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CLASSICA MONACENSIA Platons Hippias Minor Übersetzung und Kommentar von Jan-Markus Pinjuh

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CLASSICAMONACENSIA

PlatonsHippias Minor

Übersetzung und Kommentarvon Jan-Markus Pinjuh

PlatonsHippias Minor

CLASSICA MONACENSIAMünchener Studien zur Klassischen Philologie

Herausgegeben von Martin Hose undClaudia Wiener

Band 48 · 2014

Platons Hippias Minor

Übersetzung und Kommentar vonJan-Markus Pinjuh

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi-blio grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die vorliegende Arbeit wurde 2011 von der Hochschule für Philosophie München,Philosophische Fakultät S.J., als Dissertation angenommen.

© 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlagesunzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro-verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier.

Internet: www.narr.deE-Mail: [email protected]

Printed in Germany

ISSN 0941-4274ISBN 978-3-8233-6849-6

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Vorwort

Der Hippias Minor gehört zu den weniger bekannten Dialogen Platons. In der Forschung wurden vielfach die Authentizität und die Qualität dieses Dialoges negiert. Ein scheinbar als Sophist auftretender Sokrates, der die Thesen vertritt, dass der Lügner und der Wahrhaftige identisch und der freiwillige Übeltäter besser sei als der unfreiwillige, war der Grund entwe-der die Autorschaft Platons in Abrede zu stellen oder den Dialog als „Kin-derspiel“ ohne tiefere Bedeutung abzutun. Dass der Hippias Minor zu Recht Platon zuzuschreiben ist und sich mit philosophischen Fragen beschäftigt, die für das Verständnis des frühplatonischen Denkens von großer Wich-tigkeit sind, möchten dieser Kommentar und die in ihm vertretene Inter-pretation zeigen.

Der Kommentar besteht aus zwei großen Teilen, der Einleitung und dem eigentlichen Kommentarteil. Die Einleitung hat zum einen die Aufga-be, typisch philologische Fragen zur Überlieferungslage, Authentizität und zur Datierung vorab zu klären, und zum anderen die Funktion, die plato-nischen Paradoxa synchron in die philosophische Diskussion der Zeit und diachron innerhalb von Platons Werk zu situieren. Diese philosophiege-schichtliche Einordnung soll die Interpretation im Kommentarteil entlasten und ihr erlauben, sich auf die systematische Durchdringung des Gedan-kenganges zu konzentrieren.

Der Kommentarteil gliedert sich für jeden Textabschnitt in drei Teile. Der Teil A dient der Inhaltszusammenfassung, im Teil B erfolgt die Inter-pretation des Textabschnittes und im Teil C finden sich Anmerkungen zu bestimmten Textstellen, in denen textkritische Probleme, Übersetzungsfra-gen erläutert und Erklärungen zum historischen oder kulturellen Kontext des Hippias Minor gegeben werden. Ein Kommentar hat die Aufgabe, eine eigenständige Interpretation vorzulegen, und beschränkt sich nicht wie ein Forschungsbericht darauf, verschiedene Positionen darzustellen und zu beurteilen. Dennoch kann auch ein Kommentar nicht umhin, in die kriti-sche Diskussion mit der bisherigen Forschung einzutreten. Ich begebe mich daher bewusst stellenweise in die Nähe eines Forschungsberichts, wenn ich bisweilen ausführlich die Positionen der Sekundärliteratur referiere und diskutiere. Dabei ist es mein Anliegen, durch Systematisierung meiner Vorgänger nicht nur Forschungsgeschichte zu betreiben, sondern Argu-mente zu analysieren, mit denen man sich auseinandersetzen muss, will man den Gedankengang dieses Dialoges verstehen. Mein Hauptanliegen ist es immer, Platon so stark wie möglich zu machen und – ausgehend von der forensischen Unschuldsvermutung – die vorgebrachte Kritik kritisch beleuchten.

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Die Übersetzungen sind, soweit nicht anders angemerkt, meine eige-nen. Übersetzungen stehen immer im Spagat, ausgangssprachlich so genau wie möglich und zielsprachlich so frei wie nötig zu sein. Ich habe bei die-sem Spagat mehr ausgangssprachenorientiert übersetzt und bin dabei nahe am griechischen Originaltext geblieben, um dem weniger gräzistisch ver-sierten Leser zu ermöglichen, die Übersetzung gut nachzuvollziehen. Da-bei habe ich in Kauf genommen, auf den eleganteren Ausdruck im Deut-schen zu verzichten, wenn dieser nur zum Preis einer Paraphrase möglich wäre.

Die Übersetzung basiert auf der kritischen Textausgabe von Bruno Vancamp, die die zur Zeit neueste Edition des Dialoges bietet (Oxford hüllt sich in Schweigen und nicht einmal Vancamp konnte eruieren, wann und von wem mit einer Revision der Burnet-Ausgabe für den Hippias Minor zu rechnen ist). Bruno Vancamp verdanke ich nicht nur aus seinem wertvollen Aufsatz, sondern auch aus persönlicher Korrespondenz wichtige Hinweise zu textkritischen Problemen. Ihm sei ferner auch für die Druckgenehmi-gung des seiner Hippias-Ausgabe entnommenen Handschriften-Stemmas gedankt.

Bei den Abbreviationen klassischer Autoren und ihrer Werke folge ich dem Greek-English Lexicon von Liddel-Scott-Jones. Die Stellenangaben be-ziehen sich, wenn kein anderer Dialog angegeben ist, stets auf den Hippias Minor. Ebenso ist, wenn vom Hippias (hier ist das kursive Druckbild zu beachten; im Unterschied zum Dialog steht der Name des Sophisten immer nicht kursiv) die Rede ist, immer der Hippias Minor gemeint. Wenn kein anderer Autor vor einer Werkangabe steht, handelt es sich immer um ein Werk Platons.

Der vorliegende Kommentar wurde 2011 von der Hochschule für Philo-sophie München, Philosophische Fakultät S.J., als Dissertation angenom-men. Michael Bordt hat diese Arbeit mit kritischen Diskussionen hilfreich begleitet. An dieser Stelle sei auch der Hanns-Seidel-Stiftung für die ideelle und finanzielle Unterstützung Dank gesagt. Mein Dank gilt ferner Herrn Peter Isépy und Herrn Benedikt Aigner für die Durchsicht meiner Überset-zung, Herrn Johannes Grössl für die Unterstützung bei logischen Fragen, Herrn Jan Philipp Gerhartz für die Korrektur des gesamten Manuskriptes sowie Frau Karima Hakkar für stilistische Ratschläge.

