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I. Hierauf vergleiche nun, fuhr ich fort, unsere Natur in bezug auf Bildung und Unbildung mit folgendem Erlebnis. Stele dir Menschen vor in einer unterirdischen, höhlenar6gen Behausung; diese hat einen Zugang, der zum Tageslicht hinaufführt, so groG wie die ganze Hohle. In dieser Hohle sind sie von Kind auf, ge- : $ P*)! fesselt an Schenkeln und Nacken, so da3 sie an Ort und Stelle , kleiben und immer nur geradeaus schauen; ihrer Fesseh wegen önnen sie den Kopf nicht herumdrehen. Licht aber erhalten sie 1 [I I Jn einem Feuer, das hinter ihnen weit oben in der Feme brennt. ,wischen dem Feuer und den Gefesselten aber fuhrt oben ein t ?eg hin; dem entlang denke dir eine Meine Mauer errichtet, wie :>) q : : : ie Schranken, die die GauMer vor den Zuschauern aufbauen rri l nd über die hinweg sie ihre Kunststücke zeigen. ! h., 11, *Ich sehe es vor mir*, sagte er. I Steiie dir nun Iängs der kleinen Mauer Menschen vor, die 'Tl llerhand Geräte vorübertragen, so, da8 diese über die Mauer : .: inausragen, Statuen von Menschen und anderen Lebewesen 1 W 1: us Stein und aus Holz und in mannigfacher Ausführung. Wie 3;: iatürlich, redet ein Teil dieser Träger, ein anderer schweigt d. *Ein seltsames Bild führst du da vor, und seltsame Gefes- elte*, sagte er. Sie sind uns ähnlich, erwiderte ich. Denn erstens: glaubst du, iiese Menschen hatten von sich selbst und voneinander je etwas tnderes ZU sehen bekommen als die Schatten, die das Feuer auf iie ihnen gegenüberliegende Seite der HöhIe wirft? »Wie sollten sie«, sagte er, *wenn sie zeitlebens gezwungen I ;ind, den Kopf unbeweglich zu halten?« I DER STAAT. SIEBENTES BUCH 1'5 d 569 Was sehen sie aber von den Dingen, die vorübergetragen wer- n? Doch eben dasselbe? ' ! ' I *Zweifellos.* Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, sie würden das als das Seiende bezeichnen, was sie sehen? i .Notwendig.* I Und wenn das Gefängnis von der gegenüberliegendenWand I tr auch ein Echo hatte und wenn dann einer der Vorübergehen- n spräche - tglaubst du, sie würden etwas anderes fur den Spre- 8 E :' ., ienden haiten als den vorbeiziehenden Schatten? 5 . I 1 s ." 11 .Nein, beim Zeus*, sagte er. Auf keinen Fall, fuhr ich fort, könnten solche Menschen ir- in1 I md etwas anderes für das \Vahre halten als die Schatten jener ~Unstlichen Gegenstände. C )( i »Das wäre ganz unvermeidlicha, sagte er. !:I 'um Überlege dir nun, fuhr ich fort, wie es wäre, wenn sie von \E;; ihren Fesseln befreit und damit auch von ihrer Torheit geheilt ,ha, würden; da müßte ihnen doch naturgemäß folgendes widerfah- Jtl ren: Wenn einer aus den Fesseln gelöst und genötigt würde, I 1 plöulich aufzustehen, den Hals zu wenden, zu gehen und gegen 1 das Licht zu schauen, und wenn er bei aU diesem Tun Schrner- : II: ' .I 1 zen empfände und wegen des blendenden Glanzes jene Dinge I , ** j nicht recht erkennen könnte, deren Schatten er vorher gesehen .J , hat - was meinst du wohl, daß er antworten würde, wenn ihm b jemand erklärte, er hatte vorher nur Nichtigkeiten gesehen, jetzt aber sei er dem Seienden näher und so, dem eigentlicher Seien- den zugewendet, sehe er richtiger? Und wenn der ihm dann ein ' :des von dem Vorüberziehenden zeigte und ihn fragte und zu ngen nötigte, was das sei? Meinst du nicht, er wäre in Verlegen- eit und würde das, was er vorher gesehen hat, für wahrer wirklicher) halten als das, was man ihm jeat zeigt? für viel wahrer (wirklicher)*, erwiderte er. . Und wenn man ihn gar nötige, das Licht selber anzublicken,

