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DEUTSCHLAN D & E UROPA Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg Polen in Europa Reihe für Politik, Geschichte, Geographie, Deutsch, Kunst Heft 37 · Dezember 1998

Polen in Europa · Auflage: 12000 Titelbild: Montage: Fahnen der Europäischen Union und der EU-Staaten; Broschüre Polen Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Daten-trägern

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Page 1: Polen in Europa · Auflage: 12000 Titelbild: Montage: Fahnen der Europäischen Union und der EU-Staaten; Broschüre Polen Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Daten-trägern

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Page 2: Polen in Europa · Auflage: 12000 Titelbild: Montage: Fahnen der Europäischen Union und der EU-Staaten; Broschüre Polen Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Daten-trägern

Herausgeber:Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg,Direktor Siegfried Schiele

Redaktion:Dr. Walter-Siegfried Kircher

Anschrift der Redaktion:70184 Stuttgart, Stafflenbergstraße 38,Telefon (0711) 2371-381/-391, Telefax (0711) 2371-496

Beirat:

Robert Bosch Stiftung GmbH, Stuttgart,Günter Gerstberger

Dr. Almut Satrapa-Schill

Ministerium für Kultus und Sport,Klaus Happold, Ministerialrat

Prof. Dr. Lothar Burchardt,Universität Konstanz

Dietrich Rolbetzki,Oberstudienrat, Filderstadt

Lothar Schaechterle,Studiendirektor, Stetten i. R.

Landeszentrale für politische Bildung,Dr. Walter-Siegfried Kircher

Deutschland&Europa erscheint zweimal im Jahr

Jahresbezugspreis DM 12,–Satz:Vaihinger Satz + Druck GmbH71665 Vaihingen

Druck:Reclam Graphischer Betrieb GmbH71254 Ditzingen

Auflage: 12 000

Titelbild:Montage: Fahnen der Europäischen Unionund der EU-Staaten; Broschüre Polen

Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Daten-trägern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigungder Redaktion

Mit finanzieller Unterstützung des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport, der Stiftung für Bildung und Behindertenför-derung und der Robert Bosch Stiftung.

Inhalt

Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

Autorinnen und Autoren dieses Heftes . . . . . . . . . . . . . . 2

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

I. Polens Integration in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

1. Solidarnośc: Motor der Veränderungen in Polen und Osteuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

2. Polen und die EU: von der Kooperation zur Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

II. Polen und Europa – Beispiele aus der Geschichte . 13

1. Jan III. Sobieski (1629–1696) und die Befreiung Wiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

2. Die polnische Maiverfassung von 1791 – erste moderne Verfassung Europas . . . . . . . . . . . 15Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

3. Tadeusz Kościuszko (1746–1817): der Ruf nach Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

4. »Für unsere und eure Freiheit ...« – der Novemberaufstand 1830/31 . . . . . . . . . . . . . . 22Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

5. Grenzüberschreitung: Briefe aus demWarschauer Ghetto (1941/42) . . . . . . . . . . . . . . . . 27Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

III. Polen und Europa – Beispiele aus Kunst, Musik und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

1. Polens Impulse für die Bildende Kunst des 20. Jahrhunderts – oder die Freiheit der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

2. Ein zeitgenössischer Komponist: Krzysztof Meyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

3. Polnische Literatur im Überblick . . . . . . . . . . . . . . 40

4. Paweł Huelle: Weiser Dawidek.Eine Erinnerungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

Weitere Literatur zum Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

AV-Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. und 4. Umschlagseite

Die Hefte werden nur in geringer Anzahl an die Schulenverteilt. Zusätzliche Exemplare können bei der Landes-zentrale für politische Bildung, RedaktionssekretariatDeutschland und Europa, Fax (0711) 23 71- 496, oderschriftlich (Umschlagseite ☞Bestellungen) nachgefordertwerden.

D E U T S C H L A ND & EU R O PAHeft 37 · Dezember 1998

D E U T S C H L A ND & EU R O PA

Page 3: Polen in Europa · Auflage: 12000 Titelbild: Montage: Fahnen der Europäischen Union und der EU-Staaten; Broschüre Polen Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Daten-trägern

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»Liegt Polen noch in Europa?« fragte der Titel eines Bändchens, das in der BundesrepublikDeutschland nach dem Arbeiteraufstand in Posen (1956) und dem damit verbundenen Um-bruch in Polen erschien. Die Frage war berechtigt: Europa war durch den »Eisernen Vor-hang« geteilt, Polen lag im unmittelbaren Machtbereich der Sowjetunion. Die Frage waraber nicht nur geopolitisch und machtpolitisch gemeint. Heute - nach der Wiedervereini-gung Deutschlands und der beginnenden Osterweiterung der Europäischen Union - gilt inbesonderem Maße, was Karl Dedecius, der frühere Leiter des Deutschen Polen-Instituts inDarmstadt, behauptete: »Was in Polen geschieht, geht uns unmittelbar an«. Aus Unkennt-nis unseres Nachbarlandes, seiner Bevölkerung und Geschichte seien uns Deutschenschwer gutzumachende Nachteile erwachsen, wie überhaupt Fehleinschätzungen von Völ-kern fatale historische Folgen hätten.

Kenntnisse über Polen, seine in den europäischen Kontext eingebettete Geschichte undKultur sind bei uns weniger entwickelt als die über unseren westlichen Nachbarn Frank-reich. Vorurteile und Klischees herrschen vielfach vor, das Verständnis gegenüber unseremöstlichen Nachbarland leidet darunter. In Abwandlung eines Wortes von Friedrich Sieburg:»Was hegen wir für Frankreich? ... Alles, nur keine Gleichgültigkeit«, sollte diese Überle-gung auch für Polen gelten. Nichts wäre fataler als eine gleichgültige Haltung gegenüberdiesem Land und seinen Menschen; nichts nachlässiger als die Reduktion unserer Kennt-nisse auf einige wenige Schulbuchausschnitte wie die polnischen Teilungen und den Über-fall und die Zerschlagung Polens im Zweiten Weltkrieg.

Deshalb will dieses Heft erinnern an geschichtliche und kulturelle Leistungen Polens in Ver-gangenheit und Gegenwart mit Blick auf europäische Zusammenhänge. Geschehen solldies in einer Zeit, da die EU mit Polen und fünf weiteren Staaten Beitrittsverhandlungenführt. Die endgültige europäische Integration der polnischen Nation ist in Sicht, tausendJahre nachdem sich die mittelalterlichen und neuzeitlichen Konturen der europäischen Ge-schichte herauszubilden begannen. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Re-gimes Polens Ende der Achtzigerjahre dauerte es knapp zehn Jahre, bis im November 1998in Brüssel die Beitrittsverhandlungen beginnen konnten. Diese für Ost- und Mitteleuropabahnbrechenden Entwicklungen werden in den Beiträgen »Polens Integration in Europa«behandelt. Wir können die historischen europäischen Leistungen Polens und seiner Bevöl-kerung im vorliegenden Heft nur an wenigen ausgewählten Beispielen betrachten und dürfen den Blick nicht nur von West nach Ost wenden. Teilweise in Zusammenarbeit mit einem polnischen Historiker wurden Themen gewählt, die dem polnischen Verständnis dereuropäischen Verbundenheit entsprechen. »Polen in Europa« – das umfasst aber auch Polen in einem von der NS-Diktatur terrorisierten Europa, wie im Beitrag »Grenzüberschrei-tung: Briefe aus dem Warschauer Ghetto (1941/42)« bewegend zu lesen ist.Ein letzter Themenblock befasst sich mit dem weniger bekannten Polen anhand von Bei-spielen aus Kunst, Musik und Literatur.

Alle Kapitel enthalten entweder in die Autorenerläuterungen integrierte oder als Extrablockpräsentierte Materialien für den Unterricht. Sie sollen dazu anregen, dort und bei speziellenfächerverbindenden Projekten sowie mit Schul- und Städtepartnerschaften sich unseremNachbarn ebenso zu widmen wie dies bereits mit Frankreich geschieht. Denn Polen hat inseinem Selbstverständnis Europa nie verlassen, vielmehr »zur Vergrößerung Europas undzur Vereinigung Deutschlands« wesentlich beigetragen (Władysław Bartoszewski 1998 inStuttgart).

Siegfried Schiele

Direktor der Landeszentrale für politische BildungBaden-Württemberg

VorwortdesHerausgebers

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Polen ist – der Titel des Heftes spiegelt dies in pointierter Kürze – vor dem Hintergrundgemeinsamer kultureller Traditionen und historischer Prozesse Teil Europas.Im Laufe seiner Geschichte leistete die polnische Nation wichtige Anregungen und Beiträ-ge zum gesamteuropäischen Kultur- und Geistesleben; von hier aus erfuhren die Ideen vonFreiheit und Demokratie wesentliche Impulse. Zu nennen sind beispielsweise Persönlich-keiten wie T. Kosziusko und dessen herausragende Rolle im amerikanischen Unabhängig-keitskrieg, zu erinnern ist an die erste, moderne und schriftlich fixierte Verfassung Europasvom Mai 1791, von weitreichender Bedeutung und nachhaltiger Resonanz war der in ganzEuropa mit Begeisterung und Anteilnahme verfolgte Kampf der Polen um Freiheit im Jahre1830/31. Die Gewerkschaft Solidarnosc trug – auch im Rückgriff auf dieses geschichtlicheund nationale Bewusstsein – ganz entscheidend mit zum Zerfall der marxistisch-sozialisti-schen Gesellschaftssysteme des Ostens bei. Die seither eingetretenen radikalen weltpoli-tischen Veränderungen ordnen sich zu neuen Konstellationen, die ihre Legitimation ver-stärkt in elementaren geschichtlichen Traditionen suchen.Vor diesem Hintergrund erfährt Polen im Kontext der europäischen Integration in der aktu-ellen politischen Wahrnehmung eine Neubewertung: Mit einem künftigen Beitritt Polens zurEuropäischen Union verbinden sich zwar sicher nicht geringe Probleme wirtschafts-finanz-politischer und – im Blick auf die ehemaligen GUS-Staaten – sicherheitspolitischer Art.Andererseits eröffnet die Aufnahme des polnischen Staates in die europäische Wirt-schafts- und Wertegemeinschaft auch große Chancen für beide Seiten. Polen wird inbesonderem Maße eine ausgleichende Mittlerfunktion zwischen Ost und West zukommen– nicht zuletzt wird der Aussöhnungs- und Verständigungsprozess zwischen Polen undDeutschen weiter befördert.Die detailreiche Fülle des in diesem Heft ausgebreiteten Materials bietet sicher Ansatz-punkte zur Vertiefung von Unterrichtssequenzen, die die Geschichte Europas, das Verhält-nis zwischen Deutschen und Polen und die Problematik des europäischen Einigungspro-zesses mit seinen Chancen und Risiken betreffen.

Klaus HappoldMinisterialrat

Dr. Hans Biedert, OStD, Peutinger-Gymnasium Ellwangen (Jan III. Sobieski und die Befreiung Wiens / Tadeusz Kościusko: der Ruf nach Freiheit / Die polnische Maiverfassung von 1791 – erste moderne Verfassung Europas)Wolf-Rüdiger Größl, StD, Filderstadt(Federführung / Polen und die EU: von der Kooperation zur Intergration / »Für unsere und eureFreiheit...«- der Novemberaufstand 1830/31)Heinz Hübner, StD, Fronreute (Ein zeitgenössischer Komponist: Krzysztof Meyer)Erika Kern, StR’ a.D., und Helmuth Kern, Professor, Staatliches Seminar für Schulpädagogik(Gymnasien) Esslingen; beide Neckartenzlingen(Polens Impulse für die europäische Kunst des 20. Jahrhunderts – oder die Freiheit der Kunst)Prof. Dr. habil.Tadeusz Kotlowski, Instytut Historii, Uniwersytetu im. Adama Mickiewica w Poznaniu, Poznań, Polen (Jan III. Sobieski (1629–1696) und die Befreiung Wiens / Tadeusz Kościusko (1746–1817): der Ruf nach Freiheit)Manfred Mack, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Deutsches Polen-Institut, Darmstadt(Polnische Literatur im Überblick)Bernhard Müller, StD, Staatliches Seminar für Schulpädagogik (Gymnasien) Heilbronn (Federführung / Einführung / Solidarność: Motor der Veränderungen in Osteuropa)Dieter Müller, StD, Dettenhausen(»Für unsere und Eure Freiheit« – der Novemberaufstand 1830/31)Helga Müller, OStR’, Heilbronn, (Paweł Huelle: Weisser Dawidek. Eine Erinnerungsgeschichte)Konrad Plieninger, Professor a.D., Rechberghausen(Grenzüberschreitung: Briefe aus dem Warschauer Ghetto 1941/42)Jürgen Wolf, OStR, Stuttgart (Polen und die EU: von der Kooperation zur Integration)

Leiter des Zeitschriftenprojekts » «: Dr. Walter-Siegfried Kircher, Stuttgart

Mitarbeiter der Werkstattseminare »Polen in Europa«vom 22. – 23.11.1996 in Neulervom 04. – 05.07.97 in Neulervom 07. – 08.11.97 in Bad Urach:H. Biedert, W.-R. Größl, H. Hübner, E. und H. Kern, B. u. H. Müller, W.-S. Kircher, D. Müller, K. Plieninger, D. Rolbetzki, J. Wolf,

Geleitwortdes Ministeriumsfür Kultus, Jugendund Sport

Autorinnen undAutoren diesesHeftes

D & E

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Polen in EuropaEinführung

»Auch uns nennt man im Westen den Osten, und im Osten denWesten« (Stanisław Jerzy Lec)

Seit der Wende 1989/90 und den Bestrebungen Polens,der Europäischen Union beizutreten, wird oft von der›Rückkehr‹ Polens nach Europa gesprochen. In Polenhört man diese Formel nicht gern – denn: »wir waren im-mer in Europa und haben für Europa gekämpft«.1 Damitwird auf einen wichtigen Bestandteil des nationalenSelbstverständnisses der Polen angespielt, auf ihre Zu-gehörigkeit zum christlichen Abendland seit der Begeg-nung Kaiser Ottos III. mit dem polnischen König BolesławChrobry in Gnesen im Jahr 1000. Polen hat sich jahrhun-dertelang als ›Vorposten Europas‹ begriffen, als Verteidi-ger der europäischen Zivilisation gegen die ›asiatischeBarbarei‹, wie es im Aufruf zum polnischen Aufstand 1863wörtlich heißt. Im historischen Langzeitgedächtnis despolnischen Volkes ist die Rolle seines Königs Jan Sobies-ki bei der Verteidigung Europas gegen die Türken 1683ebenso gegenwärtig wie es die polnischen Aufstände im 19. Jahrhundert sind, die als Beitrag zum gesamteuro-päischen Kampf für Freiheit und Demokratie begriffen werden.Von der Adelsrepublik über die Teilungszeit bis in die Ge-genwart lassen sich enge kulturelle Beziehungen zwi-schen Polen und Europa nachweisen. Der Prozeß wech-selseitigen Gebens und Nehmens gilt für Literatur undMusik, bildende Kunst und Wissenschaft gleichermaßen.Viele Polen lebten – freiwillig oder gezwungenermaßen –im europäischen Ausland: als Studenten oder Emigran-ten, als Künstler oder Schriftsteller, als Saisonarbeiteroder als Restaurateure beim Wiederaufbau alter Gebäu-de. Polnische Intellektuelle spielten in der Bürgerrechts-bewegung der 70er und 80er Jahre eine wichtige Rolle.Sie bereiteten den Loslösungsprozess der heutigen Re-formstaaten Polen, Tschechien und Ungarn aus demkommunistischen Ostblock vor und machten ihre Zu-gehörigkeit zum westlichen Europa bewußt. Es ging ih-nen um die Grundwerte einer ›civil society‹ (nämlichRechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und Demokratie),welche in der Volksrepublik mißachtet wurden und auchin der ersten Republik zwischen den Weltkriegen kaumFuß fassen konnten.Polen ist nicht mehr eingekeilt zwischen zwei mächtigenNachbarn (Preußen/Deutschland und Russland), es ver-fügt über anerkannte und sichere Grenzen und entdecktseine Brückenfunktion zwischen Ost und West wiederneu.In der gegenwärtigen Diskussion um den Beitritt Polenszur NATO und EU kann sich die polnische Führung aufeine breite Zustimmung der Bevölkerung berufen, obwohldie Kenntnisse um die europäische Integration im einzel-nen gering sind und die öffentliche Diskussion kaum be-gonnen hat. Die meisten Polen versprechen sich von Eu-ropa mehr Sicherheit und Wohlstand sowie eine Absiche-rung des demokratischen Weges.

Den im Juli 1997 im Grundsatz beschlossenen Beitritt Po-lens zur NATO bewertet Adam Michnik, ein führender Op-positioneller zur Zeit des Kommunismus, so:2 »Dieser Tagist der wichtigste seit drei Jahrhunderten in der Ge-schichte Polens. Denn das Schicksal hat unser Land inden zurückliegenden Jahren nicht eben verwöhnt. Polenwar allein unter Feinden und wurde immer wieder unter-worfen: Teilungen, Annexionen und Okkupationen. Heuteist das anders. Heute haben wir die größte aller Chancen,das polnische Schicksal in den Strukturen der euroatlan-tischen Zivilisation zu verankern.«Mit diesen Stichworten wird angedeutet, womit sich dasvorliegende Heft befasst und warum es den Titel ›Polen inEuropa‹ trägt. Im ersten Teil des Heftes wird Polens Inte-gration in Europa behandelt. Kein Land des ehemaligenOstblocks hat sich seit der Ablösung des kommunisti-schen Regimes so verändert wie Polen, was nicht zuletztdadurch deutlich wird, dass im ehemaligen Zentralkomi-tee der Polnischen Arbeiterpartei heute die Börse ihrenSitz hat. Durch die Mitgliedschaft in der NATO wird Polenin die transatlantische Gemeinschaft aufgenommen, diewichtigere europäische Brücke wird aber erst mit denBeitrittsverhandlungen zur EU geschlagen. Obwohl sichPolens Wirtschaft insgesamt gut entwickelt und hohe Zu-wachsraten aufweist, wird der Beitritt Polens zur EU inder europäischen Öffentlichkeit als soziales Risiko und finanzielle Belastung wahrgenommen, weniger als po-litische Chance und Notwendigkeit für die europäischeStabilität.Aus den polnischen Parlaments- und Senatswahlen imSeptember 1997 ging das Wahlbündnis »Solidarität«, einchristlich-bürgerliches Sammelbecken, als Sieger hervor.Es hat mit der alten Protestbewegung solidarnośc zwi-schen 1980 und 1990 nur noch wenig gemeinsam, derenRolle für den Umbruch in Polen und Osteuropa nichthoch genug eingeschätzt werden kann. Ohne die solidar-nośc wäre die ›Revolution des Bewusstseins‹ (T. G. Ash)nicht in Gang gekommen und der Weg nach Europa nichtbeschritten worden.Bei allem Verständnis für die Bemühungen, Polens Zu-gehörigkeit zur europäischen Tradition ins Bewusstseinzu rufen, darf die andere Seite des europäisch-polni-schen Verhältnisses nicht übergangen werden. Seit denpolnischen Teilungen am Ende des 18. Jahrhunderts lässt sich eine Traditionslinie verfolgen, welche auf Ab-wertung und Ausgrenzung des polnischen Nachbarn ge-richtet war und zum Verschwinden des polnischen Staatsgeführt hat. »Polen – das ist Nirgendwo« konnte mannoch um die Jahrhundertwende hören, womit ausge-drückt werden sollte, dass es an seinem Schicksal selbstschuld war, weil es sich im europäischen Staatensystemals zu schwach erwiesen habe, wie der Historiker Hein-rich von Sybel bemerkte.Im Zweiten Weltkrieg ging es um die Existenz des polni-schen Volkes, neben die politische und kulturelle Zer-störung Polens trat die millionenfache Versklavung undVernichtung seiner Bewohner. Dieser Aspekt wird hier ex-emplarisch am Beispiel der Stadt Warschau und demWarschauer Ghetto behandelt. Erst kürzlich aufgetauchte

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Briefe eines polnischen Juden an seinen ehemaligendeutschen Arbeitgeber aus dem Warschauer Ghettozeichnen ein eindrucksvolles Bild von den damaligen Ver-hältnissen, die so der heutigen Schülergeneration ver-ständlich gemacht werden können.In diesem historischen Teil, dem zweiten Teil des Heftes,werden Polens übernationale, gewissermaßen gesamt-europäische Verdienste an den Beispielen vorgestellt,die in der Erinnerungskultur des heutigen Polen lebendigsind. Außer dem schon erwähnten Jan Sobieski wird derpolnische Freiheitsheld Kościuszko (1747–1817) behan-delt, der sowohl im Unabhängigkeitskampf der Polen alsauch in Nordamerika eine wichtige Rolle spielte.Vielfach unbekannt ist die Tatsache, dass die polnischeVerfassung vom Mai 1791 das zweite neuzeitliche Verfas-sungsdokument nach dem amerikanischen aus dem Jahr1787 war. Es handelt sich um die erste geschriebene Ver-fassung Europas (vor der französischen Verfassung vomSeptember 1791), die in ihrer Mischung aus modernen(westlichen) Elementen und altpolnisch- ständischen Tra-ditionen den Reformwillen der Adelsrepublik bezeugt,aber zugleich auch ihren Niedergang beschleunigt hat.Vor allem auf Betreiben der russischen Zarin sollte die»französische Pest« in Polen schnell ausgelöscht werden,so dass diese Verfassung keine Wirkung entfalten konnte.Die Polenbegeisterung nach dem (gescheiterten) polni-schen Aufstand von 1830/31 war ein gesamteuropäi-sches Phänomen, sie hat besonders in Deutschland mitüber 1000 Polengedichten und -liedern ihren Nieder-schlag gefunden. Eine Auswahl davon rundet die Fallana-lyse des Polenaufstands ab.Der dritte Teil des Heftes befasst sich mit dem wenigerbekannten Polen anhand ausgewählter Beispiele ausBildender Kunst, Musik und Literatur.Der marxistische Philosoph und Schriftsteller LeszekKołakowski schrieb 1956 in einer Glosse »Was ist Sozia-lismus?«: »Ein Staat,dessen Bürger diegrößten Werke der zeit-genössischen Literaturnicht lesen dürfen, diegrößten Werke der zeitgenössischen Ma-lerei nicht sehen dürfenund die größten Werkeder zeitgenössischenMusik nicht hören dür-fen...«. Zumindest nachdem Tauwetter 1956traf dies in Polen nurnoch teilweise zu. Po-lens Impulse für die bildende Kunst des 20. Jahrhunderts, vorallem für die europäi-sche Avantgarde, wer-den an Strzemi ski undKobro erläutert. Abaka-nowicz, Lenica undKruk vertreten die Ge-genwartskunst. AlsBeispiel für die zeit-

genössische polnische Musik wurde Krzysztof Meyer, einSchüler Pendereckis, ausgewählt. Ein Überblick über diepolnische Literatur sowie die Vorstellung eines zeitgenös-sischen Romans zeigen den hohen Rang der polnischenLiteratur, welche in Deutschland durch das Polen-Institutin Darmstadt und die ›Polnische Bibliothek‹ bekanntge-macht wurde.Ziel des Heftes ist es, etwas vom weniger bekannten Po-len zu vermitteln und Polens Standort in Europas Zentrum(nicht an der Peripherie) bewusst zu machen. Im Gegen-satz zur Geschichte Frankreichs ist die Geschichte Po-lens für deutsche Schüler weitgehend unbekannt, – siehtman von der Erwähnung der polnischen Teilung und denJahren 1939–44 ab. Was kann dieses Polen zum gemein-samen Europa der Zukunft beitragen? Der bekannte pol-nische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski schreibt dazu3:»Die Polen [...] werden zu Europa die alte europäische,heute im Westen etwas vergessene Überzeugung beitra-gen, daß der Mensch schwach ist, unvollkommen undsterblich, daß es Grenzen der kollektiven und individuel-len Möglichkeiten gibt, daß nicht die Welt uns gehört,sondern wir der Welt.Man muss dem modernen Europa eine Prise Demutzurückgeben. [...] Das neue und vereinte Europa, wo sichder deutsche Perfektionismus, die britische Voraussicht,die französische Erfindungsgabe, die italienische Phanta-sie, die polnische Geistesfreiheit und die tschechischeGenauigkeit verbinden, muss ein Europa von Menschensein, die gemeinsam eine Antwort gefunden haben aufdie Frage, was wesentlicher ist: Sein oder Haben.«Die Autoren des Heftes wollen dazu beitragen, dass dieHoffnung des polnischen Dichters Mickiewicz aus demJahr 1849 im 21. Jahrhundert in Erfüllung geht: »EuropasLage ist dergestalt, dass es ab nun unmöglich wird, dass irgendein Volk einzeln auf dem Wege des Fortschritts ginge ...«

Anmerkungen:1 So ein Danziger Professor in einemGespräch 1992

2 Laut Stuttgarter Zeitung vom 11. Juli 1997

3 In: Europa ist unterwegs.Essays und Reden.Diogenes, Zürich1996, S. 94

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Die Lage von Polenin Europa aus geo-graphischer Sicht

Aus: Jan Loboda:Unser Nachbar Polen.© Westermann,Braunschweig1992, S. 6

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I. Polens Integration in Europa

1. Solidarnosc: Motor der Verände-rungen in Polen und Osteuropa

Erst im Rückblick wird es ganz deutlich: die Anfänge derGewerkschaftsbewegung solidarnosc in Polen sind zu-gleich der Anfang vom Ende der kommunistischen Herr-schaft in Polen und Osteuropa. Entstanden aus der Streik-welle im Sommer 1980 in vielen Industriestädten Polens,wurde die von Arbeitern und Intellektuellen getragene Be-wegung zur ersten demokratischen Massenorganisationin Osteuropa, die dem abgewirtschafteten System weni-ger wirtschaftliche Belastungen und mehr politischeRechte abtrotzen konnte. Angeführt von Lech Wałęsa, ei-nem Elektriker auf der Danziger Werft, und unterstütztvom polnischen Klerus und dem aus Polen stammendenPapst (Johannes Paul II., seit 1978), gelang es der solidar-nosc, ein Bündnis aus Reformsozialisten und religiösenKräften zu schmieden, welches die Emanzipation der pol-nischen Gesellschaft aus dem kommunistischen Herr-schaftssystem vorantrieb. Entscheidend für den Erfolg dersolidarnosc war, dass es ihr gelang, die soziale Protestbe-wegung des Sommers 1980 mit früheren Arbeiter- undStudentenprotesten propagandistisch zu verbinden undauch an die Kette nationaler Befreiungskämpfe anzuknüp-fen, welche die polnische Geschichte im 19. und 20. Jahr-hundert geprägt haben. So kam es zu jener »Revolutiondes Bewusstseins« (T. G. Ash), welche den Weg für den An-schluß Polens an die europäische Gemeinschaft bereitete.Anlass für den Streik auf der Danziger Leninwerft im Som-mer 1980 war die Entlassung einer Arbeiterin, die als Mit-glied des Gründungskomitees Unabhängiger Gewerk-schaften hervorgetreten war. Den Hintergrund bildetenwiederholte Versuche der damaligen Regierung, die sub-ventionierten Preise für Grundnahrungsmittel (welche40% des Staatshaushaltes beanspruchten) anzuheben,was regelmäßig zu Widerstand der Betroffenen führte.Die langwierigen Verhandlungen zur Beendigung derStreiks (die sich inzwischen auf zahlreiche Industriestädteausgedehnt hatten) führten zu dem Danziger Abkommenvom 31. August 1980 ( ), welches die Grundlagen fürdie unabhängigen und selbstverwalteten Gewerkschaftenin Polen legte. Es handelte sich um die erstmalige Legali-sierung einer Opposition im kommunistischen Herr-schaftsbereich. Die spannende Frage lautete, ob und wiesich Pluralismus und sozialistische Staats- und Gesell-schaftsordnung vereinbaren ließen. Die solidarnosc näm-lich hatte zwar die Grundlagen der polnischen Nach-kriegsordnung (sozialistisches Wirtschaftssystem und Zu-gehörigkeit Polens zum östlichen Paktsystem) anerkannt( ); sie forderte aber eine andere Organisation der Ge-sellschaft (als solidarisches Gemeinwesen) und die Einhal-tung elementarer Menschen- und Bürgerrechte.Die große Resonanz, welche solidarnosc fand, lässt sichnur dadurch erklären, dass die Gewerkschaftsbewegungnicht nur als Interessenvertretung der Werktätigen auftrat,sondern sich in die lange Tradition des polnischen Wider-stands einzufügen wusste ( + ). Das Geschichts-bewusstsein der Polen, das über Feiern und Denkmale le-

bendig erhalten wurde, konnte für die Zwecke der solidar-nosc instrumentalisiert werden. Es ging ihr immer auchum Moral und Recht, nicht nur um die Verbesserung dermateriellen Lebensverhältnisse.Weder für die Polen noch für westliche Zeitgenossen warabsehbar, wie sich die Verhältnisse in Polen entwickelnwürden und ob die Streikbewegung in einem Massakerenden würde. Einerseits schloss der Oberbefehlshaberder polnischen Marine gleich zu Beginn den Einsatz vonMilitär gegen die Arbeiter aus. Auch Parteichef Gierek undseine Ratgeber wollten ihren Kredit im Westen nicht mitGewaltlösungen verspielen. Andererseits war Polen alsMitglied des Warschauer Pakts ebenso der Breshnew-Doktrin unterworfen wie die ČSSR, wo es 1968 zu einermilitärischen Intervention gekommen ist. Vor allem die da-malige DDR-Führung drängte auf eine gewaltsame Unter-drückung der polnischen Opposition. Im Herbst 1980 wur-de die bis dahin offene deutsch-polnische Grenze ge-schlossen.Die Ernennung General Jaruzelskis zum Partei- und Re-gierungschef und die Verhängung des Kriegsrechts im De-zember 1981 stellten eine typisch polnische Lösung derProbleme dar, die bis heute umstritten und schwer durch-schaubar ist.Die Verhängung des Kriegsrechts, das Verbot der solidar-nosc und die Internierung ihrer Führer bedeuteten nichtdas Ende dieser Bewegung – im Gegenteil: Im Untergrundwirkten die Ideen weiter, die moralische Unterstützung fürWałęsa und die solidarnosc nahm vor allem im westlichenAusland zu. Eine Schlüsselrolle spielt in diesem Zusam-menhang der polnische Papst und dessen ›Pilgerreisen‹nach Polen (siehe Zeittafel »Wichtige Ereignisse ...1975–1995«).

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Solidarität im Vatikan (frei nach Michelangelo).

Haitzinger, München 1981. © CCC

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Die patriotischen Motive Jaruzelskis für die Verhängungdes Kriegsrechts wurden von vielen Polen bezweifelt ( ).Aus seinen Memoiren erfahren wir, dass die Sowjetunioneinerseits besorgt über die polnische Entwicklung war undGegenmaßnahmen forderte, andererseits aber zu großzü-giger Finanz- und Wirtschaftshilfe bereit war, um die größ-ten Missstände zu beheben. Aus dem vorübergehendenNotstandsregime, das Jaruzelski errichten wollte, wurdeeine fast zehnjährige Stagnations- und Übergangszeit.Mit dem Machtantritt Gorbatschows 1985 änderten sichdie außenpolitischen Handlungsbedingungen zugunstender Opposition in Polen.Eine erneute Streikwelle im Frühsommer 1988 – wie im-mer aus wirtschaftlichen Gründen – brachte die Dingewieder in Bewegung ( ). Es kam zu den Verhandlungenam Runden Tisch, die zu dem ›historischen Kompromiss‹führten, eine Art Koexistenz der alten Machtelite mit denKräften der solidarnosc . Die Verhandlungen am RundenTisch beendeten das Machtmonopol der seitherigen Ar-beiterpartei, die ersten halbfreien Wahlen führten zum Er-folg von Wałęsa und Mazowiecki, der im August 1989 dererste nichtkommunistische Ministerpräsident in einem so-zialistischen Land seit 1945 wurde. Die Wahl Wałęsas zumStaatspräsidenten ein Jahr später machte den Triumphder solidarnosc vollständig ( ) .Dieses »Kunstwerk der Halbheiten« (Krzemi ski) stellt eineAusnahmeerscheinung in der Geschichte dar. Es gibtkaum Beispiele dafür, daß sich Machthaber in freien Ver-handlungen auf eine Machtteilung mit der Opposition eini-gen und den Weg zu einer anderen Staats- und Gesell-schaftsordnung frei machen. Der Runde Tisch leistete»Maßarbeit bei der Systemdemontage« (Krzemi ski), er istals Beispiel für eine friedliche Konfliktlösung zu Rechtweltberühmt geworden.Die solidarnosc -Bewegung verfiel bald nach ihrem Tri-umph in rivalisierende Gruppen. Das Volk hat sie von derRegierung abgewählt und sich der Restauration der Post-kommunisten anvertraut. Den Übergang zu Marktwirt-schaft und Demokratie hat solidarnosc nicht mehr aktivbeeinflussen können.1995 verlor Wałęsa die Präsidentenwahlen knapp im zwei-ten Wahlgang gegen Alexander Kwaśniewski von der de-mokratischen Linksallianz (SLD). Die Parlamentswahlen1997 allerdings brachten einem konservativen Wahlbünd-nis, das unter dem Namen solidarnosc angetreten war, mit33% der Stimmen die relative Mehrheit im Parlament. Diebisher regierende Demokratische Linksallianz (SLD) kamauf 27%, die liberale Freiheitsunion wurde drittstärksteKraft. Der gegenwärtigen Regierung gehört Bronisław Ge-remek, ein führender Kopf der solidarnosc , als Außenmi-nister an.

