ + ⋅0

1 3

(2.5.11)

Der 2. Term erlaubt in der Tat eine gute Beschreibung von Messergebnissen im

Übergangsbereich, z.B. an Cu, an Ni-Co-Legierungen, und an niedrig legierten ferritischen

Stählen (Abb.2.5.8).

Proportionalität der Kriechdehnung εc von gesintertem Siliciumnitrid bei 1250 °C im Übergangsbereich entsprechen εc~tm mit m = 0,7 [10]

Abb. 2.5.8

Page 97: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 97 -

Stationäres Kriechen

Kriechverformung mit konstanter Geschwindigkeit &ε s ist über einen längeren Dehnbereich

nur bei konstanter Spannung zu erwarten. Bei Kriechversuchen mit konstanter Last ist

insbesondere bei metallischen Werkstoffen wegen der laufenden Querschnittsveränderungen

keine konstante Kriechgeschwindigkeit zu erwarten. Wegen der geringen Verformungsraten

keramischer Werkstoffe stellt sich dort dieses Problem in der Regel nicht. In vielen Fällen

stellt sich kein wirkliches stationäres Kriechen ein, weil bei den hohen

Untersuchungstemperaturen Gefügeveränderungen wie z.B. Oxidation, Glasphasenbildung

oder Kristallumwandlungen auftreten. Bei metallischen Werkstoffen kann es darüber hinaus

zur Bildung stabiler Substrukturen durch Ausscheidungspartikel oder

Versetzungsaufspaltungen kommen.

Abb. 2.5.9 zeigt am Beispiel einer Ni-Cr-Legierung mit steigender Spannung die Zunahme

der Kriechgeschwindigkeit. Gleiches gilt übrigens für zunehmende Temperatur, wie später

noch gezeigt wird.

Schwach ausgeprägter stationärer Kriechbereich von SRBSN bei σ = 160 MPa und

verschiedenen Temperaturen [10]

Abb. 2.5.9

Page 98: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 98 - 2.5. Hochtemperaturplastizität

Tertiärer Kriechbereich

Der Übergang vom sekundären in den tertiären Kriechbereich läuft ebenso kontinuierlich wie

der vom primären in den sekundären Bereich. Der tertiäre Kriechbereich leitet den

Kriechbruch ein. Das Ende des Tertiärbereiches - der Bruch - wird durch εB und tB

gekennzeichnet (Abb. 2.5.3). Zahlreiche Messungen haben gezeigt, dass tB und &ε s durch die

einfache Beziehung

t c sB = / &ε (2.5.12)

verknüpft sind, wobei in der Konstante c u. a. Strukturparameter des Werkstoffs vereinigt

sind. Diese empirische Beziehung findet sich u.a. bestätigt an Kupfer, austenitischem Stahl,

Nickel- und Nickelchromlegierungen und an α-Eisen (Abb. 2.5.10). Diese Abbildung zeigt,

dass alle Kriechkurven eines Werkstoffs untereinander ähnlich sind.

Proportionalität zwischen der Zeit tf bis zum Bruch und dem Kehrwert

der stationären Kriechgeschwindigkeit von Al2O3 mit 4% Glasphase [10]

Abb. 2.5.10

2.5.5 Einflussgrößen auf die stationäre Kriechgeschwindigkeit

Spannung

Die Spannungsabhängigkeit der Kriechgeschwindigkeit wird am häufigsten mit der Potenz-

funktion

& ( ) .ε σσs B n= 1 (2.5.13) beschrieben. In der Konstante B sind wiederum Strukturparameter des Werkstoffs enthalten.

Page 99: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 99 -

Für den Spannungsexponenten n ergeben sich insbesondere für metallische Werkstoffe häufig

Werte zwischen 3 und 5, keramische Werkstoffe zeigen häufig einen Spannungsexponenten n

zwischen 1 und 2. (Abb. 2.5.11) Wie später noch gezeigt wird, sind hierfür

Diffusionsvorgänge bzw. Korngrenzengleitvorgänge verantwortlich.

Spannungsabhängigkeit von &ε nach dem Potenzgesetz

für verschiedene HIP-Si3N4 Werkstoffe

Abb. 2.5.11

Temperatur

Experimentell ergibt sich für die stationäre Kriechgeschwindigkeit nicht zu großer

Temperaturbereiche häufig eine Arrheniusfunktion

Page 100: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 100 - 2.5. Hochtemperaturplastizität

& ( , ) exp( /ε σs cf S Q RT)= −1 (2.5.14)

mit einer konstanten (scheinbaren) Aktivierungsenergie Qc. Aus der Auftragung von log &ε s

über 1/T lässt sich aus der Steigung dieser Geraden die Aktivierungsenergie der Reaktion

ermitteln (Abb. 2.5.12).

Arrhenius-Darstellung verschiedener HPSN-Werkstoffe bei 70,5 MN/m2 [14]

Abb. 2.5.12

Diese Funktion ähnelt sehr dem funktionalen Verhalten des Diffusionskoeffizienten und es

liegt schon hier nahe, die Qc-Werte mit Selbstdiffusionskoeffizienten zu korrelieren. Auf

diese Zusammenhänge wird an anderer Stelle noch einmal eingegangen (siehe Kap. 2.5.6).

Stationäre Kriechgeschwindigkeit

Page 101: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 101 -

2.5.6 Kriechmechanismen

Die Verformung keramischer Werkstoffe bei hohen Temperaturen wird durch

Versetzungsbewegungen sowie Diffusions- und Korngrenzengleitvorgänge bestimmt. Um die

Entstehung von Verformungsdiagrammen und Gefügeeinflüsse auf das Verformungsverhalten

verstehen zu können, werden die atomistischen Zusammenhänge im folgenden kurz

beschrieben.

Versetzungen

Die plastische Verformung in Kristallen findet statt durch die Bewegung von Versetzungen in

den Kristallstrukturen. Neben den Punktdefekten existieren in realen Kristallen Liniendefekte,

die Versetzungen genannt werden. Wird ein Kristall mechanisch belastet, findet die

Verformung statt durch relative Scherung von zwei Teilen dieses Kristalls entlang einer

Gleitebene, die parallel zu einer Gitterebene verläuft.

Reine (a) Stufen- und (b) Schraubenversetzung bei plastischer Deformation [8]

Abb. 2.5.13

Die Grenze zwischen den verschobenen und unverschobenen Teilen des Kristalls wird

Versetzungslinie genannt. Die Versetzungslinie kann senkrecht zur Gleitrichtung verlaufen

(Stufenversetzung) oder parallel zur Gleitebene (Schraubenversetzung) (Abb. 2.5.13). Die

Struktur einer Stufenversetzung ist gleichzusetzen mit der Einführung einer zusätzlichen

Ebene von Atomen in den Kristall. Dies wird in Abb. 2.5.14 am Beispiel von Seifenblasen

deutlich gemacht.

Page 102: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 102 - 2.5. Hochtemperaturplastizität

Versetzungen in einem Netzwerk von Seifenblasen [8]

Abb. 2.5.14

Charakteristisch für die Versetzung ist der Burgers-Vektor b, der die Einheit des Gleit-

abstandes für die Versetzung darstellt und immer parallel zur Gleitebene verläuft

(Abb. 2.5.15).

Kombination von Stufen- und Schraubenversetzung mit Burgers-Vektoren [8]

Abb. 2.5.15

Er wird bestimmt, indem man beim Punkt A startet und eine bestimmte Anzahl von

Gitterabständen in eine Richtung zählt. Eine weitere Anzahl von Gitterabständen wird nun in

eine Richtung senkrecht dazu gezählt usw. bis der komplette Kreis geschlossen ist. Der

Endpunkt liegt in einem bestimmten Abstand von A, dem sogenannten Burgers-Vektor. Bei

einer Stufenversetzung verläuft der Burgers-Vektor immer senkrecht zur Versetzungslinie,

bei einer Schraubenversetzung parallel zur Versetzungslinie. Im allgemeinen sind

Versetzungen nicht auf diese beiden Typen beschränkt, meistens kommen sie in Kombination

vor (gemischte Versetzungen). Um Versetzungen zu erzeugen, sind sehr große Spannungen

Page 103: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 103 -

notwendig. Sie entstehen in der Regel bei der Kristallisation, Kühlprozessen oder bei der

Bearbeitung als thermische und mechanische Spannungen, durch Ausscheidungen und durch

Entstehung von Sekundärphasen.

Versetzungen mit kleinen Burgers Vektoren benötigen geringe Energien zu ihrer Bildung.

Dies wird deutlich am Vergleich von Versetzungen in Metallen und ionisch gebundenen

Werkstoffen (Abb. 2.5.16).

Schematische Darstellung einer Stufenversetzung in einem Metall und in NaCl [8]

Abb. 2.5.16

Um die Regelmäßigkeit von Ionen oberhalb und unterhalb der Gleitebene zu erhalten, müssen

z.B. in Na-Cl-Kristallen zwei Halbebenen von Atomen bewegt werden, in einem

Metallkristall nur eine. Um Versetzungen in Ionenkristallen zu erzeugen, sind daher

wesentlich höhere Spannungen notwendig als in Metallen.

Abb. 2.5.17 zeigt die schematische Darstellung von makroskopischen und mikroskopischen

Gleiten und Zwillingsbildung.

Page 104: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 104 - 2.5. Hochtemperaturplastizität

Schematische Darstellung von makroskopischem (a) und

mikroskopischem (b) Gleiten und Zwillingsbildung [8]

Abb. 2.5.17

Die erforderliche Spannung für plastische Deformation von Einkristallen ist die notwendige

Schubspannung in Gleitrichtung auf der Gleifläche (Abb. 2.5.18).

Bestimmung der kritischen Schubspannung [8]

Abb. 2.5.18

Page 105: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 105 -

Wenn die Normale zur Gleitebene einen Winkel von φ zur angelegten Spannung aufweist,

dann ist die Spannung in dieser Ebene (F/A)·cos φ. Wenn die Gleitrichtung in einen Winkel

von ψ zur Belastungsrichtung verläuft, beträgt die kritische Scherspannung

τ φ ψkritFA

= cos cos (2.5.15)

Im allgemeinen sind die Unterschiede zwischen den kritischen Scherspannungen für

verschiedene Gleitsysteme sehr groß. In Natrium-Chlorid-Strukturen ist das Gleiten auf

{110}-Ebenen und in [ ]110 − Richtungen schon bei niedrigen Temperaturen möglich

(Abb. 2.5.19).

Gleitmöglichkeiten in Kristallen mit NaCl-Struktur [8]

Abb. 2.5.19

Derartige Verschiebungen führen zu Verformungsmarkierungen auf der Oberfläche der

deformierten Kristalle (Abb. 2.5.20).

Verformungsmarkierungen auf der Oberfläche von verformten MgO-Kristallen [8]

Abb. 2.5.20

Page 106: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 106 - 2.5. Hochtemperaturplastizität

Begrenzungen in den Gleitsystemen und Gleitrichtungen resultieren sowohl aus

geometrischen als auch aus elektrostatischen Betrachtungen.

Dort wo Versetzungen an die Oberfläche treten, können sie mit Ätztechniken sichtbar

gemacht werden (Abb. 2.5.21).

Ätzgruben von Versetzungen in LiF Kristallen [8]

Abb. 2.5.21

Einmal entstandene Versetzungen bewegen sich unter Belastung in sogenannte Gleitbänder,

die viele Versetzungen enthalten, wie in Abb. 2.5.22 dargestellt ist.

Versetzungen an der Oberfläche von LiF Kristallen [8]

Abb. 2.5.22

Die Geschwindigkeit, mit der sich ein Kristall bei Belastung plastisch verformt, hängt davon

ab, wie viele Versetzungen sich bewegen und wie hoch ihre Geschwindigkeit ist.

Page 107: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 107 -

In realen Kristallen findet die plastische Deformation nicht nur durch das Gleiten von

Versetzungen statt. Eine Vielzahl von Hindernissen müssen von Versetzungen umgangen

werden, um den Gleitmechanismus in Bewegung zu setzen bzw. in Bewegung zu halten.

Größere Hindernisse, wie Ausscheidungen, können nur schwer überwunden werden, kleinere

Kristallfehler, wie z.B. Punktdefekte, können insbesondere durch thermische Aktivierung

umgangen werden.

Versetzungsklettern

Versetzungsklettern ist die Bewegung von Versetzungen aus ihren Gleitebenen heraus; es

erfordert die Diffusion von Atomen oberhalb der Versetzungslinie (Abb. 2.5.23).

Versetzungsklettern beim Überwinden eines Hindernisses [8]

Abb. 2.5.23

Dies entspricht einer Bewegung der Versetzung in eine angrenzende Ebene entsprechend der

Volumendiffusion von Leerstellen. Dieser Kletterprozess hängt also ab von der Diffusion von

Gitterleerstellen, und die Deformationsgeschwindigkeit wird durch Diffusion kontrolliert. Die

stationäre Kriechgeschwindigkeit für kleine Spannungen ist gegeben durch

&.

. . .ε π σ≈

2 4 5

0 5 3 5 0 5D

b G N kT (2.5.16)

wobei D der Diffusionskoeffizient der Spezies ist, G der Schubmodul, b der Burgers-Vektor

und N ist die Dichte der Versetzungen.

Page 108: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 108 - 2.5. Hochtemperaturplastizität

Diffusionskriechen

Bei diesem Prozess erlaubt die Selbstdiffusion innerhalb der Körner eines polykristallen

Festkörpers, dass er sich unter einer angelegten Spannung plastisch verformt. Die

Deformation resultiert aus dem Diffusionsfluss innerhalb eines Korns weg von jenen

Grenzen, an denen Druckspannungen herrschen, hin zu Korngrenzen, an denen Zugspannung

vorherrscht (Abb. 2.5.24).

Spannungsinduzierte Wanderung an Korngrenzen führt zur Kornverlängerung [8]

Abb. 2.5.24

Z.B. erhöht die Zugspannung an der Korngrenze die Leerstellenkonzentration c nach

c c kT= 0 exp( / )σΩ , (2.5.17)

wobei Ω das Leerstellenvolumen darstellt und c0 die Gleichgewichtskonzentration. Eine

Druckspannung reduziert die Konzentration nach

c c kT= −0 exp( / ).σΩ (2.5.18)

Die resultierende Verformung ist immer begleitet von Korngrenzengleitvorgängen. Unter

stationären Bedingungen wird die Kriechgeschwindigkeit nach F.R.N. Nabarro und

C. Herring berechnet nach

Page 109: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 109 -

&,

εσ

=13 3

2

ΩDkTd

, (2.5.19)

wobei d die Korngröße ist.

Die Kriechgeschwindigkeit ist also proportional zur angelegten Spannung, das bedeutet, der

Spannungsexponent ist 1. Wenn die geschwindigkeitsbestimmende Diffusion entlang der

Korngrenzen erfolgt, hat R.L. Coble die stationäre Kriechgeschwindigkeit berechnet zu

&εσ

=47

3

ΩδDkTd

b , (2.5.20)

wobei δ die Korngrenzenbreite und Db der Diffusionskoeffizient in der Korngrenze ist. Auch

hier ist die stationäre Kriechgeschwindigkeit linear abhängig von der angelegten Spannung.

Korngrenzengleiten

Häufig finden sich an Korngrenzen glasig erstarrte Sekundärphasen. Bei höheren

Temperaturen können sie wie Flüssigkeiten betrachtet werden. Bei niedrigen

Geschwindigkeiten bewegt sich die Flüssigkeit in parallelen Schichten (Abb. 2.5.25).

Für einfache Flüssigkeiten ist die Verformungsgeschwindigkeit direkt proportional zur

angelegten Schubspannung.

Kraft pro Einheitsfläche (τ) und Geschwindigkeitsgradient

sind über die Viskosität miteinander verknüpft [8]

Abb. 2.5.25

Page 110: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 110 - 2.5. Hochtemperaturplastizität

ητ τ

η= =

dv dxdvdx/

, (2.5.21)

Die Viskosität η ist also definiert als das Verhältnis von Schubspannung zu

Geschwindigkeitsgradient, τ ist die angelegte Spannung an eine Einheitsfläche A parallel zur

Fließrichtung und dv/dx ist der Geschwindigkeitsgradient. Der Viskositätskoeffizient η

besitzt die Einheit Schubspannung pro Geschwindigkeitsgradient (g/cm ⋅ sec oder Poise).

Die Viskosität variiert in sehr weiten Grenzen. Wasser bei Raumtemperatur und flüssige

Metalle haben Werte in der Größenordnung von 0,01 P. Natron-Kalk-SiO2-Gläser haben bei

Liquidustemperatur Werte von ∼ 1000 P.

Bei Anlegen einer Schubspannung verhält sich also die Dehnung proportional zur angelegten

Spannung. Die Kriechgeschwindigkeit jedoch wird begrenzt durch die Änderung der Gestalt

der individuellen Körner. Wenn die erforderlichen Akkommodationsprozesse

diffusionskontrolliert ablaufen, kann die Kriechgeschwindigkeit ebenfalls nach Gleichung

2.5.19 und 2.5.20 berechnet werden. Umgekehrt sind Korngrenzengleitvorgänge notwendig,

wenn der Kriechvorgang diffusionsgesteuert ist.

Verformungsdiagramme

M. Ashby hat Verformungsdiagramme eingeführt, aus denen die Verformungsmechanismen

abgelesen werden können. An den Achsen ist die homologe Temperatur T/Tm aufgetragen,

wobei Tm die absolute Schmelztemperatur darstellt und die normalisierte Spannung σ/G mit

G als Schubmodul dargestellt ist. Verschiedene stationäre Verformungsmechanismen, die in

einem bestimmten Spannungs-Temperaturgebiet dominant sind, sind als Felder dargestellt.

Die Diagramme sind mit den Gleichungen 2.5.16, 2.5.19 und 2.5.20 berechnet.

Page 111: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 111 -

Verformungsdiagramm von MgO [8]

Abb. 2.5.26

Wenn z.B. die Dehnungsgeschwindigkeiten für Magnesiumoxid nach Gleichungen 2.5.16

2.5.19 und 2.5.20 berechnet werden, ergeben sich die Grenzen zwischen versetzungs- und

diffusionskontrollierten Kriechbereichen (Abb. 2.5.26). Bei keramischen Werkstoffen sind

die diffusionsbestimmten Bereiche wesentlich ausgeprägter als bei metallischen Werkstoffen

(s. Diskussion über Versetzungskriechen).

Gefügeeinflüsse

Neben der Temperatur und der Spannung wird die Kriechgeschwindigkeit keramischer

Werkstoffe auch durch das Gefüge (Korngröße und Porosität), die chemische Zusammen-

setzung und die Atmosphäre beeinflusst.

So nimmt z.B. die Kriechgeschwindigkeit zu, wenn die Porosität ansteigt. Abb. 2.5.27 zeigt

den Einfluss der Porosität auf die Kriechgeschwindigkeit von Aluminiumoxid. Zunehmende

Porosität reduziert den Probenquerschnitt, was zu einem Anstieg der Kriechgeschwindigkeit

führt.

Page 112: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 112 - 2.5. Hochtemperaturplastizität

Einfluss der Porosität auf das Kriechverhalten von polykristallinem Al2O3 [8]

Abb. 2.5.27

Das Verhältnis der Kriechgeschwindigkeiten des porösen ( &ε p ) und des dichten Werkstoffes

( &εd ) lässt sich mit folgender empirischen Beziehung beschreiben:

[ ]&

&( )

ε

εp

dva V P= +1 2 , (2.5.21)

wobei Vv(P) Volumenanteil der Porosität ist.

Dieser Zusammenhang ist in Abb. 2.5.28 am Beispiel von RBSN graphisch dargestellt.

Porositätsabhängigkeit der Kriechgeschwindigkeit von RBSN [12]

Abb. 2.5.28

Page 113: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

2. Mechanisches Verhalten - 113 -

Das Kriechverhalten von Magnesiumoxid mit Eisenverunreinigungen wird bei niedrigen

Spannungen durch Diffusionskriechen bestimmt. Dies wird dokumentiert durch den linearen

Zusammenhang zwischen der Verformungsgeschwindigkeit und der Spannung und der (d)-2-

Abhängigkeit von der Korngröße (Abb. 2.5.29). Bei höheren Spannungen nimmt der

Spannungsexponent zu, was auf den Mechanismus des Versetzungskriechens hinweist.

Kriechgeschwindigkeit in Abhängigkeit von der Korngröße von polykristallinem MgO [8]

Abb. 2.5.29

In feuerfesten Werkstoffen finden sich in der Regel größere Mengen an Glasphase im Gefüge.

Diese Glasphase kontrolliert häufig den Verformungsmechanismus. Die Verformungs-

geschwindigkeit hängt dann linear ab von der Spannung und hat eine Aktivierungsenergie, die

ähnlich der Temperaturabhängigkeit der Viskosität des Glases ist. Mit zunehmender Reinheit

verändern sich die Verformungsmechanismen. Für hochaluminiumoxidhaltige feuerfeste

Werkstoffe wird als Verformungsmechanismus neben Korngrenzengleiten

Versetzungskriechen beobachtet.

Wenn in den Kristallstrukturen der kovalente Bindungsanteil zunimmt, nehmen die

Diffusionskoeffizienten und die Versetzungsmobilität ab. Carbide und Nitride beispielsweise

sind aus diesen Gründen äußerst kriechbeständige Materialien. Sekundäre Phasen an den

Korngrenzen, die zur Beschleunigung der Sintermechanismen zugegeben werden, erhöhen

Page 114: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 114 - 2.5. Hochtemperaturplastizität

allerdings die Kriechgeschwindigkeit bei hohen Temperaturen.

Kriechdehnung als Funktion der Zeit für verschiedene HIP-Si3N4 Werkstoffe

Abb. 2.5.30

So nimmt z.B. die Kriechgeschwindigkeit in dichtem Si3N4 mit zunehmendem

Glasphasenanteil im Gefüge (hervorgerufen durch zunehmenden Anteil an Sinteradditiven

MgO oder Y2O3) bzw. mit abnehmender Viskosität der gebildeten Korngrenzenphase (Ersatz

von Y2O3 durch MgO) zu (Abb.2.5.30).

Page 115: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3. Thermische Eigenschaften - 115 -

3. Thermische Eigenschaften 3.1. Spezifische Wärme

Die spezifische Wärme ist in der Technik diejenige Wärmemenge, die notwendig ist, um 1 kg

eines Stoffes um 1K zu erwärmen. Bei Gasen wird die spezifische Wärme meistens auf einen

Normkubikmeter bezogen, d.h. auf 1 m3 des Gases bei 0°C und 760 Torr. Ihre Einheit ist

kJ/m3·K. In der Chemie wird die spezifische Wärme oft auf das kmol bezogen (= Molwärme).

Ihre Einheit ist dann kJ/kmol·K. Bei Elementen spricht man von der Atomwärme bezogen auf

ein Kilogrammatom, also kJ/kg-Atom·K. Spezifische Wärmen sind immer

temperaturabhängig. Für Gase sind sie außerdem noch druckabhängig. Bei festen Stoffen

beobachtet man praktisch keine Druckabhängigkeit und auch bei Flüssigkeiten kann sie

meistens vernachlässigt werden.

Die spezifische Wärme ist eine Energiegröße, die einem Stoff zwecks Temperaturerhöhung

zugeführt werden muss. Es gilt:

spezifische Wärme bei konstantem Druck: c dQ

dTdHdTp

p= ⎛⎝⎜

⎞⎠⎟

≡ (3.1.1)

spezifische Wärme bei konstantem Volumen: c dQ

dTdUdTv

v= ⎛⎝⎜

⎞⎠⎟

≡ (3.1.2)

H ist die Enthalpie, U die innere Energie eines Stoffes. Da sich Körper mit steigender

Temperatur ausdehnen, wird bei einer Energiezufuhr unter konstantem Druck noch eine

Volumenarbeit geleistet, d.h. cp ist größer als cV.

H = U + p V (3.1.3)

dHdT

dUdT

d p VdT

⎛⎝⎜

⎞⎠⎟= ⎛⎝⎜

⎞⎠⎟+

⋅( ), (3.1.4)

p V = R T (3.1.5)

d p VdT

R( )⋅= (3.1.6)

Page 116: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 116 - 3.1. Spezifische Wärme

cp = cv + R (3.1.7)

R = allgemeine Gaskonstante = Volumenarbeit (für ideales Gas).

Bei Festkörpern ist dieser Unterschied klein und kann lediglich bei sehr hohen Temperaturen

nicht mehr vernachlässigt werden.

Spezifische Wärme von Gasen

Die spezifische Wärme vergrößert wie jede andere Wärmemenge die Bewegungsenergie der

Gasmoleküle. Diese haben drei verschiedene Bewegungsmöglichkeiten:

1. Translation = fortschreitende Bewegung: Sie kann nach den drei Richtungen des

Raumes erfolgen, hat also drei Freiheitsgrade.

2. Rotation = Drehbewegung: Die Anzahl der Freiheitsgrade richtet sich nach der Anzahl

der Atome im Molekül, es muss also unterschieden werden:

2.1 Einatomige Moleküle: Die für die Rotation benötigte Energie ist im Vergleich zur

Energie, die für die Translation notwendig ist, so gering, dass sie hier

vernachlässigt werden kann, also kein Freiheitsgrad.

2.2 Zweiatomige Moleküle (Hantelmodell): Sie besitzen zwei Freiheitsgrade der

Rotation. Das Rotieren um die Längsachse benötigt fast keine Energie, so dass sie

hier vernachlässigt werden kann.

2.3. Dreiatomige Moleküle: Hier muss zwischen zwei Molekülarten unterschieden

werden:

2.3.1 Gestreckte Moleküle (z.B. CO2): Für sie gilt dasselbe wie für zweiatomige

Moleküle, d.h. sie besitzen zwei Freiheitsgrade der Rotation.

2.3.2 Gewinkelte Moleküle (z.B. H2O): Da das Rotieren um alle drei Drehachsen

Energie erfordert, besitzen sie drei Freiheitsgrade der Rotation.

