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Manfred Oehmichen Picasso malt die Verzweifung Literareon | Sachbuch Manfred Oehmichen Picasso malt die Verzweifung Die Bombardierung und nahezu komplette Zerstörung der kleinen spanischen Stadt Guernica im spanischen Bürgerkrieg war der Impuls zu Pablo Picassos gleich- namigen Werk für die Weltausstellung in Paris im Jahre 1937. Neben zahlreichen Vorzeichnungen, Skizzen und Gemälden im Umfeld von dem weltberühmten Wandge- mälde widmete sich Picasso nahezu ein ganzes halbes Jahr dem Problem der bildlichen Darstellung der mimi- schen Veränderungen einer verzweifelten Frau, deren Kind durch die Bombardierung getötet wurde. Manfred Oehmichen unternimmt den Versuch, einer umfassen- den und tiefgreifenden Analyse dieser Bildserie. Detail- liert und informativ beschreibt der Verfasser die Bilder, gruppiert sie, beschreibt die vielschichtigen histori- schen und biographischen Einfüsse, Bedingungen und Verfechtungen, um eine Annäherung an die Bilderserie des Ausnahmekünstlers des zwanzigsten Jahrhunderts zu ermöglichen. ISBN 978-3-8316-1885-9 Eine Analyse von Picassos Bildserie »Guernica postscriptum« aus dem Jahre 1937

Picasso malt die Verzweiflung (Innenteil)€¦ · Pablo Picasso in München erstmals die Sammlung Marina Picas-sos in Deutschland gezeigt, und damit auch zahlreiche Bilder aus dieser

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Manfred Oehmichen

Picasso malt die Verzweiflung

Literareon | Sachbuch

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Die Bombardierung und nahezu komplette Zerstörung

der kleinen spanischen Stadt Guernica im spanischen

Bürgerkrieg war der Impuls zu Pablo Picassos gleich-

namigen Werk für die Weltausstellung in Paris im Jahre

1937. Neben zahlreichen Vorzeichnungen, Skizzen und

Gemälden im Umfeld von dem weltberühmten Wandge-

mälde widmete sich Picasso nahezu ein ganzes halbes

Jahr dem Problem der bildlichen Darstellung der mimi-

schen Veränderungen einer verzweifelten Frau, deren

Kind durch die Bombardierung getötet wurde. Manfred

Oehmichen unternimmt den Versuch, einer umfassen-

den und tiefgreifenden Analyse dieser Bildserie. Detail-

liert und informativ beschreibt der Verfasser die Bilder,

gruppiert sie, beschreibt die vielschichtigen histori-

schen und biographischen Einflüsse, Bedingungen und

Verflechtungen, um eine Annäherung an die Bilderserie

des Ausnahmekünstlers des zwanzigsten Jahrhunderts

zu ermöglichen.

ISBN 978-3-8316-1885-9

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Manfred Oehmichen

Picasso malt die Verzweiflung

Eine Analyse von Picassos Bildserie »Guernica

postscriptum« aus dem Jahre 1937

Literareon

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abru�ar.

Titelabbildung: David Seymour (Magnum),

veröffentlicht am 13. Juli 1937 in Co-Soir

© 2016 Manfred Oehmichen

Printed in EU

Literareon im Herbert Utz Verlag GmbH

Tel. 089 – 30 77 96 93 | www.literareon.de

ISBN 978-3-8316-1885-9

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Inhaltsverzeichznis

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Zur Entstehung der Bildserie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Ikonografie des ›menschlichen‹ Leidens bei Picasso . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

Picassos Motivation und die kunsthistorische Bedeutung

der Bildserie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Paraphrasen der verzweifelten Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

Bildserie »Fliehende Frau mit totem Kind« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

Bildserie »Das Gesicht der verzweifelten Frau« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

Phase 1: Bilder während und nach Fertigstellung von

Guernica (13. Mai bis 16. Juli 1937) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

Picassos Sommerurlaub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

Phase II: Bilder nach dem Sommerurlaub

(12. Oktober 1937 bis Ende 1937) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

Phase III: Bilder mit der Pathos-Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

Bildsprache Picassos: Expressive Bilderschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

Übersicht und Zusammenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

Ikonografische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Biografischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

Picassos malerische Intention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

Picassos emotionale Intention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

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Danksagung

Für die vielseitige Unterstützung bei Abfassung dieses Büchleins

möchte ich mich bedanken, besonders bei Win Labuda, der die

Anfänge des Aufsatzes mit redigierte, bei Rudi Hupfeld, der zwi-

schenzeitlich leider verstorben ist, bei Ingo Pedal, der als letzter

Korrektor noch wesentlich zum Inhalt beigetragen hat, bei Dag-

mar Angermann, die die Reproduktionen und Zusammenstellung

der Bilder verantwortet, und bei meiner Frau, Brigitta, die den

Text wiederholt durchgelesen hat.

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Einführung

Am 26. April 1937 wurde im Rahmen des Spanischen Bürgerkrie-

ges die kleine spanische Stadt Guernica bombardiert und dem

Erdboden gleichgemacht. Zahlreiche Menschen starben in den

Trümmern oder fielen den Flammen zum Opfer. Das erschrecken-

de Geschehen nahm Picasso zum Anlass, das Wandgemälde Guer-

nica zu erstellen, das das Leiden und die Verzweiflung besonders

von Müttern thematisiert, deren Kinder bei diesem Luftangriff

getötet wurden. Nach den ersten 5 Skizzen, die als Vorzeichnun-

gen zum Wandgemälde zu verstehen sind, entwickelte sich jedoch

eine gewisse Autonomie des Themas »Frau mit totem Kind«, das

Picasso – unabhängig von dem Wandgemälde – in der Folgezeit

mehrfach bearbeitete. Im Zuge dessen stieß Picasso auf ein wei-

teres Detailthema, das »Gesicht der verzweifelten Frau«, dem er

sich ein halbes Jahr lang widmete. Es handelt sich um klagende

und verzweifelte Frauen bzw. Frauengesichter, die durch ihre phy-

siognomischen Veränderungen ihren Schmerz ausdrücken. Das

Bildkonvolut kann unter dem Thema »Verzweiflung« zusammen-

gefasst werden und hat sich mit dem Begriff »Guernica postscrip-

tum« in der Literatur etabliert.

Das Konvolut an Skizzen, Zeichnungen, Radierungen und Öl-

gemälden hat ein Volumen von knapp 60 Bildern. Der Umfang

der Bildserie überrascht selbst im Werk Picassos, zumal er sich

einem Thema widmete, das im Jahr 1937 nicht als Picasso-typisch

anzusehen war. Picasso spürt mit großer Sensibilität der Psyche

einer verzweifelten Frau nach und entwickelt eine Bildsprache,

die erlaubt, unterschiedliche emotionale Zustände darzustellen.

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Eine erste Veröffentlichung von Bildern dieser Serie erfolgte

1964 durch Arnheim im Zusammenhang mit einer monografi-

schen Analyse des Bildes Guernica. Auch weiterhin wurden zusam-

men mit den monografischen Darstellungen von Guernica diese

Zeichnungen veröffentlicht, nie aber vollständig. Das Problem

lag unter anderem daran, dass erst sukzessive der ganze Umfang

der Bildproduktion Picassos bekannt wurde.

Im Ausstellungskatalog 1981 wurde zum 100. Geburtstag von

Pablo Picasso in München erstmals die Sammlung Marina Picas-

sos in Deutschland gezeigt, und damit auch zahlreiche Bilder aus

dieser Serie veröffentlicht. W. Spies (1981) war der Herausgeber

des Katalogs und nahm speziell auch zu diesem Bildkomplex Stel-

lung. Mehr als 10 Jahre später, im Jahre 1993, konnte in Deutsch-

land L. Ullmann in seiner umfangreichen Monografie einen Teil

der Bilder veröffentlichen. In beiden Fällen ging es den Autoren

unter anderem darum, den Leser auf diesen Bildkomplex auf-

merksam zu machen sowie um die Klärung einzelner Bild-Zusam-

menhänge und um die Einordnung der Serie in das Gesamtwerk

Picassos. Etwa 10 Jahre später widmeten sich Biografen den ein-

zelnen Frauen, zu denen Picasso ein Verhältnis hatte, besonders

Dora Maar und Marie-Thérèse Walter. So konnte auf biografische

Zusammenhänge mit diesem Bildkomplex hingewiesen werden

(Caws 2002, Baldassari 2006). Auch in diesen Biografien wur-

de neues Bildmaterial veröffentlicht. Allen Autoren ging es weder

um eine detaillierte Analyse der Bildserie als Ganzes, noch um

die Wiedergabe des gesamten Bildfundus.

Eine monografische Darstellung dieser Bildgruppe erfolgte in

spanischer Sprache unter dem Titel Guernica. Legado Picasso, he-

rausgegeben vom spanischen Kultusministerium in Madrid. Die-

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ser reich bebilderte Katalog hatte vor allem die Absicht, die Freu-

de des spanischen Volkes über den Transfer des Bildes Guernica

aus New York nach Madrid zu feiern, nachdem Franco gestorben

war. Im Zuge dieses Transfers wurden auch alle zugehörigen Vor-

zeichnungen nach Madrid überführt, ebenso wie die nach Guer-

nica entstandenen Zeichnungen und Gemälde Picassos, die laut

seiner Verfügung immer zum Wandgemälde gehören sollten.

Einen Ansatz zu der vorliegenden Gesamtdarstellung und

Analyse präsentierte der von Frau Judi Freeman im Jahre 1994

herausgegebene Ausstellungskatalog. Er entstand im Rahmen der

Ausstellung Weeping Woman in Los Angeles, New York und Chica-

go. Der Freeman-Katalog versucht, die Bildserie mit den Frau-

enbildnissen Picassos ab Ende 1920 bis Anfang 1940 in einen

Zusammenhang zu stellen. Der Katalog subsumiert das bis dahin

existierende Wissen und gibt viele interessante Hinweise. Er be-

absichtigt aber keine systematische Analyse.

Mit dieser Bildserie versuchte Picasso, ausgehend von dem

Wandgemälde Guernica (Abb. 1), das Thema »Verzweiflung« um-

fassend bildlich darzustellen und durch Struktur, Farbe und

mimischen Ausdruck sowohl bestimmte Emotionen auszuloten

als auch Darstellungsmöglichkeiten auszuprobieren. Dabei be-

schränkte er sich auf die Darstellung des Emotionsspektrums ei-

ner Mutter, deren Kind gerade durch einen Bombenangriff oder

ein Feuer getötet wurde. Diesem Thema widmete er sich mit der

ihm eigenen Besessenheit und Intensität, indem er die realisti-

sche Anatomie und Farbgebung den physiognomischen Verän-

derungen unterordnete, die er als charakteristisch für eine be-

stimmte emotionale Alteration ansah, nämlich die Verzweiflung.

Es ist sicher ein schwieriges Unterfangen, die Bildmasse, die

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Pablo Picasso hinterlassen hat, zu ordnen und zu analysieren. Pi-

casso selbst hatte hierzu schon zu Lebzeiten insofern seinen Bei-

trag geleistet, als er ab 1930 versuchte, seine Zeichnungen und

Bilder regelmäßig zu datieren. Hilfreich sind zwischenzeitlich

auch systematische Registerbände bzw. Kataloge mit dem An-

spruch einer vollständigen Erfassung von Picassos malerischem

und plastischem Werk. Dennoch gibt es bis zum heutigen Tag

immer noch Schwierigkeiten bei der Zuordnung, einerseits weil

nicht alle Werke datiert sind, andererseits weil immer wieder

neue Werke zum Vorschein kommen, die dann in anderen Kata-

logen oder Büchern zitiert werden, sich aber der jeweils vorheri-

gen Systematik entziehen. Das gilt auch für die Paraphrasen der

»Verzweifelten Frau«.

Mit Worten soll im Folgenden versucht werden, das bildneri-

sche Werk Picassos zu diesem Thema nachzuvollziehen, obgleich

Picassos eigene Devise zweifelsohne richtig ist: »Über Bilder lässt

sich nichts sagen, man liebt sie oder verabscheut sie, aber mit

Worten lassen sie sich nicht erklären« (s. Rubinstein 1980). Von

vornherein muss daher festgestellt werden, dass der vorliegende

Versuch nur eine Annäherung sein kann. Dabei handelt es sich

überwiegend um eine Beschreibung der Bilder und auch – aber

nur in groben Zügen – um eine Interpretation ihres Ausdrucks,

die im Detail jedem Betrachter selbst überlassen bleiben muss.

Sehr wohl möglich ist dagegen die chronologische und systema-

tische Zuordnung der Bilder.

In einer gekürzten Fassung wurde bereits im Jahre 2006

auf einem Kongress in Padua über dieses Thema referiert (vgl.

Oehmichen 2010).

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Zur Entstehung der Bildserie

Der Spanier Pablo Picasso war im Mai 1937 bereits ein weltbe-

rühmter Künstler und befand sich im Alter von 56 Jahren auf

dem Höhepunkt seiner Karriere. Er lebte in Paris, war verheiratet

mit Olga Kokhlowa, mit der er sich allerdings auseinandergelebt

hatte. Zu dieser Zeit hatte er zwei Geliebte, Marie-Thérèse Walter

und Dora Maar, was seine private Situation erschwerte. Im Januar

1937 erhielt er den offiziellen Auftrag von der spanischen repu-

blikanischen Regierung, ein Wandgemälde für den spanischen

Pavillon auf der ab Mai 1937 stattfindenden Weltausstellung in

Paris zu malen. Diesen Auftrag nahm er (mehr oder weniger)

an (1). Bis Ende April 1937 hatte er jedoch offenbar noch keine

endgültigen Vorstellungen zum vorgesehenen Wandgemälde.

Nachdem am 17. Juli 1936 eine Gruppe von Generälen unter

Franco in Spanien den Sturz der demokratisch gewählten repu-

blikanischen Regierung proklamiert hatte, brach der Spanische

Bürgerkrieg aus, der bis zum Einmarsch der Franco-Anhänger in

Madrid am 28. März 1939 andauerte. Am 26. April 1937 erhielt

die »Legion Condor«, eine deutsche Fliegerstaffel, die auf Seiten

der Faschisten gegen die Republikaner kämpfte, den Auftrag, eine

kleine und offenbar militärisch unbedeutende baskische Stadt zu

bombardieren (2). Es war der erste totale Luftangriff in der Ge-

schichte der Menschheit. Die ganze westliche Welt war durch die

Unfassbarkeit eines solchen Geschehens maßlos entsetzt.

Picasso selbst war als Spanier selbstverständlich durch den

Spanischen Bürgerkrieg emotional betroffen, da seine Familie

und seine Freunde weiterhin in Spanien lebten. Er selbst un-

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terstützte die Republikaner gegen die Faschisten. Bereits im

Januar 1937 arbeitete er an zwei großen Radierungen mit dem

Titel Traum und Lüge Francos, die je in 9 kleinere Felder eingeteilt

waren. In den insgesamt 18 Feldern nahm er in Form von Comic-

strips mit polemischen bis sarkastischen Karikaturen zu den po-

litischen und kriegerischen Auseinandersetzungen in Spanien

Stellung, wobei er vier kleine Felder der 2. Radierplatte zunächst

nicht bearbeitete, die schließlich erst im Juni 1937 ausgefüllt

wurden (3).

Offenbar zutiefst betroffen aber war Picasso – wie auch die

gesamte Weltöffentlichkeit – durch das grausame Geschehen in

Guernica am 26.  April 1937. Er nahm die Bombardierung von

Guernica zum Anlass, sich ab 1. Mai 1937 (also unmittelbar an-

schließend) dem geplanten Wandgemälde für den Pariser Pavil-

lon zu widmen. Das Werk wurde schließlich auch nach der zer-

störten Stadt benannt, Guernica (Abb. 1). Dieses monumentale

Gemälde (349,3 × 776,6 cm) wurde am 6. Juni 1937 fertiggestellt

und konnte in den spanischen Pavillon transportiert werden, der

schließlich mit Verzögerung am 12. Juni 1937 eröffnet wurde (4).

Symbolisch-metaphorisch wird auf diesem Gemälde das

furchtbare Leiden nicht nur des spanischen, sondern jeden

Volkes im Krieg beschrieben und beklagt. Das Gemälde ist dem

kubistischen Stil zuzuordnen. Die vorkommenden Metaphern

stammen u. a. aus dem Stierkampf: Im Zentrum schreit ein töd-

lich verletztes, zusammenbrechendes Pferd, am linken Rand des

Gemäldes steht ein ruhiger Stier, während im Übrigen das Bild

durch drei klagende Frauen und eine beobachtende Frau be-

stimmt wird. Das Werk wanderte nach der Pariser Ausstellung

durch einen Großteil der westlichen Welt und ist wohl das be-

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Abbbildung 1

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kannteste Bild Picassos, das sich heute in Madrid, Museo Nacional

Centro de Arte Reina Sofia, befindet.

Im Zusammenhang mit dem Wandgemälde entstanden ca. 60

Vorzeichnungen, Skizzen, Detaildarstellungen sowie Gemälde,

wobei sich ein Teil der Bilder ausschließlich auf die physiogno-

mischen Veränderungen der Frau in extremem psychischem Leid

und in der Verzweiflung konzentrieren. Noch während der Arbeit

am Wandgemälde verselbstständigte sich dieses spezielle Thema,

das nach Fertigstellung des Wandgemäldes Guernica für nahezu

ein halbes Jahr zu Picassos Hauptmotiv wurde. Picasso erstellte

in der zweiten Hälfte des Jahres 1937 beinah obsessiv Zeichnun-

gen, Gemälde und Radierungen mit Frauengesichtern, die hoch-

gradige Verzweiflung und furchtbares Leiden widerspiegelten.

Diese Arbeiten wurden geradezu monoman nach Fertigstellung

des Wandgemäldes durchgeführt. Da Picasso beinah jedes dieser

individualisierten Bilder genau datiert hat, lässt sich auch die

Chronologie unschwer nachvollziehen.

Ikonografie des ›menschlichen‹ Leidens bei Picasso

Offensichtlich von Goya thematisch und von El Greco formal be-

einflusst, widmete sich der zwanzigjährige Picasso in seinen ers-

ten Pariser Jahren von 1901 bis 1905 teilweise pathetisch, teilwei-

se manieriert dem menschlichen Elend, der Traurigkeit und Ver-

zweiflung der Armen, der Bettler, der Säufer und der Huren (8).

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In der sogenannten Blauen Periode, die Picasso auch seine »sen-

timentale« Phase nannte, beschränkte er sich nicht nur auf eine

eingeschränkte Farbskala, also auf Variationen in Blau, sondern

auch inhaltlich auf ein spezifisches Generalthema – offenbar

mitunter beeinflusst durch das Denken Nietzsches, Ibsens,

Maeter links u. a. – nämlich die Darstellung der Armut und der

Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz (Abb. 2b). Diese The-

men verfolgte er mit großer Hartnäckigkeit, offenbar um alle ihm

innewohnenden inhaltlichen, formalen und farblichen Möglich-

keiten auszuschöpfen. Die Periode beginnt mit dem Gemälde Die

Beerdigung Casagemas (9), das er seinem Freund Casagemas nach

dessen Freitod widmete.

Eines der damaligen Hauptthemen war auch die Ambivalenz

der Mutter-Kind-Beziehung, offenbar basierend auf einer tief-

re li giö sen Grundeinstellung, die manche Bilder auch im Sinne

einer säkularisierten Madonnendarstellung kennzeichnen las-

sen können. Durch den Rückgriff auf die Marien-Ikonografie

inszenierte Picasso einen Mutterkult, der speziell in Spanien be-

steht. Gedo (1980) spricht in diesem Zusammenhang auch von

einer zugrundeliegenden ›Überidealisierung der Mutter‹. Wie

Becht-Jördens und Wehmeier (2003) beschreiben, betrachtete

Picasso offenbar mit sehnsuchtsvoller und zugleich angstvoller

Faszination die Mutter mit ihrem Kind in immer neuen Modifi-

kationen. Das Mutter-Kind-Motiv mag u. a. auch durch die Fa-

milienstruktur der Picasso-Familie angeregt worden sein, deren

Opfer Picasso selbst war. Picasso wurde fast nur von Frauen auf-

gezogen, die ihn als einziges männliches Kind besonders liebten,

verehrten und vereinnahmten (Penrose 1958, Richardson 1991).

Die Blaue Periode endete schließlich – nach einer Übergangs-

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Abbbildung 2

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zeit, die sich der Melancholie des fahrenden Volkes widmete, der

sogenannten Rosa Periode – mit dem Portrait von Gertrude Stein

im Jahre 1906. In der Folge entwickelte sich im Zusammenhang

mit Picassos neuen Erfahrungen über die Kultur der Primitiven,

u. a. durch archäologische Funde aus Spanien, die Phase des Ku-

bismus.

In den Jahrzehnten danach, die entsprechend dem interna-

tionalen Picasso-Schrifttum als Perioden des Klassizismus und

des Surrealismus klassifiziert werden, gibt es kaum Darstellungen

menschlichen Leidens. Bis Mitte der zwanziger Jahre hatte Picas-

so die menschliche Gestalt im Zuge von rationalen Analysen der

Bildstruktur deformiert, nicht aber zur Verstärkung des emotio-

nalen Ausdrucks. Etwa ab 1925 (Abb. 3a, b – Der Tanz) werden mi-

mische Veränderungen bei Menschen erstmals wieder dargestellt.