Wichtige Ereignisse in Polen 1975–19951975: Anfänge der Protestbewegung in Polen, weil nacheinem Verfassungsentwurf die »Freundschaft mit derSowjetunion« festgeschrieben wird1976: Preiserhöhungen, Streiks und Repressalien gegendie Arbeiter; Gründung eines ›Komitees zur Verteidigungder Arbeiter‹ (KOR)Juni 1979: Pilgerfahrt von Papst Johannes Paul II. nachPolenSommer 1980: Massenstreiks von Arbeitern in Danzig und

der Ostseeküste; Bildung von überbetrieblichen Streikko-mitees; Verhandlungen mit Regierungsvertretern30. August 1980: Unabhängige Gewerkschaftsbewegung»solidarnosc« (Führer: Lech Wałęsa) vom Staat anerkannt(Danziger Abkommen)September 1980: Ablösung des kommunistischen Partei-chefs Gierek, Nachfolger (ab 1981): General JaruzelskiDezember 1981: Verhängung des Kriegsrechts in Polen,Verbot der solidarnosc, Internierung tausender solidar-nosc -Mitglieder einschließlich WałęsasJuni 1983: Besuch von Papst Johannes Paul II. in PolenJuli 1983: Aufhebung des KriegsrechtsOktober 1983: Wałęsa erhält den FriedensnobelpreisJuni 1987: Besuch von Papst Johannes Paul II., er fordertRückkehr zum Danziger AbkommenAugust 1988: neue Streikwelle in Polen; Wałęsa vereinbart(zunächst geheime) Verhandlungen mit Regierungsvertre-tern am Runden Tisch zur Lösung der KriseApril 1989: Unterzeichnung eines Abkommens: Wiederzu-lassung der solidarnosc, Verfassungsänderung und neueWahlordnung für die ParlamentswahlenJuni 1989: solidarnosc gewinnt alle frei zu wählenden Sit-ze bei den halbfreien Wahlen; Niederlage der PVAPAugust 1989: erste nichtkommunistische Regierung unterMinisterpräsident Mazowiecki (Koalition aus solidarnosc ,Bauernpartei, Demokraten), Beginn radikaler Wirtschafts-reformenJanuar 1990: die kommunistische Vereinigte Arbeiterpar-tei Polens (PVAP) spaltet sichDezember 1990: Wahl Wałęsas zum Staatspräsidenten;im Jahr 1990 Auflösungsprozess der solidarnoscOktober 1991: Freie Parlamentswahlen in Polen; geringeWahlbeteiligung; Zersplitterung des ParlamentsSeptember 1993: Sturz der letzten Regierung, die Refor-men im Sinne der solidarnosc vertrat;Parlamentswahlen führen zu einer Mehrheit der alten Kräf-te (Reformkommunisten und Bauernpartei)1995: Wałęsa als Staatspräsident abgewählt; Nachfolger:Kwaśniewski

Materialien

Aus dem Abkommen von Danzig (31. August 1980)

1. Die Tätigkeit der (bisherigen) Gewerkschaften in derVolksrepublik Polen (VRP) erfüllt die Hoffnungen undErwartungen der Werktätigen nicht. [...] Das überbe-triebliche Streikkomitee [...] schafft neue, unabhängi-ge und sich selbst verwaltende Gewerkschaften, undstellt fest, dass diese die in der Verfassung der VRPverankerten Prinzipien einhalten werden. Die neuenGewerkschaften werden die sozialen und materiellenInteressen der Arbeiter schützen und beabsichtigennicht, die Rolle einer politischen Partei zu spielen [...].In Anerkennung dessen, dass die PVAP (=PolnischeVereinigte Arbeiterpartei) die führende Rolle im Staatausübt, und ohne das festgelegte internationaleBündnissystem anzutasten, sind sie bestrebt, denWerktätigen entsprechende Kontrollmittel zu sichern,

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deren Meinung auszusprechen und deren In-teressen zu verteidigen [...].

2. Das Streikrecht wird im vorbereiteten Gesetzüber die Gewerkschaften garantiert [...]

3. [...] die Nutzung der Massenmedien durchGlaubensgemeinschaften in ihrem religiösenWirken wird verwirklicht. Die Regierung si-chert eine sonntägliche Gottesdienstübertra-gung im Rundfunk [...]

8. Eingeführt wird eine allmähliche Lohnauf-stockung [...]

13. Die Regierung verpflichtet sich, – den vollenWortlaut der vorliegenden Vereinbarung zuveröffentlichen: [...]Das Überbetriebliche Streikkomitee ver-pflichtet sich, den Streik am 31. August 1980um 17 Uhr zu beenden [...].

Zit. nach: H. Volle u. W. Wagner (Hrsg.), Krise in Polen,Bonn: Verlag für Internationale Politik, 1982, S. 137–145

Aus dem Aktionsprogramm der solidar-nosc vom 17. April 1981:

a) Grundwerte:

»Die besten Traditionen der Nation, die ethischen Prinzipi-en des Christentums, der politische Auftrag der Demokra-tie und die sozialistische Gesellschaftsidee – das sind dievier Hauptquellen unserer Inspiration. Wir fühlen uns demErbe der ganzen polnischen Kultur tief verbunden, die indie europäische Kultur eingebettet ist und starke Verbin-dungen mit dem Katholizismus hat. [...] Unsere Gewerk-schaft knüpft an die Traditionen der Arbeiterbewegung an,die uns in den Idealen der sozialen Gerechtigkeit, der De-mokratie, der Freiheit und der Unabhängigkeit bestärken.Wir werden diese Traditionen bereichern mit dem Anden-ken an die Taten der Arbeiter von Posen im Jahr 1956, andie Blutopfer der Küste im Jahr 1970 und der Arbeitervon Radom und Ursus im Jahr 1976.

Aus: Europa-Archiv 17, 1981, S. D 458 f. Bonn: Verlagfür Internationale Politik

b) weitere Forderungen:

Im wirtschaftlichen Bereich– Ausarbeitung eines Sofortprogramms für den

nächsten Winter und eine gesicherte Lebens-mittelversorgung unter öffentlicher Kontrolle

– eine öffentlich kontrollierte demokratische Re-form auf allen Ebenen der Wirtschaftsverwal-tung, die auf der Basis einer authentischen Ar-beiterselbstverwaltung Plan- und Marktmecha-nismen vereint.

Im politischen BereichErrichtung einer »selbstverwalteten Republik« aufder Grundlage eines »weltanschaulichen, gesell-schaftlichen, politischen und kulturellen Pluralis-mus«– freie Parlamentswahlen und freie Nominierung

der Kandidaten auf allen Ebenen

– Selbstverwaltung im Kultur- und Bildungsbereich, Frei-heit der wissenschaftlichen Forschung

– Rechtsstaatlichkeit– gesellschaftliche Kontrolle der Massenmedien.

Zusammenfassung nach SOWI 12 (1983/3) S. 150

Wege zur Solidarität

Graphik »Ohne Worte« (W. Bielecki), 1980

In: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg(Hrsg.): Polen. Politik und Unterricht, H. 1/1990, S. 18

Erläuterungen zu

1944 – Warschauer Aufstand gegen die deutsche Besat-zungsherrschaft: von Wehrmachtsverbänden blutig nie-dergeschlagen; anschließend systematische Zerstörungder Warschauer Altstadt1956 – Arbeiterproteste in Posen während der Messe ge-gen Normerhöhungen und Preisanstieg; Auftakt für weite-re Protestdemonstrationen (polnischer Oktober). Der Na-tionalkommunist Gomułka kehrt an die Macht zurück;

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In: Andrzei Krauze’s »Poland«. London. Nina Kassov 1981, S. 78Aus: SOWI, 16 (1987), H. 3, S. 167

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Wirtschaftsreformen, Kollektivierung der Landwirtschaftwird rückgängig gemacht; Lockerung der Zensur1968 – Anlässlich der Tausendjahrfeier Polens Studenten-unruhen. Verbindung zum »Prager Frühling«1970 – Streik der Werftarbeiter und der Kumpel in denKohlerevieren. Gierek wird Nachfolger Gomułkas; wirt-schaftliche Anfangserfolge mit westlicher Hilfe, aber diechronische Schwäche der polnischen Wirtschaft bleibt1976 – Erneute Arbeiterunruhen (u. a. in Radom) nachPreiserhöhungen. Nach deren Niederschlagung bildetsich KOR, das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, eineder Wurzeln für solidarnosc

In einer Rundfunk- und Fernsehansprache be-gründete Jaruzelski die Verhängung des Kriegs-zustandes (13. 12. 1981)

Unser Vaterland steht vor dem Abgrund [...] Streiks,Streikbereitschaft und Protestaktionen sind zur Norm ge-worden [...] Die mir in diesem dramatischen Augenblickder polnischen Geschichte zufallende Last der Verantwor-tung ist groß. Es ist meine Pflicht, diese Verantwortung zuübernehmen. Es geht um die Zukunft Polens [...]Wir achten die Vielfalt der Weltanschauungen. Wir wissendie patriotische Haltung der Kirche vollauf zu würdigen. Esgibt ein übergeordnetes Ziel, das alle denkenden, verant-wortungsbewussten Polen vereint: die Vaterlandsliebe,die Notwendigkeit, die so schwer erkämpfte Unabhängig-keit zu festigen, die Achtung vor dem eigenen Staat [...]Bürgerinnen und Bürger! So wie es keine Abkehr vom So-zialismus gibt, gibt es auch keine Rückkehr zu den fehler-haften Methoden und Praktiken vor dem August 1980. Dieheute unternommenen Schritte dienen der Aufrechterhal-tung der grundsätzlichen Voraussetzungen der sozialisti-schen Erneuerung. Alle bedeutsamen Reformen werdenunter den Bedingungen der Ordnung, der sachlichen Dis-kussion und Disziplin fortgesetzt. Das bezieht sich eben-falls auf die Wirtschaftsreform [...] Eines möchte ich errei-chen: Ruhe. Das ist die Grundbedingung, von der einebessere Zukunft anfangen sollte.

Aus: Europa-Archiv 1982, D 125 ff.

Offener Brief an den Staatsratsvorsitzenden undParteichef Jaruzelski sowie an den Vorsitzendender verbotenen Gewerkschaft Solidarität LechWałęsa (1988)

Auf dem Land lastet ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit, derEnttäuschung und der Apathie, über dem Land hängt dievergiftende Wolke des Alkoholismus, dem immer mehrMenschen auf ihrer Flucht vor der Wirklichkeit verfallen.Trotz aller Bemühungen der Machthaber ist es ihnen seitder Ausrufung des Kriegszustandes nicht gelungen, dieaktive Unterstützung der Mehrheit zu erlangen. Die Soli-darität, welche sich in den Jahren 1980/81 großer Sympa-thien erfreuen konnte, hat heute ebenfalls eine begrenzteZahl von aktiven Anhängern. Die ungeheure Mehrheit derGesellschaft wartet mit abnehmender Hoffnung darauf,dass ihr die Machthaber oder die Solidarnosc vor Augenführt, wie die Krise überwunden werden könnte. Aber eskommen keine überzeugenden Antworten [...], der Kampfder Machthaber mit der Solidarnosc zerstört die Autoritätbeider Seiten und hinterlässt ein Vakuum. Es ist an derZeit, einen letzten Versuch zu machen [...] und sich ohneVorbedingungen, aber mit gutem Willen zu treffen. [...] Eshat sich gezeigt, daß der Staat genausowenig in der Lageist, die Gesellschaft zu unterwerfen, wie die Gesellschaftaußerstande ist, ihre Probleme zu lösen, wenn der Staatnicht funktioniert. [...] Herr Vorsitzender des Staatsrats,Herr Vorsitzender der Solidarnosc ! Die Zukunft Polensliegt in unser aller Hände, aber auf Sie blicken Ihre Mitbür-ger, von Ihnen erwarten sie eine Initiative. Sie haben nocheine reelle Chance, das Rad der Geschichte durch ge-meinsame Anstrengungen und mit moralischer Unterstüt-zung der Kirche in letzter Minute anzuhalten und auf eineneue Bahn zu lenken. [...]

Verfasser: Jerzy Holzer, zit. nach Frankfurter Allgemeine Zeitung,16.2.1988

Wałęsa und seine Wähler, Karikatur 1990

Gerhard Mester, München, © CCC

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»Polen gehört nach Europa!« Diese These ist im heutigenPolen unbestritten und dies soll in diesem Kapitel thema-tisiert werden, ohne dabei die Probleme zu verschweigen.Wenn auch etwa 14 Prozent der Polen eine Integration indie Europäische Union mit kritischen Augen betrachten,so waren doch bei einer 1992/93 veröffentlichten Umfragerd. 52 Prozent der Meinung, dass sich Polen innerhalb derEU als eigenständiges Land im Rahmen der nationalenTraditionen entwickeln sollte1, 1996 stieg die Zahl aufknapp 80 Prozent2, und viele Polen, v. a. Intellektuelle undWissenschaftler, sind gar der Überzeugung, für Polen seidie europäische Einbindung lebensnotwendig.Polens Ziel, durch Einbindung in EU, WEU und NATO»wieder« ein Teil Westeuropas zu werden, ist für viele Po-len historisch begründet. So weist Janusz Tazbir in anhand eines historischen Rückblickes nach, dass es inPolen bereits ein europäisches Bewusstsein gab, langebevor dies in westeuropäischen Ländern der Fall war. Erbetont zudem, dass Polen immer schon eine Mittelstel-lung zwischen Orient und Okzident eingenommen habeund sich daher auch als ehemaliges Bollwerk gegen denasiatischen Osten verstehe. Für viele Polen ist aber auchein anderer Gesichtspunkt wichtig: Ihr Land soll nicht län-ger Spielball fremder Mächte sein – im 18. und 19. Jahr-hundert Preußens, Russlands und des Habsburgerstaates(vgl. Kapitel II.3: Kosciuszko), im 20. Jahrhundert Deutsch-lands und Russlands bzw. der Sowjetunion. Die europäi-sche Integration ist für die Polen folglich nicht nur eineFrage der innenpolitischen und wirtschaftlichen Stabilität.

Wenn dieser Weg des postkommunistischen Polens»zurück nach Europa« v. a. aus ökonomischer Sicht eineNotwendigkeit ist, wie belegt, so betont man dochimmer wieder den sicherheits- und friedenspolitischenAspekt der Integration. So habe die Integration Deutsch-lands in den 50er Jahren das endgültige Ende der deut-schen Machtpolitik markiert, und der Beitritt Polens zurEU und zur NATO bedeute eine Stabilisierung Mitteleuro-pas und zugleich eine endgültige Absage an die traditio-nellen »Machtrivalitäten« in diesem Raum ( ). Darüberhinaus weisen die Polen heute nachdrücklich darauf hin,dass sich ihr Land trotz gesunkener Handelsbilanz als eineArt osteuropäischer Musterknabe zeige ( und ,

) und dass sie schon heute die wesentlichen Kriteri-en der Maastrichter Normen erfüllten. Im Dezember 1997erklärte Finanzminister Balcerowicz, Polen sei im Jahr2000 reif für die EU.3 In der Tat: Anders als von vielen ver-mutet worden war, hat weder Tschechien noch Ungarn dieVorreiterrolle im ehemaligen RGW-Raum übernommen,sondern Polen, dessen wirtschaftliche Kraft als geringereingeschätzt worden war.Aber nicht nur für Polen ist eine Integration in die EU vonVorteil, sondern auch für Westeuropa selbst, wenn auchheute v. a. aus den genannten politischen Gründen. Länderwie Polen sind heute Niedriglohnländer ( ). So umfas-sen die Arbeitskosten in Polen im Vergleich zu West-deutschland lediglich rd. 4,9 Prozent (1995). Polen ist da-her trotz steigenden Lohnniveaus als Investitionsstandortinteressant. Auch als Exportziel ist Polen attraktiv, da hier

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1 Mitglieder der EU (Stand 1998)

2 Beitrittsverhandlungenmit 6 Staaten seit No-vember 1998 (seitMärz 1998 Vorver-handlungen): Estland,Polen, Slowenien,Tschechien, Ungarnund Zypern (griechi-scher Teil)

Karte:D. Gohl nach Zahlenbilder

Die Europäische Union und ihre Erweiterung

2. Polen und die EU: Von der Kooperation zur Integration

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angesichts weitgehend stark veralteter Produktionsanla-gen ein hoher Investitionsbedarf besteht. Aber der enormetechnologisch-logistische Rückstand bedeutet für die»Transformation zur Marktwirtschaft« große Anpassungs-probleme, und diese betreffen nicht nur die Industrie, beider die größeren staatseigenen Betriebe das Haupthinder-nis darstellen, sondern besonders die Landwirtschaft Po-lens ( ).Davon wird auch die EU betroffen sein, deren eigeneAgrarprobleme nicht überwunden sind. Andererseits ver-sprach der polnische Finanzminister die Fortsetzung derReformpolitik, besonders der Konsolidierung des Haus-haltes und der Streichung von Subventionen. Letztereszeigt, dass man sich in Polen durchaus bewusst ist, dassdie Mitgliedschaft des Landes in der EU nicht kostenlossein wird und auch Opfer verlangt. Und man weiß auch,dass Deutschland zwar der eifrigste Befürworter einespolnischen EU-Beitritts ist, dass aber die meisten Proble-me deutsch-polnische Probleme sein werden. PolnischeArbeitskräfte werden v. a. auf den deutschen Arbeitsmarktdrängen; europäische Subventionen werden statt in dieneuen Bundesländer nach Polen fließen.In der EU ist heute, 1998, vom Enthusiasmus des Luxem-burger EU-Gipfels 1997 wenig zu spüren. Nikolaus vander Pas, Leiter der EU-Kommission für die Beitrittsver-handlungen, malte ein eher negatives Bild.4 Vor allem Po-len stelle ein erhebliches Problem dar. Die Polen verlang-ten bei den Rechtsvorschriften immer neue Ausnahmenund längere Übergangsfristen; Polen wolle sofortige Frei-zügigkeit, was v. a. Deutschland und Österreich ausFurcht vor billigen polnischen Bau- und Landarbeitern ab-lehnen. »Als einziger der Kandidaten erwies sich Polenauch als unfähig, den Vorgaben für ein Beitritts-Förderpro-gramm aus Brüssel sachgerecht zu entsprechen«, woraufdie EU 67 Mio. an Subventionen gestrichen hat.5 Die an-deren Beitrittskandidaten, Tschechien, Ungarn, Slowenienund Estland, versicherten dagegen, sie würden alle Bei-trittsbedingungen bis zum 1. 1. 2001 erfüllen und sie seiennicht bereit wegen Polen Verzögerungen hinzunehmen.Dennoch soll hervorgehoben werden, was Lord Dahren-dorf so formuliert hat: »Die baldige Aufnahme einiger ost-mitteleuropäischer Staaten, insbesondere Polens, ist nichtErweiterung im Unterschied zu Vertiefung, sondern istselbst Vertiefung der Union. Sie bekräftigt die politischeGrundabsicht der Integration weit mehr als eine partielleWährungsunion. Dabei sollten keine willkürlich geopoliti-schen Grenzen gezogen werden; jedoch ist Polen [...] derTestfall für andere.«6 In den Augen vieler Polen würde eineNichterweiterung der EU diese selbst gefährden, da Euro-pa wieder beginnen werde, »Unterschiede zwischen dengemeinsamen Werten ausfindig zu machen, [...] statt imAusland für das, was gemeinsam und großartig ist, zuwerben. [...] Das wird ein Europa sein, das in die Vergan-genheit statt nach vorn gerichtet ist«7. Politisch bedeutetdie Integration die Sicherung demokratischer Normen,da die ›Agenda 2000‹ den Beitritt daran bindet.8 Für Polenwäre ein Scheitern des Beitritts fatal, denn es wäreäußerst fraglich, angesichts eines dann drohenden Verlus-tes wichtiger Märkte sich später zu qualifizieren.Andererseits stellt die Westorientierung Polens in den Au-gen seiner östlichen Nachbarn, besonders Russlands undder Ukraine, ein Sicherheitsrisiko dar. Für viele Russen ist

Polen noch immer ein »europäischer Hinterhof Russlands«(Alexander Blok), und Sergej Karaganow, einer der Beraterdes russischen Präsidenten Boris Jelzin, erklärte einmalkategorisch: »Wenn ich Pole wäre, würde ich auch in dieNATO wollen. Ich bin aber Russe. [...] Wir werden daher al-les tun, um das zu verhindern«.9 1998 erklärte die russischePolenexpertin Irina Kobrinskaja: »In Moskau beginnt mansich darüber klar zu werden, was der EU-Beitritt Polens fürden russischen Handel und den Grenzverkehr bedeutet.«10

Besonders der Druck aus Brüssel auf Polen, den Grenz-verkehr mit Russland und der Ukraine durch einen Visum-zwang zu erschweren – bis zum Jahr 2002 soll er für Ukrai-ner eingeführt werden –, sorge für Verärgerung in Moskau.Wenn sich auch das offizielle Moskau zurückhält, müssendie Sicherheitsinteressen der Ukraine, die selbst in die EUdrängt, und Russlands berücksichtigt werden, denn Russ-land ist immer noch, zumindest militärisch, eine nicht zuunterschätzende Großmacht; dessen ist man sich im Wes-ten, besonders in den USA, durchaus bewusst. Dennochöffnete der EU-Gipfel in Luxemburg im Dezember 1997den beitrittswilligen Staaten, mit Ausnahme der Türkei, dasTor zu Europa, und im März 1998 begannen erste Beitritts-verhandlungen mit zunächst sechs Ländern, darunter Po-len. Für die NATO ist 1999 die Aufnahme einzelner Ländergeplant; auch hier wird Polen beteiligt sein.Auf andern Ebenen hat sich die Integration Polens bereitsvollzogen. Dafür mögen hier nur einige wenige Beispielegenannt sein. Besonders intensiv sind die kulturellen Kon-takte. Am 4. September 1994 wurde z. B. in Ratibor eineKopie der im Krieg zerstörten Bronzefigur des Dichters Jo-seph von Eichendorff enthüllt; am 6. Juni 1997 fand be-reits das zweite deutsch-polnische Literaturgesprächstatt. Zahlreiche deutsch-polnische Gesellschaften sindentstanden, die u. a. Schul- und Städtepartnerschaftenermöglichen und bestehende fördern, so nahm u. a. 1993das Deutsch-Polnische Jugendwerk seine Arbeit auf. Aufmilitärischer Ebene wurde 1993 auf Initiative Frankreichsein »Stabilitätspakt« geschlossen, und 1994 unterzeichne-te Polen die Urkunde für die »Partnerschaft für den Frie-den«, in deren Gefolge noch im selben Jahr siebzig ge-meinsame Vorhaben realisiert wurden; 1996 waren esschon ca. hundert. Dazu gehören u. a. gemeinsame Verei-digung von Rekruten der Bundeswehr und der polnischenArmee, Manöver deutscher und polnischer Verbände wiedas Manöver »tatra« 1994 unter zusätzlicher BeteiligungDänemarks, sowie die fortgeschrittene Planung einesdeutsch-dänisch-polnischen Flottenverbandes in der Ost-see, des 1998 verabredeten »Hanse-Korps«. Am 5. Sep-tember 1998 unterzeichneten Polen, Deutschland und Dä-nemark die Aufstellung eines gemeinsamen Heereskorps,dessen Kommando in Stettin sitzen soll. Polen beteiligtsich auch an der NATO-Friedensmission in Bosnien.

Anmerkungen1 Vgl. DIALOG Nr. 1–4, Dezember 1994, S. 972 Vgl. DIALOG Nr. 2, Oktober 1996, S. 753 In: STUTTGARTER NACHRICHTEN Nr. 297/24. 12. 1997, S. 44 Vgl. DER SPIEGEL Nr. 27/1998, S. 1285 Ebenda6 Zit. in: DIALOG Nr. 2, Oktober 1996, S. 367 Jesie , Leszek: Ohne uns hat es keinen Sinn. in: ebenda, S. 368 Vgl. zu diesem Komplex das Heft »Die Europäische Integration« in derReihe ›Politische Bildung‹ 30 (1997) H 4

9 Zit. in: DIALOG Nr. 2, Oktober 1996, S. 2710 Zit. in: STUTTGARTER ZEITUNG Nr. 184/12. 8. 1998, S. 4

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Polen, eine Nation in der Mitte

Spätestens seit der Mitte des XVII. Jahrhunderts bildeteder polnisch-litauische Staat [...] eine Macht, die über dasSchicksal Ostmitteleuropas mitentschied. Das Bewusst-sein, einer Gemeinschaft anzugehören, die sich kulturellauf das Erbe der antiken Zivilisation stützte, konfessionelldagegen auf das Christentum, besaß natürlich nur einerecht dünne intellektuelle Elite. Dennoch tauchte das Ad-jektiv ›europäisch‹ in den Titeln in Polen herausgegebenerBücher viel früher auf als bei italienischen, französischenoder englischen Werken. Als erster verwendete es wohlMaciej Miechowita, der Autor der 1517 herausgegebenenBeschreibung des asiatischen und europäischen Sarmati-ens. Dieses [...] Buch wurde für lange Zeit zur Hauptquelledes Wissens über den östlichen Teil unseres Kontinents.[...] Die enge Nachbarschaft zu Asien stimulierte die Ent-wicklung eines europäischen Bewusstseins, das sich aufdie stolze Überzeugung stützte, dass die Polen im zivili-siertesten Teil der Welt leben. Wenn sie die asiatische Bar-barei und vor allem den Despotismus brandmarkten, ho-ben unsere Chronisten [...] schon im XVI. Jahrhundert mitStolz hervor, dass die Bewohner Europas sich von ge-schriebenen Gesetzen leiten lassen, die ihre Herrscher be-achten müssen [...].Ebenso häufig, insbesondere im XVII. Jahrhundert, wirdPolen dort als ein Bollwerk des Christentums bezeichnet,also eine Bastion, die erfolgreich die gesamte europäischeGemeinschaft vor einer Invasion des Islam schützt. Ähn-lich nannte man die Adelsrepublik in Italien, Frankreich,den Niederlanden oder dem Reich [...]. Mit um so größererVerwunderung betrachteten die Einwohner von Paris oderRom den feierlichen Einzug polnischer Gesandtschaften.Ihre prunkvolle Tracht erinnerte sie an orientalische (unddamit barbarische) Pracht. [...]

Aus: Janusz Tazbir: Polen zwischen Orient und Okzident, in: DIA-LOG Nr. 2/1993, S. 46 f.

Erklärung Janusz Reiters, bis 1995 polnischerBotschafter in Deutschland

Es gibt selten Situationen, in denen Entscheidungen vonwirklich historischer Tragweite getroffen werden, solche,die das Leben eines Landes für viele Jahre prägen.Deutschland und seine westlichen Nachbarn waren vor 40Jahren in einer solchen Situation. Sie haben sich für die In-tegration entschieden.Ich erinnere an jene Zeit, weil ich glaube, dass man sich andie Motive der Gründer der europäischen Integration erin-nern muss, wenn man verstehen will, warum Polen mit ei-ner solchen Entschlossenheit die Teilnahme an dem eu-ropäischen Projekt anstrebt. Das hat, so wie im Deutsch-land der 50er Jahre, mit der generellen politischen Situati-on zu tun. So wie die Bundesrepublik durch die europäi-sche Integration aus ihrer verhängnisvollen Mittellage her-ausgetreten ist, steht auch Polen vor der Chance, denpolitischen Sinn seiner geographischen Lage neu zu defi-nieren: nicht mehr zwischen Deutschland und Russland,sondern eingebunden in eine Gemeinschaft mit Deutsch-

land und gleichzeitig offen für die östlichen Nachbarlän-der.Es geht dabei um Polens Sicherheit, aber es geht auch umdie Stabilität von Mitteleuropa und die Zukunft des eu-ropäischen Projekts. Diese Region war traditionell einSchauplatz von Machtrivalitäten. Deutschlands Entschei-dung für eine europäische Integration war eine Absage andie Tradition. Die Aufnahme Polens in die EuropäischeUnion wäre eine logische Weiterführung dieser Politik. Ti-mothy Gordon Ash hat recht, wenn er den EU-Europäernzuruft: »Zentraleuropa ist die zentrale europäische Frage.«

Aus: Torge Hamkens/Christina Röttgers (Hrsg.): Reform der EU –Mit oder ohne Mittel- und Osteuropa?, Köln 1995, S. 8–12

Wie Polen seine Geschichte verlässt

»Jede zweite Familie besitzt ein Auto, jede zehnte einenZweitwagen. 1989 ging Polens Wirtschaft als die schwäch-ste Mitteleuropas in die Wende. Jetzt liegt sie auf der Ziel-geraden zum Jahr 2000 klar vorne. ›Europameister imWachstum‹ ist das Land schon seit Jahren, 1995 mit sie-ben Prozent. Anders als Deutschland hält sich Polen mit ei-nem Haushaltsdefizit von 2,7 Prozent bereits im drittenJahr an die Maastrichter Norm. Und auch mit einer öffent-lichen Verschuldung von 53 Prozent erfüllt Warschau dieMaastrichter Kriterien besser als Bonn. Die [...] Inflationsra-te ist in wenigen Jahren unter 20 Prozent abgesenkt, diebedrückende Arbeitslosigkeit wenigstens auf 13,5 Prozentverringert worden [...]. Für die wirtschaftliche Dynamiksorgt [...] nicht die Solidarnosc, sondern schon der Privat-sektor, der inzwischen rund sechzig Prozent des Bruttoin-landsprodukt einbringt. Das Schiff flottgemacht hatte An-fang der neunziger Jahre Leszek Balcerowicz, der erstenicht kommunistische Finanzminister, mit seiner Schock-therapie. Dass Polen dann aber nicht in den offenen That-cherismus trieb – wie die Tschechische Republik, wo dieDeregulierung inzwischen Börse, Banken und Finanzen inden Krisenstrudel zieht –, dafür sorgten die Wähler 1993mit einer Rückwende von den Liberalen zur Linken. [...] Derschwunglose Westen schwärmt noch ohne viel Federle-sens vom ›polnischen Adler im Steigflug‹, der ›zu Recht mitden Tigern Südostasiens verglichen‹ werde (DeutscheBank Research). Da wird das Wunder an der Weichseldenn doch ein wenig zu sehr ›globalisiert‹. Die Sozialaus-gaben verschlingen 24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts,das pro Kopf erst halb so hoch ist wie das Portugals. Nichteinmal 4 Prozent gehen in die Bildung.So steht Polen ante portas: mit noch nahezu ungebroche-ner Wachstumsrate und Europa-Begeisterung, mit fast zu-sammengebrochener Sozialversicherung, mit einer durchden Protektionismus der EU noch weiter verarmten Land-wirtschaft und mit einer aus Furcht vor dem Import west-europäischer Unsitten gespaltenen Kirche. [...] nach derJahrtausendwende wird jeder dritte neue Jobsucher inEuropa aus dem polnischen Nachbarland kommen. [...]Die Zahl der Euroskeptiker wird zunehmen, je mehr sichPolen dem offenen Wettbewerb aussetzen muss, je ein-schneidender viele der 2,5 Millionen Privatunternehmendie jetzt ins Land ziehenden westlichen Supermarktkettenzu spüren bekommen. ›Die freie Marktwirtschaft ist unse-re einzige Chance‹, sagt einer der reichsten Männer Po-

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lens, der Multiunternehmer, gebildete Mäzen und Vorsit-zende der deutsch-polnischen Handelskammer, JanKulczyk. ›Doch wir dürfen unsere engagierten Leute nichtin einen hoffnungslosen Wettbewerb stürzen. Steuerbe-freiungen für westliche Firmen, zehn Jahre zum Beispielfür General Motors, sind Gift für Polen. Wir wollen ja nachdrüben – aber irgendwie müssen wir auch schwimmen ler-nen. Unsere Bindung an Europa wird unterm Strich dieBindung an Deutschland sein. [...]

Christian Schmidt-Häuer: in: DIE ZEIT Nr. 49/29. 11. 1996, S. 3

Die EU und die Länder in Osteuropa

Mitteleuropa ist für die EU aus wirtschaftlicher Sicht drei-fach relevant: Wegen der Notwendigkeit zur Modernisie-rung des Kapitalbestands sowie der wachsenden Nach-frage nach westlichen Konsumgütern ist die Region einwachsender Absatzmarkt für EU-Produzenten. Infolge derniedrigen Löhne ist Mitteleuropa eine für Standortverlage-rungen von EU-Unternehmen langfristige attraktive Regi-on, zumal bei Verbesserung der Ost-West-Infrastruktur-verbindungen [...]. Schließlich ist die Region als Import-quelle von Vor- und Endprodukten zunehmend attraktiv,da sich bei gegenüber der EU deutlich geringeren Preisendie Produktqualität und -diversifikation im Zuge von Priva-tisierung, Wettbewerbsverschärfung und Kapitalmoderni-sierung verbessert. Unter scharfem Konkurrenzdruck desEU-Binnenmarktes stehende Unternehmen können durchden Einkauf preiswerter Vorprodukte in Mittelosteuropaihre Preiswettbewerbsfähigkeit verbessern. Für die EU be-steht erstmals die Möglichkeit – ähnlich wie für Japan unddie USA seit Jahrzehnten –, hochwertige Vorprodukte auseiner benachbarten Niedriglohnregion zu importieren. [...]Mittelosteuropa ist langfristig als Investitionsstandort in-teressant, da [es] bei guter Humankapitalausstattung überden Vorteil sehr niedriger Lohnkosten und z. T. niedrigerSteuersätze verfügt. [...] Die Aufhebung der derzeitigenökonomischen Trennlinien [...] wird in West- und Osteuro-pa insgesamt zu massivenAnpassungsproblemenführen, so dass man ange-sichts begrenzter ökonomi-scher und politischer Anpas-sungsfähigkeit eine künstlichverlangsamte, aber gleich-wohl progressive Liberalisie-rung erwägen könnte. [...] DieTransformation zur Marktwirt-schaft in Mittelosteuropaschafft enorme Anpassungs-probleme, bietet aber auchneue Exportchancen. In denTransformationsländern gibtes erhebliches Expansions-potential für eine Reihe vonDienstleistungen und Gütern,die in der Zentralverwaltungs-wirtschaft von den staatlichenPlanern systematisch ver-nachlässigt und bei denenchronische Versorgungsmän-

gel bekannt wurden; dies gilt etwa für den privaten Woh-nungsbau bzw. für die Bauwirtschaft insgesamt, für denGesundheitssektor, den Tourismus sowie für Banken undVersicherungen. [Daraus] ergibt sich ein erheblichesWachstumspotential für private, soziale und industrielleDienstleistungen. Industrielle Dienstleistungen dominierenin Westeuropa [...]. Die Privatisierung der Industrie in denReformländern dürfte hier Expansionsimpulse für speziali-sierte Dienstleistungsanbieter erbringen. Die Expansionrelativ arbeitsintensiver Dienstleistungen dürfte den Ost-West-Immigrationsdruck Europa vermindern, während inWesteuropa zugleich von Hardware-Importen und demEntstehen neuer Joint-Venture-Partner profitieren könnte.