Platon - Der Staat, 7. Buch

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Page 1: Platon - Der Staat, 7. Buch

I. Hierauf vergleiche nun, fuhr ich fort, unsere Natur in bezug auf Bildung und Unbildung mit folgendem Erlebnis. Stele dir Menschen vor in einer unterirdischen, höhlenar6gen Behausung; diese hat einen Zugang, der zum Tageslicht hinaufführt, so groG wie die ganze Hohle. In dieser Hohle sind sie von Kind auf, ge- : $

P * ) ! fesselt an Schenkeln und Nacken, so da3 sie an Ort und Stelle , kleiben und immer nur geradeaus schauen; ihrer Fesseh wegen

önnen sie den Kopf nicht herumdrehen. Licht aber erhalten sie 1 [I I Jn einem Feuer, das hinter ihnen weit oben in der Feme brennt. ,wischen dem Feuer und den Gefesselten aber fuhrt oben ein

t ?eg hin; dem entlang denke dir eine Meine Mauer errichtet, wie :>)

q::: ie Schranken, die die GauMer vor den Zuschauern aufbauen rri l

nd über die hinweg sie ihre Kunststücke zeigen. ! h.,

1 1 ,

*Ich sehe es vor mir*, sagte er. I Steiie dir nun Iängs der kleinen Mauer Menschen vor, die 'Tl llerhand Geräte vorübertragen, so, da8 diese über die Mauer : .:

inausragen, Statuen von Menschen und anderen Lebewesen 1 W 1: us Stein und aus Holz und in mannigfacher Ausführung. Wie 3;: iatürlich, redet ein Teil dieser Träger, ein anderer schweigt d. *Ein seltsames Bild führst du da vor, und seltsame Gefes-

elte*, sagte er. Sie sind uns ähnlich, erwiderte ich. Denn erstens: glaubst du,

iiese Menschen hatten von sich selbst und voneinander je etwas tnderes ZU sehen bekommen als die Schatten, die das Feuer auf iie ihnen gegenüberliegende Seite der HöhIe wirft?

»Wie sollten sie«, sagte er, *wenn sie zeitlebens gezwungen I

;ind, den Kopf unbeweglich zu halten?« I

D E R S T A A T . S I E B E N T E S B U C H 1'5 d 569

Was sehen sie aber von den Dingen, die vorübergetragen wer- n? Doch eben dasselbe?

' ! ' I

*Zweifellos.* Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht,

sie würden das als das Seiende bezeichnen, was sie sehen? i .Notwendig.* I

Und wenn das Gefängnis von der gegenüberliegenden Wand I

tr auch ein Echo hatte und wenn dann einer der Vorübergehen- n spräche - tglaubst du, sie würden etwas anderes fur den Spre- 8 E :' ., ienden haiten als den vorbeiziehenden Schatten? 5 .I 1

s ." 11 .Nein, beim Zeus*, sagte er. Auf keinen Fall, fuhr ich fort, könnten solche Menschen ir- in1 I

md etwas anderes für das \Vahre halten als die Schatten jener ~Unstlichen Gegenstände. C )( i

»Das wäre ganz unvermeidlicha, sagte er. !::I 'um

Überlege dir nun, fuhr ich fort, wie es wäre, wenn sie von \E;; ihren Fesseln befreit und damit auch von ihrer Torheit geheilt , h a ,

würden; da müßte ihnen doch naturgemäß folgendes widerfah- Jtl ren: Wenn einer aus den Fesseln gelöst und genötigt würde, I 1 plöulich aufzustehen, den Hals zu wenden, zu gehen und gegen