München, im Juni 2013 Jan-Markus Pinjuh

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Inhaltsübersicht

I – Übersetzung .......................................................................... 9

II – Einleitung ........................................................................... 25 1. Die Überlieferungslage ............................................................................. 29

2. Die Authentizitätsfrage ............................................................................ 36

3 Die Datierungsfrage ................................................................................... 41

4. Das Lügner-Paradoxon ............................................................................. 51

5. Das Übeltäter-Paradoxon ......................................................................... 60

6. Die Unfreiwilligkeit des Fehlens ............................................................. 68

7. Prologomena zu einer Interpretation des Hippias Minor ..................... 79

III – Kommentar ....................................................................... 81 1. Die Ausgangsfrage (363a1-365c8) ........................................................... 87

2. Das Lügner-Paradoxon (365c9-368a11) ................................................ 124

3. Anwendung auf die Ausgangsfrage (368a12-370e4) .......................... 166

4. Das Übeltäterparadoxon und die Schlussaporie (370e5-373c5) ........ 179

5. Die induktive Argumentation (373c6-375d6) ...................................... 201

6. Die deduktive Argumentation (375d7-376c6) ..................................... 213

7. Epilog: Schlussinterpretation ................................................................. 231

Bibliographie ......................................................................... 247 1. Primärliteratur ......................................................................................... 247

2. Sekundärliteratur .................................................................................... 248

3. Hilfsmittel................................................................................................. 253

Register ................................................................................... 255 1. Stellenverzeichnis .................................................................................... 255

2. Personenverzeichnis ............................................................................... 261

3. Sachverzeichnis ....................................................................................... 262

Die Feingliederungen der Einleitung und des Kommentars

finden sich jeweils zu Beginn der einzelnen Teile.

I – Übersetzung

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Eudikos: Was aber schweigst du denn, Sokrates, nach dem langen Vortrag von Hippias, und beteiligst dich gar nicht am Lob der Rede oder wider-legst auch nicht, wenn etwas dir nicht schön gesagt worden zu sein scheint? Zumal auch wir allein zurückgelassen worden sind, die wir doch größtes Interesse haben dürften, an einer philosophischen Erörte-rung teilzunehmen.

Sokrates: In der Tat, Eudikos, gibt es wirklich Einiges, was ich wohl ganz gern von Hippias erfahren möchte, in Bezug auf das, was er jetzt eben über Homer sprach. Denn ich hörte auch von deinem Vater Apemantos, dass die Ilias ein schöneres Gedicht von Homer sei als die Odyssee, und zwar um soviel aber schöner, um wie viel Achilles besser als Odysseus sei. Auf jeden der beiden aber sei – wie er sagte – eines der Epen ge-dichtet worden, und zwar eines auf Odysseus und eines auf Achilles. Darüber also möchte ich gern, wenn Hippias bereit ist, mehr erfahren, wen er seiner Meinung nach von den beiden Männern für den besseren hält, da er uns allerlei sowohl über die anderen Dichter als auch über Homer dargelegt hat.

Eudikos: Aber sicherlich wird Hippias nicht die Antwort versagen, wenn du ihn etwas fragst. Nicht wahr, Hippias, wenn Sokrates dich etwas fragt, wirst du doch antworten? Oder wie wirst du handeln?

Hippias: Dann dürfte ich doch wohl sonderbar handeln, mein lieber Eudi-kos, wenn ich jetzt der Frage von Sokrates auswiche, während ich sonst immer nach Olympia zur Festversammlung der Griechen anlässlich der Olympischen Spiele von meiner Heimatstadt Elis zum Heiligtum hinaufgehe und mich bereit erkläre, sowohl jedem nach Wunsch eine von mir vorbereitete Prunkrede zu halten als auch jedem Beliebigen je-de Frage zu beantworten.

Sokrates: Du befindest dich in einer wirklich glücklichen Lage, Hippias, wenn du bei jeder Festfeier in Olympia so voll Zuversicht auf die Weis-heit deiner Seele zum Heiligtum kommst. Ich würde mich wundern, wenn einer der Körperathleten so furchtlos und voll Vertrauen in sei-nen Körper dorthin geht zum Wettkampf, wie du deiner Aussage nach auf deinen Verstand vertraust.

Hippias: Aus gutem Grund befinde ich mich in dieser Lage, Sokrates. Denn seitdem ich begonnen habe, in Olympia zu kämpfen, bin ich nie-mals auf jemanden gestoßen, der mir in etwas überlegen gewesen wäre.

Sokrates: Schön gesagt, Hippias, und zugleich Ausdruck dafür, dass dein Ruhm sowohl ein Denkmal der Weisheit für deine Heimatstadt Elis als auch deine Eltern ist. Aber was sagst du uns über Achilles und Odys-seus? Ist deiner Meinung nach einer der Bessere und inwiefern? Denn zu der Zeit, da wir im Haus zahlreich versammelt waren und du deine Prunkrede hieltest, bin ich bei dem von dir Gesagten nicht mitgekom-

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men und ich hatte Bedenken nachzufragen, da viele Leute da waren und ich dich nicht belästigen wollte mit einer Frage zu deiner Prunkre- de. Nun aber, da wir weniger sind und Eudikos hier mich antreibt, dich zu fragen, sage und lege uns deutlich dar, was du über die beiden Männer meinst. Welchen Unterschied pflegtest du zwischen ihnen zu machen?

Hippias: Ich will dir auch, Sokrates, klarer als eben darstellen, was ich über diese und andere meine. Ich behaupte, Homer habe Achilles als den besten Mann unter denen, die nach Troja gekommen waren, dargestellt, Nestor aber als den weisesten Nestor und Odysseus als den vielge-wandtesten.

Sokrates: Oje, Hippias! Könntest du mir dahingehend den Gefallen tun, mich nicht auszulachen, wenn ich kaum das Gesagte verstehe und häu- fig nachfrage? Versuche doch, mir willig und gern zu antworten.

Hippias: Das wäre wohl eine Schande, Sokrates, wenn ich eben andere darin unterwiese und es dabei für angemessen hielte, Geld dafür zu verlangen, aber selbst auf deine Nachfrage keine Nachsicht haben und nicht gern antworten sollte.

Sokrates: Das sagst du sehr schön. Als du behauptet hast, dass Achilles als der Beste dargestellt worden sei, glaubte ich nämlich zu verstehen, was du sagtest, auch in Bezug auf Nestor, dass er der Weiseste sei. Dann aber sagtest du von Odysseus, dass der Dichter ihn am vielgewandtes-ten dargestellt habe, – dies, um dir die Wahrheit zu sagen, verstehe ich überhaupt nicht, was du damit meinst. Und sage mir, ob ich vielleicht mehr verstehe: Ist Achilles bei Homer nicht als vielgewandt dargestellt?