Paul J. J. Welfens: Die Europäische Union und die mittelosteu-ropäischen Länder: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Op-tionen. In: Aus Politik und Zeitgeschehen B 39/95 (22.9.1995), S.28 f.

Auf Polen wartet noch viel Arbeit

POLEN, mit 313 000 Quadratkilometern der größte Kandi-dat, habe »seine Hausaufgaben weitgehend gemacht«,versichern EU-Politiker immer wieder. Die 38,6 MillionenEinwohner könnten auf ihre gefestigte Demokratie und dasrelativ konstante Wirtschaftswachstum von 5 Prozent inden letzten Jahren stolz sein. Doch die Lösung der schwie-rigsten Probleme stehe noch an. Die Strukturen in derLandwirtschaft müssten neu geordnet, der Energiesektor,einige Staatsbanken und die Telekommunikation müsstenprivatisiert und das polnische Recht an das EU-Recht an-gepasst werden. Die gut [3,5] Millionen polnischen Bauern,fast ein Viertel aller Erwerbstätigen, erwirtschaften nur 6Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Schon jetzt beträgt dieArbeitslosenquote 13 Prozent. Das polnische Bruttoin-landsprodukt je Einwohner (BIP) liegt nach Angaben derEU-Kommission bei 31 Prozent des EU-Durchschnitts.

Aus: STUTTGARTER ZEITUNG vom 17. 7. 1997

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1. Jan III. Sobieski (1629 –1696) und die Befreiung Wiens

Als in den polnischen Medien über die Frage diskutiertwurde, ob Polen Mitglied der NATO werden solle, las manhäufig, dass mit der Befreiung Wiens von den Türken 1683durch König Jan Sobieski und seine Truppen eine wichti-ge Vorleistung Polens für den NATO-Beitritt geleistet wor-den sei. Dies war keineswegs als Scherz zu verstehen,sondern ist vielmehr Beleg für die nach polnischemSelbstverständnis traditionelle Einbindung des Landesin Europa (siehe Vorwort). Polen habe immer für Europagekämpft, so kann man heute wie vor 10 Jahren hören.Wie lebendig dieses Bild von Polen als »Vormauer Euro-pas« auch früher war, kann man an der Tatsache erken-nen, dass 1798 der polnische General Dąbrowski aus Ita-lien den Säbel Jan Sobieskis, den er im Kampf vor Wiengetragen und dann der Wallfahrtskirche in Loretto gestiftethatte, an Tadeusz Kosciuszko schickte, der damals gera-de in Frankreich die polnische Legion aufbaute (siehe Ka-pitel II. 3.).Im Geschichtsbewusstsein der Deutschen ist allerdingsder Sieg in der Schlacht am Kahlenberg am 12. Septem-ber 1683, der ohne die Hilfe des polnischen Königs un-denkbar gewesen wäre, längst nicht so verankert wie diespäteren Siege des »Türkenlouis« oder des Prinzen Eu-gen.Im folgenden Artikel stellt Professor Dr. Tadeusz Kotłows-ki von der Universität Poznan (Posen) die Bedeutung derLeistung Jan III. Sobieskis aus polnischer Sicht dar.In der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts erlebte der türkischeStaat eine Periode der Erneuerung der Militärmacht, undSultan Mehmet IV. betrieb eine Expansionspolitik, die sichgegen die der Türkei benachbarten europäischen Staatenrichtete. Zu dieser Zeit wurde in Polen Michael KorybuthWiśniowiecki zum König gewählt (1669). Durch Heirat mitEleonore von Österreich 1670 näherte sich Polen denHabsburgern an, was die Gefahr eines Türkeneinfalls auch

in Polen verstärkte. 1672 eroberte eine große türkische Ar-mee, die auf wenig Widerstand stieß, die mächtige polni-sche Grenzfestung Kamieniec Podolski und besetzte wei-te Gebiete im Südosten Polens. Durch den für Polenungünstigen Vertrag von Buczacz erhielt das OsmanischeReich Wojwodschaften in der Ukraine und Polen wurde zuTributzahlungen verpflichtet.Der polnische Sejm bezeichnete den Vertrag als »schänd-lich« und ratifizierte ihn nicht. Darüber hinaus bestimmteder Sejm eine außerordentliche Steuer, was die Einberu-fung von 50 000 Soldaten ermöglichte. Unter dem Ober-befehl von Jan Sobieski gelang es den Polen, 1673 beiChocim das türkische Herr zu besiegen. Durch diesenSieg, einen der größten polnischen Siege in jenem Jahr-hundert, wurde die Türkengefahr für den polnischen Staatdauerhaft beseitigt.

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Ausgewählte Daten zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Polens, 1989–1996

1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996

BIP (Veränderung zum Vorjahr) 0,2 -11,6 -7,0 2,6 3,8 5,2 7,0 6,0

Arbeitslosenrate (in %) - 6,5 12,2 14,3 16,4 16,0 14,9 13,6

Verbraucherpreiszunahme (in %) 251,1 585,8 70,3 43,0 35,3 32,2 27,8 19,9

Reallöhne (Veränderung zum Vorjahr in %) 9,0 -24,4 -0,3 -2,7 -2,9 0,5 3,0 5,4

Ausländische Direktinvestitionen (in Mrd US$)1 0,01 0,1 0,2 1,1 1,6 1,3 2,5 5,2

Industrieproduktion (Veränderung zum Vorjahr in %)2 -2,1 -22,0 -17,1 2,6 6,1 12,1 9,7 8,5

Anteil privater Sektor am BIP (in %) 28,4 30,9 42,1 50,5 52,1 55,0

1 Investitionen mit jeweils über 1 Mio US$, 2 incl. Bauindustrie und BergbauQuellen: G‡ówny Urząd Statystyczne (unterschiedl. Jahrgänge) Panstwowa Agencja Inwestycji Zagranicznych S.A. (unterschiedl. Jahrgänge)

Aus: Geographische Rundschau 50 (1998) H.1., S.6, Tab. 1., © Westermann Verlag Braunschweig

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II. Polen und Europa – Beispiele aus der Geschichte

Porträt von Jan III. Sobieski,1676, Öl auf Leinwand,104,4 x 84,5 cm

MuzeumNarodowe wWarszawie/Nationalmuseumin Warschau

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1. Jan III. Sobieski (1629 –1696) und die Befreiung Wiens

Als in den polnischen Medien über die Frage diskutiertwurde, ob Polen Mitglied der NATO werden solle, las manhäufig, dass mit der Befreiung Wiens von den Türken 1683durch König Jan Sobieski und seine Truppen eine wichti-ge Vorleistung Polens für den NATO-Beitritt geleistet wor-den sei. Dies war keineswegs als Scherz zu verstehen,sondern ist vielmehr Beleg für die nach polnischemSelbstverständnis traditionelle Einbindung des Landesin Europa (siehe Vorwort). Polen habe immer für Europagekämpft, so kann man heute wie vor 10 Jahren hören.Wie lebendig dieses Bild von Polen als »Vormauer Euro-pas« auch früher war, kann man an der Tatsache erken-nen, dass 1798 der polnische General Dąbrowski aus Ita-lien den Säbel Jan Sobieskis, den er im Kampf vor Wiengetragen und dann der Wallfahrtskirche in Loretto gestiftethatte, an Tadeusz Kosciuszko schickte, der damals gera-de in Frankreich die polnische Legion aufbaute (siehe Ka-pitel II. 3.).Im Geschichtsbewusstsein der Deutschen ist allerdingsder Sieg in der Schlacht am Kahlenberg am 12. Septem-ber 1683, der ohne die Hilfe des polnischen Königs un-denkbar gewesen wäre, längst nicht so verankert wie diespäteren Siege des »Türkenlouis« oder des Prinzen Eu-gen.Im folgenden Artikel stellt Professor Dr. Tadeusz Kotłows-ki von der Universität Poznan (Posen) die Bedeutung derLeistung Jan III. Sobieskis aus polnischer Sicht dar.In der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts erlebte der türkischeStaat eine Periode der Erneuerung der Militärmacht, undSultan Mehmet IV. betrieb eine Expansionspolitik, die sichgegen die der Türkei benachbarten europäischen Staatenrichtete. Zu dieser Zeit wurde in Polen Michael KorybuthWiśniowiecki zum König gewählt (1669). Durch Heirat mitEleonore von Österreich 1670 näherte sich Polen denHabsburgern an, was die Gefahr eines Türkeneinfalls auch

in Polen verstärkte. 1672 eroberte eine große türkische Ar-mee, die auf wenig Widerstand stieß, die mächtige polni-sche Grenzfestung Kamieniec Podolski und besetzte wei-te Gebiete im Südosten Polens. Durch den für Polenungünstigen Vertrag von Buczacz erhielt das OsmanischeReich Wojwodschaften in der Ukraine und Polen wurde zuTributzahlungen verpflichtet.Der polnische Sejm bezeichnete den Vertrag als »schänd-lich« und ratifizierte ihn nicht. Darüber hinaus bestimmteder Sejm eine außerordentliche Steuer, was die Einberu-fung von 50 000 Soldaten ermöglichte. Unter dem Ober-befehl von Jan Sobieski gelang es den Polen, 1673 beiChocim das türkische Herr zu besiegen. Durch diesenSieg, einen der größten polnischen Siege in jenem Jahr-hundert, wurde die Türkengefahr für den polnischen Staatdauerhaft beseitigt.

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Ausgewählte Daten zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Polens, 1989–1996

1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996

BIP (Veränderung zum Vorjahr) 0,2 -11,6 -7,0 2,6 3,8 5,2 7,0 6,0

Arbeitslosenrate (in %) - 6,5 12,2 14,3 16,4 16,0 14,9 13,6

Verbraucherpreiszunahme (in %) 251,1 585,8 70,3 43,0 35,3 32,2 27,8 19,9

Reallöhne (Veränderung zum Vorjahr in %) 9,0 -24,4 -0,3 -2,7 -2,9 0,5 3,0 5,4

Ausländische Direktinvestitionen (in Mrd US$)1 0,01 0,1 0,2 1,1 1,6 1,3 2,5 5,2

Industrieproduktion (Veränderung zum Vorjahr in %)2 -2,1 -22,0 -17,1 2,6 6,1 12,1 9,7 8,5

Anteil privater Sektor am BIP (in %) 28,4 30,9 42,1 50,5 52,1 55,0

1 Investitionen mit jeweils über 1 Mio US$, 2 incl. Bauindustrie und BergbauQuellen: G‡ówny Urząd Statystyczne (unterschiedl. Jahrgänge) Panstwowa Agencja Inwestycji Zagranicznych S.A. (unterschiedl. Jahrgänge)

Aus: Geographische Rundschau 50 (1998) H.1., S.6, Tab. 1., © Westermann Verlag Braunschweig

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II. Polen und Europa – Beispiele aus der Geschichte

Porträt von Jan III. Sobieski,1676, Öl auf Leinwand,104,4 x 84,5 cm

MuzeumNarodowe wWarszawie/Nationalmuseumin Warschau

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Jan Sobieski, der Sieger von Chocim und Wien, wurde am17. August 1629 in Olesko als Sohn eines Wojwoden ge-boren. (Ein Wojwode war urspr. ein Heer- oder Stammes-führer. Im Kgr. Polen bezeichnete man so den oberstenBeamten einer Provinz). Er studierte in Kraków (Krakau),besuchte das Deutsche Reich, Frankreich und die Nieder-lande. An der Spitze seines Heeres nahm er an den Kämp-fen gegen Tataren, Kosaken, Schweden, Russen und Tür-ken teil. 1665 wurde er zum Kronmarschall ernannt, undnach dem Sieg über die Tartaren bei Kreize 1668 zumGroßen Kronhetmann (Hetmann = Kommandeur einerTruppeneinheit, Oberbefehlshaber) bestellt. Der Sieg beiChocim machte ihm 1674, nach dem Tod von Wiśno-wiecki, den Weg zur polnischen Krone frei. Den Krieg ge-gen die Türken setzte er noch bis 1676 erfolgreich fort.Nach dem Friedensvertrag von Zórawno wandte sich derKönig der Umsetzung anderer politischer Pläne zu. Durchden Geheimvertrag von Jaworów 1675 mit Frankreich unddem Vertrag von Danzig 1677 mit Schweden versuchte er,das Herzogtum Preußen zurückzugewinnen und PolensPosition an der Ostsee auszubauen. Doch da wandtensich die mit dem Verlust der ukrainischen Gebiete unzu-friedenen Magnaten gegen den König, zugleich wuchsauch die Türkengefahr wieder. All dies verursachte eineWende in der Politik Jan III. Sobieskis, und es wurden wie-der Vorbereitungen für einen Krieg gegen die Türken ge-troffen. Die polnische Diplomatie verstärkte daher ihreBemühungen um eine antitürkische Koalition, was sichaber als äußerst schwierig erwies. Erst die unmittelbareBedrohung Wiens, verbunden mit dem türkischen Feldzuggegen den habsburgerischen Teil Ungarns, führten imMärz 1683 zu einem polnisch-habsburgerischen Militär-

bündnis, und der polnische Sejm erhob eine außerordent-liche Steuer für die Aushebung von Soldaten.Im Juni 1683 belagerte der türkische Wesir Kara MustafaWien. Verzweifelt bat Kaiser Leopold I. Jan Sobieski umHilfe. Dem polnischen König war klar, dass jedes Zögernden Verlust der Stadt und den Sieg der Türken bedeutenmusste. Aus diesem Grund kam er mit einer 25 000 Mannstarken polnischen Armee durch Schlesien und Mährendem belagerten Wien zu Hilfe. Am 11. September 1683 er-reichten die vereinigten Armeen des Reiches und Polensmit etwa 70 000 Mann unter Führung Jan Sobieskis Wien.Auf der linken Flanke stand die Armee des Fürsten Karl V.von Lothringen und das Korps von Hieronim Lubomirski,im Zentrum befand sich die bayerisch-fränkische Armeeund auf der linken Flanke die polnische mit den Heerfüh-rern Jablonowski und Sieniawski. Die Schlacht begannam 12. September 1683 gegen 11 Uhr mit dem Kampf derArtillerie und der Infanterie. Gegen Mittag griffen die polni-sche und die deutsche Kavallerie in die Kämpfe ein. DenSieg entschied aber letzten Endes der Angriff der schwe-ren polnischen Reiterei, der Husaren, auf das türkischeLager. Zusammen mit der leichten Kavallerie waren andiesem Angriff, einer der größten Reiterattacken in derKriegsgeschichte der Neuzeit, etwa 20 000 Reiter betei-ligt. Die Reiter durchbrachen den türkischen Verteidi-gungsring, worauf die türkische Armee sich zur Flucht ent-schloss. Die türkische Offensive wurde nach dieser Nie-derlage abgebrochen.Wiens Entsatz war jedoch erst der Anfang eines langjähri-gen Krieges, in den auch noch Venedig und der Kir-chenstaat eingriffen. 1684 gründeten sie mit Polen unddem Reich den »Heiligen Bund«. Es begann eine große in-

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Schlacht bei Wien Gemälde von Stanisław Chlebowski (um 1883)Muzeum Narodowe, Kraków/Nationalmuseum Krakau

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ternationale Aktion zur Befreiung der europäischen Gebie-te von der türkischen Besatzung, an der sich zeitweiseauch Russland beteiligte. Erst der schon nach dem Toddes polnischen Königs Jan III. Sobieskis geschlosseneFriedensvertrag von Karlowitz (1699) beendete den Kriegmit dem osmanischen Reich. Polen erhielt alle seine verlo-renen Gebiete zurück, und die große Auseinandersetzungzwischen der islamischen und der christlichen Welt in die-ser Region fand ihr Ende.

2. Die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791 – erste moderne Verfassung Europas

Die Verfassung ist ein halbes Jahr älter als die erste fran-zösische Verfassung1. Mithin ist sie die älteste schriftlichniedergelegte moderne Verfassung unseres Kontinents.Sie war ein für die damalige Zeit tiefgreifender Versuch zurDurchsetzung sozialer und politischer Reformen, die denpolnischen Staat, der schon die erste Teilung hatte hin-nehmen müssen, vor seinem endgültigen Untergang be-wahren sollte. Die progressiven politischen Kräfte desLandes, Mitglieder des Kleinadels (der Szlachta) und desBürgertums, versuchten zusammen mit dem König eineModernisierung des Landes gegen die hochadeligenMagnaten, die an der Wahlmonarchie und an dem liberumveto im Sejm festhalten wollten. Eine Gegenstimme imAdelsparlament, im Sejm, konnte ein beschlossenes Ge-setz zu Fall bringen, und die Wahl des jeweils neuen Kö-nigs durch den Adel sicherte den Magnaten ihre Macht imStaat. Diese chaotischen Verhältnisse wurden von Russ-land garantiert und gefördert, hatte es doch so an seinerWestgrenze keine Gefährdungen zu befürchten.In der ersten polnischen Teilung 1772 hatte Polen knapp28% seiner Fläche und rund 39% seiner Einwohnerschaftverloren (s. Karte Kap.3 ). Allerdings blieb der Adels-republik immer noch ein Territorium von der Größe Frank-reichs. Motiviert durch den Schock der Teilung und diedrohende Fremdbestimmung des Landes leitete der neueSejm ab 1775 umfassende Reformen ein. 1775 wurde dasToleranztraktat zu einem Gesetz von Verfassungsrang er-hoben, und es herrschte Religionsfreiheit in Polen. Zwarwar Polen außenpolitisch stark vom Wohlwollen Rus-slands abhängig, doch Katharina II. ließ als Entgelt für dieVerluste der ersten Teilung dem starken Reformwillen derPolen weitgehend freien Lauf. In dieser Zeit griffen auchimmer mehr die Ideen der Aufklärung auf Polen über. DieSchriften der englischen, der amerikanischen und derfranzösischen Aufklärer fanden viele Leser. Rousseau warvon der Reformbegeisterung Polens so angetan, dass erzeitweilig überlegte, selbst nach Polen zu übersiedeln.Als in Polen 1773 der Jesuitenorden verboten wurde, wur-de das reiche Vermögen dieses Ordens zur Finanzierungeiner in Europa beispielhaften Erziehungsreform verwen-det. Die erste weltliche Erziehungsbehörde Europaswurde damals ins Leben gerufen. Die Universitäten in Kra-kau und Wilna wurden reformiert und es wurden naturwis-senschaftliche Fakultäten eingerichtet. An den Gymnasienwurde erstmals in Europa weltliche Ethik und politische

Wissenschaften gelehrt. Etwa 20 000 junge Polen besuch-ten pro Jahr die Gymnasien.Als Russland im Krieg gegen Schweden und gegen dieTürken gebunden war, trat im Oktober 1788 der »GroßeReichstag« (Sejm Wielki) zusammen. Er beseitigte den Im-merwährenden Rat im Januar 1789 – also ein revolutionä-rer Akt – und verlängerte seine eigenen Vollmachten unbe-grenzt. Der neue preußische Gesandte ermunterte die Re-volutionäre sogar zu noch kühnerem Vorgehen und berei-tete ein preußisch-polnisches Bündnis im März 1790 vor,das Polen volle preußische Hilfe im Falle eines russischenAngriffs sicherte. Das Bündnis war aber für Preußen schonwenige Monate später unwichtig, weil es sich mit Öster-reich in allen territorialen Fragen geeinigt hatte. Aufgrundder scheinbaren preußischen Rückendeckung fühlten sichdie polnischen Reformer stark genug, ihre Politik weiter zubetreiben. Den Entwurf für die Verfassung setzten die Re-former für den 3. Mai 1791 auf die Tagesordnung desSejm. Das war einen Tag nach Ende der Osterpause, alsviele Abgeordnete noch nicht nach Warschau zurückge-kehrt waren. Der König Stanisław August Poniatowski(1764–1795) und die Führer der Reformpartei hatten dieAbgeordneten, von denen bekannt war, daß sie die Refor-men unterstützten, rechtzeitig nach Warschau gerufen.Sie wollten die Gegner überraschen und es ihnen unmög-lich machen, die Annahme des Verfassungsentwurfes zuverhindern. Daher wurde die königliche Garde in der Nähedes Sitzungssaales im Königsschloss stationiert. Auf demSchlossplatz drängten sich Tausende Warschauer, die diegeplanten Veränderungen begrüßten. Auch im Sitzungs-saal stand die Volksmenge dicht gedrängt um die Abge-ordneten herum. Im Sejm erhielt die neue Verfassung einegroße Mehrheit, aber die wenigen Gegner, die doch in derSitzung dabei waren, widersetzten sich lautstark durch ihr»nie pozwalam«, ihr liberum Veto, der Annahme des Ge-setzes. Sie beriefen sich darauf, dass die Geschäftsord-nung des Parlaments verletzt sei. Das war zweifelsohnerichtig, aber der Sejm-Marschall (d. i. Parlamentspräsi-dent) stellte nur trocken fest, dass sich gerade eine Revo-lution vollziehe und derartige Formalitäten nun außer Achtbleiben müssten. Nach sechs Stunden heftiger Diskussionlegte der König einen Eid auf die Verfassung ab, danachbegaben sich alle in eine nahegelegene Kirche und feier-ten mit einem Dankgottesdienst die geglückte Überra-schung. Polen hatte eine moderne Verfassung. ( )Der allegorische Stich von Daniel Chodowiecki (1726–1801) stellt König Stanisław August Poniatowski dar, derim Stil einer Schutzmantelmadonna mit seinem weitenKönigsmantel alle Stände, die sich bittend zu ihm wenden,umgibt ( ). Links und rechts neben dem König dieWappen Litauens (Reiter) und Polens (Adler) als Symbolfür die seit 1386 existierende Personalunion zwischen Po-len und Litauen. Zu Füßen der Gruppe liegt ein zerbroche-nes Joch, das wohl die Befreiung Polens von äußererFremdbestimmung symbolisieren soll – oder ist es schonein Hinweis auf die geplante Bauernbefreiung, die in derVerfassung noch nicht völlig durchgesetzt werden konn-te?Der Auszug aus der Verfassung ( ) kann unter folgen-den Fragen erschlossen werden: Wer hat die Souveränitätim Staat? Wie ist die Macht verteilt? Welche Staatsformnimmt Polen an? Wie werden wohl die Nachbarstaaten,

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besonders Russland und Preußen, auf die Verfassung rea-gieren?Wichtig ist, dass der Thron im Haus der Wettiner erblichwurde (keine Wahl mehr), für den Reichstag Mehrheitsbe-schlüsse eingeführt und das »nie pozwalam« (das liberumveto) aufgehoben wurden.Die dominierende Stellung der hochadeligen Magnatenwurde beseitigt. Herrschender Stand aber blieb der (Klein-)Adel, er traf die politischen Entscheidungen. Diesist insofern erklärlich, als Polen ja die Entwicklung zu ei-nem absolutistischen Staat nicht mitgemacht hat. DerAdel behielt seine aus dem Mittelalter stammenden stän-dischen Rechte. Die Bürger der Städte durften zwar mit-stimmen, aber nur in den die Städte betreffenden Angele-genheiten. Die katholische Religion wurde zur herrschen-den erklärt, von der abzufallen verboten war, aber andereKonfessionen erhielten Toleranz zugesagt. Der religiöseStatus quo wurde also erhalten.Die Rolle der Bauern wurde insofern verbessert, als in Artikel IV die Neuerung eingeführt wurde, dass sich derStaat in die Angelegenheiten der Bauern einmischen dür-fe. Sie waren nicht mehr nur Privatbesitz des Grundherrn.Es heißt hier: »das Bauernvolk (wird) unter den Rechts-und Regierungsschutz des Landes gestellt.« Auch wurdeden nach Polen gekommenen Siedlern das Recht der per-sönlichen Freiheit garantiert.

Die Verfassung erhielt noch keine Erklärung der Men-schen- und Bürgerrechte, aber die Gewaltenteilung funk-tionierte (Art. V-VIII). Der König wurde per Eid auf die Erfül-lung der Verfassung und der noch aus früheren Jahrhun-derten stammenden pacta conventa – besondere Ver-pflichtungen des Königs gegenüber dem Adel – festge-legt. Neben durchaus aufklärerischen Zügen, beeinflusstvon der Entwicklung in den USA und der angelaufenenRevolution in Frankreich, enthielt die Verfassung also be-sondere polnische Eigenheiten, die es schwierig machten,sie als direkt kopierbares Beispiel für die Nachbarn aufzu-fassen. Der Reichstag hatte aufgrund der nun anrollendenEreignisse, die zur nächsten Teilung Polens führten, keineZeit mehr, die Judenemanzipation zu beschließen oder dieBauernbefreiung komplett durchzuführen. Pläne dazu exis-tierten. Erst während des Kosciuszko-Aufstandes im Mai1794 erklärten die polnischen Aufständischen die Bauern-befreiung in der Proklamation von Połaniec (siehe untenKapitel II.3, M2). Der konservative polnische Hochadelstand diesen Plänen mindestens genauso ablehnend ge-genüber wie der Maiverfassung.Im Zusammenspiel mit konservativen Adeligen kam es zurIntervention Russlands gegen die »französische Pest« inPolen. Im Mai 1792 standen russische Truppen tief imLand, der erwartete Beistand Preußens blieb aus. NähereEinzelheiten dazu finden sich in dem folgenden Kapitelüber Kosciuszko (II.3).

Anmerkung

1 Eine erste Übersetzung ins Deutsche erfolgte noch im Jahr 1791 durch ei-nen Warschauer Buchdrucker. 1817 nahm sie Friedrich August Brockhausin seine Sammlung der »Constitutionen der europäischen Staaten« auf, diein Leipzig erschienen ist. Bei der vorliegenden Übersetzung bin ich Dr. De-decius vom Polen-Institut in Darmstadt und Prof. Kotłowski aus Posen fürihre Hilfe zu Dank verpflichtet. Der Verfassungstext ist übersetzt aus demPolnischen nach »Wybór textów zródłowych z historii panstwa i prawapolskiego«, ed. Jakub Sawicki, Band 1 Teil 2, Warszawa 1951, 88–97.

Literaturhinweise für II. 1–3

Hoensch, Jörg K.: Geschichte Polens. Ulmer, Stuttgart 1990,(UTB 1251)

Jaenecke, Heinrich: Polen. Träumer, Helden, Opfer. Gruner &Jahr, Hamburg, 1981

Stachurski, Andrzej: Polska, Agencja Fotograficzno – Wydaw-nicza »Mazury«. Olstyn, 1994

Suchodolski, Bogdan: Geschichte der polnischen Kultur. Inter-press, Warszawa, 1986

Topolski, Jerzy: Die Geschichte Polens. Interpress, Warszawa,1985

Materialien

Staatsvertrag vom 3. Mai 1791

Im Namen Gottes und der Heiligen Dreifaltigkeit. Stanis-ław August von Gottes Gnade und nach dem Willen desVolkes König von Polen, Großfürst von Litauen [...]In Anerkennung der Tatsache, dass das Schicksal von unsallen einzig und allein von der Gründung und Vervoll-kommnung der National-Verfassung abhängt, ferner auf-grund der Erfahrung der altbekannten Mängel unserer Re-gierung, und im Willen, von der Gunst der Zeit Gebrauchzu machen, in der sich Europa befindet, [...], beschließenwir [...] zur Begründung der Freiheit, zur Rettung unseresVaterlandes und seiner Grenzen, mit größter Entschlos-senheit die vorliegende Verfassung und erklären sie gänz-lich für heilig und unverbrüchlich, solange das Volk nichtirgendwann, aufgrund schriftlich niedergelegten Rechtes,durch seinen eindeutigen Willen das Bedürfnis erkennenlässt zur Veränderung irgendeines Artikels von ihr.

I. Die herrschende Religion

Die herrschende Nationalreligion ist und wird sein der hei-lige römisch-katholische Glaube mit allen seinen Geset-zen. [...].Weil aber auch derselbe heilige Glaube uns ge-bietet, unsre Nächsten zu lieben, schulden wir demzufol-ge allen Menschen jedes beliebigen Bekenntnisses Frie-den im Glauben und staatlichen Schutz und deswegengarantieren wir allen Freiheit ihrer Riten und Religion inden polnischen Ländern, gemäß den Gesetzen des Lan-des.

II. Der Adel, die Landbesitzer

Im Respekt vor der Erinnerung an unsere Vorväter alsGründern der freien Regierung sichern wir dem Adels-stand alle Freiheiten, Prärogativen, Vorrechte im privatenund öffentlichen Leben aufs feierlichste zu, [...]Wir verbürgen feierlich, dass wir keine Veränderung oderRechtsverletzung des Privateigentums zulassen werden[...] Wir erkennen den Adelsstand als ersten Verteidigerder Freiheit und der vorliegenden Verfassung an. [...]

III. Städte und Bürger

Das Gesetz, das auf dem jetzigen Sejm unter dem Titel er-lassen wurde: »Unsere freien königlichen Städte imStaatsgebiet der Republik«, beabsichtigen wir, voll und

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ganz aufrecht zu erhaltenund erklären das Gesetz,das dem freien polnischenAdel zur Sicherheit seinerFreiheiten und zur Unan-tastbarkeit des gemeinsa-men Vaterlandes eine neue,wahrhaftige und wirkungs-volle Kraft gibt, zu einemBestandteil der vorliegen-den Verfassung.1

IV. Die Bauern, die Landleute

Das Bauernvolk, aus dessenHänden stetig und reichlichder Wohlstand des Lan-des fließt, der zahlreichsteStand der Bevölkerung imLand, und folglich die stärk-ste Verteidigungsmacht desLandes – einerseits aus Ge-rechtigkeit, Humanität undChristenpflicht, andererseitsauch aufgrund unseres ei-genen wohlverstandenenInteresses – stellen wir unterden Rechts- und Regie-rungsschutz des Landes,und ordnen an, dass vonnun an alle Freiheiten,Schenkungen oder Erbver-träge von Bauerngütern [...] unter den Schutz der Regie-rung des Landes fallen. [...]Wir proklamieren die völligeFreiheit für alle Leute, so-wohl für die, die neu ein-wandern, als auch für die,

1 Es handelt sich um das Gesetzüber die Städte vom 18. April1791, das somit in voller LängeVerfassungsrang erhält. Daher istdieser Verfassungsartikel so kurz.In den königlichen Städten wurdeden Bürgern die persönliche Un-antastbarkeit, das Recht aufLandkauf und der Zugang zu zahl-reichen Ämtern gestattet. DieStadtbürger erhielten aber keineBeteiligung an der Staatsgewalt;im Sejm gab es nach der neuenVerfassung keine bürgerlichen Ab-geordneten. Die 24 Bevollmäch-tigten der Städte, die man als Ver-treter in Regierungsausschüssenund als Kommissare zuließ, konn-ten im Sejm nur die Eingaben derBürgerschaften vortragen. Immer-hin verbesserte sich durch dasGesetz über die Städte die Lagedes Bürgertums grundlegend; esöffnete den Weg für eine günstigeEntwicklung in den Städten und inder Wirtschaft sowie für weiteregesellschaftliche und politischeUmwälzungen.

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Stanislaus August kümmert sich um alle Stände.

Allegorischer Stich von Daniel Chodowiecki. Muzeum Narodowe w Warszawie/in WarschauAus: Bogdan Suchodolski: Geschichte der polnischen Kultur. Verlag Interpress, Warschau 1986,

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die früher unser Land verlassen hatten, jetzt aber ins Va-terland zurückkommen möchten, dergestalt, dass jederMensch [...], der neu in das Gebiet unsrer Republik ein-wandert oder zurückkehrt, sobald er sich auf polnischemBoden befindet, völlig frei ist, sein Gewerbe auszuüben,wie und wo er kann, frei ist, Verträge abzuschließen hin-sichtlich seiner Sesshaftigkeit, [...] frei ist, in Polen zu woh-nen oder in das Land, in das er möchte, zurückzukehren,wenn er die Pflichten erfüllt hat, die er freiwillig übernom-men hatte.

V. Die Regierung, das heißt die Bestimmung der Gewaltendes Staates

Alle Macht in der menschlichen Gesellschaft nimmt ihrenAnfang aus dem Willen des Volkes. Damit also die Unan-tastbarkeit unseres Gebietes, die Freiheit der Bürger unddie Ordnung der Gemeinschaft gleichermaßen für immerim Gleichgewicht bleiben, muss die Regierung des polni-schen Volkes drei Gewalten einrichten, und kraft der vor-liegenden Verfassung werden sie für immer errichtet wer-den; das ist die gesetzgebende Gewalt bei der Ständever-sammlung, die höchste ausführende Gewalt beim Königund bei der Wache der Gesetze und die richterliche Ge-walt in den Rechtssprechungsorganen, die zu diesemZweck eingesetzt sind, oder die noch einzusetzen sind.