3. Oszillation = Schwingungsbewegung: Hierunter versteht man das Schwingen der

Page 117: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3. Thermische Eigenschaften - 117 -

Atome innerhalb des Moleküls, d.h. ein elastisches Hin- und Herschwingen der Atome

gegeneinander, entsprechend einer fortlaufenden Speicherung von kinetischer und

potentieller Energie. Deshalb zählt auch jede Schwingung doppelt, d.h. zwei

Freiheitsgrade der Oszillation. Die Anzahl der Freiheitsgrade richtet sich auch hier

nach der Anzahl der Atome im Molekül.

3.1 Einatomige Moleküle: Sie haben null Freiheitsgrade der Oszillation.

3.2 Zweiatomige Moleküle: Sie haben zwei Freiheitsgrade der Oszillation.

3.3 Dreiatomige Moleküle: Hier können zwei mal zwei Atome gegeneinander

schwingen, d.h. sie haben vier Freiheitsgrade der Oszillation.

Ganz allgemein gilt jedoch, dass die Oszillation erst bei höheren Temperaturen (etwa ab

700°C) zum Tragen kommt.

Nach dem „Gesetz über die Gleichverteilung der Energie“ benötigt jeder Freiheitsgrad die

gleiche Energiemenge. Diese beträgt nach der kinetischen Gastheorie R/2 pro Freiheitsgrad

R pro Freiheitsgrad kJ Freiheitsgr kmol K2

8 3142

4 157= = ⋅ ⋅, , / .

oder 0,993 kcal / Freiheitsgr.·kmol·K(3.1.8)

R = allgemeine Gaskonstante, hier: 8,314 kJ/kmol·K.

Das bedeutet, dass die schnellere Bewegung der Gasmoleküle, welche die Erwärmung von

einem Kilomol eines Gases um 1 K bei konstantem Volumen erfordert, eine Energiezufuhr

von 0,993 kcal pro angeregtem Freiheitsgrad bedingt.

Auf diese Weise lässt sich die Molwärme eines Gases bei konstantem Volumen (cv)

berechnen. Der berechnete Wert stimmt mit dem experimentell gefundenen Wert umso besser

überein, je mehr das untersuchte Gas einem idealen Gas gleicht. Zum Beispiel:

1. Ein einatomiges Edelgas hat insgesamt nur drei Freiheitsgrade:

cv = 3· R2

= 3·0,993 kcal/kmol K = 2,979 kcal/kmol·K

cp = cv + R = 5· R2

= 4,97 kcal/kmol·K

Page 118: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 118 - 3.1. Spezifische Wärme

Experimentell ermittelt:

He: cv = 2,98 kcal/kmol·K; Ar. cv = 2,98 kcal/kmol K

2. Ein zweiatomiges Gas hat insgesamt fünf Freiheitsgrade:

cv = 5· R2

= 5·0,993 kcal/kmol·K = 4,965 kcal/kmol·K

cp = cv + R = 7· R2

=6,951 kcal/kmol·K

Experimentell ermittelt:

H2: cv = 4,91 kcal/kmol·K; N2: cv = 4,97 kcal/kmol·K; CO: cv = 4,97 kcal/kmol·K;

O2: cv = 5,03 kcal/kmol·K

3. Ein dreiatomiges Gas mit gewinkeltem Molekül hat insgesamt sechs Freiheitsgrade:

cv = 6· R2

= 6·0,993 kcal/kmol·K = 5,958 kcal/kmol·K

cp = cv + R = 8·0,993 kcal/mol·K = 7,944 kcal/kmol·K

Experimentell ermittelt:

H2O: cv = 6,01 kcal/kmol·K; H2S: cv = 6,10 kcal/kmol·K;

SO2: cv = 7,55 kcal/kmol·K.

Das Verhältnis der spezifischen Wärmen ist also von der Anzahl der Atome im Gasmolekül

abhängig.

k = cp/cv (3.1.9)

einatomige Gasmoleküle: k = 1,667

zweiatomige Gasmoleküle: k = 1,40

dreiatomige Gasmoleküle: k = 1,40 (gestreckte Moleküle)

dreiatomige Gasmoleküle: k = 1,33 (gewinkelte Moleküle).

Die Unabhängigkeit der Molwärme von der Temperatur ist nur bei einatomigen Gasen streng

gegeben. Bei zwei- und mehratomigen Gasen treten mit steigender Temperatur auch

Schwingungen innerhalb des Moleküls (Oszillation) auf, so dass die Molwärme zunimmt. Die

Page 119: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3. Thermische Eigenschaften - 119 -

Temperaturabhängigkeit der spezifischen Wärme kann für verschiedene Temperaturbereiche

berechnet werden etwa nach

cp = a + bT (3.1.10)

oder

cp = a + bT + cT-2. (3.1.11)

Die Formeln gelten meist nur für verschiedene Temperaturbereiche. Die Konstanten a, b und

c sind tabellarisiert.

Spezifische Wärme von Festkörpern

Die Differenz cp - cv fester Körper ist mit dem Volumenausdehnungskoeffizient ß, dem Mol-

Volumen V0 der Dichte ϕ und der Kompressibilität χ verbunden nach:

c cß V T

p v− =2

0

χ (3.1.12 a)

mit ßV

dVdT

=1

0

(3.1.12 b)

und χ =1

0VdVdp

(3.1.12 c)

c c dV V T V dpV dT dV

dVdT

T dpdTp v

p V

− = = ⎛⎝⎜

⎞⎠⎟

⎛⎝⎜

⎞⎠⎟

1 20 0

02 2 (3.1.13)

Bei Festkörpern ist der Unterschied zwischen cp und cv sehr klein und kann üblicherweise

vernachlässigt werden.

Die zur Temperaturerhöhung eines Kristalls erforderliche Energie wird ausgehend von einem

Zustand am absoluten Nullpunkt für folgende Veränderungen aufgenommen:

a) Aufnahme als Schwingungsenergie der Atome um ihre Ruhelagen, wobei Frequenz und

Amplitude von der jeweiligen Temperatur abhängen,

Page 120: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 120 - 3.1. Spezifische Wärme

b) Erhöhung des Energieniveaus der Elektronen,

c) Wechsel von Atomlagen im Gitter (zur Bildung von Defekten, Unordnungsvorgängen,

magnetische Orientierung oder auch strukturelle Vorgänge z.B. Einfrieren einer

Flüssigkeitsstruktur = Übergang zu einem Glas).

Einstein legte 1907 den ersten Lösungsvorschlag zur Temperaturabhängigkeit der

spezifischen Wärme vor, indem er die Schwingungsfrequenz der Atome als konstanten Wert

ν E annahm und erhielt

c dUdT

Nkhk T

e

eV

E

hk T

hk T

E

E

= =⋅⋅

⎛⎝⎜

⎞⎠⎟

−⎛

⎝⎜

⎠⎟

⎢⎢⎢⎢⎢

⎥⎥⎥⎥⎥

⋅⋅

⋅⋅

3

1

2

2

νν

ν. (3.1.14)

N = Anzahl Atome/Mol

k = Boltzmann Konstante

h = Planck´sches Wirkungsquant

νE = Schwingungsfrequenz der Atome

T = Temperatur

Man sieht, dass

bei T→0: cV→0

bei T→∞: cV→3 R

Durch Einsetzen von praktischen Messergebnissen kann man die „Einsteinfrequenz“

berechnen. Jedoch nähern sich im Tieftemperaturgebiet die so errechneten Werte der

spezifischen Wärme stärker dem Wert Null, als es die experimentell ermittelten tun.

Debye führte später wesentliche Verbesserungen in der Theorie ein. Er betrachtete einen

kristallinen Festkörper als ein Kontinuum von Schwingern mit einer Frequenzverteilung bis

zu einer Maximalfrequenz νD, wobei die Gesamtzahl der erlaubten Frequenzen den Wert 3 N

Page 121: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3. Thermische Eigenschaften - 121 -

(N Atome im Gesamtkristall eines Mols schwingen in 3 Raumrichtungen) nicht überschreiten

kann.

Mit der oberen Grenzfrequenz ist eine „Mindestwellenlänge“ nach

λνD

s

D

c≡ (3.1.15)

gegeben, die nicht unterschritten werden kann. Darin ist cs die Schallgeschwindigkeit im

Festkörper. Die Mindestwellenlänge ist durch den kürzesten Abstand der Atome im Gitter

bestimmt.

Man kann nun den Quotienten

h

kD

D⋅

θ (3.1.16)

als Debye-Temperatur θD definieren, die eine Stoffkonstante darstellt (auch „charakteristische

Temperatur“ genannt). Nach Debye ergibt sich für die spezifische Wärme:

c R T xe

dxT ev

Dx T

T

=⎛⎝⎜

⎞⎠⎟ ⋅

−− ⋅

⎣⎢⎢

⎦⎥⎥∫9 4

11

1

3

0θθ

θ

θ

/

/

. (3.1.17)

mit x hk T

=⋅⋅ν (3.1.18)

Für T → 0 ergibt sich:

c R T R TV

D D

= ⋅⎛⎝⎜

⎞⎠⎟ ⋅ =

⎛⎝⎜

⎞⎠⎟9 4

15234

3 4 3

θπ

θ. (3.1.19)

Bei tiefen Temperaturen ist

cv ∼ T3. (3.1.20)

Andererseits besitzen nach Boltzmann die Atome fester Körper bei ihrer Oszillation um die

Ruhelage und bei voller Anregung, also bei hoher Temperatur, je drei Freiheitsgrade der

kinetischen und potentiellen Energie, d.h. insgesamt 6. Damit ergibt sich nach dem

Page 122: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 122 - 3.1. Spezifische Wärme

Gleichverteilungssatz der Energie

c RV = =6

23 R = 25 J/g-atom·K bzw. 6 cal/g-atom·K. (3.1.21)

Dies bedeutet, dass sich die spezifische Wärme von Festkörpern bei hohen Temperaturen

einem konstanten Grenzwert von 3R nähert (Dulong-Petit-Regel).

Tab. 3.1.1: Spezifische Wärme einiger Elemente bei 20°C in J/g-atom·K

cV cP

Ag 24,27 25,49 Al 23,03 24,34 Au 24,47 25,35 Ca 24,21 26,28 Cd 24,57 26,04 Cr 22,78 23,35 Cu 23,63 24,47 K 24,80 29,51 Li 22,53 23,46

Mg 23,46 24,81 Mo 23,06 23,75 Na 24,58 28,12 Pb 24,85 26,82 Pt 24,95 26,57 W 23,59 24,08

Allgemein gilt das Gesetz von Dulong Petit bei metallischen Elementen mit Atomgewichten

oberhalb 40 recht gut (Tab. 3.1.1).

Eine Reihe stark positiver Metalle (also solche, die eine Tendenz zur Elektronenabgabe

haben) wie Na, Cs, Ca und Mg zeigen eine starke Wertzunahme auf Werte über 3 R mit

zunehmender Temperatur. Diese hohe spezifische Wärme kann durch einen Beitrag der

Elektronen erklärt werden.

Man kann zeigen, dass sich die spezifischen Wärme aller Stoffe in ihrem Temperaturverlauf

auf eine einzelne Kurve reduzieren lassen, wenn man cV gegen T/θD aufträgt (Abb. 3.1.1).

Page 123: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3. Thermische Eigenschaften - 123 -

Spezifische Wärme einiger Materialien als Funktion von T/θD

Abb. 3.1.1

Als grobe Nährung für die Debye-Temperatur kann gelten

θD ≈ (0,2-0,5)Ts (3.1.22)

(Ts = Schmelztemperatur).

Tabelle 3.1.2: Beispiele für Debye-Temperaturen in K

Mg0 946 Ag 220 Cr 405 SiO2 470 Al 380 Cu 310 CaF2 510 Au 185 K 99 TiO2 760 Ca 230 Mo 375 Fe2O3 660 Cd 165 Pb 86

Bei keramischen Systemen erreicht die spezifischen Wärme einen Wert von 3 R erst bei sehr

hohen Temperaturen (Abb. 3.1.2). Die Temperatur, bei der die spezifische Wärme einen

konstanten Wert einnimmt oder sich nur gering mit der Temperatur ändert, ist von der

Bindungsfestigkeit, elastischen Konstanten und dem Schmelzpunkt der Werkstoffe abhängig

und unterscheidet sich sehr stark für verschiedene Materialien (Tab. 3.1.2).

Page 124: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 124 - 3.1. Spezifische Wärme

Spezifische Wärme einiger keramischer Werkstoffe

in Abhängigkeit von der Temperatur [8]

Abb. 3.1.2

Für die analytische Darstellung der Temperaturabhängigkeit der spezifischen Wärmen fester

Werkstoffe verwendet man für thermodynamische Berechnungen wie bei Gasen Ansätze, die

stets nur für einen bestimmten Temperaturbereich gelten (siehe Gl. 3.1.10 und 3.1.11).

Wie in Abb. 3.1.2 zu sehen ist, steigt die Wärmekapazität bei Temperaturen über der

charakteristischen Debye-Temperatur geringfügig an. Dafür sind die Entwicklung von

Frenkel- und Schottky-Fehlstellen, magnetischen Umordnungen und

Elektronenenergieverteilungen verantwortlich.

In den meisten keramischen Werkstoffen steigt die spezifische Wärme von Null bei niedrigen

Temperaturen zu einem Wert in der Größenordnung von 5,96 kJ/g-Atom·K bei Temperaturen

um 1000°C (für die meisten Oxide und Carbide). Kristallumwandlungen aller Art äußern sich

durch Unstetigkeiten im Temperaturgang der spezifischen Wärmen. Eine abrupte Änderung

der spezifischen Wärme ist z.B. bei der Änderung von Gitterstrukturen, also z.B. bei der α/ß-

Quarzumwandlung zu beobachten (Abb.3.1.3).

Page 125: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3. Thermische Eigenschaften - 125 -

Spezifische Wärme verschiedener CaO + SiO2 Varianten (Mol-Verhältnis 1:1) [8]

Abb. 3.1.3

Der Verlauf der spezifischen Wärme bei einer Ordnung-Fehlordnung-Umwandlung ist in

Abb. 3.1.4 zu sehen. Ähnliche Veränderungen der spezifischen Wärme beobachtet man bei

magnetischen und ferroelektrischen Umwandlungen.

Spezifische Wärme bei Fehlordnungsübergängen [8]

Abb. 3.1.4

a) Wasserstoffbindungen in KH2PO4, b) Fe3+-Ionen in Fe3O4

Während die Gefügeeinflüsse auf die spezifische Wärme gering sind, ist der Einfluss der

Porosität eines Werkstoffs sehr groß, da die Masse in einem Einheitsvolumen mit

zunehmendem Porenanteil abnimmt. Dies bedeutet, dass die Energie, die notwendig ist, um

z.B. die Temperatur in einem Feuerleichtstein zu erhöhen, wesentlich geringer ist als

diejenige für einen dichten Schamottestein. Auch verkleinert man bei Laboröfen gern deren

Wärmekapazität durch leichte Strahlungsschutzbleche, Faser- oder Pulverisolation.

Page 126: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 126 - 3.2. Thermische Ausdehnung

3.2 Thermische Ausdehnung

Das spezifische Volumen eines Kristalls nimmt mit steigender Temperatur zu, und der

Kristall tendiert dazu, symmetrischer zu werden. Die generelle Volumenzunahme mit der

Temperatur ist im wesentlichen bestimmt durch die Zunahme der Amplitude von

Schwingungen der Gitterbausteine um ihre mittlere Lage. Die abstoßende Kraft zwischen

Atomen ändert sich bei Vergrößerung des Abstandes zweier Atome schneller als die

anziehende Kraft. Als Konsequenz daraus ergibt sich, dass der Energieverlauf in

Abhängigkeit vom Atomabstand unsymmetrisch ist (Abb. 3.2.1). Wenn die Gitterenergie

zunimmt, führt die zunehmende Amplitude der Gitterschwingungen zu einem größeren

Atomabstand, was einer Gitterexpansion gleichkommt. Aus thermodynamischer Sicht nimmt

die Energie der Struktur zu und die Entropie nimmt ab.

Gitterenergie als Funktion des Atomabstandes [8]

Abb. 3.2.1

Die Änderung des Volumens, hervorgerufen durch Gitterschwingungen, ist also eng

verbunden mit einem Anstieg der inneren Energie. Konsequenterweise verlaufen

Veränderungen des thermischen Ausdehnungskoeffizienten mit steigender Temperatur

parallel zu Veränderungen der spezifischen Wärme (Abb. 3.2.2).

Page 127: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3. Thermische Eigenschaften - 127 -

Parallele Veränderung der spezifischen Wärme und des WAK

von Al2O3 über einen großen Temperaturbereich [8]

Abb. 3.2.2

Der thermische Ausdehnungskoeffizient nimmt bei niedrigen Temperaturen schnell zu und

erreicht einen nahezu konstanten Wert bei der charakteristischen Debye-Temperatur θD.

Oberhalb dieser Temperatur ist eine Zunahme des thermischen Ausdehnungskoeffizienten

verbunden mit der Bildung von Frenkel- und Schottky-Defekten. Die Konzentration dieser

Defekte kann direkt überführt werden in Ausdehnungsverhalten. Einige typische

Ausdehnungskoeffizienten sind in Abb. 3.2.3 dargestellt.

WAK als Funktion der Temperatur für einige keramische Oxide [8]

Abb. 3.2.3

Page 128: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 128 - 3.2. Thermische Ausdehnung

Der Wärmeausdehnungskoeffizient (WAK) für die Volumendehnung ist gegeben durch

β = ⎛⎝⎜

⎞⎠⎟

1V

dVdT

(3.2.1)

und für die Längenausdehnung durch

α = ⎛⎝⎜

⎞⎠⎟

1l

dldT

(3.2.2)

Bei der praktischen Ermittlung des WAK bestimmt man endliche Differenzen

(Differenzenquotient) und erhält mittlere Wärmeausdehnungskoeffizienten, die dann

zweckmäßigerweise mit dem Temperaturbereich angegeben werden:

β20,TV

V T=

ΔΔ

(3.2.3)

α 20,Tl

l T=

ΔΔ

(3.2.4)

Bei isotropen Körpern gilt für den Zusammenhang zwischen α βund näherungsweise

1 1 3 3 2 2 3 3+ = + + +β α α αΔ Δ Δ ΔT T T T (3.2.5)

β α≈ 3 . (3.2.6)

Bei anisotropen Kristallen unterscheidet sich der Wärmeausdehnungskoeffizient in Richtung

der unterschiedlichen kristallographischen Achsen. Kristalle streben fast immer bei höheren

Temperaturen eine höhere Symmetrie an. In tetragonalen Kristallen z.B. nimmt das Verhältnis

der kristallographischen Achsen c/a mit steigender Temperatur ab. Auch das Verhältnis der

Ausdehnungskoeffizienten αc/αa nimmt in der Regel mit steigender Temperatur ab. Einige

Werte für anisotrope Materialien zeigt Tabelle 3.2.1.

Page 129: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3. Thermische Eigenschaften - 129 -

WAK einiger anisotroper Kristalle (α x 106/K) [8]

Tab. 3.2.1

Ein typisches Beispiel für anisotropes Ausdehnungsverhalten ist z.B. der Graphit mit seiner

Schichtstruktur, in der die Bindekräfte stark gerichtet sind. Der Ausdehnungskoeffizient

parallel zur c-Achse ist viel größer als senkrecht dazu. Für stark anisotrope Kristalle kann der

Ausdehnungskoeffizient in einer kristallographischen Richtung negativ sein und der

resultierende Gesamtausdehnungskoeffizient kann sehr klein sein. Typische Beispiele sind

Aluminiumtitanat, Cordierit und verschiedene Lithium/Aluminium-Silicate. β-Eukriptit

(LiAl[SiO4]) besitzt sogar einen negativen Wärmeausdehnungskoeffizienten.

Der Wärmeausdehnungskoeffizient ist also von der Kristallstruktur und den Bindungskräften

abhängig. Werkstoffe mit hoher Bindungsfestigkeit wie Wolfram, Diamant oder

Siliciumcarbid haben sehr niedrige Wärmeausdehnungskoeffizienten. Verständlich werden

auch Beziehungen zwischen Wärmedehnung und Schmelzpunkt von Werkstoffen. Mit

zunehmender Schmelztemperatur von Elementen und Verbindungen nimmt der

Wärmeausdehnungskoeffizient ab (Abb. 3.2.4 und 3.2.5).

WAK in Abhängigkeit vom Schmelzpunkt der Elemente

Abb. 3.2.4

Page 130: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 130 - 3.2. Thermische Ausdehnung

WAK einiger Halogenide und Oxide in Abhängigkeit vom Schmelzpunkt

Abb. 3.2.5

Aus solchen Betrachtungen ist es verständlich, dass sich der lineare WAK auch aus der

Debyeschen Theorie des Festkörpers ableiten lässt als

α γχ

=⋅⋅

cV

v

3 (3.2.7)

darin ist cv die spezifische Wärme, χ die Kompressibilität, V das Volumen pro g bei 0 K und γ

die Grüneisenkonstante, die sich aus der Theorie nach

γν

= −d

d Va

lnln

(3.2.8)

ergibt, worin ν eine jeweilige Eigenfrequenz des Festkörpers ist und Va das Volumen (γ liegt

zwischen 1 und 3).

In der Gleichung zur Definition der Grüneisenkonstante muss anstelle einer einzigen

Schwingungsfrequenz eigentlich das gewogene Mittel über das ganze Schwingungsspektrum

nach der Debyeschen Theorie eingesetzt werden. Demnach ändert sich auch γ, wenn man zu

niedrigeren Temperaturen kommt (T<1/3·θD), bei denen die höherfrequenten Schwingungen

keinen Beitrag mehr zur spezifischen Wärme leisten. Die Transversalschwingungen ergeben

dann manchmal negative Werte von γ, weshalb bei niedrigeren Temperaturen auch der WAK

negativ werden kann. Dies ist z.B. bei SiO2-Glas, Zinkblende und Indiumantimonit

Page 131: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3. Thermische Eigenschaften - 131 -

beobachtet worden. Eine niedrigere Koordinationszahl begünstigt diesen Effekt dadurch, dass

eine größere Zahl von Zwischengitterplätzen entsteht, die den Atomen die Querschwingungen

zur Bindung zwischen zwei Nachbaratomen besser ermöglicht. Bei einigen Metallen (z.B.

Plutonium) beeinflusst auch eine besondere Elektronenverteilung das Ausdehnungsverhalten

in negativer Richtung.

3.2.1 Thermische Ausdehnung von mehrphasigen Keramiken

Beim Sinterprozess mehrphasiger Werkstoffe entsteht bei hohen Temperaturen ein dichtes

Gefüge bestehend aus mehreren kristallinen Phasen oder einer Mischung aus kristallinen und

glasigen Phasen. Wenn sich die Wärmeausdehnungskoeffizienten der unterschiedlichen

Phasen unterscheiden, ziehen sie sich beim Abkühlen unterschiedlich zusammen und es

entstehen Spannungen und Mikrorisse zwischen einzelnen Körnern. Der resultierende

Ausdehnungskoeffizient des Werkstoffverbundes kann berechnet werden, wenn man

annimmt, dass nur reine Zug- und Druckspannungen entstehen und keine Risse gebildet

werden. Die Spannungen in jedem Teilchen sind dann gegeben durch

σ α αi r iK T= −( )Δ , (3.2.9)

wobei α r der durchschnittliche Volumenausdehnungskoeffizient ist, α i der Volumenaus-

dehnungskoeffizient des Teilchens i, ΔT die Temperaturdifferenz zwischen dem spannungs-

freien und dem abgekühlten Zustand und K der Kompressionsmodul

K = - P/ (Δ V / V) = E / 3 (1-2μ) (3.2.9 a)

wobei P der isotrope Druck ist, V das Volumen, E der E-Modul und μ die Poissonzahl). Mit

dem Massenanteil F und der Dichte ρ einer Phase ergibt sich nach Turner[8] für den mittleren

Wärmeausdehnungskoeffizienten α eines zweiphasigen Werkstoffes:

αα

ρα

ρ

ρ ρ

=⋅ + ⋅ + ⋅⋅⋅

+ + ⋅⋅⋅

1 11

12 2

2

2

11

12

2

2

K F K F

K F K F (3.2.10)

Page 132: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 132 - 3.2. Thermische Ausdehnung

Unter Einbeziehung des Volumenanteils und des Schubmoduls ergibt sich nach Kerner [8] die

Gleichung

α α α αr VK K G K K G G K

G K V G K K K K G K= + −

+ + − +

+ − + +1 2 2 11 2 1

22 1 1

21 2

1 2 2 1 2 1 1 2 1 1

3 4 16 12

4 3 4 3 4( )

( ) ( )( )

( )[ ( ) ] (3.2.11)

wobei G1 der Schubmodul der Phase1 ist.

Für ein Li2O-B2O3-System mit 20 g-Atom % Li2O ergibt sich nach diesen Beziehungen die

Abbildung 3.2.6. Die Werte der Einzelkomponenten sind:

α1 = 12x10-6/K K1 = 1,5x10" dyn/cm2 G1 = 0,8 10" dyn/cm2 ρ1 = 1,86 g/cm3 α2 = 4,5 10-6/K K2 = 3,6 10″ dyn/cm2 G2 = 2 10" dyn/cm2 ρ2 = 2,09 g/cm3

Vergleich der vorhergesagten WAK´s eines zweiphasigem Werkstoffs [8]

Abb. 3.2.6

Page 133: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3. Thermische Eigenschaften - 133 -

3.2.2 Thermische Ausdehnung von Aluminiumtitanat (Tialit)

Die hervorstechendste Eigenschaft des Tialits ist eine ausgeprägte Anisotropie der

Wärmedehnung, die beim Abkühlen zu einer Ausdehnungshysterese führt (Abb. 3.2.7).

Ausdehnungsverhalten von Aluminiumtitanat

Abb. 3.2.7

Infolge der sehr unterschiedlichen Ausdehnungskoeffizienten in den drei Kristallachsen

entstehen beim Abkühlen starke Gefügespannungen. Die a- und die b-Achsen zeigen

zwischen 20°C und 600°C einen positiven und deutlich unterschiedlichen

Ausdehnungskoeffizienten

(αa = 10·10-6 K-1, αb = 20 10-6 K-1) während die c-Achse einen negativen Wert aufweist

(αc = -1,4 ⋅ 10-6 K-1). Wird ein Bauteil nach dem Sinterbrand im Ofen abgekühlt, so

überschreiten die Gefügespannungen bei etwa 500 °C die Zugfestigkeit des Materials,

wodurch Risse im Gefüge entstehen, insbesondere senkrecht zur a- und b-Achse (Abb. 3.2.8).