Hippias: Keineswegs, Sokrates, sondern als sehr aufrichtig und wahrhaftig, denn im neunten Buch der Ilias, den „Bitten“, in dem er sie im Ge-spräch auf einander treffen lässt, sagt Achilles bei ihm zu Odysseus:

Zeusentsprossener Laertessohn, listenreicher Odysseus, es ziemt sich also, die Rede gerad herauszusagen, wie ich es denke und wie ich glaube, dass es vollendet wird, denn verhasst ist mir jener wie die Tore des Hades, der anderes birgt im Sinn und anderes spricht. Aber ich will sagen, wie es tatsächlich geschehen wird.

In diesen Versen zeigt er den Charakter von jedem der beiden Männer deutlich, und zwar dass Achilles wahrhaftig und aufrichtig, Odysseus aber vielgewandt und lügnerisch ist. Deshalb lässt er Achilles zu Odys-seus diese Verse sagen.

Sokrates: Nun glaube ich, Hippias, zu verstehen, was du meinst: Du nennst, wie es zumindest scheint, den Vielgewandten lügnerisch.

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Hippias: Allerdings, Sokrates. Denn als solchen hat Homer Odysseus an vielen Stellen sowohl in der Ilias als auch in der Odyssee dargestellt.

Sokrates: Allem Anschein nach war für Homer der eine Mann wahrhaftig, der andere lügnerisch, nicht aber ein und dieselbe Person.

Hippias: Wie sollte es denn nicht so sein, Sokrates. Sokrates: So bist du selbst auch dieser Meinung, Hippias? Hippias: Ganz und gar. Es dürfte wohl schlimm sein, wenn dem nicht so

wäre. Sokrates: Homer wollen wir nun allerdings beiseite lassen, da es auch

unmöglich ist, ihn zu befragen, was er sich einst beim Dichten dieser Verse dachte. Da du dich offenbar der Sache annimmst und überzeugt bist, mit dem, was du sagst, Homers Meinung wiederzugeben, antwor-te gemeinsam für Homer und dich selbst.

Hippias: Einverstanden. Frage also kurzum, was du willst. Sokrates: Meinst du, dass die Lügner unfähig sind etwas zu tun, wie die

Kranken, oder fähig sind, etwas zu tun. Hippias: Durch und durch fähig, sowohl zu sehr vielem anderen als auch

die Leute zu täuschen. Sokrates: Die Fähigen sind also, wie es scheint, nach deiner Antwort auch

die Verschlagenen. Oder nicht? Hippias: Ja. Sokrates: Sind sie vielgewandt und betrügerisch aus Dummheit und Un-

klugheit oder aus List und einer gewissen Klugheit? Hippias: Im höchsten Maß aus List und Klugheit. Sokrates: Sie sind allem Anschein nach folglich klug. Hippias: Ja, beim Zeus, ganz und gar. Sokrates: Wissen sie als Kluge nicht, was sie tun, oder wissen sie es? Hippias: Sie wissen es ganz genau, deswegen handeln sie auch schlecht. Sokrates: Sind sie, da sie wissen, was sie wissen, unverständig oder weise? Hippias: Weise also, eben im Betrügen. Sokrates: Halt einmal! Wir wollen uns erinnern, was du eigentlich sagen

willst. Du behauptest, dass die Lügner fähig, klug, verständig und wei-se sind, worin sie gerade lügen.

Hippias: Genau das meine ich. Sokrates: Die Wahrhaftigen und Lügner sind verschieden und ganz gegen-

sätzlich? Hippias: Das sage ich. Sokrates: Also gut. Einige von den Fähigen und Weisen sind, wie es

scheint, nach deiner Aussage Lügner. Hippias: So ist es. Sokrates: Wenn du sagst, dass die Lügner eben darin fähig und weise sind,

meinst du dann, dass sie fähig sind zu lügen, wenn sie wollen, oder dass sie unfähig in demjenigen sind, worin sie lügen?

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Hippias: Natürlich sind sie fähig. Sokrates: Damit es also auf den Punkt gebracht ist: Die Lügner sind weise

und fähig zu lügen. Hippias: Ja. Sokrates: Ein Mensch also, der unfähig zu lügen und unverständig ist,

dürfte kein Lügner sein. Hippias: So ist es. Sokrates: Fähig nun ist also jener, der dann tut, was er will, wann er es

will. Ich meine damit nicht einen, der durch Krankheit oder dergleichen beeinträchtigt ist, sondern so wie du fähig bist, meinen Namen zu schreiben, wann du willst, meine ich es. Oder nennst du nicht den, bei dem es sich so verhält, fähig?

Hippias: Doch. Sokrates: Sage mir also, mein lieber Hippias, du bist doch erfahren im

Rechnen und in der Rechenkunst? Hippias: Sehr sogar, Sokrates. Sokrates: Wenn dich also jemand fragen sollte, wie viel drei mal sieben

hundert ist, so düftest du, wenn du wolltest, am schnellsten und besten von allen die Wahrheit darüber sagen?

Hippias: Allerdings. Sokrates: Etwa weil du hierin am fähigsten und am weisesten bist? Hippias: Ja. Sokrates: Bist du also nur am weisesten und am fähigsten, oder auch am

besten auf dem Gebiet, auf dem du eben am fähigsten und am weises-ten bist, nämlich der Rechenkunst?

Hippias: Auch der Beste offenbar, Sokrates. Sokrates: Du dürftest demnach am fähigsten darin sein, die Wahrheit zu

sagen, nicht wahr? Hippias: Das denke ich doch schon. Sokrates: Was ist aber mit den Lügnern auf demselben Gebiet? Und ant-

worte mir offen und frei wie vorher, Hippias: Wenn dich jemand fragte, wie viel drei mal siebenhundert ist, dürftest du nicht wohl am sichers-ten lügen und immer darüber das Falsche sagen, sofern du nur lügen und niemals die Wahrheit antworten willst? Oder dürfte der im Rech-nen Ungelehrte fähiger als du sein – auch wenn du willst – zu lügen? Oder könnte nicht der Ungelehrte oft zufällig, obwohl er lügen will, un-freiwillig die Wahrheit sagen, wegen seines Unwissens, während du als der Weise, wenn du wirklich lügen wolltest, immer gleich gut lügen würdest?