VI. Der Sejm, das heißt die gesetzgebende Gewalt

Der Sejm, das heißt die Ständeversammlung, wird sich inzwei Kammern teilen:In die Kammer der Abgeordneten und in die Kammer derSenatoren unter dem Vorsitz des Königs. Die Kammer derAbgeordneten [...] wird das Heiligtum der Gesetzgebungsein. Folglich werden in der Kammer der Abgeordnetenalle Projekte zuerst entschieden werden:1. Was von den allgemeinen Rechten, das heißt vom Ver-fassungsrecht, bürgerlichen Recht und Strafrecht und vonder Regelung der regelmäßigen Steuern, [...] in die Kam-mer kommt, soll zuerst zur Entscheidung gebracht wer-den; 2. Was von den Beschlüssen des Sejm, das heißt vonden außerordentlichen Steuern, von den Angelegenheitender Währung, von der Aufnahme von Staatsanleihen, vonder Erhebung in den Adelsstand und anderen jemand zu-teil werdenden Belohnungen, Verteilung von öffentlichenAusgaben, ordentlichen und außerordentlichen, für Kriegund Frieden, für die endgültige Ratifizierung von Bündnis-und Handelsverträgen, jegliche diplomatischen Akten undVerträge, [...] in die Abgeordnetenkammer kommt, diesesollen den Vorrang in der Ausführung haben. [...]

VII. Der König. Die ausführende Gewalt

Keine noch so vollkommene Regierung kann ohne eineExekutive Bestand haben. Das Glück der Völker hängt vongerechten Gesetzen, von Rechtsfolgen, die nach ihnenausgeführt wurden, ab. Die Erfahrung hat gelehrt, dass dieVernachlässigung dieses Teiles der Regierung Polen völligunglücklich gemacht hat. [...] Die höchste Gewalt der Aus-führung der Gesetze übertragen wir dem König mit sei-nem Rat, der sich als »Wache der Gesetze« bezeichnenwird. [...] Die ausführende Gewalt wird weder Recht setzennoch auslegen dürfen, Steuern und Bezüge in irgend je-mandes Namen erheben, Staatsschulden aufnehmen [...],

Kriege erklären, Friedens- oder andere diplomatische Ver-träge definitive abschließen. [...]Es erscheint unserer Umsichtigkeit angezeigt, die Thronfol-ge auf dem polnischen Thron nach folgendem Recht zu re-geln: Wir setzen demzufolge fest, dass nach meinem Tod[...] der dann regierende Kurfürst von Sachsen in Polen alsKönig herrschen wird. Der älteste Sohn des herrschendenKönigs soll nach seinem Vater auf den Thron nachfolgen.[...] Die Person des Königs ist heilig und unantastbar. Da ernichts von sich aus tut, kann er auch nichts vor dem Volkzu verantworten haben. Er darf nicht Alleinherrscher sein,sondern soll Vater und Haupt des Volkes sein und als sol-chen anerkennt und erklärt ihn die vorliegende Verfassung.[...] Beim König wird der Oberbefehlshaber über die Vertei-digungskräfte des Landes im Kriegsfalle und die Ernen-nung der Befehlshaber der Armee liegen [...]. Es wird seinePflicht sein, die Offiziere zu ernennen und die Beamten zubestellen, gemäß dem in diesem Schriftstück niedergeleg-ten Recht, die Bischöfe und Senatoren gemäß dieser Ver-fassung zu nominieren, sowie die Minister als die erstenBeamten der ausführenden Gewalt.[...]

VIII. Die richterliche Gewalt

Die richterliche Gewalt darf weder ausgeübt werden vonder gesetzgebenden Gewalt noch vom König, sondernnur von Gerichten, die zu diesem Zweck eingerichtet undgewählt wurden. [...]Wir ordnen an, dass ein neuer Kodex des Zivil- und desStrafrechts durch von diesem Sejm zu benennende Perso-nen verfasst wird.[...]

XI. Die nationalen Streitkräfte

Die Pflicht des Volkes ist, sich selbst zu verteidigen gegenAngriffe und seine Einheit zu wahren. Demnach sind alleBürger Verteidiger der Gesamtheit und der Freiheiten desVolkes. Das Heer ist nichts anderes als die vorgezogeneWehr- und Ordnungskraft der Nation. Das Volk schuldetseinem Heer Lohn und Achtung, dass es sich einzig seinerVerteidigung widmet. Das Heer schuldet dem Volk die Ver-teidigung der Grenzen und der allgemeinen Ruhe, mit ei-nem Wort, es muss sein mächtigster Schild sein. Damitdiese Bestimmungen richtig erfüllt werden, muss es an-dauernd unter dem Oberbefehl der ausführenden Gewaltstehen, entsprechend den rechtlichen Bestimmungen,muss einen Treueid leisten auf das Volk, den König undauf die Verteidigung der Verfassung des Volkes. Demnachkann das Heer des Volkes zur Verteidigung des ganzenLandes, zur Bewachung der Festungen und Grenzen oderzur Sicherung des Rechtes eingesetzt werden, wenn je-mand bei seiner Ausführung ungehorsam sein sollte.

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3. Tadeusz Kosciuszko (1746–1817): der Ruf nach Freiheit

»Noch ist Polen nicht verloren,solang wir noch leben.Was uns fremde Mächte nahmen,mit dem Säbel holen wir’s wieder.Auf, marsch marsch, Dombrowski,von Italien bis Polen;unter deiner Führungvereinen wir uns mit dem Volk.[...]Darauf wird sich alles regen:Sind nicht länger Sklaven!Für Kosciuszko Gottes Segen;Sensen schleift zu Waffen!«

Ausschnitt aus der Freiheitshymne und dem Kampflied für diePolnische Legion, entstanden Juli 1797 in Reggio Emilia (hier: 1.und 6. Strophe). Verfasser: Józef Wybicki. Die ersten 4 Strophensind seit 1926 offizielle Nationalhymne

Der höchste Berg Australiens trägt seinen Namen, seineDenkmäler stehen in Amerika und Polen. In jeder StadtPolens findet man eine Straße oder einen Platz, die nachTadeusz Kosciuszko benannt sind. Er ist für die Polen derNationalheld schlechthin, gleichzeitig aber auch eine Per-sönlichkeit, an der die tiefgehende Verwurzelung Polens inund mit Europa dokumentiert werden kann.Polen hat zeitgleich mit Frankreich am Ende des 18. Jahr-hunderts eine Revolution begonnen, die am 3. Mai 1791zur ersten europäischen Verfassung führte (siehe KapitelII.2.). Da den absolutistischen Mächten Russland undPreußen ein zweiter Revolutionsherd in ihrer unmittelbarenNähe zu gefährlich erschien, marschierten im Mai 1792russische Truppen in Polen ein, denen später preußischefolgten. Nach der 2. Teilung Polens 1793 blieb von demeinstmals großen Land nur noch eine schmale Pufferzonezwischen Preußen und Russland übrig (s. Karte ).

Diese Teilung empfanden die Polen als erneute Demüti-gung und rasch organisierte sich der intellektuelle und mi-litärische Widerstand. Mit Hilfe französischer Gelder wur-de ein Aufstand vorbereitet. Zum Oberbefehlshaber wurdeTadeusz Kosciuszko gewählt, ein Adliger, der im amerika-nischen Unabhängigkeitskrieg auf der Seite der Kolonis-

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Polen im 18. Jahrhundert

Aus: Praxis GeschichteHeft 3/Mai 1993, S. 13Westermann Schulbuch-verlag Braunschweig

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ten mitgekämpft hatte – er war sogar einige Zeit lang Ad-jutant von George Washington gewesen – und den diefranzösische Republik zum Ehrenbürger erhoben hatte.Am 4. April 1794 gelang ihm in der Schlacht von Racławi-ce mit seinen Bauern-Soldaten ein überwältigender Siegüber die russische Armee. Diese nationale Großtat wurde1894 in Lemberg – damals österreichischer Teil Polens,heute Lwów in der Ukraine – in einem Monumentalgemäl-de verewigt. Nach 1945 fand es eine neue Heimat inWrocław (Breslau), wo es täglich von zahlreichen polni-schen Schulklassen besucht wird.Trotz der anfänglichen Erfolge scheiterte der Aufstand,Polen wurde 1795 erneut zwischen Russland, Preußenund Österreich geteilt und verschwand als Staat bis nachdem Ersten Weltkrieg von der Landkarte. »Finis Poloniae«soll Kosciuszko geseufzt haben, als er schwer verwundetvom Pferd sank und in russische Gefangenschaft geriet.Als er 1817 starb, wurde sein Leichnam aus der Schweiz,wo er die letzten Jahre seines Lebens im Exil verbrachthatte, nach Kraków (Krakau) in die Königsgruft im Wawel-dom überführt. Sein langjähriger Kampfgefährte im ameri-kanischen Unabhängigkeitskrieg, Lafayette, hielt in Parisdie Trauerrede auf Kosciuszko: »Die Polen betrachtetensich alle als seine Kinder. Sie umgaben ihn mit Liebe undEhrfurcht und zeigten ihn den anderen Nationen vollerStolz. Groß an der Spitze der Armee, bescheiden im häus-lichen Kreis, furchterregend im Kampf, menschlich undwohltätig den Besiegten gegenüber, war er unübertroffen

in seiner Vaterlands- und Freiheitsliebe, die er niemalsdurch eine unedle Tat entehrte.«Professor Dr. Tadeusz Kotłowski von der Universität Poz-nan (Posen) beschreibt seinen großen Landsmann als Vor-kämpfer für die Freiheit, nicht nur Polens:In der Geschichte Polens spielte Tadeusz Kosciuszko eineganz besondere Rolle: Er wurde zum Symbol des polni-schen Unabhängigkeits- und Freiheitskampfes. Im Be-wußtsein des polnischen Volkes verewigte er sich als dererste Oberbefehlshaber des Aufstandes von 1794. Er for-derte die Polen zum Kampf auf, der der einzige Weg zumWiederaufbau des polnischen Staates sei. Auch bei denDemokraten war er hochgeschätzt, weil er das politischeProgramm, das von ihm einen Tag vor dem Aufstand for-muliert worden war, in die Tat umsetzte: »Allein für denAdel werde ich nicht kämpfen, ich will die Freiheit desganzen Volkes, und nur dafür werde ich mein Leben op-fern«.Tadeusz Bonaventura Kosciuszko wurde 1746 auf demGut seiner zur Szlachta (niederer polnischer Adel)gehörenden Eltern in Merczowszcyna in Polesien (heuteWeißrußland) geboren. Er gehörte nicht zur Schicht derMagnaten, des Hochadels, der z. B. die Reformen von1791 und die damalige Verfassung (siehe Kapitel II.3) ab-lehnte. Seine Ausbildung erhielt er an der Klosterschuleder Piaristen in Lubieszów und später in der Kadettenan-stalt in Warszawa (Warschau). Ein königliches Stipendiumermöglichte ihm einen Studienaufenthalt in Frankreich, wo

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Tadeusz Kosciuszko führt die Sensenmänner zum Angriff; Fragment des Panoramagemäldes der Schlacht von Racławice 1794

Muzeum Narodowe, Wrocław/Breslau

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er sich sein Wissen auf dem Gebiet des Militärwesens er-warb. 1774 kehrte er nach Polen zurück und warb um dieTochter des Hetmans von Litauen, des Befehlshabers derlitauischen Truppen im königlichen Heer, der ihn aber alsnicht ebenbürtig zurückwies. Der Fluchtversuch der Lie-benden scheiterte, und Kosciuszko ging nach Amerika, woer zwischen 1776 und 1783 am Unabhängigkeitskrieg teil-nahm. Als Oberstingenieur zeichnete er sich u. a. bei derBelagerung von Saratoga (1777) und bei der Befestigungvon West Point (1778–80) besonders aus. Als einer von dreiAusländern – neben dem Preußen Friedrich Wilhelm vonSteuben und dem französischen Marquis de Lafayette –wurde er Mitglied der Cincinnati Society, in die nur die ver-dientesten Teilnehmer am Unabhängigkeitskrieg aufge-nommen wurden, und der amerikanische Kongress er-nannte ihn zum Brigadegeneral und Bürger der USA.1784 kehrte Kosciuszko nach Polen zurück und wurde1789 Generalmajor der Armee. Im polnisch-russischenKrieg 1792 zeichnete er sich mehrfach aus und wurde zumGeneralleutnant befördert und mit einem der höchsten Or-den des Landes, dem »Virtuti-Militari-Orden«, ausgezeich-net. Anfang Mai 1792 riefen einige reaktionäre Magnaten,die »Konföderierten von Targowica«, in Absprache mitRussland zum Kampf gegen die Maiverfassung und zurIntervention Russlands in Polen auf. Seitdem steht derName dieser ukrainischen Stadt in Polen für Verrat. An-fang 1793 kam es zur zweiten Teilung Polens (s. Karte

). Kosciuszko emigrierte nach Frankreich und erhieltdort die Ehrenbürgerschaft. Von Leipzig aus bereitete erden Aufstand gegen die verräterischen Magnaten und dieRussen vor. Dabei setzte er neben den regulären Truppenauch auf die Bauern und Bürger, die zwar mit Piken undSensen nur schlecht bewaffnet waren, deren Massen aberden Feind beeindrucken sollten. Am 24. März 1794 be-gann von Kraków (Krakau) aus die Erhebung, die Kosci-uszko als Oberbefehlshaber mit diktatorischer Gewalt an-führte. An diesem Tag beschwor er gemeinsam mit derGarnison in Krakau den Aufstandsakt:»Ich, Tadeusz Kosciuszko, schwöre im Angesicht Gottesdem ganzen polnischen Volk, dass ich die mir anvertrauteMacht nicht zur Unterdrückung anderer anwende, son-dern nur zur Verteidigung der gesamten Grenzen, zur Wie-dergewinnung der Selbständigkeit des Volkes und zurFestigung der allgemeinen Freiheit [...]«. Noch heute bezeichnet eine Steinplatte auf dem Markt-platz von Krakau den Ort der Eidesleistung, und 1980 leg-te der Führer der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc,Lech Wałęsa, an dieser Stelle bewusst den gleichen Eidab, um Solidarnosc in die Tradition des polnischen Frei-heitskampfes zu stellen (siehe Kapitel I.1.). Mit seinem auch aus Bauern, die mit Sensen bewaffnetwaren (»Sensenmänner«), bestehenden Heer besiegteKosciuszko ein russisches Heer in der Schlacht vonRacławice. Am 17. April kam es auch in Warschau zumAufstand, wo die russische Besatzung vertrieben wurde.Am 2. April erhob sich auch Wilna in Litauen. Hier vertriebOberst Jasi ski die russische Garnison und bestrafte Teil-nehmer an der Verschwörung von Targowica. Da Kosci-uszko der Ansicht war, dass nur eine Verstärkung der Ar-mee und die Heranziehung des Volkes zum Kampf denErfolg sichern würden, verkündete er auf dem Marschnach Warschau am 7. Mai 1794 den von der Szlachta an-genommenen Erlass, der den Bauern die persönlicheFreiheit gab.Diese Bauernbefreiung (s. , S. 22) in den von den Auf-ständischen beherrschten Gebieten war der Schlusspunktin der Regelung der bäuerlichen Verhältnisse, den die Ver-fassung vom 3. Mai 1791 noch nicht zu setzen gewagthatte, musste er doch die Gegnerschaft der Magnatenprovozieren, und selbst Kosciuszko fand die Proklamationetwas zu jakobinisch geraten. Allerdings war der Eingriff indie Beziehungen zwischen Bauern und Herren in Polen fürdie Untertanen günstiger als die Reformen Friedrichs II. inPreußen oder die Josephs II. in Österreich. Immerhin, dieBeteiligung der Bauern am Aufstand war beträchtlich; al-lein die Einheiten der Sensenleute umfaßten etwa 6000Mann, und an den Kämpfen im ganzen Land nahmen etwa800 Bauerngruppen teil.Doch die militärische Lage verschlechterte sich, als am 20. Mai 1794 17 000 preußische Soldaten die polnischeGrenze überschritten. Kosciuszko konnte gegen die ver-bündeten russisch-preußischen Kräfte keinen erfolgrei-chen Widerstand leisten und erlitt am 6. Juni eine Nieder-lage. Die Aufständischen mußten sich nach Warschauzurückziehen. Im Juni besetzten die Preußen Krakau undbelagerten Warschau. Preußen wollte die Gunst der Lagenutzen und den polnischen Staat aus der Welt schaffen.Da brach am 20. August 1794 in Großpolen – die Region um Poznan (Posen) und Gniezno (Gnesen) – ein Aufstand

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Tadeusz Kosciuszko im Jahr 1794Kupferstich von C. Josic

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»Proklamation von Połaniec« vom Mai 1794

[...] Zum Wohle des Vaterlandes, der Menschheitund der gesellschaftlichen Gerechtigkeit sollen wirzu Maßnahmen greifen, dank derer wir den schlech-ten innenpolitischen Beziehungen sowie den außen-politischen Intrigen und Interventionen vorbeugen.[...] Ich befehle also allen Land- und Wojewod-schaftskommissionen, die folgenden Anordnungenzu erlassen:

1. Das Volk – also Bauern und Landarbeiter – wird inSchutz und Fürsorge von der Landesregierunggenommen.

2. Der Bauer bekommt die persönliche Freiheit undkann den Wohnsitz wechseln. Er soll aber die Ord-nungskommission über den neuen Wohnsitz in-formieren und seine Schulden und Kredite zahlen.[...]

3. Gleichzeitig wird die Fronarbeit von 6 auf 4 Ar-beitstage oder von 3 auf einen Arbeitstag (durch-schnittlich um ein Drittel) verringert. Diese Bestim-mung betrifft nur die Aufstandsdauer. [....]

4. Die Bauernwirtschaften der Aufständischen wer-den in den Schutz der Szlachta und der Gemein-den genommen. Das Ackerland ist nämlich dieQuelle des Volksreichtums und dementsprechendsoll es auch in den besonderen Schutz des Staa-tes genommen werden.

Lager in Połaniec, den 7. Mai 1794Tadeusz Kosciuszko

aus, der die preußische Armee zwang, sich von Warschauzurückzuziehen. Kosciuszko sandte den zurückweichen-den Preußen ein Heer nach, das einen durchschlagendenErfolg hatte. Es verstärkte nicht nur die Aufständischen inGroßpolen, sondern trug auch zur Eroberung von Byd-goszcz (Bromberg) bei. Im September 1794 wandte sichdie in der Ukraine stehende russische Armee unter Su-worow gegen die Aufständischen, erlitt aber eine schlim-me Niederlage. Aber die Schlacht hatte negative Auswir-kungen für die Moral der Aufständischen, denn Kosciusz-ko wurde schwer verwundet und als Gefangener nach St.Petersburg gebracht, wo ihm die Zarin Katharina bis 1796eine ehrenvolle Haft gewährte. Ohne ihn wurde die Lageder Aufständischen immer schwieriger. Am 4. 11. 1794 er-oberte Suworow Praga, den rechts der Weichsel gelege-nen Stadtteil Warschaus, und ließ die Bevölkerung nieder-metzeln.Mit der Eroberung Warschaus war der polnische Aufstandpraktisch am Ende, was 1795 die dritte, endgültige TeilungPolens nach sich zog (Karte ). Nachdem Kosciuszkofreigelassen worden war, reiste er zunächst in die USA,danach hielt er sich in Frankreich auf, wo er die Bildungder polnischen Legion unterstützte; er verweigerte aberdie Zusammenarbeit mit Napoleon, da er glaubte, dieserwürde die Polen nur für die eigenen Interessen benutzen,

ohne das alte Königreich Polen wiederherstellen zu wol-len. »Da der emeritierte Freiheitsheld die Situation bessereinschätzte als viele Polen, die auf Napoleon und Frank-reich setzten, hätten ihm eigentlich noch einmal ›fünf Mi-nuten‹ auf der europäischen Bühne zugestanden« (AdamKrzemi ski). Nach Napoleons Verbannung wird er vomsiegreichen Zar Alexander I. in Paris zum Ball in die Tuile-rien eingeladen. Auf dem Weg zu den Verhandlungen inWien will der Zar mit Kosciuszko über die Lage Polens re-den. Fünfzehn Minuten währt die Aussprache in Braunau.Auf dem Wiener Kongreß wird auch die »polnische Frage«behandelt, eher nebenbei. Kosciuszko ist inkognito inWien als »Herr Polski«. Aber mehr als antichambrierenkönnen er und die Polen verschiedener Lager nicht. DasErgebnis ist bekannt: ein Königreich Polen, »Kongresspo-len«, mit dem »gnädigen« Zaren als König. Der Zar, unum-schränkter Monarch in Rußland, in Polen gebunden aneine liberale Verfassung: eine Zerreißprobe, die 1830 inPolen zum nächsten Aufstand führte (siehe Kapitel II.4:»Für unsere und eure Freiheit«).Die letzten Jahre seines ereignisreichen Lebens verbrach-te Kosciuszko bei Freunden in der Schweiz, wo er am 15.Oktober 1817 in Solothurn starb, »ein gescheiterter Held,ein romantischer Aufklärer, der zu seiner Zeit nicht passteund dennoch den Polen den Schlüssel für das vielleichtschwierigste Jahrhundert in ihrer Geschichte gab« (A. Krzemi ski).

4. »Für unsere und eure Freiheit!« – Der Novemberaufstand 1830/31

Die Bedeutung des Freiheitskampfes der Polen für denliberalen und nationalen Gedanken des frühen 19. Jahr-hunderts belegt ein deutsches Flugblatt von 1848, dasden polnischen Dichter Ludwik Mieroslawski (1814–1878)mit der Fahne eines polnischen Staates zeigt, den es da-mals nicht gab ( ). Dabei waren die Polen »eine ›alteNation‹ mit einer jahrhundertelangen staatlichen Traditi-on«.1 Polen besaß eine starke Elite, eine hochentwickelteKultur und eine anerkannte Literatursprache. Doch im 19.Jahrhundert gab es keinen polnischen Nationalstaat. DerNiedergang Polens war eng mit dem Aufstieg Preußensund Russlands verbunden, und »das Ende Polens stand ineinem unmittelbaren Zusammenhang mit der [1795] imFrieden von Basel einsetzenden Neuverteilung der mittel-europäischen Ländermasse.«2 Aber das Ende des altenEuropas in den napoleonischen Kriegen bedeutete zu-gleich den Aufbruch in die Moderne, der gekennzeichnetwar durch eine Auseinandersetzung mit den Ideen derFranzösischen Revolution, mit dem Wunsch der VölkerEuropas nach Bildung von Nationalstaaten, nach wirt-schaftlicher und politischer Freiheit. Alles dies war 1815den Polen ebenso verweigert worden wie den Deutschenund anderen Völkern Europas.Das Geschick Polens war wie das Deutschlands im We-sentlichen von drei Großmächten abhängig: von den bei-den deutschen Zentralmächten Österreich und Preußensowie von Russland, die sich in der »Heiligen Allianz« zu-

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sammengeschlossen hatten. Alle drei Staaten hatten alsTeilungsmächte Polens kein Interesse an einem unabhän-gigen Polen. 1815 erfolgte daher eine erneute Teilung Po-lens, wenn es auch in den Grenzen von 1772 »einen ein-heitlichen Wirtschafts- und Kommunikationsraum darstel-len sollte«.3 Doch dazu kam es in der politischen Realitätnicht. Auch der Plan des Zaren, ganz Polen unter seinerHerrschaft zu vereinen, erfuhr auf dem Wiener Kongresseine eindeutige Absage, sahen doch England und Frank-reich das ohnehin labile Gleichgewicht gefährdet, und eswäre beinahe zum Krieg gekommen. Am 9. Juni 1815 wur-de dann eine Regelung getroffen, die im Wesentlichen biszum Ersten Weltkrieg Bestand hatte, die aber die polni-sche Frage nicht wirklich löste, denn die Reduzierung Po-lens auf einen geographisch-ethnischen Begriff verschärf-te den Freiheitsdrang und den Nationalismus der Polen er-heblich. Es war klar, daß ein polnischer Staat nur wiederentstehen konnte, wenn der auf dem Wiener Kongress ge-schaffene Status quo verändert worden wäre; das aberwar nur durch Krieg oder durch eine ganz Europa erfas-sende Revolution möglich. Dies erklärt zum Teil die zuneh-mende Gewaltbereitschaft in der polnischen Nationalbe-wegung. Dabei spielte das traditionelle Selbstverständnisdes polnischen Adels – v. a. seine traditionelle Partizipati-on an der Herrschaft – eine tragende Rolle, zumal der Zarnach 1818 eine reaktionäre Politik betrieb (s. u.). Da diesauch in Deutschland in der ›Ära Metternich‹ geschah, »wares nur folgerichtig, daß, vorbereitet durch eine studenti-sche Phase deutsch-polnischer Zusammenarbeit [...], esin der nächsten revolutionären Krise Europas 1830/32 zueinem [...] deutsch-polnischen Interessenbündnis kam.«4

Andererseits bedeutete gerade der polnische Aufstandvon 1830/31 eine Wende. So begann Preußen in seinerProvinz Posen in der Folgezeit eine drastische »Germani-sierung« ( ), was sich negativ auf das deutsch-polni-sche Verhältnis auswirken sollte.In diesem Kapitel soll Polens Rolle im 19. Jahrhundertexemplarisch am Aufstand gegen das zaristische, auto-kratische Rußland 1830/31 als Vorbild für den Kampf umFreiheit in ganz Europa gezeigt werden.»Das Hauptziel der polnischen Nationalbewegung war un-bestreitbar [...die] Wiederherstellung des polnischen Staa-tes, der [...] Adelsrepublik in ihren alten Grenzen.«5 Parallelzu den politischen Bemühungen schuf die Romantik mitihren »kulturellen Bestrebungen um Sprache, Literatur,Geschichte und Folklore [...] die Grundlagen für ein ethni-sches Nationalbewusstsein.«6

1815 gab es zwei staatsähnliche Gebilde: das KönigreichPolen, auch Kongresspolen genannt, und die Freie StadtKrakau. Das Königreich Polen erhielt von Zar Alexander I.am 15. Dezember 1815 eine liberale Verfassung, nach deran der Spitze des Königreichs einerseits ein vom Zareneingesetzter Vizekönig stand, sein Bruder Großfürst Kon-stantin, der mit einer Polin verheiratet war; andererseitsamtierte als Statthalter ein Pole. Der polnische Reichstag,der Sejm, besaß die legislative Gewalt, während ein Ver-waltungsrat die Exekutive bildete. Dem Einfluss desReichstags und des Verwaltungsrates war aber die Kon-trolle über die polnische Armee, deren Oberbefehlshaberder Vizekönig war, entzogen. Auch blieb der Wunsch derPolen nach Wiedervereinigung mit dem alten Großherzog-tum Litauen unerfüllt.

Während sich u. a. durch die Zuwanderung deutscherFachkräfte die wirtschaftliche Situation in Polen deutlichverbesserte – um Łodz entstand ab 1823 eine bedeuten-de Textilindustrie –, verschlechterten sich die politischenVerhältnisse zusehends. Zwar kündigte der Zar 1818 beider Eröffnung des Sejm liberale Reformen an, doch ver-stärkte sich in der Realität der antiliberale Kurs. Vor allemmisstraute man am Zarenhof der Loyalität der Polen, dennin Polen waren viele Geheimgesellschaften entstanden,und Zar Nikolaus I., seit 1825 Nachfolger Alexanders I.,sah noch stärker als sein Vorgänger in der Durchsetzungdes monarchischen Prinzips in Europa die »Mission Russ-lands«. So war es nur eine logische Konsequenz der zaris-tischen Autokratie, daß die polnische Verfassung schritt-weise außer Kraft gesetzt wurde, wie der Sejm beklagte( ). Der Zar ging sogar noch einen Schritt weiter: Erwollte die polnische Armee gegen die liberalen Erhebun-gen in Westeuropa einsetzen. Dies veranlasste »in War-schau eine Gruppe junger polnischer Militärs und zivilerVerschwörer«7 unter Führung des Leutnants Piotr Wy-socki, einen Aufstand zu wagen. Sie überfielen die Resi-denz des Vizekönigs. Doch Großfürst Konstantin konnteentkommen. Als dieser dann die polnische Armee gegendie Aufrührer einsetzen wollte, meuterten die Truppen;zahlreiche Offiziere, darunter allein acht Generäle, wurdengetötet; die russischen Truppen flohen mit dem Vizekönig.Doch nun waren die Aufrührer ratlos, denn sie hatten nachkeinem festen Plan gehandelt. Deshalb unterstellten siesich dem Verwaltungsrat, der zunächst an einer friedlichenLösung interessiert war. Als aber Zar Nikolaus I. die For-derung nach Wiederherstellung der Verfassung und nachAngliederung Litauens ablehnte, setzte der Sejm am 15.Januar 1831 die Dynastie der Romanows als polnischeKönige ab. Eine polnische Nationalregierung mit FürstAdam Jerzy Czartoryski wurde gebildet; aus der Erhebungwar eine Revolution geworden. Zunächst behauptete sichdie polnische Armee gegen die russischen Truppen. Hilfekam aus Litauen, selbst aus den polnischen GebietenPreußens eilten Freiwillige herbei. Die Polen kämpften un-ter der Parole »Für unsere und eure Freiheit« und appellier-ten damit an die Solidarität der Liberalen in ganz Europa.Doch die Führung der Polen war sich uneins. Besondersdie Bauernfrage spaltete sie. Die Radikalen, begeistertvon der französischen Juli-Revolution 1830, wollten auchdie Bauern durch Abschaffung der Frondienste und durchLandzuteilungen zum Aufstand gegen die Russen bewe-gen; die Konservativen sahen darin ihre soziale Stellungbedroht. Neben der »offiziellen« Regierung des FürstenCzartoryski trat General Chłopicki als »Diktator«. So ver-besserte sich die Lage der Polen auch nicht, als das rus-sische Heer durch eine Choleraepidemie, der auch Vi-zekönig Konstantin zum Opfer fiel, geschwächt wurde.Am 8. 9. 1831 eroberte die russische Armee Warschauund Ende Oktober brach der Aufstand zusammen. DieReste der polnischen Armee wurden zunächst in Preußenund Österreich interniert. Die meisten, vor allem die Offi-ziere, wurden zu Emigranten, da sie der Amnestie des Za-ren misstrauten. Fürst Czartoryski bildete in Paris eineExilregierung, die auf diplomatischem Weg einen polni-schen Staat errichten wollte, während eine Gruppe umden Historiker Joachim Lelewel weiterhin auf den revolu-tionären Weg setzte.

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Die Vergeltungsmaßnahmen der Russen waren hart. Vielepolnische Grundbesitzer wurden enteignet oder nach Sibirien und anderen Teilen Russlands verbannt und mussten z. B. in Bergwerken Zwangsarbeit leisten. Dieerst 1816 gegründete Universität in Warschau wurde ge-schlossen, die Verfassung abgeschafft, die polnische Armee aufgelöst, der Sejm aufgehoben und die Auto-nomie, die Polen innerhalb des russischen Staatsverban-des besessen hatte, gänzlich beseitigt. Polen wurde wiejede andere russische Provinz der zaristischen Autokratieunterworfen, was sogar der »Kocher- und Jagst-Bote« am13. April ironisch kommentierte ( ).Westeuropa dagegen empfing die Emigranten mit großerBegeisterung. Das damalige Pathos kann an gezeigtwerden. Besonders in Deutschland interessierte mansich für das Schicksal des östlichen Nachbarn, was eineVielzahl an Flugblättern, Dramen und Polengedichten be-weisen ( – ). »Die Burschenschaften übernahmen[...] den Schnürrock nach dem Vorbild der polnischen Uni-form, der Pekesche.«8 Zahlreiche Polenvereine unter-stützten die polnischen Emigranten, leisteten sogar huma-nitäre Hilfe über Mittelsmänner in Polen selbst. Besondersim deutschen Südwesten engagierte sich das Bürgertumfür die polnischen Freiheitskämpfer. Noch während derKämpfe in Polen schickte der Stuttgarter Polenverein dreiÄrzte nach Warschau. Die Ärzte, darunter Dr. Scheuffelen,ein begeisterter Freiheitskämpfer, reisten unter dem Motto»Wir fahren für unsere und die polnische Freiheit nach Po-len«. Dr. Scheuffelen schrieb an seine Verwandten ausWarschau, daß er glücklich sei, hier den Kampf um dashöchste Gut des Menschen, die Freiheit, erleben zu dür-fen. Spenden aus Stuttgart, Tübingen, Künzelsau und vie-len anderen Orten waren Zeichen einer wahren Euphoriefür die polnische Sache in Württemberg und Baden.Das liberale Bürgertum erkannte, dass in Polen sich dieZukunft Europas entscheiden würde: Siegten die Polen,würde sich das Feuer der Freiheit über ganz Europa aus-breiten; siegten die Russen, bedeutete dies eine empfind-liche Schwächung der europäischen, besonders aber derdeutschen Freiheitsbewegung. Nach der Niederlage derPolen riss sich das Bürgertum geradezu um die durchzie-henden polnischen Emigranten. Ein Stuttgarter Bürgerschrieb im Februar 1832: »Endlich erfahren auch wir dasGlück, die Trümmer des polnischen Heeres in unserer Mit-te gastfreundlich empfangen zu dürfen.«9 Der Dichter Jus-tinus Kerner in Weinsberg war einer von vielen Bürgern,die Polen bei sich beherbergten. In Freiburg setzte sichder liberale Abgeordnete Karl v. Rotteck für die Polen ein;seine Frau gründete einen Verein zur Unterstützung polni-scher Hospitäler. Unermüdlich spendeten die Deutschenfür die Polen noch lange nach Ende der Kämpfe. EinenHöhepunkt erlebte die Polenfreundschaft ohne Zweifel aufdem Hambacher Fest am 27. Mai 1832, als neben derSchwarz-Rot-Goldenen-Fahne auch die mit dem weißenpolnischen Adler auf rotem Grund wehte. Deutsche Red-ner rühmten Polens Leistungen für die Rettung Europasvor den Türken im 17. Jahrhundert (vgl. Kapitel II.1.) undvor Russlands Expansionismus, die Polen sprachen vonder neuen Aufgabe der Deutschen im Kampf um die Frei-heit in Europa. »Die Polenfreundschaft der deutschen Li-beralen beruhte z. T. auf der Furcht, Russland werde inDeutschland keine liberalen Reformen dulden und versu-

chen, sie durch Waffengewalt zu verhindern, die Polenaber könnten bei einem russischen Eingreifen willkomme-ne Verbündete sein.«10 Die Polenlieder, von denen hiernur wenige vorgestellt werden können, zeigen eine Solida-rität der Völker, die später leider lange in Vergessenheitgeriet. Hier erhielt »die Idee der Fraternité, wie sie von derFranzösischen Revolution geprägt worden war, einen in-ternationalen Charakter.«11

Andererseits wuchs bei vielen Polen wie dem in Paris le-benden Dichter Adam Mickiewicz (s. a. Kapitel III.3.) dasGefühl, die Polen seien »auserwählt«, Vorkämpfer derFreiheit für die europäischen Nationen zu sein und ihr Lei-den sei beispielhaft für das aller unterdrückten Völker( und ).Bereits 1832 verschärfte sich auch in Württemberg undBaden die politische Repression, die Polenbegeisterungebbte ab, im selben Jahr löste sich die Mehrzahl der Po-lenvereine unter dem Druck der Zensur auf. Doch dieseVereine hatten viel dazu beigetragen, eine breite politischeÖffentlichkeit zu schaffen, was für den weiteren Verlaufder Geschichte bedeutsam war. Deutsche Liberale wiePhilipp Jacob Siebenpfeiffer (1789–1845) und Johann Ge-org August Wirth (1798–1848) hielten weiterhin Kontakt zuden Vertretern des polnischen demokratischen Komiteesum Lelewel und General Bem.Der polnische Aufstand war nicht nur an der überlegenenZahl der russischen Truppen gescheitert. Den Polen fehltees auch an der massiven Unterstützung aus anderenStaaten, besonders aus Preußen ( ), trotz aller Polen-begeisterung. Zwar konnte sich Metternich ein unabhän-giges Polen als Puffer zu Russland vorstellen, aber denBruch mit Russland wagte er nicht, und der Zar lehnte je-den Vermittlungsversuch ab. Zudem gelang es den polni-schen Revolutionären nicht, die Bauern für sich zu gewin-nen; die aristokratischen Kräfte wollten zwar einen polni-schen Staat, aber keine Freiheit für die Bauern. Ohne so-ziale Reformbereitschaft aber konnte der Nationalismusnicht integrierend wirken.