Anfänglich beschränkt sich dies jedoch auf negative Emotionen

wie Hass, Hysterie, Aggression und Eifersucht jeweils beim Täter,

nicht aber beim Opfer. Eine Ausnahme bildet die am 22. Januar

1937 gezeichnete Vergewaltigungsszene. Hier stellt Picasso das

Klagen und Schreien einer Frau als Opfer mit weit geöffnetem

schwarzem, lochartigem Mund und zirkulär angelegten Zähnen

dar (Abb. 3c). Diese Zeichnung ist allerdings bereits während der

Aktivitäten Picassos im Zusammenhang mit dem Spanischen Bür-

gerkrieg entstanden, wenige Tage nach der vorläufigen Fertigstel-

lung der zwei großen Radierplatten am 8. Januar 1937, aber am

gleichen Tag, an dem er Modifikationen von Kopf- , Mund- und

Augen-Partien skizzierte (Abb. 4b). Vorher jedoch, selbst in der

Serie »Rettung« Anfang der 30er Jahre, in der es um die Rettung

von Ertrinkenden geht, bleiben die Gesichter der Rettenden und

Geretteten emotionslos.

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Abbbildung 3

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Abbbildung 4

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In der Zeit, die vorwiegend durch surrealistische Darstellun-

gen geprägt war, entstanden allerdings Bilder, in denen auch

Emotionen dargestellt wurden, die kaum zu entziffern sind. Un-

übersehbar aber überwogen auch hier aggressive Tendenzen.

Trotz einer unendlichen Vielzahl an Portraits sind Emotionen

bei von Picasso gemalten Menschen praktisch nicht dargestellt,

ebenso wenig in den Radierungen in Traum und Lüge Francos, die

im Zusammenhang mit dem Spanischen Bürgerkrieg – noch vor

Guernica – entstanden waren. Exemplarisch und extrem expressiv

werden allerdings gegen Ende der 20er und in den beginnenden

30er Jahren wiederholt die Qualen und der Schmerz von Tieren,

speziell des sterbenden Pferdes in der Corrida und des Minotau-

rus, bis an die Grenze des Zumutbaren ausgedrückt.

Als ersten Versuch des Ausdrucks von Verzweiflung könnte ein

kleines Gemälde mit dem Titel Kreuzigung (Abb. 5) aus dem Jahre

1930 gelten, in dem Maria als verzweifelte Mutter Christi – aller-

dings surreal überzeichnet – in Gestik und Mimik klagend darge-

stellt wird. Zwei Jahre später paraphrasiert Picasso zeichnerisch

das Kreuzigungsbild, den Isenheimer Altar, von Grünewald, mit

teilweise extrem anschaulicher Wiedergabe der verzweifelten Ma-

ria Magdalena.

Wie bereits erwähnt: Erstmals im Zusammenhang mit dem

Bild Guernica wird die dramatisch-expressive Konfrontation einer

anklagend-schreienden und vor allem leidenden Frau zu einem

Zentralmotiv. Auch auf dem Bild Guernica sind die Frauen kla-

gend, allerdings eher randständig, und die eigentliche Klage wird

durch ein Pferd verdeutlicht, das groß und breit das Zentrum

des Bildes einnimmt. Nach 1938 jedoch gehört die in der Nach-

Guernica-Periode erprobte und hier wiedergegebene menschbe-

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Abbbildung 5

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zogene Opferikonografie zum ständigen Repertoire der privaten

Ikonografie Picassos.

Picassos Motivation und die kunsthistorische

Bedeutung der Bildserie

Eine Frage aber ist, ob der Spanische Bürgerkrieg Picassos einzi-

ges Motiv war, sich ein halbes Jahr lang mit Zeichnungen, Gemäl-

den und Radierungen zu diesem Sujet malerisch zu äußern. Zum

Teil wurde es schon erwähnt: Die Auflösung der realistischen

Physiognomie war ein Problem, mit dem sich Picasso bereits seit

Beginn der Periode des Kubismus beschäftigte, praktisch seit

1906. Im Jahr 1937 inspirierte ihn zweifelsohne zunächst seine

Betroffenheit durch das Geschehen in Guernica. Sicher aber

dürfte auch das Fehlen einer erst mit der Arbeit an dem Bild

Guernica gewonnenen Erfahrung bei der Darstellung von Trauer

und Verzweiflung eine Rolle gespielt haben. Abgesehen von der

unmittelbaren Faszination für das Thema handelt es sich auch

um ein malerisches Problem, das bei Picasso zu dem Versuch

führte, die ganze psychologische Bandbreite der mimischen Ver-

änderungen einer Frau visuell zu erfassen, wie sie die Folge der

Bombardierung hätte sein können.

Spies (6) wies auf einen weiteren Gesichtspunkt hin, der al-

lerdings unabhängig von psychologischen und politischen As-

pekten ein besonderes Stilmerkmal Picassos beschreibt, nämlich

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das Stilelement der Wiederholung. Indem Picasso ein Motiv in

zahlreichen Variationen wiederholte, schlichen sich dank Ermü-

dung und auch dank der Lust zur Transgression unvermeidlich

neue Formlösungen ein, bis diejenige erreicht war, mit der Picas-

so am meisten übereinstimmte. Dies wäre als kinematografische

Methode zu bezeichnen.

Im vorliegenden Fall gelang ein bildhafter Ausdruck emoti-

onal-dramatischen Inhalts, der in der Kunstgeschichte zu einer

Änderung der visuellen Wiedergabe menschlicher Emotionen

geführt hat. Picasso bewegt sich mit diesem Paradigmenwechsel

auf der gleichen Ebene wie Giotto, der im 13. Jahrhundert u. a.

mit den Fresken der Capella degli Scrovegni all‘Arena in Padua

den Schritt von der byzantinischen Schule in die Neuzeit vollzog

(7). Giotto di Bondone hatte erstmals tiefste menschliche Anteil-

nahme und emotionale Beteiligung bildlich in Mimik und Gestik

dargestellt (Abb. 2a). Er wurde damit zum Wegbereiter eines bild-

nerischen Ausdrucks, der auf einer unmittelbaren persönlichen

Beobachtung von Natur, Wirklichkeit und Menschen sowie seiner

Gefühle beruhte. Andererseits wird bei Picasso durch extreme

Modifikationen und Auflösungen der Gesichtsstrukturen spezi-

ell in den Paraphrasen der »Verzweifelten Frau« eine Vielzahl an

Varianten der Verzweiflung bildlich auf eine bis dahin undenk-

bare Weise wiedergegeben. Diese Modifikationen bleiben in der

Bildserie nahezu ausschließlich auf die Physiognomie beschränkt,

wobei sich eine nahezu vollständige Auflösung und Destruktion

der realistischen Physiognomie entwickelte. Das heißt auch: Seit

Giotto ist eine fast 700jährige Bildgeschichte u. a. mit diesen Pa-

raphrasen in ein neues Stadium getreten.

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Paraphrasen der verzweifelten Frau

Im Gegensatz zum Kubismus, der durch eine strikte, eher geo-

metrische Bildarchitektur gekennzeichnet ist, bestimmen in den

Bildern, die im Zusammenhang mit Guernica entstanden sind, or-

ganische Konturlinien den Umriss der Gesichter. Teils mit bio-

morphen Strukturen, teils mit Mitteln des analytischen Kubismus

können die Ausdrucksmöglichkeiten des Körpers, insbesondere

des Gesichtes, deutlich vielfältiger zur Geltung gebracht wer-

den. Es sind die vom zugefügten Schmerz zerstörten Gesichter,

die den Protest gegen das vermeidbare und unsinnige Leiden der

Frauen (im Krieg) ausdrücken. Es wird das Pathos des Leidens

dargestellt, wobei sich bei jedem einzelnen Bild ein eigenes, indi-

viduelles Ausdrucksspektrum entwickelt. Modifikationsversuche

in Form von Skizzen hatte – wie gesagt – Picasso in Teilen schon

längere Zeit vorher begonnen. So liegen Skizzen von Mund-Mo-

difikationen bereits vom 11. Oktober 1936 und 22. Januar 1937

vor (Abb. 4a, b), aber auch – während und nach der Guernica-Fer-

tigstellung – von den Augen (Abb. 4c, d) bzw. von Augen zusam-

men mit Tränentuch vom 20.Mai und vom 24. 20. 1937 (Abb. 4e).

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Bildserie »Fliehende Frau mit totem Kind«

Im Jahre 1937 fertigte Picasso vom 8. Mai bis 22. Juni eine Serie

von insgesamt dreizehn Zeichnungen / Gemälden einer »fliehen-

den Frau mit totem Kind«. Am 8. Mai 1937 erscheint dieses Motiv

erstmals in einer Vorzeichnung zum Wandgemälde Guernica als

neue Bildidee, die zunächst tragend wird (Abb. 6a). Während die

ersten vier schwarz weiß gehaltenen Zeichnungen vom 8./9. Mai

1937 ebenso wie eine (erste) farbige Zeichnung vom 10. Mai 1937

noch als Vorzeichnungen und Studien für das Wandgemälde

Guernica gelten können (Abb. 6), müssen die später entstande-

nen dramatischen Bilder (Abb. 7) als eigenständige Werke gese-

hen werden, da die klagende Frau und (offenbar) Mutter mit dem

toten Kind auf dem großen Wandgemälde bereits am 11. Mai 1937

fertig konzipiert war und nicht mehr verändert wurde (Abb. 8).

Auf den durchgehend farbigen Skizzen (Abb. 7) wird eine re-

gelrechte Flucht aus einem brennenden Haus geschildert. Das

tote Kind im Arm haltend schreit die Mutter in schierer Verzweif-

lung gen Himmel. Dieses Motiv wird auf einem weiteren, später

entstandenen Bild (Abb. 10) in ähnlicher bzw. verstärkter gesti-

scher Dynamik dargestellt, wobei in allen diesen Bildern die Ge-

sichtsstruktur (Ausnahme Abb. 7d) eher in den Hintergrund tritt.

Zur Bildgruppe »Frau mit totem Kind« gehören u. a. auch die

drei Radierungen der vier noch leeren Felder der zweiten Radier-

tafel von Traum und Lüge Francos (s. oben), die am 7. bzw. 8. Juni

1937 ergänzt wurden. Während das 16. Bild auf der 2. Platte

(Abb. 9a) eine Frau zeigt, die klagend und anklagend mit ihrem

toten Kind im Arm aus einem brennenden Haus flüchtet, wird in

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Abbbildung 6

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Abbbildung 7

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Abbbildung 8

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Abbbildung 9

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Abbbildung 10

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Feld 18 eine umgekehrte Situation geschildert, die allerdings von

gleicher Dramatik und Ungeheuerlichkeit ist. Die Frau ist durch

einen Pfeil im Hals tödlich verletzt und ein Mann (der Kindesva-

ter?) liegt mit einer Kopfverletzung offenbar tot im Hintergrund,

während zwei eindeutig lebendige Säuglinge hilfesuchend nach

der Mutter greifen (Abb. 9b). In dem dritten Radierteil der Tafel

schließlich liegen Mutter und Kind – offenbar beide tot – Kopf

an Kopf vereint am Boden (Abb. 9c).

Sehr viel später, am 26. September 1937, entsteht nochmals

ein Bild Fliehende Frau mit totem Kind (Abb. 10). Dies sollte wohl

neben Guernica bestehen können. Es ist mit nahezu 200 cm Brei-

te ein sehr großes Bild, das – wie Guernica – in schwarz-weiß auf

Leinwand gemalt wurde. Es wirkt wie eine abschließende Zusam-

menfassung des Themas »Fliehende Frau mit totem Kind«.

Auf diesem Bild rast eine Frau geradezu diagonal von rechts

unten nach links oben durch die gesamte Bildfläche. Sie hält den

Kopf und den Körper des toten Kindes in der rechten Hand, wäh-

rend der linke Arm rückwärts gewandt in Richtung der rechten

oberen Bildecke reicht. Ihr Mund ist weit geöffnet, eine spitze,

lanzettartige Zunge wird nach oben gestreckt. Die Augen lagern

in bootähnlichen Schüsseln, die Brüste sind nackt. Die Frau ist

mit einem Kopftuch und einer Stola bekleidet. Das ganze Bild ist

kubistisch ausgearbeitet, wobei seine Dynamik und der erkenn-

bare Realismus eine starke Wirkung entfalten. Es ist offensicht-

lich bewusst asymmetrisch belassen und wirkt insgesamt unfertig.

Es ist in der Bildgruppe »Fliehende Frau mit totem Kind« zweifels-

ohne das stärkste Bild einer Frau auf der Flucht, mit den Zeichen

der verzweifelten Klage und Anklage.

Picasso verlässt relativ frühzeitig das Motiv »Fliehende Frau

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mit totem Kind«, das er – wie gesagt – im September in Form des

großen Gemäldes (Abb. 10) nochmals aufgegriffen hatte. Dieses

kann als Endgültig neben Guernica bestehen.

Bildserie »Das Gesicht der verzweifelten Frau«

Inhaltlich und strukturell von der Darstellung der »fliehenden

Frau mit totem Kind« getrennt, entwickelte Picasso eine zweite,

umfangreichere Serie, die sich nahezu ausschließlich auf die Mo-

difikation der Physiognomie einer verzweifelten Frau beschränkt.

Ab wann sich die Serie »Gesicht der verzweifelten Frau« bei Pi-

casso verselbstständigt hat, ist nicht ganz klar, da die Übergän-

ge fließend sind. Bereits die dritte Zeichnung Fliehende Frau mit

totem Kind (Abb. 7e) zeigt jedoch eine sehr differenzierte Ge-

sichtsstruktur, die nicht mehr in das große Wandgemälde gepasst

hätte: Das Gesicht ist gen Himmel gerichtet, der Mund ist offen,

schreiend, mit sichtbaren Zähnen und Zunge, wobei allerdings

die Körperhaltung der Frau insgesamt aussagekräftiger ist als das

Gesicht. Spätestens mit der ersten Darstellung eines isolierten

Frauengesichtes am 13. Mai 1937, das eine detaillierte, verzweifel-

te Mimik wiedergibt und stilistisch ebenso wenig in das Wandge-

mälde Guernica passt (Abb. 11a), kann eine Eigenständigkeit des

Motivs und der Beginn der Serie angenommen werden.

In der zweiten Hälfte des Jahres 1937 muss Picasso von der

Problematik so fasziniert gewesen sein, da er offenbar nicht nur

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die im Gesamtverzeichnis der Bildwerke Picassos aufgeführten

Bilder und Zeichnungen produzierte, sondern zusätzlich auch

auf Streichholzschachteln gezeichnet, in Kieselsteine Köpfe ge-

ritzt (vgl. 10) und möglicherweise auch eine Kopf-Skulptur mit

diesem Titel geschaffen hat. Die Vielzahl der visuellen Darstel-

lungen dieses Sujets, die Picasso bei jeder nur möglichen Gele-

genheit zwang, eine verzweifelte Frau visuell zu fixieren, sprechen

für die Intensität und Besessenheit, mit der Picasso dieses Thema

bearbeitete.

Die Bildserie »Gesicht der verzweifelten Frau« weist eine Rei-

he von gemeinsamen Merkmalen auf:

• es handelt sich überwiegend um eine Fokussierung auf den

Bildausschnitt Gesicht und Kopf der Frau;

• das Gesicht ist nahezu regelmäßig im Halbprofil dargestellt;

• von Beginn an sind Augen und Mund die Ausdrucksträger,

dann aber kommen hinzu: Tränen und Tränenspuren sowie

Taschen- bzw. Tränentuch, Hände, Kopftuch und Hut;

• der Wechsel der emotionalen Verfassung der Dargestellten

wie auch die Art und Weise der Darstellung selbst ist das of-

fensichtliche malerische Ziel Picassos.

Phase 1: Bilder während und nach Fertigstellung von Guernica

(13. Mai bis 16. Juli 1937)

Picasso verändert die normale Anatomie, destruiert die Gesichter,

fügt Tränenspuren, Taschentücher und Hände hinzu, verlegt die

Gesichter der Frauen in dunkle, teilweise kastenartig enge Räume

bzw. gibt der Umgebung eine extrem unterkühlte Farbigkeit und

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bezieht auf diese Weise den Betrachter mit in die verzweifelte

Situation dieser Frauen ein. Der überwiegende Teil der Gesichter

weint, andere sind eher aggressiv. Das unermessliche Leid dieser

Frauen drückt sich in den nach außen gestülpten, nahezu heraus-

fallenden Augen sowie dem weit geöffneten Mund aus, der seine

Klage in die Öffentlichkeit schreit oder sich in ein Taschentuch

verbeißt. Die Tränenspuren, die wie Kanäle die Gesichter durch-

ziehen, wirken zerstörend. Die Grenz wer tig keit der Darstellungen

verdeutlicht gleichzeitig auch die Grenze der Existenz der Frauen,

die mit diesen Bildern in Frage gestellt wird.

Die 1. Bildgruppe entsteht in der Zeit vom 13. Mai bis 15. Juni

1937 (Abb. 11). Es sind Skizzen, die von Picasso möglicherweise

zunächst auch als Vorlage für Frauengesichter auf dem Wandge-

mälde Guernica vorgesehen waren, und zwar für die links außen

auf dem Bild Guernica dargestellte »Klagende Frau mit totem Kind«

und / oder für die rechts außen dargestellte »Fallende Frau«.

Durch die lanzettartige Zunge der Klagenden (Abb. 11b) wird die

direkte Assoziation mit dem Zentralmotiv des Wandgemäldes,

dem »sterbenden Pferd« (Abb. 11d) bekräftigt: Ausdruck einer Ver-

zweiflung, des Schmerzes, der Angst, der Wut und des Zorns. Die

gen Himmel gerichtete spitze Zunge verdeutlicht klagend und

anklagend-schreiend den psychischen Schmerz der Frau. Bild 11c

ist insgesamt ausdrucksstärker, wobei der Ausdruck im Vergleich

zu den Bildern 11a und b weniger aggressiv, sondern eher hilf-

los-verzweifelt ist, da hier das Gesicht durch die deutlichen Trä-

nenspuren zerrissen ist und Modifikationen der Pupillen entstan-

den sind, die Ähnlichkeiten mit Schmetterlingen aufweisen.

Das Gesicht der Frauen der Gruppe 1 besteht aus einer

rein linearen Kontur, die das Halbprofil wiedergibt. Nur Abbil-

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Ab

bb

ild

un

g 11

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dung 11a ist farbig: der Hintergrund sandfarben und die Haare

wässrig-blau. Die jeweils angedeuteten plastischen Mundregio-

nen sind zusammen mit der Nase nach links oben bzw. himmel-

wärts gerichtet (Abb. 11a–c). Die Stirn wird in Abbildung 11b und

c in Falten dargestellt. In Abb. 11b sind die tropfenförmigen Au-

gen miteinander verbunden, die Wimpern stehen kreisförmig-ra-

diär um die Augen, teilweise in Gruppen sortiert; mit Tränen wer-

den in Abbildung 11c Tränenspuren verbunden.

Das Entsetzen spiegelt sich in drei weiteren Zeichnungen

(2. Bildgruppe) wieder, die am 24. bzw. 28. Mai 1937 entstanden

sind (Abb. 12). Sie unterscheiden sich in nahezu jeder Hinsicht

von den Gesichtern der ersten Gruppe. Das Profil ist nach unten

gerichtet (Abb. 12a, b), in Zeichnung 12a allerdings nach links, in

Zeichnung 12b nach rechts. Demgegenüber ist die Blickrichtung

der Gesichter in Bild 12c und d nach oben bzw. eher nach links

orientiert.

Die Zeichnungen hinterlassen primär einen verwirrten Ein-

druck. Dieser entsteht vor allem durch die vielen langen schwar-

zen bzw. schwarz-blau durchwirkten wirren Haare, die gleichzei-

tig auch den dunklen Hintergrund der Zeichnungen erzeugen

(Abb. 12a und b). Ferner weist das Gesicht in Abb. 12a durch

fleckförmige, gestrichelte Dunkelverfärbungen einzelner Ge-

sichtregionen eine leicht plastische Form auf. Die Verwirrtheit

wird verstärkt durch bogenförmige Linien, die das Gesicht in

Form von Tränenspuren durchqueren (Abb. 12a). Die Augen in

Abb. 12a sind auseinandergezerrt und die Augenbrauen sind

dick, ebenso bogenförmig und mit Vogelfedern vergleichbar. Die

Stirn ist durch sich überkreuzende dicke Falten aufgelöst. Die

Wimpern sind nahezu zirkulär und in seltsamen Gruppen um das

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Abbbildung 12

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Auge herum angeordnet. Der Blick des Betrachters konzentriert

sich allerdings vor allem auf den Mund, der wie das Endglied ei-

nes offenen Rohres wirkt, aus dem eine geschuppt wirkende Zun-

ge spitz herausragt. Hierdurch entsteht die Assoziation mit dem

Zustand des Erbrechens.

Abbildung 12b zeigt einen sehr flach gezeichneten Kopf, na-

hezu horizontal mit dem Gesicht auf eine Fläche gebracht, der

Blick nach rechts unten gerichtet, wobei die Mundregion eher

klein wiedergegeben ist. Trotzdem entsteht auch hier durch eine

herausgestreckte spitze Zunge und zirkulär angeordnete Zähne

der Eindruck des Erbrechens. In keinem der zwei Bilder ist eine

Klage oder Anklage erkennbar, nur die passiven, resigniert ertra-

genen Schmerzen, die zum Erbrechen zu führen scheinen.

Dem Ausdruck vergleichbar ist auch das in Abbildung 12c

gezeigte Gesicht, das zwei Tage später, am 28. Mai 1937, entstand.

Es ist im Gegensatz zu den ersten zwei Bildern dieser Gruppe far-

big. Auf roten Schultern schließt sich ein kurzer Hals mit nahezu

kreisrundem Kopf an, dessen Gesicht nach links oben gewendet,

und dessen Kopf wiederum mit wirren, aber vergleichsweise kur-

zem, schwarzen Haar bedeckt ist. Der Mund ist mit herausge-

streckter bogenförmiger, spitz zulaufender Zunge und sichtbaren

Zahnreihen weit geöffnet. Um die tropfenförmigen Augen finden

sich wiederum in Gruppen sortierte und radiär angeordnete

Wimpern, während die Augenbrauen vogelfederähnlich gezeich-

net wurden. Von beiden Augen ziehen blau- bzw. rotfarbene Trä-

nenspuren quer durch das Gesicht. Am linken Bildrand, direkt im

Blickfeld der leidenden Frau, wird eine Gebäudewand mit blauem

Fenster und gelber Strichelung als Hinweis auf ein Feuer sichtbar.