Page 134: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 134 - 3.2. Thermische Ausdehnung

Riss- und Porenstruktur in Aluminiumtitanat

Abb. 3.2.8

Zur Erklärung des Ausdehnungsverhaltens von Al2TiO5 sollte Abb. 3.2.7 zum besseren

Verständnis von rechts nach links gelesen werden. Beim Abkühlen von hohen Temperaturen

entspricht die Kontraktion zunächst etwa dem mittleren Ausdehnungskoeffizienten aller

kristallographischen Achsen. Bei etwa 500 °C führt der geschilderte Vorgang der

Rissbildung, was zu einer Zunahme der Gesamtporosität und damit zu einer

Volumenzunahme führt. Das Entstehen dieser Risse ab etwa 500°C konnte durch

Schallemissionsmessungen nachgewiesen werden. Wird nun ein solcher Körper wieder

erhitzt, so wirkt nach außen zunächst nur die thermische Dehnung der c-Achse, da in

Richtung der a- und b-Achse die Tialit-Körner in die vorhandenen Risse hineinwachsen. Bei

ca. 600°C ist dieser Vorgang abgeschlossen, d.h. der Werkstoff dehnt sich bis zu dieser

Temperatur vorerst nicht aus. Bei höheren Temperaturen entspricht der WAK wieder der

Summe der Ausdehnungskoeffizienten aller kristallograpischen Achsen.

3.2.3 Thermische Ausdehnung von ZrO2

ZrO2 zeigt bei etwa 1100 °C eine reversible Umwandlung von der monoklinen in die

tetragonale Modifikation, was mit einer theoretischen Volumenschrumpfung von etwa 12%

verbunden ist. Dies macht sich deutlich in der Dilatometerkurve bemerkbar, wie die

Page 135: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3. Thermische Eigenschaften - 135 -

ausgezogene Kurve in Abb. 3.2.9 zeigt. Monoklines ZrO2 hat einen

Ausdehnungskoeffizienten von etwa 8⋅10-6K-1 während tetragonales ZrO2 zwischen 1150 °C

und 1700 °C einen Ausdehnungskoffizienten von etwa 21 10-6K-1 aufweist. Für die

verzögerte Umwandlung tetragonal-monoklin sind Keimbildungsschwierigkeiten

verantwortlich zu machen. Durch Zusätze geeigneter Oxide lässt sich die kubische

Hochtemperaturmodifikation von ZrO2 stabilisieren und damit die störende Umwandlung bei

1000 bis 1200 °C vermeiden. Sehr gute Thermoschockeigenschaften lassen sich mit

teilstabilisiertem Zirkonoxid und damit durch Einstellung eines sehr niedrigen

Ausdehnungskoeffizienten erzielen.

Dilatometerkurven von ZrO2 [12]

Abb. 3.2.9

Page 136: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 136 - 3.3 Thermische Leitfähigkeit

3.3 Thermische Leitfähigkeit

Für den Wärmetransport in keramischen Werkstoffen ist vor allem die Wärmeleitung

verantwortlich. Bei höheren Temperaturen ist daneben die Wärmestrahlung zu

berücksichtigen. Der Beitrag der Konvektion zum Wärmetransport kann im allgemeinen

vernachlässigt werden. Herrscht in einem Medium das Temperaturgefälle dT/dx, dann fließt

in der Zeit t senkrecht zur Fläche F die Wärmemenge Q nach

Qt

F dTdx

= λ . (3.3.1)

In Gleichung 3.3.1 stellt der Proportionalitätsfaktor λ die Wärmeleitfähigkeit dar. Die

physikalische Dimension von λ ist cal cm-1 sec-1 K-1, die technische Dimension kcal m-1 h-1

K-1, die Si-Einheit ist W/mK. Aus Versuchen erhält man meist einen Wert λ g, der sich aus

den Beiträgen der reinen Wärmeleitfähigkeit λ l und der Wärmestrahlung λ st zusammensetzt

nach

λ λ λg l st= + . (3.3.2)

Ist die Temperatur in irgendeiner Ortskoordinate zeitlich nicht konstant, hängt die

Geschwindigkeit der Wärmeleitung von dem Verhältnis der Wärmeleitfähigkeit zur

Wärmekapazität pro Volumen (also dem Produkt aus Dichte ρ und spezifischer Wärme cp) ab.

Dieses Verhältnis heißt Temperaturleitfähigkeit (thermal diffusivity) und hat die gleiche

Dimension wie der Diffusionskoeffizient (cm2 /s).

Aus der Wärmeleitfähigkeit lässt sich die Temperaturleitfähigkeit α ermitteln nach

αλρ

=c

, (3.3.3)

worin c = spezifische Wärme und ρ = Dichte. α ist bestimmend für die Geschwindigkeit des

Temperaturausgleichs.

In Gasen wird die Wärme durch gegenseitigen Stoß der Moleküle übertragen, woraus sich

Page 137: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3.3 Thermische Leitfähigkeit - 137 -

ergibt

λ gas c v l=13

, (3.3.4)

mit c = spezifische Wärme pro Volumeneinheit, v = Geschwindigkeit der Moleküle und

l = mittlere freie Weglänge der Moleküle. In Festkörpern sind die Teilchen nicht frei, führen

aber Gitterschwingungen aus. Da diese nicht harmonisch sind, können sie die Wärme nach

Debye in Form von Gitterwellen übertragen. Eine einfache Deutung der reinen

Wärmeleitfähigkeit in Festkörpern ergibt sich, wenn man in Analogie zu den Photonen bei

den elektromagnetischen Wellen die Gitterwellen als Phononen auffasst. Dann erhält man

eine der Gleichung 3.3.4 entsprechende Gleichung

λ l fest p pc v l, ,=13

(3.3.5)

in der jetzt vp = Geschwindigkeit der Phononen und lp = deren mittlere freie Weglänge der

Phononen ist.

Mit Hilfe von Gleichung 3.3.5 ist es möglich, die Temperaturabhängigkeit der Wärmeleit-

fähigkeit zu erklären, wobei zunächst der Einfluss der spezifischen Wärme betrachtet werden

soll. Diese ist am absoluten Nullpunkt gleich Null, steigt zunächst proportional T3 und dann

nach einer Funktion an, in die die sog. charakteristische oder Debyetemperatur θ = h·ν/k

eingeht (h = Plancksches Wirkumsquantum, k = Boltzmannsche Konstante, ν = Frequenz der

Eigenschwingung). Bei hohen Temperaturen geht nach der Dulong-Petitschen Regel cp

gegen x · 6,2 cal mol-1K-1 = x · 25,96 J mol-1K-1, wobei x die Zahl der Elemente in einer

Verbindung darstellt (vgl. Kap. 3.1).

Dieser konstante Wert wird um so eher erreicht, je kleiner θ, je geringer also die

Schwingungsfrequenz ν ist. Diese wiederum ist um so geringer, je schwerer die

schwingenden Atome sind. So liegt θ für Graphit bei 1700 °C, für BeO bei 900 °C und für

Al2O3 bei 650 °C.

Page 138: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 138 - 3.3 Thermische Leitfähigkeit

WLF eines Al2O3-Einkristalls über einen weiten Temperaturbereich [8]

Abb. 3.3.1

Der Anstieg der Wärmeleitfähigkeit bei tiefen Temperaturen muss also zunächst entsprechend

Gleichung 3.1.19 auch proportional T3 erfolgen, jedoch gilt diese Abhängigkeit nur für T <<

θ. Bei höheren Temperaturen strebt die spezifische Wärme einem konstanten Wert zu, hat

also dann keinen ändernden Einfluss mehr auf λ. Für die meisten Oxide wird im Bereich um

1000 °C die spezifische Wärme nahezu unabhängig von der Temperatur.

In dem für die Praxis interessanten Bereich haben theoretische Betrachtungen ergeben, dass

mit steigender Temperatur die Dichte der Phononen zunimmt und dadurch sich deren mittlere

Weglänge l verringert, so dass l und damit auch λ proportional 1/T wird. Dazwischen muss

ein Maximum von λ liegen, das bisher erst wenig untersucht wurde. Für MgO und Al2O3 liegt

es bei 40 K (Abb. 3.3.1). Bei allen hier interessierenden Verbindungen befindet man sich

oberhalb Raumtemperatur im Bereich der mit steigender Temperatur fallenden λ-Werte, wie

es auch die meisten Kurven der Abb. 3.3.2 zeigen [12].

Page 139: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3.3 Thermische Leitfähigkeit - 139 -

WLF von Kieselglas und einiger, auf 0% Porosität korrigierter Werkstoffe [12]

Abb. 3.3.2

In Abb. 3.3.2 treten einige bemerkenswerte Ausnahmen auf. Der Wiederanstieg von λ bei

hohen Temperaturen für z.B. MgO und Al2O3 ist durch den beginnenden Strahlungseinfluss

bedingt, der weiter unten diskutiert wird. Die anderen Erscheinungen lassen sich mit der

mittleren freien Weglänge der Phononen erklären. Es wurde bereits gesagt, daß diese wegen

der zunehmenden Phononendichte mit steigender Temperatur abnimmt, da dann mehr Stöße

untereinander erfolgen. Überschlagsrechnungen von Kingery haben für Raumtemperatur

Werte von l in der Größenordnung von 50 Å ergeben. l kann aber höchstens bis zur Größe der

Gitterdimension abnehmen, was bei etwa 1200 °C erreicht ist, so dass dann λ unabhängig von

der Temperatur wird. Daneben wird aber l noch durch Stöße an Kristallgrenzen und an

Fehlstellen verringert, ein Effekt, der temperaturunabhängig ist. Hohe

Fehlstellenkonzentration, wie sie im stabilisierten ZrO2 vorliegt, hat geringe l-Werte und

damit auch λ-Werte zur Folge. Ähnliches gilt für das Kieselglas, das wegen der fehlenden

Fernordnung in der Struktur nur eine geringe mittlere freie Weglänge der Phononen erlaubt

(etwa 5 Å), so dass dessen Temperaturabhängigkeit von λ nur noch von der spezifischen

Wärme bestimmt wird.

Der Beitrag der Wärmestrahlung bei hohen Temperaturen wurde bereits erwähnt. Für ihn gilt

λ σst stn T l=163

2 3 (3.3.6)

Page 140: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 140 - 3.3 Thermische Leitfähigkeit

mit σ = Stefan-Boltzmannsche Konstante, n = Brechungsindex und lst = mittlere freie

Weglänge, jetzt der Photonen. Dieser Beitrag steigt wegen der T3-Abhängigkeit bei hoher

Temperatur rasch an. Bei mittlerer Temperatur hängt er vom Brechungsindex für die

Wellenlänge der Temperaturstrahlung ab, die im infraroten Gebiet liegt. Deshalb zeigt das

Kieselglas den Anstieg von λg oberhalb 500 °C. Das Elektroporzellan in Abb. 3.3.2 zeigt

wegen des hohen Anteils an Glasphase ebenfalls steigende λ-Werte. Die sich aus Gleichung

(3.3.6) ergebenden lst-Werte sind relativ groß. Lee und Kingery [8] haben sie für Al2O3-

Einkristalle bei 750 °C zu 10 cm abgeschätzt. Die Photonen können daher an Poren leicht

gestreut werden, wodurch lst stark erniedrigt wird und z.B. bei einer Porosität von 0,25 Vol.-

% in Al2O3 bereits auf 0,04 cm absinkt. Die Folge ist, dass sich der Strahlungseinfluss bei

nicht vollkommen dicht gesintertem Material erst bei höherer Temperatur bemerkbar machen

kann und oft erst oberhalb 1200 °C erkennbar wird.

3.3.1 Wärmeleitfähigkeit von mehrkomponentigen keramischen Werkstoffen

Die meisten keramischen Werkstoffe sind Mischungen aus einer oder mehreren festen Phasen

mit glasigen Anteilen und Porosität. Die resultierende Wärmeleitfähigkeit des Werkstoffs ist

abhängig von der Menge und der Anordnung der einzelnen Phasen sowie von ihren

individuellen Wärmeleitfähigkeiten.

Idealisierte Phasenanordnungen [8]

Abb. 3.3.3

a) parallele Schichten, b) kontinuierliche Hauptphase, c) kontinuierliche Nebenphase

Page 141: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3.3 Thermische Leitfähigkeit - 141 -

Modellbetrachtungen gehen von Grenzfällen über die geometrische Anordnung der Phasen im

Werkstoff aus (Abb. 3.3.3).

1. Plattenförmige Phasenanordnung

a) Fluss parallel zur Plattenrichtung

b) Fluss senkrecht zur Plattenrichtung

2. Kugelige Teilchen in einer umgehenden Matrix.

(Die Effekte der Matrix können sich umkehren in die der eingebetteten Teilchen.)

Zu 1a): Bei einem Wärmefluss parallel zur Plattenrichtung liegt eine einfache Analogie

einer parallelen Schaltung von Widerständen vor. Alle Platten liegen im gleichen

Temperaturgradienten und der größte Wärmefluss wird unter Berücksichtigung des

Volumenanteils relativ gesehen durch die Phase mit der größten WLF fließen. Es gilt:

λ λ λM V V= ⋅ + ⋅1 1 2 2 (3.3.7)

worin V1 und V2 die Volumenanteile der beiden Phasen sind, die man bei einem

entsprechend richtig gelegten Schnitt auch gleich den Flächenanteilen setzen kann.

Ist λ1 viel größer als λ2 dann gilt die Näherung:

λ λM V≈ ⋅1 1 (3.3.8)

(zum Beispiel für porige Güter bzw. Werkstoffe).

Zu 1b): Liegen die plattenförmigen Phasen senkrecht zum Wärmefluss, entsprechend einer

elektrischen Serienschaltung von Widerständen, dann ist der Wärmefluss durch jede Platte

hindurch gleich und für die WLF gilt

1 1

1

2

2λ λ λM

V V= + (3.3.9)

bzw.

λλ λ

λ λM V V=

⋅+

1 2

1 2 2 1

(3.3.10)

Page 142: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 142 - 3.3 Thermische Leitfähigkeit

In diesem Fall wird die Gesamt-WLF durch die Komponente mit der niedrigsten WLF des

Mischkörpers bestimmt. Ist λ1 viel größer als λ2 so ergibt sich als Näherung:

λλ

M V≈ 2

2

(3.3.11)

Zu 2): Im Falle der Dispersion einer kugeligen Phase in einer Matrix, muss man festlegen,

welcher Stoff die Matrixrolle übernimmt. Eine quantitative Formel von Eucken lautet:

λ λ

λλ

λλ

λλ

λλ

M

V

V

=

+−

+

⎜⎜⎜⎜

⎟⎟⎟⎟

−−

+

⎜⎜⎜⎜

⎟⎟⎟⎟

2

1

2

1

2

1

1

2

1

2

1

1 21

21

11

1

(3.3.12)

λ2 = WLF der Matrixphase

λ1 = WLF der kugelig dispergierten Phase

V1 = Volumenanteil der kugeligen Phase

Für den Fall λ2»λ1 (d.h. z.B. λ1 = Poren) kann man die Eucken-Formel vereinfachen zu

λ λMV

V≈

+2

1

1

1

1 12

, (3.3.13)

woraus man in grober Nährung erhält

λM = λ2 (1-V1) mit V1 = Volumenanteil der Porosität. (3.3.14)

Für den Fall λ2 « λ1 (z.B. Metall in Kunststoffmatrix) gilt:

λ λMV

V≈

+−2

1

1

1 21

(3.3.15)

Page 143: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3.3 Thermische Leitfähigkeit - 143 -

WLF im System MgO - MgSiO4 [8]

Abb. 3.3.4

Abb. 3.3.4 zeigt Ergebnisse im System MgO-MgSiO4. Neben den Messpunkten stellen die

jeweiligen dünnen Linien den Verlauf der Wärmeleitfähigkeit dar, wenn die entsprechende

Endphase die kontinuierliche Phase darstellen würde.

Einfluss der Porosität

Bei heterogenen feuerfesten Werkstoffen interessieren Wärmeleitungsvorgänge in der

Gasphase der Poren neben denen in der Feststoffphase. Wärme wird in einem Gas

transportiert, indem die Gasmoleküle im heißen Gebiet des Temperaturfeldes durch Stoß eine

zusätzliche Energie aufnehmen. Diese zusätzliche Energie diffundiert zur kalten Seite, indem

sie bei unzähligen Stößen auf immer wieder andere Gasmoleküle übertragen wird.

Wärmeleitfähigkeit von Gasen in Abhängigkeit von der Temperatur [13]

Abb. 3.3.5

Page 144: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 144 - 3.3 Thermische Leitfähigkeit

Die Wärmeleitfähigkeit von Gasen steigt mit der Temperatur, wie Abbildung 3.3.5 zeigt. Die

meisten technisch bedeutsamen Gase haben mit Ausnahme des Wasserstoffes eine ungefähr

gleich große Wärmeleitfähigkeit, die wesentlich kleiner als die der festen Stoffe ist. Der

Wärmetransport durch Stoßprozesse ist der alleinige Transportmechanismus, wenn das Gas in

den Poren der feuerfesten Werkstoffe in relativ kleine Räume eingeschlossen ist, in denen

keine Strömung auftreten kann. Ist die Porengröße kleiner als die freie Weglänge der

Gasmoleküle (bei Raumtemperatur etwa ≤ 50 nm), so werden die Stöße der Gasmoleküle

behindert, und die Wärmeleitfähigkeit der Gase sinkt sprunghaft ab.

Nach gewissen Vereinfachungen ergibt sich für die Wärmeleitfähigkeit durch Strahlung

innerhalb der Poren nach Loeb:

λs = 4 γ d σ ε T3 (3.3.16)

mit d = Porendurchmesser, γ = Formfaktor, σ = Strahlungskonstante,

ε = Gesamtemissionsgrad

Die Wärmeleitfähigkeit nimmt danach linear mit der Porengröße ab (vgl. auch Gl. 3.3.14).

Wenn die Poren groß genug sind, so dass die mittlere freie Weglänge der Photonen kleiner ist

als die Porengröße, nimmt die Wärmeleitfähigkeit poröser Werkstoffe mit zunehmender

Temperatur zu, weil die Wärmestrahlung in den Gasen der Poren zunimmt (Abb. 3.3.6).

Wärmeleitzahl in Abhängigkeit von der Temperatur für zwei feuerfeste Baustoffe

mit unterschiedlicher Porengrößenverteilung [13]

Abb. 3.3.6

(dabei ist der mittlere Porendurchmesser für 2 kleiner gegenüber 1 bei gleichem Porenvolumenanteil)

Page 145: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3.3 Thermische Leitfähigkeit - 145 -

Feuerfeste Werkstoffe sind heterogene poröse Mehrphasenkörper. Der Wärmetransport in

diesen feuerfesten Werkstoffen, wie z.B. in einem Schamottestein, erfolgt durch

Wärmeleitung im Feststoff und durch Strahlung in den Poren. Zunächst senkt die Porosität

die Wärmeleitfähigkeit stark, da die Wärmeleitfähigkeit in den Gasen der Poren deutlich

geringer ist als die Wärmeleitfähigkeit im Feststoff. Eine diskontinuierliche in den Poren

verteilte Gasphase senkt die Wärmeleitfähigkeit etwa linear mit der Porosität (siehe Gl.

3.3.14). Die effektive Wärmeleitfähigkeit besitzt immer dann ein Minimum in Abhängigkeit

von der Porosität, wenn die Strahlung bzw. die Konvektion am Wärmetransport beteiligt sind.

Das Minimum liegt mit steigender Temperatur bei geringeren Porositäten, weil der

Strahlungswärmetransport gegenüber dem Leitungswärmetransport stärker in Abhängigkeit

von der Temperatur zunimmt. Das Auftreten einer minimalen Wärmeleitfähigkeit in

Abhängigkeit von der Porosität bedeutet, dass es für Wärmedämmstoffe eine optimale

Porosität bzw. Rohdichte gibt, die den größten Wärmedämmeffekt hervorruft. Das Minimum

wurde experimentell an Schamotteleichtsteinen, Calciumsilicat-Materialien und feuerfesten

Phasen etwa bei folgenden Porositäten gefunden:

bei 25 °C 98% Porosität bei 200 °C 95% Porosität bei 400 °C 92% Porosität bei 600 °C 90% Porosität bei 800 °C 85% Porosität bei 1000 °C 80% Porosität

Verschiedene Autoren haben versucht, die Wärmeleitfähigkeit poröser Werkstoffe

mathematisch zu erfassen (Tab. 3.3.1). Aufgrund der komplizierten Zusammenhänge sind die

Formeln in Tab. 3.3.1 üblicherweise jeweils nur unter bestimmten Voraussetzungen gültig

(Art des Werkstoffs, Porengrößenverteilung usw.).

Page 146: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 146 - 3.3 Thermische Leitfähigkeit

Wärmetransportmodelle für feuerfeste Werkstoffe [13]

Tab. 3.3.1

Abb. 3.3.7 enthält eine Übersicht über die Wärmeleitfähigkeit repräsentativer feuerfester

Werkstoffe. Es ist auffallend, dass die Wärmeleitfähigkeit mit der Temperatur steigt, wenn sie

bei Raumtemperatur unter 1 W/mK liegt, und fällt, wenn sie bei Raumtemperatur wesentlich

höher als 1 W/mK ist. Dieses Verhalten erklärt sich aus den unterschiedlichen Anteilen an

Poren und Feststoff und dem erhöhten Strahlungswärmetransport in hochporösen, d.h. bei

Raumtemperatur wenig leitenden, bei hohen Temperaturen aber wärmedurchlässigen

Materialien. Umgekehrt besitzen niedrigporöse Werkstoffe wegen der hohen Wärmeleit-

Page 147: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3.3 Thermische Leitfähigkeit - 147 -

fähigkeit der Feststoffphase bei Raumtemperatur eine große Wärmeleitfähigkeit, bei hohen

Temperaturen wegen des negativen Temperaturkoeffizienten der Feststoffe eine geringere

Wärmeleitfähigkeit.

WLF einiger Typen feuerfester Baustoffe in Abhängigkeit von der Temperatur [13]

Abb. 3.3.7

Für poröse feuerfeste Werkstoffe gelten folgende wesentliche Aussagen [13]:

• Der innere Strahlungstransportanteil nimmt mit steigender Temperatur wesentlich

schneller zu als der Leitungsanteil. Bei hohen Temperaturen findet der Wärmetransport

weitgehend durch innere Wärmestrahlung statt.

• Der Leitungsanteil wird bei konstanter Temperatur mit steigender Gesamtporosität

geringer.

• Der Strahlungsanteil wird bei gleicher Temperatur mit kleinerem mittlerem

Porendurchmesser geringer. Er wird wesentlich von der Porengrößenverteilung

beeinflusst.

• Bei gleicher Ausgangsporosität wird ein feuerfester Werkstoff mit kleinerem mittlerem

Porendurchmesser einen geringeren Anstieg der effektiven Wärmeleitfähigkeit in

Page 148: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 148 - 3.3 Thermische Leitfähigkeit

Abhängigkeit von der Temperatur zeigen.

• Bei Anisometrien bzw. Texturen, besonders bei der Porenvolumenstruktur, kann die

effektive Wärmeleitfähigkeit richtungsabhängig sein.

Fasst man alle dargestellten Aussagen zusammen, so kann man die Anforderungen an einen

feuerfesten Werkstoff mit minimaler bzw. maximaler Wärmeleitfähigkeit formulieren. Ein

Wärmedämmstoff mit optimalen Eigenschaften wird durch folgende Maßnahmen erhalten:

• Die Porosität ist auf die Einsatztemperatur bzw. das zu dämmende Temperaturgefälle

abzustimmen. Die für die minimale Wärmeleitfähigkeit erforderliche Porosität sinkt mit

steigender Einsatztemperatur.

• Die Poren sollen möglichst klein sein.

• Das Feststoffgerüst soll aus locker gepackten Kristallstrukturen aus Atomen mit hoher

relativer Atommasse aufgebaut sein, komplizierte Verbindungen enthalten,

feinkristallin sein, eine hohe Fehlstellendichte, großen Brechungsindex und geringe

Transparenz aufweisen.

• Risse und Grobporen, die einen konvektiven Wärmetransport ermöglichen, sind zu

vermeiden.

• Den Wärmedämmstoffen können Stoffe zugesetzt werden, die den Strahlungstransport

behindern. Diese Maßnahme hat erfahrungsgemäß nur bis zu Temperaturen von unter

1000 °C einen Effekt.

Ein feuerfester Werkstoff mit maximaler Wärmeleitfähigkeit wird durch folgende

Maßnahmen erreicht:

• Der feuerfeste Werkstoff soll weitgehend porenfrei sein.

• Die Feststoffphase soll aus einer dichtgepackten Kristallstruktur aus Atomen mit einer

geringen relativen Atommasse aufgebaut sein, aus möglichst großen Kristallen mit einer

hohen Ordnung im Gitter, ohne Mikrorisse oder amorphe Anteile bestehen, möglichst

einphasig sein und eine hohe Transparenz besitzen.

• Der Zusatz von Graphit oder SiC erhöht die Wärmeleitfähigkeit üblicher feuerfester

Werkstoffe. Für Sonderfälle ist BeO das Material mit der höchsten Wärmeleitfähigkeit.

Page 149: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3.3 Thermische Leitfähigkeit - 149 -

Korngrenzeneinflüsse

Bei sehr niedrigen Temperaturen ist die mittlere freie Weglänge von Phononen sehr groß, was

zu dem Maximum in der Wärmeleitfähigkeit in Abb. 3.3.1. führt. Bei Raumtemperatur liegt

die mittlere freie Weglänge von Phononen in der Größenordnung von 100 Å, mit

zunehmender Temperatur nehmen diese Werte weiter ab. Die Kristallitgröße, die notwendig

ist für Phononenstreuung an den Korngrenzen, müsste also extrem klein sein. Ein Vergleich

der Wärmeleitfähigkeit von Einkristallen und polykristallinen Proben unterschiedlicher

Korngröße im Mikrometerbereich sind in Abb. 3.3.9 dargestellt.