Anmerkungen1 Andreas Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte,

Zerfall, München 1992, S. 179. Zu Mieroslawski während der Revolutionvon 1848/49 in Baden vgl. Heft 35/1997 der Reihe »DeutschlanD & Euro-pa«, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Würt-temberg: »... bis es ein freies Volk geworden ...«. 1848/49. Revolution, S.10 ff.

2 Karl-Ottmar v. Aretin: Teilung und Länderschacher als Folgen des Gleich-gewichtssystem der europäischen Großmächte. Die polnischen Teilun-gen als europäisches Schicksal. In: Polen und die polnische Frage in derGeschichte der Hohenzollernmonarchie 1701–1871, Berlin 1982, S. 61

3 Ebenda, S. 6 f.4 v. Aretin, Teilung und Länderschacher, S. 95 Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich, S. 1806 Ebenda7 Kultusministerium Rheinland-Pfalz (Hrsg.): 1832–1982. Hambacher Fest.

Freiheit und Einheit, Deutschland und Europa, Neustadt 1982, S. 648 Ebenda, S. 659 Aus: »Für unsere und eure Freiheit – Polenbegeisterung im Vormärz«,

Sendung vom 1. 10. 1997 in S 310 Meyer, Grundzüge, S. 65 (s. M2 Quellenangabe)11 Siegfried Rother: Polen in der deutschen Literatur des Vormärz – Eine di-

daktisch-methodische Handreichung. in: Peter Ehlen (Hrsg.): Der polni-sche Freiheitskampf1830/31 und die liberale Polenfreundschaft, Mün-chen 1982, S. 141

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Materialien

Deutsches Werbeblatt für den polnischen Freiheitskampf

Polens Freiheitskampf. Der Aufstand gegen die russische Herr-schaft. Colorierte Radierung, zeitgenössisch.

Orig.: Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin

Der Aufständische, mit einer Litewka bekleidet, steht auf demGipfel eines Bergs, unter ihm die gesprengten Ketten. In derRechten hält er einen Säbel, in der Linken die polnische National-fahne. Rechts im Hintergrund fliegt der polnische Doppeladler, inden Schnäbeln hält er ebenfalls gesprengte Ketten.

Aus dem Manifest des polnischen Sejm vom 25. 12. 1830 über die Gründe für den Aufstand:

[...] Die Vereinigung der Krone eines Autokraten mit der ei-nes konstitutionellen Herrschers auf einem einzigenHaupte war einer jener politischen Monstrositäten, dienicht lange währen können. Jeder sah voraus, dass dasKönigreich Polen entweder eine Keimzelle liberaler Ein-richtungen für Russland werden oder unter der eisernenHand seiner Despoten untergehen mußte. [...] Es scheint,dass der Kaiser Alexander für einen Augenblick geglaubthat, er könne den ganzen Umfang seiner despotischenMacht mit der Volkstümlichkeit unserer liberalen Gesetzein Einklang bringen und sich dadurch neuen Einfluß auf dieVerhältnisse Europas verschaffen. Jedoch überzeugte ersich bald, dass die Freiheit sich niemals dazu erniedrigenwürde, das blinde Instrument des Despotismus zu wer-den, und in der Folge wurde er [...] ihr Verfolger. Russlandverlor alle Hoffnung, dass sein Souverän eines Tages das

Joch erleichtern würde, das auf ihm lag, und Polen musstenach und nach aller seiner Privilegien beraubt werden. [...]Der öffentliche Unterricht wurde verderbt; man organisier-te ein System des Obskurantismus1; man nahm dem Volkealle Mittel, sich zu unterrichten, [...] den Kammern dieMöglichkeit, über das Budget zu entscheiden; man führteneue Lasten ein; man schuf Monopole, die geeignet wa-ren, die Quellen des nationalen Reichtums versiegen zulassen, und der Staatsschatz [...] wurde zum Weidegrundvon infamen Lockspitzeln und käuflichen Spionen. [...]Verleumdung und Spionage waren bis in das Innere derFamilien gedrungen und hatten durch ihr Gift die Freiheitdes häuslichen Lebens verseucht, und die alte Gast-freundschaft der Polen wurde eine Falle für die Unschuld.Die persönliche Freiheit, feierlich garantiert, wurde ver-letzt; die Gefängnisse wurden überfüllt; Kriegsgerichte –eingesetzt, um in zivilen Sachen zu entscheiden – verur-teilten Bürger, deren ganzer Fehler es gewesen war, sichder Korruption des Geistes [...] entziehen zu wollen, zuschimpflichen Strafen. [...]

d’Angeberg: Recueil des traités ... concernant la Pologne1762–1862, Paris 1862, S. 772.Zit. in: Enno Meyer (Hrsg.): Deutschland und Polen. Eine europäi-sche Nachbarschaft im Zeitalter des Nationalstaatsprinzips. Klett,Stuttgart 1989, S. 16

1 Verdummung

»Die letzten Zehn vom 4. Regiment bei ihremÜbergang über die preußische Grenze« von Julius Mosen

In Warschau schwuren tausend auf den Knien:Kein Schuss im heil’gen Kampfe sei getan!Tambour, schlag an! Zum Blachfeld lass uns ziehen!Wir greifen nur mit Bajonetten an!Und ewig kennt das Vaterland und nenntMit stillem Schmerz sein viertes Regiment!Und als wir dort bei Praga1 blutig rangen,Hat kein Kam’rad nur einen Schuss getan,Und als wir dort den Blutfeind kühn bezwangen,Mit Bajonetten ging es drauf und dran!Fragt Praga, das die treuen Polen kennt!Wir waren dort das vierte Regiment!

Drang auch der Feind mit tausend FeuerschlündenBei Ostrolenka2 grimmig auf uns an;Doch wussten wir sein tückisch Herz zu finden,Mit Bajonetten brachen wir uns Bahn!Fragt Ostrolenka, das uns blutig nennt!Wir waren dort das vierte Regiment![...]

O weh! Das heil’ge Vaterland verloren!Ach! fraget nicht, wer uns dies Leid getan?Weh allen, die im Polenland geboren!Die Wunden fangen frisch zu bluten an;Doch fraget ihr, wo die tiefste Wunde brennt?Ach, Polen kennt sein viertes Regiment![...]

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Von Polen her im Nebelgrauen rückenZehn Grenadiere in das PreußenlandMit düstrem Schweigen, gramumwölkten Blicken.Ein »Wer da?« erschallt – sie stehen festgebannt. –Und einer spricht: »Vom Vaterland getrenntDie letzten zehn vom vierten Regiment!«

Aus: St. Leonhard: Polenlieder deutscher Dichter. Der November-aufstand in den Liedern deutscher Dichter. Krakau 1911, 1917, Bd. 1, S. 100

1 Praga: Vorort von Warschau2 Ostrołęka: Stadt nördlich Warschaus. Sieg der russischen Armee unter

General Diebitsch am 26. Mai 1831.

»An die Polen« von Carl Harlaßsohn (1831)

Ob es recht, daß Ihr Euch losgerungen,Daß Ihr nicht erst anders es erwägt,Daß Ihr feindlich gleich das Schwert geschwungen?Ach, die Kette fühlt nur, wer sie trägt.[...]Polen! dies der größte Deiner Tage,Wirst Du’s jetzt nicht, wirst Du niemals frei,In der Weltgeschichte steht die Frage:Ob ein Polen noch, ob keines sei. –[...]Werdet Alle frei und macht nicht Knechte,Scheidet Eure Brüder nicht von Euch,Gebt dem Landmann, gebt dem Volke Rechte,macht kein feudalistisch, kein leibeigen Reich.

Dann wird Euch den Sieg Europa gönnen,Kehrt geeint Ihr aus der Flammenglut,Nie wird fremde Macht Euch zwingen können;Denn im freien Volke lebt der Mut.

Aus: Politische Gedichte der Neuzeit. Hg. v. H. Marggraff, 1947, S. 257

Georg Herwegh: Polens Sache, deutsche Sache(März 1846)

[...]Was gestern Recht war für den Rhein,Ist’s heute nicht auch Recht für Polen?Soll Polen nicht auch Polen sein,Weil wir als Räuber mitgestohlen?[...]Vergaßet ihr das Einmaleins,Ihr unergründlich tiefen Denker,Ihr Zionswächter unsres RheinsUnd jeder fremden Freiheit Henker?!

O du, mein Volk, das hoffend drängtSich an der reichen Zukunft Schwelle,Was auch die Sterne dir verhängt, –Sei nicht des Zaren Spießgeselle![...]

Du suchst ja selbst aus tiefem GrundDer Knechtschaft dich emporzuringen –Willst du dein Joch zur selben StundDen andern auf den Nacken zwingen?[...]Weh über uns in solchem Krieg!Wir wandeln keine Ruhmesbahnen.Ich rufe: Den Empörern SiegUnd jede Schmach auf deutsche Fahnen!

Zit. in: Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deut-schen Geschichte. Katalog der ständigen Ausstellung, Rastatt1984, S. 289, Nr. 5019

Johannes Friz: Deutsches Mailied (1832)

1. Hört, deutsche Brüder, Polens Klage!Sie dringt in jedes Mannes fühlend Herz.Wem nicht der Polen trauervolle Lageerpresset ein Gefühl von Scham und Schmerz,den mag ich nimmer Bruder nennen,er kann für Edles nie entbrennen; –er machet Schand´ der deutschen Nation,ihm zeige jeder Biedre Spott und Hohn![...]

Zit. in: Enno Meyer (Hrsg.): Deutschland und Polen, S. 18 f.

Begrabene Revolution

WelthändelDas Grab der polnischen Revolution ist nun endlich fertigund das Kreuz feierlich aufgerichtet. Am 25. März wurde inWarschau das entscheidende Manifest des Kaisers feier-lich verkündet, wodurch eine neue Ordnung der Dinge ein-geführt werden soll. Der Fürst Paskewitsch, der vom Kai-ser zum Statthalter von Polen ernannt ist, verkündete ineiner Rede, [...] daß das Königreich Polen fortan zu einemso hohen Grade von Glück gelangen solle, wie es vorhernoch nie gekannt habe. – Die Ingredienzien in dem polni-schen Glückstopf sind folgende: Die Polen sollen von nunan eine mit den Russen übereinstimmende Nation bilden,das Königreich Polen soll für immer als untrennbarer Teilmit dem russischen Reich verbunden sein; der Kaiser undKönig wird von nun an nur mit einer Zeremonie in Moskaugekrönt; wer Kaiser von Russland ist, ist von selbst auchKönig von Polen; das Land soll eine abgesonderte Verwal-tung haben, die Presse einige unerlässliche Beschränkun-gen erhalten, die Auflagen dieselben bleiben wie vor derRevolution, künftig nur eine Armee für Russland und Polenbestehen [...](zum besseren Verständnis sind Grammatik und Recht-schreibung angepasst)

Aus ›Kocher- und Jagst-Bote zugleich Amts- und Intelligenz-Blattfür die Oberamtsbezirke Künzelsau und Gerabronn’, Nr. 30 vomFreitag, 13. April 1832

Hauptstaatsarchiv Stuttgart E 146/2 Bü 1916

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Adam Mickiewicz schrieb 1832:

Das polnische Volk ist nicht gestorben; sein Leib liegt imGrab, und seine Seele hat die Erde, das öffentliche Lebenverlassen, um hinabzusteigen zum Abgrund, das ist: zumhäuslichen Leben jener Völker, welche Knechtschaft lei-den daheim und in der Ferne, um ihre Leiden zu sehen.Und am dritten Tage wird die Seele in den Leib zurück-kehren, und das Volk wird auferstehen, und es wird alleVölker Europas aus der Knechtschaft befreien. [...]

Zit. in: Wolfgang Jacobmeyer: Die deutsch-polnischen Beziehun-gen in der Neuzeit als Konfliktgeschichte. In: Wochenschau-Ver-lag [Hrsg.]: Polen und Deutschland, Nachbarn in Europa. Schwal-bach/Ts 1996, S. 179

Polak Sumiennny (Der gewissenhafte Pole) Nr. 48 (12./13.12.1831):

Ganz Deutschland überzeugte sich im letzten Volkskrieg,daß es, wenn es schon in uns kein Bollwerk haben wird,schnell zur Beute des Zaren wird, einer Macht, vor der essicher Könige nicht schützen werden, die heute schonRussland um Rettung anbetteln. Wenn also die Nachbar-völker jetzt gegen uns Polen zu Kampf antreten, werdensie offen gegen sich selbst kämpfen, gegen ihre eigeneZukunft, gegen das Geschick der eigenen Generation, de-nen unser Sieg Freiheit, unsere Niederlage schmachvolleKnechtschaft bringen wird.

Zit. in: Henryk Kocoj: Der polnische Novemberaufstand in der öf-fentlichen Meinung Stuttgarts, Dresdens und Leipzigs. In: PeterEhlen (Hrsg.): Der polnische Freiheitskampf 1830/31 und die libe-rale deutsche Polenfreundschaft. Johannes Berchmanns Verlag,München 1982, S. 112

Heinrich Heine: Preußens wahres Gesicht

Endlich, als Warschau fiel, fiel auch der weiche frommeMantel, worin sich Preußen so schön zu drapieren ge-wusst, und selbst der Blödsichtigste erblickte die eiserneRüstung des Despotismus, die darunter verborgen war.Diese heilsame Enttäuschung verdankt Deutschland demUnglück der Polen. Die Polen! Das Blut zittert mir in denAdern, wenn ich das Wort niederschreibe, wenn ich darandenke, wie Preußen gegen diese edelsten Kinder des Un-glücks gehandelt hat, wie feige, wie gemein, wie meuchle-risch. Der Geschichtsschreiber wird vor innerer Abscheukeine Worte finden [...]; jene unehrlichen Heldentaten wirdvielmehr der Scharfrichter beschreiben müssen. Und derwird sich schon dazu finden, und ich höre schon das roteEisen zischen auf dem mageren Rücken des Berliner Ka-binetts!

Aus: Heine, Heinrich: Französische Zustände. Vorrede. In: Sämtli-che Werke in vier Bänden, hrsg. von Otto F. Lachmann, Reclam,Bd. 4, Leipzig o.J., S. 10 f.

5. Grenzüberschreitung: Briefe aus dem Warschauer Ghetto (1941/42)

»Polen in Europa« – das heißt im Blick auf die Jahre1939–1944: »Polen in einem von der NS-Diktatur terrori-sierten Europa«. Die kürzlich in einem privaten Nachlass inGöppingen entdeckten Briefe Josef Gelbarts, eines Judenpolnisch-deutscher Abstammung ( ), stellen vor die-sem Hintergrund einen einzigartigen Quellenbestand dar,der Einblick gibt in den Alltag und die psychische Situati-on der Menschen im Warschauer Ghetto. Diese Briefewurden in den Jahren 1941/42 an den Fabrikanten HansStockmar in Kaltenkirchen bei Hamburg geschrieben, beidem Gelbart in den 30er Jahren ein Praktikum als Imkerei-Volontär absolviert hatte ( ). Die Antwortbriefe Stock-mars sind mit dem Ghetto untergegangen.Im Schicksal Polens und seiner Hauptstadt zeichnen sichschon früh die Grundlinien des NS-Herrschaftssystemsab. Die bewusste, massive Zerstörung der Stadt bei derBesetzung und nach der Niederschlagung der beiden Auf-stände 1943 und 1944 verursachte auch tiefe seelischeund historische Wunden. Der militärischen Niederlage imSeptember 1939 folgte die administrative Zerschlagungdes polnischen Staatsgebietes durch die DegradierungWarschaus zum bloßen »Distriktshauptort«, durch die Ab-trennung des »Warthegaues« und die Errichtung des vonKrakau aus kolonial ausgebeuteten »Generalgouverne-ments«. Die mit rassistischen Parolen operierende öffent-liche Demütigung der Polen, denen »Maßlosigkeit, Verlo-genheit, Hinterlist, Grausamkeit und Mordhetze gegen dieDeutschen« bescheinigt wurden (so in einer Dokumentati-on des Oberkommandos der Wehrmacht über den »Siegin Polen«), sollte mit der polnischen Hauptstadt auch dasNationalbewusstsein der Polen endgültig liquidieren. Denverachteten »Polacken« und der zu Unrecht verspotteten»polnischen Wirtschaft« wurden die deutschen Kardinal-tugenden von Ordnung, Disziplin und Leistungskraft ent-gegengestellt. Im Zuge der veränderten politisch-militäri-schen Gesamtsituation seit 1940/41 erhielten Warschauund sein Umland eine neue Funktion als Rüstungsschmie-de, Waffenplatz und Aufmarschgebiet am Vorabend desAngriffs auf die Sowjetunion.Von Anfang an aber war Polen zum Experimentierfeld derRassenideologen im SS-Reichssicherheitshauptamt undim Rassenpolitischen Amt der NSDAP geworden. DerenPläne zielten auf die Ausrottung der »minderwertigen«Rassen ab, vor allem der Juden und der polnischen »Un-termenschen«. Freilich konkurrierten bis ins Jahr 1941 hi-nein mehrere Optionen (Himmler, Rosenberg) hinsichtlichdes den Juden zugedachten Schicksals. Vom Zeitpunktdes Überfalls auf die Sowjetunion 1941 an aber wurde dieVernichtung der »Fremdvölkischen und Minderwertigen«zum strategischen Hauptziel auch der deutschen Krieg-führung und der von Einsatzgruppen, SS-Verbänden undPolizeibataillonen praktizierten »Sicherheitsmaßnahmen«hinter der Front. Eine Vorstufe der Vernichtungspolitik ge-genüber der jüdischen Bevölkerung Polens war die Errich-tung von mehr als tausend Ghettos und jüdischen Arbeits-lagern im ehemaligen Polen.

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Der »jüdische Wohnbezirk« in Warschau (siehe Ghetto-Plan und ) umfasste im Jahre 1940 zum großen Teildie vor Kriegsbeginn dort lebende jüdische Bevölkerungvon 375 000 Menschen (29,1% der Gesamtbevölkerung),doch stieg die Bevölkerung im Ghetto durch »Umsiedlun-gen« auch aus dem Reichsgebiet bis 1942 auf ca. einehalbe Million an. Warschau wurde somit zum größtenGhetto innerhalb des ehemaligen polnischen Staatsgebie-tes, dessen Auflösung mit der Deportation ins Vernich-tungslager Treblinka vom Juli 1942 an einsetzte.Der gescheiterte, aber zeichenhaft fortwirkende Aufstandvom April/Mai 1943 begründet bis heute den singulärenhistorischen Rang des »Jüdischen Wohnbezirkes« derpolnischen Hauptstadt. So erscheint rückblickend dieNS–Politik gegenüber Polen und Warschau als eine ArtProbelauf der später in Frankreich, auf dem Balkan undvor allem in der Sowjetunion rigoros ins Werk gesetztenUnterwerfungs- und Ausrottungspolitik, als Inbegriff natio-nalsozialistischer Gewaltherr-schaft. Dieser physischen undpsychischen Vernichtungspoli-tik gegenüber Polen und seinerHauptstadt haben die Unter-drückten vor allem in War-schau eine von den Besatzernweithin unentdeckt gebliebenegeistige und militärische Wi-derstandsstrategie entgegen-gestellt. Der im Jahre 1940konstituierte »Untergrund-staat« war Sitz der höchstenVertreter der Londoner Exilre-gierung, zweier Untergrund-parlamente und einer Unter-grunduniversität, war Zentraleder illegalen Parteiorganisatio-nen und des Oberkommandosder Heimatarmee (AK) und an-derer Widerstandsgruppen, diezusammen mit den in War-schau lebenden Künstlern undWissenschaftlern zum weitge-henden Erhalt der Hauptstadt-funktion Warschaus und seinermoralischen Autorität beitru-gen. Warschau wurde so nichtnur zum Schauplatz der Nazi-barbarei, sondern auch zum»Symbol des Heldentums« (Tomasz Szarota) des polni-schen und jüdischen Volkes.Von all dem ist verständlicher-weise in den Briefen Josef Gel-barts ( – ) keine Rede, musste der Verfasser dochmit der Zensur der NS-Behörden rechnen, die freilich –aus uns unbekannten Gründen – den Briefwechsel in die-sem Fall nicht verhindert haben. Gelbart beschränkt sichauf die Schilderung des täglichen Überlebenskampfes,der im Verkauf der aus Kaltenkirchen geschickten und ei-gener Kleider und Lebensmittel bestand. Alles, was darü-ber hinausging und die politischen Verhältnisse berührte,wird vorsichtig, in verschlüsselten Wendungen angedeu-

tet, dadurch aber auch tendenziell verharmlost, ja ver-fälscht. Nur der wachsenden Hoffnungslosigkeit und denexistentiellen Ängsten der Menschen im Ghetto gibt Gel-bart unmissverständlich Ausdruck. Mit diesen Briefdoku-menten erhält das bisher meist auf Tagebücher und Erin-nerungen gestützte Bild des Lebens im Ghetto eine zu-sätzliche Informationsdichte und eine eindringliche, ja er-schütternde erzählerische Kraft.Zum Verständnis dieser Briefe ( – ) bedarf es zu-sätzlicher Informationen. Sie werden in Form einer Zeitta-fel, einer dokumentarischen Quelle ( ), von Photosvorgelegt. Ein Ghettoplan vervollständigt dieses informati-ve Begleitmaterial. Weitere Hinweise und Erläuterungenbefinden sich bei den Materialien.

Das Warschauer Ghetto: Plan

Im Plan des Warschauer Ghettos ist die Milastraße (WohnungGelbarts) zu erkennen, dann die Gesiastraße (der große Verkaufs-markt im Ghetto), der Friedhof als einzige »Grünanlage«; der»Umschlagplatz« ganz im Norden ist Bahnstation Richtung Treb-linka.

Aus: Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordungder europäischen Juden (Deutsche Ausgabe hrsg. von EberhardJäckel/Peter Longerich/Julius H. Schoeps). Band III. S. 1543; © Argon Verlag, Berlin 1993

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Powozkowski Friedhof

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Josef Gelbart: Biographische Daten

1913 Einwanderung der jüdischen Eltern aus Polennach Altona

1914 geboren in Altona1935 als Imkerei-Volontär bei der Firma Stockmar in

Kaltenkirchen (bei Hamburg) tätig1938 (28.10) als polnischer Jude mit seiner Mutter

nach Polen abgeschoben1

1939 (schon vor dem 5. 2.) in Warschau wohnhaft1942 verschollen (letzter Brief vom 20. 5.)

Unterlagen Staatsarchiv Hamburg

1 Die Abschiebung von fast 50 000 polnischen Juden, unter diesen auchdie Familie Grynszpan, veranlasste den jungen Herschel Grynszpan zuseinem Attentat auf den Diplomaten Ernst von Rath in der deutschen Bot-schaft in Paris am 7. November 1938. Josef Gelbart hielt sich schon vordem 1. 9. 1939 in Warschau auf, um dort eine Kerzenfabrik zu überneh-men. (vgl. M7, 7. 5. 42).

Rundschreiben des NS-Kommissars desjüdischen Wohnbezirks in Warschau vom 18. September 1941:

Im Oktober 1940 ist der jüdische Wohnbezirk errichtet wor-den, um die Juden von der arischen Umwelt zu isolierenund die Gefahr der Seuchenübertragung auszuschließen[...] Im Auftrage des Herrn Generalgouverneurs [...] werdendeshalb eine Reihe von Maßnahmen durchgeführt werden,die den Zweck haben, den jüdischen Wohnbezirk wirksa-mer als bisher gegen die Außenwelt abzuschließen. DieseMaßnahmen bestehen im Wesentlichen darin, die Grenzenauf den Straßen verlaufen zu lassen und das Gebiet des jüdischen Wohnbezirks so zu verändern, daß möglichstübersichtliche Grenzen entstehen [...]

Aus: Faschismus-Getto-Massenmord, S. 127

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Warschau im Zweiten Weltkrieg: Überblick

1. September 1939: Warschau: die größte jüdische Gemeinde Europas (ca. 375 000 Menschen)

2. Oktober 1939: Besetzung durch die deutsche Wehrmacht, Terror gegen die Bevölkerung

26. Oktober 1939: Einführung des Arbeitszwangs für Juden

23. November 1939: Kennzeichnung der jüdischen Bevölkerung und der jüdischen Geschäfte mit dem Davidsstern

28. November 1939: Einsetzung von Judenräten (Durchführung der Befehle deutscher Dienststellen)

24. Januar 1940: Anmeldung jüdischen Vermögens

26. Januar 1940: Verbot der Eisenbahnbenutzung für Juden

2. Oktober 1940: Errichtung des Ghettos

18. September 1941: Verkleinerung des Ghettos

ab 22. Juli 1942: Deportation des größten Teiles der jüdischen Bevölkerung nach Treblinka

19. April bis Aufstand im Ghetto, systema-19. Mai 1943: tische Zerstörung des

jüdischen Stadtteiles

1. August bis Warschauer Aufstand2. Oktober 1944

Materialien

Die Belegschaft der Firma Stockmar in den 30er Jahren

J. Gelbart (ganz links), Herr Stockmar (2. Reihe, 3. von rechts)

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Josef Gelbart Warschau, Mila 34/52, den 9. Mai 1941

Lieber Herr Stockmar,Ihren Brief habe ich erhalten u. mir darüber Gedanken ge-macht. Man denkt viel nach und grübelt in diesen Näch-ten.Wie glücklich waren wir beide, als heute das Päckcheneintraf. Und alles ohne Zoll! Meiner Mutter geht es garnicht gut. Aber wir verlieren die Hoffnung nicht, schon umderer willen, die von uns erwarten, daß wir es schaffen.Und das nächste Päckchen [...] Wenn Sie uns ein paarZwiebeln u. etwas Brot schicken können und vielleichtsonst eine Kleinigkeit, so ist das für uns die schönste Hil-fe. Bisher konnten wir immer noch ein Stück von unsererKleidung, das noch zu entbehren war, für den Unterhaltverkaufen. Nun ist die Grenze erreicht. Auch viele anderedecken so den Lebensunterhalt.Ich befinde mich auf einem Fleck der Erde, der zehntau-senden zum Schicksal geworden ist u. werden wird. Ichglaube, daß ich hier mehr gesehen und erlebt habe, alssonst Generationen beschieden ist. Es muß doch einenSinn haben, daß ich hier bin u. nicht anderswo, denn wennman sagen würde, daß alles sinnlos sei, was geschah u.geschehen wird, dann erst, erst dann gäbe es nur nocheins: die Verzweiflung!Mit den herzlichsten Grüßen Ihr Josef Gelbart.

Warschau, den 25. 10. 41

Lieber Herr Stockmar und Familie!In diesen Tagen ziehen 80 Tausend Menschen aus ande-ren Teilen dieses Viertels hierher, da dieses verkleinertwird.1 Es fällt ein nasser Schnee und es ist schon recht kalt[...]

Warschau, den 18. 11. 41[...] Das Zeug, das Sie sandten, das ist ja ein wahres Wert-stück und ich muß doch einige 400–500 Zl. dafür erzielen.Ich habe nun keine Ängste, um ein paar Zloty anzustehenund kann meine Mutter aufpäppeln. Sie muß schnell wie-der hoch, denn das Schicksal wartet nicht und ein grausi-ger Winter pocht an die Tür. Wir selbst leben in einemwahren Eissarg. Und da fehlen oft die elementarsten Din-ge Feuer, Wasser, Licht, da kann man schon deswegenverzweifeln. Ich wollte, ich könnte Ihnen einmal berichten,in welcher Verfassung uns die Päckchen fanden und wel-chen Mut wir schöpften aus diesem Nicht-verlassen-sein.Ich glaube manchmal, wir alle sehen den Frühling nicht.[...]

1 Die »Verkleinerung« des Ghettos (Gelbart spricht vom »Viertel«, nichtvom »Ghetto«) hat die Situation für die Eingesperrten weiter verschärft.Krankheit, Kälte, Dunkelheit, drohende Zwangsarbeit, menschliches Ab-geschnittensein und Todesahnungen treten hinzu. Mut erwächst alleinaus der geistig-materiellen Verbindung mit Hans Stockmar.

Warschau, den 24. 11. 41[...] Vergeblich suche ich in meiner Erinnerung, ob ich je-mals schon Wochen durchlebt habe, die so schwer warenwie diese. Meine Mutter ist völlig ausgebrannt vom Fieberund zum Skelett abgemagert. So liegt sie weiter in einemkahlen Zimmer, ohne Möbel, bei einem rauchenden Ofenund das Fenster ist gar nicht zu reparieren, denn dickeEiszapfen liegen immer auf der Fensterbank. DasSchlimmste, was geschehen könnte und was nicht seindarf, wäre, daß meine Mutter bettlägerig bleibt: dannwären wir beide verloren.Ich bitte Sie, im Dezember wieder einige Kerzen zu sen-den. Sie machen sich keinen Begriff, wie qualvoll es ist,auch noch die Elektrizität zu vermissen. Ich kann erst heu-te verstehen, wieso Finsternis zu den 10 Plagen gehört,die bei uns wahrlich vollzählig sind. [...]

Warschau, den 22. 12. 41[...] Und da ich mich gestern fotografieren ließ (der Anlaß:Registrierung zur Zwangsarbeit, muss nicht unbedingt er-freulich sein), so habe ich gleich einen Abzug machen las-sen, [...], damit Sie mich auf diese Weise einmal wieder vorAugen bekommen und behalten, auch posthum. Mit denherzlichsten Grüßen und vielen guten Wünschen

Ihr Jupp

Josef Gelbart Warschau, den 13. 4. 42Warschau Mila 34/52

Lieber Herr Stockmar![...] Sie können sich denken, daß ich im Seuchenspital 1 al-les andere gehabt habe, als die notwendig gewordenePflege, so daß ich das Spital verließ auf eigenen Wunsch,sobald sich die Entzündung gebessert hatte. Aber ich ver-ließ es als Skelett und mit einer leichten Halsentzündung.In den nun folgenden Tagen wuchs sich diese aus undbrachte mich an den Rand des Grabes. [...] Ich werde wie-der auf die Beine kommen, wenn sich die schweren äuße-ren Bedingungen legen.Ich kann Ihren Trost nicht nehmen, wenn ich sehe, wie wirbeide schuldlos – gewissermaßen aus ›Zufall‹, ausSchwäche und Kranksein der Vernichtung entgegenge-hen. – Aber ich will es immer und immer noch einmal ver-suchen, wie Sisyphus. Ich werde Ihren Rat brauchen,denn ich habe die Ruhe, von der Sie schreiben, daß sieFundament ist, schon lang verloren. Der Boden schwanktunter den Füßen, wie kann ich heute Stellung nehmen.Möchte aber mehr darüber wissen: Wie kann und soll manleben im Angesicht des Todes.Ich grüße Sie und Ihre Lieben aufs herzlichste und bitteSie, mir zu schreiben, ob ich noch hoffen soll.

Ihr Josef Gelbart.

1 »Seuchenspital« – Gelbart deutet damit die aufopfernd organisierte me-dizinische Versorgung im Ghetto durch jüdische Ärzte an. Vor allem abersieht sich Gelbart in der existentiellen Grenzsituation zwischen Lebenund Tod, ausgeliefert, wie Sisyphus, der Vergeblichkeit allen Tuns, gera-de im Ghetto.