Das Bild vermittelt wiederum (wie die Gesichter in den Abbildun-

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gen 12a und b) den Eindruck der Resignation, der Verwirrtheit

bis hin zum Erbrechen.

Offenbar versuchsweise skizzierte Picasso am gleichen Tag

auch einen klagenden Mann mit der Pathos-Geste der erhobe-

nen Hände und dem nach oben hin offenen Mund mit spitzer

Zunge (Abb. 12d). Auch in diesem Bild wird die Verwirrtheit vor

allem durch Bart- und Achselhaare und vielfache Tränenspuren

im Gesicht wiedergegeben. Möglicherweise ist diese Skizze als

Ersatz für die »Fallende Frau« in Guernica gedacht gewesen. Die

Zeichnung vermittelt die intensive Klage eines Mannes und nicht

so sehr seine Resignation, die für den Ausdruck der drei anderen

Bilder des gleichen Tages prägend ist. Das Motiv eines klagen-

den Mannes schien Picasso offensichtlich weder für das Gemäl-

de Guernica passend, noch unternahm er diesbezüglich innerhalb

der Serie weitere Versuche.

In der Zeit vom 31. Mai bis zum 3.  Juni 1937 produziert Pi-

casso eine 3. Bildgruppe bestehend aus vier nahezu quadrati-

schen Blättern von gleicher Größe, die eine ähnliche Struktur

und Farbgebung aufweisen (Abb. 13) und durch eine gewisse

Ähnlichkeit mit der Kopfkontur des Gesichtes in Abbildung 7d

auffallen. Auf allen diesen Zeichnungen, teils mit Gouache, teils

mit Farbstiften bearbeitet, findet sich ein nahezu kreisförmiger

Kopf mit geöffnetem Mund, aus dem eine spitze, lanzettförmige

Zunge herausgestreckt ist, wobei das Profil und der Mund in al-

len Zeichnungen dieser Gruppe in Richtung rechts oben gestellt

ist. Die Kopfkontur ist mit einer feinen schwarzen Linie vorge-

zeichnet, die teils farbig übermalt wurde. In allen Zeichnungen

liegt der Kopf wie ein Kreis auf einer horizontalen, leicht bogen-

förmigen karierten Fläche, die die Schultern darstellen könnten,

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Abbbildung 13

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ohne Hals als Übergang. Die Augen sind tropfenförmig, und in

den Bildern 13b–c seltsam spiralig, wie aus dem Kopf herausge-

dreht. Bogenförmige Tränenstraßen sind ausschließlich in den

Bildern 13a und b vorhanden. Vogelfederähnlich sind die Augen-

brauen angelegt (Abb. 13b, c), seltsam fächerförmig die Wimpern

(Abb. 13b–d).

Die Bilder in Abbildung 13c und d haben einen hellen, weißen

Hintergrund und sind nur fleckförmig – ohne Berücksichtigung

der vorgegebenen linearen Strukturen – mit den Primärfarben

Gelb-Rot-Blau-Grün durch Farbstifte koloriert. Demgegenüber

ist in den Zeichnungen 13a und b der ganze Hintergrund un-

terschiedlich intensiv blaufarben, wobei sich auch hier die Farb-

grenzen nicht an die vorgegebenen linearen Strukturen halten.

Bei allen vier Bildern sind die Haare auffällig, die ausgesprochen

schütter sind und wie abgelöste Stacheln aussehen. Auf Bild 13a

sind durch Übermalung im Hintergrund des Kopfes zusätzlich

noch brennende Häuser und im Scheitelbereich des Kopfes, wie

um Hilfe rufend, fünf Fingerendglieder zu sehen. Quer durch das

obere Gesichtsdrittel zieht sich ein breiter gelber Streifen, der

offenbar vom brennenden Haus im Hintergrund ausgeht. Fleck-

förmiges Rot ist in dem überwiegend blaufarbenen Gesicht ver-

teilt. Diese Zeichnung ist außerdem von – allerdings unklaren –

geradlinigen, dicken blauen Linien durchzogen. Die Gesichter

auf allen diesen Bildern sind wie Masken. Fragt man nach den

Emotionen, dann drücken sie wiederum verzweifelte Resignati-

on aus. Wie Palau (2011) richtig beschreibt, wirken die runden

Köpfe aber auch wie rudimentäre Bomben, die umgehend explo-

dieren könnten.

In Struktur und Farbgebung sehr ähnlich, aber mit deutlich

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erkennbarer hilfloser Verzweiflung im Gesicht hatte Picasso be-

reits am 22. Juni 1937 den Kopf einer Frau mit dem Kopf ihres

Kindes vor einem Haus mit Fenster gemalt (Abb. 7d). Dieses Ge-

sicht ist allerdings nach links gerichtet und hat strukturelle und

farbliche Ähnlichkeit mit Abbildung 12c. Im Gegensatz zu den

Bildern der 3. Bildgruppe trägt diese Frau ein grünes Tuch als

Kopfbedeckung. Der Übergang vom Rumpf zum Kopf erfolgt hier

durch einen relativ langen Hals, wobei in der Kinn-Hals-Nische

der Kopf des Kindes gelegen ist. Schließlich sind eine Hand der

Mutter und beide Hände des Kindes sichtbar. Die Augen der

Mutter liegen relativ weit voneinander entfernt, haben keine

spiralige Struktur und sind durch eine schräg verlaufende Linie,

die den Nasenrücken darstellt, voneinander getrennt. Erkennbar

aber wird die nahezu animalische Liebe der Mutter zum Kind,

die der Mutter die Kraft ermöglicht, lauthals zu klagen und an-

zuklagen.

Anfang des Monats Juli (7. bis 8. Juli 1937) füllte Picasso zu-

nächst die noch offenen Felder in der Radierung Traum und Lüge

Francos und entwickelte damit eine eigene Gruppe an Bildern,

wobei er alle vier Felder dem Motiv der trauernden bzw. verzwei-

felten Frau widmete. Auf drei der Radierungen sind neben der

Frau auch tote Kinder abgebildet (vgl. Abb. 9), nur einmal, im 15.

Feld der Radierung, wird auch ein isolierter Frauenkopf mit Trä-

nenspuren dargestellt (Abb. 14a). In dieser Radierung finden sich

u. a. die Motive der wirren Haare, des offenen Mundes mit her-

ausgestreckter Zunge und der hier schlangenförmig durch das

Gesicht laufenden und sich überkreuzenden Tränenspuren sowie

zusätzlich zwei Hände, flehend gen Himmel gerichtet. Das Wei-

nen steht in diesem Feld der Radierung im Vordergrund, zusam-

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Abbbildung 14

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men mit der Klage und der großen Verzweiflung, Emotionen, die

mitunter auch die anderen drei nachgeholten Radierungen die-

ser Tafeln bestimmen (Abb. 9).

Picasso schrieb offenbar in der Zeit vom 15. bis 18. Juni 1937

zu den Radierungen Traum und Lüge Francos einen handschriftlich

vorliegenden Text. Das Prosa-Gedicht versah er am Ende mit der

kleinen, farbigen Zeichnung eines Frauenkopfes als »Weinende«

(Abb. 14b). Der Kopf befindet sich in Rückenlage, das Gesicht

mit offenem Mund und tränenden, tropfenförmigen Augen nach

oben gerichtet. Die Farbflächen mittels Kreide sind überwiegend

außerhalb des Gesichtes vorhanden: Grün, Gelb, Rot, während

das Gesicht nahezu frei von Farbe und detaillierter Struktur ist.

Nur die Augenbrauen und die Haare sind rot gefärbt. Es wird die

Klage einer hilflos Verzweifelten dargestellt.

Als 4. Bildgruppe lassen sich drei Zeichnungen zusammenfas-

sen, die am 8. bzw. 13. Juni 1937 entstanden sind (Abb. 15). Die

Zeichnungen sind untereinander bezüglich Größe, Struktur und

Farbgebung sehr ähnlich. Eine Zeichnung ist ausschließlich line-

ar und ohne Farbe (Abb. 15a), während die anderen zwei Zeich-

nungen diskret farbig angelegt sind und hierin Ähnlichkeit mit

den Bildern der 3. Bildgruppe aufweisen.

Die Gesichter hingegen unterscheiden sich signifikant: Sie

sind längs gestellt, das Halbprofil ist nach links gerichtet. Der

Mund ist wiederum angedeutet plastisch geformt, die Gesichts-

strukturen eher flach, jedoch mit einem linear gezeichneten

Jochbein durchsetzt und von nur wenigen Tränenspuren durch-

zogen. Der Mund ist verzweifelt geöffnet und zeigt die Zähne der

äußeren linken Zahnreihe. Die Zunge befindet sich am Mundbo-

den, die Mundwinkel sind tief nach unten gezogen. Die Pupillen

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sind durch sich überkreuzende Strichelung dunkel und wirken in

Abb. 15c wie Löcher. Dadurch bekommt dieses Gesicht eine grö-

ßere Intensität des Ausdrucks der Verzweiflung. Die Farbe Blau

dominiert, wobei zusätzlich noch Rot und Orange-Gelb hinzu-

kommt, Farben, die im Gesicht nur fleckförmig strukturübergrei-

fend eingesetzt wurden. Die Physiognomie drückt vor allem eine

maßlose Traurigkeit aus, zusammen mit Resignation und Passi-

vität.

Zu einer 5. Bildgruppe können drei Zeichnungen (Abb. 16)

zusammengefasst werden, wobei allerdings zwei der Zeichnungen

(Abb. 16b, c) nicht auf den Tag genau datiert sind, nur das Jahr

1937 ist bekannt. Alle drei Zeichnungen sind mit schwarzer Krei-

de erstellt. Der Hintergrund ist jeweils schwarz. Sie alle sind ge-

kennzeichnet durch eine deutliche mimische Aggressivität.

Zu dieser Gruppe gehört ein kleines Bild vom 19. Juni 1937

(Abb. 16a). Es handelt sich um ein Gesicht mit Schultern und

Hals bei tiefschwarzem Hintergrund. Auf den quer gestellten

Schultern sitzt in dem längs gezeichneten Bild ein langer Hals,

der zu dem quer gestellten Kopf einer Frau führt. Das Gesicht ist

nach oben gerichtet, mit offenem, schreiendem Mund, aus dem

die spitze Zunge gen Himmel gestreckt ist. Am linken Bildrand

findet sich ein vergittertes Fenster. Die schwarzen langen Haare

fallen bis auf die Schultern. Betont auf dem Bild sind nur die

Augen und der Mund, so dass das Gesicht aus diesen beiden Par-

tien zu bestehen scheint. Die Augen sind groß und wie Spinnen

strukturiert. Der Mund ist plastisch ausgeformt. Geradlinige Trä-

nenspuren durchqueren das Gesicht diagonal. Das Gesicht klagt

verzweifelt an.

Eine gewisse Ähnlichkeit im Ausdruck und der Darstellungs-

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weise zeigen auch die zwei undatierten Zeichnungen aus dem

Jahr 1937 (Abb. 16b, c). Beide Zeichnungen haben einen über-

wiegend schwarzen Hintergrund. Die Halbprofile sind nach links

gerichtet, zentraler Blickpunkt ist jeweils der im Profil dargestell-

te offene Mund mit freiliegenden Zähnen. Im Bild 16b ist der

Mund nahezu kreisförmig, wobei die Vorderzähne von Ober- und

Unterkiefer sich wie zum Biss berühren. Vor dem Gebiss aber

findet sich ein schwarzer großer Knopf, der entsprechend Picas-

sos Ikonografie einen Fensterknopf darstellen könnte. Es scheint,

als würde die Frau aus Verzweiflung in ihn hineinbeißen. Diese

Zeichnung ist im Übrigen an Einfachheit nicht zu überbieten:

Doppellinien, die den unregelmäßig konturierten, flachen Kopf

abgrenzen, zwei knopfartige Kreise als Augen und längs gestri-

chelte schwarze, schulterlange Haare neben dem kreisförmigen

Mund. Trotz der Einfachheit der Struktur ist die emotionale Aus-

sage evident: Das Gesicht drückt neben der Aggressivität zusätz-

lich eine hilflose Verzweiflung aus.

Ein kreisförmiger Mund besteht auch in der dritten Zeich-

nung (Abb. 16c), die ein nahezu klassisches Profil darstellt. Es

wird eine Frau mit aggressiver, spitzer Nase und frei stehenden

Zähnen im offenen, angedeutet dreidimensionalen Mund wieder-

gegeben. Ihre Augen sind schwarz umrandet und weisen beider-

seits spitz zulaufende Augenwinkel auf. Der Mund scheint zum

Biss (oder zum Schrei?) entschlossen. Sowohl der Mund als auch

die spitz zulaufende Nase und die spitzen Augenwinkel machen

den Zustand der Aggressivität deutlich. Es ist eine ungeheure

Verzweiflung erkennbar, die in Aggressivität umgeschlagen ist.

Bei den beiden zuletzt beschriebenen Bildern stellt sich na-

turgemäß die Frage, ob sie überhaupt zur hier beschriebenen

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Bildserie gehören, da die Frauen nicht weinen. Beide Bilder fallen

aus der übrigen Bildproduktion Picassos im Jahre 1937 vollstän-

dig heraus, so dass es sich am ehesten um emotionale Varianten

der »verzweifelten Frau« unter Betonung von Aggressivität han-

deln dürfte.

In einer 7. Bildgruppe vom 22. Juni 1937 handelt es sich um

zwei lineare Schwarzweiß-Zeichnungen (Abb. 17a, b) und um zwei

Ölgemälde (Abb. 17c, d), wobei die Schwarzweiß-Zeichnungen

offenbar vorbereitende Skizzen für die Gemälde des gleichen Ta-

ges darstellen. Die gemeinsamen Merkmale dieser vier Bilder

sind: längs gestellte längliche Köpfe mit Hals und Schultern, das

Gesicht nach links gerichtet, ein Tränentuch, das hier erstmals

als neu eingeführtes Motiv erscheint, und das offenbar mit der

rechten Hand an die rechte Gesichtshälfte gehalten wird. Die lin-

ke Hand begrenzt das Gesicht nach unten in halbkreisförmiger,

bootähnlicher Struktur mit extrem spitz zulaufenden, nach links

gerichteten Fingernägeln. Die Augen sind wiederum tropfenför-

mig mit in Gruppen getrennten Wimpern und sternartigen Pupil-

len. Vom linken Auge gehen jeweils zwei geradlinige Tränenspu-

ren aus. Lange, strähnige Haare reichen bis an die Schultern.

Die zwei farbigen Gemälde mit ähnlichem Motiv haben ei-

nen homogenen schwarzen Hintergrund. Das Bild in Abbil-

dung 17c zeigt orangefarbene Schultern und ein blau-grün ge-

färbtes, aber grau wirkendes Gesicht mit rosafarbenen Wangen

und blau-schwarzen Haaren. Die Farbwirkung entspricht einem

todesähnlichen Zustand. Diese Wirkung wird im zweiten Gemäl-

de noch gesteigert (Abb. 17d), da hier außer dem blau-grauen

Gesicht nur ein blasses, gedecktes Grün der Schulterbekleidung

besteht. Mit dieser Farbgebung wird die Todesnähe der Frau ver-

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Abbbildung 17

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deutlicht. Das neue Motiv eines Tuches, das in den folgenden

Bildern nahezu regelmäßig vorhanden ist, agiert hier als zusätz-

liches gestisches Motiv, das besänftigend wirkt. In der gesamten

Bildserie tritt nur in dieser Bildgruppe eine nahezu vollständi-

ge linke Hand in Erscheinung, deren Fingernägel spitz zulaufen

und aggressiv bzw. wie eine Schere oder anders geartete Waffe

erscheinen. Zusammenfassend wird auf den Bildern eine tiefe,

verzweifelte Traurigkeit verdeutlicht, wobei die spitz zulaufenden

Fingernägel eine zusätzliche aggressive Komponente bilden.

Eine eigene Gruppe (8. Bildgruppe) bilden zwei Bilder

(Abb. 18) vom 26. Juni 1937. Beide Werke sind überwiegend durch

runde Gesichtsstrukturen ohne Ecken oder Spitzen charakteri-

siert. Man vermeint geradezu das Schluchzen zu hören, so deut-

lich ist hier die Trauer zum Ausdruck gebracht. In Abbildung 18a

ist der Mund weit geöffnet, was einen tiefen Blick in die Mund-

höhle erlaubt. Die Zunge liegt am Mundboden, die Lippen sind

nach außen gestülpt. Die Blickrichtung der Augen der Frau ist

nach links oben orientiert; die Augen selbst liegen weit ausein-

ander, sie sind sternförmig durchkreuzt. Von hier gehen Trä-

nenspuren aus, die das Gesicht durchtrennen. Diese und die

schwarzen Haare tragen dazu bei, den Zustand der Verwirrtheit

zu verdeutlichen. Das Gesicht ist wiederum durch eine diskrete,

blau-graue Farbigkeit und angedeutete Tränenspuren charakteri-

siert. Der Hintergrund des Bildes ist zu einem Drittel grau bis

schwarz gefärbt.

In Abbildung 18b ist der Blick der Frau ebenso nach links,

aber nach unten gerichtet. In der rechten Hand – hinter dem

Gesicht – befindet sich ein (abgerundetes) Taschentuch zum Ab-

wischen der Tränen. Der Hintergrund des Bildes ist total schwarz.

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Abbbildung 18

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Das Gesicht ist fahl-grün und wirkt durch die Tränenspuren zer-

rissen bzw. vollständig in Auflösung begriffen. Ausschließlich die

Wangen und die Nasenspitze sind fleckförmig rot gefärbt. Der

Kopf ist mit einem karierten Kopftuch, der spanischen Mantilla,

bedeckt. Die Finger der linken Hand befinden sich fächerförmig

am unteren Bildrand. In beiden Bildern, so unterschiedlich sie

in ihrer Struktur und Farbe sind, ist eine resignierte Traurigkeit,

eine Introversion erkennbar, ein In-sich-Hineinweinen.

Die 9. Bildgruppe besteht aus 7 Einzelbildern, die in den Ab-

bildungen 19 und 20 zusammengefasst wurden und stammen aus

der Zeit 26. 6. bis 16. 7. 1937. Die Bilder sind alle farblos und ha-

ben gewisse Ähnlichkeiten in der grausamen Gesichtszerstörung.

Bei Abbildung 19a handelt es sich um eine sehr große Ra-

dierung (72,3 × 49,3 cm) vom 2. Juli 1937. Diese Radierung ist al-

lerdings besonders erschreckend: Der Mund ist mit abgesenkten

Mundwinkeln zum Weinen geöffnet, die Augen sind in die tiefen

Augenhöhlen zurückgefallen, ein Taschentuch wird in Richtung

der linken Gesichtshälfte gehalten und bildet damit einen dunk-

len Grund hinter dem bereits dunklen Gesichtsprofil. Das Tuch

wird von der linken Hand gehalten, von der drei Finger mit spitz

zulaufenden Fingernägeln am unteren Tuchrand sichtbar werden,

während am Bildvorderrand die kurzgeschnittenen Nägel von

fünf Fingern der rechten Hand fächerförmig drapiert sind. Der

Kopf ist nach rechts unten geneigt, wobei das Gesicht nicht nur

maßlos traurig, sondern verzweifelt und in sich gekehrt ist, dabei

jedoch in keiner Weise anklagend wirkt.

Das gemeinsame Merkmal der übrigen sechs abgebildeten

Frauen ist ein Taschentuch, auf das die Frauen verzweifelt beißen,

wodurch in diesem Fall eine gewisse Ähnlichkeit der dargestell-

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Abbbildung 19

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ten Emotionen entsteht. Die Bilder stammen aus der Zeit vom

26. Juni bis 16.  Juli 1937. Die Gesichter der Frauen sind in un-

terschiedliche Richtungen gewendet. Die Köpfe sind teilweise in

einem schmalen Kasten gefangen (Abb. 19b, d, 20a), während auf

zwei anderen Bildern (19c, 20c) der Hintergrund homogen, über-

wiegend schwarz dargestellt ist. Jedes Bild stellt durch den Biss

auf das Tuch einerseits die noch vorhandene Kraft zum Wider-

stand und zum Überleben der Frauen dar, andererseits aber auch

die verzweifelte Hilflosigkeit. Dabei erzeugen die Bilder eine je-

weils eigene Wirkung und geben so Nuancen der psychischen

Veränderungen wieder.

Dabei ist das Gesicht in Abbildung 19d besonders furchter-

regend. Hier wirken die Augen wie ausgestanzte schwarze Löcher

und die tiefschwarzen Wimpern wie Schmauchspuren nach einer

Schussverletzung. Ebenso erschreckend ist das Bild in Abbildung

20a, das am 16. Juli 1937 entstand. Picasso wandte hier auf be-

lichtetem und entwickeltem (schwarzem) Film eine bestimmte

Ritztechnik an. Das Motiv erscheint so in schwarz-weiß. Picas-

sos Geliebte Dora Maar, selbst Fotografin, brachte ihm die Vor-

gehensweise bei. Die Frau auf dem Bild befindet sich in einem

Kasten, blickt nach links und beißt auf ein Tuch, das allerdings

in diesem Fall eher wie ein Knebel aussieht und den Eindruck

erweckt, dass die Frau an ihrem Leid erstickt.

Die zwei sehr ähnlichen Bilder in den Abbildungen 20b und

20c zeigen das deutlich geformte Gesicht einer Frau mit Kopf-

tuch, die ein klassisches Profil aufweist. Vor allem in Abbildung

20b mit tiefschwarzem Hintergrund ist die Verzweiflung deutlich

ausgeprägt, die hier – wie auf allen Bildern mit Biss auf das Ta-

schentuch – in Aggressivität überzugehen scheint.