WLF von Einkristallen und polykristallinem Al2O3, TiO2 und CaF2 [8]

Abb. 3.3.8

Für alle diese Materialien ist die Wärmeleitfähigkeit bei Temperaturen um etwa 200 °C in den

polykristallinen Materialien und in den Einkristallen identisch. Bei höheren Temperaturen

weichen diese Werte aufgrund der Photonenleitfähigkeit voneinander ab, polykristalline

Werkstoffe haben dann eine niedrigere Wärmeleitfähigkeit als Einkristalle (mittlere freie

Weglänge der Photonen liegt in der Größenordnung der Korngrößen und nimmt mit

steigender Temperatur zu).

Page 150: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 150 - 3.4 Thermoschockverhalten

3.4 Thermoschockverhalten

Thermische Spannungen, d.h. durch thermische Behandlung hervorgerufene mechanische

Spannungen, können in einem Festkörper auf folgende Arten entstehen:

1. Durch ein Temperaturgefälle innerhalb des Körpers entstehen ohne äußere Kräfte Zug-

und Druckspannungen (außer bei Werkstoffen deren thermischer Ausdehnungs-

koeffizient Null ist).

2. Wenn das Ausdehnen oder Zusammenziehen eines Körpers beim Aufheizen oder

Abkühlen durch äußere Kräfte verhindert wird.

3. Durch verschiedene Ausdehnungskoeffizienten verschiedener Phasen in Werkstoffen

(z.B. Glasphase, Mullitkristalle usw.) entstehen an den Phasengrenzen Spannungen, die

sich bei Temperaturänderungen schädlich auswirken können.

Übersteigen die thermischen Spannungen an irgendeiner Stelle im Körper die Zugfestigkeit

des Werkstoffs, so entstehen an dieser Stelle Risse, die u.U. zum vollständigen Bruch führen.

Da sich keramische Werkstoffe auch bei höheren Temperaturen nur gering plastisch

verformen, können sie thermische Spannungen nicht abbauen. Sie sind daher besonders durch

zeitliche oder örtliche Temperaturwechsel gefährdet. Drei Faktoren bestimmen die

Temperaturwechselbeständigkeit keramischer Werkstoffe:

1. Faktoren der äußeren Beanspruchung: Darunter versteht man die Temperaturdifferenz,

d.h. die Höhe des Temperaturwechsels, der ein Körper ausgesetzt ist, und den

Wärmeübergangskoeffizienten, der ein Maß für die Heftigkeit des Thermoschocks ist.

2. Geometrische Faktoren: Durch diese Faktoren werden die Größe und die Form eines

Werkstücks berücksichtigt.

3. Materialeigenschaften: Dies sind vor allem die elastischen Konstanten wie E-Modul, G-

Modul, Poissonkonstante, Bruchfestigkeit, Ausdehnungskoeffizient und Wärmeleit-

fähigkeit.

Die Faktoren der beiden ersten Gruppen bestimmen die Bedingungen und Heftigkeit des

Page 151: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3. Thermische Eigenschaften - 151 -

Thermoschocks, während von den Faktoren der dritten Gruppe die Höhe der entstehenden

Spannungen und die Fähigkeit des keramischen Werkstoffes, diesen Spannungen zu

widerstehen, abhängt.

Der Ausdehnungskoeffizient keramischer Werkstoffe variiert in einem weiten Bereich.

Typischerweise erhöht sich die Länge eines 25 cm langen Rohres um etwa 0,25 cm, wenn es

auf 1000 °C erhitzt wird. Wenn das Bauteil homogen und isotrop ist, entstehen keine

Spannungen durch diese thermische Ausdehnung. Wenn allerdings die Ausdehnung

verhindert wird, z.B. durch kalte Einspannungen, können beträchtliche Spannungen

entstehen. Unter diesen Bedingungen sind die entstehenden Spannungen ähnlich, als würde

man die Probe frei ausdehnen lassen und dann durch von außen einwirkende Kräfte auf die

ursprüngliche Dimensionen komprimieren. Zwischen Spannung, E-Modul, elastischer

Verformung und Ausdehnungskoeffizient bestehen die folgenden Beziehungen:

σ ε= ⋅E (3.4.1)

ε =Δll 0

(3.4.2)

α =⋅Δ

Δl

l T0

(3.4.3)

ε α= ΔT (3.4.4)

Aufheizen: σ α= E TΔ (3.4.5)

Abkühlen: σ = -E α (T´-T0) (3.4.6)

wobei E der E-Modul ist, α der lineare Ausdehnungskoeffizient, ε die plastische Dehnung, l0

die Ausgangslänge der Probe, T0 die Ausgangstemperatur, T´ die neue Temperatur und

ΔT=T´-T0. Für ein Rohr aus Al2O3 mit α (T´-T0) = 0,01 cm/cm und E = 390 GPa ergeben sich

bei ΔT = 1000 °C Spannungen von 390 MPa , die höher sind als die Zugfestigkeit der meisten

keramischen Werkstoffe. Beim Aufheizen entstehen Druckspannungen, da der Körper dazu

tendiert, sich gegen die zurückgehaltenen Gefügebestandteile auszudehnen, beim Abkühlen

können entsprechende Zugspannungen entstehen.

Page 152: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 152 - 3.4 Thermoschockverhalten

Neben den aus thermischer Ausdehnung resultierenden Spannungen können Spannungen

auch aufgrund von Temperaturgradienten innerhalb eines Bauteils entstehen, wenn die freie

Ausdehnung eines jeden Volumenelements nicht gewährleistet ist. Die Behinderung der

freien Ausdehnung führt in diesem Falle zu Spannungen. Temperaturgradienten entlang eines

Aluminiumoxidrohres in einem Rohrofen dagegen führen nicht zu thermischen Spannungen,

da sich das Rohr entlang der Achse frei ausdehnen kann. Wäre dies nicht gegeben, würden

sehr große Spannungen auftreten, und das Rohr würde zerstört werden. Dort, wo diese

Freibewegung nicht gegeben ist, entstehen Spannungen, die wie oben aus dem Elastizitäts-

modul, dem Ausdehnungskoeffizienten und der Temperaturverteilung berechnet werden

können.

Im folgenden sollen die Spannungen in einer großen Glasplatte berechnet werden, die

zunächst in kochendem Wasser auf 100 °C erhitzt wird und dann in einem Eisbad bei 0 °C

abgekühlt wird. Unter diesen Bedingungen ist die Geschwindigkeit des Wärmeübergangs von

der Oberfläche sehr groß. Die Oberfläche erreicht die neue Temperatur sehr schnell, während

das Innere der Glasplatte auf dem ursprünglichen Wert bei T0 = 100 °C verbleibt. Wenn sich

die Oberfläche frei bewegen könnte, würde sie sich um den Wert α (T0-T´) = 100 α

zusammenziehen. Da die Temperatur im Innern der Probe nach wie vor T0 = 100°C beträgt,

entstehen Zugspannungen an der Oberfläche. Um das Spannungsgleichgewicht zu erhalten,

müssen im Innern der Probe entsprechende Druckspannungen entstehen. Die entstehenden

durchschnittlichen Spannungen lassen sich berechnen zu

σ σαμy z

ET T)= =

−−∅1

( (3.4.7)

mit T∅ = durchschnittliche Temperatur der Probe.

T = Temperatur an einer beliebigen Stelle der Probe.

Die maximal zulässig Temperaturdifferenz, der die Probe ohne Rissbildung ausgesetzt

werden kann, ergibt sich dann zu

ΔTEmax( )

=−⋅

σ μα

1 (3.4.8)

Zu Beginn des Versuches, wenn die Temperatur im Innern 100 °C und die Oberflächen-

temperatur 0 °C beträgt, errechnen sich für ein Glas mit E = 107 psi, α=10.10-6 cm/(cm K) und

Page 153: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3. Thermische Eigenschaften - 153 -

ν = 0,20 Spannungen σy bzw. σz zu 12 500 psi. Dies liegt deutlich über der Bruchspannung

von ca. 10 000 psi, so dass erwartet werden kann, dass dieses Glas unter den genannten

Bedingungen beim Thermoschock bricht. Bei Gläsern mit niedrigeren Ausdehnungs-

koeffizienten entstehen dagegen sehr viel niedrigere Spannungen, so dass z. B. Pyrex- oder

Silicagläser unter diesen Bedingungen nicht zerstört würden.

Die resultierenden Spannungen, die beim Heizen oder Kühlen von Proben unterschiedlicher

Geometrie entstehen, sind in Tabelle 3.4.1 dargestellt.

Spannungen an Oberflächen und im Zentrum verschiedener Formkörper [8]

Tab. 3.4.1

Ta=mittlere Probentemperatur, Ts=Oberflächentemperatur und Tc=Temperatur im Probeninneren

Man erhält ein unterschiedliches Spannungsbild, je nachdem, ob der Wärmeübergang

zwischen dem äußeren Medium und dem keramischen Körper groß oder klein ist. In ersterem,

Page 154: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 154 - 3.4 Thermoschockverhalten

gerade oben betrachteten Fall, z.B. beim Tauchen in Wasser bei 0° (mit einer

Wärmeübergangszahl h ∼ 0,2 cal/cm2 sec °C), besteht wegen der relativ geringen

Wärmeleitung zwischen Oberfläche und der darunter liegenden Schicht ein großer

Temperaturunterschied. Ist der Wärmeübergang dagegen klein, z.B. beim Abkühlen in Luft

(h ∼ 0,002 cal/cm2 sec °C), dann findet ein Temperaturausgleich statt, und die

Temperaturwechselbeständigkeit wird abhängig von der Temperaturleitfähigkeit des

keramischen Werkstoffs, dem Wärmeübergangskoeffizienten und der Probendimension.

Dieses dimensionslose Verhältnis wird Biot-Zahl genannt

βλ

=r hm (3.4.9)

mit rm = Radius eines erhitzten Stabes.

Für relativ niedrige Übergangskoeffizienten, die üblicherweise unter den Bedingungen

auftreten, bei denen der Wärmeübergang durch Konvektion und Strahlung gegeben ist, gilt

σσ ν

α λmaxmax

( )( )

.=−

−=f m

E T T'r h1

0 310

(3.4.10)

σf = Bruchspannung

ΔTE r h

f

mmax

( ).

=−

⋅σ ν

αλ1

0 31 (3.4.11)

ΔTmax=maximale Temperaturdifferenz beim Abschrecken

Aus dem Gezeigten wird klar, dass die Temperaturwechselbeständigkeit nicht durch einen

einzigen Parameter charakterisiert werden kann. Sie ist abhängig von den Abschreckbe-

dingungen und der Geometrie des Bauteils.

Die maximale Abschrecktemperatur, der ein Körper in Abhängigkeit von den

Wärmeübergangsbedingungen widerstehen kann, ist in Abb. 3.4.1 dargestellt.

Page 155: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3. Thermische Eigenschaften - 155 -

Maximale Abschrecktemperaturen einiger Werkstoffe

in Abhängigkeit von der Wärmeübergangszahl h [12]

Abb. 3.4.1

Man erkennt, dass bei hohen Übergangskoeffizienten die Kurven parallel zur Abszisse laufen,

also keine Abhängigkeit von der Form besteht. Bei geringen h-Werten ist dagegen auch eine

Abhängigkeit von b, also von der Form vorhanden. Die ΔTmax-Werte sind aber in ruhender

Luft sehr hoch, so dass nur bei sehr dicken Gegenständen ein Reißen zu befürchten ist. Die

Wärmeübergangszahl nimmt mit steigender Strömungsgeschwindigkeit der Luft zu

(Tab.3.4.2) und kann Werte bis zu h = 0,03 cal/cm2 sec °C erreichen. Dadurch wird ΔTmax

stark erniedrigt. Aus Abb. 3.4.1 ist außerdem zu erkennen, dass sich einige Kurven

überschneiden. Man kann daher keine bestimmte Reihenfolge für die TWB verschiedener

Werkstoffe angeben, da diese von der Art der Beanspruchung abhängt.

Wärmeübergangskoeffizienten für verschiedene Abschreckbedingungen [8]

Tab. 3.4.2

Page 156: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 156 - 3.4 Thermoschockverhalten

Die Temperaturwechselbeständigkeit kann auch vom Standpunkt der Bruchmechanik aus

betrachtet werden. Wenn die thermischen Spannungen in einem Bauteil die theoretische

Zugfestigkeit überschreiten, entstehen Risse, was zu einer spontanen Abnahme der Festigkeit

führt (Abb. 3.4.2).

Thermoschockverhalten von Keramik [8]

Abb. 3.4.2

Die neu entstandene Risslänge ist zunächst unterkritisch, die Temperaturdifferenz beim

Thermoschock muss zur weiteren Rissverlängerung über eine neue kritische Temperatur-

differenz erhöht werden (Abb. 3.4.2).

Bei einer weiteren Temperaturerhöhung bei Thermoschockuntersuchungen kommt es zu

einem quasi-statischen Risswachstum und entsprechender weiterer Abnahme der Festigkeit

(Abb. 3.4.2). Je nach Abkühl- und Wärmeübergangsbedingungen wird das Verhalten

keramischer Werkstoffe häufig durch die beiden Thermoschockparameter

Page 157: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3. Thermische Eigenschaften - 157 -

RE

f=−

⋅σ μ

α( )1

(3.4.12)

oder

RE

f′ =−

⋅⋅

σ μα

λ( )1

(3.4.13)

beschrieben, die lediglich eine Vereinfachung von Gl. 3.4.11 darstellen. Kurven in der Form

von Abb. 3.4.2 sind der Praxis häufig beobachtet worden, so z.B. an polykristallinen

Aluminiumoxidproben mit unterschiedlicher Korngröße (Abb. 3.4.3).

Thermoschockverhalten von Al2O3 [8]

Abb. 3.4.3

Die elastischen Konstanten und die thermischen Eigenschaften keramischer Werkstoffe lassen

sich durch Variation von Gefügeparametern in weiten Grenzen beeinflussen Abb. 3.4.4, 3.4.5

und 3.4.6 zeigen dies am Beispiel von Si3N4-Werkstoffen.

Page 158: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 158 - 3.4 Thermoschockverhalten

Temperaturleitfähigkeit von HPSN als Funktion des β-Gehaltes

Abb. 3.4.4

Morphologie der a- und ß-Phase in RBSN

Abb. 3.4.5

Einfluß der Gefügeparameter auf die TWB von RBSN

Abb. 3.4.6

Page 159: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

3. Thermische Eigenschaften - 159 -

Dies hat zur Folge, dass auch das Thermoschockverhalten keramischer Werkstoffe sehr stark

durch die Gefügeparameter beeinflusst werden kann, was sich in der starken Streuung der

kritischen Temperaturdifferenz nach Wasserabschreckung verschiedener keramischer

Werkstoffe bemerkbar macht (Abb. 3.4.7).

Festigkeit (RT) als Funktion der Abschrecktemperaturdifferenz nach Wasserabschreckung

(22°C) für verschiedene Konstruktionskeramiken

Abb. 3.4.7

Abb. 3.4.8 zeigt, dass auch durch Variation der Abschreckbedingungen und damit durch

Variation der Wärmeübergangszahl die kritische Temperaturdifferenz von RBSN in weiten

Bereichen variiert werden kann.

Festigkeit von RBSN als Funktion der Temperaturdifferenz

beim Abschrecken in H2O und Öl

Abb. 3.4.8

Page 160: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 160 - 4.1 Korrosion

4. Chemische Eigenschaften 4.1 Korrosion

Korrosionsvorgänge sind in der Keramik, der Glastechnologie und der Metallurgie von großer

Bedeutung. Dabei spielen Reaktionen zwischen Festkörpern (z.B. in Ofenausmauerungen),

Gas-Festkörper-Reaktionen (Verdampfung und chemische Reaktionen oder Oxidation) und

Flüssigkeit-Festkörper-Reaktionen (z.B. Angriff feuerfester Substanzen durch Schlacken und

Glasschmelzen) eine große Rolle. Die Hauptschwierigkeiten bei der Beschreibung von

Korrosionsprozessen liegen zum einen in der großen Zahl an Variablen (Temperatur, Dichte,

Konzentration, Viskosität, Benetzung, Grenzflächenspannung, Porosität usw.) und z.a. in der

Kinetik der zeitlich und räumlich gleichzeitig ablaufenden und sich gegenseitig

beeinflussenden Elementarprozesse (Diffusion, Lösungsvermögen, Reaktion,

Phasenneubildung, thermische- und Grenzflächenkonvektionen, Verdampfung, Zersetzung,

Kondensation usw.). Die grundlegendsten dieser Prozesse werden im folgenden einzeln und

teilweise in ihrer Wechselwirkung dargestellt.

4.1.1 Reaktionen zwischen Feststoffen

Betrachten wir eine Reaktion, bei der zwei Feststoffe (in diesem Fall NiO und Al2O3) bei

erhöhten Temperaturen eine Reaktionsschicht bilden, in diesem Fall einen Nickel-

aluminatspinell (NiAl2O4). Es gibt viele mögliche Reaktionswege, fünf davon sind

schematisch in Abb. 4.1.1 gezeigt. Die Spinellbildung könnte durch die Diffusion von A2+-

Ionen, B3+-Ionen oder O2--Ionen, durch den Transport von Elektronen (Leerstellen), durch

den Transport von O2-Gas oder durch Reaktionen an der Grenzfläche AO-AB2O4 oder

AB2O4-B2O3 kontrolliert werden.

Page 161: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

4. Chemische Eigenschaften - 161 -

Schematische Darstellung von Festkörperreaktion zur Spinellbildung [8]

Abb. 4.1.1

Wenn Diffusionsvorgänge die Reaktionsgeschwindigkeit bestimmen, gelten folgende

Beziehungen:

dxdt

k Dx

=⋅ (4.1.1)

xdx k Ddt∫ = ⋅ (4.1.2)

x k t= ( ' ) /1 2 (4.1.3)

x k t2 = ' (4.1.4)

x = gebildete Schichtdicke

D = Diffusionskoeffizient

K = Konstante

t = Zeit

Page 162: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 162 - 4.1 Korrosion

Die Reaktionsgeschwindigkeit ist also reziprok abhängig von der Dicke der gebildeten

Schicht und es wird eine parabolische Abhängigkeit der Bildung des Reaktionsprodukts von

der Zeit beobachtet, bzw. eine lineare Abhängigkeit zwischen dem Quadrat der

Reaktionsschichtdicke und der Zeit (Abb. 4.1.2).

Schichtdicke von NiAl2O4 als Funktion der Reaktionszeit (Argonatmosphäre) [8]

Abb. 4.1.2

Abb. 4.1.3 zeigt eine NiAl2O4-Schicht, die sich zwischen einer NiO- und einer Al2O3-Schicht

bei 1400°C nach 73 Stunden gebildet hat.

Schnittbild einer NiAl2O4-Schicht gebildet nach 73h bei 1400°C [8]

Abb. 4.1.3

Page 163: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

4. Chemische Eigenschaften - 163 -

In der Praxis werden häufig sehr anwendungsnahe Untersuchungen zur Beobachtung der

Korrosionsneigung der Materialien durchgeführt. Schamotteerzeugnisse zeigen

beispielsweise oberhalb 1500°C intensive zerstörende Reaktionen im Kontakt mit MgO- und

kieselsäurereichen Erzeugnissen. Für den praktischen Ofenbau ist die Kenntnis solcher

korrodierender Kontaktwirkungen wesentlich, weil davon die Kombinationsfähigkeit

verschiedener feuerfester Werkstoffe in einer Anlage bestimmt wird. In Abb. 4.1.4 ist

schematisch die Kontaktwirkung verschiedener feuerfester Baustoffe miteinander dargestellt.

Diese empirischen Untersuchungen sind für den Anwendungstechniker ebenfalls von großer

Bedeutung.

Kontaktwirkung verschiedener feuerfester Baustoffe miteinander [16]

Abb. 4.1.4

4.1.2 Gas-Festkörper-Reaktionen

Die einfachste Art von Gas-Festkörper-Reaktionen sind Verdampfungs- und thermische

Zersetzungsvorgänge eines Festkörpers. Die Zersetzungsgeschwindigkeit ist abhängig von

thermodynamischen treibenden Kräften, von der Kinetik der Oberflächen-Reaktionen, dem

Zustand der reagierenden Oberfläche und von der jeweiligen Atmosphäre. Hochtemperatur-

oxide verdampfen beispielsweise in Vakuum sehr viel schneller als in Luft.

Page 164: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 164 - 4.1 Korrosion

a) Verdampfung von SiO2

Der Verlust von SiO2 aus Gläsern und feuerfesten keramischen Werkstoffen in reduzierender

Atmosphäre ist ein wichtiger Faktor, der die Anwendung dieser keramischen Produkte

limitiert.

Betrachten wir zunächst die Reaktion, die die Verdampfung von SiO2 bestimmt:

2 SiO2 (s) ⇔ 2 SiO (g) + O 2 (g). (4.1.5)

Bei 1320°C berechnet sich die Gleichgewichtskonstante nach

KP P

ae q

S i O O

SiO

=⋅

= −2

2252

2

10 . (4.1.6)

Nimmt man an, dass die Aktivität a von SiO2 konstant ist, wird offensichtlich, dass der

Sauerstoffpartialdruck den Partialdruck von SiO (g) und daher die Geschwindigkeit der

Verdampfung kontrolliert. In reduzierenden Atmosphären (inerte Atmosphäre, H2- oder CO-

Atmosphäre) beträgt PO2= 10-18 atm, der SiO-Druck beträgt 3 ⋅ 10-4 atm. Die Verdam-

pfungsgeschwindigkeit in der Nähe des Gleichgewichts ist nach Knudsen

dndt

A P

M RTi i i

i

π2 (4.1.7)

wobei dni/dt den Verlust der Komponente i in mol/Zeiteinheit darstellt, A die

Probenoberfläche, αi der Verdampfungskoeffizient (≤ 1), M das Molekulargewicht von i und

Pi der Dampfdruck von i über der Probe ist. Bei hoher Gasgeschwindigkeit über der Probe

oder bei Verdampfung im Vakuum stellt sich über der Probe kein Gleichgewichtsdampfdruck

ein und die Verdampfungsgeschwindigkeit wird durch die Reaktionsgeschwindigkeit an der

Grenzfläche bestimmt. Für die Verdampfung von SiO2 nach Gleichung 4.1.5 errechnet sich

mit Gleichung 4.1.7 eine Verlustrate von ungefähr 5 ⋅ 10-5 mol SiO2/cm2 sec bei 1320°C.

Page 165: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

4. Chemische Eigenschaften - 165 -

Abb. 4.1.5 zeigt den Gewichtsverlust von Ziegeln mit unterschiedlichen SiO2-Gehalten bei

1425°C in Wasserstoffatmosphäre. Die Zersetzungsreaktion lautet:

H2 (g) + SiO2 (s) = SiO (g) + H2O (4.1.8.)

Gewichtsverlust von Ziegeln mit unterschiedlichen SiO2-Gehalten

beim Glühen in Wasserstoffatmosphäre [8]

Abb. 4.1.5

b) Oxidation

1) Thermodynamische Überlegungen

Am Beispiel von Siliciumnitrid ist in Abb. 4.1.6. gezeigt, dass dieser Werkstoff nur bei

moderaten Stickstoff- und sehr niedrigen Sauerstoffpartialdrücken stabil ist. Die

thermodynamischen Daten lassen erkennen, dass Siliciumnitrid zu festem SiO2 oxidiert und

dabei gasförmigen Stickstoff freisetzt, nach der Gleichung:

Si N s O g SiO s N g3 4 2 2 23 3 2( ) ( ) ( ) ( )+ → + (4.1.9)

Page 166: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 166 - 4.1 Korrosion

Stabilität von Si3N4 und anderen Phasen [18]

Abb. 4.1.6

Unter oxidierenden Bedingungen führt diese Reaktion zu einer passivierenden SiO2-Schicht

auf der Siliciumnitridoberfläche, die eine weitere Oxidation verhindert. Bei sehr niedrigen

Sauerstoffpartialdrucken ist es möglich, dass sich festes Si3N4 unter Bildung von

gasförmigem SiO zersetzt. Dies geschieht nach der Gleichung:

2Si3N4 (s) + 3O2 (g) → 6SiO (g) + 4N2 (g) (4.1.10)

In diesem Fall entsteht keine passivierende Oxidationsschicht und die Korrosionsge-

schwindigkeit hängt im wesentlichen vom SiO-Dampfdruck und der Strömungsgeschwindig-

keit des Gases ab.

Ein weiteres Beispiel für die thermodynamische Betrachtung der Zersetzung ist Urandioxid

(UO2), Kernbrennstoff in den meisten Kernreaktoren. Die thermodynamischen Eigenschaften

dieses Oxids zeigen, dass es als Kernbrennelement in Kontakt mit Sauerstoff zu U3O8 oder

UO3 oxidiert wird. Diese Oxidation ist mit einer großen Volumenveränderung und damit

Rissbildung und Abplatzungen verbunden, so dass sie in Reaktoren durch Kapselung oder die

Verwendung einer inerten Gasatmosphäre verhindert werden muss. Darüber hinaus reagiert

Urandioxid mit Wasser oder wässrigen Lösungen zu Uranhydroxiden, was hier aber nicht

näher betrachtet werden soll.

Page 167: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

4. Chemische Eigenschaften - 167 -

2) Zersetzungsmechanismus

Die Oxidation von nichtoxidischen, keramischen Festkörpern kann prinzipiell nach drei

grundsätzlichen Reaktionsmechanismen erfolgen.

a) Die Auflösungsgeschwindigkeit wird kontrolliert durch die direkte Reaktion an der

Festkörperoberfläche mit dem strömenden Gas. Nimmt man an, dass sich der

Oberflächenzustand nicht wesentlich ändert, so folgt diese Zersetzung einer linearen

Abhängigkeit, wobei

dQdt

k c= (4.1.11)

Q = Gesamtmasse der aufgelösten Bestandteile pro Einheitsfläche des

Festkörpers

kc = lineare Geschwindigkeitskonstante

t = Zeit

b) Die Zersetzungsgeschwindigkeit wird durch Diffusion chemischer Spezies aus der

Matrix des Festkörpers in die gasförmige Umgebung kontrolliert. Die Bildung des

Reaktionsprodukts an der Oberfläche folgt dann einer parabolischen Gleichung gemäß

Q k tp= ⋅( ) /1 2 (4.1.12)

kp ist darin die parabolische Geschwindigkeitskonstante.

c) In vielen Fällen kommt es zu einer Überlagerung der unterschiedlichen Zersetzungsme-

chanismen und in Abhängigkeit von der Zeit können sowohl lineare als auch

parabolische Abhängigkeiten beobachtet werden.