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Warschau, den 4. 5. 1942

Mein lieber getreuer Chef, meineliebe Familie Stockmar![...] Dieser Winter ist über meineKraft gegangen. [...] Es ist schwer,gewissenhaft zu berichten, was imVergangenen geschehen ist. Manmüßte schon die Feder eines Do-stojewski führen. [...] Es ist ja nichtunmöglich, daß meine Hoffnungs-losigkeit ein Produkt des Über-standenen ist und Lebensangstvor dem Kommenden, aber ichglaube doch, daß der Typhus un-ser Leben zerbrochen hat.Ich müßte über so viel Faktorenberichten, über meinen Wirt (der indiesen Wochen sein letztes ver-kauft hat und doch mit seiner Fa-milie verhungern wird in den näch-sten Wochen), von Tante und On-kel, die beide in einer Schneider-werkstatt arbeiten!1 Sie besitzennur das, was sie auf dem Körpertragen, und obgleich sie fast 12Stunden auf Arbeit sind (Soldaten-kleidung etc.), reicht der Verdienstnicht auf genügend trockenen Brotes. An dem Spät-herbst-Tage, da meine Mutter abends von der Suppen-küche zurückkam mit den Worten: ›Du, Josef, ich glaube,ich habe Fieber‹, brach alles nieder. [...]

Warschau, den 7. 5. 42[...] Ich mache mir auch Sorgen um die kommenden Tage,denn ich glaube, daß diese entscheiden werden über Seinoder Nichtsein. Es ist möglich, daß ein Teil der Bevölke-rung Warschau wird verlassen müssen, man weiß zwarnoch nichts Sicheres, aber man hört oft, daß es sich umjenen handelt, der nach dem Kriege hierher kam. Wir bei-de sind ja schon 2–3 Monate vor Ausbruch des Kriegeshier gemeldet.[...]

Warschau, den 20. 5. 42 (die letzte Nachricht)[...] Im übrigen ist es gleichgültig, was Sie schicken. Nurziehen Sie Ihre Hand in diesen dunklen Stunden nichtzurück und verzeihen Sie, daß ich Ihnen so viel Umständebereite [...]. Lassen Sie mich recht bald von Ihnen hören,Seien Sie mir nicht böse und – nochmals – vertrauen SieIhrem

alten Jupp.

1 Mit dem Hinweis auf die »Schneiderwerkstatt« fällt ein Licht auf das wirt-schaftliche Leben im Ghetto. Die in den »Ghettoshops« (vgl. GhettoplanS. 28) mit Wehrmachtaufträgen beschäftigten und ausgebeuteten Judenund Jüdinnen genossen zunächst ein gewisses Maß an Sicherheit ge-genüber dem Terror der NS-Behörden. Die Ahnungen und Anzeichen derheraufziehenden Katastrophe (»Verlassen« = Deportation) aber verdich-ten sich.

Aus: Faschismus, Getto, Massenmord, S. 309

Das Plakat mit dem Aufruf soll den Widerstand gegen die »Um-siedlung« durch materielle und persönliche Anreize unwirksammachen. Brot in dieser Menge und Marmelade waren im Ghettokulinarische Kostbarkeiten.

Literatur

Browning, Christopher R.: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen. Rowohlt,Reinbek 1993.

Broszat, Martin: Nationalsozialistische Polenpolitik 1939– 1945(Fischer Bücherei). Frankfurt am Main 1965.

Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung dereuropäischen Juden (Deutsche Ausgabe hrsg. von EberhardJäckel/Peter Longerich/Julius H. Schoeps). Band I–III. Piper,München/Zürich 1995.

Es war einmal – Warschau im Herbst 1939, hrsg. von StefanRammler und Peter Steinbach. Neue Presse Fachverlag, Pas-sau 1995.

Faschismus – Getto – Massenmord. Dokumentation über Ausrot-tung und Widerstand der Juden in Polen während des ZweitenWeltkrieges, hrsg. vom Jüdischen Historischen Institut War-schau. Rütten & Loening, Berlin 2. Auflage 1961.

Kaplan, Chaim Aron: Buch der Agonie. Das Warschauer Tage-buch des Chaim A. Kaplan, hrsg. von I. Katsh. Insel Verlag,Frankfurt am Main 1967.

Plieninger, Konrad: »Ach, es ist alles ohne Ufer ...«. Briefe aus demWarschauer Ghetto. Jüdisches Museum Göppingen 1996.

Szarota, Tomasz: Warschau unter dem Hakenkreuz. Leben undAlltag im besetzten Warschau. 1. 10. 1939 bis 31. 7. 1944.Schöningh Verlag, Paderborn 1985.

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1. Polens Impulse für die Bildende Kunstdes 20. Jahrhunderts –oder die Freiheit der Kunst

Bilder besitzen – ähnlich wie Musik – die Eigenschaft,dass sie das Publikum im Ausland unmittelbar an-sprechen können, auch wenn sie äußerst verwickelteInhalte umfassen. Sie werden nämlich durch Sprach-barrieren nicht behindert.Krysztof Skubiszewski, polnischer Außenminister, Warschau1992, in einem Grußwort zur Ausstellung Polnische Avant-garde 1930–1990, in Berlin

Die Vorstellung dreier Künstlergenerationen soll deutlichmachen, dass sich in Polen seit den 20er Jahren unseresJahrhunderts eine eigenständige Kunst artikulierte, die mitder europäischen Avantgarde verbunden war und sie vorallem von den 50er Jahren an wesentlich beeinflusste.Die Künstler der ersten Generation leisteten einen ent-scheidenden Beitrag zur internationalen modernen Kunst.Władysław Strzemiński und Katarzyna Kobro ( )hatten in Moskau studiert und mit den russischen Kon-struktivisten, vor allem Kasimir Malevich ( ), zusam-mengearbeitet. Anfang der 20er Jahre siedelten sie in dasneue Polen über und entwickelten deren künstlerischeIdeen weiter in der Absicht, eine freie, sich selbst bestim-mende Kunst zu schaffen. Dabei schlossen sie sich immerwieder aufs Neue zu Gruppen aus Bildenden Künstlern,Architekten und Dichtern zusammen. Neben ihrer künstle-rischen Arbeit erläuterten sie ihre Theorien in den Zeit-schriften dieser Gruppen. Dort ließen sie auch westeu-ropäische Künstler zu Worte kommen, wie den italieni-schen futuristischen Dichter Marinetti und den Dadaistender ersten Stunde, Tristan Tzara. Nach Frankreich wurdensie zu Ausstellungen avantgardistischer Gruppen eingela-den, wurden deren Mitglieder und veröffentlichten auch inderen Zeitschriften (»Cercle et Carré«, »Abstraction-Créa-tion«).Anfang der 30er Jahre hatte Strzemi ski 111 Werke eu-ropäischer zeitgenössischer Avantgardekünstler zusam-mengetragen – u. a. von Hans Arp, Alexander Calder, MaxErnst, Pablo Picasso und Kurt Schwitters – die 1932 inŁodz als erste Sammlung moderner internationaler Kunstausgestellt wurden und zusammen mit den Werken derpolnischen Künstler den Grundstock des dortigen Mu-seums bildeten – eines der ersten der Welt für avantgar-distische Kunst, bis heute das einzige in Polen mit Kunstdes 20. Jahrhunderts.Der »Unismus«, der polnische Beitrag zum Konstruktivis-mus, war bahnbrechend. Durch die geschichtlichen Ereig-nisse wurde er erst in den 50er Jahren wiederentdeckt, alsamerikanische Künstler, wie Frank Stella und Jackson

Pollock, sich in ihrem eigenen künstlerischen Arbeiten be-stätigt fühlten.Einen etwas größeren Bekanntheitsgrad in Deutschlandund Westeuropa bewirkten Ausstellungen ab 1973; dietheoretischen Schriften der Künstler sind bis heute nochnicht vollständig ins Deutsche übersetzt.Magdalena Abakanowicz ( ) entwickelte ihre plasti-schen, aus textilen Materialien bestehenden Arbeiten inder Auseinandersetzung mit dem polnischen Konstrukti-vismus und in Kenntnis der internationalen Kunstszeneder 60er Jahre. Ihre gewebten Textilobjekte wirken durchdie Sprache des Materials. Diese bestimmt auch den Aus-druck ihrer figurativen Werke seit etwa 1970. In der Ver-wendung von Sackleinen, Sisal, Rosshaar, von Schnürenund Tauen geht sie einen völlig neuen Weg: Diese einfa-chen, natürlichen Materialien waren bis dahin noch nie fürein Kunstwerk verwendet worden. Frei von ideologischgebundenem Realismus dokumentiert sie auf internatio-nalen Ausstellungen ein damals unbekanntes Polen.Ein Blick auf den angewandten Bereich, die Plakatkunst,zeigt, dass hier polnische Kunst in den 60er Jahren stilbil-dend in Europa war. Beispielhaft sei hier Jan Lenica( ) genannt; Plakat, Zeichentrickfilm, Kinderbuchillust-ration und Cartoons sind sein Metier. Mitte der 80er Jahrespielen »Illustrationen« eine wichtige Rolle in der polni-schen Kunstszene. Ein weiterer Vertreter dieser Kunstformsei hier genannt: Mariusz Kruk ( ). Er vertrat die Kunstder Dingverfremdung – polnischer Beitrag in der europäi-schen Kunstszene auf der 9. documenta 1992 in Kassel imZeichen eines neuen Selbstbewusstseins und Selbstver-ständnisses polnischer Kunst.

Zu den Materialien

Władysław Strzemiński (1893 Minsk–1952 Łodz) undKatarzyna Kobro (1898 Moskau–1951 Łodz)

Władysław Strzemi ski ist im russisch-polnischen Minskgeboren, Katarzyna Kobro dagegen ist Russin. Sie lernensich kennen während ihres Kunststudiums in Moskau: deravantgardistische, revolutionäre Künstler Kasimir Male-vich (vgl. ) ist ihr Lehrer. Der Kommissar für Volksbil-dung Lunatscharskij stellte sich nach der Oktoberrevoluti-on von 1917 völlig hinter eine Kunstauffassung, die sichvon der Gegenständlichkeit befreit hatte. Diese ›linkeKunst‹ galt als Stil der Revolution. Malevich wurde des-wegen 1917 an die Staatliche Kunstschule in Moskau be-rufen und zum Mitglied der Abteilung für bildende Kunstim Volkskommissariat ernannt. 1919 ging er nach Wi-tebsk. Gegenstand seiner Lehre war der »Suprematismus– die gegenstandslose Welt oder das befreite Nichts«. Su-prematie, das ist für ihn die Überzeugung von der überge-ordneten Selbstbestimmtheit und Kreativität des Künst-

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III. Polen und Europa – Beispiele aus Kunst, Musik und Literatur

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lers. Diese Lehre geriet zunehmend in den Gegensatz zumdialektischen Materialismus Lenins.Auf dem 10. Parteitag in Moskau (8.–16. März 1919) ver-kündet Lenin die »Neue Ökonomische Politik«. Die bilden-de Kunst wird auf die Vorstellungen des traditionellenRealismus verpflichtet, bekannt unter dem Begriff Sozia-listischer Realismus. Damit wächst in der Folge der politi-sche Druck auf die avantgardistischen Künstler.1920 werden Strzemi ski und Kobro Mitglied der Künst-lergruppe »Unowis« (Neue Formen der Kunst), in der die Bedeutung der Architektur für die Bewegung eines revo-lutionären, zukunftsorientierten Bauens reklamiert wird (vgl. ).1922 verlassen Strzemi ski und Kobro, die 1920 geheira-tet hatten, Russland und lassen sich in Warschau nieder.Malevich geht an das »Institut für künstlerische Kultur« inPetrograd; als 1929 Lunatscharskij seinen Posten verliert,wird das Institut aufgelöst; Malevich gehört von da ab zuden bekämpften formalistischen Künstlern, 1935 stirbt er.Katarzyna Kobro wird 1924 polnische Staatsbürgerin. Imgleichen Jahr sind sie und Strzemi ski Mitbegründer derGruppe »Blok« in Warschau. Diese sieht sich als Vermittlerder Theorien Malevichs und als deren Weiterentwickler, in-dem sie seinen gesellschaftlichen utopischen Anspruchdes Supremats des Künstlers auf die Autonomie desKunstwerks überträgt. Nur dann sei die wirklich autonomeExistenz des Kunstwerks gewährleistet, wenn es sichselbst genügt und keine Rechtfertigung in Werten sucht,die außerhalb des Bildes liegen. Es soll keinerlei abbilden-de Funktion haben. Die Prinzipien, nach denen ein Kunst-werk zu schaffen ist, sind demzufolge in seiner Struktur zufinden, in seinen Kompositionsgesetzen. Das Kunstwerkist damit eine gleichwertige Einheit neben anderen Orga-nismen in der Welt. Diese Gedanken formuliertStrzemi ski 1924 in der gleichnamigen Zeitschrift »Blok«.Er arbeitet an einer Theorie der Malerei »Unismus in derMalerei« (erschienen 1928), die von Katarzyna Kobro dannweiterentwickelt wird zu einer Theorie über skulpturaleund architektonische Form ( ). Was sich in diesenTheorien, Bildern und Skulpturen zeigt (vgl. Abbildungen‘Raumkomposition 4’, ‘Architekturale Komposition 13 c’;Text ), ist die rigorose Beschränkung auf die gestalte-rischen Mittel: sie sind es, die die Einheit des Kunstwerksgarantieren und seine Qualität markieren. Zugleich wird indieser formalen Beschränkung ein Grund gelegt für dieKunst der Nachkriegszeit, die sich mit Strukturen undGestaltungsprinzipien beschäftigt, eben mit der Autono-mie der bildnerischen Mittel. Es ist die Forderung nach derEigengesetzlichkeit der künstlerischen Arbeitsweise, aufihr fußt die nicht-figurative wie die konzeptuelle Kunst.

Magdalena Abakanowicz wird 1930 auf einem Gut beiWarschau geboren und wächst sehr naturverbunden auf;sie wird aber durch Erlebnisse des Krieges und der Fluchtnach Warschau wesentlich geprägt. Von den während desAkademiestudiums (1950–55) erlernten Regeln wendet siesich bald ab. 1960 wird ihre erste Einzelausstellung schonvor der Eröffnung geschlossen, wegen der Abweichungvon der offiziellen künstlerischen Linie. Im gleichen Jahrnimmt sie zum ersten Mal an der Biennale der Tapisserie inLausanne teil und von da ab an zahlreichen internationa-len Ausstellungen. Ab 1965 lehrt sie an der Staatlichen

Kunsthochschule in Poznan, 1965 erhält sie den erstenPreis des polnischen Kultusministeriums und die Goldme-daille der polnischen Künstlervereinigung, in Sao Paulodie Goldmedaille der 8. Biennale der Weltkunst. Seit 1974formt Abakanowicz aus Sackleinen und Leim Figurentorsiund fügt aus vielen gleichartigen, wenn auch nicht identi-schen Figuren Gruppen zusammen, die an kollektive Ver-haltensmuster erinnern ( : Menschenmenge IV). Dasgrobe Material, die grob scheinende Ausformung der Kör-perteile und die elementare Haltung der Gestalten strahlenexpressive Energie aus. In der Inszenierung der Masseverliert sich die Individualität jedes kopf- und eigen-schaftslosen Einzelwesens. In der Wiederholung undgleichförmigen Reihung wirkt die Masse eindrücklich, be-drängend, bedrohlich.

Die Kunst des Jan Lenica ist heute in Polen, Deutschland,Schweiz und Frankreich gleichermaßen bekannt. 1979hatte er eine Professur für Zeichentrickfilm an der Ge-samthochschule in Kassel übernommen, 1986–1994 warer Professor im Fachbereich visuelle Kommunikation ander Berliner Hochschule der Künste. Heute lebt er in Ber-lin. Lenicas Plakatkunst (vgl. ) baut auf der eigenstän-digen, ausdrucksstarken Wirkung der Formen und Farbenauf, stellt diese andererseits in klaren Bezug zu einer in-haltlichen Botschaft.

Mariusz Kruk, 1952 in Posen geboren, ist heute Profes-sor an der dortigen Kunstakademie. 1982 begann er mitseiner Objektarbeit: Entwürfe von Riesenstühlen, auf de-nen Erwachsene sich wie Kinder vorkommen. Seit 1983beteiligt er sich an Gruppenausstellungen in Europa undÜbersee.In seiner Installation »Not quite at home« (1991 – )verfremdet er das alltägliche Möbelstück, einen ganz nor-malen Kleiderschrank aus seinem Besitz, und reduziertseinen Inhalt auf einen roten Kinderpullover aus seinemFreundeskreis. Nach seinem Verständnis tragen beideDinge Spuren ihrer Eigentümer; in ihnen sind die Informa-tionen aus dem Leben der mit ihnen zusammenlebendenMenschen gleichsam unsichtbar gesammelt. Diese Ge-schichten und Erlebnisse öffnen sich nach außen; sie be-ginnen sozusagen zu sprechen – die Sprache des Materi-als auch hier, wenn auch in einem gewandelten Verständ-nis: persönliches Mobiliar und ein privates Kleidungs-stück, dazu das Weiß des Kleiderschranks und das Rotdes Kinderpullovers. Vielleicht ist es nur ein Zufall, dassdiese beiden Farben die Flaggenfarben Polens sind? Viel-leicht auch Zufall, dass der am Boden liegende Pullover inseiner Form an den polnischen Adler erinnert? Vielleichtdoch nicht, denn in Kruks Kunstdingen steckt das Leben –Wahrnehmungsanstöße sind für ihn Denkanstöße.

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Materialien

Kasimir Malevich und das Primat des Gegenstandslosen

Februar 1922, WitebskEs ist notwendig, das Bewusstsein der Durchschnitts-menschheit zu reformieren, Kunst und Wissenschaft vonden Fesseln der Nützlichkeitserwägungen zu befreien. DieMalerei hat sich allerdings schon von dem Druck der Ge-genständlichkeit befreit. [...] Gegen die fiktive, vor-getäuschte Wirklichkeit ist als erste die Kunst aufgestan-den und hat mit ihren Werken das Trügerische aller Vor-stellungen bewiesen: Auf der Malfläche war kein einzigerGegenstand körperlich festzustellen.

Kasimir Malevich: Suprematismus Teil I: Suprematismus als reineErkenntnis. In: Kasimir Malevich: Suprematismus – Die gegen-standslose Welt, Verlag M. DuMont Schauberg Köln, 1962, S.188, 189

Petrograd, März 1923 Alles »Nichts« hat sich gegen alles »Etwas« erhoben. Wasein »Nichts« war, wird zum »Alles«, und alle »Etwas« habensich in »Nichts« verwandelt und bleiben »Nichts«. Dochdieses »Nichts« hat sich nicht deshalb erhoben, um Gene-ral, Polizist, Kaiser oder Buchhalter zu werden, sonderneinzig und allein um alle »Etwas« zu stürzen.

Kasimir Malevich: Suprematismus I, S. 278

»Unowis«; Leningrad, den 2. Mai 1924:Heute lehnt der Verbraucher noch alles Neue ab und be-zeichnet es als Utopie oder Abstraktion. Er sieht im Neuennichts praktisch Verwertbares und begrüßt freudig jedenVersuch, das Alte wieder zu beleben. Übermächtig ist derHang des Menschen zum Althergebrachten.[...] Alles, was noch dem Gestern angehört, ist eklektisch:der Karren, der primitive Pflug, das Pferd, die Heimarbeit,die Landschaftsmalerei, die Freiheitsstatuen, Triumphbo-gen, Fabrikessen und vor allem – die Gebäude im antikenStil. [...]Darum lehnen wir es ab, antike Tempel, die sowohl denHeiden als auch den Christen genügten, nun auch alsKlubhaus oder als »Haus der Kultur« für das Proletariatanzuerkennen, auch dann, wenn diese Tempel nach denFührern der Revolution benannt und mit deren Bildern ge-schmückt werden sollten! [...]

Der Suprematismus verlegt den Schwerpunkt seines Wir-kens an die Front der Architektur und ruft alle revolu-tionären Architekten auf, sich ihm anzuschließen.

Kasimir Malevich: Suprematistisches Manifest Unowis. In: KasimirMalevich: Suprematismus, S. 283, 284 f., 286

Strzeminski und Kobro und die Forderung derEinheit von Form und Inhalt

Aus der Theorie über unistische Bilder und Skulpturen,Warschau, 1931Ort, an dem ein Bild entsteht, ist eine zweidimensionaleLeinwandebene, begrenzt vom Viereck ihres Rahmens. Andieser begrenzten, von der Umgebung getrennten und insich geschlossenen Bildfläche muss der Künstler dieKomposition so gestalten, dass sie eine organische Ein-heit bildet, die ihrerseits einzelne Bildelemente mit seinerFläche und seiner Grenze verbindet. Es entsteht eine fla-che, optische, durch einen Rahmen von der Umgebunggetrennte Einheit. [...]Die Skulptur ist ein Teil des Raumes, der sie umgibt. Daseine darf vom anderen nicht getrennt werden. Die Skulpturdringt in den Raum und der Raum in die Skulptur ein. [...]Eine Skulptur besitzt keine natürlichen Grenzen, und dasmacht ihre Verbindung mit der Unendlichkeit des Raumeserforderlich. Aus der Hauptforderung der unistischenTheorie, nämlich der Einheit dessen, was entstand, mitdem, was vor der Entstehung des Kunstwerkes da war, re-sultiert der Charakter einer plastischen Raumeinheit. EineSkulptur, die in einem unbegrenzten Raum entsteht, solleine Einheit mit der Unendlichkeit des Raumes bilden. [...]

Aus: Jürgen Schilling (Hrsg.): Wille zur Form, Wien, Hochschulefür angewandte Kunst. Wien, 1993, S. 96, 103

Aus der Theorie des Sehens (posthum, 1958)Was war der Unismus? Der Verzicht auf jegliche Sinnes-täuschung auf einem Bild. Ein Rechteck bemalter Lein-wand erzeugte keinerlei Assoziationen mit irgendeinemObjekt in der Realität, nicht eine der Formen stach hervor,hob sich weder von der Fläche oder einer anderen Form,noch vom Rahmen des Bildes ab.

Aus: Jürgen Schilling (Hrsg.), Wille zur Form, S. 102

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W‡adys‡awStrzemiński:ArchitekturaleKomposition13 c, 1929, Öl auf Leinwand96�60 cm Muzeum Sztuki,Łodz

Karatzyna Kobro: Raum-Komposition 4, 1929, Stahl, farbig gefaßt40�64�40 cm, Muzeum Sztuki, Łodz

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Mariusz Kruk:»Not quite athome«, 1991(Installationaus Schrankund Pulloverauf der doku-menta IX in Kassel)

Abb. u. © Muzeumvan Heden-daagse Kunst,Gent

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Jan Lenica:Oder/Odra

Aus: DIALOGNr. 2/Okt. 1996,Rückseite

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Magdalena Abakanowicz: »Menschenmenge IV« (14 lebensgroße Skulpturen aus Juteleinen und Harz 1989/90)Muzeum Narodowe Wrocław/Breslau, © VG Bild–Kunst, Bonn 1998

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2. Ein zeitgenössischer Komponist: Krzysztof Meyer

Konzert für Altsaxophon und Streichorchester, Op.79

WerkauswahlPolens Beitrag zur neuzeitlichen Musik in Europa istbeträchtlich. Die Aufgabe, diesen mittels eines einzigenKomponisten zu belegen, bereitet die viel zitierte Qual derWahl. Stellt sich nun gar die Aufgabe, den einmal gewähl-ten Komponisten mit einem einzigen Werk vorzustellen,dann ist auch der Fachmann ziemlich ratlos. Von derSchwierigkeit, Musik nur verbal und nicht gleichzeitig au-ditiv vermitteln zu müssen, ganz zu schweigen.Wie also vorgehen? Selbstverständlich könnte die Wahlauf Penderecki und seine nach 1945 wirkenden und in derMusikliteratur bereits ausreichend beschriebenen polni-schen Zeitgenossen (siehe Kasten) fallen. Also auf einender Komponisten, mit denen wir 1956 die Einrichtung des»Warschauer Herbstes« verbinden, ein Festival neuzeitli-cher Musik, etwa vergleichbar mit den alljährlich stattfin-denden »Tagen für neue Musik« in Donaueschingen.

Danuta Gwizdalanka, die Frau von Krzysztof Meyer, be-richtet: »Im Bereich des künstlerischen Schaffens herrsch-te künstlerische Freiheit, und der Warschauer Herbst warder eindrucksvollste Beleg dafür; er wurde als Brücke zwi-schen dem Osten und dem Westen, als Schaufenster derpolnischen, ja sogar der gesamten mittel- und osteuropäi-schen neuen Musik bezeichnet. Gleichzeitig hat er denZuhörern eben dieses Teils Europas die interessantestenWerke der Welt-Avantgarde präsentiert.«1

Bleibt anzumerken, dass zwischen 1945 und 1956 Festi-vals neuzeitlicher Musik abgehalten wurden, auf denenaber ausschließlich polnische Komponisten vertreten wa-ren. Bereits in den sechziger Jahren sind die Polen in denProgrammen von Darmstadt und Donaueschingen vertre-ten. Alles spräche also dafür, aus dieser Generation vonKomponisten auszuwählen, wenn seitdem nicht jüngere,

der Schülergeneration zuzurechnende Namen hervorge-treten wären.Zu ihnen gehört Krzysztof Meyer. Heute ist er insbeson-dere in Polen mit einer Vielzahl von Werken bekannt undauch ausreichend auf Schallplatten und CD eingespielt.Die Suche nach einer Studienpartitur, die auch für dennicht geübten Partiturleser Übersichtlichkeit gewährleis-tet, ließ bei der Werkauswahl zunächst an Kammermusikdenken. Eine sinfonische Form oder ein Konzert sprächenjedoch einen größeren Zuhörerkreis an. Die im Herbst1996 in Donaueschingen aufliegende Partitur des Saxo-phonkonzerts entsprach ganz den oben genannten Vor-stellungen. Biographie und Werkverzeichnis lagen in einerBroschüre des Hamburger Sikorski-Verlags ebenfalls vor.Was lag näher, als mit dem Komponisten direkten Kontaktaufzunehmen? Dieser stellte bereitwillig das Cassetten-band der Uraufführung zur Verfügung und war sofort zu ei-ner persönlichen Begegnung bereit.Zur Entstehungsgeschichte seiner Komposition gab derKomponist folgende Einzelheiten preis: Sein Freund, derAmerikaner John Edward Kelly, erbat von ihm eine Kom-position für Saxophonquartett. Meyer dagegen wollte dieReihe seiner Bläserkonzerte vervollständigen. Als Auf-tragskomposition des Süddeutschen Rundfunks wurdedas Saxophonkonzert vom Widmungsträger J.E. Kelly am12. Januar 1994 mit dem Südfunkorchester unter HeinrichSchiff uraufgeführt.Entgegen manchen Frühwerken, denen der Komponistmittlerweile in gewisser Distanz gegenüberstehe, habedieses Konzert für ihn immer noch den ursprünglich zuge-messenen Rang. Diese Äußerung und das weit verbreiteteSaxophonspiel wurden ausschlaggebend für die Beispiel-wahl und die Vorstellung im Rahmen dieses Heftes. Weilman mit dem Saxophon in erster Linie Jazzmusik assozi-iert, fasziniert das ausgewählte Werk mit seinen geradedem Jazz entgegengestellten, technischen und klangli-chen Möglichkeiten des Saxophonspiels.

BiographieZur Biographie des Komponisten ist zu erfahren: DerName Meyer ist auf österreichische Vorfahren zurückzu-führen, die im 19. Jahrhundert noch im mährischen Raumansässig waren. Krzysztof Meyer wurde 1943 in Krakaugeboren. Mit fünf Jahren lernte er Klavier spielen und be-kam 1954 Theorie- und Kompositionsunterricht bei Sta-nisław Wiechowicz. Nach Absolvierung des Gymnasiumsbeendete er an der Musikhochschule Krakau, inzwischendurch Penderecki unterrichtet, die Studiengänge Kompo-sition (1965) und Musiktheorie (1966) mit Auszeichnung.Weitere Studien führten ihn zu Nadia Boulanger nachFrankreich. Meyer trat auch als Pianist des Ensembles fürzeitgenössische Musik und als Solist eigener Werke auf.Er gewann verschiedene Komponistenwettbewerbe. Diewichtigsten polnischen seien genannt:Fitelberg – Kompositionswettbewerb (1968)Artur-Malawski-Wettbewerb (1972)Karol-Szymanowski-Wettbewerb (1974).Beiträge verschiedener Artikel zur zeitgenössischen Musikmachten ihn als Musiktheoretiker bekannt. Die erste polni-sche Monographie zu Leben und Werk von Dmitri Scho-stakowitsch hat er 1973 in Krakau herausgegeben. (dt.1995). Dozent für musiktheoretische Fächer und Prorektor

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1956 Warschauer Herbst, Einrichtung eines Fo-rums zur Vorführung neuzeitlicher Kompositionenauf internationaler Ebene.

1957 Einrichtung eines Elektronischen Studios am Warschauer Rundfunk.

Komponisten:

Tadeusz Baird (1928–1981)Kazimierz Serocki (1922–1981)Witold Lutosławski (1913–1994)Krzysztof Penderecki (*1933)Włodzimierz Kotonski (*1925)Henryk, Mikołaj Górecki (*1933)

Schüler von Wiechowicz und Penderecki:Krzysztof Meyer (*1943)

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der Musikakademie Krakau von 1972–75, danach Lehr-stuhlinhaber bis 1987, seit 1987 Professor an der Musik-hochschule in Köln (Komposition und Musiktheorie).Penderecki komponierte 1966 (Millenium der Christiani-sierung Polens) seine Lukaspassion als Auftragskomposi-tion des Westdeutschen Rundfunks in Köln. Diese Arbeitempfanden die Polen als eine Stellungnahme desKomponisten im Konflikt zwischen Staat und Kirche. DerBesuch von Nadia Boulanger in Krakau bot KrzysztofMeyer die Gelegenheit, sie um Begutachtung einer Kla-viersonate zu bitten, woraufhin sie beim polnischen Staatein Stipendium für ihn erwirkte. Es folgten die erwähntenKompositions- und Lehrtätigkeiten.

Das KonzertHören und hörendes Analysieren neuzeitlicher Werke derMusikliteratur haben ganz unterschiedliche Ansatzpunkte.Mitunter sind aus früheren Epochen bekannte formaleoder klangliche Elemente zu registrieren. Auch die Fragenach Zuordnung zu einem Stil oder einer Strömung in der»Neuen Musik« kann sich stellen. Erwartungen dieser Artwerden bei Meyers Saxophonkonzert nicht erfüllt. Es hatzwei Sätze mit den Bezeichnungen »quieto« (»ruhig«) und»inquieto« (»unruhig«), die auf unterschiedliche Tempi,aber auch auf unterschiedliche Charaktere hinweisen.Eine weitere, eher äußerliche Feststellung zum Aufbau desWerks ist die Gliederung der Sätze in Abschnitte.Beispiel / I. Satz:2

1) Introduktion bis zum Soloeinsatz (Ziffern 1–4)

2) Erster Soloeinsatz und Solorezitativ (Zi. 4–7)3) Orchestertutti (Zi. 7–8)4) Zweites Solo (Zi. 8–9)5) Orchestertutti (Zi. 9–11)6) Drittes Solo (Zi. 11–17)7) Schlußteil – Epilog (Zi. 17–19)Ähnlich ließe sich auch der zweite Satz aufteilen.Die über beide Sätze fortlaufende Bezifferung besagt je-doch, dass beide Sätze als eine durch eine Generalpausegetrennte Einheit zu betrachten sind. Dynamisch sind sieunterschiedlich beschlossen. Satz I endet im dreifachenpiano, Satz II im vierfachen forte. Die Satzanfänge sindebenfalls dynamisch unterschiedlich: Satz I – dreifachespiano, Satz II – im vierfachen forte. In Satz I beginnen dieStreicher (Kontrabass und Violinen I) eine intervallischstrukturierte Melodielinie aufzubauen. Dagegen beginntder zweite Satz mit einer Klangfläche (Cluster-Klangtrau-be) des ganzen Streicherorchesters. Der Solist beendetden ersten Satz in der Mittellage, den zweiten in extremerHöhe (– Aufschrei). Bleibt noch anzumerken, dass inner-halb des zweiten Satzes die Tempi wechseln. Diese kom-positorischen Elemente unterstreichen das »inquieto« des2. Satzes. Die vom Komponisten vorgeschriebene Spie-leranzahl des Kammerorchesters ist verbindlich, da außerdem Kontrabass alle Streicherstimmen geteilt, also quasisolistisch eingesetzt werden – Verfahren also, wie man sieetwa aus dem Werk György Ligetis kennt. An wenigen Bei-spielen, die für weitere Vertiefung offen und neugierig ma-chen sollen, soll die Komposition vorgestellt werden.

37

Satz I

© Musikverlag Hans Sikorski, Hamburg

(alle Partiturauszüge).

Zu Beginn des Konzerts erschließt die Violine I überdem Orgelpunkt c (gehaltener Ton) des Kontrabassesim sanften pianissimo (»pp – soave«) zögernd den Inter-vallraum von der kleinen Sekunde (d1-es1) bis zur klei-nen Sexte (b1). Die Melodie erfolgt zunächst bruch-stückartig (Zwei- und Dreitonmotive, viele Pausen), fas-st jedoch immer mehr Tritt im Sinne einer melodischenLinie. Der Auflösung des Orgelpunkts (gehal-

tener Kontrabasston) folgen bei Auffüllung durch dieanderen Streicherstimmen komplementärrhythmische,kontrapunktisch angeordnete melodische Linien. DerSatz bleibt bis zum Soloeinsatz durchsichtig; die Phra-senschlüsse sind fein »dissonant« getrübt, wenngleichauch tonale Zusammenklänge hörbar werden. Einebreiter angelegte, in Triolengängen fallende Melodie istdann dem Solopart zugeteilt.

M 1

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Satz I

Das Saxophon über-nimmt den Ton g2von der Violine I, denes über vier Takteaushält. Die Melodieist durch fallendeQuarten und Tritoni(übermäßige Quar-ten) geprägt. Die Be-gleitung (Zi. 5) zeigtin der Gleichzeitig-keit von Triolen undQuintolen eine poly-rhythmische Anord-nung der Pizzicati

M 2

Satz I

Beispiel Zi 7: Violinen I, geteilt in 5 Einzelstimmen(hier nur Stimmen 1–3 abgelichtet)

Das Tuttibeispiel (hier nur Violine I abgebildet) stellt sich bei-nahe als »seriell« organisierter, geräuschhafter Klang dar.Zweiunddreißigstel in Zwölftolen werden mit solchen in Ach-tergruppen kombiniert. Die Intervallabstände unter den Stim-men sind reine Quarte und Tritonus.