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Picassos Sommerurlaub

Im August und September zieht Picasso mit Dora Maar nach

Mougins, wo er schon im Vorjahr gewesen war, und trifft sich

dort mit Freunden, vor allem mit dem Ehepaar Éluard. Während

der Ferien ist Picasso aktiv und malt viel, nahezu ausschließlich

Frauenportraits. Bevorzugte Modelle sind Dora Maar und Nusch

Éluard. Während dieser offenbar sehr glücklichen Zeit sind far-

benprächtige Bilder mit phantasievollen Variationen von Ge-

sichtern und Kleidungsstücken entstanden, die eine entspannte

und fröhliche Ferienzeit wiedergeben. In dieser Zeit scheinen

die Sujets »Guernica«, »Spanien« und die »Verzweifelte Frau« wie

vergessen.

Phase II: Bilder nach dem Sommerurlaub (12. Oktober 1937

bis Ende 1937)

Nach der Rückkehr aus dem Urlaub und zurück in Paris sind die

alten Probleme wieder präsent und der Spanische Bürgerkrieg

holt Picasso ein. Inzwischen ist das ganze Baskenland durch die

Faschisten besetzt und das Entsetzen über die Vorkommnisse ist

größer denn je.

Am 6. Oktober 1937 fertigt er eine Zeichnung an, die das Pro-

blem der »Verzweifelten Frau« auf eine ganz andere Ebene stellt.

Die neu sichtbaren humorigen Elemente verraten einen gewissen

Abstand des Malers zum Thema. Dies bedeutet aber auch, dass es

ihm weiterhin darum ging, Form- und Ausdrucksvariationen ei-

ner verzweifelten Frau darzustellen. Zusammen mit einer anderen,

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undatierten kleinen Skizze sollte dies die 10. Bildgruppe (Abb. 21)

darstellen.

In Bild 21a vom 6. 10. 1937 wird der Kopf einer weinenden

Frau mit halbkreisförmigem, weit geöffnetem Mund und daraus

hervorgestrecktem Pfeil als Zungenäquivalent gezeichnet. Durch

eine ebenfalls halbkreisförmige Linie sind die tropfenförmigen

Augen miteinander verbunden, zwei Tränenstraßen durchziehen

das Gesicht und strichförmige Haare finden sich am Hinterkopf.

Dabei ist der Kopf auf eine Leiter gesetzt, die auf Rädern rollt.

Mit dieser Zusammenstellung einzelner Motive aus der Serie

macht sich Picasso offenbar lustig über seine eigenen Bild erfin-

dungen.

Eine weitere, undatierte Bleistiftzeichnung eines Frauenge-

sichtes auf einer Streichholzschachtel aus dem Jahre 1937 zeigt

eine andere Perspektive. In dieser Zeichnung (Abb. 21b) steht

offenbar die Wiedergabe der physiognomischen Veränderungen

im Gesicht nicht im Vordergrund, sondern die Wiedergabe von

linear-rhythmischen Strukturen. Es handelt sich um ein rechts-

gerichtetes Halbprofil mit halbkreisartig weit offenem, räumlich

dargestelltem Mund und lanzettförmiger, herausgestreckter Zun-

ge sowie blattähnlichen Gebilden an Ober- und Unterlippe. Ge-

genläufig zu diesem Halbkreis ist ein offener zweiter Halbkreis

vorhanden, der linear beide Augen miteinander verbindet. Wie-

derum gegenläufig bilden zwei Halbkreise die obere und hintere

Kopfbegrenzung mit einer mittleren Einkerbung, aus der heraus

vier Haare wachsen, die in die linke obere Bild ecke reichen. Das

Bild ist eine weitere Variation des Generalthemas, allerdings

ohne bewegenden emotionellen Anspruch. Es existieren noch

weitere derartige Skizzen, teilweise auf Streichholzschachteln

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Abbbildung 21

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(Abb. 21c–f) (10), auf deren detaillierte Beschreibung hier jedoch

verzichtet wird.

Hingegen wirken die ernstzunehmenden Bilder der verzwei-

felten Frau nach dem Urlaub noch erschreckender als die vor

dem Urlaub gefertigten. Am 12. und 13. Oktober 1937 entstan-

den die wohl grauenvollsten Bilder der Serie (Abb. 22), die hier

zur 11. Bildgruppe zusammengefasst wurden. Die Zeichnung in

Abbildung 22a stellt die Vorzeichnung zum Gemälde in Abbil-

dung 22b dar und wirkt noch nicht ganz so furchtbar wie das

endgültige Gemälde, obwohl es mit 90,1 × 58,4 cm extrem groß

ist. Am auffälligsten sind in beiden Bildern wiederum Augen und

Mund. Besonders in Abbildung 22b sind die Augen aus dem Ge-

sicht herausgelöst, die Augäpfel schwimmen in bootähnlichen

Schüsseln. Das Gesicht ist durch Hell-Dunkel-Variationen plas-

tisch ausgestaltet, wirkt insgesamt verwirrend mit Bergen und

Tälern und ist vollkommen in Auflösung begriffen. Die Tränen

fließen kaskadenähnlich wie ein Wasserfall über das Jochbein.

Der Mund ist weit geöffnet, die abgerundete Zunge bei freilie-

genden Zähnen wie beim Erbrechen ausgestreckt. Die Lippen

sind wulstig nach außen gestülpt, die Nase ist übergroß und ani-

malisch mit riesigen Nasenöffnungen versehen, die nach rechts

oben gerichtet sind. Hinter dem nach rechts gewendeten Halb-

profil befindet sich im Gemälde ein großes Taschentuch, das im

Kontrast zum durch Rundungen geformten Gesicht mit geradli-

nigen Falten wie ein aufgespanntes Zirkuszelt auf die Fingerkup-

pen der linken Hand gespannt ist, das über die obere Kopfbe-

grenzung hinaus läuft. Der Hintergrund des Gemäldes ist tief-

schwarz. Das Gesicht einschließlich Tuch ist blass-blau gefärbt

und die einzige Farbe im Bild. Es entsteht der Eindruck eines

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nach Außen gewendeten Inneren, vergleichbar mit sichtbar ge-

wordenen Eingeweiden. Deformierende Verdrehungen verwan-

deln den Kopf in einen vollständig zerquälten Formenkomplex.

Die vier Bilder in Abbildung 23, die in der Zeit vom 17. bis

24. Oktober 1937 entstanden sind, werden als 12. Bildgruppe zu-

sammengefasst. Es handelt sich durchgehend um farbige Ölbil-

der auf Leinwand, die alle durch die gleiche rechtsgewendete

Blickrichtung, die Benutzung eines Tränen- bzw. Taschentuches

und sichtbare Hände gekennzeichnet sind. Die Gesichter sind

durchgehend von resignativer Verzweiflung gezeichnet, ohne

Klage oder Anklage. Während Picasso die Bilder 23a und b in

kubistisch-flächenhaftem Stil gemalt hat, sind die Bilder in den

Abbildungen 23c und d in linearer Struktur wiedergegeben.

Während die Frau mit der Mantilla (Abb. 23a) – als Spanierin aus-

gewiesen – auf das Taschentuch beißt und mit der linken Hand

daran zerrt, wird auf den übrigen Bildern das Tuch nur zum Ab-

trocknen der Tränen benutzt. Im gleichen Bild (Abb. 23a) werden

die Hände als zusätzliches psychologisches Motiv eingesetzt: Die

rechte Hand steht mittig unter dem Gesicht, ist auf den Betrach-

ter gerichtet, der durch die Frau mit der Hand abgewiesen wird;

die linke Hand ist mit dem Taschentuch verknotet, auf das die

Frau beißt und an dem sie zieht, wodurch ihre innere Spannung

verdeutlicht wird.

Besonders die Mundstruktur, so unterschiedlich sie auch

dargestellt wird, ist in diesen Bildern prägend für den Eindruck

der Resignation. Der Mundwinkel ist leicht nach unten gezogen,

der Mund ist spaltförmig geöffnet. Der Mund ist im Profil bir-

nenförmig durchsichtig und bekommt dadurch einen deutlichen

Ausdruck der Traurigkeit, der in Abb. 23d noch durch die eng

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Abbbildung 23

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beieinader liegenden Augen verstärkt wird. Die Augenbrauen

in den Bildern 23a und b haben wiederum eine bogenähnliche

Form, sind in die Stirn gezogen und erinnern an Vogelfedern. Von

den Augen gehen einzelne Tränenlinien aus. Die Augen sind in

Abb. 23a und b aus den Augenhöhlen herausgelöst und schwim-

men, wie schon in einigen Vorstudien, in bootsähnlichen Schüs-

seln. Die Pupillen kommunizieren miteinander und sind jeweils

nach innen gerichtet. Die Augen in Abbildung 23b bestimmen

das Bild: Sie sind als markante ideografische Bezeichnung für

Verzweiflung und Trauer in keilartige schwarzbraune Schatten

eingefasst (12). Demgegenüber sind die Augen in Abbildung 23c

flächig in die gleiche netzartige, feinlinierte Binnenstruktur ein-

gebettet, die auch das graue bis schwarze Gesicht bestimmt. In

Abbildung 23d hingegen sind die Augen nur durch einen kleinen,

stecknadelgroßen Kreis charakterisiert, wobei ein Punkt im Zen-

trum die Pupille darstellt. Farblich ist Abbildung 23a gelb betont,

mit braunem Rumpf und orange-violettem Kopftuch, während in

Abbildung 23b grün vorherrscht, das durch das Rosa der Wangen

und Lippen kontrastiert wird. In Abbildung 23c herrschen die

Farben Violett, Weiß und Schwarz vor, während Abbildung 23d

durch die Farbe Grau bestimmt wird, das sich vom schmutzigen

Gelb im Hintergrund und gedecktem Grün auf Höhe der Schul-

tern absetzt.

Das Bild in Abbildung 23c ist stilistisch und emotional be-

sonders überraschend. Bei homogenem violettem Hintergrund

und grauem Gesicht fällt vor allem das kontrastierende schnee-

weiße Taschentuch auf, das als großes Dreieck – wie ein Segel –

das Blickzentrum des Bildes bestimmt und über die grau-weißen

Hände den Blick zum Gesicht führt. Das Gesicht selbst ist von ei-

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nem Netzwerk feiner Linien durchzogen, innerhalb dessen pikto-

grammartig Augen, Nasenöffnungen, Mund und Jochbein durch

breite schwarze Linien abgegrenzt sind. Der flache Kopf wirkt wie

skelettiert, beinah geisterhaft. Die vom Körper losgelösten Hän-

de halten das weiße Taschentuch wie eine Trophäe. Das Bild er-

weckt Assoziationen mit Zerfall, Verwesung und Todesverweisen,

betont durch das Violett des Hintergrundes und das kontrastie-

rend weiße, dreieckige Taschentuch. Daix (1993) geht davon aus,

dass dieses Bild durch Picassos Besuch bei Paul Klee im Jahr 1937

beeinflusst worden ist.

Das Bild in Abbildung 23d ist der Abbildung 23c trotz der

reinlinearen Struktur sehr ähnlich, unterscheidet sich vor allem

in der Farbgebung allerdings deutlich: Das Gesicht ist zwar eben-

so grau, der Hintergrund aber wässrig grau-gelb, die Haare dun-

kel-grau und der Rumpf grünlich. Auch auf diesem Bild liegt das

weiße, dreieckige Tuch im Blickzentrum, allerdings bei deutlich

geringerem Kontrast zum Hintergrund. Das Bild wirkt insgesamt

morbide und kraftlos.

In allen vier Bildern entsteht durchgehend der Eindruck ei-

ner unüberwindbaren Verzweiflung und endgültigen Resignation,

die vor allem in den Abbildungen 23c und d in einen todesähnli-

chen Zustand zu führen scheinen.

Am 22. Oktober 1937 folgt ein Einzelbild (Abb. 24), das keiner

Gruppe zuzuordnen ist. Es entstand mithilfe der bereits beschrie-

benen Ritz- bzw. Kratz-Technik am belichteten und entwickelten

Film und ist entsprechend schwarz-weiß, wobei ein Frauenkopf

im Profil nach links gegen eine schwarze Hauswand mit Fenster

gewendet ist. Der Mund ist leicht geöffnet, die in Schüsseln

schwimmenden Augen tränen in Form von ausgesprochen dicken

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Abbbildung 24

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Tränenspuren, das Haar ist tiefschwarz wie die Hauswand. Das

Bild zeigt eine in tiefster Depression verlorene, unendlich trauri-

ge Frau ohne jegliche Zukunft, die in der Dunkelheit ihres seeli-

schen Zustandes wie gefangen wirkt.

Zwei Gemälde bilden die Bildgruppe 13 (Abb. 25) und sind

der vorläufige Abschluss der Bildserie. Sie entstanden am 26. und

28. Oktober 1937 und stellen offenbar den Versuch Picassos dar,

in Form einer Bild-Synthese die erarbeiteten einzelnen Motive

einzuarbeiten. Dies gelang ihm nicht in einem einzigen Bild,

doch in diesen zwei deutlich gegensätzlichen Bildern ist das Vor-

haben zweifelsohne geglückt.

Die Weinende mit rotem Hut (Bild 25a) ist durch eine extrem

dissonante und aggressive Farbigkeit gekennzeichnet und fällt

damit eigentlich aus der ganzen Serie heraus. Stilistisch hält sich

das Bild an den analytischen Kubismus mit überwiegend geo-

metrischen Strukturen, die das Gesicht regelrecht zerfurchen.

Dargestellt wird ein Halbprofil, das nach rechts gerichtet ist. Die

Frau beißt auf ein Tuch bei geschlossener, aber sichtbarer Zahn-

reihe, wobei sie mit zwei sich mit dem Gesicht überschneidenden

Händen am Tuch zerrt. Die Hände wie auch das Tuch sind mit

dem Gesicht durch ein lineares Netzwerk verbunden. Den Hin-

tergrund bildet eine längsgestreifte Wand von gelb-oranger Far-

be, einer braunen Fußleiste und einem roten Fußboden. Die hell-

blaue, gesichtszentrale Region ist geradlinig begrenzt und bildet

von beiden Augen ausgehend nahezu ein Sechseck. Dieses dehnt

sich nach unten hin bis in den Halsbereich aus. Zusammen mit

der blass-blauen bis weißen Farbgebung des Gesichtszentrums

bekommt man den Eindruck eines Gesichtsskeletts. Die blass-

blaue Farbe geht auch auf das Tuch und die das Tuch haltenden

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Abbbildung 25

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Hände über. In Längsrichtung ist das Gesicht durchquert von

tiefblauen, linearen Tränenspuren, die das mittlere und untere

Drittel des Gesichtes in zahlreiche kleine Felder zergliedern. Um

dieses hellblaue Sechseck herum sind grelle Primärfarben ver-

teilt: Grün und Gelb im vorderen, unteren Gesichtsanteil, blau-

schwarze Haare und roter Hut mit tiefblauer Blume im oberen

und hinteren Kopfbereich. Die Augen sind oval-flächig und lie-

gen wiederum in schiffchenartigen Schüsseln, die Pupillen sind

sternförmig, wobei das rechte Auge, auf den Betrachter blickend,

etwas nach unten versetzt liegt. Die Wimpern verlaufen unter

Aussparung der inneren Augenbegrenzungen radiär, die Nase ist

in den unteren blau-farbigen Gesichtsblock mit einbezogen und

eher unauffällig. Das Gesicht wirkt vital und aggressiv in ihrer

Trauer.

Der Kontrast zwischen Blickzentrum und Bildperipherie ist

offenbar bewusst angestrebt, wodurch der Betrachter hin- und

hergerissen wird. Er blickt primär auf das Gesichtszentrum, das

farbneutral blassblau ist. Der Blick des Bildbetrachters wird

durch die Farben immer wieder in die Peripherie abgeleitet (13).

In diesem Zusammenhang zitiert Ullmann (1993) Picasso: »Ich

möchte den Geist in eine ihm ungewohnte Richtung lenken, ihn

aufwecken. Ich möchte dem Betrachter etwas enthüllen, was er

ohne mich nicht entdeckt hätte. Meine Absicht ist, die Dinge in

Bewegung zu bringen, diese Bewegung durch widersprüchliche

Spannungen, durch gegnerische Kräfte zu provozieren … « (14).

Das Bild in Abbildung 25a gilt als endgültige formale Lösung

und als eigentlicher Schlusspunkt der Bildserie »Verzweifelte

Frau«. Marero (1953) schildert die emotionale Situation der hier

dargestellten Frau:

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»Picasso malte eine verzweifelte Frau, eine jener Frauen, die

man täglich auf der Straße sieht. Sie trägt einen Modehut und

befindet sich zum Einkauf unterwegs. Man sieht, dass sie sich das

Haar mit Pomade eingerieben hat. Sie zog eine bestickte Bluse

an, und dann ging sie fort. Aber man sieht auch, dass ihr ganzes

Leben jetzt allein aus einem Taschentuch besteht, für die Tränen,

die sie weint. Kein äußerer Anlass, sich so aufzuregen, ist zu er-

kennen, auch keine Krebserkrankung gefährdet sie. Wie Eiszapfen

hängen die Tränen an ihren Wangen. Ihre Augen können nichts

mehr sehen. Wangen und Stirn – ein einziges Bild von Schmerz

und Leid. Die Finger gehorchen ihr nicht mehr. Man möchte mei-

nen, es bleibe ihr nichts mehr als das Taschentuch. Alles andere

ist Verzweiflung ohne einen Lichtstrahl, ohne jegliche Hoffnung.«

Das zweite Bild, das 2 Tage später entstanden ist (Abb. 25b),

gibt mit entgegengesetzten malerischen Mitteln eine etwas mo-

difizierte, aber ähnliche emotionale Situation wieder. Die Farben

sind hier jedoch durchgehend blass und schmutzig, in ak tiv- wäss-

rig. Die Strukturen sind biomorph abgerundet und mit dünnen

schwarzen Linien wiedergegeben, die die Bildstruktur bestim-

men. Farblich gehen Gesicht und Hintergrund ineinander über,

wobei das Profil durch einen schwarzen Schatten gegen den Hin-

tergrund abgegrenzt ist.

Es handelt sich wiederum um ein nach rechts gerichtetes

Halbprofil, jetzt allerdings mit Blick in die rechte obere Bildecke.

Die freiliegenden Zähne der Frau beißen auf ein weißes Tuch, das

mit der linken Hand aus dem Mund gezerrt wird. Die strähni-

gen, leicht rosa gefärbten Haare sind mit einem rötlich-braunen

Tuch bedeckt. Der Oberkörper der Frau steckt in einer hellbraun

gestreiften Oberbekleidung, zu der die rechte Hand mit ihren

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gefächerten, blass grün-grau gefärbten Fingern am unteren Bild-

rand nur einen schwachen Kontrast bildet. Das Gesicht ist von

ebenso blasser grau-gelb-grüner Farbe mit rosa Flecken in der

Augen- und Mundregion, wobei die Farben wie Wasserfarben in-

einander verschwimmen. Die Augen sind deutlich höhenversetzt,

die Augenbulbi treten aus den Augenhöhlen heraus und haben

sternförmige Pupillen. Je eine Tränenspur lässt sich aus jedem

Auge verfolgen. Nur vorsichtig sind durch Strichelung und Farb-

gebung plastische Gesichtsformen angedeutet. Der Hintergrund

ist homogen, von rosa-grauer Farbe. Der Betrachter bekommt den

Eindruck einer unendlich verzweifelten, resignierten und kraftlo-

sen Frau, die nahezu in den Hintergrund zu verschwinden droht.

Mit diesen zwei Bildern ist die Kontinuität der Bildserie un-

terbrochen, aber offenbar nicht beendet, auch wenn diese Bilder,

besonders aber Bild 25a, als Picassos Zusammenfassung der in

der Serie gemachten Bilderfahrungen gilt. Allerdings am 20. No-

vember 1937 malt Picasso eine Frau mit grünem Gesicht und

rechtem Arm (Abb. 26). Es handelt sich jetzt erstmals um eine

Halbfigur mit Schultern, oberer Brustkorbhälfte und mit Darstel-

lung des rechten Armes in einer blau gestreiften Oberkörperbe-

kleidung vor schwarzem Hintergrund. Das Gesicht ist wiederum

im Halbprofil nach rechts oben gewendet. Der rechte Arm hält

ein seltsam spiralig aufgedrehtes Tuch, das bei aufgeworfenen

blauen Lippen zwischen den gelben Zahnreihen eines geschlos-

senen Gebisses verschwindet. Die Augen sind gegeneinander

versetzt und liegen der Gesichtsoberfläche wie Spiegeleier flach

auf. Die Pupillen sind punktförmig mit hellblauer Iris. Sie werden

umgeben von schwarzen und im äußeren Bereich weißen Kreisen,

um die sich Wimpern radiär anordnen. Ein Auge liegt auf Höhe

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Abbbildung 26

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der Nasenwurzel, das andere an einer Stelle, an der man das rech-

te Ohr erwarten würde. Nur vom Auge auf Höhe der Nasenwurzel

gehen zwei geradlinige, mitten in der Wange punktförmig enden-

de Tränenspuren aus. Mittig in der Wange liegt ein relativ scharf

begrenzter gelber kreisförmiger Fleck. Die im Nacken gelegenen

Haare sind streifenförmig und von rosa Farbe. Die am Hinterkopf

gelegenen Haare sind blau mit schwarzen Strähnen, wobei das

Gesicht, vom bereits erwähnten gelben Wangenmal abgesehen,

grün ist. Dieses Bild stellt zwar hinsichtlich des emotionalen Aus-

drucks keine neue Alternative zu den bisherigen Bildern dar, ist

aber strukturell und farblich sicher eine weitere Modifikation,

die im Gegensatz zu den letzten zwei Bildern in ihrer hilflosen

Verzweiflung überwiegend anklagend ist.