Darüber hinaus kommt es bei zyklischer Beanspruchung zu Oberflächenabplatzungen,

wodurch keine stationären Bedingungen mehr gegeben sind und sich die verschiedenen

Zersetzungsmechanismen ebenfalls überlagern können.

Page 168: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 168 - 4.1 Korrosion

3) Temperatureinfluss auf die Reaktionskinetik

Die Reaktionsgeschwindigkeiten sind im allgemeinen von der Temperatur abhängig. Wenn

sich die Reaktionsmechanismen in Abhängigkeit der Temperatur nicht ändern, dann kann die

Temperaturabhängigkeit der Geschwindigkeitskonstanten k durch den bekannten Arrhenius-

Ansatz beschrieben werden:

k kERT

a= −⎛⎝⎜

⎞⎠⎟0 exp (4.1.13)

wobei Ea die Aktivierungsenergie des geschwindigkeitsbestimmenden Prozesses, R die

Gaskonstante und T die absolute Temperatur darstellen. Die Aktivierungsenergie Ea wird

ermittelt, indem man ln k gegen 1/T aufträgt. Die Zusammenhänge sollen im folgenden am

Beispiel der Oxidation von Siliciumnitrid näher erläutert werden.

Die Gewichtszunahme von Si3N4 während der Oxidation läuft für die meisten Werkstoffe

diffusionskontrolliert ab und kann durch die parabolische Funktion

Q2= (Δm / A)2 = kp..t (4.1.14) beschrieben werden, wobei Δm/A die Gewichtszunahme pro Flächeneinheit, t die Oxidations-

zeit und kp die parabolische Geschwindigkeitskonstante darstellt.

Oxidationskinetik von HPSN mit unterschiedlichen Arten und Mengen an Sinterhilfsmitteln

Abb. 4.1.7

Page 169: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

4. Chemische Eigenschaften - 169 -

Die Geraden in Abb. 4.1.7 zeigen, dass dieses Gesetz für verschiedene Gehalte an

Magnesiumoxid, bzw. Yttriumoxid als Sinteradditiv Gültigkeit besitzt.

Bei der Verwendung von MgO oder Yttriumoxid als Sinteradditiv kommt es zur Diffusion

von Mg2+-bzw. Y3+-Kationen vom Innern der Probe an die Oberfläche (Abb. 4.1.8).

Schematische Darstellung der Oxidationsmechanismen von HPSN [15]

Abb. 4.1.8

Dies ist dadurch bedingt, dass die Glasphase bestrebt ist mit dem an der Oberfläche durch

Oxidation entstandenem SiO2 ins Gleichwicht zu kommen. Gleichzeitig ist die Glasphase der

Diffusionspfad von Sauerstoff bzw. gasförmigen Oxidationsprodukten (z.B. N2). Mit

steigendem MgO-Gehalt kann nun entweder der Anteil der während der Verdichtung

entstandenen Glasphase erhöht und/oder deren Viskosität erniedrigt werden. Beide Vorgänge

können zu einem Anstieg der parabolischen Geschwindigkeitskonstanten kp führen, wie in

Abb. 4.1.9 zu sehen ist.

Page 170: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 170 - 4.1 Korrosion

Oxidationsgeschwindigkeitskonstanten verschiedener Si3N4-Qualitäten

Abb. 4.1.9

Bei der Verwendung von Y2O3 wird angenommen, dass der Anteil der gebildeten Glasphase

geringer ist, da nach der Oxidation kristalline Phasen aufgetreten sind und die Viskosität der

Glasphase wegen der höheren eutektischen Temperaturen in diesem System größer ist als bei

MgO-haltigen Proben. Beides führt zu einer geringeren Gewichtszunahme, was in Abb. 4.1.7

bestätigt wird. Die parabolische Geschwindigkeitskonstante kp liegt für die Oxidation von

MgO-haltigen Materialien je nach Temperatur zwischen 10-9 und 10-12 kg2 m-4s-1. Bei der

Verwendung von Yttriumoxid als Sinteradditiv liegt die Geschwindigkeitskonstante aufgrund

der höheren Viskosität der entstehenden Glasphase deutlich niedriger. Aus der Steigung der

Geraden in Abb. 4.1.9 lassen sich die Aktivierungsenergien der Oxidationsreaktionen

ermitteln.

Page 171: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

4. Chemische Eigenschaften - 171 -

4.1.3 Flüssig-Festkörperreaktionen

Ein wichtiges Beispiel der Kinetik von Flüssig-Festkörperreaktionen ist die Auflösungsge-

schwindigkeit der Festkörper in Flüssigkeiten, was besonders wichtig ist bei der Korrosion

von feuerfesten keramischen Werkstoffen durch Schlacken und Gläser. Für die Auflösung

eines Festkörpers in einer Flüssigkeit ist kein Keimbildungsschritt notwendig. Der

geschwindigkeits-bestimmende Schritt der Gesamtreaktion ist die Reaktionsgeschwindigkeit

an der Phasengrenze. Die Reaktion an dieser Phasengrenze jedoch führt zu einer

zunehmenden Konzentration in der Grenzfläche. Material muss von der Grenzfläche

wegdiffundieren, um die Reaktion weiterlaufen zu lassen. Die Geschwindigkeit des

Materialtransports, also die Auflösungsgeschwindigkeit, wird durch Massetransport in der

Flüssigkeit kontrolliert, der durch molekulare Diffusion, freie und erzwungene Konvektion

ablaufen kann. Im folgenden werden verschiedene Einflussgrößen dieser Arte der Korrosion

und ihre empirischen Bestimmungsmethoden diskutiert.

a) molekulare Diffusion

Für einen stationären Zustand z.B. einer ungerührten Flüssigkeit ist die Auflösungs-

geschwindigkeit durch Moleküldiffusion bestimmt. Die effektive Diffusionslänge, über die

Masse transportiert werden muss, ist proportional dt. Das bedeutet, dass die Änderung der

Probendicke, die proportional der aufgelösten Masse ist, sich mit t ändert (Abb. 4.1.10).

x D t≈ ⋅ (4.1.15)

Diffusion und Konzentrationsverlauf bei anfänglicher Stufenverteilung [1]

Abb. 4.1.10

Page 172: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 172 - 4.1 Korrosion

So kann z.B. die Auflösung von Al2O3 in einer silikatischen Schlacke durch die Diffusion von

Kationen oder Anionen in Al2O3 oder in der Schlacke bestimmt werden. Dieses Beispiel zeigt

Abb. 4.1.11, in der die Auflösung von Saphir in einer CaO-Al2O3-SiO2-Schmelze mit 21

Gew.-% Al2O3 dargestellt ist. Derartige Beobachtungen werden nur bei sehr kurzen Zeiten zu

Beginn des korrosiven Angriffs gemacht.

Auflösung eines Saphir-Zylinders in CaO-Al2O3-SiO2 (21 Gew.% Al2O3) [8]

Abb. 4.1.11

b) Freie Konvektion

In dem Maße, in dem die Auflösung infolge von Diffusion fortschreitet, bilden sich Dichte-

differenzen in der angreifenden Flüssigkeit oder Schmelze aus. Dadurch entsteht letztendlich

eine Strömung aufgrund freier natürlicher Konvektion, die zu einer Erhöhung der

Korrosionsrate führen kann. Abb. 4.1.12 zeigt die Auflösungsgeschwindigkeit von Al2O3-

Einkristallen in CaO-Al2O3-SiO2-Schmelzen. Kennzeichnend ist die Tatsache, dass zwischen

ΔR und der Zeit t ein linearer Zusammenhang besteht.

Auflösung von Al2O3-Einkristallen in CaO-Al2O3-SiO2-Schmelzen [8]

Abb. 4.1.12

Page 173: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

4. Chemische Eigenschaften - 173 -

Freie Konvektion kann nicht nur durch Dichtegradienten entstehen, sondern auch durch

thermische Konvektion, die sich aufgrund von Temperaturgradienten z.B. in einer Glaswanne

einstellen.

c) Grenzflächenkonvektion

Eine andere Art der freien Konvektion tritt dann auf, wenn drei Stoffe aneinandergrenzen.

Liegt teilweise oder vollständige Mischbarkeit der Stoffe ineinander vor, so ist den

Grenzflächenenergien Gelegenheit zum Ausgleich gegeben. Damit ist normalerweise eine

Flüssigkeitsbewegung verbunden, die zu einer Vergrößerung der Stoffaustauschgeschwindig-

keit führt. Je nach Größe bzw. Verhältnis der Grenzflächenspannungen treten

unterschiedliche Spaltungs- bzw. Wirbelphänomene auf. Für die Praxis wichtig ist das

Auftreten der sogenannten horizontalbevorzugten Korrosion (Spülkante, Spülfuge) und der

vertikal bevorzugten Korrosion (Lochfraß, Blasenbohren). Die Abb. 4.1.13 und 4.1.14 zeigen

schematische Darstellungen zu diesen Effekten.

Spülkanteneffekt [1]

Abb. 4.1.13

Page 174: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 174 - 4.1 Korrosion

Lochfraßeffekt [1]

Abb. 4.1.14

d) Erzwungene Konvektion

Der Einfluss erzwungener Konvektion tritt bei Massedurchsatzströmung in Glaswannen oder

z.B. durch Rühren von Schmelzen und Schlacken auf. Im Labor sind verschiedene

Experimente zur Bestimmung dieser Art von Korrosion entwickelt worden. Beim

sogenannten „Fingertest“ wird ein zylindrischer Stab in eine Schmelze gesteckt und dabei

gedreht. Der Nachteil dieser Methode liegt darin, dass die Strömungsverhältnisse an der

Oberfläche bisher nicht bekannt sind. Im Gegensatz zu diesem Stabeintauchverfahren können

bei einer in einer Flüssigkeit rotierenden Scheibe die Strömungsverhältnisse für den Fall einer

laminaren Strömung berechnet werden. Abb. 4.1.15 zeigt derartige Versuchsergebnisse,

wobei die Korrosion in cm/sec der Quadratwurzel der Winkelgeschwindigkeit proportional

ist.

Auflösung einer Saphir-Scheibe [8]

Abb. 4.1.15

Page 175: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

4. Chemische Eigenschaften - 175 -

e) Benetzung

Das Benetzungsverhalten keramischer Werkstoffe wird durch ihre stofflichen und

Gefügeeigenschaften sowie durch stoffliche Merkmale der angreifenden Schlacken bzw.

Schmelzen beeinflusst. Eine geringe Benetzung, die durch einen großen Kontaktwinkel

gegeben ist, führt immer zu weniger intensiver Korrosion. In Abb. 4.1.16 ist unterschiedliches

Benetzungsverhalten dargestellt.

Darstellung eines unterschiedlichen Benetzungsverhaltens [16]

Abb. 4.1.16

Dabei gilt

cosϕγ γ

γ=

−sv sl

lv (4.1.16)

ϕ = Kontaktwinkel

γsv = Grenzflächenenergie Festkörper gegen Atmosphäre

γsl = Grenzflächenenergie Festkörper gegen Flüssigkeit und

γlv = Oberflächenenergie der Flüssigkeit

Abb. 4.1.17 zeigt Benetzungswinkel zwischen verschiedenen feuerfesten Baustoffen und

einer Glasschmelze in Abhängigkeit von der Einwirkzeit. Der Benetzungswinkel stellt sich

erst nach einer gewissen Einwirkungszeit auf einen für verschiedene feuerfeste Werkstoffe

charakteristischen Wert ein. Bei feuerfesten Werkstoffen trifft der Kontaktfall der Benetzung

im allgemeinen für Schlacken und Schmelzen immer zu, weil stofflich ähnliche

Kontaktparameter vorliegen. Eine besonders günstige Bedingung mit relativ hohem

Benetzungswinkel ergibt sich im Kontakt von silikatischen Schlacken und metallischen

Schmelzen mit Kohlenstoff.

Page 176: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 176 - 4.1 Korrosion

Benetzungswinkel zwischen verschiedenen feuerfesten Baustoffen

und einer Glasschmelze in Abhängigkeit von der Einwirkungszeit [16]

Abb. 4.1.17

f) Oberflächeninfiltration

Durch offene Porosität der Oberflächenschicht der keramischen Werkstoffe wird die

Reaktionsfläche wesentlich erhöht. Dies begünstigt die Korrosion erheblich, wobei Poren mit

einem großen effektiven Porenradius besonders wirksam sind. Die Korrosion von

Schamotteerzeugnissen in Steinkohlenschlacken in Abhängigkeit von der offenen Porosität

bei verschiedenen Temperaturen zeigt Abb. 4.1.18.

Korrosion von Schamotteerzeugnissen in Steinkohlenschlacken (30%Fe2O3)

in Abhängigkeit von der offenen Porosität bei verschiedenen Temperaturen [16]

Abb. 4.1.18

Page 177: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

4. Chemische Eigenschaften - 177 -

Infolge der Kapillarwirkung von Poren können angreifende Schmelzen und Schlacken

feuerfeste Werkstoffe infiltrieren. Die Einsaughöhe h max ergibt sich durch die

Kapillaraktivität für einen bestimmten Temperaturbereich gemäß:

hrlv

Flmax

cos=

2γ ϕρ

(4.1.17)

r = mittlerer Porenradius

ρFl = Dichte der benetzenden Flüssigkeit

Mit abnehmendem Porenradius nimmt also die Infiltrationstiefe zu. Bei geringer Benetzung

bzw. großem Kontaktwinkel wird die Infiltrationsneigung herabgesetzt.

Die Eindringtiefe bzw. Infiltration von Schmelzen und Schlacken in das feuerfeste Material

ist zeitabhängig und lässt sich für einen bestimmten Temperaturbereich angeben nach:

dhdt

r cos4 hlv=

γ ϕη

(4.1.18)

bzw.

t hr lv

=2 2ηγ ϕcos

(4.1.19)

Danach wird die Zeitabhängigkeit der Eindringtiefe ganz maßgeblich durch die Viskosität der

infiltrierenden Schmelzen und Schlacken beeinflusst. Niedrigviskose Schlacken infiltrieren

schnell. Das ist besonders bei hohen Temperaturen und entsprechender Zusammensetzung der

angreifenden Schlacken und Schmelzen gegeben.

g) Empirische Methoden zur Bestimmung der Fest-Flüssig Korrosionsbeständigkeit

1) Fingertest (s. Pkt. d)

2) Rotierende Scheibe (s. Pkt. d)

3) Tiegelverfahren

Page 178: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 178 - 4.1 Korrosion

Bei dieser Methode wird eine zylindrische Bohrung in einem Probekörper angebracht.

In die Bohrung wird eine festgelegte Menge Schlacken- oder Glaspulver eingefüllt.

Danach wird der Probekörper bei einer Temperatur oberhalb der Schlacken- oder

Glasschmelztemperatur eine gewünschte Zeit erhitzt. Nach der Abkühlung erfolgt ein

vertikales Durchtrennen des Tiegels, so dass die Achse der Ausbohrung in der

Schnittebene liegt. Zur Bewertung wird die Lösungs- und Tränkungsfläche innerhalb

der Schnittebene ausplanimetriert (Abb. 4.1.19).

Schema zur Auswertung einer Korrosionstestprobe nach Tiegelverfahren [16]

Abb. 4.1.19

4) Aufstreuverfahren

Bei diesem Verfahren wird auf einen erhitzten Probekörper Schlacken- oder Glaspulver

aufgestreut. Nach dem Versuch werden Aussehen, Gewichts- und Masseverlust der

Proben beurteilt.

All diese Verfahren lassen nur grobe vergleichende Bewertungen zu. In der Praxis werden die

keramischen Werkstoffe bzw. die zu verarbeitenden Schlacken daher in der Regel sehr

anwendungsnahen produktionsrelevanten Tests unterzogen.

Page 179: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

 

Page 180: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 180 - 5.1 Elektrische Leitfähigkeit

5. Elektrische Eigenschaften

5.1 Elektrische Leitfähigkeit

Wird an ein Bauteil ein elektrisches Feld angelegt, so erreicht der elektrische Stromfluss mehr

oder weniger schnell einen Gleichgewichtswert, der sich aus der Zahl der vorhandenen

Teilchen, die Ladungen transportieren, und ihrer Bewegungsgeschwindigkeit ergibt. Die

elektrische Stromdichte j wird als die Ladungsmenge definiert, die in der Zeiteinheit durch

eine Einheitsfläche transportiert wird.

j = ni zi e v (5.1.1)

ni = Zahl der beweglichen geladen Teilchen pro Volumeneinheit

v = die unter der Wirkung des elektrischen Feldes erzielte Wanderungsgeschwindigkeit

e = Elementarladung

zi = elektrochemische Wertigkeit

zi·e = Ladungsmenge pro Teilchen i

Die spezifische elektrische Leitfähigkeit wird durch die Beziehung

σ =j

E (5.1.2)

definiert, worin E die elektrische Feldstärke ist, die gerade an dem betreffenden Ort wirkt. Die

elektrische Feldstärke kann in einem Werkstoff örtlich verschieden sein. Die elektrische

Leitfähigkeit muss dann auf einen Teilwert bezogen werden, der allein durch die Teilchenart i

zustande kommt.

σ i i iin z e

vE

= (5.1.3)

Bei einem konstanten Wert von σi ist also die Wanderungsgeschwindigkeit vi proportional der

örtlich wirkenden Feldstärke E.

Das Verhältnis

Page 181: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 181 -

μi =vE

i (5.1.4)

ist als Beweglichkeit definiert. Die elektrische Leitfähigkeit ist also das Produkt aus der

Konzentration ni zi e und der Beweglichkeit der Ladungsträger μi. Ladungsträger können

dabei Elektronen, Defektelektronen oder Ionen sein. Diese wiederum unterscheiden sich in

Konzentration, Ladung und Beweglichkeit.

Zum gesamten Leitfähigkeitsverhalten eines Werkstoffs trägt häufig mehr als nur eine einzige

Ladungsträgerart bei. Daher ergibt sich diese aus der Addition der partiellen Leitfähigkeiten

der einzelnen Arten:

σ = σ1 + σ2 + σ3 = Σσi (5.1.5) Der Anteil der Gesamtleitfähigkeit, der von jeder Lagerungsträgerart beigesteuert wird, heißt

Überführungszahl ti

t ii=

σσ

(5.1.6)

Die Summe aller individuellen Überführungszahlen ist 1.

Überführungszahlen von Kationen t+, Anionen t-, Elektronen oder Leerstellen te,h verschiedener Werkstoffe [8]

Abb.5.1.1

Page 182: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 182 - 5.1 Elektrische Leitfähigkeit

5.1.1. Elektronenleitung

Elektronenleitung, wie sie in metallischen Werkstoffen große Bedeutung hat, kann mit dem

Bändermodell erklärt werden. Bereits im Einzelatom kann ein Elektron immer nur einen

durch entsprechende Quantenzahlen beschriebenen Energiezustand einnehmen (Pauli-

Prinzip). Die diskreten Energieniveaus der Elektronen der einzelnen Atome verbreitern sich

im Atomverband jeweils zu einem Energieband, in dem die Elektronen gleichen

Quantenzustands der außerordentlich vielen Atome sehr dicht beieinander liegende aber

voneinander verschiedene Energiezustände besetzen können. Nehmen die Atome ihren

Gleichgewichtsabstand r0 zueinander ein, so sind nur die Energieniveaus der miteinander in

Wechselbeziehung stehenden Bindungselektronen zu einem Band aufgeweitet. Bei

Verringerung des Atomabstandes (Druckbeanspruchung) treten auch Elektronen der inneren

Schalen in Wechselwirkung und spalten zu Bändern auf.

Energieniveaus von Na-Atomen im Gitterverband [17]

Abb.5.1.2

Im Na-Gitter sind die verschiedenen besetzbaren Energieniveaus durch nichtbesetzbare

Energiebereiche der Breite ΔE getrennt (Abb. 5.1.2). Da jedes Na-Atom nur ein von zwei

möglichen 3s-Elektronen aufweist, ist das zur Verfügung stehende Bindungselektronen- oder

Valenzband nur halb, und zwar von unten beginnend, gefüllt. Es stehen diesen

Bindungselektronen also noch unbesetzte höher liegende Energiezustände zur Verfügung, in

die sie gelangen können, wenn ein elektrisches Potential ihnen einen Impuls verleiht und sie

in Richtung dieses Potentials beschleunigt. Die beweglichen Elektronen im teilweise gefüllten

Page 183: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 183 -

Valenzband bewirken die elektrische Leitfähigkeit. In einem ionischen oder kovalenten

Verband sind dagegen alle im Valenzband bestehenden Energiezustände besetzt. Die

Elektronen sind an diese Energieniveaus gebunden und damit nicht für eine gerichtete

Elektronenbewegung verfügbar. Stoffe mit ionischer oder kovalender Bindung sind unter

diesen Umständen Nichtleiter, wenn man bei ersteren von einer möglichen Ionenleitung

absieht. Das oberste vollständig gefüllte Elektronenband wird als Valenzband bezeichnet, das

nächste darüber befindliche als Leitungsband (Abb. 5.1.4).

Leiter, Halbleiter, Nichtleiter

Die Einteilung von Stoffen in elektrische Leiter, Halbleiter und Nichtleiter erfolgt unabhängig

vom jeweiligen Leitungsmechanismus nur nach dem Wert ihrer Leitfähigkeit. Die

Leitfähigkeit umfasst dabei einen Bereich von mehr als 20 Größenordnungen (Abb. 5.1.3).

Einteilung von elektrischen Leitern, Halbleitern

und Nichtleitern nach ihrer Leitfähigkeit [17]

Abb.5.1.3

Das Bändermodell beschreibt auch vereinfacht das Verhalten von Elektronenleitern,

Elektronenhalbleitern und Elektronennichtleitern (Abb. 5.1.4) Bei Metallen ergibt sich die

Leitfähigkeit dadurch, dass das oberste Elektronenband, wie beim Natrium, nur teilweise

besetzt ist oder die Energiebereiche von Valenz- und Leitungsband überschneiden sich, so

dass die Energielücke ΔE = 0 wird (Abb. 5.1.4a).

Page 184: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 184 - 5.1 Elektrische Leitfähigkeit

Bändermodell [17]

Abb.5.1.4

Elektronen-Nichtleiter sind dagegen Substanzen mit leerem Leitungsband und einer

Energielücke ΔE zum Valenzband, die von Elektronen bei normalen Temperaturen nicht

überwunden wird. Grundsätzlich besteht kein Unterschied zwischen Nicht- und Halbleitern.

Bei tiefen Temperaturen sind beide Isolatoren mit leerem Leitungsband. Beim Halbleiter ist

die Energielücke ΔE relativ schmal (Abb. 5.1.4c) und bereits bei Raumtemperatur kann eine

bestimmte Zahl von Elektronen durch thermische Anregungen ins Leitungsband gelangen.

Die Grenze zwischen Nicht- und Halbleitern wird etwas willkürlich bei einer Energielücke

ΔE = 3 eV gezogen.

Eigenhalbleitung

Da bei Halbleitern nur eine schmale Energielücke ΔE existiert, können Elektronen des

Valenzbandes durch Energiezufuhr in das leere Leitungsband gehoben werden. Jedes dorthin

gebrachte Elektron ist beweglich und damit zur Stromleitung befähigt. Gleichzeitig hinterlässt

ein „angehobenes“ Elektron im Valenzband eine Elektronenleerstelle, ein sog.

Defektelektron. Durch dieses Elektronenloch werden auch die Elektronen im Valenzband

beweglich. Eine dadurch ermöglichte Wanderung von Elektronen im Valenzband kann formal

als entgegengerichtete Bewegung von Defektelektronen angesehen werden. Die gleichzeitige

Erzeugung von Leitungselektronen im Leitungsband und von Defektelektronen im

Page 185: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 185 -

Valenzband wird Paarbildung genannt (Abb. 5.1.5). Die durch Paarbildung hervorgerufene

Leitfähigkeit wird Eigenhalbleitung genannt.

Paarbildung durch Elektronenanregung [17]

Abb.5.1.5

Störstellenhalbleitung

Für die technische Nutzung von Halbleitern ist die gezielte Verunreinigung (Dotierung) eines

Eigenhalbleiters mit höher oder geringer wertigen Fremdatomen und die dadurch erreichbare

Störstellenhalbleitung von Bedeutung. Hierbei werden beispielsweise vierwertige

Eigenhalbleiter Germanium und Silicium mit fünfwertigen Fremdatomen P, As, Sb oder mit

dreiwertigen Fremdatomen wie B, Al, Ga und In dotiert.

Bei der Aufnahme eines fünfwertigen Fremdatoms in das kovalent gebundene Gitter

vierwertiger Si-Atome bleibt ein Elektron übrig, da für die Einbindung in den Gitterverband

nur vier Elektronen benötigt werden. Dieses Überschusselektron ist an das fünfwertige

Fremdatom dann nur noch sehr locker gebunden und nimmt einen Energiezustand direkt

unterhalb des leeren Leitungsbandes ein. Bereits die bei Raumtemperatur wirksame

thermische Anregung reicht aus, das Überschusselektron in das Leitungsband zu heben. Die

hierdurch verursachte Elektronenleitung ist auf negative Ladungsträger zurückzuführen und

wird daher als n-Leitung bezeichnet. Da die Ladungsträger von den Fremdatomen quasi

Page 186: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 186 - 5.1 Elektrische Leitfähigkeit

gespendet werden, nennt man solche „Elektronengeber“, hier also die fünfwertigen

Fremdatome, Donatoren (Abb. 5.1.6a).