Hippias: Ja, es verhält sich so, wie du sagst. Sokrates: Ist der Lügner also nur ein Lügner auf anderen Gebieten, nicht

aber bei den Zahlen oder dürfte er nicht beim Zählen lügen? Hippias: Ja, beim Zeus, auch bei den Zahlen.

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Sokrates: Wollen wir also behaupten, lieber Hippias, dass es auch beim Rechnen und Zählen einen lügnerischen Menschen gibt? Hippias: Ja. Sokrates: Wer also dürfte dieser sein? Muss er nicht, wie du eben zugabst,

wenn er wirklich ein Lügner sein soll, zu lügen fähig sein? Denn wer unfähig ist zu lügen, wenn du dich erinnerst, könnte deiner Behaup-tung nach niemals ein Lügner sein.

Hippias: Ich erinnere mich und so wurde es dargelegt. Sokrates: Offenbar warst du also eben am fähigsten beim Rechnen zu lü-

gen? Hippias: Ja, es wurde allerdings auch dies gesagt. Sokrates: Du bist also auch am fähigsten beim Rechnen die Wahrheit zu

sagen? Hippias: In der Tat. Sokrates: Also ist derselbe am fähigsten beim Rechnen zu lügen oder die

Wahrheit zu sagen. Dieser aber ist auf dem Gebiet der „Gute“, der Rechner.

Hippias: Ja. Sokrates: Wer also anders als der Gute, mein lieber Hippias, wird im

Rechnen der Lügner sein? Denn derselbe ist auch der Fähige. Dieser aber ist auch der Wahrhaftige.

Hippias: So scheint es. Sokrates: Du siehst also, dass der Lügner und der Wahrhaftige in diesen

Dingen identisch sind, und der Wahrhaftige um nichts besser ist als der Lügner? Denn es ist doch wohl derselbe und sie stehen nicht im scharfen

Gegensatz, wie du vorhin meintest. Hippias: Es scheint auf diesem Gebiet jedenfalls nicht. Sokrates: Willst du, dass wir es auch anderweitig prüfen? Hippias: Wenn du willst. Sokrates: Bist du nicht auch in der Geometrie erfahren? Hippias: Das bin ich. Sokrates: Wie nun? Verhält es sich nicht auch in der Geometrie so? Dersel-

be ist doch am fähigsten zu lügen und die Wahrheit zu sagen über ge-ometrische Figuren, nämlich der Geometer?

Hippias: Ja. Sokrates: Ist also auf diesem Gebiet ein anderer gut als dieser? Hippias: Kein anderer. Sokrates: Also ist doch der gute und weise Geometer zu beidem am fähigs-

ten? Und wenn irgendein anderer über geometrische Figuren lügen würde, dann ist dies doch wohl der Gute? Denn dieser wäre fähig, der Schlechte aber ist unfähig zu lügen. Deshalb dürfte er auch nicht ein

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Lügner werden, weil er nach unserer Übereinkunft nicht fähig ist zu lü-gen.

Hippias: So ist es. Sokrates: Nun wollen wir auch noch den dritten, den Astronomen über-

prüfen von dessen Kunst du aber noch mehr zu verstehen glaubst als von den vorherigen. Oder nicht, lieber Hippias?

Hippias: Ja. Sokrates: Verhält es sich nicht auch in der Astronomie genauso? Hippias: Wahrscheinlich schon, Sokrates. Sokrates: Also wird auch in der Astronomie, wenn jemand lügt, der gute

Astronom der Lügner sein, der fähig ist zu lügen. Aber nicht der Unfä-hige allerdings, denn der ist ja unwissend.

Hippias: So scheint es. Sokrates: Also wird auch in der Astronomie derselbe der Wahrhaftige und

der Lügner sein. Hippias: Allem Anschein nach. Sokrates: Komm also, lieber Hippias, überprüfe auf diese Weise nun alle

anderen Wissensgebiete, ob es sich irgendwo anders verhält oder so. Du bist gewiss in den meisten Künsten der Weiseste unter den Men-schen, wie ich dich selbst einmal rühmen hörte, als du deine umfangrei-che und bewundernswerte Weisheit auf der Agora bei den Wechslerti-schen darlegtest. Du sagtest, du wärst einmal nach Olympia gekommen und alles, was du am Leib hattest, sei dein Werk gewesen. Zuerst der Ring, den du anhattest, – damit machtest du den Anfang – wäre dein Werk gewesen, dass du weißt, Steine zu schneiden, und ein anderer Siegelring wäre dein Werk, und sowohl Badekratzer als auch Ölflasche habest du selbst hergestellt. Dann sagtest du, die Schuhe, die du anhät-test, hättest du selbst geschustert, und sowohl Mantel als auch Unter-gewand hättest du gewoben. Und am ungewöhnlichsten erschien allen und als Beispiel größter Weisheit, als du sagtest, dass der Gürtel des Untergewandes, den du anhattest, aussehe wie die persischen der Vor-nehmen, deiner aber selbst geflochten sei. Außerdem sollst du auch Gedichte mitgebracht, Epen, Tragödien, Dithyramben und viele in Pro-sa abgefasste Vorträge zu vielfältigen Themen mitgebracht haben. Und eben als ein Fachmann in diesen Künsten seiest du – die ich eben er-wähnte – aufgetreten, der sich von den anderen abhebt, und zwar in Rhythmus, Harmonie und Sprachrichtigkeit und zudem noch in ganz vielen anderen Gebieten, wie ich mich zu erinnern glaube. Dabei habe ich deine Gedächtniskunst ganz vergessen, wie es scheint, eine Kunst, in der du am meisten zu glänzen meinst. Doch ich denke noch ganz viel anderes vergessen zu haben. Aber wie gesagt im Hinblick auf deine ei-genen Künste – und die sind schon hinreichend genug – und auf die der anderen sage mir doch, ob du ausgehend von dem, worüber wir über-

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eingekommen sind, irgendetwas findest, wo der Wahrhaftige und der Lügner verschieden und nicht identisch sind? Prüfe dies nun mit jeder Art von Weisheit oder Schlauheit, oder wie du es zu nennen beliebst. Aber du wirst es nicht finden, mein Freund, denn das gibt es nicht – sonst sage es mir!

Hippias: Das kann ich freilich im Moment so nicht, Sokrates. Sokrates: Das wirst du aber auch nicht können, wie ich meine. Wenn ich

Recht habe, erinnere dich, was sich aus unserer Rede ergibt, Hippias. Hippias: Ich entsinne mich nicht ganz, was du meinst, Sokrates. Sokrates: Nun wendest du vielleicht jetzt deine Gedächtniskunst nicht an,

denn es ist klar, dass du sie nicht nötig zu haben meinst – aber ich wer-de deinem Gedächtnis wieder auf die Sprünge helfen. Du weißt, dass du Achilles als wahrhaftig, Odysseus als lügnerisch und verschlagen bezeichnet hast?

Hippias: Ja. Sokrates: Nun hast du doch bemerkt, dass offensichtlich der Wahrhaftige

und der Falsche identisch sind, so dass wenn Odysseus lügnerisch war, er ein Wahrhaftiger wird, und wenn auch Achilles wahrhaftig war, er lügnerisch sein wird, und die beiden Männer nicht unterschiedlich und auch nicht gegensätzlich sind, sondern gleich?

Hippias: Mein lieber Sokrates, immer strickst du dir bestimmte Argumente zusammen und nimmst auf, was von der Rede am unstimmigsten ist, hältst dich daran fest, wobei du Kleinigkeiten angreifst, und streitest nicht gegen die ganze Sache, um die es in der Rede geht. Denn auch jetzt, wenn du willst, kann ich dir in einer stimmigen Rede mit vielen Beweisen darlegen, dass Homer Achilles besser als Odysseus dichte-risch dargestellt habe und nicht als Lügner, Odysseus aber als arglistig und in vielen Dingen lügnerisch und schlechter als Achilles. Wenn du willst, antworte dann mit einer Gegenrede, dass der andere besser ist. So werden auch die Anwesenden erkennen, wer von beiden besser spricht.

Sokrates: Mein lieber Hippias, ich widerspreche dir auch nicht, dass du nicht weiser wärest als ich. Doch ich bin gewohnt, immer wenn jemand etwas sagt, aufzupassen, besonders dann, wenn mir der Sprecher weise zu sein scheint. Und da ich verstehen will, was er sagt, frage ich nach und untersuche genau und vergleiche das Gesagte, damit ich es verste-he. Wenn mir der Sprecher unbedeutend vorkommt, frage ich weder weiter nach noch interessiert es mich, was er sagt. Daran kannst du auch diejenigen erkennen, die ich für weise halte. Denn du wirst mich erpicht darauf finden, zu sehen, was von einem solchen gesagt wurde und bei ihm nachzuforschen, damit ich etwas lerne und so meinen Nut-zen daraus ziehe. Denn auch jetzt habe ich mir Gedanken gemacht, als du sagtest, dass in den Epen, die du eben anführtest, Achilles zu Odys-

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seus wie zu einem Prahler spräche. Denn es scheint mir fraglich zu sein, ob du Recht hast: Odysseus, der Verschlagene, lügt dabei offen- sichtlich nirgends, Achilles erscheint aber als eine Art Verschlagener nach deinem Verständnis; wenigstens lügt er. Denn nachdem er diese Verse gesprochen hatte, die du eben vorhin schon anführtest –

Denn verhasst ist mir jener wie des Hades Pforten, wer anderes verbirgt in Gedanken, anderes aber äußert.

sagt er kurz darauf, dass er sich wohl weder von Odysseus und Aga-memnon überzeugen ließe noch überhaupt in Troja bliebe, sondern

Morgen opfere ich Zeus, sagt er, und allen Göttern, gut beladen werde ich dann die Schiffe ins Meer ziehen, und dann wirst du sehen, wenn du willst und dieses dich kümmert, morgen werden fahren über den Hellespont, den fischreichen, meine Schiffe und in ihnen die rastlos rudernden Mannen. Wenn eine gute Fahrt der edle Erderschütterer gewährt, dürft’ am dritten Tag ich ins fruchtbare Phtia zurückkehren.

Und noch vorher hatte er im Streit mit Agamemnon gesagt – Nun aber geh ich gen Phtia, denn fürwahr viel besser ist es auf gekrümmten Schiffen heimzukehren, und so wirst du dir nicht,

weil du mich entehrtest weiter noch Reichtümer und Schätze anhäufen.

Dies sprach er mal in Gegenwart des ganzen Heeres, mal aber auch zu seinen Gefährten, und er traf dabei offensichtlich weder Vorbereitungen noch legte er Hand an, um die Schiffe zur Abfahrt nach Hause zu Was-ser zu lassen, sondern erwies sich vielmehr ganz als Verächter der wah-ren Rede. Ich habe dich deshalb, mein lieber Hippias, auch von Anfang an gefragt, weil ich mir im Unklaren war, wer von diesen beiden Män-nern durch den Dichter als besser dargestellt worden ist, und da ich dachte, dass beide sehr gut seien und es ununterscheidbar wäre, wer von den beiden im Hinblick auf Lüge und Wahrheit und die sonstige Tugend besser sei. Denn auch darin sind die beiden sehr ähnlich.

Hippias: Du prüfst indes nicht richtig, Sokrates. Denn was Achilles lügt, scheint er nicht aus böser Absicht zu lügen, sondern unfreiwillig, da er durch die unglückliche Lage des Heeres sich gezwungen sah zu bleiben und Hilfe zu leisten. Was aber Odysseus lügt, geschieht freiwillig und aus böser Absicht.

Sokrates: Du führst mich in die Irre, liebster Hippias, und ahmst selbst damit den Odysseus nach.

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Hippias: Keineswegs, Sokrates. Was meinst du denn und worauf beziehst du dich?

Sokrates: Darauf, dass du meinst, Achilles lüge nicht aus böser Absicht, der neben seiner Prahlerei so heuchlerisch und hinterlistig war, wie ihn Homer dargestellt hat, so dass er viel geschickter als Odysseus er-scheint, leicht seine Flunkerei zu verdecken, so dass er es wagen konn-te, sich selbst in Gegenwart von diesem zu widersprechen, ohne dass es Odysseus auffiel. Jedenfalls scheint nichts darauf hinzudeuten, dass Odysseus mit ihm spricht, weil er dessen Lüge bemerkt hat.

Hippias: Welche Stelle meinst du damit, Sokrates? Sokrates: Weißt du nicht, dass er vorher zu Odysseus sagte, er werde mit

Tagesanbruch abreisen, dem Aias aber nicht sagt, dass er abreisen wer-de, sondern über andere Dinge redete?

Hippias: Wo denn? Sokrates: An dieser Stelle sagt er:

Nicht werde ich vorher des blutigen Kampfes gedenken,

bevor des erprobten Priamos’ Sohn allerdings, der göttliche Hektor, die Zelte und Schiffe der Myrmidonen erreicht hat, mordend die Argeier, und die Schiffe mit Feuer verbrennt. Um mein Zelt aber und das schwarze Schiff, glaube ich, wird sich auch der anstürmende Hektor fernhalten.