Phase III: Bilder mit der Pathos-Formel

Eine beeindruckende und überzeugende Alternative stellt das am

18.  Dezember 1937 entstandene kleine Bild Die Bittstellerin

(Abb. 27a) dar, das mit der vier Tage später entstandenen Zeich-

nung Flehende (Abb. 27b) (16) zu einer eigenen Gruppe zusam-

mengefasst werden kann (Bildgruppe 14). Diese Bilder sind aller-

dings nicht auf das Gesicht beschränkt, vielmehr werden die

Frauen in ganzer Statur dargestellt. Das gemeinsame Merkmal ist

eine neu eingeführte Pathos-Formel: die erhobenen Arme als

Zeichen der Klage, Anklage und Verzweiflung. Im Falle der Figur

in Abbildung 27a zieht zwar das Gesicht als Zentrum den Blick

des Betrachters auf sich, aber die Körperhaltung und Gestik

– und hier besonders die übergroßen Hände – spielen eine be-

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Abbbildung 27

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deutendere Rolle. Im zweiten Bild spielt demgegenüber die Geste

der erhobenen Arme die Hauptrolle, während die Mimik absolut

in den Hintergrund tritt.

Die Bittstellerin ist ein Bild, das stilistisch wiederum dem ana-

lytischen Kubismus nahe steht, mit winkligem Gesicht, geformter

freiliegender rechter Brust und übergroßen, grob gegliederten

Händen. Das Gesicht ist als Halbprofil nach links oben gewen-

det, der Kopf ist mit einem Tuch bedeckt, der Mund geöffnet bei

freiliegenden Zähnen und einer Zunge zwischen den Zahnreihen.

Die Augen sind perspektivisch versetzt dargestellt, regulär in den

Augenhöhlen gelegen, von tropfenähnlicher Form. Der Kopf liegt

im oberen Drittel des Bildes, mittig zwischen den auffällig grob

strukturierten Händen, wodurch das Gesicht ebenso betont ist wie

durch die fleckförmig verteilte rote Farbe, die nur im Gesicht zu se-

hen ist. Der extrem verkürzte Rumpf nimmt die unteren zwei Drittel

der Bildfläche ein, wobei zwar die Füße sichtbar, die Beine jedoch

unter dem Rock versteckt und offenbar auf ein Minimum reduziert

sind. Dargestellt ist das Urbild einer verzweifelten, klagenden Frau.

In Bild 27b handelt es sich um die rein flächenhafte Dar-

stellung einer Frau, die ihre Arme in gleicher Form zum Himmel

erhoben hat und deren beide Brüste frei liegen. In diesem Bild

ist das Gesicht perspektivisch minimiert: Der lange, nach oben

spitz zulaufende Hals endet in einem kleinen Kopf mit nach links

gewendetem, offenem Mund und kleinsten Augen. In diesem Fall

ist – wie in Abbildung 27a – die unbedeckte Brust als Indiz für

ein zu stillendes Kind zu werten.

In keinem dieser Bilder sind allerdings Tränen dargestellt, so

dass Freeman (1994) mit Recht daran zweifelt, ob diese Bilder

der Serie der »Weinenden Frau« zuzurechnen sind. Aber auch in

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den bereits aufgeführten, hier beschriebenen Bildern sind nicht

durchgehend Tränen oder Tränenspuren zu beobachten. Und

schließlich sind diese zwei Bilder vor allem durch die Pathosges-

te miteinander verbunden und erklären sich am ehesten in der

Kontinuität der Serie einer »Verzweifelten Frau«. Denn verzweifelt

sind offenbar auch diese zwei Frauen.

Die Pathosformel ist auch in einem dritten Bild enthalten, ei-

ner Zeichnung. Die Fischerfamilie am Strand (Abb. 27c): Eine Mut-

ter mit nackten Brüsten steht mit erhobenen Armen auf einem

Boot, während am gleichen Ort ein schlafender oder toter Mann

mit gestreckten, rechtwinklig abgewinkelten Armen wie gekreu-

zigt liegt, eine Zeichnung, die u. a. die Assoziation einer säkulari-

sierten Pietà aufkommen lässt.

Im Jahr 1937 soll Picasso die »Verzweifelte Frau« auch als

Skulptur erstellt haben (vgl. Spies, Abb. 28). Es handelt sich um

einen runden Kopf mit einem Gesicht, das in einem Winkel von

ca. 45 Grad nach oben gerichtet ist, ohne Hals, Rumpf oder Hän-

de. Der Mund ist leicht geöffnet, so dass der Eindruck des Wei-

nens entsteht. Doch weder Angst oder Schrecken noch Verzweif-

lung sind erkennbar. Das Gesicht zeigt eine weitgehend ausgegli-

chene Physiognomie. Es ist weder zergliedert noch zerrissen. In

keiner Weise sind die malerischen und zeichnerischen Modifika-

tionen des Ausdrucks vergleichbar mit ihrer Darstellung von Ver-

zweiflung, Angst, Zorn, Klage, Hilflosigkeit, Bitterkeit, Resignati-

on und Depression. So muss bezweifelt werden, ob tatsächlich

dieses Thema den Hintergrund der Skulptur darstellt. Palau

(2011) datiert die Skulptur zudem auf das Jahr 1935, so dass mög-

licherweise Datierung und Titel nicht zutreffend sind.

Stilistische Merkmale des Bildkomplexes »Verzweifelte Frau«

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wie auch von Guernica waren in der Folgezeit typische expressive

Kennzeichen der Malerei Picassos, der Stil seiner späteren Jahre.

Er übernahm aber auch einzelne Motive, die er im Rahmen der

Variationen der »Verzweifelten Frau« erarbeitet hatte. Hier soll nur

auf drei eklatante Beispiele eingegangen werden.

Im Jahre 1939 malte Picasso zahlreiche Portraits von Dora

Maar in unterschiedlichen Stilen und Situationen. Dora Maar

wird in diesen durchaus farbenfrohen Portraitstudien als ernste

Frau dargestellt, als deren Kennzeichen vor allem ihre extra va-

gante Kleidung, insbesondere ihre Hüte und langen Fingernägel

erkennbar werden. Hierunter findet sich ein Bild, das den Titel

Trauernde trägt (Abb. 29). Auf diesem Bild – wie auch auf manchen

anderen – hat Dora Maar eine rüsselartige Nase, einen roten Hut

und – ganz außergewöhnlich – realistische Tränen auf den Wan-

gen. Diese und die traurige Mimik rechtfertigen den Bildtitel.

Dieses Bild aber zeigt in keiner Weise die innerste, existentielle

Betroffenheit des Gesichtes, die alle übrigen Werke der Serie

»Verzweifelte Frau« aufweisen.

In einem Skizzenblock des Jahres 1959 erstellte Picasso Para-

phrasen zum Stierkampf in Assoziation mit der Kreuzigung Chris-

ti (Abb. 30a). In diesem Zusammenhang zeichnete er auch eine

»Mater dolorosa« mit Krone und Tränen (Abb. 30b). Da auch das

Wandgemälde Guernica durch die Motive des Stierkampfes (»Stier

und sterbendes Pferd«) und der Kreuzigung (dreiteiliges Altarbild,

Wiedergabe von Opfern tödlicher Gewalt) bestimmt wird, ist es

naheliegend, in der »Mater dolorosa« des Jahres 1959 ein (anato-

misch nahezu richtiges) realistisch-klassisches Bild einer ver-

zweifelten Frau zu sehen, in dem zumindest die Tränenspuren an

Motive der »Weinenden Frau« erinnern (vgl. Blunt 1969).

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Im Jahre 1962 (Skizzenbuch 62 des Jahrgangs 1962) widmete

sich Picasso mit Zeichnungen der Interpretation des Gemäldes

Raub der Sabinerinnen von Jaques David (Abb. 31a). Er machte

hierzu zahlreiche Vorzeichnungen. Im Skizzenbuch sind mehr-

fach Varianten schmerzverzerrter Gesichter enthalten, die an

Motive der Serie »Verzweifelte Frau« erinnern (Abb. 31c). Aller-

dings wurden die Gesichter weder in gleicher Weise verstümmelt

und zerrissen wie in der hier besprochenen Serie aus dem Jahre

1937, noch wurden vergleichsweise detaillierte Ausdrucksformen

der Emotionen erreicht – sie wurden offenbar auch nicht ange-

strebt (vgl. Abb. 31b). Hier übernahm Picasso das Motiv »Mutter

mit totem Kind« im Gemälde und schuf nach 25 Jahren ganz ähn-

liche Details (Abb. 31b).

Als drittes Beispiel sei das letzte Selbstportrait Picassos aus

dem Jahre 1972 aufgeführt. In das farblich extrem blasse, nahezu

in Verwesung übergehende blau-grüne Gesicht (Abb. 31d) über-

nahm Picasso das Motiv der Tränenspuren.

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Abbbildung 31

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Interpretation

Bildsprache Picassos: Expressive Bilderschrift

Picasso strebte mit Guernica – und in der Zeit danach – eine ›be-

griffliche‹ Bildsprache mit der Absicht einer extremen Expressivi-

tät an. Er versuchte, allgemein verständliche Bildzeichen in Form

von ideografischen und surrealen Darstellungen zu entwickeln,

um eine Reduktion auf wenige Ausdrucksträger zu erreichen.

Demnach nahm er im »Gesicht der verzweifelten Frau« im Sin-

ne einer »expressiv übersteigerten, zeichenhaften Visualisierung

von mentalen und psychischen Vorgängen« (18) eine Reduktion

auf Augen und Mund vor. Diese Tendenz wird von Picasso selbst

angesprochen (19):

»Natur ist nur mit Hilfe von Zeichen in Malerei übersetzbar.

Aber ein Zeichen erfindet man nicht. Man muss sich intensiv um

Ähnlichkeit bemühen, damit sich schließlich die Zeichen heraus-

kristallisieren. Für mich ist Surrealität nichts anderes, und nie

etwas anderes gewesen, als jene wesenhafte Ähnlichkeit jenseits

der Formen und Farben, in denen die Dinge uns erscheinen.«

Dem im Kopf des Künstlers vorgestellten bzw. angestrebten

Ausdruck aber werden alle übrigen Bedingungen untergeordnet,

d. h. es gilt nicht mehr die gewohnte Realität wie wir sie täglich

erleben, weder die übliche Ansicht einer Landschaftsstruktur,

noch die natürliche Farbe. Der Betrachter soll durch die bild-

liche Darstellung eine emotional-mentale Information erhalten,

die verbal nicht mehr wiederzugeben ist.

Auffällig an der Bildersprache Picassos, die besonders am

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Beispiel der Serie »Verzweifelte Frau« vorgeführt wird, ist die von

Spies (20) besonders herausgestellte Repetition: Ein Thema wird

mehrmals wiederholt, wobei das Bild variiert wird. Die Arbeits-

weise deutet Spies als ein »Kumulieren ständig neuer Formvari-

ationen«. Er spricht von einem »unmerklichen Tropismus«, der

die Formen nach und nach zu jeder irgendwie denkbaren Ver-

formung zwingt.

Im Schrifttum zu Picasso wird bei jeder Interpretation durch-

gehend auf die mehrschichtigen Einflüsse verwiesen, ohne die

ein echtes Verstehen und Nachvollziehen der bildlichen Darstel-

lungen Picassos oftmals nicht möglich ist. Von Bedeutung sind

vor allem ikonografische Einflüsse aus der Kunstgeschichte sowie

dem eigenen Werk (Picassos ›private‹ Ikonografie), auf die bereits

verwiesen wurde. Ganz wesentlich aber müssen auch zusätzliche

Einflüsse aus der eigenen Biografie berücksichtigt werden, auf

die Picasso wiederholt selbst hingewiesen hat. In der Regel aber

überlappen sich die einzelnen Faktoren und bilden so neue, im-

mer überraschende Bilderfindungen.

An dieser Stelle aber soll zunächst eine Übersicht und Zusam-

menschau dessen gegeben werden, was bisher dargestellt wurde.

Übersicht und Zusammenschau

Unter Verwendung unterschiedlicher, immer neuer Bildzeichen

beabsichtigte Picasso in der zweiten Hälfte des Jahres 1937, wäh-

rend und nach Fertigstellung des großen Wandgemäldes Guernica,

das unendliche Leid und die Verzweiflung einer Frau darzustellen,

deren Kind gewaltsam zu Tode gekommen ist. Emotionale Basis

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ist ein fundamentales Geschehen, das für eine Mutter bis an die

Grenze der eigenen Existenz reicht, wobei sich u. a. die Frage

stellt: Warum ist das Kind getötet worden, und nicht ich? Kann

und darf ich noch überleben?

Picasso hat in 14 Bildern die Verzweiflung am Motiv »Fliehen-

de Frau mit totem Kind« dargestellt, wobei er weniger die Beto-

nung auf den Gesichtsausdruck als vielmehr auf die Körperhal-

tung, die Körperbewegung und Gestik legte, um die Angst, Furcht

und Verzweiflung auszudrücken. In etwa 40 weiteren Bildern hat

sich Picasso auf das Gesicht einer Frau – ohne Hinweis auf den

Tod des Kindes und dessen Ursache – beschränkt, wobei er in

vielen Variationen die Verzweiflung, die Trauer und Angst sowie

die Klage zum Ausdruck bringt. In drei weiteren Bildern versucht

Picasso mit einer einzigen Geste, die er verschiedenen Situatio-

nen zuordnet, Verzweiflung, Angst und Anklage wiederzugeben,

nämlich mit der Pathos-Formel: Das Gesicht gen Himmel gewen-

det und die Arme hilfesuchend erhoben.

Der vorliegende Aufsatz konzentriert sich vor allem auf die

von Picasso variierten physiognomischen Veränderungen von

Frauen in einer solchen verzweifelten Situation, die in dieser

Vielfalt und in dieser Zahl selbst für Picasso, der Serien liebte,

einmalig sind. Die Bilder werden hier in Abhängigkeit vom Zeit-

punkt der Entstehung auf einer Zeitschiene gruppiert wieder-

gegeben. Die Gruppierung ist dabei relativ grob, wobei etwa 13

Bildgruppen unterschieden wurden, auf Grund jeweils differenter

Techniken und / oder Strukturierungen und / oder Farben.

MALTECHNIKEN: Picasso verwendet nahezu alle Techniken, die

ihm zur Verfügung stehen. Überwiegend erstellt er Zeichnungen

auf Papier mit Bleistift, Tinte, Farbstift, Kreide und Gouache. Da-

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neben ist ein großer Anteil der Bilder mit Ölfarbe auf Leinwand

gemalt (Abb. 7d; 17e, d; 18b; 22b; 23a–d; 25a, b; 26). in Einzel-

fällen handelt es sich um Radierungen und Kaltnadel-Grafiken

(Abb. 9; 14a; 19b, c bzw. 19d; 20b), sowie um Ritzungen auf entwi-

ckeltem Filmmaterial (Abb. 20a, 24). Eine fragliche Skulptur steht

zur Diskussion (Abb. 28). Der größte Teil der Bilder ist in schwarz-

weiß wiedergegeben, was sich bei dem Thema anbietet und u. a.

Assoziationen mit dem Wandgemälde Guernica weckt. Auffällig ist

das Gesicht in Abbildung 25a, das eine drastische, schreiende

Farbigkeit aufweist und, wie auch die Schwarzweiß-Kontraste, die

extreme Situation dieser Frau verdeutlicht.

STILRICHTUNG: Der Kopf der Frauen ist überwiegend durch

eine lineare Umrisszeichnung im Profil dargestellt, wobei das

Gesicht eher flächenhaft wiedergegeben wird. Die Fläche be-

kommt eine gewisse Plastizität durch fleckförmige Grautöne, die

bis ins Schwarz reichen können, oder auch durch Farbflächen.

Nur der Mund ist in einer Vielzahl der Bilder räumlich ausge-

arbeitet. Überwiegend handelt es sich in allen Bildern um mehr

oder weniger deutliche Assoziationen mit dem analytisch-kubis-

tischen Stil Picassos. Eine Ausnahme bilden die zwei Zeichnun-

gen in Abbildung 22, die durchgehend plastisch ausgearbeitet

wurden, wodurch die Gesichter den Eindruck eines Bergmassivs

erwecken.

BILDHINTERGRUND: Der Hintergrund der Bilder ist überwie-

gend homogen weiß und nur in Einzelfällen homogen schwarz

(Abb. 15c; 16a–c; 17c, d; 18b; 19b, c; 20c; 22b; 23b; 26) bzw. halb

schwarz, halb weiß (Abb. 17c). In weiteren Fällen ist der Hinter-

grund homogen farbig (orange – Abb. 11a, blau – Abb. 15b, violett

– Abb. 23c, gelb – Abb. 23d, rosa – Abb. 25b). Nur in wenigen Ein-

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zelfällen sind auch im Hintergrund Details ausgearbeitet: In Ab-

bildung 12c und 13a ein brennendes Haus, in Abbildung 24 ein

Haus mit Fenster, eine hilfesuchende Hand gen Himmel gestreckt

(Abb. 13a, 14a). In einzelnen Bildern ist der Frauenkopf in einen

Kasten verbannt (Abb. 19b, d, 20a, 21c, d) bzw. vor eine orange-

farbene Bretterwand gestellt (Abb. 25a). Die schwarze Hinter-

grundfärbung verdeutlicht die Hoffnungslosigkeit der Situation

dieser Frauen. Die farbigen Hintergründe sind nur in Verbindung

mit der Färbung der Gesichter zu verstehen und wurden bereits

im Teil Paraphrasen interpretiert. Die Struktur-Zeichnungen im

Hintergrund gehen offenbar zurück auf die Ausgangssituation

der Bildserie: Flucht aus einem brennenden Haus. Demgegen-

über basiert die Darstellung eines Kastens um den Kopf der Frau

auf einer neuen Bildidee. Er dient als Hinweis auf die extreme

gedankliche und emotionale Einschränkung der Personen durch

das Schicksal ›wie in einem Gefängnis‹.

PROFIL- UND BLICKRICHTUNG: Alle Frauengesichter sind jeweils

in doppelter Ansicht wiedergegeben, wie sie Picasso-typisch ist:

Im Profil und frontal gleichermaßen. Dominierend ist jedoch im-

mer das Profil, das durch die Lokalisation von Nase und Mund

bestimmt wird, obgleich die Pupillen auch eine andere Richtung

des Blickes annehmen lassen müssen. Die Mehrzahl der Frauen-

köpfe ist nach links orientiert (24 mal), was offenbar auch die

Richtung der Flucht ist, wie sie in den Zeichnungen Fliehende

Frau mit totem Kind und in Guernica von Picasso dargestellt wurde

(Abb. 6a–c; 7a–c). Bezieht man die Richtung des Blickes mit ein,

dann kommt der Blick nach oben (sowohl nach rechts wie auch

nach links) in insgesamt 27 Bildern am häufigsten vor. Diese

Blickrichtung assoziiert den Bombenangriff auf Guernica eben-

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so wie die Unendlichkeit des Universums, das am Ende das fatale

Geschehen zu verantworten hat.

KOPFBEDECKUNG: Es handelt sich ausschließlich um eine spa-

nische Mantilla, die hin und wieder dargestellt wird und Assozia-

tionen an den Spanischen Bürgerkrieg erlaubt. Sie ist erkennbar

auf Abbildung 10 in schwarz (Fliehende Frau mit totem Kind) und

erscheint in Abbildung 18b in orange-gelber Farbe, in Abbildung

23a pinkfarben, in Abbildung 24 in schwarz und in Abbildung

25b orangefarben. Schließlich trägt die Frau im Abschlussbild

(Abb. 25a) eine grellfarbige Kopfbedeckung in Form eines roten

Hutes mit blauer Blume, offenbar um die Absurdität zwischen

dem (gedachten) tödlichen Hintergrundgeschehen und der noch

vorhandenen Vitalität der leidenden Frau zu demonstrieren.

HAARE: Die Haare sind überwiegend geordnet und werden

kaum als Ausdrucksträger genutzt. Nur in zwei Bildgruppen spie-

len sie eine Rolle. In Abbildung 12 sind sie Ausdruck einer ex-

tremen psychischen Verwirrung, die in den Bildern 12a und b

besonders ausgeprägt ist. Dieses Motiv findet sich auch in Abbil-

dung 14a. Im Gegensatz zu diesen Bildergruppen ist der Kopf in

den vier Bildern der Ziffer 13 nur spärlich mit Haaren bedeckt,

wobei jedes Einzelhaar voluminös und spitz zulaufend dargestellt

ist und wie der (nicht sehr stabile) Stachel eines Igels imponiert.

Sie haben möglicherweise eine aggressive Tendenz, aber könn-

ten eine Metapher des Verlustes sein: Der Haarbesatz ist extrem

minimiert.

STIRN: Strichförmige, sich überschneidende, gerade verlau-

fende Linien kennzeichnen Stirnfalten und sind als zusätzliche

Struktur in etlichen Frauengesichtern erkennbar (Abb. 11b, c;

12a, c; 15c; 16a; 17a–d; 18a, b; 23c, d). Sie verdeutlichen die

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Ernsthaftigkeit der Situation und entsprechen oftmals auch der

realen mimischen Veränderung einer tatsächlich verzweifelten

Person.

NASE: Die Nase wird von Picasso nur in Einzelfällen als ein

kompetenter Ausdrucksträger angesehen. Überwiegend ist sie,

wie schon erwähnt, in seitlicher Ansicht im Profil dargestellt

und mit zwei kommaförmigen Nasenöffnungen versehen. Nur in

4 Bildern ist auch die Nase auffällig: In Abbildung 12a und 22

ist sie auf überdimensionierte Größe geschwollen und wirkt na-

hezu wie Pferdenüstern, eine Formveränderung, die auch häufig

in der realen Situation einer weinenden Person zu beobachten

ist. In Abbildung 16c ist die Nase ausgesprochen spitz zulaufend

und wirkt zusammen mit den sichtbaren Zähnen ausgesprochen

aggressiv. In Abbildung 16b ist die Nase rüsselförmig dargestellt

und erscheint – zusammen mit den übrigen schwarz-weißen Ge-

sichtsstrukturen – ebenso aggressiv.