M 3

Satz II

Der zweite Satz wird mit einemhomorhythmischen Cluster(Klangtraube der Töne a-b-h-c-d-es-e) eröffnet, der die Wir-kung eines rhythmischen Impul-ses hat; er bleibt nach zwei Tak-ten als anders zusammenge-setzte Klangfläche stehen. Vio-loncello und Kontrabass haltenjetzt den Ton as; der Ton c fehltganz.Diese Klangimpulse kehren indiesem Satz mehrfach (verkürztbzw. verlängert) wieder. Ein be-sonderes pizzicato (alla Bartók)wird den Streichern abverlangt.Es wird nach oben weggezupft,so daß ein Aufschlagen der Sai-te auf das Griffbrett hörbar wird.Dazu kommen Spielfiguren desSolisten in Quintolen, die durchTransposition oder Umstellungeinzelner Töne bzw. der Anfän-ge oder Schlüsse der Figureneine Metamorphose erfahren.Später nehmen die Streicherdie Quintolen auf (Zi. 29), die,nur mit einer Wechselnote ge-spielt, flächiger wirken.

M 4

der fünffach geteilten ersten Violine. Im Zusammenklang ergeben sich Tritoni- und Sekundreibungen im decrescendomit geräuschhaftem Charakter. Der Saxophonpart durchschreitet einen großen Tonraum (g2-d).

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Satz II

Als besondere Spielart ist dem Sa-xophon ein pizzicato (Zi. 39) vorge-geben, durch »pz« oder einem »+«über den Noten gekennzeichnet.Der Tonansatz macht dabei eine ArtSchlag hörbar.Nach breit angelegter Melodielinieund Zweitonmotiven im Soloinstru-ment, die stimmungsmäßig an denAnfang des ersten Satzes erinnern,wirkt das folgende Tempo I mit er-neut auftretenden Quintolen wieeine Coda. Das Soloinstrument er-klimmt, ins vierfache forte geführt,schließlich ohne Orchesterbeglei-tung seine gerade noch spielbarenSpitzentöne.

M 6

Satz II

Die Quintolen werden Begleitung zusprunghaften Saxophonmotiven, die– bis auf das Ende – fast das ganzePoco meno mosso dieses Satzesdurchziehen.

M 5

AnmerkungenIch danke dem Komponisten, Professor Krzysztof Meyer für das persönli-che und freundschaftliche Gespräch. Es lieferte mir wichtige Informationenund Anregungen für diesen Beitrag.Herrn Prof. Dr. Dr. Volker Kalisch (Düsseldorf) habe ich zu danken für seineVermittlung und seine Information über das von ihm durchgeführte interna-tionale Symposium »Warschauer Herbst und Neue polnische Musik« (Ok-tober 1996). Nicht zuletzt gilt mein Dank auch dem Solisten und Wid-mungsträger des Konzerts, Herrn John E. Kelly.

1 Gwizdalanka, Danuta: »Politische Aspekte des Warschauer Herbstes undder polnischen Musik«. Unveröffentlichtes Referat, Düsseldorf Okt. 1996

2 Die Ziffern beziehen sich in allen Fällen auf die verwendete Partitur, Sikor-ski 1596, Hamburg

Literaturhinweise

Lissa, Zofia: Artikel »Polen« in: Blume, Friedrich: » Die Mu-sik in Geschichte und Gegenwart« (MGG). Bärenreiter,Kassel 1989

Schwinger, Wolfram: »Penderecki«, Begegnungen, Le-bensdaten, Werkkommentare. DVA, Stuttgart 1979

Meyer, Krzysztof: »Konzert für Altsaxophon und Streich-orchester, op. 79« Partitur Nr. 1596. Sikorski, Hamburg1995

Genug der Beispiele! Was ist die Idee dieser Musik, dasFesselnde an ihr? Sie verbreitet Ruhe und Konzentration.Sie beginnt mit großem Ernst und hört, nach dramatischen,aber gezügelt dramatischen Teilen mit großem Ernst wiederauf. Und was hinzukommt: Die neuzeitliche Klanggestaltung

lässt dennoch traditionelle Formgestaltung und in seinerkontrapunktischen Arbeit solides kompositorisches Hand-werk erkennen. Bleibt zu hoffen, dass das Konzert bald aufCD eingespielt wird.

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3. Polnische Literatur im Überblick

Die polnische Literatur ist in Deutschland relativ wenig be-kannt. Warum hat sie es so schwer, den Weg zum deut-schen Leser zu finden? Einen wichtigen Grund nennt derSlawist Wolfgang Lettenbauer: »Ihre Stärke – das Verbun-densein mit dem nationalen Schicksal – ist zugleich auchihre Schwäche, ist eine Barriere um außerhalb Polens re-zipiert und verstanden zu werden.«Die Anfänge der polnischen Literatur gehen auf das15. Jahrhundert zurück, als Polnisch das Lateinische alsLiteratursprache des Landes allmählich verdrängte.Die polnische Literatur war stets mehr als nur Literatur.Stärker als anderswo nahm sie politische Funktionenwahr. Der Schriftsteller nahm seit je eine besondere Stel-lung in der Gesellschaft ein. Von überragender Bedeutungin der polnischen Literaturgeschichte ist die Epoche derRomantik, als es nach der dritten Teilung Polens keinenpolnischen Staat mehr gab. Jetzt wurden die Dichter stell-vertretend für den fehlenden eigenen Staat zur »Seelen-regierung« der zerstückelten Nation. Seit der Romantiknennt man die Literaten »Seher und Propheten« – und ver-ehrt sie entsprechend.Als größte Dichter dieser Epoche gelten Adam Mickiewicz(1798–1855), Juliusz Słowacki (1809–1849), Zygmunt Kra-sinski (1812–1859). Kennzeichnend für diese Zeit wieauch für spätere Epochen ist die Tatsache, dass ein Groß-teil der Literatur in der Emigration entstand.

»Welcher ist im Augenblick der erste, wichtigste, le-bendigste Wunsch der Völker? Wir zögern nicht zusagen, daß es der Wunsch nach Verständigung, Ver-einigung, nach Zusammenschluß der Interessen ist.... In der Tat, kann es etwas Schändlicheres gebenals jenes alte Vorurteil, daß eine von der Hand derKönige quer durchs Land, oft durch eine Stadt gezo-gene Linie die Bewohner, sogar Verwandte, inLandsleute und Freunde, in natürliche Feinde tren-nen darf? Es kommt hinzu, daß jeder Europäer, dervon einem Ort in einen anderen zieht, nicht nur allepolitischen und zivilen Rechte einbüßt, sondernauch, im Voraus der Verbrechen verdächtigt, sich

mit Kennzeichen und Zeugnissen ausstatten muß.Die Gewohnheit hatte viele sonst anständige Men-schen gefühllos gemacht ...«

Adam Mickiewicz: Vom Streben der Völker Europas. In:Pielgrzym Polski, 24. 4. 1833, dt. in: Adam Mickiewicz:Dichtung und Prosa. Ein Lesebuch von Karl Dedecius.Suhrkamp, Frankfurt 1994 (Polnische Bibliothek)

Nach der Niederschlagung des Januaraufstands von 1863entwickelte sich als Gegenströmung zur Romantik derpolnische Positivismus (Realismus), mit Autoren wie Ale-xander Swiętochowski (1849–1938) und Bolesław Prus(1847–1912). Sie wandten sich gegen die Aufstandsmen-talität und wollten durch »organische Arbeit« die staatlicheWiedergeburt voranbringen.Die romantische Strömung blieb freilich virulent und wur-de im »Jungen Polen« um die Jahrhundertwende wiederaufgegriffen. Die Zeit nach der Wiedererlangung eines ei-genen Staates nach dem Ersten Weltkrieg war wie imübrigen Europa auch in Polen die Zeit der Avantgarden.Doch die Jahre der Freiheit und Souveränität waren zukurz, als dass sich die Literatur von ihrer nationalen Inan-spruchnahme hätte befreien können.Die Zweite Weltkrieg mit dem deutschen und später demsowjetischen Überfall auf Polen bewirkte eine Hin-wendung zur romantischen Tradition. Junge Poeten wie Krzysztof Baczynski (1921–1944) publizierten ihre Ge-dichte in Untergrundzeitschriften, viele von ihnen starbenmit der Waffe in der Hand im Warschauer Aufstand von1944.

Krzysztof Kamil Baczyński (1944):

Elegie von ... [einem polnischen Jungen]

Sie trennten dich von Träumen, Sohn, die wie ein Falter zittern, Sie malten eine Landschaft dir aus Bränden und Gewittern, Sie strickten feuchte Augen dir, mein Sohn, die rot verbluten, Und säumten mit Gehängten dir den Fluss der grünen Fluten.

Sie prägten dir die Heimat ein, mein Sohn, mit toten Schritten,Das Eisen deiner Tränen hat sich Wege ausgeschnitten,Sie zogen dich im Dunkel groß mit Angst, die alle aßen,Und du gingst blind die unwürdigste aller Menschenstraßen.

Du tratst, die schwarze Waffe in der Hand, mein Sohn ins Dunkelund hörtest, wie Minutenschläge dir das Böse unken.Und deine Hand bekreuzte noch die Welt, bevor sie sank.War es die Kugel, war’s das Herz, mein Sohn, was da zersprang?

© 1996 by Ammann Verlag Zürich (s. S. 42: Anmerkung)

Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs beginnt dieSuche nach neuen Formen, der Versuch, die Katastrophezu verarbeiten. Zu nennen ist hier etwa Tadeusz Różewicz(1921). Der sozialistische Realismus konnte in Polen nurAnfang der 50er Jahre Fuß fassen. Mit dem Tauwetter von1956 befreite sich die polnische Literatur von diesem Kor-sett und erhielt einen gewaltigen kreativen Schub. Zbig-niew Herbert (1924–98) und Wisława Szymborska (1923)konnten in dieser Phase ihr Talent entfalten.

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Adam Mickiewicz (Auf dem Judah-Felsen).Porträt von WalentyWankowicz, 1828. Warschau, National-museum. Foto Nationalmuseumin Warschau

Aus: Bogdan Suchodolski:Geschichte der polnischen Kultur.Verlag Interpress. Warschau 1986, Abb. Nr. 253; © Muzeum Narodowe w Warszawie

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Tadeusz Różewicz (1956):

Lasst uns

Vergesst unsund unsere generationlebt wie menschenvergesst unswir beneideten pflanzen und steinebeneideten hunde

ich wollte ich wär eine rattesagte ich damals zu ihr

ich möchte nicht seinich möchte einschlafenund nach dem krieg erwachensagte sie mit geschlossenen augen

vergesst unsfragt nicht nach unserer jugendlasst uns

© Hanser Verlag München

Trotz politischer Abkehr vom Tauwetter gab es auch nach1956 keine Rückkehr zum sozialistischen Realismus.

Zbigniew Herbert (1961):

Betrachtungen zum Problem des Volkes

Aus der tatsache dass wir die gleichen flücheund ähnliche liebesschwüre gebrauchen werden zu dreiste schlüsse gezogenund die gemeinsame schullektüre reicht als prämisse nicht aus um zu tötenähnlich verhält es sich mit dem land(weiden sandweg weizenacker himmel plus wolkengefieder)

ich möchte endlich erfahrenwo die verblendung endetund die verbindung beginntob wir infolge erlebter geschichtenicht seelisch verstümmelt wurdenund nun auf fakten mit der gesetzmäßigkeit von hysterikern

reagierensind wir denn immer noch ein barbarischer stammzwischen den künstlichen seen und den elektrischen

wäldernoffen gesagt ich weiß nichtich stelle nur festdass dieser zusammenhang da istder sich zeigt im erblassenin der plötzlichen röteim gebrüll und im auswurf der händeund ich weiß wo das hinführen kann –in ein eilig gegrabenes loch

also zum schluss noch testamentarischdamit man es wisse:ich habe auch rebelliertaber ich meine dass dieser blutige knotender letzte sein sollte welchender sich befreiendezerreißt

Aus: Gedichte. 1962 © Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M.

Wisława Szymborska (1962):

Wörtchen

»La Pologne? La Pologne? Schrecklich kalt dort,nicht wahr?« frage sie mich und atmete erleichtertauf. Es gibt jetzt so viele von diesen Ländern, dass esam sichersten ist, über das Klima zu sprechen.

»Oh, ja«, möchte ich ihr entgegnen, »die Dichtermeines Landes schreiben in Handschuhn. Ich behauptenicht, sie zögen sie niemals aus; wenn der Mondscheinwärmt, dann schon. In ihren Strophen, vom lautenGetöse skandiert, denn nur Getöse dringt durch dasHeulen der Stürme, besingen sie das einfache Lebender Seehundhirten. Die Klassiker wühlen mit Tinten-zapfen in den festgetretenen Dünen. Der Rest, dieDekadenten, beweint das Schicksal der kleinen Sterneaus Schnee. Wer sich ertränken will, muß zum Beilgreifen, um eine Wake zu schlagen. So ist das, meineLiebe.«

So möchte ich ihr antworten. Aber ich vergaß, wasSeehund auf französisch heißt. Ich bin mir auch desZapfens und der Wake nicht ganz sicher.

»La Pologne? La Pologne? Schrecklich kalt dort,nicht wahr?«

»Pas du tout«, antwortete ich eisig.

Aus: Gedichte. © Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M. 1962

Polnische Schriftsteller wählten Satire, historische Stoffeund Science Fiction, um die polnische Realität zu be-schreiben. Nach dem Jahr »1968« – auch in Polen ein Jahrder Studentenunruhen – allerdings mit anderer Akzentset-zung als in Westeuropa – machte eine neue Schriftsteller-generation, die »Neue Welle«, von sich reden. Sie forderte»direktes Reden«, d. h. mehr Offenheit. Zu dieser Gruppezählten u. a. Autoren wie Stanisław Baranczak (1946) undAdam Zagajewski (1945). Nach dem Regierungswechselim Dezember 1970 – in Folge von Arbeiterprotesten inDanzig – konnten sie für kurze Zeit offen publizieren, wur-den dann aber von der wieder schärfer werdenden Zensurzum Schweigen gebracht. Der Ausweg war – wie so oft inder polnischen Geschichte – die Publikation im Exil. Ab1976 veröffentlichten sie ihre Werke auch in Untergrund-publikationen.

Stanisław Baranczak (1977):

Was wird bezeugen

Nicht unsre Geschichtsbücher, die niemandaufschlagen wird, denn wozu auch, und nichtdie Zeitungen, die niemals offen warenfür die Wirklichkeit (wenn man von einigenTodesanzeigen absieht und Wetterprognosen), auch nicht

die Briefe,die so oft geöffnet wurden, dass wirnichts mehr offen in ihnen schreiben konnten,nicht einmal die Literatur, auch die verschlossenin sich, in den Schubladen der Beamten oderin Pappsärgen der beschnittenen Buchausgaben;wenn etwas bleiben wird, dann die offenen Augendieses Kindes, das heute unsre verschlossene Weltnicht begreift – undsein Mündchen öffnet, um uns eine Frage zu stellen;und wenn es nicht aufhört, die Frage zu wiederholen,dann wird es unsere Wahrheit einmal offen bezeugen.

© by Ammann Verlag Zürich

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Leszek Szaruga (1978):

Übersetzung

Im Zustrom der polnischen Sprache, im Wortgeraschel,in der Mundart der Wahrheit, der unbegreiflichenSprache der Würde – sind wirunausgesprochen und lachhaft. Hier,auf diesem Stück Erde, in der Mitte Europassitzen wir in einem Tiegel, ratlos;auf diesem Schauplatz gilt alles uns.Wir gelten niemandem etwas. Jemandschreibt auf die Mauer: Wir waren, wir sind. Sag es auf Litauisch,auf Grusinisch, auf Ukrainisch. Sag esin einer Sprache, die es nicht gibt, in allensprachlos gewordenenSprachen der Welt.

© by Amman Verlag Zürich

Adam Zagajewski (1979):

Gedichte über Polen

Ich lese Gedichte über Polen, geschriebenvon fremden Dichtern, Deutsche und Russenhaben nicht nur Gewehre, auchTinte, Federn, auch etwas Herz und vielPhantasie. Das Polen in ihren Gedichtenerinnert an ein verwegenes Einhorn,das von der Wolle der Gobelins sich nährt, dasschön ist, schwach und unvernünftig. Ich weiß nicht,worin der Mechanismus der Täuschung besteht,aber auch mich, den nüchternen Leser,betört dieses märchenhafte, wehrlose Land,von dem sich die schwarzen Adler, die hungrigenKaiser, das Dritte Reich und das Dritte Rom nähren.

© Hanser Verlag München

Mit der Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 1981und der Internierung von Arbeiterführern und Intellektuel-len kam es zu einer Renaissance der romantischen Strö-mung. Doch schon vor dem Wendejahr 1989 lockern sichdie Tabus, auch im offiziellen Bereich. Hanna Krall (1937),Andrzej Szczypiorski (1924) oder Maria Nurowska (1944),um nur die auch in Deutschland bekannten Namen zunennen, konnten nun offener über bis dahin tabuisierteThemen wie das deutsch-polnische, das jüdisch-polni-sche oder das polnisch-sowjetische Verhältnis schreiben.Das Jahr 1989 war auch ein Jahr des Umbruchs für diepolnische Literatur. Zwar wartete man auch in Polen –ähnlich wie in der ehemaligen DDR oder anderen postso-zialistischen Staaten – zunächst vergeblich auf die »neueLiteratur«, aber mittlerweile zeigt der politische Umsturzerste literarische Folgen. Die polnische Literatur befreitsich allmählich von der Fixierung auf die eigene Nation.Die Privatsphäre abseits nationaler Vereinnahmung fordertihr Recht ein. Dies nutzen vor allem junge Schriftstellerin-nen, die jenseits der überkommenen Klischees frech ge-gen so manches Tabu anschreiben wie Manuela Gretko-wska (1964), Izabela Filipiak (1961), Natasza Goerke(1960). Aber auch junge Schriftsteller wie Paweł Huelle(1957) (s. Kapitel III.4) und Stefan Chwin (1949), die neben

der großen Nation auch die kleinen Vaterländer, die Regio-nen thematisieren, verschaffen sich Gehör. Populär sindEntwicklungsromane, in denen nicht das spezifisch polni-sche, sondern das menschliche Schicksal im Vordergrundsteht.Deutsche Übersetzer haben Vorbildliches geleistet, um diepolnische Literatur dem deutschen Leser näherzubringen.Allein nach 1945 sind in den deutschsprachigen Ländernmehr als 2000 Bücher polnischer Autoren erschienen. Derehemalige Direktor des Deutschen Polen-Instituts, Karl De-decius, hat in der im Suhrkamp Verlag erschienenen 50-bändigen »Polnischen Bibliothek« eine repräsentative, vor-bildlich kommentierte Auswahl der polnischen Literaturvorgelegt. Sein 5000 Seiten umfassendes »Panorama derpolnischen Literatur des 20. Jahrhunderts« (Ammann Ver-lag Zürich) bietet einen fundierten Einblick in das Werk vonüber 200 Schriftstellern (vgl. Anm. 1).Die Bücher sind vorhanden: sie müssen nur noch gelesenwerden.

Julia Hartwig (1987):

Wir sind für dich

Wir sind für dich Europa ein reservat der geschichtemit unseren altväterlichen idealenmit unserem entstaubten schatzkästleinmit den liedern die wir singenWir werfen alles vom besten zum fraß hindem drachen von zwang und gewaltJunge männer schöne mädchendie besten geister die vielversprechendsten talenteblumengaben wortkreuzeLeichtfertige erben der autoritätungeweihte verkünder der hoffnungnachlaßverwalter der väterlichen rhetoriksie paßt uns wie angegossenobwohl sie noch gesternuns ein wenig zu eng schien

© J. H. 1998; Übersetzung: Karl Dedecius

Anmerkung/Literaturhinweis1 Alle Gedichte bis auf das von Hartwig sind auch herausgegeben in: »Pan-

orama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts«. Herausgegebenvon Karl Dedecius/Deutsches Polen-Institut. 5 Abteilungen in siebenBänden. Zürich: Ammann Verlag 1996ff. Hier in der Abteilung »Poesie«.Hrsg. und übertragen von Karl Dedecius. Zürich: Ammann 1996. (alleaußer Szymborska), Szymborska in der Abteilung »Pointen«. Hrsg. undübertragen von Karl Dedecius. Zürich: Ammann 1997.Das Gedicht von Julia Hartwig ist in der Übersetzung von Karl Dedeciusbislang nur in einer Zeitschrift veröffentlicht gewesen.

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4. Paweł Huelle: Weiser Dawidek. Eine Erinnerungsgeschichte1

»Wie war es eigentlich geschehen, wie war es dazu gekom-men, dass wir zu dritt im Zimmer des Direktors standen, dieOhren voll unheilvoller Worte: ›Protokoll‹, ›Verhör‹, ›Eid‹? Wiehatte es geschehen können, dass aus normalen Schülernund Kindern zum ersten Mal und einfach so Angeklagte wur-den, kraft welchen Wunders erlegte man uns dieses Erwach-sensein auf? Ich weiß es bis heute nicht.«

So beginnt eine Erinnerungsgeschichte, in deren Mittel-punkt Dawid Weiser, mehr spöttisch als liebevoll Dawidekgerufen, und eine Gruppe Jugendlicher stehen. Gda skund die Umgebung sind die Schauplätze der Handlung,die im Sommer 1957 spielt, als das Baden in der DanzigerBucht wegen eines großen Fischsterbens verboten ist undden Jungen nur Ferienspiele auf einem alten Friedhofübrigbleiben. Dawid Weiser hat ein ehemaliges deutschesMunitionslager entdeckt und führt seinen Schulkamera-den kunstvolle Experimente vor, bis er auf geheimnisvolleWeise bei den Vorbereitungen einer besonders großen Ex-plosion verschwindet. Eine Untersuchungskommissionverhört daraufhin die anderen Jugendlichen in der Schule– ohne Erfolg.All das erfahren wir aus der Perspektive des sich erinnern-den Ich-Erzählers, der viele Jahre später versucht, den Er-eignissen des Sommers 1957 nachzugehen und die unge-klärten Vorgänge aufzuhellen. Die Erzählweise, die Ge-schehnisse aus den Blickwinkeln verschiedener Zeitenund Lebensabschnitte zu beleuchten, wirkt zunächst et-was verwirrend und wird erst allmählich als notwendigesdarstellerisches Mittel erkannt. Bereits die Eingangssätzeverraten, daß der Ich-Erzähler auf der Suche nach Er-klärungen ist, und dies führt immer wieder zur Verschrän-kung der verschiedenen Zeitebenen: Im Mittelpunkt desersten Kapitels steht das Verhör im September 1957, dassich auf die Ereignisse im Sommer desselben Jahres be-zieht. Niedergeschrieben werden die Erinnerungen undjahrelangen Bemühungen des Erzählers, den Ereignissenauf den Grund zu gehen, erst 1980. Die genaue Datierungergibt sich erst im Verlauf des Erzählten, sie bleibtzunächst vage: »damals«, »an jenem Nachmittag im Au-gust«, »die Strahlen der Septembersonne«.Als Leser sind wir immer mit dem Erzähler gleichzeitig inverschiedenen Zeiten, folgen seinen reflektierenden Fra-gen und erfahren, warum er schließlich schreibt:

»War das Zufall? Hatte sich Weiser aus freien Stücken vordem Pfarrhaus eingefunden, ähnlich wie an Fronleichnamauf dem Hügel beim Altar? Und wenn nicht, was für eineKraft hatte ihm dann befohlen, es zu tun, warum hatte er be-schlossen, sich uns gerade so zu zeigen? Diese Fragenließen mich lange nicht schlafen, noch lange nach Beendi-gung des Verhörs und noch viele Jahre danach, als ichlängst ein ganz anderer geworden war. Und falls es eine Ant-wort gibt, dann nur die, daß ich gerade, weil sie fehlt, die Li-nien dieses Papiers fülle, über alles im Ungewissen.« (S. 17)2

Schreiben als VergewisserungIn diesem vielstimmigen und vielschichtigen Buch, das1987 in Polen erschien und begeistert aufgenommen wur-de, geht es um Wahrheit, um Entlarvung von Lügen undTabus in einer ideologisch verblendeten Zeit, um Erschüt-

terung von Scheinautoritäten. Fiktive und historischeWirklichkeit werden in den zentralen Gestalten verbunden,wobei die Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Welt-kriegs und der Bildung von Solidarnosc lebendig wird. DieSympathie des Erzählers für die Arbeiteraufstände 1970und 1980, seine Distanz zu den gesellschaftlich und poli-tisch Einflussreichen, aber auch die Wahrnehmung vonVeränderungen ordnen das Buch in die geistige Strömungein, die zur Unterstützung von Solidarnosc und damit zuden Umwälzungen 1989 führte (vgl. Kapitel I.1.).

Die Suche nach der WahrheitDas VerhörVier Erwachsene, der Direktor der Schule, der Biologieleh-rer M. und »der Mann in Uniform«, später noch der Staats-anwalt, verhören drei zwölfjährige Jungen – Piotr, Szymekund den Erzähler Heller – vom Nachmittag bis Mitternachtdes ersten Schultags nach den Sommerferien im Sekreta-riat der Schule, um die »nackte Wahrheit« über Weiser undsein Verschwinden zu erfahren. Das Verhör strukturiertdas ganze Buch, indem die bruchstückhaft wiedergege-benen Teile dem chronologischen Ablauf folgen, immerwieder unterbrochen von Reflexionen und assoziativ her-vorgerufenen Erinnerungen, die sich erst im Nachhinein zueinem Mosaik des Geschehens fügen. Entlarvt wird in derDarstellung des Verhörs die Fragemethode der Untersu-chenden. Da die Fragen nicht offen sind und vorgefassteMeinungen nur bestätigt werden sollen, gibt es keine»richtigen Antworten«. Die Schüler sagen nur das, »wassie hören wollten«. Psychisch und physisch gequält, grei-fen sie später selber zu Lüge und Erpressung. Die Wahr-heit kommt nicht zutage.

Fragen des ErzählersWer war Dawid Weiser? Wo ist er jetzt?Anfang und Ende seines Lebens bleiben rätselhaft im Un-gewissen. Alten Zeugnisbögen entnimmt der Erzähler beiseinen späteren Nachforschungen, dass Dawid Weiseram 10. September 1945 in Brody/UdSSR geboren wurde.Die Zeilen ›Vater‹ und ›Mutter‹ sind mit waagerechten Stri-chen und dem später hinzugefügten Eintrag ›Waise‹ ver-sehen. Dawid lebt bei Abraham Weiser, der im Jahre 1946als Repatriant aus der UdSSR nach Danzig kam und zweiJahre später der Stadtverwaltung meldet, »dass unterseiner Vormundschaft ein Junge polnischer Volkszu-gehörigkeit und polnischer Staatsangehörigkeit stehe«.(S. 67)Da Abraham Weiser behauptet, Dawid sei sein Enkel,wundert sich der Erzähler, dass Angaben über die Elternfehlen und dass Abraham für sich, nicht aber für Dawid diejüdische Volkszugehörigkeit registrieren ließ. Ist Dawid garnicht der Enkel Abrahams, oder ist die Angabe ›polnischeVolkszugehörigkeit‹ ein bewusstes Verschweigen derWahrheit? Auf jeden Fall erfahren wir, dass Dawid nichtam katholischen Religionsunterricht teilnimmt. Obwohl ermit den anderen Jungen in einem Haus wohnt und diesel-be Schule besucht, sondert er sich von ihnen ab, er-scheint schüchtern und ängstlich, beobachtet sie abervon weitem. Wartet er auf den geeigneten Augenblick, dieRolle des Außenstehenden mit der des Befehlenden zuvertauschen? Sein Verhalten bei der Fronleichnamspro-zession läßt dies vermuten:

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»Und eben da sahen wir Weiser zum ersten Mal in einer fürihn charakteristischen Rolle, einer Rolle, die er selbst ge-wählt hatte und in der er sich später uns allen aufdrängte,wovon wir natürlich nichts wissen konnten. Dicht vor demAltar, der Jahr für Jahr bei unserem Haus errichtet wurde,schwenkte Pfarrer Dudak kräftig das Weihrauchfass, demeine herrliche Wolke entströmte – wir erwarteten sie zit-ternd vor Spannung. Und als der graue Rauch gesunkenwar, sahen wir auf der kleinen Anhöhe zur Rechten des Al-tars Weiser stehen, der mit unverhohlenem Stolz all diesbetrachtete. Es war der Stolz eines Generals, der die Para-de abnimmt.« (S. 13)

Seitdem spüren die Jungen »in seinem Blick eine Distanz,schneidend und brennend«. (S. 14) Mit diesem Blick hältWeiser die nach dem Empfang der Religionszeugnisse indie Sommerferien stürmenden Jungen auf, erweckt aberauch ihre Abneigung. Rufe wie »Weiser Dawidek bleibt beiuns in Reli weg« und »Dawid, Dawidek, Weiser ist ein Itzig!« erzeugen eine hasserfüllte Stimmung, die eineSchlägerei auslöst, bis Elka dazwischentritt. Sie ist die er-ste, die Weiser in seinen Bann zieht und die fortan nichtvon seiner Seite weicht.Die Jungen bindet er an sich, als er sie beim Kriegspielenauf dem alten deutschen Friedhof in Brętowo beobachtetund ihnen ein altes Gewehr schenkt. Ihre Neugierdewächst und lässt sie Elka und Weiser nachspüren. Sobalddieser dies bemerkt, geht er auf Distanz und spielt seineÜberlegenheit aus. Selten wendet er sich direkt an dieJungen, fast immer über Elka. So bestellt er sie zum Zooin Oliwa, wo sie Zeugen seiner Fähigkeit werden, einenPanther zu erregen und anschließend zu besänftigen. Vondiesem Tag an beherrscht Weiser die Jungen und führt sieeinen anderen Weg nach Hause als gewohnt. Viele Jahrespäter erinnert sich der Erzähler:

»Und obwohl ich den gleichen Weg später in beiden Rich-tungen durchwanderte, allein und in Gesellschaft, im Som-mer zu Fuß oder mit dem Fahrrad, im Winter auf Skiern, undobwohl ich diesen sechseinhalb Kilometer langen Weg denWeg Weisers nannte, konnte ich nie, auch jetzt nicht, da ernur eine blaue Route des im Stadtführer beschriebenen Na-turparks ist, konnte ich mich also nie daran erinnern, ob Wei-ser, als er uns nach Hause zurückführte, uns all dies mit derHand gezeigt hatte, oder ob er einen knorrigen Stecken beisich trug, auf den er sich stützen konnte wie auf einen Spa-zierstock. Denn wir gingen doch nach Hause, und er führteuns, als seien wir von diesem Tag an sein Volk.« (S. 63f.)

Die biblischen Anklänge verraten, wie stark die Wirkungist, die von Weiser ausgeht. Unbegreiflich erscheint denJungen deshalb, dass Weiser nicht eingreift, als bei einerZirkusvorstellung die Frau des Dompteurs von einemPanther lebensgefährlich verletzt wird.

»Und das war das Ende der Vorstellung. Ich heulte. Es tatmir leid um die schöne Dame und ihr nettes Flitterkostüm,aber mehr noch war ich verbittert über Weiser. Denn eineswußte ich jetzt – entweder konnte er doch nicht alles, oderer wollte nicht helfen. Es sah eher so aus, als wollte er nichthelfen, und das war entsetzlich.« (S. 249)

Will Weiser seine geheimnisvollen Fähigkeiten nicht preis-geben? Fürchtet er, dass man zu nahe an ihn heran-kommt? Dafür spräche auch der angeblich versehentlicheStreifschuss, mit dem er, der zielgenau schießen konnte,den Erzähler für einige Zeit aus seinem Gesichtskreis ent-fernt, nachdem dieser ihm einen Traum erzählte, in demWeiser schreckliche Ungeheuer besiegt hatte.Wie nahe ist der Erzähler im Traum der Wahrheit?

Ein anderes Ereignis scheint besonders wichtig für denVersuch zu sein, Weisers Verhalten zu erklären. Als die Jun-gen Weiser und Elka nachspüren, geraten sie in eine ver-lassene Ziegelei und werden zunächst unbemerkt Zeugeneiner merkwürdigen Szene. Zu den Klängen einer von Elkagespielten Panflöte tanzt Weiser ekstatisch bei Kerzenlichtund scheint schließlich über dem Boden zu schweben.

»Das war nicht mehr Weiser, unser Schulkamerad von derNummer dreizehn, erster Stock, der Enkel des Herrn Abra-ham Weiser, des Schneiders. Das war eher ein er-schreckend Unbekannter, ein beunruhigend Fremder, je-mand, der durch ein Zusammentreffen von Umständenjetzt in menschlicher Gestalt auftrat, die ganz offensichtlichseine auf eine Befreiung von den unsichtbaren Fesseln desKörpers abzielenden Bewegungen hemmte.« (S. 137)

Nach über 20 Jahren spricht Szymek von »verborgenenhypnotischen Fähigkeiten« Weisers, von »einer Phase derEntdeckung seiner ihm nicht bis ins letzte bewusstenMöglichkeiten.« (S. 142)Wenn Weiser Elka braucht, um seine Experimente auszu-führen, welche Rolle spielen dann die Jungen? Warum be-ginnt er mit den Schießübungen, nachdem er weiß, dasssie ihn beobachtet haben? Beim Schießen zeigt er wiederseine Überlegenheit, ebenfalls bei den Explosionen, die erin der nächsten Zeit vorführt. Hier ist er der Befehlende,der die anderen zu Gehorsam und Bewunderung zwingt.Umso ratloser sind die Jungen, als Weiser und Elka zurVorbereitung einer besonderen Explosion in einem Tunnelverschwinden und nicht wieder auftauchen. Elka wirdzwar drei Tage später bewusstlos gefunden, kann oder willsich aber auch später an nichts erinnern, was Weiser be-trifft. Und die Jungen – Szymek und Piotr?Der Erzähler sucht noch nach Jahren Antworten im Ge-spräch mit ihnen.Szymek, den der Erzähler 1980 in Südpolen besucht, hatsich über Weisers Verhalten und Verschwinden Erklärun-gen zurechtgelegt, die in sich unstimmig sind, ist aber anweiteren Überlegungen nicht interessiert, da ihn die politi-schen Ereignisse in der Danziger Werft mehr als alles an-dere beschäftigen.Und Piotr? »Piotr ging 1970 auf die Straße, um zu sehen,was los war, und wurde von einer ganz echten Kugel ge-troffen.« (S. 35) In jedem Jahr, meist an Allerheiligen, gehtder Erzähler an Piotrs Grab, um mit dem Toten über Ver-änderungen in der Stadt zu sprechen. Im September1980, kurz nach Szymeks Verhaftung, entschließt er sich,zum erstenmal über Weiser zu reden. Aber Piotr wehrt sichgegen seine Fragen und gibt vor, müde zu sein. Nach die-sem Gespräch beginnt Heller zu schreiben, »denn es gabkeine andere Möglichkeit, Klarheit zu schaffen, als diese.« (S. 179)Gut zwei Jahre später steckt Heller das Manuskript in ei-nen Spalt der Zementplatte auf Piotrs Grab. Am nächstenTag unterhalten sie sich darüber, wobei Piotr unwichtigeDetails bemängelt, aber den Fragen nach der Wahrheitüber Weiser wiederum ausweicht. Mit der Bemerkung: »Duhast das geschrieben und weißt es nicht?« deutet er an,dass die Antworten auf Hellers Fragen in dem von ihm ge-schriebenen Buch liegen, dass der Erzähler Heller aus derreflektierenden Erinnerung Weiser mit seinen besonderenFähigkeiten und Eigenschaften neu erschaffen hat und da-mit der Wahrheit so nahe wie möglich gekommen ist.

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Wer spricht die Wahrheit?Der »Gelbflügler« – ein Prophet?Dreimal taucht auf dem Friedhof von Brętowo ein geistiggestörter Mann auf, der aus einer nahegelegenen Anstaltgeflohen ist. Bekleidet mit einem gelben Krankenhausba-demantel, der ihm den Namen »Gelbflügler« einträgt,macht er sich nur durch Zeichen verständlich, als die Jun-gen ihn entdecken, auch später, als sie ihn mit Proviantund Kleidung versorgen. Dennoch ist dieser Mann nichtstumm, denn mehrmals setzt er »mit schöner, weithin ver-nehmbarer Stimme« zu Klagen und Mahnungen an. Verseder Propheten Jesaia und Zephania verkünden das Welt-gericht. Seine Weh-Rufe richten sich an die, »die ihr amMeer wohnt!« Jedesmal läutet er die Glocken des altenTurmes auf dem nicht mehr benutzten Friedhof, und je-desmal wird er verfolgt. Warum? Spricht aus ihm Wahr-heit, die erschreckt?Auf den zwölfjährigen Heller zumindest machen die Wortedes Gelbflüglers größeren Eindruck als die des Pfarrersseiner Gemeinde oder des Bischofs von Oliwa bei ihrenBittgottesdiensten zur Abwendung des Fischsterbens inder Danziger Bucht:

»Hätte der Bischof vor den Versammelten das bedrohlicheBild der Vernichtung und des göttlichen Zorns ausgebrei-tet, hätte er wie jener von Blut, Leichen und Strafe für dieTreulosigkeit gesprochen, dann, dachte ich, wären be-stimmt mehr Leute auf die Knie gefallen, hätten sich an dieBrust geschlagen und bekannt: ›Mea culpa, mea culpa,mea maxima culpa!!!‹ Nur – in wessen Namen sprach derBischof und in wessen der Gelbflügler?« (S. 183)

An anderen Stellen erscheint der Gelbflügler dem Erzählerwie Moses beim Gang durchs Rote Meer und bei der Ver-folgung im Einklang mit der schützenden Natur: »Das Grasbeugte vor ihm seine Halme, und die Sträucher öffnetensich von selbst, um ihm die Flucht zu erleichtern.« (S. 252)Wo aber diese Natur durch den Eingriff des Menschen ver-ändert wird, droht Gefahr:

»Eines nur hatte er nicht vorausgesehen, wusste er nichtoder hatte er einfach vergessen – dass das Tal nicht mehrdasselbe Tal war, wo kniehohe Gräser wuchsen, Büschelvon wilden Disteln und Ginster, wo an sonnigen Tagen lei-se die Ringelnattern vorbeihuschten und Rebhühner eineman den Füßen vorbeisausten wie geflügelte Geschosse. Erstolperte beim ersten Stacheldraht ...« (S. 252)

Wird hier ein Tabu angesprochen, Verantwortungslosigkeitim Umgang mit der Natur deutlich? Die Hilflosigkeit ge-genüber dem Fischsterben in der Danziger Bucht, die unterschiedlichen Erklärungen der Betroffenen sprechendafür.

Alkoholismus als unbewusster Protest – Wahrheit im Rausch?

»Etwa gegen zwei sah ich Frau Korotkowa mit einem Korbvoller Wäsche. ›O je‹, sagte sie, ›was soll denn nur werden,es ist ein Kreuz mit diesen Kerlen‹, hier stellte sie den Korbauf die Erde, holte aus ihrem Korb die Wäscheklammern ausHolz und hängte die Unterhosen, Hemden und Geschirr-tücher auf die Leine. ›Ein Kreuz‹, wiederholte sie, ›er lässtsich wieder vollaufen und bringt kein Geld heim!‹« (S. 183)

In diesen Sätzen ist mit dem Alkoholismus ein weitverbrei-tetes Problem der Gesellschaft angesprochen. Über denBesuch der Liliput-Bar heißt es an anderer Stelle:

»Alle Männer, die in unserem Teil des oberen Wrzeszczwohnten, schauten hier mindestens einmal im Monat nach

der Arbeit vorbei, um sich für kurze Zeit von den Alltags-sorgen, den Gedanken an die Zukunft und unangenehmenErinnerungen freizumachen.« (S. 185)

Zu diesen Männern gehört auch Herr Korotek. Mehrmalswird er erwähnt, denn er fällt auf, weil er kein Blatt vor denMund nimmt und, enthemmt durch den Alkohol, unter-drückte Wahrheiten herausschreit. Vor einigen Jahren ister von »zwei Männern in Mänteln« abgeführt worden, de-nunziert, da er angeblich Radio London gehört habe.

»Und Herr Korotek kam zurück, aber erst nach drei Wo-chen, mit einem Auge wie eine saftige Pflaume, und als derjüngste Tag der nächsten Lohnzahlung da war, stellte ersich mitten auf den Hof, zog das Hemd aus und zeigte je-dem, der es sehen wollte, seinen Rücken, der wie ein ge-streiftes Zebra von gelbroter Farbe aussah. Dabei verfluch-te er sein Schicksal und beklagte die ganze, von Huren,Gaunern und Schurken regierte Welt.« (S. 54 f.)

Unterdrückung der Wahrheit – der Umgang mit der GeschichteDie Zwölfjährigen spüren, dass ihnen in der Schule durchideologische Erziehung die Wahrheit vorenthalten oderverdeckt wird. Sie besitzen ein sicheres Gefühl, zwischenRedlichkeit und Bevormundung zu unterscheiden. So wiesie den Biologielehrer M. als Parteimann und Lehrer fürch-ten, als Mensch verachten, lieben sie ihre Polnischlehrerin,die bezeichnenderweise den Namen Regina trägt, wegenihrer Geradlinigkeit.

»Frau Regina unterrichtet Polnisch, sprach nie von derAusbeutung, schrie uns nicht an und las so schöne Verse,dass wir immer mit angehaltenem Atem lauschten, wennOrdon die Festung in die Luft jagte, und mit ihr sich selbstund die anstürmenden Russen, oder wenn General So-winski sich mit dem Degen gegen die Feinde des Vater-lands verteidigte und sein Leben verlor.« (S. 108)

Auch der Gesang des Gelbflüglers berührt die Jungenstärker als die im Musikunterricht geprobten ›Lieder für dieMassen‹.

»Und jetzt sang der Mann im Bademantel unter den bezau-bernden Klängen der Glocken von Brętowo – denn andersals in unserer Kirche gab es hier drei Glocken, nicht nureine – sang, als wäre es der Refrain eines Liedes, unter denherrlichen Glockenklängen: ›Wehe denen, die ungerechteGesetze beschließen, wehe denen, die ungerechte Geset-ze beschließen.‹ Und wir standen um ihn herum, und einigevon uns wiegten sich sogar im Rhythmus dieses Liedes,denn sicher war es ein Lied, wenn auch kein kirchliches, je-denfalls hatten wir es nie in der Kirche gehört, und auchkein Lied für die Massen, denn im Musikunterricht sangenwir nur Lieder für die Massen, und dieses war dort nie vor-gekommen.« (S. 40)

Die Jungen leben in einer Stadt und Umgebung, derenreichhaltige Geschichte ihnen nicht bewusst gemachtwird. Sie stoßen bei ihren Spielen auf historische Spuren,die nicht weiterführen. Eine der vielen Ringelnattern, dieWeiser und Heller vor den gewalttätigen Kleingärtnern ret-ten und auf dem Friedhof freilassen wollen, zieht den Blickder Jungen auf einen alten Grabstein.

»›Hier steht etwas geschrieben‹, sagte ich zu Weiser,›kannst du das lesen?‹ Er beugte den Kopf über den Grab-stein und las: ›Hier ruht in Gott Horst Meller. 8. VI. 1925 – 15.I. 1936‹, und weiter buchstabierte er: ›Warst unser Lieb alleZeit und bleibst es auch in Ewigkeit.‹ Ich kann kein Deutsch,erklärte er, aber das erste heißt, dass hier Horst Meller ruht,und das zweite ist irgendein Vers, denn es reimt sich, schau,er berührte mit den Fingern die eingemeißelte Inschrift aus

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gotischen Lettern, ›Zeit‹, und in der zweiten Zeile ›Ewigkeit‹.Eit – eit, es ist bestimmt ein Vers. Er war elf, sagte ich, als erstarb, so alt wie wir. Nein, er ist nicht 1925 geboren, sondern1929. Weiser beugte das Gesicht dichter über die Inschrift,schau, das ist keine Fünf, sondern eine Neun! Du redest, alswürdest du ihn kennen! Zum ersten Mal stritt ich mich mitWeiser. Das hier ist keine Neun, sondern eine Fünf, also ister 1925 geboren, und als er starb, war er elf‹« (S. 236 f.)

Warum will Weiser nicht wahrhaben, daß der begrabeneJunge, als er starb, so alt war wie er? Warum fragt beimletzten Gespräch der tote Piotr: »Horst Meller. Hast duherausbekommen, wer er war?« (S. 279)Als der Erzähler das letzte Mal zu Piotr geht, sind auch diekärglichen Überreste dieser Geschichte verschwunden.

»Linker Hand müsste ich am Friedhof von Brętowo vorbei-kommen. Das ist hier. Auf dem großen Platz gibt es keineGrabsteine mit gotischen Buchstaben. Die Bäume sind ab-gesägt. Ein Bulldozer schiebt, gleich neben der Backstein-kirche, Massen von Steinen und zertrümmerten Platten aufeinen Haufen. Er gräbt ein Fundament für eine neue, sehrviel größere Kirche.« (S. 277)

Hinter der scheinbar sachlichen Betrachtung der Verände-rungen wird Trauer über das Zudecken und Überbauenvertrauter Orte der Jugend deutlich, gipfelnd in der Aussa-ge: »Ich bin müde wie ein alter Mann.«Nicht nur die ältere Geschichte der Stadt wird verdrängtoder ideologisch verflacht (»Piastenstadt«), auch diejüngste Vergangenheit unterliegt Tabus, wie die Umständevon Piotrs Tod und Begräbnis zeigen. Mehrmals lesen wir,»daß Piotr 1970 auf der Straße umgekommen ... ist.« (S.13; 25) Für die Eltern war es Mord, für Augenzeugen Zu-fall. Aber die Brutalität, mit der 1970 gegen die Demon-stranten vorgegangen wurde, zeigt sich im Umgang mitdem Toten. Szymek erkundigt sich zehn Jahre später, obam geplanten Denkmal vor der Danziger Werft der NamePiotr stehen werde.Alle Bekannten haben Piotr in einem gemeinsam gestifte-ten Grabstein ein Denkmal gesetzt, aber »kein Steinmetzwollte die Inschrift ›ermordet‹ einmeißeln, und schließlichblieb es bei ›tragisch umgekommen‹.«Auch der Beichtvater Dudak flüchtet sich in Floskeln undweicht der Wahrheit aus, als Heller ein Jahr später Fragennach dem Sinn von Piotrs Tod stellt und seine eigenenGlaubenszweifel bekennt.

Wohin fliegt der weiße Adler?

»Syzmek und Piotr standen an der Seite«, (erinnert sichHeller an das qualvolle Verhör), »ich mit meinem schmer-zenden und von der langen Bewegungslosigkeit geschwol-lenen Bein zwischen ihnen. Sie konnten sich mit Blickennach links oder nach rechts retten, ich dagegen war alleinmit dem Blick des Direktors und dem dunkel gerahmtenweißen Adler über seinem Kopf. Manchmal schien es mirso, als bewegte der Adler einen seiner Flügel und wollte aufden Hof hinausfliegen, und ich wartete darauf, dass wir alledas Knirschen zerbrochenen Glases hören würden und derVogel davonflöge, aber nichts dergleichen geschah.« (S. 9)

Symbolisch mag diese Aussage für viele stehen, die demWunsch nach Befreiung aus beklemmender Enge Aus-druck verleihen. Hoffnungen, erfüllte und enttäuschte,Proteste und Kämpfe, erfolgreiche und gescheiterte, le-ben immer wieder in den Rückblicken auf und machenden Roman auch zu einer Geschichte des Mutes, der denSchleier vor der Wahrheit zerreißt.

Die verspielte Architektur des Hauses, das Schichau, derehemalige Besitzer der Danziger Werft, bewohnte, regt diePhantasie des zwölfjährigen Heller an, sich die Erzählun-gen des Biologielehrers M. über Ausbeutung und Klassen-kampf auszumalen. Seine kindlich naiven, von ideologi-scher Beeinflussung geprägten Vorstellungen werden je-doch aus der Sicht des Erwachsenen revidiert:

»Unsere Väter marschierten zwar nie vor dem Haus HerrnSchichaus durch die Jaskowa Dolina und sangen nicht ›Alsdas Volk mit Waffen‹, aber 1970 gingen sie am Parteikomi-tee vorbei und sangen ›Wacht auf, Verdammte dieser Erde,die stets man noch zum Hungern zwingt‹. Und Piotr ginghinaus auf die Straße, um zu sehen, was los war und be-kam eine Kugel in den Kopf.« (S. 77)

1970 gingen die Väter gegen Gomułka auf die Straße, ob-wohl sie 1957, nach dem Posener Aufstand, »begeistertwaren von den Reden Władisław Gomułkas und sagten,solch einen Anführer hätten die Arbeiter noch nie gehabtund würden sie auch nicht wieder haben.« (S. 211 f.)1980, zehn Jahre später, weisen Transparente auf weiter-reichende Ziele hin: »Wir fordern die Anerkennung«; »DiePresse lügt«. »Dieses Mal haben sie nicht geschossen«,freut sich Szymek, und der Erzähler spricht von »einerganz anderen Zeit« (S. 139), obwohl Szymek kurz danachverhaftet wird.Im Denkmal vor dem Tor der Danziger Werft, »an dersel-ben Stelle, wo die Schüsse gefallen waren«, haben vieleAussagen des Romans bildhafte Gestalt angenommen.

WEISER DAWIDEK und KATZ und MAUS – »Bücher führen einen Dialog« 3

Danzig ist die Heimatstadt beider Autoren. Paweł Huellewurde dort 1957 – dreißig Jahre nach Günter Grass – ge-boren. Er kennt Grass persönlich und hat seine Werke ge-lesen, soweit sie ins Polnische oder Englische übersetztwurden. In einem Gespräch, das 1991 zwischen den bei-den Autoren in Danzig stattfand, betont Huelle ausdrück-lich die »Wahlverwandtschaft« mit Grass.Den Roman »Weiser Dawidek« kann man in mancher Hin-sicht mit der Novelle »Katz und Maus« vergleichen. ImRückblick entlarven die Ich-Erzähler beider Werke be-wusst und unbewusst ideologische Verblendungen undScheinautoritäten, wobei Erzähler und Hauptgestalten im-mer mehr zu komplementären Personen werden. BeideMale steht Selbsterlebtes im Kontext historisch-politi-scher Entwicklungen, wobei historische und fiktive Wirk-lichkeit ineinandergreift.Die Schauplätze der Handlungen sind topographisch ver-ankert und teilweise identisch. Die Jugendlichen um Mahl-ke sind wie die Jugendlichen um Weiser in Langfuhr, heuteWrzeszcz, zu Hause. Die Jugendlichen in »Katz und Maus«verbringen die Sommer der Kriegsjahre in der Bucht, dieden Jugendlichen des polnischen Romans versperrt ist.Somit gewähren beide Werke Einblick in die wechselhafteGeschichte des Raumes und seiner Bewohner. Wo Grass1945 aufhören musste, erzählt Huelle weiter.

Anmerkung1 Der Roman »Weiser Dawidek wurde im Leistungskurs Deutsch am Theo-

dor-Heuss-Gymnasium Heilbronn im Schuljahr 1996/97 behandelt.2 Alle Seitenangaben beziehen sich auf: Paweł Huelle: Weiser Dawidek,

Fischer-Taschenbuch 12796, Frankfurt/M. 19953 Günter Grass und Paweł Huelle im Gespräch.

In: Deutsche und Polen, München 1992, S. 560

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� Annäherungen. Deutsche und Polen 1945–1995. Hausder Geschichte der Bundesrepublik Deutschland(Hrsg.). Droste, Düsseldorf 1996

� Bartoszewski, Władysław: Der schwierige Weg derdeutsch-polnischen Aussöhnung und die vielverspre-chende Perspektive an der Jahrhundertschwelle. In:Umbrüche und Aufbrüche. Europa vor neuen Aufga-ben. Vortragsreihe der Robert Bosch Stiftung. Stutt-gart 1998

� Bentchev. van I. u. a.: Polen. Geschichte, Kunst undLandschaft einer alten europäischen Kulturnation. DuMont Kunst-Reiseführer. Köln 3. Aufl. 1991

� Bingen, Dieter: Systemwandel durch Evolution. Polensschwieriger Weg in die parlamentarische Demokratie.In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 23, 1989, S. 3–16

� Bingen, Dieter: Die Polenpolitik der Bonner Republikvon Adenauer bis Kohl 1949–1991. Nomos Verlagsge-sellschaft, Baden-Baden 1998

� Bingen, Dieter: Die Republik Polen. Eine kleine politi-sche Landeskunde (Rzeczpospolita Polska, Krajobrazpolityczny w zarysie). Politik aktuell, Bonn 1998

� Demokratie und Marktwirtschaft in Osteuropa. Strate-gien für Europa. Schriftenreihe Band 329 der Bundes-zentrale für politische Bildung. Bonn 1995, S. 129-142(Jerzy Holzer: Polen)

� Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe. Serie Pi-per 1538. München 1992

� Hillers, Elfriede (Hrsg.): Deutschland – Polen – Europa.Schulbuchforschung, Bd. 71. Diesterweg, Frankfurt1991

� Jahrbuch des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt:Deutsch-polnische Ansichten zur Literatur und Kultur.Harrassowitz, Wiesbaden 8, 1996/97 (1997)

� Klecel, Marek: Polen zwischen Ost und West: polni-sche Essays des 20. Jahrhunderts. Eine Anthologie.Suhrkamp, Frankfurt/Main 2. Auflage 1997

� Krzemiński, Adam: Polen im 20. Jahrhundert. Ein kriti-scher Essay. Beck, München 1993

� Samsonowicz, Henryk: Polens Platz in Europa, Os-nabrück 1997 (pl.: Miejsce Polski w Europie, Warsza-wa 1995). Bd. /tom 4 der Reihe: »Klio in Polen« – Über-setzungen aus dem Polnischen, fibre-Verlag, Os-nabrück

� Tkaczynski, Jan Wiktor: Polen im Umbruch, Skizzenaus Geschichte, Wirtschaft und Politik. Berlin-VerlagSpitz, Berlin 1997

� Wölke, Wilhelm (Hrsg.): Länderbericht Polen. Schrif-tenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung, Bd.296. Bonn 1991

� Dialog. Magazin für Deutsch-Polnische Verständigung(vierteljährlich), Düsseldorf/Hamburg

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Weitere Literatur zum Thema »Polen in Europa«

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� Endlich wieder ein Staat, neunzehnhundert bisneunzehnhundertdreißig (1900–1930)ST: Polen im zwanzigsten JahrhundertVideo, 24 Min., f+sw, 1991Adressaten: S8, S11, EDer Film zeigt, wie nach mehreren brutal unterdrück-ten Aufständen der Erste Weltkrieg die entscheidendeWende herbeiführt: Polen wird endlich wieder einStaat. Ein Staat allerdings, der von außen und innengefährdet ist. 42 01390

� Vorkriegszeit und Zweiter Weltkrieg, neunzehn-hundertdreißig bis neunzehnhundertfünfundvierzig(1930–1945)ST: Polen im zwanzigsten JahrhundertVideo, 25 Min., f+sw, 1991Adressaten: S8, S11, EEs gibt für die Polen eine traumatische Erfahrung, die in jedem Jahrhundert neue Nahrung erhält: dasArrangement der großen Nachbarn Russland undDeutschland auf Kosten Polens. 1939 ist es wieder soweit – Hitler und Stalin beschließen, Polen unter sichaufzuteilen. 42 01391

� Die Volksrepublik Polen, neunzehnhundertfün-fundvierzig bis neunzehnhundertachtzig(1945–1980)ST: Polen im zwanzigsten JahrhundertVideo, 27 Min., f+sw, 1991Adressaten: S8, S11, EDer Film zeigt alle Stadien der Entwicklung vomaufgezwungenen Stalinismus über den Versuch eines»eigenen Weges zum Sozialismus« bis hin zu denerfolgreichen Streiks der oppositionellen Gewerk-schaftsbewegung »Solidarnosc« unter Lech Walesa.42 01392

� Oberschlesien, Grenzland und Brücke zu EuropaST: Geschichte SchlesiensVideo, 23 Min., f+sw, 1993Adressaten: S9, EDer Film gibt einen Einblick in die Geschichte Ober-schlesiens im 19. und 20. Jahrhundert, lässt seinewirtschaftliche Bedeutung sowohl für Deutschland alsauch für Polen erkennen und verdeutlicht die Proble-me nationaler Identität und nationaler Minderheiten.42 01571

� Polen, das oberschlesische IndustriegebietVideo, 15 Min., f, 1994Adressaten: S6Informationsfilm über das oberschlesische Industrie-gebiet als ältestem Montanrevier des europäischenKontinents. Neben der geschichtlichen Entwicklungwird die gegenwärtige ökonomische und ökologischeKrise geschildert sowie Versuche zur Problemlösung,so z. B. die Entwicklung von Ecocoal als raucharmenBrennstoff der Zukunft (s.a. 32 10314) 42 10314

� Die Welt vor dem HolocaustAus dem Leben der Juden in Osteuropa vor demZweiten Weltkrieg16 mm-Film, 24 Min., f, 1980Adressaten: S9, J14, E, LDer jüdische Forscher und Photograph Roman Vish-niac hat in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg dieosteuropäischen Länder bereist und mit versteckterKamera das Leben der Ostjuden in den städtischenGhettos, in Kleinstadtgemeinden und ländlichenSiedlungen vor der Vernichtung aufgenommen.Kommentierter Dokumentarfilm. 32 03214

� Unser Nachbar Polen16 mm-Film, 14 Min., f, 1996Adressaten: S6, SÜbersichtsfilm über das Leben der Menschen imheutigen Polen. Neben Warschau, Nordpolen mit derOstseeküste werden exemplarisch drei Fallbeispielevorgestellt: Ein bäuerlicher Kleinbetrieb in Mittelpolen,ein Steinkohle-Bergbaubetrieb und ein Stahlwerk inSüdpolen. 32 55924

� Vor dem Holocaust, Teil 1Fotografien von Roman Vishniac12 Dias, sw, 1980Adressaten: S9In Realaufnahmen wird die Lebenssituation der osteu-ropäischen Juden vor dem Holocaust wiedergege-ben. Es werden neben dem Eingang zum KrakauerGhetto vor allem menschliche Situationen gezeigt:»Auf dem Fischmarkt«, »Gesicht am Fenster«.10 02638

� Vor dem Holocaust, Teil 2Fotografien von Roman Vishniac12 Dias, sw, 1980Adressaten: S9Realaufnahmen zeigen verschiedene Ghettos inOsteuropa vor dem Holocaust: Slonim, Lublin, War-schau, Krakau, Vilna. Aufnahmen von Einzelschicksa-len ergänzen die Reihe: Händler ohne Ware, Wasser-träger, Angst, die Frau des Trägers. 10 02684

� Geschichte Polens in der Neuzeit12 Dias, f+sw, 1988Adressaten: S7Gemälde, Zeichnungen und Fotografien dokumentie-ren die Geschichte Polens vom 18. Jahrhundert bis1918. 10 03010

� Geschichte Polens neunzehnhundertzwanzig bisneunzehnhundert fünfundvierzig (1920–1945)12 Dias, f+sw, 1988Adressaten: S9Zeitgenössische Fotografien geben wichtige histori-sche Ereignisse der polnischen Geschichte und derenSchauplätze in der Zwischenkriegszeit und währenddes 2. Weltkrieges wieder. 10 03011

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AV-Medien Zusammengestellt von: Hanns-Georg Helwerth, Landesbildstelle Württemberg, Stuttgart.

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Unsere Spiele und Arbeitshilfen

(Die Preise verstehen sich zzgl. Versandkosten, bei Bestellungen von außerhalb Baden-Württembergs gelten die Preise in Klammern)

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Europa-Kartenspiel45 Spielkarten zu Besonderheiten der EU-Staaten, mit Anleitung5,– DM (8,– DM)

Bestellungen und Anforderung von Prospekten an: Landeszentrale für politische Bildung, Referat Arbeitshilfen, HannerSeite 1, 72574 Bad Urach (Telefon 07125 / 152-134, Fax 07125 /152100)

Die Landeszentrale für politische Bildung vetreibt einen eigenen Internetserver. Sie istseit Mai 1996 im World Wide Web vertreten und ist erreichbar unter der Adresse:

http: // www.lpb.bwue.de

Seit 1994 ist die Mailbox der Landeszentrale mit einem PC, einem Modem und einer Terminalsoftware zu erreichen unter der Telefon-Nummer:

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Jahres-CD-Rom 1997/98Die CD-ROM enthält die Volltext-Ausgaben der Zeitschriften und Dokumentationen der Landeszentrale für politische Bildung von 1997/ 98. Alle Publikationen können im Orginallayout am Bildschirm gelesen oder aber ausgedruckt werden.

Zeitschriften:Bürger im Staat: Banken, Großstädte, Ostmitteleuropa, Bildungspolitik, IndienDeutschland und Europa: Berlin, Elsaß, Oder, Wales, 1848/49 Revolution, FlandernPolitik und Unterricht: EURO, Gegensätze, Jugoslawien, Asien, Lernorte, Sprache und Politik

DokumentationenGrenzenlose Geschäfte – Wirtschaftskriminalität Besatzer – Helfer – VorbilderUnsere Stadt braucht Frauen Organentnahme und TransplantationenPerspektiven ländlicher Entwicklung Die Erinnerung darf nicht enden – 27. Januar

Die CD-Rom wird kostenlos gegen Einsendung des Portos (3 DM in Briefmarken) abgegeben.

Bestellung an: Landeszentrale für politische BildungFachreferat MedienStafflenbergstraße 3870184 Stuttgart

Page 53: Polen in Europa · Auflage: 12000 Titelbild: Montage: Fahnen der Europäischen Union und der EU-Staaten; Broschüre Polen Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Daten-trägern

Themen der nächsten Hefte:

»Jahrtausenwende«»Wien – Weltstadt in der Mitte Europas«

Reclam Graphischer Betrieb GmbH · 71254 Ditzingen

Landeszentrale für politische BildungBaden-Württemberg

Stafflenbergstraße 38 · 70184 StuttgartTelefax (0711) 23 71-4 96 Telefon (07 11) 23 71-30Mailbox (0 71 25) 152-138Internet http://www.lpb.bwue.de

DurchwahlnummernDirektor: Siegfried Schiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . -385Assistenz: Sabine Keitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . -387Öffentlichkeitsarbeit: Joachim Lauk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . -484

Abteilung I Verwaltung (Günter Georgi)FachreferateI/1 Grundsatzfragen: Günter Georgi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . -379I/2 Organisation und Haushalt: Jörg Harms . . . . . . . . . . . . . . -383I/3 Personal: Gudrun Gebauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . -480I/4 DV-Organisation: Wolfgang Herterich . . . . . . . . . . . . . . . . -492I/5** Haus auf der Alb: Erika Höhne . . . . . . . . . . (0 71 25) 152 -109

Abteilung II Adressaten (Karl-Ulrich Templ, stellv. Direktor)FachreferateII/1 Medien: Karl-Ulrich Templ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . -390II/2** Frieden und Sicherheit: Wolfgang Hesse . . (0 7125) 152 -140II/3 Lehrerfortbildung: Karl-Ulrich Templ . . . . . . . . . . . . . . . . . -390II/4* Schule, Hochschule, Schülerwettbewerb:

Reinhard Gaßmann, Ass. Monika Greiner . . . . . . . . . . . . . -373II/5 Außerschulische Jugendbildung: Wolfgang Berger . . . . . -369II/6** Öffentlicher Dienst: Eugen Baacke . . . . . . . (0 7125) 152 -136

Abteilung III Schwerpunkte (Konrad Pflug)FachreferateIII/1 Landeskunde/Landespolitik:

Dr. Angelika Hauser-Hauswirth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . -392III/2 Frauenbildung: Christine Herfel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . -487III/3** Zukunft und Entwicklung:

Gottfried Böttger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (0 7125) 152 -139III/4** Ökologie: Dr. Markus Hug . . . . . . . . . . . . . . (0 7125) 152 -146III/5* Freiwilliges Ökologisches Jahr: Konrad Pflug . . . . . . . . . . -494III/6 Deutschland und Europa: N. N. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . -488III/7* Gedenkstättenarbeit: Konrad Pflug . . . . . . . . . . . . . . . . . . -501

Abteilung IV Publikationen (Prof. Dr. Hans-Georg Wehling)FachreferateIV/1 Wissenschaftliche Publikationen

Redaktion »Der Bürger im Staat«:Prof. Dr. Hans-Georg Wehling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . -371

IV/2 Redaktion »Politik und Unterricht«: Otto Bauschert . . . . . -388IV/3 Redaktion »Deutschland und Europa«:

Dr. Walter-Siegfried Kircher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . -391IV/4 Didaktik politischer Bildung: Siegfried Frech . . . . . . . . . . -482IV/6** Arbeitshilfen: Werner Fichter . . . . . . . . . . . (0 71 25) 1 52 -147

Abteilung V Regionale Arbeit (Hans-Joachim Mann)FachreferateV/1 Außenstelle Freiburg: Dr. Michael Wehner

(07 61) 2877377V/2 Außenstelle Heidelberg: Dr. Ernst Lüdemann

(0 62 21) 60 78-14V/3* Außenstelle Stuttgart: Hans-Joachim Mann

(0711) 2371374V/4 Außenstelle Tübingen: Rolf Müller

(0 70 71) 2 00 29 96

DienststellenZentrale in Stuttgart s.o.* 70178 Stuttgart, Sophienstraße 26-30, Telefax (0711) 2 3714 98** Haus auf der Alb, Hanner Steige 1,

72574 Bad Urach, Tel. (0 71 25) ·152-0, Telefax (0 7125) 152-100

Außenstelle Freiburg, Friedrichring 29,79098 Freiburg, Telefon (0761) 207730, Telefax (0761) 2077399Außenstelle Heidelberg, Friedrich-Ebert-Anlage 22-24,69117 Heidelberg, Telefon (0 6221) 60 78-0, Telefax (0 62 21) 60 78-22 Außenstelle Stuttgart, Sophienstraße 28-30,70178 Stuttgart, Telefon (0711) 2 3713 75, Telefax (0711) 2 3714 98Außenstelle Tübingen, Herrenberger Straße 36,72070 Tübingen, Tel. (0 70 71) 2 00 29 96, Telefax (0 70 71) 2 00 29 93

Bibliothek Bad Urach Bibliothek/Mediothek Haus auf der AlbGordana Schumann, Telefon (07125) 152-121

Publikationsausgabe StuttgartStafflenbergstraße 38Ulrike Weber, Telefon (0711) 2371384Montag 9 –12 Uhr und 14 –17 UhrDienstag 9 – 12 Uhr Donnerstag 9 –12 Uhr und 14 –17 Uhr

☞ Nachfragen

»Deutschland und Europa«Sylvia Rösch, Telefon (0711) 23713 78

»Politik und Unterricht«Sylvia Rösch, Telefon (0711) 2 37 13 78

»Der Bürger im Staat«Ulrike Hirsch, Telefon (0711) 2 37 1371

Publikationen (außer Zeitschriften):Ulrike Weber, Telefon (0711) 237 13 84

☞ Bestellungen

Bitte schriftlich an die zuständigen Sachbearbeiterinnen (s. o.):Stafflenbergstr. 38, 70184 Stuttgart, Fax 07 11/2 37 14 96