1 das Licht zu schauen, und wenn er bei aU diesem Tun Schrner- : II: ' .I 1 zen empfände und wegen des blendenden Glanzes jene Dinge I , ** j nicht recht erkennen könnte, deren Schatten er vorher gesehen .J , hat - was meinst du wohl, daß er antworten würde, wenn ihm b jemand erklärte, er hatte vorher nur Nichtigkeiten gesehen, jetzt

aber sei er dem Seienden näher und so, dem eigentlicher Seien- den zugewendet, sehe er richtiger? Und wenn der ihm dann ein ' :des von dem Vorüberziehenden zeigte und ihn fragte und zu ngen nötigte, was das sei? Meinst du nicht, er wäre in Verlegen- eit und würde das, was er vorher gesehen hat, für wahrer wirklicher) halten als das, was man ihm jeat zeigt? für viel wahrer (wirklicher)*, erwiderte er. . Und wenn man ihn gar nötige, das Licht selber anzublicken,

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dann schmerzten ihn doch wohl die Augen, und er wendete sich ab und flöhe zu den Dingen, die er anzuschauen vermag, und glaubte, diese seien tatsäclilich klarer als das, was man ihm jetzt zeigt? .J3 ist SO., sage er. Schleppte man ihn aber von dort mit Gewalt den rauhen und

steiien Aufgang hinauf, fuhr ich fort, und ließe ihn nicht los, bis man ihn an das Licht der Sonne hinausgezogen haae - würde er da nicht Schmerzen empfinden und sich nur widerwiiiig so schleppen lassen? Und wenn er ans Licht käme, hätte er doch die Augen voll Glanz und vermöchte auch rein gar nichts von dem zu sehen, was man ihm nun als das Wahre bezeichnete?

.Nein., erwiderte er, .wenigstens nicht im ersten Augenblick.. Er müßte sich also daran gewöhnen, denke ich, wenn er die

Dinge dort oben sehen wollte. Zuerst würde er wohl am leich- testen die Schatten erkennen, dann die Spiegelbilder der Men- schen und der ändern Gegenstände irn Wasser und dann erst sie selbst. Und daraufhin könnte er dann das betrachten, was am Himmel ist, und den Himmel selbst, und zwar leichter bei Nacht, indem er zum Licht der Sterne und des Mondes auf- blickte, als am Tage zur Sonne und zum Licht der Sonne.

Ohne Zweifel.. Zuletzt aber, denke ich, würde er die Sonne, nicht ihre Spie-

gelbilder im Wasser oder anderswo, sondern sie selbst, an sich, an ihrem eigenen Matz ansehen und sie so betrachten können, wie sie wirklich ist.

,Ja, notwendig-, sagte er. Und dann würde er wohl die zusammenfassende Überlegung

über sie anstellen, dai3 sie es ist, die die Jahreszeiten und Jahre herbeiführt und über d e m waltet in dem sichtbaren Raume, und daß sie in gewissem Sinne auch von dem, was sie M e r ge- sehen haben, die Ursache ist.

.Offenbar., sagte er, nwürde er nach aiiedem so weit kom- men.«

5Va D E R S T A A T . S I E B E N T E S B U C H 173

Wenn er nun aber an seine erste Behausung zurückdenkt und an die Weisheit, die dort galt, und an seine damaligen Mitgefan- genen, dann wird er sich wohl zu der Verändemg glücklich preisen und jene bedauern - meinst du nicht?

*Ja, gewiß.. Die Ehren aber und das Lob, das sie einander dort spendeten,

und die Belohnungen für den, der die vorüberziehenden Schat- ten am schärfsten erkannte und der sich am besten einprägte, welche von h e n zuerst, und welche danach, und welchegleich- zeitig vorbeizukommen pflegten, und daraus arn besten voraus- zusagen w d t e , was jetzt kommen werde - glaubst du, er sei noch auf dieses Lob erpicht und beneide die, die bei jenen dort in Ehre und Macht stehen? Oder wird es ihm so gehen, wie Homer sagt, dai3 er viel lieber auf dem Acker bei e i n m amm Mann im Taglohn arbeiten und lieber alles mögliche erdulden wiii, als wieder in jenen Meinungen befangen sein und jenes Leben fuhren?