AUGEN: Die Augen müssen zusammen mit dem Mund als we-

sentlichste Ausdrucksträger der gesamten Bildserie angesehen

werden. Entsprechend den unterschiedlichen anatomischen

Strukturen sollen die Variationen hier aufgeführt werden.

AUGENBRAUEN: Wenn Augenbrauen vorhanden sind, werden

diese dem jeweiligen Auge zugeordnet. Sie sind überwiegend

bogenförmig, wobei der Bogen zumeist in Gegenrichtung zur

Augenrundung verläuft (Abb. 11c; 12c, d; 13a–d; 15; 16a; 17; 18;

19–25). Hin und wieder sind sie winkelförmig mit zwei linearen

Schenkeln versehen (Abb. 12a, b), teilweise haben sie die Form

von Vogelfedern (Abb. 13a–c, 15) und deuten damit die haarige

Struktur an.

WIMPERN: Sie sind durch feinste radiäre Striche zirkulär um

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das Auge herum angeordnet, wobei sie teils gleichmäßig verteilt,

teils in kleinen Gruppen (Abb. 12, 17) sortiert werden. Auffällig

und einmalig sind die Gesichter der Abbildung 13, in der die

Wimpern fächerförmig wiedergegeben wurden.

AUGÄPFEl: Zu Beginn der Serie sind die Augäpfel ausschließ-

lich linear begrenzt. Sie werden tropfenförmig, beinah bohnen-

förmig gebogen dargestellt. Die Augäpfel liegen überwiegend

dicht beieinander und gehen teilweise auch ineinander über.

Es fallen allerdings die Bilder auf, in denen die Augen weit aus-

einander stehen (Abb. 12a; 15; 18a; 20b; 23; 26). Hier wird der

Eindruck einer besonders ausgeprägten Hilflosigkeit erzeugt. In

den vier Zeichnungen der Abbildung 13 sind die Augäpfel spi-

ralig wiedergegeben, wie wenn sie aus dem Kopf heraus gedreht

worden wären. Das hier verdeutlichte Phänomen der Isolierung

der Aug äpfel wird im weiteren Serienverlauf wieder aufgegrif-

fen, wenn die Augäpfel wie in Schiffchen schwimmend darge-

stellt werden (Abb. 19; 20; 22; 23a, b; 24; 25). Im Hintergrund

mag die Idee gestanden haben, dass die Augen vom Tränenmeer

mitgeschwemmt werden. Eine Sonderform nimmt schließlich die

Darstellung in Abbildung 26 ein. Hier sind die Augäpfel wie Spie-

geleier dargestellt und liegen flach der Kopfhaut auf, wirken in

dieser Lokalisation allerdings eher komisch.

PUPILLEN: Überwiegend sind die Pupillen rund und schwarz,

teilweise auch nur punktförmig. Sie wurden in den ersten Bildern

auch schmetterlingsartig verformt dargestellt (Abb. 11c, 12a),

später jedoch überwiegend sternförmig in Form von sich über-

kreuzenden Linien (Abb. 15c; 16a, c; 17; 18; 19; 20), die jedoch

teilweise so dunkel wirken, dass der Eindruck eines ausgestanz-

ten schwarzen Lochs entsteht.

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TRÄNENSPUREN: Die Tränenspuren scheinen teilweise zierlich,

dargestellt in Form von feinen Linien, die über die Wangen lau-

fen (Abb. 11b; 14a; 15; 25b), teilweise aber auch grob wie Kerben

oder Falten im Gesicht (Abb. 12a, c; 16a; 17; 18; 20; 24; 25a). Sie

sind teils gradlinig (Abb. 15c; 16a; 17; 18; 26), teils bogenförmig

(Abb. 12; 14a; 25a), teils wellenförmig sich überkreuzend (Abb. 14a,

25b), teils aber auch kaskadengleich über die Gesichtswölbungen

fließend (Abb. 19; 22; 23a, b; 24). In jedem Fall durchsetzen sie

das Gesicht, teilweise fragmentieren sie es, was eine Destruktion

der normalen Gesichtsanatomie zur Folge hat, die den psychi-

schen Zustand der betroffenen Frau wiederzugeben scheint.

MUND UND TRÄNENTUCH: Während Kopf und Gesicht überwie-

gend flächig dargestellt wurden, ist der Mund im Großteil der

Bilder plastisch geformt, so dass die Mundhöhle als Höhle sicht-

bar wird. Der Mund ist in den ersten Zeichnungen schreiend

geöffnet mit herausgestreckter, teils spitzer, teils abgerundeter

Zunge (Abb. 11; 12; 13; 14a; 16a), wobei die Zähne zwar überwie-

gend sichtbar sind, ihnen aber überwiegend keine wesentliche

Bedeutung zugemessen wird. Ausschließlich in drei Zeichnungen

sind sie als Indikator einer – allerdings sehr massiven – Aggressi-

on eingesetzt (Abb. 12a; 16b, c). In der weiteren Entwicklung der

Bildserie ist der Mund halb geschlossen, der Mundwinkel im Pro-

fil abgerundet und die Lippen leicht aufgeworfen, ein Phänomen,

das dem realen Weinen entspricht.

Die Zunge ist in den ersten Bildern spitz zulaufend, wie sie

auch im Gemälde Guernica dargestellt wurde, und stellt das In-

diz einer extremen Klage und Anklage dar. In der weiteren Seri-

enentwicklung entsteht der Eindruck des Erbrechens durch den

offenen Mund und die herausgestreckte Zunge. Zunehmend aber

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stellt Picasso neben den offenbar laut schreienden Frauen auch

einen anderen Typus der verzweifelten Frau dar, der in sich ge-

kehrt ist, still weint und hilflos dem Schicksal ausgesetzt zu sein

scheint (Abb. 14b, 15). Dieser Charakter der Verzweiflung wird

fortgesetzt mit Einführung des Tränentuchs (Abb. 17; 18; 19; 22b;

23b–d). Auch diese Frauen schreien ihre Not nicht aus sich he-

raus, sondern leiden unter dem Schmerz, den sie nicht lindern

können. Schließlich führt Picasso das verzweifelte Beißen auf ein

Taschentuch als neues Motiv ein, das einerseits das Schreien er-

setzt und die innere Vitalität der Frauen demonstriert, anderer-

seits aber auch das ›In-sich-Hineinfressen‹ des Schmerzes zeigt

(Abb. 19b-d; 20; 25; 26). Es demonstriert eine offenbar ›verbisse-

ne‹ Aggressivität.

HAND BZW. HÄNDE: Mit der Einführung des Tuches als neu-

es Motiv musste Picasso auch die Hand als Tuchhalter etablie-

ren. Schon früher war die Hand bereits zweimal als Nebenmotiv

aufgetreten: in Abbildung 13a als Hintergrundmotiv und in der

Radierung zu Traum und Lüge Francos (Abb. 14a). In diesem Zusam-

menhang hatte die Hand jeweils die Bedeutung der Pathosformel.

Mit Einführung des »Tuch«-Motivs wurde die Hand regelmäßig

wiedergegeben, teils sichtbar und teils hinter dem Tuch versteckt.

Deutlich erkennbar werden Hände in den Abbildungen 17, 22b,

23a–d, 25 und 26. Eine eigene Bedeutung ist der Hand aus-

schließlich in zwei Bildern zuzumessen. In Abbildung 17 macht

die Hand am unteren Bildrand den Eindruck einer Rinne, die

offenbar die Tränenflut aufzufangen versucht, und in Abbildung

23a wird die offene Hand in Richtung Betrachter gehalten, den

sie abzuweisen scheint, als würde die dargestellte Frau in diesem

Zustand nicht gesehen werden wollen.

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Ikonografische Aspekte

Bei einem Künstler, dessen Leben wie bei Picasso nahezu von Ge-

burt an auf Zeichnen und Malen konzentriert war und der zudem

ein hervorragendes, wenn nicht eidetisches (visuelles) Gedächt-

nis hatte, ist es unvermeidbar, hinter jedem Sujet auch Bilder der

künstlerischen Vorgänger zu sehen. So wundert es nicht, dass

Picasso einerseits Bildserien erstellte, die als Paraphrasen von

Bildern anderer Künstler in die Kunstgeschichte eingegangen

sind (u. a. Velazquez: Las Meninas; Manet: Frühstück im Grünen; vgl.

auch Müller 2002b), andererseits aber auch, dass nahezu hin-

ter jedem Einzelwerk Picassos auch zahlreiche Vorgänger-Bilder

existieren, die eine Vorbildfunktion für Sujet, Struktur und / oder

Farbe darstellen (21). Bei nahezu jedem Werk Picassos ist somit

immer auch die Ikonografie der Kunstgeschichte inbegriffen bzw.

in jedem Fall mitzudenken (Cowling 2002).

Dabei mutet es jedoch seltsam an, dass die christliche Bildtra-

dition von Picasso nur ganz sporadisch und ausnahmsweise über-

nommen wird (22). Kein Zweifel besteht heute jedoch daran, dass

Picasso mit den Paraphrasen des Motivs »Gesicht der verzweifel-

ten Frau« die christliche Bildtradition der ›Klagenden Frau unter

dem Kreuz Christi‹ im Sinne einer profanen Version der ›Mater

dolorosa‹ (23) assoziiert hat. Mit Sicherheit hatte Picasso zu

diesem Zeitpunkt die Kreuzabnahme von Rogier van der Weyden

im Prado, die Pieta von Avignon von Enguerrand Quarton (1455)

im Louvre und den Isenheimer Altar von Matthias Grünewald in

Colmar gesehen (16). Erörtert werden als ikonografische Vorla-

gen außerdem folgende Werke: Giotto (1303–1310) – Fresken in

der Capella degli Scrovegni all‘Arena in Padua (24), Guido Reni

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(1575–1642) – Der bethleheminische Kindermord (1611) in Bologna

(25) und Dürers Radierung Christi Beweinung (1506–26). An die-

ser Stelle soll nur auf ausgewählte Vorbilder eingegangen werden.

Rogier von der Weyden (1399–1464): Kreuzabnahme

Die Kreuzabnahme (Abb. 32a, b), die im Prado (Madrid) hängt,

wurde von Picasso sicher während seines Aufenthaltes in Madrid

gesehen. Der entkleidete Leib des gestorbenen Christus ist über-

wiegend quer gestellt. Rechts und links versammeln sich zahlrei-

che Figuren. Links erkennt man die in Ohnmacht zusammenge-

sunkene Maria, um die sich Johannes und eine Frau bemühen.

Marias Gesicht ist blass, wobei die Farbe des Gesichtes mit der

Farbe des Leibes Christi korrespondiert. Links außen oben er-

kennt man die weinende Maria Magdalena mit einem Taschen-

tuch, das ihre Nase und die Augen verdeckt. Tränen sind in den

Gesichtern von Maria, Maria Magdalena, Johannes und Josef von

Arimathäa sichtbar. Bei aller gedrängten Theatralik besteht je-

doch eine kühle Distanz, die im extremen Gegensatz zur Betrof-

fenheit steht. Speziell aber das weinende Gesicht mit Taschen-

tuch von Maria Magdalena (Abb. 32b) lässt auch an die »Verzwei-

felte Frau« bei Picasso denken.

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Ab

bb

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g 3

2

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Grünewald: Isenheimer Altar (1515); Magdalenas Klage (undat.)

Da Picasso 1932 Colmar besucht hatte und anschließend zeich-

nerische Paraphrasen der Kreuzigung erstellte, besteht kein

Zweifel: Er kannte und schätzte diesen Altar offenbar sehr. Er

zeichnete u. a. Maria Magdalena, die links vom Kreuz mit offenem

Mund und verknoteten Händen kniet (Abb. 33a, b). Im Zusam-

menhang mit der Bildserie »Verzweifelte Frau« wurde bisher Grü-

newalds Altarbild Magdalenas Klage (1515) nicht erwähnt. Es zeigt

als zentrales Motiv das Bild einer verzweifelten Frau, während die

Kreuzigung Christi eher randständig und wie zur Begründung

der Verzweiflung der Frau dargestellt ist (Abb. 33c, d). Es wäre

erstaunlich, wenn dieses extrem eindrucksvolle Bild mit dem

schmerzverzerrten Gesicht Magdalenas Picasso unbekannt ge-

blieben sein sollte, zumal diese Kopie des großformatigen Gemäl-

des erst 1920 unter fast spektakulären Umständen entdeckt und

bekannt wurde. Der gekreuzigte Christus wird dezentral in

Schrägstellung von hinten wiedergegeben, ohne sichtbares Ge-

sicht, nur der brutal überzeichnete, deformierte (verletzte) Kör-

per und eine überdimensionierten Leiter werden sichtbar. Maria

Magdalena wird demgegenüber mit einem ins Hässliche gestei-

gerten, höchst expressiven mimischen wie gestischen Ausdruck

wiedergegeben.

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Abbbildung 33

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Spanien: Marienverehrung

Vor allem in Südspanien spielt die Jungfrau Maria gemäß der spa-

nisch-christlichen Bildtradition eine besondere Rolle. Bei den

Karfreitag-Prozessionen, die regelmäßig bis zum heutigen Tag

stattfinden, wird ein Bild von Maria, oder aber – häufiger – eine

Marienfigur durch die Straßen der Stadt getragen. Chipp  (28)

konnte speziell auf die Virgin de la Macarena (1658) in Sevilla von

Pedro de Mena verweisen. Die Tränen sind als Glasperlen auf der

Fotografie auch deutlich sichtbar (Abb. 34a). In Malaga, dem Ge-

burtsort Picassos, existierte während seiner Jugendzeit eine ver-

gleichbare farbige Holzskulptur desselben Künstlers, die jedoch

verbrannt ist. Russell (29) konnte eine ähnliche Figur dieses

Künstlers ausfindig machen (Abb. 34b). Aufgrund einer Zeich-

nung Picassos aus dem Jahre 1959, auf die bereits oben hingewie-

sen wurde (Abb. 30b), besteht zudem auch kein Zweifel daran,

dass Picasso das Marienmotiv kannte und als Topos benutzte. Zu

den spanisch-christlichen Motiven gehört auch das »Tränen-

tuch« (30), das – wie Weisner (31) vermittelt – durch einen Fin-

gerring gezogen über der Hand hängend eine Tradition in Spani-

en ist.

Francisco Goya: Los Desastres de la Guerra (1810)

Goyas Radierserie Los Desastres de la Guerra (1810 ff) schildert

Kriegsszenen in allen nur denkbaren Schrecken, u. a. den Überfall

auf wehrlose Frauen und Kinder, Vergewaltigungen, Verstümme-

lungen, Hinrichtungen durch Erhängen bzw. Erdrosseln, Erste-

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Abbbildung 34

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chen, Massenhinrichtungen durch Erschießen, Leichenfledderer

usw. Es werden keine Individuen als Täter oder Opfer dargestellt,

vielmehr beschreibt Goya eine kollektive Tragödie.

Goya lässt sich als Vorbild dieser dramatischen Bildserie bei

Picasso nicht wegdenken. Zwar sind keine gesonderten Gesichts-

studien Goyas zur klagenden, verzweifelten Frau bekannt, aber

die Radierungen zum Spanisch-Französischen Krieg stellen al-

lein und für sich genommen bereits eine totale Trauer, eine Klage

und Anklage – nicht nur von Frauen – in ihrer hoffnungslosen

Verzweiflung dar und haben allein aus diesem Grund eine Vor-

bildfunktion. Details zu diesem Thema finden sich auf nahezu

jeder Radierung, z. B. die Pathosformel (Detail aus der Radierung

Nr. 41; Abb. 34c).

Eisenstein: Panzerkreuzer Poternkin (1925)

Einfluss auf Picasso dürften jedoch auch aktuellere Ereignisse

genommen haben. Neben Pressemitteilungen und Pressefotos

über die Bombardierung von Guernica und ihre Folgen könnte

auch eine Sequenz aus dem Film Panzerkreuzer Potemkin von Sergej

Michailowitsch Eisenstein eine Inspiration gewesen sein, auf die

bereits wiederholt verwiesen wurde (32). In einer langen Einstel-

lung wird der Schrecken und das Entsetzen einer Mutter darge-

stellt, deren Kind sich im Kinderwagen ihrer Kontrolle entzog

und im Chaos der Revolte unaufhaltsam und mit zunehmender

Geschwindigkeit die Riesentreppe von Odessas Hafen hinabrollt.

Die Einstellung zeigt das hilflose und verzweifelte Klagen dieser

Frau (Abb. 34d), die ihr totes Kind den die Treppe heruntermar-

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schierenden zaristischen Truppen entgegenträgt. Die Soldaten

schießen ungezielt in die auf der Treppe befindlichen revoluti-

onären Massen der Bevölkerung und die Frau bricht schließlich

unter den Schüssen der Konterrevolutionäre zusammen. Der

Kopf der klagenden Mutter, die in Großaufnahme sekundenlang

den Mund zum Schrei geöffnet hält, ist von einer Mantille um-

hüllt. Diese Assoziation ist naheliegend, da auch im Spanischen

Bürgerkrieg die russischen Revolutionäre auf Seiten der Republi-

kaner gegen die Faschisten kämpften. Picasso war ein begeister-

ter Filmbesucher, weswegen anzunehmen ist, dass er diesen Film

kannte.

Juan Miró: Der Schnitter (1937)

Es sei ferner auf den möglichen Einfluss auch eines zeitgenös-

sischen Malers verwiesen. Der in Paris lebende Spanier Juan

Miró hatte ebenso wie Picasso einen Auftrag zur Erstellung eines

Wandgemäldes auf der Pariser Weltausstellung und zeigte im spa-

nischen Pavillon 1937 ein großes Bild mit dem Titel Der Schnitter

(550 × 365 cm groß, Abb. 34e), das offenbar verlorengegangen ist.

Die zentrale Figur eines Mannes mit Sense auf diesem surrea-

listisch beeinflussten Bild ist mit drei lanzettförmigen Zungen

versehen, ein Topos, das sich bei einzelnen verzweifelten Frauen

in der Serie »Verzweifelte Frau« sowie dem sterbenden Pferd in

Guernica (vgl. Abb. 11b–d) bei Picasso wiederfindet.

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Ferrer de Morgado: Madrid 1937

Für den spanischen Pavillon in Paris fand zusätzlich eine

Kunstausschreibung statt. Es sollte der Widerstandswille des

spanischen Volkes und das Leid der Bevölkerung durch den fa-

schistischen Bombenterror dargestellt werden, wie Ullmann (33)

beschreibt. Das damals am meisten beachtete Werk stammt von

Ferrer de Morgado mit dem Titel Madrid 1937 (Abb. 34f). Im Vor-

dergrund ist eine Fliehende zu sehen, im Hintergrund findet sich

eine Mutter mit Kind. Es muss als wahrscheinlich angesehen wer-

den, dass Picasso auch dieses Bild kannte.

Biografischer Hintergrund

Ein biografischer Hintergrund wird der Werkgruppe »Verzweifelte

Frau« von nahezu allen Autoren, die sich mit Picassos Biografie

befassen, zugrunde gelegt, wobei sich fast alle einig sind, dass

Dora Maar als Modell der »Verzweifelten Frau« fungierte, eine der

zwei Geliebten Picassos im Jahre 1937. So stellen u. a. zwei neuere

Biografien bereits im Titel fest, Dora Maar und die »Weinende«

seien identisch (34). Tatsächlich wird im gesamten Schrifttum

durchgehend die Bemerkung Picassos gegenüber Françoise Gi-

lot (35) über Dora Maar zitiert:

»Ich konnte kein Bild von ihr malen, auf dem sie lacht. Für

mich ist sie immer die weinende Frau. Vor Jahren habe ich sie in

verzerrten Formen gemalt, nicht aus Sadismus und auch nicht

mit Vergnügen, sondern nur einer Vision folgend.« Ähnlich zi-

tiert auch Malraux Picasso (36): »Für mich ist Dora immer eine

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weinende Frau gewesen. Gut. Eines Tages konnte ich sie schaf-

fen ... Ich konnte sie schaffen. Das ist alles. Das ist wichtig, weil

Frauen Leidensmaschinen sind. Wie bei Guernica. Gar nicht

lange nach Guernica. Man darf nicht zu genau wissen, was man

macht.«

Mit diesen Feststellungen werden weitere Aussagen Picassos

bestätigt: »Mein Werk gleicht einem Tagebuch ... es ist sogar als

Tagebuch datiert« (37) bzw. »Ich male, wie andere ihre Autobio-

grafie schreiben. Bilder, ob fertig oder nicht, sind Seiten mei-

nes Tagebuchs und als solche haben sie Bedeutung« (38). Gedo

(1980) gibt ihrer Dissertationsarbeit sogar den Titel Picasso. Art

as Autobiography, in der sie zahlreiche Beispiele von bildlichen

Darstellungen Picassos auf Grund privater und öffentlicher Er-

eignisse, teils mit psychologischem Einfühlungsvermögen, teils

auch psychoanalytisch interpretierend wiedergibt.

Spies (30) weist darauf hin, dass Picasso wiederholt die Hys-

terie Olgas, die biomorph vegetative Passivität Marie-Thérèse Wal-

ters und schließlich die intellektuelle Eckigkeit und Sprödigkeit

der Dora Maar formal dargestellt hat, wobei die Identität nicht

aufgrund der physiognomischen Ähnlichkeit erkennbar wurde,

sondern mit Hilfe psychischer Konstanten (Abb. 35 u. 36). Picas-

so findet für Marie-Thérèse Walter und Dora Maar in den Jahren

1936/37 analoge Bildlösungen: Besonders für die Darstellung von

Dora Maar nutzt Picasso eine kantig-aggressive Bildsyntax, wobei

diese beinahe vexierbildhaften Deformationen Verweisfunktion

auf die psychische Disposition der Geliebten besitzt (39).