Du also, mein lieber Hippias, glaubst, dass der Sohn der Thetis und der Zögling des hochweisen Cheiron so vergesslich sei, dass er, der kurz vorher die Prahler mit den äußersten Schmähungen bedacht hatte und zu Odysseus sagte, er werde abreisen, dem Aias aber zu bleiben, dies nicht absichtlich tat und Odysseus für einen alten Trottel hielt, da er sich ihm im Finten legen und Lügen überlegen glaubte?

Hippias: Ich bin nicht deiner Meinung, Sokrates, sondern er spricht, weil er seine Meinung geändert, aus Arglosigkeit zu Aias anders als er zu Odysseus redet. Odysseus aber, wenn er die Wahrheit spricht, spricht er sie immer freiwillig, und wenn er lügt ebenso.

Sokrates: Folglich ist, wie es scheint, Odysseus besser als Achilles. Hippias: Keinesfalls, Sokrates. Sokrates: Was also? Waren eben offensichtlich nicht die besser, die freiwil-

lig lügen, als die, die es unabsichtlich tun? Hippias: Und wie könnten auch, Sokrates, die besser sein, die vorsätzlich

Unrecht, vorsätzlich betrügen und Böses tun als die, die es unvorsätz-lich tun? Gegen diese scheint doch große Nachsicht zu bestehen, wenn jemand nicht wissentlich Unrecht tut oder lügt oder sonst etwas Böses tut. Auch die Gesetze sind doch wohl viel härter gegen die, die vorsätz-lich Böses tun und lügen, als gegen die, die es unvorsätzlich tun.

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Sokrates: Du siehst, Hippias, dass ich die Wahrheit sage, wenn ich behaup- te, dass ich beharrlich beim Befragen der Weisen bin? Das scheint meine einzig gute Eigenschaft zu sein, neben den vielen ganz schlechten. Denn in den Dingen selbst irre ich mich und weiß nicht, wie sie sich verhal-ten. Denn dies scheint mir ein hinlänglicher Beweis dafür zu sein, dass ich, wenn ich mit euch wegen eurer Weisheit Hochgeschätzten verkeh-re, denen alle Griechen Weisheit bezeugen, erscheine als einer, der nichts weiß. Denn es gibt nichts, um es einmal so zu sagen, in dem ich mit euch übereinstimme. Doch was ist nun aber ein besserer Beweis für Unwissenheit als wenn jemand mit den weisen Männern nicht überein-stimmt? Dieses eine Wunderbare habe ich als Gut, das mich schützt: Ich schäme mich nämlich nicht, dazuzulernen, sondern ich erkundige mich und frage, bin dem Antwortenden sehr dankbar und habe mich niemals jemandem undankbar erwiesen. Denn niemals habe ich in Abrede ge-stellt, wenn ich etwas gelernt habe, und mich als Erfinder des Gelernten ausgegeben, sondern ich pries vielmehr den, der mich belehrt hat, als weise, wenn ich kundtue, was ich von ihm gelernt habe. Und ich stim-me auch jetzt in dem, was du sagst, mit dir nicht überein, sondern bin entschieden anderer Meinung. Auch weiß ich dies sehr wohl, dass das meinetwegen geschieht, da ich nun einmal so bin, wie ich eben bin, um nicht härter mit mir ins Gericht zu gehen. Mir scheint nämlich, lieber Hippias, das ganze Gegenteil von dem, was du sagst, der Fall: Diejeni-gen, die den Menschen Schaden zufügen, Unrecht tun, lügen und be-trügen, und sich verfehlen, wenn sie es freiwillig tun, aber nicht un-freiwillig, besser sind als diejenigen, die so was unfreiwillig tun. Manchmal freilich scheint mir das Gegenteil davon richtig und ich schwanke darin, offenbar aufgrund meines Nichtwissens. Eben jetzt aber im gegenwärtigen Augenblick ist es wie ein Anfall über mich ge-kommen und es scheinen mir diejenigen, die freiwillig in irgendetwas fehlen, besser zu sein als diejenigen, die es unfreiwillig tun. Die Schuld für meine gegenwärtige Krankheit schiebe ich auf unsere bisherige Ar-gumentation, so dass ich jetzt im Moment diejenigen, die jedes einzelne von diesen Dingen unfreiwillig tun, für schlechter halte als diejenigen, die sie freiwillig tun. Du aber tue mir also den Gefallen und weigere dich nicht, meine Seele zu heilen. Du tust mir sicherlich eine viel größe-re Wohltat, wenn du meine Seele von Unwissenheit befreist als meinen Leib von einer Krankheit. Wenn du eine lange Rede halten willst, sage ich dir voraus, dass du mich wohl nicht heilen wirst – denn ich könnte dir nicht folgen – wenn du mir aber antworten willst, wie schon eben, wirst du mir von großem Nutzen sein und ich glaube, dass du selbst dabei keinen Schaden erleiden wirst. Zu Recht könnte ich auch dich heranziehen, Sohn des Apemantos. Denn du hast ihn zur Unterredung

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mit mir veranlasst, und jetzt, wenn Hippias mir nicht mehr antworten will, bitte du ihn doch für mich.

Eudikos: Aber ich glaube, mein lieber Sokrates, Hippias wird unserer Bitte gar nicht bedürfen. Denn so lauteten nicht seine Vorankündigungen, sondern dass er keines Menschen Frage ausweichen wolle. Oder nicht, Hippias? War es nicht das, was du sagtest?

Hippias: Schon. Aber Sokrates, mein lieber Eudikos, stiftet bei der Argu-mentation immer Verwirrung und es scheint, als täte er das böswillig.

Sokrates: Mein bester Hippias, das tue ich doch aber nicht freiwillig, – denn dann wäre ich ja deiner Argumentation zufolge weise und mäch-tig – sondern unfreiwillig, so dass du Nachsicht mit mir haben musst. Denn du sagst ja, dass man andererseits Nachsicht haben muss mit dem, der unfreiwillig Böses tut.

Eudikos: Geh davon keineswegs ab, Hippias, und beantworte sowohl um unserer Willen als auch wegen deiner Vorankündigungen das, was Sokrates dich fragt.

Hippias: Ich werde auf deine Bitte hin antworten. Frage also, was du willst.

Sokrates: Und ich möchte sehr gern, Hippias, das eben jetzt Gesagte ge-nauer prüfen, wer denn nun besser ist, diejenigen, die sich freiwillig verfehlen, oder diejenigen, die es unfreiwillig tun. Ich glaube nun, auf diese Weise am richtigsten zur Überprüfung zu kommen. Doch antwor-te mir: Nennst du irgendeinen Läufer gut?

Hippias: Schon. Sokrates: Und einen schlecht? Hippias: Ja. Sokrates: Ein guter Läufer ist doch der, der gut läuft, ein schlechter Läufer,

der schlecht läuft? Hippias: Ja. Sokrates: Ist nicht ein langsamer Läufer ein schlechter Läufer und ein

schneller Läufer ein guter Läufer? Hippias: Ja. Sokrates: Also ist beim Wagenrennen und beim Wettlauf Schnelligkeit gut,

Langsamkeit schlecht? Hippias: Warum sollte es denn anders sein? Sokrates: Wer ist also ein besserer Läufer, der, der freiwillig langsam läuft,

oder der, der es unfreiwillig tut. Hippias: Der es freiwillig tut. Sokrates: Ist das Laufen nicht folglich ein Tun? Hippias: Es ist ein Tun. Sokrates: Wenn es ein Tun ist, ist es dann nicht auch ein Vollbringen?

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Hippias: Ja. Sokrates: Wer also schlecht läuft, vollbringt der beim Laufen ein schlechtes

und schändliches Werk? Hippias: Ein schlechtes. Wie denn nicht? Sokrates: Schlecht läuft aber, der langsam läuft? Hippias: Ja. Sokrates: Vollbringt folglich nicht der gute Läufer freiwillig dieses schlech-

te und schändliche Werk, der schlechte Läufer aber unfreiwillig? Hippias: So scheint es wenigstens. Sokrates: Ist also beim Wettrennen der schlimmer, der unfreiwillig

Schlechtes tut, oder der, der es freiwillig tut? Hippias: Beim Wettrennen schon. Sokrates: Was ist beim Ringkampf? Welcher Ringer ist besser, derjenige,

der freiwillig fällt, oder derjenige, der unfreiwillig fällt? Hippias: Der es freiwillig tut, wie es scheint. Sokrates: Ist beim Ringen schlimmer und schändlicher das Fallen oder das

Niederwerfen? Hippias: Das Fallen. Sokrates: Auch beim Ringen ist also der, der freiwillig das Schlechte und

Schändliche vollbringt, ein besserer Ringer als der, der es unfreiwillig tut.

Hippias: So scheint es. Sokrates: Was ist aber bei jeder anderen körperlichen Betätigung? Vermag

nicht der körperlich Bessere beides zu vollbringen, das Starke und das Schwache, sowohl das Schändliche als auch das Schöne, so dass, wenn er körperlich Schlimmes vollbringt, der körperlich Bessere es freiwillig, der körperlich schlechtere unfreiwillig tut?

Hippias: So scheint es sich auch in Bezug auf die Körperkraft zu verhalten. Sokrates: Wie ist es mit der guten Körperhaltung, Hippias? Sind nicht

beim besseren Körper die hässlichen und schlechten Körperhaltungen freiwillig, beim schlechteren unfreiwillig? Oder wie scheint es dir?

Hippias: So scheint es mir. Sokrates: Also ist auch die freiwillig schlechte Körperhaltung der Tugend,

die unfreiwillig schlechte der Schlechtigkeit des Körpers zuzuschreiben. Hippias: Es scheint so. Sokrates: Was sagst du über die Stimme? Welche nennst du besser, dieje-

nige, die freiwillig, oder diejenige, die unfreiwillig den Ton verfehlt? Hippias: Die ihn freiwillig verfehlt. Sokrates: Die schlechtere aber, die es unfreiwillig tut? Hippias: Ja.

Sokrates: Möchtest du lieber das Gute besitzen oder das Schlechte? Hippias: Das Gute.

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Sokrates: Möchtest du lieber Füße haben, die freiwillig oder unfreiwillig hinken?

Hippias: Die freiwillig hinken. Sokrates: Ist nicht das Hinken der Füße eine Mangelhaftigkeit und ein

Makel? Hippias: Ja. Sokrates: Was weiter? Ist nicht die Kurzsichtigkeit eine Mangelhaftigkeit

der Augen? Hippias: Ja. Sokrates: Welche Augen möchtest du haben und mit welchen leben? Mit

solchen, mit denen man freiwillig kurzsichtig ist und schlecht sieht oder unfreiwillig?

Hippias: Mit solchen, mit denen man es freiwillig tut. Sokrates: Von deinem Besitz also hältst du das für besser, was freiwillig

schlechtes wirkt als das, was es unfreiwillig tut? Hippias: Wenigstens in diesem Bereich. Sokrates: Hat nicht also alles wie Ohren, Nase, Mund und alle anderen

Sinnsorgane ein und dieselbe Bestimmung, dass sie, wenn sie unfreiwil-lig schlecht arbeiten nicht besitzenswert, weil mangelhaft sind, wenn sie aber freiwillig so arbeiten, besitzenswert, weil sie gut sind.

Hippias: So scheint es mir jedenfalls. Sokrates: Und weiter. Mit welchen Werkzeugen ist der Umgang besser,

mit denen man freiwillig Schlechtes bewerkstelligt oder mit denen man das unfreiwillig tut? Welches Steuerruder ist besser, das, mit dem man freiwillig oder das, mit dem man unfreiwillig schlecht steuert?

Hippias: Das, mit dem man es freiwillig tut. Sokrates: Gilt nicht dasselbe auch für Bogen, Lyra, Flöte und all die ande-

ren Instrumente? Hippias: Das ist wahr. Sokrates: Und weiter. Ist es besser, die Seele eines Pferdes zu besitzen, mit

der man freiwillig schlecht reiten kann oder mit der man unfreiwillig schlecht reitet?

Hippias: Mit der Seele, mit der man es freiwillig tut. Sokrates: Es ist also besser. Hippias: Ja. Sokrates: Mit der besseren Seele eines Pferdes dürfte er die schlechten

Werke dieses Pferdes freiwillig, mit der des schlechten unfreiwillig vollbringen?

Hippias: In der Tat. Sokrates: Und ist es nicht auch so beim Hund und all den anderen Tieren? Hippias: Ja.

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Sokrates: Und weiter nun. Ist es besser für den Menschen, die Seele des Bogenschützen zu haben, die freiwillig das Ziel verfehlt oder die es un-freiwillig verfehlt.

Hippias: Die es freiwillig tut. Sokrates: Ist also diese nicht auch besser, was das Bogenschießen anbe-

langt? Hippias: Ja. Sokrates: Also ist auch eine Seele, die unfreiwillig das Ziel verfehlt,

schlechter als eine, die es freiwillig tut? Hippias: Beim Bogenschießen schon. Sokrates: Was ist aber mit der Heilkunst? Ist nicht diejenige, die freiwillig

in Bezug auf die Körper Schlechtes vollbringt, die heilkundigere? Hippias: Ja. Sokrates: Ist sie also in dieser Kunst die bessere? Hippias: Sie ist besser. Sokrates: Und weiter. Welche Seele ist besser beim Zither- oder beim Flö-

tenspiel oder in all den anderen Künsten und Wissensgebieten, ist es nicht diejenige, die freiwillig das Schlechte und Schändliche vollbringt und Fehler macht, die schlechtere tut es aber unfreiwillig?

Hippias: So scheint es. Sokrates: Aber was nun den Besitz von Sklaven betrifft, so wollen wir doch

lieber die Seelen von denen haben, die freiwillig Fehler machen und Schlechtes tun als die, die es unfreiwillig tun, weil jene besser sind in dieser Beziehung.

Hippias: Ja. Sokrates: Und weiter. Was unsere Seele anbelangt, möchten wir nicht eine

möglichst gute haben? Hippias: Ja. Sokrates: Wird sie dann nicht besser sein, wenn sie freiwillig Schlechtes tut

und Fehler begeht, als wenn sie das unfreiwillig täte? Hippias: Das wäre doch wohl unerhört, Sokrates, wenn diejenigen, die

vorsätzlich Unrecht tun, besser wären als die, die es unvorsätzlich tun. Sokrates: Aber so scheint es zumindest nach unserer Erörterung. Hippias: Mir aber keineswegs. Sokrates: Ich glaubte aber, Hippias, du wärest auch zu dieser Ansicht

gekommen. Antworte aber weiter: Ist die Gerechtigkeit nicht irgendeine Fähigkeit oder ein Wissen oder beides? Oder muss nicht die Gerechtig-keit notwendig eines von diesen sein?

Hippias: Ja. Sokrates: Wenn aber die Gerechtigkeit eine Fähigkeit der Seele ist, dann ist

doch die fähigere Seele die gerechtere? Denn eine solche, mein Bester, erschien uns als die bessere.

Hippias: Es hatte allerdings den Anschein.

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Sokrates: Angenommen sie wäre ein Wissen; wäre nicht die weisere Seele die gerechtere, die unwissendere aber die ungerechtere?

Hippias: Ja. Sokrates: Angenommen sie wäre beides; wäre nicht die Seele, die beides

hat, Wissen und Fähigkeit, die gerechtere, die unwissendere und unfä-higere die ungerechtere? Muss es sich nicht notwendigerweise so ver-halten?

Hippias: Allem Anschein nach. Sokrates: War nicht offensichtlich diese fähigere und weisere besser und

mehr befähigt, beides zu machen, sowohl das Schöne als auch das Schändliche bei allen Tätigkeiten?

Hippias: Ja. Sokrates: Wenn sie aber das Schändliche vollbringt, vollbringt sie dies

freiwillig aufgrund ihrer Fähigkeit und Kunst. Dies scheint Merkmal der Gerechtigkeit zu sein, entweder beide zusammen und eines von beiden.

Hippias: So scheint es. Sokrates: Und das Unrechttun ist Schlechtes tun, nicht Unrecht tun aber

Schönes tun. Hippias: Ja. Sokrates: Wird also nicht die fähigere und bessere Seele, für den Fall, dass

sie Unrecht tun sollte, freiwillig Unrecht tun, die schlechte aber unfrei-willig?

Hippias: So scheint es. Sokrates: Ist nicht ein guter Mann der, der eine gute Seele hat, ein schlech-

ter aber, der eine schlechte hat? Hippias: Ja. Sokrates: Ist es also nicht die Eigenschaft eines guten Mannes, freiwillig

Unrecht zu tun, des schlechten aber unfreiwillig, wenn wirklich der Gu-te eine gute Seele hat.

Hippias: Das ist ganz der Fall. Sokrates: Der also freiwillig sich verfehlt, Schändliches und Unrechtes tut,

Hippias, wenn es überhaupt einen solchen geben sollte, dürfte es kein anderer sein als der Gute.

Hippias: Dies kann ich dir unmöglich zugestehen, Sokrates. Sokrates: Und ich mir auch nicht, Hippias. Aber es scheint uns notwendi-

gerweise wenigstens jetzt aus unserer Argumentation zu folgen. Wie ich freilich schon vorhin sagte, schwanke ich selbst in dieser Sache hin und her und keineswegs scheint mir dasselbe. Es ist auch kein Wunder, dass ich oder ein anderer Laie schwankt; wenn auch ihr Weisen schwanken werdet, ist das besonders schlimm auch für uns, wenn wir nicht einmal zu euch kommen können, um Ruhe von unserem Schwan-ken zu finden.

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II – Einleitung

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Gliederung des Einleitungsteils

1. Die Überlieferungslage ...................................................... 28 1.1 Die handschriftliche Überlieferung ...................................... 28

1.1.1 Die erste Familie (W- und T- Gruppe) ........................... 28

1.1.2 Die zweite Familie (F-Gruppe) ....................................... 30

1.1.3 Die Gruppe der Exzerpt-Manuskripte ............................ 31

1.2 Die ersten Ausgaben der Renaissance ................................. 32 1.3 Das Stemma der Handschriften (nach Vancamp) .............. 33

2. Die Authentizitätsfrage ...................................................... 35 2.1 Antike Zeugnisse .................................................................... 35 2.2 Die Diskussion in der Neuzeit .............................................. 36

3 Die Datierungsfrage ............................................................. 40 3.1 Die fiktive Chronologie .......................................................... 40 3.2 Die absolute Chronologie ...................................................... 41 3.3 Die relative Chronologie ........................................................ 42

3.3.1 Ergebnisse der sprachstatisch-stylometrischen Methode .............................................................................. 42

3.3.2 Prolegomena zu einem philosophiegenetischen Chronologiemodell .............................................................. 43

3.3.3 Ein philosophiegenetisches Chronologiemodell des Hippias Minor .................................................................... 45

4. Das Lügner-Paradoxon ....................................................... 50 4.1 Die Identität des Wahren und der Lüge in den

Dissoi logoi ......................................................................... 50 4.2 Das Denken in Gegensätzen bei Platon ............................... 53 4.3 Paradoxa bei Platon ................................................................ 55

5. Das Übeltäter-Paradoxon ................................................... 59