*Ja, das glaube ich., sagte er. .Lieber wird er d e s andere er- mgen ais jenes Leben.*

Denke dir nun auch folgendes, fuhr ich fort: Wem so ein Mensch wieder hinunterstiege und sich an seinen alten Platz setzte. dann bekäme er doch seine Augen voll Finsternis, wenn

U

so ~lötzlich aus der Sonne käme? .Ja, gewißc, erwiderte er. Wenn er dann aber wieder versuchen müßte, im Wettstreit mit

denen, die immer dort gefesselt waren, jene Scharten zu beurtei- len, w h n d seine Augen noch geblendet sind und sich noch nicht wieder umgestellt haben (und diese Zeit der Umgewöh- nung dürfte ziemlich lange dauern), so würde man ihn gewiß aus- lachen und von ihm sagen, er komme von seinem Aufstieg mit verdorbenen Augen zurück und es lohne sich nicht, auch nur ver- suchsweise dort hinaufzugehen. Wer aber Hand anlegte, um sie zu befreien und hinauftufuhren, den würden sie wohl umbrin- gen, wenn sie nur seiner habhaft werden und ihn töten könnten.

I S C ~ *q 1 14 , . , in:! !

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I

Y7 CI DER S T A A T . S I E B E N T E S BUCH 575 i mJa, ge~ ißu , sagte er.

3. Dieses ganze Gleichnis, mein lieber Glaukon, fuhr ich fort, mußt du nun an das anknüpfen, was wir vorhin besprochen ha- ben. Die durch das Gesicht uns erscheinende Region setze dem Wohnen im Gefängnis und das Licht des Feuers in ihr der Kraft der Sonne gleich. Und wenn du nun den Aufstieg und die Be- wchtung der Dinge dort oben für den Aufstieg der Seele in den Raum des Einsehbaren nimmst, so wirst du meine Ahnung nicht verfehien. die du doch zu hören wünschest. Gott aber mag wis- sen, ob sie richtig ist. Meine Ansicht darüber geht jedenfzs da- hin, daß unter dem Erkennbaren als letztes und nur mit Mühe die Idee des Guten gesehen wird; hat man sie aber gesehen, so muß man die Überlegung anstellen, daß sie für alles die Urhebe- rin d e s Richtigen und Schönen ist. Denn im Sichtbaren bringt sie das Licht und seinen Herrn hervor; im Einsehbaren aber ver- leiht sie selbst als Herrin Wdx-heit und Einsicht. Sie muß man er- blickt haben, wenn man ftir sich oder im öffentlichen Lebenver- nünftie handeln wiii.

V

.Ich bin derselben Ansicht*, sagte er, .soweit ich zu folgen vermag.

Wohlan denn, fuhr ich fort, schließe dich auch im folgenden meiner Meinung an. Wundere dich nicht: wer dahin gelangt ist, will vom menschhchen Treiben nichts mehr wissen, sondern seine Seele hat den Drang, für immer hier oben zu verweilen. Das ist auch ganz natürlich, wenn es dem vorhin beschriebenen Gleichnis entsprechen soll.

nJa, freilich., sagte er. Glaubst du nun aber, fuhr ich fort, man dürfe sich darüber

wundern, daß, wenn einer von der Betrachtung des Göttlichen in das menscldiche Elend versetzt wird, er sich dann ungeschickt benimmt und höchst iächerlich erscheint? Denn während sein Auge noch geblendet ist und bevor er sich noch recht an die herrschende Finsternis gewöhnt hat, mu8 er vor Gericht oder anderswo über die Schatten des Gerechten streiten oder über die

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Bildwerke, deren Schatten sie sind, und muß sich mit den Ver- mutungen hemmschlagen, die jene Leute darüber anstellen, die die Gerechtigkeit selbst nie zu sehen bekommen haben.

.Nein, das ist gar nicht zu verwundern*, sagte er. Ein Einsichtiger, fuhr ich fort, würde vielmehr bedenken,

daß es für die Augen zwei h e n und zwei Ursachen von Stö- rungen gibt: die eine, wenn man aus dem Licht in das Dunkel, die andere, wenn man aus dem Dunkel in das Licht versetzt wird. Erkennt er nun an, da8 dasselbe auch mit der Seele vor sich geht, so wird er nicht unüberlegt lachen, wenn er eine Seele sieht, die verwirrt ist und etwas nicht zu erkennen ver- t

mag. Sondern er wird prüfen, ob sie aus einem helleren Leben i kam und jetzt von der Finsternis, an die sie nicht gewöhnt ist, umhüllt wird, oder ob sie aus größerer Unwissenheit in grö- i3ere Klarheit gekommen ist und nun vom helleren Glanze ge- blendet wird. Und so wird er die eine um ihres Zustandes und ihres Lebens wiiien glücklich preisen und die andere bedauern; und wollte er über diese lachen, so wäre sein Lachen hier we- niger Iächerlich als das über die andere, die von oben aus dem Licht kommt.