Ausschließlich Josep Palau i Fabre (2011) geht von einem

anderen Aspekt aus. Er vergleicht das Profil von Marie-Thérèse

Walter mit dem Profil der »Verzweifelten Frau« auf den meisten

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Abbbildung 35

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Abbbildung 36

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der Bilder und sieht überwiegend einen gradlinigen Übergang

von Stirn zur Nase, wie ihn charakteristischerweise Picasso bei

eindeutigen Portraits von Marie-Thérèse Walter gemalt hat. Er

vermutet daher, dass nicht Dora Maar Modell saß, sondern Ma-

rie-Thérèse Walter. Dabei weist er zusätzlich darauf hin, dass Pi-

casso bereits im Jahre 1928 ein Profil von Marie-Thérèse Walter

gemalt hatte, auf dem sie mit der Hand ein Taschentuch an den

Mund hält (Abb. 36d, e), aber weder weint noch verzweifelt ist.

Als Beispiel für die Einbeziehung der eigenen Emotionen und

Biografie in sein Werk mag u. a. das Selbstportrait mit Monster

(1929; Bild 37a) gelten, dem möglicherweise eine Auseinander-

setzung mit seiner Ehefrau, Olga Khokhlova, vorausgegangen war.

Als Beispiel hierfür könnte auch die Zeichnung Mann hält ein

Pferd (Abb. 37c, d) vom 23. Oktober 1937 gelten, die zeitlich der

Serie »Verzweifelte Frau« zuzuordnen wäre. Ein Mann steht inner-

halb einer Stierkampfarena und kommuniziert rufend nach links,

hält in der rechten Hand eine Peitsche und mit der linken Hand

ein Pferd, offenbar eine alte Mähre. Der Kopf des Mannes ist zwi-

schen zwei Frauengesichtern gezeichnet, die sich beide offenbar

hinter einer Barriere befinden, links vom Männerkopf ein schö-

nes, symmetrisches und ausgeglichenes Gesicht und rechts ein

weinendes, hässliches Gesicht. Es ist davon auszugehen, dass Pi-

casso hier seine eigene Situation schildert: er selbst zwischen

seinen zwei Geliebten – links Marie-Thérèse Walter, rechts Dora

Maar mit weinendem Gesicht. Das widerspenstige Pferd (bei Pi-

casso ein Code für ›Frau‹ – s. Penrose 1973) wäre dann offenbar

Olga zuzuordnen.

Ferner nahm Picasso im Jahr 1946 eine Überblendung der Ra-

dierung einer »Verzweifelte Frau« mit einem Portrait von Françoi-

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Abbbildung 37

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se Gilot vor (Bild 37b), als die Trennung von Dora Maar real

wurde und Picasso mit seiner neuen Geliebten Françoise Gilot

zusammenlebte (32). Auf dieser Radierung wurde die »Verzwei-

felte Frau« (also Dora Maar) um 180 Grad gedreht, d. h. auf den

Kopf gestellt, während das Angesicht von Françoise Gilot richtig

herum wiedergegeben wurde, wodurch Picasso – gleichsam me-

taphorisch – seine biografische Veränderung beschreibt.

Wenn aber Picasso Dora Maars Gesicht als verzweifelte dar-

stellt, fragt man sich warum, zumal er zur gleichen Zeit Portraits

von ihr erstellt, die sie mit sanfter Melancholie in den Farben

rot und gelb wiedergeben, d. h. in den spanischen Nationalfar-

ben (Abb. 35a). Hierzu gibt allenfalls die oben zitierte Äußerung

Picassos eine Antwort (40). Andererseits aber ist Daix (41) zuzu-

stimmen, der feststellt, dass Picasso mit der um 26 Jahre jünge-

ren Dora Maar eine zweite Jugend erlebt haben muss, wenn man

die frohen Farben ihrer übrigen Portraits betrachtet (Abb. 35b),

»als wollten sie auf das Rot ihrer langen gemalten Fingernägel

antworten und mit dem Lied des Lebens den Tumult der Massen

übertönen. Dora Maar ist das lebendige Leben, das starke Glück,

vor einem Hintergrund der Angst.« Dora Maar wird immer wieder

mit Optimismus, Energie und Zärtlichkeit dargestellt (Abb. 35c),

aber auch mit stolzer Distanz und Zurückhaltung. Eine typische

Charakterstudie Picassos wird auch in Abbildung 36d erkennbar,

die vor allem im Vergleich mit dem am gleichen Tag fertiggestell-

ten Gemälde von Marie-Thérèse Walter (Abb. 36c) die charak-

terologischen Unterschiede bewusst verdeutlicht. Im Vergleich

zu Marie-Thérèse Walters Bild ist der Gesamteindruck dunkel,

spitze Formen überwiegen. Dora Maar fixiert den Maler bzw. Be-

trachter mit wachen Augen, während der Blick von Marie-Thérèse

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Walter träumerisch und in sich gekehrt wirkt. Dora Maar trägt

ein kompliziertes Kleid und einen auffälligen Hut im Vergleich

zum schlichten Kleid und den glatten, unbehüteten Haaren von

Marie-Thérèse Walter. Regelrechte Spannungen zwischen Picasso

und Dora Maar bestanden offenbar zur damaligen Zeit nicht und

kamen erst in den Jahren 1942/43 auf, als Picasso Françoise Gilot

kennen lernte (42). Aber auch Dora Maar selbst verwahrte sich –

verständlicherweise – gegen das Axiom, sie sei die Weinende. Sie

sagt: »Alle Portraits von mir sind Lügen. Sie sind alle ›Picassos‹,

keines ist Dora Maar.« (43)

Fasst man die persönliche Beziehung zwischen Picasso und

Dora Maar zusammen, so lässt sich – trotz allem – kein plausibler

Grund erkennen, warum Dora Maar zum Vorbild für die Werk-

gruppe »Verzweifelte Frau« wurde. Allerdings ist auf den zahlrei-

chen Fotografien, die bei Caws (2000) bzw. Baldassari (2006)

wiedergegeben werden, Dora Maar kaum lächelnd oder gar la-

chend und mimisch eher starr wiedergegeben. Wir wissen aus

ihrer Biografie, dass sie trotz ihres jungen Alters von 26 Jahren

eine selbstbewusste, emanzipierte und bereits künstlerisch eta-

blierte Frau war. Sie beherrschte mehrere Sprachen, insbeson-

dere sprach sie auch fließend Spanisch. Sie war außerdem po-

litisch aktiv und engagiert und konnte Picasso mitunter in das

ihm fremde Metier der Fotografie einführen. Sicher ist ferner

davon auszugehen, dass sie Picasso in Diskussionen auch Paroli

bot. Andererseits mag sie sich durch Picassos übermenschliche

Vitalität zur Passivität gezwungen gesehen haben, was wiederum

ihn inspiriert haben dürfte, eigene Ängste und Spannungen in

ihrer Person gespiegelt zu sehen (45). Das sind allerdings nur

Spekulationen. In jedem Fall arbeitete Picasso zwischen Juni und

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Oktober 1937 obsessiv an dem Motiv »Verzweifelte Frau« und war

offenbar inspiriert, u. a. durch Dora Maar.

Eine zweite biografische Ebene wäre die private Situation

Picassos im Jahre 1937, in der er zweifelsohne genügend Erfah-

rungen von Angst, Verzweiflung, Eifersucht, Zorn und Wut von

Frauen hatte gewinnen können. Zwar lebte er 1937 bereits zwei

Jahre von seiner Ehefrau Olga Khokhlova getrennt, aber sie wa-

ren nicht geschieden und offenbar hielten die Querelen mit ihr

an, während Picasso sich seit 1927 im Geheimen seiner sehr jun-

gen Geliebten Marie-Thérèse Walter widmete, die ihm im Jahre

1935 eine Tochter gebar. Dies veranlasste Olga dazu, aus dem

Haus Picasso auszuziehen. In den Jahren 1935/36 gewann Picas-

so als weitere Geliebte Dora Maar. Wie schon erwähnt, waren die

Gegensätze von Marie-Thérèse und Dora für Picasso wiederholt

Grundlage für ähnlich positionierte aber gegensätzliche Por-

traits (vgl. Abb. 35b mit 36b, sowie 35d mit 36c) sowie auch für

unterschiedliche (symbolische) Stillleben oder für die bildliche

Umsetzung von Stierkampf und Szenen mit Minotaurus. Dabei ist

Marie-Thérèse Walter immer positiv-erotisch-vital und ausglei-

chend besetzt, während Dora Maar eher fein und elegant, intelli-

gent und aktiv dargestellt wird.

Zweifelsohne bestand ein deutlicher Gegensatz zwischen den

zwei Geliebten Picassos, wie er auch von allen Zeitzeugen (siehe

auch die oben zitierte Aussage von Spies) bestätigt wird (vgl. 44).

Marie-Thérèse Walter war eine liebe, sanfte Frau, sehr weiblich

und von großer Schönheit – ganz Freude und Friede. Dora Maar

wurde hingegen als nervös, unruhig und verquält beschrieben.

Marie-Thérèse war unbeschwert; bei ihr konnte Pablo Picasso sei-

ne intellektuelle Existenz vergessen und seinen Instinkten folgen.

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Mit Dora führte er ein Leben im Geist und in verbaler Auseinan-

dersetzung. Allerdings ist denkbar, dass wiederholt Differenzen

aufbrachen, wie sie im Roman von Avril (2002, S. 53) auch ge-

schildert werden.

Eine dritte biografische Ebene aber dürfte mindestens von

gleicher Bedeutung gewesen sein: der Bürgerkrieg in Spanien.

Dieser Krieg veranlasste Picasso erstmals zu zahlreichen politi-

schen und sozialen Aktivitäten. Dies beinhaltete politische Stel-

lungnahmen, zunächst in Form von Radierungen (Traum und Lüge

Francos) und Blättern, die er zugunsten republikanischer Flücht-

linge zu verkaufen beabsichtigte. Auch das Bild Guernica kam u. a.

im Zusammenhang mit den übrigen Exponaten im spanischen

Pavillon einem politischen Bekenntnis für die Republikaner

gleich. Schließlich erfolgten direkte finanzielle Zuwendungen

an spanische Flüchtlinge und – auch öffentliche – persönliche

Stellungnahmen (46): »In dem Wandgemälde ... und in meinen

gesamten neueren Arbeiten erkläre ich deutlich meine Abscheu

vor der militärischen Kaste, die Spanien in einem Ozean von

Schmerz und Tod ertränkt hat.« Die persönliche Anteilnahme am

Leid der spanischen Bevölkerung dürfte zweifelsohne ein wesent-

liches Motiv für die Werkgruppe gewesen sein, wobei besonders

das Topos ›Mater dolorosa‹ – wie auch die Corrida – als typisch

spanische Metapher verstanden werden muss. Hierzu passt die

Zeichnung Fischerfamilie am Strand (Abb. 27c), auf der u. a. eine

säkularisierte Pietà erkennbar sein kann. Zusätzlich wäre zu fra-

gen, inwieweit die politisch aktive Dora Maar auf rationaler Ebe-

ne Inspiration und Vorbild für die Werkgruppe »Verzweifelte Frau«

gewesen sein könnte.

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Schlussfolgerung

Picassos malerische Intention

Während der zwanzigjährige Picasso in der Blauen Periode seine

Bildsprache an den Vorbildern seiner Zeit und deren Vorgängern

orientiert hatte, stand ihm 1937 mit 56 Jahren zwischenzeitlich

ein ungeheures Formen- und Farbrepertoire zur Verfügung, das

allerdings bis zum Jahre 1937 bei der Darstellung von Gefüh-

len – wenn überhaupt – eher eingeschränkt Anwendung fand.

Es beschränkte sich mehr oder weniger auf die Wiedergabe von

Hass, Hysterie und Aggression, vermied aber die Wiedergabe fei-

nerer menschlicher Gemütszustände wie Leid, Schmerz, Trauer,

Depression, Verzweiflung, Angst usw. Aufgeschreckt durch den

Spanischen Bürgerkrieg aber sah Picasso die Notwendigkeit der

Wiedergabe auch dieses emotionellen Spektrums.

Eindeutig festzustellen ist: Auch wenn Picasso in diesem Bild-

komplex ein halbes Jahr lang »Verzweiflung« als sein Hauptmo-

tiv ansah und er auch hinterher das ganze Bild- und Zeichen-

konvolut als untereinander verbunden – und zum Bild Guernica

zugehörig – verstanden wissen wollte, hatte er doch zu keinem

Zeitpunkt vor, hieraus eine eigene Serie zu entwickeln. Die ma-

lerischen Versuche erfolgten offenbar alle spontan aus innerem

Beweggrund und nicht in der Absicht einer Systematisierung.

Ullmann (47) fasst die nach Guernica entstandene Bildserie

»Verzweifelte Frau« folgendermaßen zusammen: »Die Serie doku-

mentiert den Variationsreichtum und die Aussagekraft des mit

dem Guernica-Motivkreis erarbeiteten bildnerischen Vokabulars

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für Darstellungen menschlichen Leidens«. Dabei wird das zen-

trale »Guernica«-Motiv der verzweifelten Klage in Bildthemen

(»Fliehende Frau mit totem Kind« oder das »Gesicht einer verzwei-

felten Frau«) weiter verfolgt. Mit dem Thema »Verzweifelte Frau«

versucht Picasso, prägnante ideografische Kürzel für quälenden

psychischen Schmerz und panische Angst zu erfassen, mitunter

in Kombination mit einer signalartigen Farbigkeit. Dabei konzen-

trieren sich die Aussagen jeweils nur auf ein einzelnes Gesicht.

»Nie wieder erreichte Picasso eine emotionale Intensität auf

kleinen Kreideskizzen von Mutter und totem Kind wie zu diesem

Zeitpunkt, als er das Bild Guernica zu malen begann« (48).

Die »Verzweifelte Frau« ist nach Bernard Berndac (1987) im

Zusammenhang mit dem Wandgemälde Guernica aber auch das

Symbol der spanischen Frau während des Spanischen Bürger-

krieges (bzw. auch des ganzen spanischen Volkes, Gohr 1981)

zu verstehen. Das Gesicht der Frau ist der Ort der Zerrissenheit

und des Grauens, das ganz Spanien erfährt. Zugleich aber ist es

auch das Gesicht der von Picasso geliebten Frau Dora Maar, die

für ihn offenbar im besonderen Sinne die verzweifelte Frau dar-

stellte, nämlich als politisch bewusste, spanisch sprechende und

selbst künstlerisch tätige Gefährtin, die mit der Kunst und den

Gegenwartsproblemen, die Picasso seinerzeit verfolgten, über-

einstimmte. Außer Frage steht jedoch, dass Picasso niemals nur

eine bestimmte Frau als Motiv hatte.

Sicherlich stellte der Spanische Bürgerkrieg und das für ihn

substantiell gewordene Leiden des spanischen Volkes einschließ-

lich seiner Freunde und Verwandten eine zentrale Motivation

für Picasso dar, sich nahezu ein halbes Jahr lang monoman dem

Thema der »Verzweifelten Frau« zu widmen. Zudem war er aktuell

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116

mit der Anfertigung eines Wandgemäldes für die Weltausstellung

beauftragt. Die Formensprache der Studien lässt die realistische

Anatomie weitgehend außer Acht und konzentriert sich nur auf

den emotionalen Ausdruck. Dieser führt nicht nur im übertrage-

nen Sinne zu einer Verwerfung und Zerstörung aller psychischen

und physischen Normen, sondern auch in der sichtbaren Realität

zu einer ›Normveränderung‹ des menschlichen Erscheinungsbil-

des. Das Gesicht wird deformiert, es wird destruiert und zerris-

sen, wie auch das innere Gleichgewicht der betroffenen Perso-

nen. Insofern ist die ›Destruktion‹, wie sie Picasso vornimmt, das

formale Äquivalent des inneren, psychischen Geschehens. Die

mit der Werkgruppe gewonnene bildnerische Sprache als eine

Metapher für Leid, Schmerz, Verzweiflung usw. ist ohne Zweifel

von zeitloser Gültigkeit und wird für Picasso in den folgenden

Jahren maßgebend und tragend bei Darstellungen menschlichen

Leides.

Bezogen auf die Intention der Destruktion jedoch, die die

Methode des Malprozesses Picassos darstellte, und die sich na-

turgemäß auch inhaltlich in der Bildserie wiederfindet, kann

zusätzlich festgestellt werden, dass diese Intention sogar einen

Aspekt der geistigen Realität des ganzen letzten Jahrhunderts

widerspiegelt. Sie ist dementsprechend nicht nur themenimma-

nent, sondern drückt eine globale Aussage von Picassos – und

unserer – Weltsicht (und Realität) aus. Picassos Bilder der »Ver-

zweifelten Frau« sind somit sicherlich auch Sinnbild der Leidens-

geschichte unserer Zeit.

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117

Picassos emotionale Intention

Giotto hatte im 14. Jahrhundert versucht, den Menschen nicht

nur als Symbol des Menschseins mit nahezu genormter Mimik,

Gestik und Farbe darzustellen, sondern als Individuum mit un-

terschiedlichen Gefühlen und Regungen, d. h. er versuchte eine

Realität darzustellen, die in der Malerei bis dahin nicht exis-

tierte. So auch Picasso. Entsprechend Balzacs Novelle Novelle Le

Chef-d‘œuvre inconnu (1831), die Picasso hoch schätzte und mit

Zeichnungen versehen hatte, gilt auch für ihn das Axiom des Pro-

tagonisten: »Der Auftrag der Kunst besteht nicht darin, die Natur

nachzuahmen, sondern sie auszudrücken.« Picasso selbst stellte

fest (49): »Durch Kunst drücken wir unsere Vorstellung von dem

aus, was Natur nicht ist.« Er gibt ferner an – und propagiert da-

mit eine neue Sichtweise (50): »Jetzt wissen wir, dass Kunst nicht

Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Annäherung an die

Wahrheit ermöglicht, zumindest an die Wahrheit, die für uns er-

kennbar ist.« Und das bedeutet für Picasso (51): »Ein Bild ist die

Summe von Additionen. In meinem Fall ist ein Bild die Summe

von Destruktionen. Ich mache ein Bild – und dann zerstöre ich

es … Trotzdem ist am Ende nichts verloren.« Gestützt wird die-

se Stellungnahme, die allerdings ausschließlich den Malprozess

Picassos beschreibt, durch folgende Formulierung (52): »Ja, ich

fühle, dass mein Malen einen Kampf darstellt, wirklich im Sinne

einer Revolution.« Der Malprozess selber aber dürfte gleichzeitig

auch ausschlaggebend für den Betrachter sein, der sich an die

Maxime Picassos zu halten hat (53): »Kunst ist nicht die Nutzan-

wendung eines Schönheitskanons, sondern das, was Instinkt und

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118

Gehirn über jeden Kanon hinaus fassen können.« Picasso änder-

te die Sichtweise grundsätzlich – wie Giotto seinerzeit.

Das Phänomen der monatelangen Wiederholung des gleichen

Themas ist als ein Zeichen der konzeptuellen Kunst zu werten, die

sich mehr für den Mechanismus der Schöpfung, für den Prozess

der Bildentstehung interessiert als für das Resultat. Für Picasso

bedeutet dies auch, dass er auf der Suche nach Vollkommenheit

war; eine Methode, durch die Erkundung der Vielheit der Stile

zur Wahrheit zu gelangen (55). »Wenn ich die Wahrheit in mei-

nen Bildern suche, kann ich hundert Bilder mit dieser Wahrheit

machen.«

Hinsichtlich der Darstellung von emotionellen Details mag

eines von Picassos kleinen Gemälden Aufschluss zur gedankli-

chen Intention geben, deren Datierung bisher unklar ist (56):

Weibliche Figur durch den Krieg in Spanien inspiriert (Abb. 38). Es

handelt sich um ein polemisches Sujet – ein politisches Propag-

andabild – mit direktem Bezug zum Bürgerkrieg. Dargestellt wird

das Portrait der Marquesa, einer christlichen Hure, die den mau-

rischen Soldaten, die ihrerseits die Jungfrau Maria verteidigen,

Geld zuwirft (57). Das Gemälde enthält folgenden Text im Hinter-

grund: »Bildnis der Marquesa, eines christlichen ›Arschlochs‹, das

maurischen Soldaten, den Beschützern der heiligen Jungfrau,

eine Münze zuwirft«. Mit diesem Bild sprach Picasso u. a. die Fi-

nanzierung der nationalistischen Armee durch die spanischen

Aristokraten und Finanziers an, die die islamischen Mauren dazu

brachten, die christliche Jungfrau Maria gegen das spanische

Volk zu verteidigen.

Baldassari (2006) interpretiert das ungewöhnliche Bild fol-

gendermaßen: Die Marquesa (Goyas Maya), die auf dem Balkon

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119

Abbbildung 38

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120

wie wild die spanische Fahne schwenkt, stellt unverwechselbar

die elegante, extravagante Dora Maar dar, die mit ihren krallenar-

tigen langen Fingernägeln die Wut und Ohnmacht des Künstlers

Picasso symbolisiert. Mit diesem Gemälde nimmt Dora Maar die

Position einer allgemeingültigen Allegorie an, in der Picasso sei-

ne Ängste und seine Zerrissenheit zum Ausdruck bringt.

Dieses Bild zeigt sicherlich keine verzweifelte Frau und gehört

schon gar nicht zur Werkgruppe »Verzweifelte Frau«, aber mit Si-

cherheit zum Komplex »Spanischer Bürgerkrieg«. Auch hier – wie

bei der »Verzweifelten Frau« – muss Dora Maar die Rolle eines

bildlichen Symbols übernehmen: Sie ist assoziiert mit der poli-

tischen Situation in Spanien. Baldassari (59) notiert, dass sich

Dora Maar aufgrund ihrer ausgeprägten künstlerischen Sensibi-

lität, ihrer Fähigkeit, mit Picasso mitzuleiden und ihrem offenbar

großem Engagement in politischen und sozialen Fragen geradezu

als ein Spiegel von Picassos Seelenqualen anbot.

Der Bildkomplex »Verzweifelte Frau« gibt demnach u. a. den zer-

rissenen emotionalen Zustand Picassos – und nicht Dora Maars –

wieder, der offenbar tatsächlich im Wesentlichen durch das Lei-

den und den Schrecken der Bevölkerung Spaniens während des

Spanischen Bürgerkrieges verursacht wurde. Es handelt sich so-

mit um seine eigene, auf die Physiognomie einer Frau (Dora Maar)

projizierte Stellungnahme zu den politischen Verhältnissen Spa-

niens, die er, offenbar mehr rational bestimmt, im Wandgemälde

Guernica sehr komplex realisiert hatte, und die er in einem zweiten

Anlauf eher emotional bestimmt in der Werkgruppe »Verzweifelte

Frau« variiert wiederholen konnte, jetzt allerdings eher eindimen-

sional auf die mimischen Veränderungen der Frau beschränkt.

In jedem Fall aber ist festzuhalten, dass oszillierend mit dieser

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offenbar ebenso rational gesteuerten Absicht die aktuelle, pri-

vat-biografische Situation (die Beziehungen zu Dora Maar, Marie-

Thérèse Walter und Olga Khokhlova) einen zusätzlichen emotio-

nalen Impetus gegeben haben dürfte. Beeinflusst aber wurde Pi-

casso sicherlich auch durch den ikonografischen (und zusätzlich

biografischen) Hintergrund einer mit Spanien assoziierten ›Mater

dolorosa‹. Schließlich erprobte Picasso in unendlicher Vielfalt die

Darstellung des mimischen Ausdrucks menschlichen Leidens, der

für die bildliche Darstellung menschlicher Emotionen bei Picasso

tragend wurde. Es fand damit – wie anfangs festgestellt – in der

Geschichte der bildenden Kunst ein gestalterischer Umbruch bei

der visuellen Darstellung von Emotionen in der Physiognomie des

Menschen statt, den man vielleicht mit dem Umbruch im 13. Jahr-

hundert durch Giotto gleichsetzen könnte, der die Entwicklung

der Kunst im westlich abendländischen Kulturkreis bestimmte.

Dabei sollte davon ausgegangen werden, dass der wichtigste

Impuls, d. h. auch das ursprüngliche und tragende Element, ohne

Zweifel die Bombardierung von Guernica und der Spanische Bür-

gerkrieg war, den anzuklagen das primäre Ziel Picassos gewesen

sein dürfte. Die »Verzweifelte Frau« ist aber das Symbol auch des

eigenen Schmerzes, der eigenen Hilflosigkeit und Aggression

–  nicht nur gegenüber den Verhältnissen in Spanien, sondern

auch gegenüber den persönlichen Verhältnissen, die weiterhin

bestehenden Klagen seiner Ehefrau Olga –, die er in die Bilder

projizierte. Die Bilder sind unabhängig von diesem Krieg und der

Bombardierung von Guernica verständlich und haben, wie das

große Wandgemälde, eine viel allgemeinere Aussage zum Ziel:

die Klage gegen die Grausamkeit und Unsinnigkeit eines jeden

Krieges.

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122

Anmerkungen

1. Barr 1946, S. 195–206; Oppler 1987, S. 47 ff.; Chipp 1988,

S. 24–34; Ullmann 1993, S. 520, Anm. 260

2. Ullmann 1993, S. 45–58; v. Hensbergen 2004, S. 19–68;

Patterson 2007, S. 16–48

3. Spies 1968, S. 32

4. v. Hendbergen 2004, S. 76

5. Barr 1946, S. 206

6. Spies 1981, S. 20

7. Marcucci 1965, S. 631–648; Strauss 1972, S. 92

8. Daix und Boudaille 1966, S. 49

9. siehe PP 1901–3071

10. vgl. Caws 2002, S. 124; s.a. PP37–221–226

11. Freeman 1994, S. 72

12. Ullmann 1993, 5. 161

13. Ullmann 1993, S. 163

14. Gilot und Lake 1965, S. 51

15. Ullmann 1993, Abb. 169

16. Ullmann 1993, Abb. 167

17. Ullmann 1993, S. 177

18. Ullmann 1993, S. 148

19. Brassai 1966, S. 121

20. Spies 1981, S. 20f

21. Fundación Carlos de Amberes 1999/2000; Cowling E 2002;

Müller M, Hrsg 2002

22. Rombold G 1988, S. 96 ff.; Becht-Jördens G, Wehmeier PM

2003; Weisner U 1984

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123

23. Ullmann 1993, S. 163

24. Russell1988, S. 127; Ullmann 1993, S. 172

25. Russell 1988

26. Blunt A 1969, S. 45; Ferrier JL 1977, S. 41

27. Cowling 2002, a.a.O., S. 599

28. Chipp 1988, S. 108

29. Russell 1988, S. 2830. Ullmann 1993, S. 151

31. Weisner 1991, S. 348, Anm. 98

32. Freeman 1994, S. 90 f.

33. Ullmann 1993, S. 99

34. Baldassari 2006, Förster T 2000

35. Gilot und Lake 1967, S. 121

36. Malraux 1975, S. 129

37. Richardson 1991, S. 15

38. Gilot und Lake 1967, S. 121

39. Spies 1992, S. 32

40. Müller M, 2004, S. 19

41. Sircoulomb-Müller, V-A 2002, S. 67

42. Ullmann 1993, S. 33

43. Gilot und Lake 1965, S. 225

44. Daix 1993, S. 171

45. Caws 2000, S. 120

46. Lord 1994, S. 105

47. Weisner 1984, S. 31

48. Förster 2002, S. 212

49. The New York Telegram, 21. 08. 1937, Reprint Oppler 1987,

5. 224 f.

50. Ullmann 1993, 5. 134

51. Chipp 1988, S. 108

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124

52. Keel 1982, S. 87

53. De Zayas 1923

54. Zervos 1935, S. 173–176, Reprint: Oppler 1987, S. 224 f.

55. L‘Humanite 29./30. 10. 1944; Reprint: Oppler 1987, S. 250

56. Baldassari vermutet, dass das Bild am 19. Januar 1937 ge-

malt worden sei, an dem Tag, an dem der Geburtsort Pi-

cassos, Malaga, durch die Faschisten eingenommen wurde;

im Picasso Project (PP) wird hingegen der September 1937

angegeben.

57. Spies 1993, S. 17 f.

58. Permelin 1967, S. 41

59. Baldassari 2006, S. 16

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130

Abbildungsverzeichnis

Zuordnung der Abbildungen in einem Gesamtverzeichnis bzw.

zu Originalveröffentlichungen (vgl. alphabetisches Literaturver-

zeichnis): Bloch I; Bloch IV; Caws; MP – Musée Picasso; PP –Pi-

casso Project; Ullmann

ABB. 1: Picasso – Guernica (06. 06. 1937) Öl auf Leinwand,

349,3 × 776,6 cm (PP37–155)

ABB. 2: Mutter mit Kind

(a) Giotto: Detail aus dem Fresco, Capella degli Scovegni

all’Arena in Padua (1303–1310)

(b) Picasso: Picassos Mutter mit Kind (1903) Pastel,

47,5 × 40,5 cm (PP1903–122)

ABB. 3: (a) Der Tanz (1925) Öl, Leinwand, 214,9 × 142,8 cm Über-

sicht (PP25–052)

(b) Der Tanz – Detail: zweifach dargestelltes Gesicht (im

Profil und frontal)

(c) Vergewaltigung (20. 01. 37) Bleistift, Papier,

21,5 × 27,5 cm (PP37–15)

ABB. 4: Picasso-Detail-Skizzen mit Variationen von Auge, Mund,

Tränentuch u. Kopf

ABB. 5: Picasso-Die Kreuzigung (07. 12. 30) Öl, Sperrholz,

50 × 65 cm (PP30–18)

Page 130: Picasso malt die Verzweiflung (Innenteil)€¦ · Pablo Picasso in München erstmals die Sammlung Marina Picas-sos in Deutschland gezeigt, und damit auch zahlreiche Bilder aus dieser

131

(a) Mund, Augen (09/10. 10. 1936) Bleistift, Tinte,

27 × 21cm (PP36–81)

(b) Mund u. Augen (22. 01. 1937) Bleistift auf blauen

Papier, 27 × 21cm (PP37–15)

(c) Stierkopf, Augen, (20. 05. 1937) Bleistift und Gouache,

23,2 × 29 (PP37–128) (d) Augen, Tränentuch (24. 10. 1937)

Bleistift, Tinte, 25,5 × 17,9 cm (PP37–215)

(e) Augen, Tränentuch (25. 10. 1937) Bleistift, Tinte,

20,5 × 16,6 (PP37–216)

ABB. 6: Picasso Studien – Mutter mit totem Kind (08.05 bis

10. 05. 1937)

(a) Komplettstudie zu Guernica, Bleistift, 24,1 × 45,7 cm

(08. 05. 1937) PP37–113

(b) Detail-Studie zu Guernica, Bleistift, 24 × 45,5 cm

(08. 05. 1937) PP37–114

(c) Detail-Studie zu Guernica, Bleistift, Tinte,

24 × 45,3 cm (09. 05. 1937) PP37–115

(d) Detail-Studie zu Guernica, Bleistift, 45,3 × 24 cm

(09. 05. 1937) PP37–117

(e) Detail-Studie zu Guernica, Bleistift, Kreide,

45,7 × 24,4 (10. 05. 1937) PP37–122

ABB. 7: Picasso – Das Drama: Mutter mit totem Kind (13.05 bis

22. 06. 1937)

(a) Bleistift, Kreide, 23,9 × 45,5 cm (13. 05. 1937) PP37–

126

(b) Bleistift, Kreide, Gouache, 23,1 × 29,2 (28. 05. 1937)

PP37–137

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132

(c) Bleistift, Kreide, Gouache, Collage, 23,1 × 29,2 cm

(28. 05. 1937) PP37–138

(d) Öl, Leinwand, 55 × 46 cm (22. 06. 1937) PP37–163

ABB. 8: Picasso – Guernica – Mutter mit totem Kind – Detail

(11. 05. 37) (bereits fertig konzipiert im ersten fotogra-

fisch dokumentierten Zustand des Wandgemäldes)

ABB. 9: Picasso – Mutter mit totem Kind (26. 09. 1937) Öl, Lein-

wand, 130 × 195 cm (PP37–200)

ABB. 10: Picasso-Details aus der Radierung Traum und Lüge Fran-

cos (08. 06. 1937) (Bloch I, 297, 298)

(a) Flüchtende Frau mit totem Kind (9 × 14 cm)

(b) Tödlich verletzte Frau Mann mit zwei lebendigen

Säuglingen (9 × 14 cm)

(c) Tote Frau mit totem Kind (9 × 14 cm)

ABB. 11: Picasso – Bildgruppe 1 der »Verzweifelten Frau« (13.05

bis 28. 05. 1937)

(a) Bleistift, Kreide, 45,4 × 24 cm (13. 05. 1937) PP37–

124

(b) Bleistift, Gouache, 29 × 23,2 cm (20. 05. 1937) PP37–

131

(c) Bleistift, Gouache, 29,2 × 23,1cm (24. 05. 1937)

PP37–132

(d) Pferdekopf, Bleistift, 26,9 × 21cm (02. 05. 1937)

PP37–109

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133

ABB. 12: Picasso – Bildgruppe 2 der »Verzweifelten Frau« (24.05.

bis 28. 05. 1937)

(a) Bleistift, Gouache, 29,2 × 23,2 (24. 05. 1937) PP37–

133

Bleistift, Gouache, 23,2 × 29,3 cm (27. 05. 1937) PP37–

135

(b) Klagender Mann, Bleistift, Gouache, 23,2 × 29,3 cm

(27. 05. 1937) PP37–136

Bleistift, Kreide, Gouache, 23,2 × 29,3 cm (28. 05. 1937)

PP37–139

ABB. 13: Picasso – Bildgruppe 3 der »Verzweifelten Frau« (31.05.

bis 03. 06. 1937)

(a) Bleistift, Kreide, Gouache, 23,2 × 29,3 cm

(31. 05. 1937) PP37–140

Bleistift, Kreide, Gouache, 23,2 × 29,3 cm (05. 06. 1937)

PP37–143

(b) Bleistift, Kreide, Gouache, 23,2 × 29,3 cm

(03. 06. 1937) PP37 142

(c) Bleistift, Kreide, Gouache, 23,2 × 29,3 cm

(03. 06. 1937) PP37–144

ABB. 14: Picasso – Detail aus der Radierung Traum und Lüge Fran-

cos (08. 06. 1937) (Bloch I, 297, 298) bzw. 18. 06. 1937

(Freeman 1994)

(a) Weinende Frau, 9 × 14 cm

(b) Zeichnung unterhalb eines Textes zu Traum und Lüge

Francos 818. 06. 1937) Freeman (1994, S. 72)

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ABB. 15: Picasso – Bildgruppe 4 der »Verzweifelten Frau« (08. bis

13. 06. 1937)

(a) Bleistift, 29 × 23 cm (08. 06. 1937) PP37–157

(b) Bleistift, Kreide, Gouache, 29 × 23 cm (08. 06. 1927)

PP37–156

(c) Bleistift, Kreide, 29 × 23 cm (13. 06. 1937) PP37–158

ABB. 16: Picasso – Bildgruppe 5 der »Verzweifelten Frau«

(19. 06. 1937)

(a) Bleistift, Gouache auf Pappe, 12 × 9 cm (19. 06. 1937)

PP37–162

(b) Kreide, 29 × 23,3 cm (1937) PP37–167

(c) Bleistift, 29,3 × 21,2 cm (1937) PP37–219

ABB. 17: Picasso – Bildgruppe 6 der »Verzweifelten Frau«

(22. 06. 1937)

(a) Tinte, 65 × 50 (1937) PP37–162 (a)

(b) Bleistift, Gouache, 64 × 49,5 cm (22. 06. 1937) PP37–

166

(c) Öl, Leinwand, 55 × 46 cm (22. 06. 1937) PP37–164

(d) Öl, Leinwand, 55 × 46 cm (22. 06. 19937) PP37–165

ABB. 18: Picasso – Bildgruppe 7 der »Verzweifelten Frau« (26.06.

bis 02. 07. 1937)

(a) Kreide, Gouache, Leinwand, 55 × 46 cm (26. 06. 1937)

PP37–169

(b) Öl, Leinwand, 55 × 46 cm (26. 06. 1937) PP37–170

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ABB. 19: Picasso – Bildgruppe 8 der »Verzweifelten Frau« (26.06.

bis 02. 07. 1937)

(a) Radierung, 72,3 × 49,3 cm (02. 07. 1937) Bloch I 1333

(b) Tinte, 15 × 11cm (26. 06. 1937) PP37–171a

(c) Radierung (01. 07. 1937) MP2976

(d) Kaltnadel, 34,5 × 24,8 cm (04. 07. 1937) MP2776

ABB. 20: Picasso – Bildgruppe 9 der »Verzweifelten Frau« (04.07.

bis 16. 07. 1937)

(a) Entwickelter Foto-Film (16. 07. 1937) MP2762

(b) Kaltnadel, 34,5 × 24,6 cm 8 (04. 07. 1937) MP2775

(c) Tinte, 15 × 11 cm (04. 07. 1937) PP37–171

(d) Tinte, 25 × 16 cm (06. 07. 1937) PP37–172

ABB. 21: Picasso – Bildgruppe 10 der »Verzweifelten Frau«

(06. 10. 1937)

(a) Bleistift, 9,5 × 14 cm (06. 10. 1937) PP 37–203

(b) Bleistift, Streichholzschachtel (1937) PP37–222

(c) Bleistift, Streichholzschachtel (1937) PP37–224

(d) Farbstift, Streichholzschachtel (1937) Caws 2002

(S. 124)

(e) Bleistift, Streichholzschachtel (1937) PP37–221

(f) Bleistift, Streichholzschachtel (1937) PP37–223

ABB. 22: Picasso – Bildgruppe 11 der »Verzweifelten Frau« (12.10.

bis 13. 10. 1937)

(a) Bleistift, Tinte, Feder 90 × 58,5 cm (12. 10. 1937)

PP37–204

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(b) Öl, Tinte, Leinwand, 55 × 46 cm (13. 10. 1937) PP37–

205

ABB. 23: Picasso – Bildgruppe 12 der »Verzweifelten Frau« (17.10.

bis 24. 10. 1937)

(a) Öl, Leinwand, 92 × 73 cm (17. 10. 1937) PP37–206

(b) Öl, Leinwand,55,3 × 46,3 cm (18. 10. 1937) PP37–207

(c) Öl, Leinwand, 55 × 46 cm (18. 10. 1937) PP37–208

(d) Öl, Leinwand, 25,5 × 17,3 cm (24. 10. 1937) PP37–214

ABB. 24: Picasso – Einzelbild einer »Verzweifelten Frau«

(22. 10. 1937)

Entwickelter Negativ-Film eingeritzt (22. 10. 1937) Bloch

III, Nachtrag zu I, 302

ABB. 25: Picasso – Bildgruppe 13 der »Verzweifelten Frau« (26.10.

bis 28. 10. 1937)

(a) Weinende mit Rotem Hut, Öl, Leinwand, 60 × 49 cm

(26. 10. 1937) PP37–217

(b) Öl, Tinte, Wasserfarbe, 40 × 26,1cm (28. 10. 1937)

PP37–218 08–73

ABB. 26: Picasso – Einzelbild einer »Verzweifelten Frau«

(20. 11. 1937) Öl, Leinwand, 55 × 38 cm (20. 11. 1937)

PP37–227

ABB. 27: Picasso – Bildgruppe 14 der »Verzweifelten Frau« (18.12.

bis 22. 12. 1937)

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(a) Die Bittstellerin, Gouache auf Holztafel, 24 × 28,5

(18. 12. 1937) PP37–248

(b) Flehende, Farbstifte, Papier, 26 × 11cm (22. 12. 1937)

Ullmann 1993, Abb. 167

© Fischerfamilie am Strand (20. 12. 37) Bleistift, Kohle,

Papier, 21 × 27 cm (Ullmann Abb. 169)

ABB. 28: Picasso – Skulptur Weinende, Gips, 9,5 × 8 × 4 cm (1937)

PP37–262

ABB. 29: Picasso – Trauernde (16. 10. 39) Öl, Leinwand, 55 × 38 cm

(PP39–273)

ABB. 30: Picasso – 1959 – Skizzenblock mit Assoziation: Christus

und Stierkampf

(a) Christus am Kreuz, Tinte, 37 × 27 cm (02. 03. 1959)

PP59–42

(b) Mater dolorosa, Lithografie, Kreide, 37 × 27

(02. 03. 1959) PP59–30

ABB. 31: Picasso – Raub der Sabinerinnen (1962) – Selbstportrait

(1972)

(a) Raub der Sabinerinnen (Gemälde) Öl, Leinwand,

97 × 130 cm (08. 11. 1962) (PP1962–270)

(b) Raub der Sabinerinnen (Gemälde) Detail

© Raub der Sabinerinnen (Skizze), Kohle, 21 × 27 cm

(26. 10. 1962) PP62–239

(d) Selbstportrait, Bleistift, Kreide, 65,7 × 50,5 cm

(30. 06. 1972) PP72–173

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ABB. 32: Potentieller Einfluss: Van der Weyden,

(a) Roger van der Weyden Kreuzabnahme

(1450?)-(Übersicht)

(b) Roger van der Weyden Kreuzabnahme – (Detail)

ABB. 33: Potentieller Einfluss: Matthias Grünewald

(a) Grünewald Isenheimer Altar, (1502–1515) –

(Übersicht)

(b) Grünewald Isenheimer Altar – (Detail)

Grünewald Magdalenas Klage (1515?) – (Übersicht)

Grünewald Magdalenas Klage – (Detail)

ABB. 34: Potentielle Einflüsse aus der Kunstgeschichte

(a+b) Pedro de Mena Mater dolorosa, Holzskulptur (ca

1650)

(c) Francisco Goya Los Desastras de la Guerra (1810)

(Detail aus Radierung Nr. 41)

(d) Eisenstein, Film Panzerkreuzer Potemkin (1925)

(e) Juan Miro Der Schnitter (1937)

(f) Ferrer de Morgado Madrid 1937

ABB. 35: Picasso – Dora Maar als Modell

(a) Portrait Dora Maar, Öl, Leinwand, 55,3 × 46,3 cm

(23. 11. 1937) PP37–229

(b) Portrait Dora Maar, Öl, Leinwand, 92 × 65 cm (1937)

PP37–230

(c) Portrait Dora Maar, Bleistift, 31,5 × 40,5 cm

(28. 01. 1937) PP37–16

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(d) Liegende Frau auf Sofa (DM), Öl, Leinwand,

97 × 130 cm (21. 01. 1939) PP39–15

ABB. 36: Picasso – Marie-Thérèse Walter als Modell

(a) Portrait Marie-Thérèse Walter, Öl, Leinwand,55 × 46 cm

(15. 01. 1937) PP37–05

(b) Portrait Marie-Thérèse Walter, Öl, Leinwand,100 × 81cm

(06. 01. 1937) PP37–02

© Liegende Frau lesend, Öl, Leinwand, 96,5 × 130 cm

(21. 01. 1939) PP39–16

(d) Profil einer Frau, Öl, Leinwand, Größe unbekannt

(12. 08. 1928) PP28–176 Palau 131

(e) Profil einer Frau, Öl, Leinwand, 35 × 24 cm

(13. 08. 1928) PP28–177 Palau 132

ABB. 37: Beispielhaft biografische Notizen Picassos in Form von

Bildern

(a) Picasso – Selbstportrait mit Monster, Öl, Leinwand,

71 × 60,5 cm (1929) PP29–08

(b) Picasso – Françoise Gilot u. Weinende, Kaltnadel,

69,6 × 49,6 cm (1946) M. Müller, S. 67

© Picasso – Ein Mann hält ein Pferd, Tinte, 29 × 49 cm

(23. 10. 1937) PP37–2 (Übersicht)

(c) Picasso – Ein Mann hält ein Pferd (Detail)

ABB. 38: Picasso – Portrait der Marchioness, Öl, Leinwand,

38 × 46 cm (1937) PP37–201

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