Störstellenhalbleitung dotierter Halbleiter [17]

Abb.5.1.6

Bei der Einbindung dreiwertiger Fremdatome in das vierwertige Gitter fehlt dagegen jeweils

ein Elektron zur Ausbildung vollständiger Bindungen, es entsteht eine Elektronenleerstelle,

ein Defektelektron. Das Energieniveau A solcher Defektelektronen befindet sich in der Nähe

des Valenzbandes, so dass diese Defektelektronen durch geringe thermische Aktivierung von

Elektronen aus dem Valenzband ausgefüllt werden können. Hierdurch entstehen nun

Defektelektronen im Valenzband, deren Bewegung, da sie formal der Wanderung positiver

Ladungsträger entspricht, als p-Leitung bezeichnet wird. Die p-Leitung wird durch

Elektronen „nehmende“ Fremdatome herbeigeführt, in Analogie zu den Donatoren nennt man

sie Akzeptoren (Abb. 5.1.6b). Abb. 5.1.7 zeigt einige wichtige Elemente der Halbleittechnik.

In analoger Weise ist es möglich, durch Verbindung dreiwertiger mit fünfwertigen oder

zweiwertiger mit sechswertigen Elementen Störstellenhalbleiter herzustellen.

Page 187: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 187 -

Wichtige Elemente der Halbleitertechnik [17]

Abb.5.1.7

Temperaturverhalten

Leitungselektronen erfahren bei ihrem Weg durch das Gitter einen Bewegungswiderstand, so

daß ein Elektronenstrom nur mit Hilfe des treibenden Potentials einer Spannungsquelle fließt.

Der Leitungswiderstand entsteht durch Streuungen der sich im Gitter gerichtet bewegenden

Elektronen, die zum einen durch die thermisch bedingte Vibration des Gitters z. a. durch

Unregelmäßigkeiten des Gitters wie Leerstellen, Fremdatome, Versetzungen, Korn- und

Phasengrenzen verursacht werden. Als Folge solcher Streuungen verlieren die Elektronen

einen Teil ihrer Bewegungsenergie an die Atomrümpfe. Dieser Energieumsatz äußert sich in

einer Erhöhung der Gittertemperatur. Fehlerarme Kristallstrukturen weisen daher bei tiefen

Temperaturen eine mehrfach erhöhte elektrische Leitfähigkeit auf. Mit zunehmender

Temperatur nimmt die Streuung der im Gitter bewegten Elektronen zu und damit die

Leitfähigkeit ab. Für Metalle ist also ein positiver Temperaturkoeffizient des elektrischen

Widerstands charakteristisch, d.h. der Widerstand nimmt mit steigender Temperatur zu, die

Leitfähigkeit ab (Abb. 5.1.8).

Einfluss der Temperatur auf den elektrischen Widerstand von Metallen [17]

Abb.5.1.8

Page 188: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 188 - 5.1 Elektrische Leitfähigkeit

Der elektrische Widerstand von Metallen setzt sich also aus zwei unterschiedlichen Anteilen

zusammen, einem temperaturabhängigen thermischen Anteil ρth und einem durch

Gitterdefekte verursachten Anteil ρD:

ρ = ρth + ρD. (5.1.7)

Bei tiefen Temperaturen überwiegt der auf Gitterfehler zurückzuführende, weitgehend

temperaturunabhängige Anteil ρD, bei höheren Temperaturen tritt dagegen mehr der

thermisch bedingte Anteil ρth in den Vordergrund.

Zwischen der Elektronenbandstruktur von reinen Halbleitern und von Isolatoren besteht kein

grundsätzlicher Unterschied. Sie unterscheiden sich lediglich in der Größe der zwischen

Valenz- und Leitungsband bestehenden Energielücke ΔE. Beide sind bei tiefen Temperaturen

Isolatoren, erlangen aber bei erhöhten Temperaturen durch thermisch verursachte Paarbildung

eine gewisse Leitfähigkeit. Wegen der bei Isolatoren wesentlich größeren Energielücke findet

Paarbildung in merklichem Umfang erst bei sehr hohen Temperaturen statt (Abb. 5.1.9).

Einfluss der Temperatur auf die elektrische Leitfähigkeit

von Eigenhalbleitern und Isolatoren [17]

Abb.5.1.9

Wie bei Metallen steigt auch bei Halbleitern der Bewegungswiderstand bei Elektronen mit

zunehmender Temperatur an. Allerdings wird bei Halbleitern der thermisch bedingte Verlust

an Leitfähigkeit durch die gleichzeitig stattfindende thermisch bedingte Produktion von

Ladungsträgern mehr als ausgeglichen, was zu einem negativen Temperaturkoeffizienten des

elektrischen Widerstandes führt.

Page 189: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 189 -

Im Temperaturverhalten dotierter Halbleiter überlagern sich drei verschiedene Vorgänge

(Abb. 5.1.10).

Einfluss der Temperatur auf die elektrische Leitfähigkeit dotierter Halbleiter [17]

Abb.5.1.10

Bei geringem Temperaturanstieg werden Donatorelektronen in das Leitungsband bzw.

Elektronen aus dem Valenzband in das Akzeptorband gehoben, die Leitfähigkeit steigt mit

der Temperatur an (sog. Reservebereich). Die Leitfähigkeit erreicht einen Grenzwert, da nur

eine begrenzte Zahl von Dotierungselektronen zur Verfügung steht. Wegen der thermischen

Streuung der beweglichen Elektronen fällt bei höherer Temperatur die Leitfähigkeit ein wenig

ab (sog. Erschöpfungsbereich). Bei noch höheren Temperaturen setzt die Paarbildung ein und

aufgrund der Eigenhalbleitung nimmt die Leitfähigkeit wieder zu.

Supraleiter

Bei Supraleitern verschwindet der elektrische Widerstand beim Unterschreiten extrem

niedriger Temperaturen schlagartig (Abb. 5.1.11).

Page 190: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 190 - 5.1 Elektrische Leitfähigkeit

Einfluss der Temperatur auf den elektrischen Widerstand

von Leitern und von Supraleitern [17]

Abb.5.1.11

Der supraleitende Zustand kommt durch die gekoppelte Bewegung von jeweils zwei

Leitungselektronen ungleichen Spins zustande. Der Abstand zwischen den beiden Elektronen

eines Paares kann viele Atomabstände betragen, ihre gegenseitige Bindung beruht darauf,

dass das erste Elektron aufgrund seiner negativen Ladung das Gitter etwas zusammenzieht

und so eine ihm folgende, stärker positiv geladene Zone erzeugt. Diese Zone wirkt auf das

zweite Elektron des Paares anziehend und veranlasst dieses Elektron zu solchen

Bewegungsreaktionen, dass Streuungen des ersten Elektrons nicht zu Energieverlusten an das

Gitter führen. Der durch schwache Wechselwirkungskräfte hervorgerufene besondere

elektronische Ordnungszustand von Supraleitern kann nicht nur durch geringe thermische

Gitterbewegungen zerstört werden, sondern ist auch außerordentlich empfindlich gegen

äußere Magnetfelder. So ist die Sprungtemperatur Tc abhängig von der Stärke H eines

äußeren Magnetfeldes (Abb. 5.1.12).

Einfluss der magnetischen Feldstärke H auf die Sprungtemperatur Tc* [17]

Abb.5.1.12

Page 191: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 191 -

5.1.2 Ionenleitung

Keramische Werkstoffe enthalten normalerweise keine freien Elektronen, so dass ihre

elektrische Leitfähigkeit um viele Größenordnungen niedriger ist als bei Metallen (Abb.

5.1.13).

Elektrischer Widerstand einiger Werkstoffe bei Raumtemperatur [8]

Abb.5.1.13

Für die Leitfähigkeit sind Ionen als Ladungsträger verantwortlich. Deren Beweglichkeit ist

aber durch den Einbau in die Kristallstruktur gering. Der Anteil unterschiedlicher Ionen an

der Gesamtleitfähigkeit eines Werkstoffs wird durch die Überführungszahlen von Kationen,

Anionen und Elektronen oder Leerstellen dokumentiert (Abb. 5.1.1).

Wenn ein Ion durch ein Kristallgitter bewegt werden soll und die treibende Kraft ein

elektrisches Feld darstellt, so muss es eine ausreichende thermische Energie besitzen, um eine

Energieschwelle, die der mittleren Position von Gitterplätzen entspricht, zu überwinden. Die

Ionenbeweglichkeit im Zusammenhang mit einem elektrischen Feld wird durch die Nernst-

Einstein-Beziehung beschrieben. Zwischen der elektrischen Leitfähigkeit σ und dem

Selbstdiffusionskoeffizienten D einer Ionensorte i mit der Überführungszahl ti gilt die

Beziehung

Page 192: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 192 - 5.1 Elektrische Leitfähigkeit

σ σi i i ii i i it f n e z D

kTa D n z e

kT= = ⎛

⎝⎜⎞⎠⎟=( )

2 2

(5.1.8)

a = Korrelationsfaktor, der die Möglichkeit eines Ions beschreibt, eine Leerstelle zu besetzen

(a = 4 für eine Ionenleerstelle in der Natriumchloridstruktur). Die elektrische Leitfähigkeit ist

also direkt proportional dem Selbstdiffusionskoeffizienten. Das bedeutet, dass die schneller

diffundierenden Kationen im wesentlichen die elektrische Leitfähigkeit bewirken, besonders

kleine Kationen mit niedriger Wertigkeit.

Temperaturabhängigkeit der elektrischen Leitfähigkeit σ (in Ω-1 cm-1)

einiger keramischer Werkstoffe [12]

Abb.5.1.14

Über die Diffusion ergibt sich die Temperaturabhängigkeit der elektrischen Leitfähigkeit zu

σ σ= ⋅−⎛

⎝⎜⎞⎠⎟

= −A QRT

oder A QRT

exp ln ' (5.1.9)

d.h., mit steigender Temperatur nimmt die elektrische Leitfähigkeit zu. Diese

Temperaturabhängigkeit ist in Abb. 5.1.14. dargestellt. In Abb. 5.1.15 sind gemessene

Sauerstoffdiffusionskoeffizienten verglichen mit der elektrischen Leitfähigkeit in

Abhängigkeit von der Temperatur, berechnet nach der Nernst-Einstein-Gleichung. Die gute

Übereinstimmung zwischen Experiment und Kalkulation bestätigt die Theorie.

Page 193: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 193 -

Diffusionskoeffizient von Sauerstoffionen in Zr0,85Ca0,15O1,85 [8]

Abb.5.1.15

Aus Abb. 5.1.14 ist zu erkennen, dass mit zunehmendem Alkaligehalt in keramischen

Werkstoffen die elektrische Leitfähigkeit zunimmt (entspricht einer Zunahme von ni in

Gleichung 5.1.8), wenn man z.B. Porzellan mit Steatit (Kurven 1 und 3), Schamotte mit

Silicastein (Kurven 7 und 8) oder β-Al2O3- mit α-Al2O3-haltigen Steinen (Kurven 11 und 12)

vergleicht. Insgesamt aber ist die elektrische Leitfähigkeit gering und die meisten

keramischen Werkstoffe können auch bei hoher Temperatur als Isolatoren betrachtet werden.

Die hohe elektrische Leitfähigkeit von CaO-stabilisiertem ZrO2 (Kurve 5) erklärt sich durch

die hohe Selbstdiffusion aufgrund von Sauerstoffleerstellen im Gitter. ZrO2 bildet mit einem

zweiten Kation niedrigeren Wertigkeit Mischkristalle, z.B. CaO-ZrO2 oder Y2O3-ZrO2. Die

Substitution von Zr-Ionen durch niederwertige Ca- oder Y-Ionen führt zu einer großen

Defektkonzentration bzw. zu Leerstellenbildung. Die Leerstellenkonzentration liegt in der

Größenordnung von 15%, wodurch Sauerstoffionen sehr schnell diffundieren können.

Fehlstellen erhöhen also die Diffusion und damit auch die elektrische Ionenleitfähigkeit.

Da das Auftreten von nichtstöchiometrischen Verbindungen oder die Substitution von Ionen

mit anderen Wertigkeiten von der Atmosphäre abhängen, beobachtet man bei Oxiden auch

eine Abhängigkeit der elektrischen Leitfähigkeit vom Sauerstoffpartialdruck.

Page 194: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 194 - 5.1 Elektrische Leitfähigkeit

Stabile keramische Materialien mit ausschließlich Ionenleitfähigkeit (ti = 1) können als

Festkörperelektrolyt in Batterien oder Brennstoffzellen verwendet werden. Wenn z.B.

Kohlenmonoxid auf der einen Seite einer Zirkonoxidzelle strömt und durch diffundierende

Sauerstoffionen zu CO2 oxidiert wird, kann durch den Fluss von Elektronen ein Strom

abgegriffen werden.

Für die Reaktion

CO + O2- = 2e- + CO2 Seite I vonZrO2 1/2O2 (in Luft) + 2e-→O2- Seite II von ZrO2

1CO + 1/2O2→CO2

errechnet sich die entstehende Spannung Φ zu:

Φ =⎛

⎝⎜⎜

⎠⎟⎟

RTF

P CO COP air

OI

O22

2

2ln( / )

( )ΙΙ (5.1.10)

mit F = Faraday Konstante

die zur Erzeugung elektrischen Stroms verwendet werden kann (Prinzip der Lambda Sonde).

Elektronenleitfähigkeit in Kristallen

In einigen Fällen von Übergangsmetalloxiden wie z.B. ReO3, CrO2, VO, TiO und ReO2

überlappen sich Elektronenorbitale, woraus sich ungefüllte d- oder f-Bänder ergeben, wie in

Abb. 5.1.4. dargestellt. Dies führt zu einer Konzentration von 1022 bis 1023 quasi freien

Elektronen pro cm3. Die Mobilität dieser Elektronen liegt um mehrere Größenordnungen über

der von Ionen und liefert einen wesentlichen Beitrag zur elektrischen Leitfähigkeit

(Abb. 5.1.16).

Page 195: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 195 -

Temperaturabhängigkeit der elektrischen Leitfähigkeit

von einigen elektronisch leitenden Oxiden [8]

Abb.5.1.16

Page 196: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 196 - 5.2 Dielektrizität

5.2. Dielektrizität

Elektronen und Ionen in kovalenten bzw. ionisch gebundenen Materialien sind fest gebunden

und können in einem elektrischen Feld nicht in eine ungebundene Bewegung versetzt werden.

Ein elektrisches Potential übt aber auf die geladenen Teilchen je nach ihrer Polarität eine

anziehende bzw. abstoßende Wirkung aus, so dass die Teilchen eine reversible

Ladungsverschiebung erfahren. Durch diese Verlagerung der Ladungsschwerpunkte findet

eine Polarisation des Nichtleiters statt. Dabei werden in ihm Dipolmomente erzeugt bzw. die

Momente bestehender Dipole verstärkt und ausgerichtet. Je nach Polarisation des Isolators

spricht man von Elektronen-, Ionen- und Dipolpolarisation. Bei der Elektronen- oder

Atompolarisation beobachtet man eine Verschiebung der negativen Elektronenhülle

gegenüber dem positiven Atomkern, wodurch die Ladungsschwerpunkte räumlich getrennt

werden (Abb. 5.2.1).

Elektronenpolarisation [17]

Abb.5.2.1

Entsprechend spricht man bei der Verschiebung von Ionen in Ionenkristallen von einer

Ionenpolarisation. Eine andere Polarisationserscheinung ist durch die Abstandsvergrößerung

der elektrischen Schwerpunkte von polaren Molekülen gegeben, deren Ladungsschwerpunkte

schon im feldfreien Raum nicht zusammenfallen, so dass infolge der Polarisation im Feld das

bereits vorhandene permanente Dipolmoment noch vergrößert wird (Dipolpolarisation

permanenter Dipole). Weiterhin können in inhomogenen Werkstoffen, wenn die

dielektrischen Eigenschaften und die Leitfähigkeit ihrer Komponenten voneinander ab-

weichen, an deren Grenzflächen Ladungen entstehen (Grenzflächenpolarisation) (Abb.5.2.2).

Page 197: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 197 -

Schematische Darstellung von Polarisationen bei Nichtleitern [18]

Abb.5.2.2

Ionenpolarisation tritt insbesondere bei Gläsern und keramischen Isolatoren auf und kann

unter besonderen Umständen zu extrem großen Polarisationseffekten (Ferroelektrizität)

führen. Alle genannten Polarisationsarten erfordern sehr kleine Einstellzeiten und sind

temperatur-unabhängig. Von der Temperatur abhängig hingegen sind die sogenannte

Orientierungs-polarisation (Abb. 5.2.2.e). Darunter versteht man die Ausrichtung der infolge

der Wärmebewegung statistisch verteilten permanenten Dipolmomente zum äußeren

elektrischen Feld. Sie benötigt wesentlich größere Einstellzeiten, die von der Viskosität des

Stoffes abhängen.

Page 198: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 198 - 5.2 Dielektrizität

Permittivitätszahl

Die Speicherung der elektrischen Energie in einem Dielektrikum kann man sich vorstellen

wie das Spannen einer Feder. Beim Spannen wird mechanische Energie aufgenommen und

bei der Entlastung der Feder wieder abgegeben. Entsprechend wird bei der Polarisation

elektrische Energie gespeichert, die Bausteine des Dielektrikums wirken wie elektrostatische

Federn. Mit Hilfe eines Dielektrikums kann die elektrische Ladungsfähigkeit C eines

Kondensators gegenüber seiner Kapazität C0 im Vakuum um den Faktor εr vergrößert werden.

C = εr ⋅ C0 (5.2.1)

εr = Permittivitätszahl, relative Permittivität, Dielektrizitätskonstante.

Die Dielektrizitätskonstante beschreibt den Polarisationseffekt eines Dielektrikums. Zu ihr

tragen die einzelnen Polarisationsmechanismen additiv bei, so dass

εr = εr.El. + εr.Ion. + εr.Dipol (5.2.2)

Je nach Masse und Bewegungsfähigkeit dieser Ladungsträger sowie den Dimensionen ihrer

Verschiebung können die einzelnen Polarisationsvorgänge von Elektronen, Ionen oder

Dipolen nur mit einer für sie typischen Maximalgeschwindigkeit ablaufen. Die

Zeitabhängigkeit äußert sich insbesondere bei elektrischen Wechselfeldern, da hier die

Verschiebung der Ladungsträger mit der Geschwindigkeit der Wechselfeldänderung ablaufen

muss. Liegt die Frequenz eines Wechselfeldes z.B. deutlich oberhalb der

Maximalgeschwindigkeit eines Polarisationsmechanismus, so kann diese Polarisation nicht

mehr ablaufen und auch keinen Beitrag zur Permittivitätszahl liefern. Bei der Elektronen- und

der Ionenpolarisation kommt es nur zu Ladungsverlagerungen um Strecken, die deutlich

kleiner als ein Atomabstand sind. Diese beiden Mechanismen sind daher bis zu sehr hohen

Frequenzen möglich, während die Orientierung von Dipolen bereits Umlagerungen im

molekularen Bereich erfordert und demzufolge schon bei niedrigeren Frequenzen nicht mehr

möglich ist (Abb. 5.2.3.). Hohe Permittivitätszahlen sind nur erreichbar, wenn neben

Elektronenpolarisation auch Ionen- und Dipolpolarisation möglich sind.

Page 199: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 199 -

Frequenzabhängigkeit der Permittivitätszahl [17]

Abb.5.2.3

Dielektrische Verluste

Die in einem Dielektrikum durch Polarisation gespeicherte Energie wird bei Entladung im

Idealfall ohne Verluste wieder vollständig freigesetzt. In einem realen Dielektrikum verläuft

der Polarisationsvorgang jedoch nicht verlustfrei, ein Teil der Energie wird absorbiert und in

Wärme umgesetzt. Außer diesem Polarisationsverlust fließt bei jedem Laden eines

Kondensators entsprechend der Leitfähigkeit des Dielektrikums als zusätzlicher Verlust ein

allerdings sehr geringer Leckstrom. Während beim verlustlosen idealen Kondensator der

Polarisationsstrom Ic der angelegten Spannung um 90° vorauseilt, fließt beim realen,

verlustbehafteten Kondensator ein zusätzlicher Verluststrom Iv, der sich mit der angelegten

Spannung in Phase befindet. Beide Ströme ergeben den Gesamtladestrom Iges., der mit der

Spannung U den zwischen 0 und 90° betragenden Phasenwinkel ϕ mit dem

Komplementwinkel δ = 90° - ϕ bildet (Abb. 5.2.4.).

Strom-Spannung-Diagramm eines verlustbehafteten Kondensator [17]

Abb.5.2.4

Page 200: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 200 - 5.2 Dielektrizität

tan δ ist das Verhältnis von Verluststrom Iv und Kondensatorstrom Ic.

Iv/Ic = tan δ (5.2.3)

tan δ ist also ein Maß für die beim Laden des Kondensators auftretenden Verluste und wird

als dielektrischer Verlustfaktor bezeichnet. Je größer tan δ, desto größer ist der Verluststrom

des Dielektrikums.

Die innere Reibung von Polarisationsvorgängen ist bei solchen Frequenzen am größten, bei

denen ein Polarisationsmechanismus der Frequenz des Feldes gerade noch folgen kann.

Deshalb treten Maximalwerte von tan δ immer bei Grenzfrequenzen eines Polarisations-

mechanismus auf (Abb. 2.5.5.).

Permittivitätszahl εr und dielektrischer Verlustfaktor tan δ in Abhängigkeit von der Frequenz [17]

Abb.5.2.5

Diese Erscheinungen sind nicht nur beim Betrieb von Kondensatoren von Bedeutung, sondern

auch bei der Isolation wechselspannungsführender Teile, wobei das Material, das die Teile

unterschiedlichen elektrischen Potentials gegeneinander isoliert, als Dielektrikum zu

betrachten ist.

Die in einer Wechselspannungsisolation entstehende Verlustleistung Nv hängt vom Quadrat

der Spannung, der Frequenz f, den dielektrischen Größen εr und tan δ ab und ermittelt sich zu:

Nv = U2 ⋅ 2 π ⋅f ⋅ ε0 ⋅ εr ⋅ tan δ (5.2.4)

Page 201: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 201 -

Die dielektrischen Verluste müssen also besonders in der Hochfrequenz- und in der

Hochspannungstechnik beachtet werden. Zur Isolation in der Hochfrequenz- und

Hochspannungstechnik sind Werkstoffe mit niedrigem εr- und tanδ- Werten zu wählen.

Andererseits können Werkstoffe mit hohem εr· tanδ - Produkten in einem hochfrequenten

Wechselfeld bis zum Schmelzen erwärmt werden. Diese Eigenschaft wird u.a. beim

Mikrowellensintern keramischer Werkstoffe genutzt. Hierfür sind Frequenzen nach Abb.

5.2.5 vorteilhaft, die zu besonders hohen dielektrischen Verlusten führen.

Am Beispiel von Steatit ist die Dielektrizitätskonstante und der Verlustwinkel in

Abhängigkeit von der Temperatur in Abb. 5.2.6 dargestellt.

Dielektrizitätskonstante und der Verlustwinkel von Steatit

in Abhängigkeit von der Temperatur und der Frequenz [8]

Abb.5.2.6

Mit steigender Temperatur bringt die Erleichterung der Ionenbeweglichkeit eine Erhöhung

von tan δ. Bei Porzellan steigt beispielsweise der tan δ-Wert im Temperaturbereich von 20 -

100 °C bei 50 Hz um das 5- bis 10-fache. Bei höheren Frequenzen ist der Anstieg geringer.

Page 202: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 202 - 5.2 Dielektrizität

Ferroelektrizität

Eine besondere Erscheinung der Dielektrizität, die bei einigen ionischen Kristallen auftritt

und zu Permittivitätszahlen von 103 und größer führt, wird als Ferroelektrizität bezeichnet,

weil sie sehr viele Gemeinsamkeiten mit ferromagnetischem Verhalten aufweist. In

ferroelektrischen Kristallen, wie z.B. BaTiO3, stimmen durch eine unsymmetrische

Anordnung der positiven und negativen Ionen die Ladungszentren in der Elementarzelle nicht

überein (Abb. 5.2.7a und

Abb.5.2.7b), so dass bereits ohne äußere Feldwirkung im Kristall Dipole existieren.

Atomanordnung im idealen Perovskitgitter [8]

Abb.5.2.7a

Page 203: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 203 -

Ionenanordnung in tetragonalem BaTiO3 [8]

Abb.5.2.7b

Ferroelektrisches Verhalten hat also ionischen Ursprung im Gegensatz zum

ferromagnetischen Verhalten, das elektronischen Ursprung hat. Kennzeichnend ist in beiden

Fällen die Ausbildung sogenannter Domänenstrukturen im Gefüge. Innerhalb einer Domäne

werden durch starke gegenseitige Wechselwirkungen die durch den Strukturaufbau

vorhandenen elektrischen Dipole auch ohne Einwirkung eines äußeren Feldes in die gleiche

Richtung orientiert (Abb. 5.2.8 und Abb. 5.2.9).

Schematische stark vereinfachte Darstellung der chemischen Mikrodomänen

und ihrer Polarisationsvektoren in Relaxor-Materialien [19]

Abb.5.2.8

Page 204: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 204 - 5.2 Dielektrizität

Domänenstruktur von grobkörniger BaTiO3-Keramik [19]

Abb.5.2.9

Die Ausrichtung der einzelnen Domänen ist aber statistisch verteilt, so dass sich die Domänen

ohne äußeres Feld gegenseitig kompensieren und die Gesamtpolarisation gleich Null ist.

Unter der Wirkung eines elektrischen Feldes werden nun ähnlich wie bei der Magnetisierung

solche Domänen vergrößert und erzeugt, wenn sie zum äußeren Feld günstig orientiert sind.

Sind alle Domänen in Richtung des äußeren Feldes ausgerichtet, so ist das Material

hinsichtlich seiner Polarisierbarkeit gesättigt. Bei der Fortnahme des äußeren Feldes bleibt

dann ein Teil der Polarisierung als Polarisierungsremanenz zurück (Abb. 5.2.10).