.Was du sagst, ist durchaus arn Platze., erwiderte er. 4. Wenn das aber wahr ist, fulir ich fort, so müssen wir dar- über zu folgender Ansicht kommen: daß die Bildung nicht das ist, wofür sie einige in ihrrn Anpreisungen ausgeben. Sie be- haupten nämlich, sie pflanzten der Seele ein W ~ s e n ein, das vor- her nicht darin war, wie wenn sie blinden Augen Sehkraft geben könnten.

.Ja, das behaupten sie*, sagte er. Unser Gespräch zeigt nun aber, fuhr ich fort, daß der Seele

eines jeden Menschen das Vermögen und das Organ innewolmt, mit dem er lernen kann. Wie aber das Auge nicht imstande ist, sich anders als mit dem ganzen Leibe aus dem Dunkel gegen das Helle zu wenden, so muß auch dieses Organ zugleich mit der ganzen Seele vom Werdenden weggewendet werden, bis

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diese imstande ist, den Anblick des Seienden und des Hellsten unter den Seienden auszuhalten; dies aber, behaupten wir, ist das Gute; nicht wahr?

.Ja.. Die Bildung, fuhr ich fort, wäre nun also eine Kunst der .Um-

lenkunp, die Art n X c h , wie dieses Organ am leichtesten und am wirksamsten umgewendet werden kam. Sie ist nicht die Kunst, ihm das Sehen zu verleihen; sondem indem sie voraus- setzt, daß es dieses zwar besim, aber nicht nach der richtigen Seite gewandt ist und deshalb nicht dorthin schaut, wohin es schauen soilte, wiii sie ihm behilflich sein.

nJa, offenbar*, sagte er. Die anderen sogenanntenTüchtigkeiten der Seele sind nun of-

fenbar mit denen des Leibes nahe verwandt: sie scheinen närn- lich am Anfang wirMich nicht vorhanden zu sein, sondern erst nachträgiich durch Gewohnheit und n u n g in sie hineinge- bracht zu werden. Die des Denkens aber hat anscheinend mit etwas viel Götdcherem zu tun. Niemals verliert das seine Kraft; es wird aber durch die Wendung, die man ihm gibt, entweder brauchbar und heilsam oder unbrauchbar und schädlich. Oder hast du noch nicht bemerkt, wie scharf die kleine Seele derer blickt, die man böse, aber klug nennt, und wie genau sie das durchschaut, worauf sie sich richtet? Sie hat keine geringe Seh- kraft, muß aber der Schlechtigkeit dienen, so daß sie, je scharfer sie sieht. desto mehr Schlechtes tut.

*AUe;d;ngs*, sagte er. Wem jedoch, fulu ich fort, dieses Organ einer solchen Natur

gleich von Kindheit an beschnitten worden wäre und man das, was daran mit dem Werden verwandt ist, ringsum abgehauen hatte, das nämlich, was ihr gleichsam wie Bleikugeln anhängt, die durch a h u reichliches Essen und die Lust daran und Schwcl- gereien mit ihr verwachsen sind und den Blick der Seele nach unten ziehen - wenn es also davon befreit und dem Wahren zu- gewendet würde, dann würde eben dieses Organ derselben

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Menschen jene höheren Dinge mit ganzer Schärfe sehen, so wie es das sieht, dem es jetzt zugewendet in.

*Ja, wahrscheinlich., sagte er. Ist nun aber, fuhr ich fort, nicht auch das wahrscheinlich und

nach dem, was wir bisher gesagt haben, sogar norwendig: daß weder die Ungebildeten und mit der Wahrheit nicht Vertrauten je eine Stadt richtig leiten können, noch auch die, die sich bis zum Ende ihres Lebens ihrer Bildung widmen durfen? Jene nicht, weil ihnen das eine Ziel in ihrem Leben fehlt, wonach sich des das richten sollte, was sie für sich und Ln öffentlichen Leben tun, diese nicht, weil sie sich freiwillig überhaupt nicht praktisch betätigen wollen, da sie glauben, sie wohnten schon hier irn Le- ben fern auf den Lnseln der Seligen.

.Das ist wahr., sagte er. Wir als die Gründer der Stadt, fuhr ich fort, haben also die

Aufgabe, die besten Naturen zu nötigen, zu jenem Lehrstück zu gelangen, das wir vorhin als das höchste bezeichnet haben, närn- lich das Gute zu schauen und jenen Weg hinaufzusteigen. Wenn sie es dann dort oben zur Genüge gesehen haben, dürfen wir ihnen das nicht erlauben, was man ihnen heute erlaubt.

*Was dem?. Dort oben zu bleiben, sagte ich, und nicht wieder zu jenen

Gefesselten hinabzusteigen und nicht teilhaben zu wollen an ihren Mühen und an ihren Ehren, seien diese nun mehr oder weniger gerligfugig oder bedeutend.

*Dann sollen wir ihnen also Unrecht tun., erwiderte er, »und sie veranlassen, ein schlechteres Leben zu führen, während sie ein besseres haben könnten?. . Du hast wiederum vergessen, mein Freund, fuhr ich fort, daß :in Gesetz nicht dafür zu sorgen hat, daß es nur einem Stand in !er Stadt vorzüglich gut geht. Es muß vielmehr diesen Zustand iic die ganze Stadt zu erreichen suchen, indem es die Bürger iurch gütliche Uberredung und durch Zwang zusammenfugt md sie dazu bringt, daß sie sich gegenseitig an dem Nutzen teil-

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haben lassen, welchen ein jeder der Gemeinschaft erweisen kann, und indem es selbst solche Manner in der Stadt heranbil- det, nicht, um jeden nachher gehen zu lassen, w o b ihn seine Neigung führt, sondern um selbst sich ihrer zum Zusammen- schluß der Stadt zu bedienen.

.Ja, das hatte ich freilich vergessen.. So kannst du also sehen, Glaukon, sagte ich, daß wir denen,

die bei uns zu Philosophen werden, kein Unrecht tun, sondern eine gerechte Zumutung an sie richten, wenn wir sie nötigen, für die anderen zu sorgen und über sie zu wachen. Denn wir werden ihnen sagen: Wer in den anderen Städten das wird, was ihr seid, nimmt mit guten Gründen an ihren Sorgen keinen Anteil, ent- wickelt er sich doch selbständig, ohne Zutun der jeweiligen Smatsverfassung. Es ist dem auch b&g, daß das, was von selbst heranwächst und niemandem seine Pflege verdankt, auch nie- mandem ein Kostgeld zahlen will. Euch dagegen haben wir zu eurem eigenen Vorteil und zu dem der Stadt wie Weise und Kö- nige in einem Bienenstocke herangezogen und euch besser und vollkommener ausgebildet als jene, so daf3 ihr eher imstande seid, euch auf beiden Gebieten zu betätigen. Darum muß nun auch je- der der Reihe nach in die Behausung der anderen hinabsteigen und sich daran gewöhnen, das Dunkle zu betrachten. Denn seid ihr einrnai daran gewölmt, so werdet ihr tausendmal besser se- hen als die Bewohner dort und werdet erkennen, was J e die Bil- der siid und wovon sie die Bilder sind, weil ihr über das Schöne und Gerechte und Gute die Wahrheit geschaut habt. Und so wird von uns und von euch die Stadt im Wachen verwaitet wer- den und nicht im Traum, wie es heute bei den meisten der Fall ist, die von Leuten gelenkt werden, die Schattenkämpfe mitein- ander ausfechten und sich um die Herrschaft streiten, als ob sie ein pi3es Gut wäre. In Wahrheit ist es aber so: die stad^, wo die, die dazu berufen sind, arn wenigsten nach der Herrschaft trach- ten, wird notwendig am besten und friedlichsten verwaitet, irn Gegensatz zu der, die Regenten mit gegenteiliger Gesinnung hat.