Verlauf der Polarisation D in Abhängigkeit von der elektrischen Feldstärke E

bei einem ferroelektrischen Material [17]

Abb.5.2.10

Analog zur Magnetisierung eines ferromagnetischen Materials in einem Magnetfeld beginnt

auch hier die Polarisierung mit einer Neukurve, erreicht eine Sättigung und beschreibt bei

Verminderung und Umkehr des Feldes eine durch Remanenz und Koerzitivfeldstärke

gekennzeichnete Hysteresekurve. Oberhalb einer kritischen Temperatur, der sogenannten

Page 205: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 205 -

Curietemperatur, werden die zwischen den Dipolen wirkenden Kopplungskräfte durch die

thermische Bewegung zerstört, der innerhalb der Domänen bestehende Ordnungszustand

gleichorientierter Dipole und damit auch das ferroelektrische Verhalten gehen verloren. Bei

Temperaturen über der Curietemperatur verhalten sich Ferroelektrika normal-dielektrisch.

Am Beispiel von Bariumtitanat soll im folgenden die Ferroelektrizität keramischer

Materialien erklärt werden. In der Kristallstruktur von Bariumtitanat (Abb. 5.2.7) ist jedes

große Bariumion von 12 Sauerstoffionen umgeben, jedes Titanion hat 6 Sauerstoffionen in

oktaedrischer Koordination. Die Barium- und Sauerstoffionen bilden ein flächenzentriertes

kubisches Gitter, wobei Titanionen in den oktaedrischen Zwischengitterplätzen sitzen. Die

Rattling-Titanium-Hypothese lässt vermuten, dass es für jedes Titanion Positionen minimaler

Energie gibt, die außerhalb des Zentrums dieser kubischen Zelle liegen und

konsequenterweise der Grund für die Ausbildung elektrischer Dipole darstellen. Unterhalb

der Curietemperatur ändert sich die Position des Titanions und die Struktur ändert sich von

kubisch nach tetragonal mit dem Titanion außerhalb der zentralen Position und der Bildung

eines permanenten elektrischen Dipols. Diese Dipole sind der Grund für die Ausbildung von

Domänenstrukturen, wie bereits diskutiert. Die Veränderung der Gitterkonstanten mit der

Temperatur zeigt Abb. 5.2.11.

Page 206: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 206 - 5.2 Dielektrizität

Temperaturabhängigkeit der Gitterkonstanten (a) und der Dielektrizitätskonstanten (b) von pseudokubischen BaTiO3 [8]

Abb.5.2.11

Durch Anlegen eines elektrischen Feldes findet in der tetragonalen Perowskitstruktur eine

Ausrichtung der Ti-Ionen statt, wobei innerhalb der Domänen (Größenordnung 1μm), wie

bereits oben erwähnt, durch eine gegenseitige Beeinflussung eine einheitliche Orientierung

der induzierten Dipole hervorgerufen wird. Die hohe Polarisation ist die Ursache für die

hohen DK-Werte. Sie ist jedoch an die Kristallstruktur gebunden. Beim Übergang in andere

Strukturen beobachtet man Extremwerte der Dielektrizitätskonstante (Abb. 5.2.11). Im

kubischen Bariumtitanatgitter ist Ferroelektrizität nicht mehr möglich. Die Grenztemperatur

zwischen dem kubischen nichtpolarisierbaren Bariumtitanat und dem tetragonalen

polarisierbaren wird in Analogie zum Magnetismus als Curietemperatur bezeichnet. Zwischen

den Temperaturen der Kristallumwandlungen gibt es Bereiche, in denen die

Dielektrizitätskonstante mit steigender Temperatur ab- bzw. zunimmt (Abb. 5.2.11). Ähnliche

Erscheinungen hat man auch bei anderen Titanaten und Zirkonaten gefunden. Eine

Einflussnahme auf die Dielektrizitätskonstante ergibt sich durch den Einbau von Fremdionen

ins Kristallgitter und die damit verbundene Mischkristallbildung. Abb. 5.2.12 zeigt, dass man

dadurch die Curietemperatur in relativ weiten Bereichen beeinflussen kann.

Page 207: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 207 -

Änderung der ferroelektrischen Curietemperatur von BaTiO3-haltigen Mischkristallen [12]

Abb.5.2.12

Piezoelektrizität

Die Polarisierung eines Dielektrikums hat eine Änderung der Abmessungen des Festkörpers

zur Folge. Diese Dimensionsänderungen werden analog zur Magnetostriktion Elektrostriktion

genannt. Der elektrostriktive Effekt ist jedoch von geringem Ausmaß und erfährt keine

besondere technische Bedeutung.

Die infolge der Polarisation auftretenden Dimensionsänderungen bei ionischen Kristallen,

deren ungleich geladene Ionen kein gemeinsames Symmetriezentrum besitzen, sind jedoch

deutlich größer und der Effekt lässt sich auch umkehren.

Bei einem piezoelektrischen Kristall führt eine elastische Deformation in bestimmten

kristallographischen Richtungen zu unterschiedlichen Verlagerungen der positiven und der

negativen Ionen und erzeugt an den Kristalloberflächen entsprechende elektrische Ladungen

(Abb. 5.2.13).

Piezo-Effekt [17]

Abb.5.2.13

A) Unverzerrter Piezo-Kristall, B) Verzerrter Piezo-Kristall

Page 208: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 208 - 5.2 Dielektrizität

Andererseits ändert ein solcher Kristall auch seine Abmessungen im Rhythmus einer von

außen angelegten elektrischen Wechselspannung. Auf diese Weise lassen sich mechanische

Kräfte in elektrische Signale umwandeln und umgekehrt. In diesem Sinne unsymmetrische

Ionenkristalle und damit piezoelektrisch sind alle ferroelektrischen Substanzen, aber auch

einige nichtferroelektrische wie z.B. Quarz. Da der Piezoeffekt nur in bestimmten kristallo-

graphischen Richtungen auftritt, müssen sich piezoelektrische Substanzen anisotrop

verhalten. Entweder werden sie dazu einkristallin verwendet oder sie erhalten als

Ferroelektrika im polykristallinen Zustand eine spezielle Texturbehandlung dadurch, dass sie

von einer Temperatur oberhalb der Curietemperatur aus dem normaldielektrischen Zustand in

einem starken elektrischen Feld langsam abgekühlt werden. Das Feld bewirkt, dass die

Domänen bei ihrer Bildung in Feldrichtung bevorzugt orientiert werden.

Beim direkten piezoelektrischen Effekt setzen Piezokeramiken bei mechanischer Verformung

eine elektrische Ladung frei. Beim inversen piezoelektrischen Effekt ändert die Piezokeramik

unter Einfluss eines elektrischen Feldes ihre Dimensionen (Abb. 5.2.14).

Direkter und inverser piezoeletrischer Effekt

Abb.5.2.14

Page 209: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 209 -

Wie bereits erwähnt, sind Piezokeramiken polykristalline Ferroelektrika mit polarer Struktur

und hoher Dielektrizitätszahl. Die Piezoelektrizität ergibt sich aus der bevorzugten

Orientierung polarer Bereiche (Domänen), die sich durch Abkühlen im elektrischen Feld

ausbilden. Durch die vielfältigen Möglichkeiten der Optimierung von Zusammensetzung und

geometrischer Formgebung hat Piezokeramik für die unterschiedlichsten Anwendungen eine

große Bedeutung.

Die polykristallinen piezoelektrischen Werkstoffe werden nach den bekannten keramischen

Verfahren gefertigt. Die wichtigsten basieren auf dem oxidischen Mischkristallsystem

Bleizirkonat und Bleititanat. Die Eigenschaften hängen vom molaren Verhältnis Bleizirkonat

zu Bleititanat sowie der Substituierung und Dotierung zusätzlicher Elemente ab. Diese

Materialien werden eingesetzt als Sensoren, Hochleistungsultraschall-generatoren und

Aktoren. Der direkte piezoelektrische Effekt wird in Sensoren bei der Umwandlung

mechanischer in elektrische Signale genutzt, der inverse piezoelektrische Effekt in

Ultraschallsendern bei der Umwandlung elektrischer Energie in mechanische/akustische

Energie. Die reine Deformation wird bei Anlegen von elektrischen Spannungen an Aktoren

genutzt. Beide Effekte nutzt man bei der Signalübertragung (z.B. in der Sonartechnik, in der

medizinischen Ultraschalldiagnostik und der zerstörungsfreien Ultraschallmaterialprüfung).

Die bekannteste Anwendung von Piezokeramiken bilden die Filter und Resonatoren in der

Radio- und Fernsehtechnik und in Geräten der Telekommunikation sowie als Tongeber.

Page 210: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

 

Page 211: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 211 -

5.3 Spezielle Keramiken für elektrische und elektronische Anwendungen

Isolatoren

Bei der Übertragung und Verteilung elektrischer Energie im Hochspannungs- und

Niederspannungsbereich übernehmen keramische Werkstoffe wichtige Funktionen. Sie

isolieren die spannungsführenden Teile der Leitungen und Anlagen gegen Erde und gegen

Berührung und sie übernehmen die mechanische Fixierung der spannungsführenden Teile im

System. Diese Funktionen erfordern von Werkstoffen für die elektrotechnische Isolation hohe

elektrische und mechanische Festigkeit. Sowohl im Hochspannungs- als auch im

Niederspannungsbereich werden Porzellan, Steatit und Sondersteatit sowie Tonerdeporzellan

verwendet. Im Hochspannungsbereich ist die Übertragung von Spannungen über 400 000

Volt selbstverständlich. Die Übertragung und Verteilung elektrischer Energie erfolgt fast

ausschließlich über Freileitungen. Freileitungsisolatoren isolieren die spannungsführenden

Leiter gegen die geerdeten Masttraversen und übertragen die mechanischen Kräfte der

Leiterseile auf die Traversen.

Langstabisolator

Abb. 5.3.1

Page 212: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 212 - 5.3 Spezielle Keramiken für elektrische und elektronische Anwendungen

Massivstützer werden dagegen zum Abstützen der Sammelschienen in

Hochspannungsanlagen oder als Stützer in Trennschaltern eingesetzt. Durchführungen dienen

dagegen zur Isolation spannungsführender Leiter oder Sammelschienen bei deren Einführung

durch Gebäudewände, in Kessel von Transformatoren oder in andere Hochspannungsgeräte.

Auch in Sendeanlagen werden Hochfrequenz-Hochspannungsisolatoren benötigt, die zur

Isolation der Tragwerke für Antennenanlagen und der Antennenzuleitungen dienen. Im

Niederspannungsbereich lösen keramische Werkstoffe Isolations-, Sicherungs- und

Schaltprobleme. So werden sie beispielsweise eingesetzt als Sockel für Herdschalter, als

Kochplattenanschlussklemmen, als Lampensockel zur Aufnahme von Glühlampen, als

Gehäuse für Sicherungen, als Potentiometerringe, Spulenkörper für Induktionsspulen und

Zündelektrodenhalter.

Keramikkondensatoren

Bei keramischen Kondensatoren wird neben der Funktion als Isolierstoff die Fähigkeit des

Dielektrikums, elektrische Ladungen zu speichern, genutzt. Je nach Zusammensetzung und

Eigenschaften unterscheidet man drei Kondensatortypen.

Kondensatoren mit Permitivitätszahlen von 20 - 600 zeigen eine lineare Abhängigkeit der

Kapazität von der Temperatur. Als Werkstoffe finden Titanoxid und Erdalkalititanate

Anwendung.

Kondensatorelektrika mit Permitivitätszahlen bis zu 15 000 bestehen im wesentlichen aus

Bariumtitanat. Bei Bariumtitanat liegt der Curiepunkt, also der Umwandlungspunkt vom

ferroelektrischen in den paraelektrischen Zustand, im Bereich der Anwendungstemperatur des

Kondensators. Durch Modifikation des Bariumtitanats kann der Curiepunkt in Richtung

Raumtemperatur verschoben werden.

Durch Dotierung und reduzierende Atmosphäre beim Brand werden halbleitende

Bariumtitanat- oder Strontiumtitanat-Werkstoffe erzeugt. Beim Sintern entsteht um jedes

Korn eine Sperrschicht (intergranularer Sperrschichtkondensator). Mit dieser Vielzahl parallel

geschalteter Kondensatoren geringer Dicke werden scheinbare Permitivitätszahlen zwischen

20000 und 50000 erreicht.

Page 213: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 213 -

Im Bestreben, immer mehr Kapazität pro Volumeneinheit unterbringen zu können, ist die

Multilayer-Technik entwickelt worden. Dabei werden auf ungebrannte gegossene

Keramikfolien Edelmetallbeläge aufgedruckt, die Folien gestapelt, zusammengepresst und in

einzelne Kondensatoren getrennt und gebrannt. Nach dem Brand erfolgt die Verbindung der

Elektroden, die sich zwischen den bis zu 0,02 mm dünnen Schichten befinden, durch

Metallisierung der Stirnflächen der Chips

Keramik-Vielschicht-Chipkondensator

Abb. 5.3.2

NTC-Widerstände

Der spezifische Widerstand ρsp von keramischen NTC-Widerständen (Negative Temperature

Coefficient) nimmt mit der Temperatur annähernd exponentiell ab.

ρ ρsp T BT

( ) exp∝ ⎛⎝⎜

⎞⎠⎟∞

In dieser Gleichung ist ρ∞ = ρsp (T → ∞). NTC-Widerstände werde aus halbleitenden Oxiden

mit einer Spinellstruktur (AB2O4) hergestellt, wobei die A-Plätze und/oder die B-Plätze mit

Kationen unterschiedlicher Wertigkeit besetzt sind. Die Verbindungen stellen damit stark

dotierte Grundsubstanzen dar. Im relevanten Temperaturbereich befinden sich die Materialien

weitgehend im Zustand der Störstellenerschöpfung (s. Abb. 5.1.10).

Bei diesen Heißleitern nimmt der Widerstand also mit steigender Temperatur ab (Abb. 5.3.3).

Halbleitende NTC-Oxide bestehen, wie bereits erwähnt, aus Mischkristallen mit

Spinellstruktur, die sich aus zwei bis vier Kationen der Gruppe Mn, Ni, Co, Fe, Cu und Ti

zusammensetzen. Da eine heterovalente Besetzung von Gitterplätzen vorliegt und der

Page 214: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 214 - 5.3 Spezielle Keramiken für elektrische und elektronische Anwendungen

Ladungsaustausch zwischen A- und B-Plätzen eine relativ hohe Aktivierungsenergie hat, ist

der spezifische Widerstand bei Raumtemperatur relativ hoch.

Temperaturabhängigkeit des Widerstandes R in verschiedenen NTC-Widerstandstypen [19]

Abb. 5.3.3

NTC-Widerstände werden als Temperatur- oder Wärmeableitsensoren verwendet oder sie

übernehmen Schutzfunktionen in elektronischen Schaltungen. NTC-Widerstände werden als

Temperatursensoren beispielsweise zur Kontrolle der Temperatur des Motorblocks, des

Kühlwassers, des Öls und der Bremsflüssigkeit in einem Auto verwendet. Elektronische

Fieberthermometer haben im Krankenhausbereich aufgrund der höheren

Handhabungssicherheit und der besseren Ablesbarkeit bereits weitgehendst die älteren

Quecksilberthermometer verdrängt. Bei Sensoren für die Wärmeleitfähigkeit wird die

Temperaturänderung eines unter konstantem Strom selbst aufgeheizten NTC-Elements bei

einer Änderung des Wärmeleitkoeffizienten genutzt.

PTC-Widerstände

Kaltleiter oder PTC-Widerstände (Positive Temperature Coefficient) sind Bauelemente, deren

spezifischer Widerstand mit steigender Temperatur zunimmt. Keramische PTC-Widerstände

Page 215: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 215 -

können in einem beschränkten Temperaturbereich eine Zunahme des Widerstands über

mehrere Zehnerpotenzen aufweisen (Abb. 5.3.4).

Temperaturabhängigkeit des spezifischen Widerstandes von PTC-Keramik

auf der Basis von donator-dotiertem Bariumtitanat [19]

Abb. 5.3.4

Für technische Anwendungen spielt insbesondere Bariumtitanat (BaTiO3) eine entscheidende

Rolle. In diesem Material ist die Auswirkung des Übergangs zwischen der ferroelektrischen

und der paraelektrischen kubischen Phase für den ausgeprägten PTC-Effekt verantwortlich.

Im Kaltwiderstandsbereich, der sich bis zur Curietemperatur TC erstreckt, zeigt das Material

einen für halbleitende Titanatkeramik typischen niedrigen spezifischen Widerstand von 0,1 -

1 Ωm. Im PTC-Bereich steigt der Widerstand um 5-7 Größenordnungen an. Oberhalb von

Tmax schließt sich ein NTC-Bereich an, in dem die Leitfähigkeit wie bei jedem thermisch

aktivierten Transportprozeß mit der Temperatur zunimmt. Durch Mischkristallbildung kann

der Übergang zwischen dem Kaltwiderstandsbereich und dem PTC-Bereich auf der

Temperaturachse verschoben werden (Abb. 5.3.5).

Page 216: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 216 - 5.3 Spezielle Keramiken für elektrische und elektronische Anwendungen

Temperaturabhängigkeit des spezifischen Widerstandes von PTC-Keramik auf der Basis von

donator-dotierten BaTiO3 (——), (BaPb)TiO3 (------) und (Ba,Sr)TiO3 (-·-·-·-) [19]

Abb. 5.3.5

PTC-Widerstände werden als Temperaturfühler, zum Überlastschutz, als Heizelemente und

zur Endmagnetisierung eingesetzt. Aufgrund der hohen Temperaturabhängigkeit des

spezifischen Widerstands innerhalb des PTC-Bereichs können Kaltleiter mit kleinem

Volumen als Temperaturfühler zur Überwachung von Über- oder Untertemperatur verwendet

werden. Außerdem werden PTC-Widerstände zum Überlastschutz von

Leistungsbauelementen (z.B. Motoren) genutzt. Bei elektrischer oder thermischer

Überlastung wird der PTC-Widerstand hochohmig und reduziert dadurch den Strom durch die

Last auf einen kleineren Wert. Zum thermischen Überlastschutz muss der PTC-Widerstand

thermisch mit der Last gekoppelt sein. Nach Wegfall der Überlastung und nach Abkühlung

des PTC-Widerstands ist die Schaltung wieder funktionstüchtig. Die ausgeprägte positive

Temperaturcharakteristik des Widerstands bewirkt eine Selbststabilisierung der Temperatur,

wenn ein PTC-Widerstand durch eine angelegte Spannung aufgeheizt wird. Dies bedeutet,

dass beim Einsatz von PTC-Keramik als Heizelement für einfache Anwendungen keine

zusätzlichen Thermostate und elektronischen Regelschaltungen zur Temperaturbegrenzung

und Stabilisierung benötigt werden.

Page 217: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 217 -

Keramische Supraleiter

In der September-Ausgabe von 1986 der „Zeitschrift für Physik“ beschreiben die beiden

Physiker Alex Müller und Georg Bednorz in Zürich, dass die keramische Substanz Lantan-

Barium-Kupferoxid bereits bei relativ hohen Temperaturen von 35 Kelvin (-238 °C) jeglichen

elektrischen Widerstand verliert (Abb. 5.3.6).

Sprungtemperatur von Lantan-Barium-Kupferoxid bei verschiedenen Stromdichten [21]

Abb. 5.3.6

Auf der Basis von Kupferoxid Supraleitern wurden nach der Erfindung von Bednorz und

Müller yttriumoxidhaltige Supraleiter mit Sprungtemperaturen von 90 Kelvin entwickelt.

Dies waren die ersten Supraleiter mit einer Sprungtemperatur über 77 Kelvin, d.h. sie ließen

sich in preiswertem flüssigen Stickstoff hinreichend kühlen. Sprungtemperaturen von 125

Kelvin erreicht man mit einer Verbindung aus Thallium, Barium, Kalzium, Kupfer und

Sauerstoff. Die höchsten Temperaturen von 134 Kelvin wurden bislang durch den Einbau von

Quecksilber in die oxidischen Gitter erreicht (Abb. 5.3.7 bis 5.3.9).

Page 218: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 218 - 5.3 Spezielle Keramiken für elektrische und elektronische Anwendungen

Einige Varianten von Kupferoxid-Supraleitern [20]

Abb. 5.3.7

Anstieg der Sprungtemperatur [22]

Abb. 5.3.8

Page 219: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 219 -

Technisch relevante keramische Hochtemperatur-Supraleiter [20]

Abb. 5.3.9

Man kennt heute weder die absolute obere Temperaturgrenze für Supraleitfähigkeit noch sind

die grundlegenden Wechselwirkungen, die in keramischen Materialien bei spezifischen

Sprungtemperaturen den elektrischen Widerstand zusammenbrechen lassen, vollständig

geklärt.

In Materialien, die eine Sprungtemperatur nur wenige Grad über dem absoluten Nullpunkt

aufweisen, bilden die Elektronen sogenannte Cooper-Paare. Im Gegensatz zu einzelnen

Elektronen stoßen Cooper-Paare nicht mit ihresgleichen zusammen und werden auch nicht an

den Störstellen im leitenden Medium gestreut. Sie treffen also bei ihrer Fortbewegung auf

keinerlei Widerstand. In einem Supraleiter fließt Strom ohne elektrische Spannung und bleibt

in einem geschlossenen Stromkreis beliebig lang erhalten, sofern das Material unter die

kritische Temperatur gekühlt wird. Die Paarbildung kann man sich mit dem Doppelpass beim

Fußball vorstellen: Zwei Stürmer spielen einander den Ball im Lauf hin und her zu, so dass

keiner ihn unterwegs an den Gegner verliert. Dieses konventionelle Modell der Supraleitung

vermag das Auftreten von Sprungtemperaturen über 35 Kelvin in Kupferoxidkeramiken

allerdings nicht zu erklären. In einem keramischen Supraleiter mit hoher

Übergangstemperatur würden nämlich Elektronen und Phononen sehr stark wechselwirken

und dadurch die Struktur des Materials derart verzerren, dass es nicht mehr supraleitend und

wahrscheinlich sogar nicht einmal mehr leitfähig wäre.

Die heute dominierende Theorie zur Supraleitfähigkeit keramischer Materialien ist das

sogenannte Spinwellenmodell. Demnach kippt eine bewegte Ladung die Spinorientierung

(und somit das magnetische Moment) der Atome im supraleitenden Medium. Der

Ladungsträger erzeugt gleichsam in seinem Kielwasser eine magnetische Störung - eine

Spinwelle. Der Sog dieser Heckwelle zieht einen weiteren Träger an und die beiden bilden ein

Cooper-Paar (Abb. 5.3.10).

Page 220: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 220 - 5.3 Spezielle Keramiken für elektrische und elektronische Anwendungen

Alte und neue Modelle der Supraleitung [22]

Abb. 5.3.10

Der Mechanismus der Supraleitung in keramischen Materialien ist also nicht eindeutig

geklärt, die molekularen Strukturen kennt man mittlerweile allerdings sehr genau. Die

Kristallgitter aller Hochtemperatursupraleiter enthaltenen Ebenen aus Kupfer- und

Sauerstoffatomen, die zwischen Schichten aus anderen Elementen liegen. Bei der Abkühlung

unter die Sprungtemperatur bilden die Kupfer-Sauerstoff-Ebenen perfekte Leitungswege für

Elektronen (Abb. 5.3.11). Durch die entsprechende Auswahl und Anordnung der übrigen

Elemente im Kristallgitter lässt sich die Sprungtemperatur variieren.

In supraleitenden Keramiken teilen sich die Sauerstoff- und die Kupferatome Elektronen, um

einen möglichst günstigen Energiezustand zu erreichen. Die gemeinsamen Elektronen

bewegen sich zwischen den Kupfer- und Sauerstoffatomen und bilden ein sogenanntes

Leitungsband. Werden die Kupferatome auf Oxidationsstufen unter +2 reduziert (d.h. geben

sie im Durchschnitt weniger als zwei Elektronen ab), so bewegen sich nur wenige Elektronen

im Leitungsband. Werden die Kupferatome hingegen auf Stufen von mehr als +2 oxidiert

(geben sie demnach im Mittel mehr als zwei Elektronen ab), so befinden sich sehr viele

Elektronen im Leitungsband. Auch in den Elektronenschalen von Wismut und Blei kann die

Zahl der an Sauerstoff abgegebenen Elektronen schwanken. Unter geeigneten Bedindungen

bilden diese beiden Metalle mit Sauerstoff kovalente Bindungen und setzen Elektronen in ein

Leitungsband frei. Man hat sowohl Blei- als auch Wismutoxide entdeckt, die bei relativ hohen

Temperaturen supraleitend werden.

Page 221: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 221 -

Supraleitende Kristallstruktur im System Tl-Ba-Ca-Cu-O, Sprungtemperatur 125K [20]

Abb. 5.3.11

Page 222: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 222 - 5.3 Spezielle Keramiken für elektrische und elektronische Anwendungen

Kristallgitterstruktur von La2CuO4 [20]

Abb. 5.3.12

Die von Bednorz und Müller entdeckten Supraleiter gehen aus der Verbindung La2CuO4

hervor (Abb. 5.3.12). In dieser Verbindung sind die Kupferatome mit sechs Sauerstoffatomen

koordiniert, die an den Ecken eines länglichen Oktaeders sitzen. Wegen der

Energiebedingungen innerhalb der äußeren Schale des Kupferatoms in der Oxidationsstufe +2

sind zwei an gegenüberliegenden Ecken des Oktaeders sitzende Sauerstoffatome stets weiter

vom Kupfer entfernt als die vier übrigen. Diese Strukturverzerrung bedeutet, dass die

Elektronen mit den jeweiligen Orten der Kupfer- und Sauerstoffatome im Kristallgitter in

Page 223: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

5. Elektrische Eigenschaften - 223 -

starker Wechselwirkung stehen, da ihre Energie hochgradig von diesen Positionen abhängt.

Dies wiederum betrachtet man als sehr wichtig für das Auftreten von Supraleitung.

Die Kupfer-Sauerstoff-Oktaeder in La2CuO4 sind durch die vier Sauerstoffatome, die dem

Kupfer am nächsten liegen, miteinander verbunden. Die Kupferatome und ihre nächsten

Sauerstoffnachbarn liegen in einer Ebene. In dieser Ebene werden die supraleitenden

Ladungsträger frei. Dazu musste allerdings die Kristallstruktur von La2CuO4 modifiziert

werden, indem einige Lanthan- durch Bariumatome ersetzt wurden und so die Verbindung

La2-x BaxCuO4 entstand. In dieser Verbindung ist der Ladungsausgleich gewährleistet, wenn

für jedes Bariumatom, das an die Stelle eines Lathanatoms tritt, ein Kupferatom von +2 nach

+3 oxidiert wird. Das vom Kupfer zusätzlich abgegebene Elektron ist nicht räumlich

gebunden sondern geht in das Leitungsband über. Wenn die Kupferatome eine kritische

durchschnittliche Oxidationsstufe von etwa +2,2 erreichen, so schwindet der

Antiferrimagnetismus vollständig und Supraleitfähigkeit stellt sich ein.

Supraleitende Kristallstrukturen im System Y-Ba-Cu-O, Sprungtemperatur 92K [20]

Abb.5.3.13

Im Gegensatz zu den festen Lösungen, die La2CuO4 supraleitend machen, hat der Supraleiter

YBa2Cu3O7 (die sogenannte 1-2-3-Verbindung) ein vollständig geordnetes Kristallgitter aus

Yttrium, Barium- und Kupfer-Ebenen (Abb. 5.3.13). Auf den Kristallgitterplätzen findet

keine Mischung der Metallatome statt. Die kleinen Yttrium-Ionen (Oxidastionsstufe +3) sind

immer an acht, die großen Barium-Ionen (Oxidationsstufe +2) an zehn Sauerstoffatome

Page 224: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 224 - 5.3 Spezielle Keramiken für elektrische und elektronische Anwendungen

gebunden. Zwischen den Barium- und den Yttriumschichten sind die Kupferatome

pyramidenförmig mit Sauerstoff koordiniert. Die Grundflächen der

Kupfersauerstoffpyramiden liegen einander - durch eine Lage von Yttrium-Atomen getrennt -

gegenüber und erzeugen die für die Supraleitfähigkeit erforderliche Kupfer-Sauerstoff-Ebene.

In der Verbindung YBa2Cu3O7 sind die sieben Sauerstoffatome für die Supraleitfähigkeit

ganz besonders entscheidend. Wird der Sauerstoffgehalt nämlich von sieben auf sechs Atome

verringert, entsteht der Isolator YBa2Cu3O6. Die Sprungtemperatur nimmt mit abnehmendem

Sauerstoffgehalt rasch ab (Abb. 5.3.14).

Übergangstemperatur und spezifische Remanenz von YBa2Cu3OX

als Funktion des Sauerstoffgehaltes x [21]

Abb. 5.3.14

Page 225: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

6. Magnetische Eigenschaften - 225 -

6. Magnetische Eigenschaften 6.1. Magnetismus

Nichtleitende Materialien werden in einem elektrischen Feld elektrisch, in einem Magnetfeld

magnetisch polarisiert. Wegen dieser gegenseitigen Wechselwirkungen von elektrischem und

magnetischem Feld existieren auch analoge Größen mit ähnlichen Dimensionen:

Magnetisches Feld: B = μr·μo·H (6.1.1)

B = magnetische Flussdichte; Einheit: 1T(Tesla) = 1 Vs/m2

H = magnetische Feldstärke; Einheit: A/m

μ0 = magnetische Feldkonstante; μ0 = 4π·10-7 Vs/(Am)

μr = Permeabilitätszahl

Elektrisches Feld: D = εr·εo·E (6.1.2)

D = elektrische Verschiebungsdichte; Einheit: As/m2

E = elektrische Feldstärke; Einheit: V/m

ε0 = elektrische Feldkonstante; ε0 = 8,85·10-12 As/(Vm)

εr = Dielektrizitätszahl

Magnetismus wird von sich bewegenden elektrischen Ladungen hervorgerufen. Elektronen

vollführen beispielsweise zwei unterschiedliche Bewegungen, nämlich die Orbitalbewegung

und ihre Eigenrotation, den Spin. Das aus den Bewegungen der Kernladung resultierende

Moment ist im Vergleich zu den Momenten der Elektronen sehr gering. Von den beiden

Elektronenmomenten ist vor allem das durch den Elektronenspin verursachte Moment für das

Verhalten magnetischer Stoffe verantwortlich.

Page 226: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 226 - 6.1. Magnetismus

6.1.1 Dia- und Paramagnetismus

Bei vollständiger Besetzung der Elektronenzustände eines Atoms ist jedes Elektronenorbital

mit zwei Elektronen entgegensetzten Spins besetzt. In diesem Falle heben sich die

Elektronenmomente gegenseitig auf. Beispiele für derartige diamagnetische Substanzen sind

Edelgase, viele ionische und kovalente Verbindungen wie NaCl, H2O, Ge, aber auch Metalle

wie z.B. Zn. Schematisch sind die magnetischen Atommomente dieser diamagnetischen

Werkstoffe in Abb. 6.1.1 A dargestellt.

Schematische Darstellung der magnetischen Atommomente

in dia-, para- und ferromagnetischen Stoffen [17]

Abb. 6.1.1

Bei unvollständiger Besetzung der Elektronenniveaus findet keine vollständige Kompensation

der Elektronenmomente statt. Die Orientierung dieser unkompensierten Momente sind jedoch

ungeordnet (Abb. 6.1.1 B), so dass ein nach außen wirkendes magnetisches Moment nicht

erkennbar wird. Derartige paramagnetische Stoffe sind beispielsweise O2, Al und Ti. Das

magnetische Verhalten von dia- und paramagnetischen Werkstoffen findet so gut wie keine

technische Nutzung, sie gelten gemeinhin als unmagnetisch.

Page 227: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

6. Magnetische Eigenschaften - 227 -

6.1.2 Ferro-, Antiferro- und Ferrimagnetismus

Bei ferromagnetischen Werkstoffen tritt eine Kopplung und gemeinsame Ausrichtung der

unkompensierten Elektronenmomente auf. Ferromagnetismus ist also eine spezielle Form des

Paramagnetismus, die unkompensierten Spinmomente werden hier durch besondere

gegenseitige Wechselwirkungskräfte zu größeren Bereichen, sogenannten Domänen bzw.

Weiss’schen Bezirken parallel ausgerichtet (Abb. 6.1.1).

Ferromagnetismus ist an bestimmte Verhältnisse zwischen Atomabstand und Radius von

Elektronenbahnen gebunden. Neben nicht aufgefüllten 3d- oder 4f-Elektronenzuständen, die

unkompensierte Spinmomente liefern, müssen Ferromagnetika im Gitter ein Verhältnis von

Atomabstand ao und Radius der 3d- bzw. 4f-Elektronenbahn r3d bzw. r4f zwischen 1,5 und 2,0

aufweisen, wenn sich eine domänenkoppelnde Austauschkraft entwickeln soll. Diese

Bedingungen erfüllen von den Elementen nur die Metalle Fe, Co und Ni sowie einige Seltene

Erden (Tab. 6.1.1 C).

3d-Elektronen und Slater-Koeffizienten a0/r3d der Elemente 25 bis 28 [17]

Tab. 6.1.1

Die Grenze zwischen Domänen, in der sich der Orientierungswechsel kontinuerlich vollzieht,

heißt Blochwand (Abb. 6.1.2 ). Die Breite solcher Blochwände beträgt größenordnungsmäßig

einige 100 Atomabstände, die Abmessungen der Domänen liegen in der Größenordnung

< 0,1 mm. Einkristalle oder einzelne Körner im Gefügeverband bestehen im allgemeinen aus

mehreren Domänen. Die Domänen innerhalb dieser Körner oder Einkristalle tragen keine

Vorzugsrichtungen, so dass ferromagnetische Stoffe nach außen nicht magnetisch erscheinen.

Ihr ferromagnetisches Verhalten zeigt sich erst unter dem Einfluss eines äußeren die

Domänen ausrichtenden Magnetfeldes.

Page 228: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 228 - 6.1. Magnetismus

Änderung der Orientierung magnetischer Atom-Dipole zwischen zwei Domänen [8]

Abb. 6.1.2

Ferromagnetismus besteht nur bis zu einer stoffabhängigen Grenztemperatur, der sogenannten

Curietemperatur. Oberhalb dieser Temperatur wird die Domänenstruktur zerstört.

Wenn das Verhältnis von Atomabstand zum Radius der 3d-Elektronenbahn < 1,50 ist, so

stellen sich bei verringertem Abstand die Spinmomente gleicher Atome in benachbarten

Gitterebenen zueinander antiparallel (Abb. 6.1.3 A). Hierdurch wird die Wirkung der

magnetischen Momente wegen ihrer gleichen Größe vollständig aufgehoben. Es bleibt daher

trotz Domänenanordnung kein resultierendes Moment nennenswerter Größe übrig. Dieses

Verhalten nennt man antiferromagnetisch, Beispiele hierfür sind Mn, Cr, MnO, MnS, FeO

u.a..

Ausrichtung der magnetischen Atommomente

in antiferro- und ferrimagnetischen Stoffen [17]

Abb. 6.1.3

Page 229: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

6. Magnetische Eigenschaften - 229 -

Im Falle von antiferromagnetischen Verbindungen werden die Magnetmomente nur von einer

Komponente aufgebracht, also z.B. nur von Mn in der Verbindung MnO. Bestehen dagegen

Gitter aus zwei verschiedenen Komponenten mit Antiparallelstellung ihrer Spinmomente oder

werden in der Struktur der Gitterplätze mit Antiparallelstellung der Spinmomente nicht in

gleich Zahl besetzt, so findet keine vollständige Kompensation der antiparallelen Momente

statt und es bleibt ein beachtliches Gesamtmoment je Domäne übrig (Abb. 6.1.3 B). Dieses

Verhalten wird als ferrimagnetisch, die entsprechenden Stoffe als Ferrite bezeichnet. Dabei

handelt es sich um wesentlichen um oxidische Substanzen (Tab. 6.1.2).

Kationenverteilung und magnetische Momente von Ferriten mit Spinellstruktur [12]

Tab. 6.1.2

Ferrit

Kationenverteilung

(Tetr.)(Okt.2)O4

Magnetische Momente der Resultierendes

tetraedrischen oktaedrischen magnetisches Moment

Ionen theoretisch beobachtet

ZnFe2O4 ZnFe2O4 0 0 (antiferromagn.)

0 0

Fe3O4 CoFe2O4 NiFe2O3

Fe3+(Fe2+Fe3+)O4

Fe3+(Co2+Fe3+)O4

Fe3+(Ni2+Fe3+)O4

5 5 5

4 + 5 3 + 5 2 + 5

4 3 2

4,1 3,7 2,3

MnFe2O4

MgFe2O4 (Mn2+

0,86Fe3+0,14)(Mn2+

0,14Fe3+1,86)O4

(Mg2+0,1Fe3+

0,9)(Mg2+0,9Fe3+

1,1)O4 (0,86+0,14) *5

0,9 *5 (0,14+1,86) *5

1,1 *5

5 1

4,6 1,1

Ni0,8Zn0,2Fe2O4

Ni0,6Zn0,4Fe2O4 Ni0,4Zn0,6Fe2O4

(Zn2+0,2Fe3+

0,8)(Ni2+0,8Fe3+

1,2)O4

(Zn2+0,4Fe3+

0,6)(Ni2+0,6Fe3+

1,4)O4

(Zn2+0,6Fe3+

0,4)(Ni2+0,4Fe3+

1,6)O4

0,8 *5 0,6 *5 0,4 *5

0,8* 2 + 1,2 *5 0,6* 2 + 1,4 *5 0,4* 2 + 1,6 *5

3,6 5,2 6,8

3,8 5,1 5,2

Wird ein ferromagnetisches Material in ein äußeres Magnetfeld der Stärke H gebracht, so

findet eine erhebliche Stärkung des Feldes durch reversible und irreversible Wechselwirkung

zwischen Feld und magnetischen Domänen statt. Die Wechselwirkungen bestehen darin, daß

sich zunächst Domänen mit einer zum äußeren Feld günstigen Orientierung auf Kosten

ungünstiger orientierter Domänen vergrößern und sich in Richtung des äußeren Feldes

parallel stellen. Bei einer bestimmten magnetischen Feldstärke H wird ein Zustand

magnetischer Sättigung erreicht Bs (Abb. 6.1.4).

Page 230: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 230 - 6.1. Magnetismus

Magnetisierungskurve (Neukurve und Hystereseschleife)

ferro- bzw. ferrimagnetischer Stoffe [17]

Abb. 6.1.4

Wird nach Erreichen der Sättigungsflussdichte Bs das Magnetfeld H entfernt, so gehen alle

reversibel verlaufenden Vorgänge zurück, während die irreversiblen Ausrichtungen bleiben

und bei der Feldstärke H = 0 eine Remanenzflussdichte Br verursachen. Der Werkstoff

befindet sich also hier in einem magnetisierten Zustand. Soll die Remanenzflussdichte im

Werkstoff beseitigt werden, muss ein magnetisches Gegenfeld der Größe Hc aufgebracht

werden. Dieses magnetische Gegenfeld wird als Koerzitivfeldstärke bezeichnet. Die in einem

magnetischen Wechselfeld bei der Magnetisierung jeweils bis zur Sättigung erzwungenen

irreversiblen Vorgänge führen zu der in Abb. 6.1.4 dargestellten Hystereseschleife. Die von

der Hysteresekurve eingeschlossene Fläche gibt die bei einem Magnetisierungszyklus

entstehenden Magnetisierungsverluste wieder. Neben diesen magnetischen Verlusten treten

bei höheren Frequenzen zusätzliche Energieverluste durch Wirbelströme auf. Bei

keramischen Magnetwerkstoffen entfallen diese Wirbelstromverluste wegen der fehlenden

Leitfähigkeit.

Je nach Hystereseschleife unterscheidet man weich- und hartmagnetische Werkstoffe. Als

magnetisch weich bezeichnet man ferro- bzw. ferrimagnetische Werkstoffe, die sich leicht

und mit geringen Hystereseverlusten ummagnetisieren lassen, d.h. es muss ein leichter Ablauf

der zur Magnetisierung erforderlichen Bewegungen von Blochwänden gewährleistet sein. Da

die Bewegungsfähigkeit von Blochwänden entscheidend durch Gitterfehler, Fremdatome,

Page 231: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

6. Magnetische Eigenschaften - 231 -

Versetzungen und Ausscheidungen eingeschränkt wird, kommen als weichmagnetische

Materialien möglichst homogene und reine und weichgekühlte Werkstoffe in Frage. In der

Magnetisierungskurve zeichnet sich ein weichmagnetischer Werkstoff durch hohe

Permeabilitätswerte, eine schmale Hysteresekurve und niedrige Koerzitivfeldstärken aus

(Abb.6.1.5 A).

Hystereseschleifen weich- und hartmagnetischer Werkstoffe [17]

Abb. 6.1.5

Ein Dauermagnet soll dagegen seinen einmal erzeugten Magnetisierungszustand auch ohne

Feld oder gar unter dem Einfluss eines anderen Magnetfelds möglichst beibehalten. Dazu ist

eine hohe Sättigungsflussdichte Bs und eine große Koerzitivfeldstärke Hc notwendig

(Abb. 6.1.5 B). In diesem Fall müssen die mit einer Ummagnetisierung verbundenen

Blochwandbewegungen möglichst stark behindert werden. Dies ist in besonderem Maße in

Gefügen mit einem hohen Gehalt an Gitterfehlern (wie Versetzungen, Korngrenzen,

Fremdatomen und feinen Ausscheidungen einer nichtferromagnetischen Phase) der Fall.

Page 232: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 232 - 6.2. Keramische Magnetwerkstoffe

6.2. Keramische Magnetwerkstoffe

Spinellferrite

Ferrimagnetische Oxide, die als Ferrite bezeichnet werden, haben die generelle Formel

M2+O⋅Fe23+O3, wobei M2+ ein zweiwertiges metallisches Ion wie z.B. Fe2+, Ni2+, Cu2+, Mg2+

darstellt. Darüber hinaus existieren Mischferritte in denen das zweiwertige Kation eine

Mischung aus unterschiedlichen Ionen darstellen kann (z.B. Mg1-xMnxFe2O4), wodurch sich

ein sehr großer Bereich unterschiedlicher Zusammensetzungen und magnetischer

Eigenschaften in diesen Ferriten ergibt. Im Spinellgitter AB2O4 (Abb.6.2.1) enthält die

Elementarzelle 32 O-Ionen in dichtester Packung. Die 16 B-Ionen befinden sich im normalen

MgAl2O4-Spinell in oktaedrischen, die 8 A-Ionen in tetraedrischen.Lücken. Wegen der

Edelgaskonfiguration aller Ionen ist dieser Spinell allerdings diamagnetisch. In den

sogenannten Inversspinellen werden die dreiwertigen B-Ionen mit den zweiwertigen A-Ionen

in ihren Lagen bis zum Grenzfall B(AB)O4, ausgetauscht. Die zuerst stehenden Kationen

befinden sich dabei in tetraedrischer, die danach stehenden in oktaedrischer Lage. Die

Inversionszahl λ ist dann das Verhältnis der B-Ionen in Tetraederkoordination zur

Gesamtzahl der B-Ionen. Bei Normalspinellen beträgt

λ = 0, bei reinen Austauschspinellen beträgt λ = 0,5. Dazwischen findet man alle Übergänge

mit der allgemeinen Formel (A1-xBx) (AxB2-x)O4.

Kristallstruktur von Spinell (AB2O4) [8]

Abb. 6.2.1

Page 233: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

6. Magnetische Eigenschaften - 233 -

Bei den Ferriten ist das B-Ion ein Fe3+-Ion. Da der Ionenradius der zweiwertigen Kationen

fast immer größer ist als der der dreiwertigen, findet man die zweiwertigen Kationen

bevorzugt in der größeren Oktaederlücke. Alle ferrimagnetischen Spinelle sind mehr oder

weniger Inversspinelle. Das dreiwertige Ion B ist also Fe3+, die zweiwertigen Ionen A werden

durch Fe2+, Co2+, Ni+2, Mn2+, Mg2+, Cu2+, Zn2+ oder Cd2+ gebildet.

Die magnetischen Momente in den Untergittern verlaufen parallel, tetraedrische und

oktaedrische Untergitter sind antiparallel orientiert. Im Normalspinell ZnFe2O4 befinden sich

die Fe3+-Ionen nur in oktaedrischen Lagen (Tabelle 6.1.2). Die magnetischen Momente

orientieren sich dort antiparallel, d.h. es tritt Antiferromagnetismus auf. Die

Austauschspinelle Fe3O4, CoFe2O4, NiFe2O4, MnFe2O4 und MgFe2O4 zeigen dagegen starke

magnetische Momente. Neben diesen Spinellen mit nur zwei Kationen besteht eine große

Vielfalt in der Bildung von Mischkristallen. Am Beispiel von Nickelzinkferriten ist diese

Mischkristallbildung zusammen mit den magnetischen Momenten ebenfalls in Tabelle 6.1.2

zu sehen. Die Bevorzugung der tetraedrischen Koordination durch das Zn-Ion hat zur Folge,

dass die entsprechende Anzahl Fe3+-Ionen in die oktaedrische Lage gedrängt wird, wodurch

sich das magnetische Moment erhöht. Die Einführung einer nichtmagnetischen Komponente

kann daher die magnetischen Eigenschaften dieser Ferrite verbessern.

Perowskitferrite

In der Perowskitstruktur ABO3 existiert Ferromagnetismus bei den Manganiten mit B = Mn3+

oder Mn4+, der auf einer parallelen Orientierung der Momente dieser Kationen beruht. Auch

hier gibt es natürlich Mischkristallbildung wie z.B. La3+Mn3+O3 mit Erdalkalimanganiten des

Typs R2+Mn4+O3.

Granatstrukturen

In der kubischen Granatstruktur A2+3 B3+

2 C4+3 O12 (z.B. Ca3Al2[SiO4]3) sind drei Untergitter

vorhanden. Das Ion A tritt in der Koordinationszahl 8, das Ion B in der Koordinatioszahl 6

und das Ion C in der Koordinationszahl 4 auf. Als ferrimagnetisch erwiesen sich Granate der

Zusammensetzung Y3+3 Fe3+

2 Fe3+3 O12. Während das Y3+-Ion diamagnetisch ist, sind die

Page 234: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 234 - 6.2. Keramische Magnetwerkstoffe

Momente der Fe3+-Ionen in den tetraedrischen und oktaedrischen Lagen antiparallel

ausgerichtet, woraus sich ein resultierendes magnetisches Moment ergibt. Natürlich kann man

auch in diesen Strukturen durch Substitution der Ionen die magnetischen Eigenschaften in

weiten Bereichen beeinflussen. So bewirkt z.B. der Ersatz von Fe3+ in der tetraedrischen Lage

durch z.B. Al3+ eine Erniedrigung, der Ersatz von Fe3+ in der oktaedrischen Lage durch z.B.

Cr3+ eine Erhöhung des Magnetismus.

Hexagonale Ferrite

Hexagonale Ferrite weisen eine Struktur auf, die der Spinellstruktur ähnelt, allerdings sind die

Sauerstoffionen hexagonal dicht gepackt und die Einheitszelle entspricht der Formel AB12O19,

wobei A ein zweiwertiges Ion wie z.B. Ba, Sr oder Pb darstellt und B ein dreiwertiges Ion

von Al, Ga, Cr oder Fe. Die Strukturen bestehen also aus Spinellschichten, die durch Ba-

haltige Schichten getrennt sind. Die wichtigsten Verbindungen sind BaFe12O19,

BaMe2Fe16O27, Ba2Me2Fe12O22 und Ba3Me2Fe24O41.

Korundstruktur

Variiert man die Korundstruktur Al2O3 zu Me2+Me4+O3, dann kann bei geordneter Verteilung

der beiden Kationen Ferrimagnetismus eintreten. Dieser Typ ist bei Co2+Mn4+O3 beobachtet

worden.

Gefügeeinflüsse

Wie bereits erwähnt, lassen sich die magnetischen Eigenschaften durch Variation der

chemischen Zusammensetzung der keramischen Werkstoffe in weiten Bereichen

beeinflussen. Einige Beispiele sind in Tabelle 6.2.1 am Beispiel von Mangan- und Nickel-

Zink-Ferriten zu sehen.

Page 235: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

6. Magnetische Eigenschaften - 235 -

Einige Eigenschaften von Mn-Zn- und Ni-Zn-Ferriten [8]

Tab. 6.2.1

Darüber hinaus beeinflusst aber auch die Korngröße und die Porosität der keramischen

Werkstoffe die magnetischen Eigenschaften. So nimmt z.B. die Permeabilität in

polykristallinen Ferriten mit zunehmender Korngröße zu (Abb. 6.2.2). Man vermutet, dass

mit zunehmender Korngröße die magnetischen Domänen in die Körner eingeschlossen

werden und sie an den Korngrenzen oder durch intergranulare Poren miteinander verbunden

werden. Dadurch wird ihre Bewegung bei der Magnetisierung durch Korngröße und

Porengröße bzw. deren Verteilung beeinflusst.

Einfluss des Korndurchmessers von Mn-Zn-Ferrit

mit unkontrollierter Porosität auf die Permeabilität [8]

Abb. 6.2.2

Page 236: Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik · Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe 2. Auflage, 2005 Jürgen G

- 236 - 7. Literatur

7. LITERATUR

[1] Bilke, W.: Handbuch der Keramik. Verlag Schmid GmbH, Freiburg i. Brsg..

[2] Technische Keramik. Jahrbuch 1. u. 2. Ausgabe, Vulkan-Verlag, Essen, 1988/1990.

[3] Brook, R.J.: Advanced Ceramic Materials. Pergamon Press, Oxford, 1990.

[4] Ashby, M.F.; Jones, D.R.H.: Ingenieurwerkstoffe. Springer-Verlag, Berlin - Heidelberg - New

York - Tokyo, 1986.

[5] Ondracek, G.: Werkstoffkunde. Expert Verlag Ehningen, 1992.

[6] Guy, A.G.: Introduction to Materials Science. Mac-Graw Hill, 1972.

[7] Hornbogen, E.: Werkstoffe. Springer-Verlag, Berlin - Heidelberg - New York, 1992.

[8] Kingery, W.D.; Bowen, H.K.; Uhlmann, D.R.: Introduction to ceramics. John Whiley & Sons,

New York-Chicago-Brisbane-Toronto-Singapore, 1975.

[9] Hahn, H.G.: Bruchmechanik. 3. Aufl., B.G. Teubner, Stuttgart, 1976.

[10] Munz, D., Fett, T.: Mechanisches Verhalten Keramischer Werkstoffe. Springer Verlag,

Berlin-Heidelberg-New York-London-Paris-Tokyo-Hongkong, 1999.

[11] Ilschner, B.: Hochtemperatur-Plastizität. Springer-Verlag, Berlin - Heidelberg - New York,

1973.

[12] Salmang, H.; Scholze, H.: Die physikalischen und chemischen Grundlagen der Keramik.

Springer-Verlag, Berlin – Heidelberg - New York, 1968.

[13] Schulle, W.: Feuerfeste Werkstoffe. Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie, Leipzig, 1990.

[14] Riley, F.L.: Progress in Nitrogen Ceramics. Boston 1983.

[15] Brook, R.J.: Concise Encyclopedia of Advanced Ceramic Materials. Pergamon Press, 1991.

[16] Lee, E., Rainforth, W.M.: Chapman & Hall, London, 1994.

[17] Bergmann, W.: Werkstofftechnik Teil 1: Grundlagen. Carl Hauser Verlag, München - Wien,

1984.

[18] Schatt, W., Worch, H.: Werkstoffwissenschaft. 8. Auflage. Stuttgart, 1996.

[19] Schaumburg, H.: Keramik, Werkstoffe und Bauelemente der Elektrotechnik. B.G. Teubner,

Stuttgart, 1994.

[20] Spektrum der Wissenschaft. Digest 3. 1996. S.30-44

[21] Hoechst High Chem Magazin 6. 1989. S.8-16

[22] Spektrum der Wissenschaft. Nr.5. 1996. S.52-58

[23] Askeland, D.R.: Materialwissenschaften :Grundlagen·Übungen·Lösungen. Spektrum

Akademischer Verlag, Heidelberg - Berlin - Oxford, 1994