521 b D E R S T A A T . S I E B E N T E S B U C H PS

*Ja, gewiRu, sagte er. Glaubst du nun, unsere Zöghge werden uns nicht gehor-

chen, wenn sie das hören, und nicht seii, in der Stadt mitzuarbeiten, ein jeder zu seinem Teil, die meiste Zeit aber mit- einander im Reinen zu wohnen?

.Doch, gewiß*, sagte er. *Denn wir verlangen ja nur Gerech- tes von Gerechten. Wie m einer unumgängliclien Pflicht wird je- der von ihnen an das Regieren herantreten, im Gegensaa zu de- nen, die heure in jeder Stadt regieren.*

Ja, so ist es, mein Freund, sagte ich. Wenn du für die berufe- nen Regenten eine Lebensweise finden kannst, die besser ist als das Regieren, dann ist es möglich, daR eine wohl verwaltete Stadt entsteht. Denn in Jir dein werden die wahrhaft Reichen regieren, die nicht an Gold reich siid, sondern an dem, woran Jor Glückliche reich sein muß, an einem guten und vernünftigen

tben. Machen sich aber Betder und an eigenen Gütern A r m e V

1 die öffentlichen Angelegenheiten, in der Meinung, sie müßten r Gut dort holen, dann ist es nichts damit. Dann gibt es Streit n die Herrschaft, und dieser einheimische und innere Krieg 8 t sie und die ganze Stadt ins Verderben. *Das ist vollkommen wahr*, sagte er. Kennst du nun noch eine andere Lebensweise. fuhr ich fort.

,eiche die Macht verachtet, außer der der wahren hiioso phie ? »Nein, beim Zeus*, sagte er. Nun dirfen also nur Leute an die Macht kommen, die keine

iebhaber von ihr sind; sonst werden ihre Nebenbuhler mit tnen Streit anfangen. mZweifeUos.* Doch wen wolltest du sonst dazu nötigen, sich mit der Obhut

ber die Stadt zu befassen, wenn nicht die, die die größte Ei- cht haben. wie eine Stadt arn besten verwaltet wird. und die an- ere ~hren-und ein besseres Leben kennen als d& des Staats-

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521 e D E R STAAT . SIEBENTES B U C H 187 ' 1 !

>Nein, niemand sonst*, sagte er.

mJa, gewiß.. Lehrfächern dieses

Vermögen besitzt? ~Se1bstverständlich.u i i

'9 *d I welches die : ' 1 . 8 - .

]C. seiin? 1

.Ja, das sagten wir.. X 11 das bieten? :: )I

nicht unbrauchbar ist. \

~0ffenbar.u Das wäre also nicht das Lehrfach, das wir suchen.

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Die Deursche Bibliothek - CIP-Einhcitsaufnahmr

Ptato: Der Snat : griechschdceursch = Poliieia /

Phon. Übers. von Rudolf Rufener. Hrsg. von Thomar; A. Szlezik. - Dtissrldorf; Zurich: Artemis und \Vmkicr, laoci

(Sammlung Tusculurn) Einhcitssachr.: Res publica { d t . ~

15BN 3-7608-!7!7-j

0 iwo Ancmis & Winklcr Vcrlag, Düsreldorf/Zürich Allc Rcchrc. einacliiieillich dc jenig~n des ruszugsweiscn Abdrucks sowie der

fotomeclianisclien und clcktmnischm Wicdcrgabe. vorbehalten. Satz: Doriemann San, Lmfordc

Dmck und Venrbei~ng: Puxcr, Rcgcnsburg Prinwd in Gcrmany ISßN 3-760s-1717-1

INHALT

TEXT U N D Ü B E R S E T Z U N G I

Erses Buch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweites Buch Drittes Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . Viertes Buch -- . Fünftes Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . - - . . Sechstes Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siebentes Buch Achtes Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuntes Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . - . . . Zehntes Buch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

A N H A N G

E & l m g . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Platons erstaunliches Comeback . . . . . . . . . . . Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Philosophie . . . . . . . Handlung, Aufbau und W ~ d t der Politeia

Erlautemgen . . . . . . . . . . . - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturhinweise