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1 Policy-Diversität im deutschen Föderalismus MANFRED G. SCHMIDT 23.10.2015 50283 ABSTRACT In diesem Beitrag wird anhand von Befunden des Vergleichs der Policies in den deutschen Bundesländern geprüft, inwieweit das Narrativ der „policy-diversity“ den deutschen Föderalismus insbesondere seit der Wiedervereinigung des geteilten Deutschland zutreffend charakterisiert. Der erste Teil des Essays präsentiert Befunde zugunsten der These, dass die Politikvielfalt („policy diversity“) in den Ländern der Bundesrepublik keine zu vernachlässigende Größe ist (Teil 1). Längsschnittanalysen deuten zudem auf zunehmende Politikvielfalt hin (Teil 2). Manche Indikatoren zeigen allerdings Politikkonvergenz an, also abnehmende Politikvielfalt (Teil 3). Insgesamt sind aber die Unterschiede zwischen den deutschen Ländern auch im internationalen Vergleich beachtlich wie auch ein kursorischer Vergleich mit den Schweizer Kantonen, den US-amerikanischen Bundesstaaten und Österreichs Bundesländern lehrt (Teil 4). Die Ursachen der Politikvielfalt und ihrer Grenzen bedürfen allerdings noch der genaueren Klärung. Vier robuste Erklärungsfaktoren werden abschließend diskutiert (Teil 5): die parteipolitische Zusammensetzung der Länderregierungen, die die Politikvielfalt wahrscheinlicher macht, jedoch im Wettbewerb zweier großer Sozialstaatsparteien ihre obere Grenze findet, die Kompetenzverteilung zwischen Bund, Ländern und Europäischer Union, und die besonderen Finanzierungsbedingungen der Länderpolitik, die den Gestaltungsspielraum der Länderregierungen schmälern und die Chancen für Politikvielfalt verringern. EINLEITUNG Deutschland hat bekanntlich einen Föderalismus der besonderen Art. Er ist ein „unitarischer Bundesstaat“ 1 , der so viel Gleichwertigkeit bei der politischen Regulierung und den Lebensverhältnissen sein eigen nennt, dass man meinen könnte, er sei ein dezentraler Einheitsstaat. Deutschlands ist zudem laut 1 Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat (Karlsruhe: Müller, 1962).

Policy-Diversität im deutschen Föderalismus · Policy-Diversität im deutschen Föderalismus MANFRED G. SCHMIDT 23.10.2015 50283 ABSTRACT In diesem Beitrag wird anhand von Befunden

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1

Policy-Diversität im deutschen Föderalismus

MANFRED G. SCHMIDT

23.10.2015

50283

ABSTRACT

In diesem Beitrag wird anhand von Befunden des Vergleichs der Policies in den

deutschen Bundesländern geprüft, inwieweit das Narrativ der „policy-diversity“ den

deutschen Föderalismus insbesondere seit der Wiedervereinigung des geteilten

Deutschland zutreffend charakterisiert. Der erste Teil des Essays präsentiert Befunde

zugunsten der These, dass die Politikvielfalt („policy diversity“) in den Ländern der

Bundesrepublik keine zu vernachlässigende Größe ist (Teil 1). Längsschnittanalysen

deuten zudem auf zunehmende Politikvielfalt hin (Teil 2). Manche Indikatoren

zeigen allerdings Politikkonvergenz an, also abnehmende Politikvielfalt (Teil 3).

Insgesamt sind aber die Unterschiede zwischen den deutschen Ländern auch im

internationalen Vergleich beachtlich – wie auch ein kursorischer Vergleich mit den

Schweizer Kantonen, den US-amerikanischen Bundesstaaten und Österreichs

Bundesländern lehrt (Teil 4). Die Ursachen der Politikvielfalt und ihrer Grenzen

bedürfen allerdings noch der genaueren Klärung. Vier robuste Erklärungsfaktoren

werden abschließend diskutiert (Teil 5): die parteipolitische Zusammensetzung der

Länderregierungen, die die Politikvielfalt wahrscheinlicher macht, jedoch im

Wettbewerb zweier großer Sozialstaatsparteien ihre obere Grenze findet, die

Kompetenzverteilung zwischen Bund, Ländern und Europäischer Union, und die

besonderen Finanzierungsbedingungen der Länderpolitik, die den

Gestaltungsspielraum der Länderregierungen schmälern und die Chancen für

Politikvielfalt verringern.

EINLEITUNG

Deutschland hat bekanntlich einen Föderalismus der besonderen Art. Er ist ein

„unitarischer Bundesstaat“1, der so viel Gleichwertigkeit bei der politischen

Regulierung und den Lebensverhältnissen sein eigen nennt, dass man meinen

könnte, er sei ein dezentraler Einheitsstaat. Deutschlands ist zudem laut

1 Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat (Karlsruhe: Müller, 1962).

2

Grundgesetzartikel 20 ein „sozialer Bundesstaat“. Damit ist Deutschland einer jener

seltenen Bundesstaaten, die, im Unterschied zur liberalen Theorie und Praxis des

Föderalismus, mit einem weit ausgebauten Wohlfahrtsstaat koexistieren.2

Deutschland hat zudem mit dem Bundesrat, der Vertretung der Länderexekutive auf

Bundesebene, eine Art zweite Kammer, die von zentraler Bedeutung in der

Gesetzgebung des Bundes ist: Verfassungsänderungen setzen die

Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat voraus, zustimmungspflichtige

Gesetze erfordern die Zustimmung der Mehrheit der Bundesratsstimmen und

sogenannte Einspruchsgesetze, bei denen die Zustimmung des Bundesrates nicht

erforderlich ist, können unter bestimmten Bedingungen3 von einer

Zweitdrittelmehrheit im Bundesrat blockiert werden.

Deutschlands Bundesstaat ist auch ein „Parteienbundesstaat“4, in dem der

demokratische Parteienwettbewerb eine sehr große Rolle spielt und in dem die

Parteien sowohl an der politischen Willensbildung maßgeblich beteiligt sind als auch

an der Wahl und der Kontrolle der Regierung. Im Lichte der Lehre vom

„Parteienbundesstaat“ könnte man erwarten, dass Politikvielfalt (im Sinne von

„policy-diversity“) den deutschen Föderalismus kennzeichnet, während die

Strukturen des unitarischen Bundesstaates und die weitausgebaute

Politikverflechtung zwischen den Exekutive von Bund und Ländern die These

begründen könnten, dass die Politikuniformität wichtiger als die Politikvielfalt ist.

Zwischen diesen beiden Polen der Interpretation sind die Beiträge von C. Jeffery, C.

Rowe und E. Turner in dieser Special Issue und frühere Analysen dieser Autoren

angesiedelt – ein Unternehmen, das auf der Basis theorieorientierter und empirischer

Arbeiten das Narrativ der Politikuniformität („narrative of uniformity”) mit dem

alternativen „Narrativ der Politikvielfalt“ („narrative of policy diversity“)

konfrontiert.5 Tatsächlich spricht einiges für das Narrativ der Politikvielfalt – es gibt

aber auch Gegenbewegungen und obere Grenzen für die Politikvielfalt.

Davon wird in den folgenden Abschnitten dieses Beitrags die Rede sein. Sein erster

Teil stützt die These, dass die Politikvielfalt („policy diversity“) in den Ländern der

Bundesrepublik keine zu vernachlässigende Größe ist. Davon zeugen

Querschnittsanalysen der Politik in den Bundesländern vor und nach der

Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands (Teil 1). Längsschnittanalysen deuten

2 Herbert Obinger, Stephan Leibfried and Francis G. Castles, Federalism and the Welfare State. New World

and European Experiences (Cambridge: Cambridge University Press, 2005). 3 Grundgesetz Artikel 77 Absatz IV. 4 Frank Decker, Regieren im "Parteienbundesstaat". Zur Architektur der deutschen Politik (Wiesbaden: VS,

2011); Klaus von Beyme, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung

(Wiesbaden: VS, 2010, 11th ed.), p.373. 5 See, for example, Charlie Jeffery (ed.) Recasting German Federalism. The Legacies of Unification (London

and New York: Pinter, 1999); Ed Turner, Political Parties and Public Policy in the German Länder

(Basingstoke: Palgrave McMillan, 2011).

3

zudem auf zunehmende Politikvielfalt hin (Teil 2). Manche Indikatoren zeigen

allerdings Politikkonvergenz an, also abnehmende Politikvielfalt (Teil 3). Insgesamt

sind aber die Unterschiede zwischen den deutschen Ländern auch im internationalen

Vergleich beachtlich – wie der Vergleich mit den Schweizer Kantonen ebenso lehrt

wie mit den US-amerikanischen und den österreichischen Bundesländern (Teil 4).

Die Ursachen der Politikvielfalt und ihre Grenzen bedürfen allerdings noch der

genaueren Klärung. Vier robuste Erklärungsfaktoren werden abschließend

diskutiert: die parteipolitische Zusammensetzung der Länderregierungen, die die

Politikvielfalt wahrscheinlicher macht, jedoch im Wettbewerb zweier großer

Sozialstaatsparteien ihre obere Grenze findet, sodann die Kompetenzverteilung

zwischen Bund, Ländern und Europäischer Union sowie die besonderen

Finanzierungsbedingungen der Länderpolitik, die den Gestaltungsspielraum der

Länderregierungen schmälern und somit die Chancen für Politikvielfalt verringern.

I. Signifikante Politikvielfalt (Policy-Diversity)

Deutschland ist ein unitarischer Bundesstaat mit hochgradiger „Politikverflechtung“6

zwischen den Exekutiven der Länder und des Bundes, der laut Verfassung

verpflichtet ist, sowohl für interregionale Umverteilung als auch für „Einheitlichkeit

der Lebensverhältnisse“7 zu sorgen, so der bis 1994 geltende Artikel 72 des

Grundgesetzes und bis heute der Artikel 106 III Nr. 3 des Grundgesetzes. 1994 wurde

der Wortlaut des Artikels 72 verändert: An die Stelle der „Einheitlichkeit der

Lebensverhältnisse“ trat nun die Norm der „Herstellung gleichwertiger

Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ als Voraussetzung für bundesgesetzliche

Regelungen im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung.

Doch trotz Unitarisierungstrend, Einheitlichkeits- und Gleichwertigkeitsgebot sowie

Politikverflechtung sind die Politikvielfalt sowie die Unterschiede in der

sozioökonomischen Ressourcenausstattung in den Ländern der Bundesrepublik

nicht zu vernachlässigen. Von Diversität zeugen nicht nur die Demographie und die

Wirtschaftskraft der Bundesländer, sondern auch die Politikergebnisse. Vier Befunde

mögen zur Illustration dienen. Erstens: Wohlstandsbedingt und infolge eines

leistungsfähigen Gesundheitswesens ist die Alterung der deutschen Bevölkerung

weit fortgeschritten, ähnlich weit wie in Italien und Japan, aber mit nennenswerten

6 Fritz W. Scharpf, Bernd Reissert and Fritz Schnabel, Politikverflechtung: Theorie und Empirie des

kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik (Kronberg i.Ts.: Scriptor Verlag, 1976).

7 Einheitlichkeit meint nicht komplette Uniformität oder Gleichheit, sondern eine Norm, der zufolge

als Voraussetzung bundesgesetzlicher Interventionen die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse

verlangt wird.

4

Unterschieden nach Bundesländern: In den ostdeutschen Bundesländern ist die

Bevölkerung älter als in den meisten westdeutschen Bundesländern.8

Zweitens: Noch größer sind die Unterschiede in der Wirtschaftskraft. Das Pro-Kopf-

Bruttoinlandsprodukt beispielsweise ist in Deutschland – trotz

Angleichungstendenzen seit 1990 – im Westen des Landes noch erheblich höher als

im Osten. Allerdings bestehen auch erhebliche Unterschiede zwischen den

wirtschaftsstarken süddeutschen Ländern Baden-Württemberg und Bayern sowie

Hessen einerseits und den insgesamt weniger wirtschaftsstarken Nord- und

Westländern andererseits.9 Von großer Bedeutung sind die Unterschiede in der

Wirtschaftskraft auch für die Migrationspolitik. Denn gemäß dem sogenannten

„Königsteiner Schlüssel“ wird der Anteil der Asylbewerber, der von jedem

Bundesland aufgenommen werden muss, nach der Bevölkerungszahl und der Höhe

der Steuereinnahmen jedes Landes ermittelt.

Große Politikunterschiede signalisieren – drittens – die nach Bundesländern

aufgegliederten Leistungen des Sozialstaates. Wie groß und gewichtig die

Sozialleistungen sind, zeigt insbesondere die Größe der Sozialstaatsklientel –

derjenige Teil der Bevölkerung, der seinen Lebensunterhalt mindestens zur Hälfte

aus Sozialeinkommen finanziert. In den neuen Bundesländern ist die

Sozialstaatsklientel besonders groß, gefolgt von den Stadtstaaten, allen voran Berlin.

Im Osten Deutschlands gehören mittlerweile rund 40 Prozent der Bevölkerung zur

Sozialstaatsklientel. In den Stadtstaaten – Berlin, Bremen und Hamburg – sind es

knapp 35 Prozent und in den westlichen Flächenstaaten knapp 29 Prozent.10

Ähnliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland und zwischen Stadt-

und Flächenstaaten zeigen die nach Ländern aufgeschlüsselten Daten für die

Armuts- und die Mindestsicherungsquoten an, also für den Teil der Bevölkerung,

der finanziell zu einem erheblichen Teil von Leistungen der

Mindestsicherungssysteme lebt, wie der Grundsicherung für Arbeitssuchende, dem

Sozialgeld oder der Sozialhilfe und den Sozialleistungen gemäß

Asylbewerberleistungsgesetz.11

Nicht zuletzt weisen alle Daten zur Staatsverschuldung ebenfalls auf eine erhebliche

Politikvielfalt hin. Die Staatsverschuldung pro Kopf beispielsweise ist, nach

Bundesländern gerechnet, am höchsten in Bremen, im Saarland und in Berlin, und

8 Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 25 Jahre Deutsche Einheit (Wiesbaden: Statistisches

Bundesamt, 2015), p.21. 9 Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 25 Jahre Deutsche Einheit, p. 35. 10 Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 25 Jahre Deutsche Einheit (Wiesbaden: Statistisches

Bundesamt, 2015), p.68. 11 Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 25 Jahre Deutsche Einheit, p. 68, 73, 77, 114;

Statistisches Bundesamt (ed.), Statistisches Jahrbuch 2014. Deutschland und Internationales (Wiesbaden:

Statistisches Bundesamt, 2014), Tab. 8.4.1.

5

am geringsten in Bayern – und in den östlichen Bundesländern in der Regel von

mittlerer Höhe.12

II. Zunehmende Diversität bei den sozioökonomischen Rahmenbedingungen

und den Policies der Bundesländer

Mit der Wiedervereinigung des geteilten Deutschland sind fünf neue ostdeutsche

Bundesländer zu den westdeutschen Ländern hinzugekommen. Alle neuen

Bundesländer waren finanz- und wirtschaftsschwach und sind es – wenngleich

abgeschwächt – auch heute noch. Das war folgenreich: Nie zuvor war die

Spannweite zwischen wirtschaftskräftigen und wirtschaftsschwachen Regionen im

Bundesgebiet so groß wie 1990 und den folgenden Jahren. Ein politisch besonders

brisanter Anzeiger der ökonomischen Kluft zwischen Ost und West ist die

Arbeitslosenquote: Sie lag und liegt im Osten Deutschlands, das zu DDR-Zeiten von

Vollbeschäftigung nahezu aller erwerbssuchender Männer und Frauen

gekennzeichnet war, weit über der Arbeitslosenquote im Westen Deutschlands.

Noch wichtiger sind die Ost-West-Unterschiede der Wirtschafts- und der Finanzkraft

für die politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse im Bund und in den

Ländern. Durch den Beitritt der fünf ostdeutschen Bundesländer zur Bundesrepublik

Deutschland stieg die Zahl der Länder, die im horizontalen Finanzausgleich

ausgleichsberechtigt sind, von zuvor 6 bis 7 auf nunmehr 11, 12 und in manchen

Jahren auf 13. Mehr noch: Hierdurch wurden die Zahler im Länderfinanzausgleich,

die sogenannten ausgleichspflichtigen Länder – Bayern, Baden-Württemberg und

Hessen sowie in manchen Jahren Nordrhein-Westfalen und Hamburg – zur

Minderheit, und die Empfänger der Ausgleichszahlungen zur Mehrheit. Die

Spaltung zwischen der Majorität der finanz- und wirtschaftsschwachen

Bundesländer und der Minderheit der finanz- und wirtschaftsstarken Gliedstaaten

erschwerte nicht nur die Kompromisssuche im Bundesrat, sie verringerte auch die

Chance einer Föderalismusreform zugunsten eines dualen, kompetitiven

Föderalismus.

Dennoch blieb in der Politik im vereinten Deutschland Spielraum für die eine oder

andere Verfassungsänderung. Davon zeugt auch die 1994 verabschiedete Reform der

konkurrierenden Gesetzgebung nach Artikel 72 des Grundgesetzes. Bis 1994 hatte

dieser Grundgesetzartikel eine bundesgesetzliche Regelung im Rahmen der

konkurrierenden Gesetzgebung unter anderem an die Norm der „Wahrung der

Rechts- oder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der

Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus“ gebunden. Dieses

Erfordernis erwies sich faktisch allerdings als das Einfallstor, durch das der Bund in

12 Uwe Wagschal, Ole Wintermann und Petersen Thieß, Konsolidierungsstrategien der Bundesländer

(Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung, 2009), p.39.

6

Domänen vordrang, die zuvor den Ländern zustanden. Die Formel der

„Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ wurde 1994 ersetzt durch die Norm der

„Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ als ein

Erfordernis, das eine bundesgesetzliche Regelung legitimiert, sofern diese „im

gesamtstaatlichen Interesse“ ist (GG Art. 72 II neue Fassung).

Die Föderalismusreform I von 2006 ergänzte dieser Regelung durch eine neue

Verteilung der Kompetenzen von Bund und Ländern. Zu dieser Reform gehört der

Transfer einiger Gesetzgebungsgegenstände von der konkurrierenden Gesetzgebung

in die ausschließliche Gesetzgebung der Länder, beispielsweise der Strafvollzug und

die Besoldung und Versorgung der Beamten und Richter in den Bundesländern. Das

ermöglichte den Ländern nicht nur Spielraum beim Strafvollzug, wie der Beitrag von

Rowe und Turner in diesem Band zeigt, sondern auch für eine eigenständige Lohn-

und Pensionspolitik gegenüber ihren Beamten. Diese Chance wurde durchaus rege

genutzt. Ein Beispiel: Bei der Besoldung der Universitätsprofessoren beläuft sich in

der höchsten Besoldungsgruppe („W 3“) die Differenz zwischen dem höchsten

Bruttogrundgehalt (Baden-Württemberg) und dem niedrigsten Bruttogrundgehalt

(Hessen) mittlerweile auf 873 Euro monatlich, was immerhin 14 Prozent des

Maximums entspricht.13 Ähnliche Differenzen kennzeichnen die Besoldung von

Beamten im höheren und mittleren öffentlichen Dienst.14

Auf zunehmende Politikvielfalt weisen auch andere Indikatoren des Policy Output-

und Outcome hin. Die Länder, so verdeutlichen allein die in diesem Heft

publizierten Analysen, nutzen in der Tat das seit 1990 größer gewordene „potential

for policy outputs to diverge from one Land to another”15. Dabei kamen, so zeigen

beispielsweise vergleichende Analysen der Bildungspolitik in den Bundesländern,

mitunter überraschende Politikdifferenzen zustande: Bei der Finanzierung des

Bildungswesens lagen bis Ende der 1990 Jahre nicht die wohlhabenden

westdeutschen Ländern an der Spitze, sondern ein ostdeutsches Bundesland:

Thüringen – und zwar bei den Pro-Kopf-Bildungsausgaben ebenso wie beim Anteil

der Bildungsausgaben am Sozialprodukt.16

Bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung hingegen haben die

westdeutschen Länder bis auf den heutigen Tag einen deutlichen Vorsprung vor den

13 Berechnungsbasis: W-Besoldung. Ranking nach Abschluss der W-Reform, Forschung & Lehre 22/ 5

(2015), p. 384. Fast um die Hälfte höher lag die Spannweite vor dem Abschluss der vom Karlsruher

Verfassungsgericht angemahnten Reform der Professoren-Besoldung, vgl. Deutscher

Hochschulverband, Besoldung in der Wissenschaft 2015. Besoldungstabelle W-Besoldung mit Stand: Januar

2015, p.1. 14 N.N., Die Höhe der Beamtenbesoldung in den Ländern, unveröffentlichtes Manuskript, 2015. 15 Introduction to the Special Issue, p. 1 (Manuskript) 16 Frieder Wolf, Die Bildungsausgaben der Bundesländer im Vergleich: Welche Faktoren erklären ihre

beträchtliche Variation? (Berlin: LIT, 2006), p. 143, 147; Statistische Ämter des Bundes und der Länder,

25 Jahre Deutsche Einheit, p.50.

7

ostdeutschen Ländern – allerdings mit einem weiteren Unterschied: In den

ostdeutschen Flächenländern wird Forschung und Entwicklung „zu einem großen

Teil durch die öffentlichen Haushalte finanziert, in den westdeutschen

Flächenländern hingegen überwiegend durch die Wirtschaft“17.

Noch größer wurden nach 1990 die sozialpolitischen Unterschiede zwischen den

Bundesländern. Davon zeugt beispielsweise die Größe der jeweiligen

Sozialstaatsklientel – sie wuchs in den ostdeutschen Bundesländern infolge der

höheren Arbeitslosigkeit und der weiter vorangeschrittenen Alterung rascher als in

den westdeutschen Ländern. Von zunehmenden sozialpolitischen Unterschieden legt

auch die Spannweite bei der Armutsgefährdung Zeugnis ab. Gemessen an der

jeweiligen Armutsgefährdungsquote18 ist der Unterschied zwischen dem Bundesland

mit der höchsten Armutsrisiko – Bremen mit knapp 25 Prozent – und dem Land mit

der niedrigsten Armutsgefährdung – Bayern mit knapp 12 Prozent – noch größer als

bei der Erstmessung von 2005.19

III. Gegenbewegungen: abnehmende Politikvielfalt in den Ländern der

Bundesrepublik Deutschland

In den Analysen über den deutschen Föderalismus und seine Kapazität zum policy-

making hat die These vom „politischen Immobilismus“20 Anklang gefunden. Ihre

politiktheoretische Fundierung bekam die Immobilismus-Lehre durch die Theorie

der „Politikverflechtung“21. Die Immobilismus-Diagnose ist allerdings nicht

unumstritten. Und dass die Politikverflechtung unter bestimmten Bedingungen auch

größere Politikänderungen ermöglicht, hat nicht zuletzt die Analyse der

„Politikverflechtung im vereinigten Deutschland“22 gezeigt. Zuvor schon hatte die

Lehre vom dynamischen Föderalismus23 auf die Wandlungsfähigkeit des deutschen

Föderalismus aufmerksam gemacht. Die im vorangehenden Abschnitt erörterte

Zunahme der Politikvielfalt im deutschen Föderalismus seit der Wiedervereinigung

stützt sowohl die These vom dynamischen Föderalismus als auch die Auffassung,

17 Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 25 Jahre Deutsche Einheit, p.50. 18 Gemessen am Anteil der Personen, deren Äquivalenzeinkommen weniger als 60 Prozent des

Medians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung in Privathaushalten beträgt. Das

Äquivalenzeinkommen ist ein Indikator des bedarfsgewichteten Pro-Kopf-Einkommens je

Haushaltsmitglied, der auf der Basis des Haushaltsnettoeinkommens berechnet wird. 19 Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 25 Jahre Deutsche Einheit, p.73. 20 Fritz W. Scharpf, Politischer Immobilismus und ökonomische Krise. Aufsätze zu den politischen

Restriktionen der Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik (Kronberg, Ts.: Athenäum, 1977). 21 Scharpf, Reissert, Schnabel, Politikverflechtung. 22 Ute Wachendorfer-Schmidt, Politikverflechtung im vereinigten Deutschland (Wiesbaden: VS, 2005,

2nd ed.) 23 Arthur Benz, Föderalismus als dynamisches System. Zentralisierung und Dezentralisierung im föderativen

Staat (Opladen: Leske + Budrich, 1985).

8

dass die Politik in Deutschland beweglicher ist, als es die Theorie der

Politikverflechtung und ihre Weiterentwicklung zur Theorie der

„Politikverflechtungs-Falle“24 nahelegt.

Zunehmende Politikvielfalt ist ein Unterfall von Wandel. Doch Wandel kann

Unterschiedliches bedeuten. Wandel kann im Sinne eines abrupten Trendbruchs

verstanden werden, der sowohl die Veränderungsrichtung tiefgreifend verändert als

auch das Niveau eines Bestandes. Für einen tiefgreifenden Wandel kann aber auch

eine Serie inkrementeller Änderungen, die einen „transformativen Wandel“25

herbeiführt, verantwortlich sein. Ein Wandel kann schließlich auch durch

dynamische Kontinuität geschehen. In diesem Fall handelt es sich um eine

Veränderung im Sinne des Fortschreibens einer früher schon angelegten

Bewegungsrichtung, beispielsweise um die Weiterführung eines Trends. Dieser

Wandel umfasst zwei Unterformen: Der Trend kann ein Mehr oder ein Weniger

anzeigen. Er kann beispielsweise zunehmende Politikvielfalt oder abnehmende

Politikvielfalt bedeuten. Beides spielt auch im deutschen Föderalismus seit der

Wiedervereinigung eine erhebliche Rolle – wohingegen der der transformative

Wandel selten blieb und der abrupte Trendbruch nur einmal zustande kam, nämlich

durch den Beitritt der neuen Länder zur Bundesrepublik Deutschland.

Ein Teil der abnehmenden Politikvielfalt ist, was oft übersehen wird, der

Föderalismusreform I von 2006 zuzuschreiben. Gewiss hat diese Reform, wie weiter

oben erörtert, den Ländern in mancherlei Hinsicht mehr Regelungsmöglichkeiten

verschafft Allerdings standen der Kompetenzmehrung der Länder „erhebliche

Einbußen“26 gegenüber. Mit der Föderalismusreform I wurde nämlich nicht nur der

Kreis der Vorranggesetzgebungsbefugnisse des Bundes erweitert. Hinzu kam die

„Reduzierung der Erforderlichkeitsprüfung“27 für bundesgesetzliche Regelungen:

Der mit der Föderalismusreform I neu gefasste Artikel 72 II des Grundgesetzes sah

die Erforderlichkeitsprüfung für eine bundesgesetzliche Regelung nur noch für eine

kleinere Zahl von Gesetzgebungsmaterien vor. Das war eine folgenreiche

Weichenstellung, weil damit „das Kriterium der Erforderlichkeitsprüfung als

Regelvoraussetzung bundesgesetzlichen Tätigwerdens im Bereich der

konkurrierenden Gesetzgebung aufgegeben und eine voraussetzungslose „Vorrang-

oder Kerngesetzgebung“ eingeführt (wurde)“28. Diese Regelung schwächte die

24 Fritz W. Scharpf, Die Politikverflechtungs-Falle: Europäische Integration und deutscher

Föderalismus im Vergleich, Politische Vierteljahresschrift 29/2 (1985), pp.323-356. Scharpf hat seine

einflussreiche Diagnose später beträchtlich differenziert: Fritz W. Scharpf, The Joint-Decision Trap

Revisited, Journal of Common Market Studies 44/4 (2006), pp.845-864. 25 Wolfgang Streeck and Kathleen Thelen, Introduction: Institutional Change in Advanced Political

Economies. In: Wolfgang Streeck and Kathleen Thelen (eds.), Beyond Continuity. : Institutional Change

in Advanced Political Economies (Oxford: Oxford University Press, 2005), pp.1-39, p. 9, 19, 31 26 Grundgesetz-Kommentar Band II (Art. 20-82) Supplementum 2007, ed. by Horst Dreier (Tübingen: Mohr

Siebeck, 2007), p. 50. 27 Grundgesetz-Kommentar, p.50. 28 Grundgesetz-Kommentar, p.50.

9

Position der Länder und warf sie „noch hinter den mit der Verfassungsrevision von

1994 erreichten Stand zurück“29.

Die Föderalismusreform von 2006 sorgte im Übrigen für eine weitere

Machtverschiebung zugunsten des Bundes und zu Lasten der Länder: Die Materien

der Rahmengesetzgebung wurden nämlich in solche der konkurrierenden

Gesetzgebung überführt und damit dem Zugriff des Bundes geöffnet – allerdings mit

der Möglichkeit der Abweichungsgesetzgebung der Länder nach Art. 72 II. 1 GG

(ebd. S. 51).

Für einen Teil der abnehmenden Politik-Diversität waren zudem ökonomische

Konvergenzvorgänge verantwortlich. Ein besonders wichtiger Vorgang ist die

Annäherung der Wirtschaftskraft und der Wirtschaftsstrukturen in Ostdeutschland

an die westdeutsche Wirtschaft. Auch wenn sich die Hoffnung des damaligen

Bundeskanzlers Kohl auf wirtschaftlich „blühende Landschaften“ im Osten

Deutschlands nicht erfüllt hat, ist doch die Wirtschaftskraft der ostdeutschen Länder

(gemessen beispielsweise am Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt) näher an die der

westdeutschen Länder herangerückt – mit hohem Tempo in den 1990er Jahren,

seither bestenfalls nur mit kleinen Zuwachsraten. Auf moderate Konvergenz deuten

auch die Wirtschaftsstrukturen in Ost und West weil in beiden Teilen Deutschlands

der Dienstleistungssektor „auf dem Vormarsch“30 ist und die ostdeutsche Industrie

sich aus ihrer schweren Krise kurz nach der Wiedervereinigung ein Stück weit erholt

hat. Hinzu kommt der Strukturwandel in der Landwirtschaft, der parallel zum

Fortbestand großer Betriebe in den neuen Ländern einen Konzentrationsprozess in

den alten Bundesländern umfasst.31

Mit der Annäherung der Wirtschaftskraft und der Wirtschaftsstruktur hängen zwei

weitere Konvergenzprozesse zusammen: In Ostdeutschland ist die

Arbeitslosenquote zwar nach wie vor erheblich höher als im Westen des Landes –

doch ist ihr Niveau mittlerweile niedriger und zudem ist die Spannweite der

Arbeitslosenquote zwischen Ost und West ebenfalls geringer geworden. Bei den

Einkommen der Arbeitnehmer zeichnet sich ebenfalls ein Annäherungsprozess an:

Die Einnahmen aus abhängiger Arbeit im Osten Deutschlands gleichen sich ein Stück

weit den Westverdiensten an.32

Annäherungen gibt es auch in einigen Politikfeldern, auch in Teilen der Bildungs-

und der Sozialpolitik. Bei den Bildungsausgaben ist die Vorrangstellung der

ostdeutschen Länder in dem ersten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung

mittlerweile – im Spiegel neuerer Berechnung der Bildungsausgaben – zu Ende

29 Grundgesetz-Kommentar, p.50. 30 Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 25 Jahre Deutsche Einheit, p.33. 31 Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 25 Jahre Deutsche Einheit, p.33. 32 Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 25 Jahre Deutsche Einheit, p.69.

10

gegangen. Zudem haben die westdeutschen Länder, die bis dahin bei den

Bildungsfinanzen zurückhaltender agierten als die ostdeutschen Länder, wieder

aufgeholt.33 Schließlich gibt es in der Sozialpolitik neben Anzeichen zunehmender

Politikvielfalt auch Hinweise auf abnehmende Diversität: So hat beispielsweise die

zunehmende Ärztedichte in Ostdeutschland den Unterschied zur westdeutschen

Ärztedichte spürbar verringert.34

IV. Politikvielfalt in Deutschlands Föderalismus im internationalen Vergleich

Die Unterschiede zwischen den deutschen Bundesländern sind auch aus der

Perspektive des internationalen Vergleichs beachtlich. Ein Beispiel aus der

Bildungspolitik als dem Politikfeld, in dem die Bundesländer besonders viel

Gestaltungsspielraum haben, soll dies illustrieren. Der Großteil der öffentlichen

Bildungsausgaben in Deutschland wird von den Bundesländern finanziert – mit

nennenswerten Unterschieden in der Finanzausstattung des Bildungswesens

insgesamt und der Bildungsausgaben pro Kopf. Berücksichtigt man nur die

Flächenstaaten mit den höchsten und den niedrigsten Bildungsausgaben pro Kopf,

so entsprechen die Ausgaben des schwächsten Bundeslandes – Brandenburg – 61

Prozent (2002) bzw. 68 Prozent (1992) der Ausgaben in Baden-Württemberg, dem

Land mit den zu diesen Zeitpunkten höchsten Ausgaben.35 Erheblich größere

Unterschiede zeigt die Bildungsausgabenquote an, der Anteil der öffentlichen

Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt. Hier hatte der Flächenstaat mit den

niedrigsten Ausgabenquoten (Hessen) im Jahr 1992 nur 35 Prozent der

Bildungsausgabenquote des finanzierungsfreudigsten Landes – Thüringen – erreicht,

und auch knapp 10 Jahre später (2001) nur 45 Prozent.36

Bemerkenswerterweise sind die Unterschiede in der Finanzausstattung der

Bundesländer ähnlich groß wie die Unterschiede in der Bildungsfinanzierung der

US-amerikanischen Staaten: Busemeyers Analysen zufolge reichte die Spannweite

bei den Bildungsausgabenquoten der amerikanischen Bundesstaaten von einem

Höchstbetrag von 8,7 Prozent in Vermont bis zu einem Minimum von 3,0 Prozent in

Connecticut37. Auch von den Unterschieden der Bildungsausgaben der Schweizer

Kantone ist die Politikvielfalt des deutschen Föderalismus nicht allzu weit entfernt:

In der Schweiz erreicht der bei den Bildungsausgaben finanzschwächste Kanton –

Obwalden – bei den Bildungsausgaben pro Schüler 2014 47 Prozent des Maximums,

33 Dieser Abschnitt basiert auf Befunden der überarbeiteten zweiten Auflage von Hildebrand und

Wolf (eds.) 2016. 34 Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 25 Jahre Deutsche Einheit, p.93. 35 Berechnet auf der Basis von Wolf, Bildungsausgaben, p.143. 36 Wolf, Bildungsausgaben, p.140. 37 Marius R. Busemeyer, Die Bildungsausgaben der USA im internationalen Vergleich. Politische Geschichte,

Debatten und Erklärungsansätze (Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag, 2006), pp.97-98,

Datenstand 2000.

11

das im Kanton Basel Stadt erzielt wird.38 Noch größer ist der Unterschied zwischen

den unterschiedlichen Bildungsausgaben der deutschen Bundesländer und den

homogeneren Bildungsausgaben in den österreichischen Ländern.39

Alles in allem deuten die international vergleichenden Zahlen zur Politikvielfalt bei

den Bildungsfinanzen auf ein klares Muster hin: Die Diversität im Föderalismus der

Bundesrepublik Deutschland ist beachtlich. Von reiner Uniformität im Sinne eines

näherungsweise gleichen Niveaus ist in Deutschlands Föderalismus nichts in Sicht.

Das spricht ebenso für das Narrativ der Politikvielfalt wie der internationale

Vergleich.

V. Parteipolitische und finanzierungsstrukturelle Determinanten der

Politikvielfalt und ihrer Grenzen

Ohne das Narrativ der „policy-diversity“, so lässt sich als Zwischenbilanz

formulieren, kann man Deutschlands Föderalismus weder vor der

Wiedervereinigung noch seit 1990 verstehen. Doch nur teilweise geklärt sind

Hintergründe, Anlässe und Ursachen der Politikvielfalt einerseits und der Grenzen

dieser Diversität andererseits. Hier besteht noch ein erheblicher Forschungsbedarf.

Einige Variablen tragen allerdings zu robusten Erklärungen bei – unter ihnen die

parteipolitische Zusammensetzung der Regierung mitsamt der zu ihr gehörenden

„partisan theory“40 of public policy und der Impact von Finanzierungsbedingungen

auf das Tun und Lassen der Länderregierungen (Abschnitt 5.1 und 5.2).41

5.1 Parteipolitische Determinanten der Politikvielfalt in den Ländern der

Bundesrepublik Deutschland

38 Quelle: http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/04/02/05.html (Neuchatel: Bundesamt

für Statistik, 2013), Download 13.10.2015). Ähnliche Ergebnisse lassen sich aus R. Nikolais Analyse der

Schweizer Bildungsausgaben ablesen: Rita Nikolai, Die Bildungsausgaben der Schweiz im intranationalen

und internationalen Vergleich (Berlin: dissertation.de, 2007), p. 270. 39 Quelle WKO.at/Statistik/Bundesland/BMP ABS Einwohner.pdf Abruf vom 13.10.2015. Datenstand:

2013. 40 Douglas A. Hibbs, Jr. Political Parties and Macroeconomic Policy. American Political Science Review

71/4 (1977), pp.1467-1487; Douglas A. Hibbs, Jr., Partisan theory after fifteen years. European Journal

of Political Economy 8/3 (1995), pp.361-373. 41 Selbstverständlich, so zeigen die Beiträge zum vorliegenden Sammelband, spielen auch andere

Bestimmungsfaktoren der Länderpolitik eine beträchtliche Rolle – unter ihnen institutionelle Größen

und der politisch-kulturelle Kontext (Hildebrand/Wolf und Rowe/Turner in diesem Band), die

öffentliche Meinung (Reus in diesem Band) und Rückwirkungen der Europäischen Union auf die

Mitgliedstaaten.

12

Dass die Parteienpolitik auch in den Bundesländern einen Unterschied macht, gehört

zu den Befunden der älteren und der neueren Forschung über den deutschen

Föderalismus. Schmidt (1980)42 zufolge machte die Führung der Regierung durch

sozialdemokratische oder christdemokratische Parteien einen signifikanten

Unterschied in der Politik der westdeutschen Länderregierungen. Das war laut

dieser Studie vor allem dann der Fall, wenn eine hegemoniale Partei mit sehr starker

und lang anhaltender Regierungsbeteiligung im Kontext eines hohen Niveaus

ökonomischer Entwicklung agierte. Unter diesen Bedingungen konnten

beispielsweise sozialdemokratische Regierungen ihr Streben nach politischer

Steuerung der kapitalistischen Ökonomie und „Politics against markets“43 in

nennenswertem Ausmaß realisieren. Parteieneffekte wurden auch in späteren

Analysen nachgewiesen, so in Beiträgen zum systematischen Vergleich der Politik in

den Bundesländern in Hildebrandt/Wolf (2008).44 Dass ferner große

Regierungswechsel, wie der Übergang von der CDU-Regierung zu einer grün-roten

Koalitionsregierung in Baden-Württemberg 2011, tiefe Spuren hinterlassen würde,

war zu erwarten und wird durch Änderungen in der Bildungs-, der Umwelt- und

der Partizipationspolitik in grün-sozialdemokratische Richtung bestätigt.45 Studien

über die Bildungsausgaben in den westdeutschen und den ostdeutschen

Bundesländern nach 1990 deckten ebenfalls signifikante Parteieneffekte auf –

allerdings mit überraschender Richtung: Hohe Bildungsausgaben waren

insbesondere unter christdemokratischen Regierungen zu verzeichnen, nicht unter

SPD-geführten Regierungen46. Die Dissertation von Jutta Stern 2000 hatte

demgegenüber je nach Bildungssektor unterschiedliche Ausgabenpraktiken

aufgedeckt: Stern zufolge investierten SPD-geführte Regierungen in

überdurchschnittlichem Maße in den Schulbereich, christdemokratisch geführte

Regierungen waren hingegen im Bereich der Hochschulfinanzierung spendabler47.

Nach politischen Lagern distinkte Welten der Bildungspolitik zeigen auch Studien

über die Strukturen der Bildungspolitik im Schulbereich.48 Ähnliche Befunde förderte

42 Manfred G. Schmidt: CDU und SPD an der Regierung. Ein Vergleich ihrer Politik in den Ländern,

Frankfurt/New York: Campus Verlag 1980. 43 Gösta Esping-Andersen, Politics against markets (Princeton: Princeton University Press, 1985). 44 Achim Hildebrandt and Frieder Wolf (eds.), Die Politik der Bundesländer. Staatstätigkeit im Vergleich

(Wiesbaden: VS, 2008, 2016 2nd.ed.). 45 Uwe Wagschal, Ulrich Eith, Michael Wehner (eds.), Der historische Machtwechsel: Grün-Rot in Baden-

Württemberg (Baden-Baden: Nomos, 2013). 46 Wolf, Bildungsausgaben, Aline Schniewind, Markus Freitag and Adrian Vatter, Die Staatstätigkeit

großer Koalitionen. Eine Analyse der Bildungs- und Sicherheitsausgaben im Vergleich der

Bundesländer, in: Markus Freitag and Adrian Vatter (eds.), Vergleichende subnationale Analysen für

Deutschland. Institutionen, Staatstätigkeiten und politische Kulturen (Münster: LIT, 2010), pp.179-202. 47 Jutta Stern, Programme versus Pragmatik. Parteien und ihre Programme als Einfluss- und Gestaltungsgröße

auf bildungspolitische Entscheidungsprozesse (Frankfurt a.M.: Lang, 2000). 48 Rita Nikolai and Kerstin Rothe, Konvergenz in der Schulstruktur? Programmatik von CDU und SPD

im Vergleich. Zeitschrift für Politikwissenschaft 23/4 (2013), 545-572.

13

die neueste Analyse zur Struktur und zum Wandel der deutschen Schulsysteme in

den deutschen Bundesländern von 1949 zutage49.

Parteidifferenzen programmatischer und politikinhaltlicher prägten zudem die

Frauenförderungspolitik der westdeutschen Bundesländer vor 1990, wie Anke

Schusters Bundesländervergleich verdeutlicht50. Schusters Analyse der

Frauengleichstellungspolitik im Bildungswesen, in der Arbeitsmarktpolitik, der

Frauenförderung, der Kinderbetreuung und Kindererziehung, der Familienpolitik,

der Institutionalisierung von Frauenpolitik und der Beteiligung von Frauen an

politischen Leitungspositionen stützt ebenfalls die Parteiendifferenzthese: SPD-

geführte Regierungen favorisierten eine Politik, die auf die Integration der Frauen in

die Arbeitswelt zielte und insoweit eine am klassischen Links-rechts-Schema

ausgerichtete „emanzipatorische Frauenpolitik“ bevorzugte. Traditionaler war die

Frauenpolitik der CDU- und CSU-geführten Regierungen. Einerseits hielten sie in

der Frauenförderung die Option für Unterstützung und Aufwertung der

Familienarbeit offen. Andererseits förderten sie die Beschäftigung von Frauen

insbesondere im Öffentlichen Dienst und durch den Ausbau der Teilzeitarbeit auch

in der Marktwirtschaft.

Parteipolitische Effekte kennzeichnen ferner die Umweltschutzpolitik der

Bundesländer wie Bertram Seeger Vergleich aller west- und ostdeutschen Länder

zeigt. Rot-grüne Koalitionen profilierten sich insbesondere durch eine ökozentrierte

umweltpolitische Programmatik, während bürgerlich-liberale Koalitionen in ihrem

Programm auf eine wirtschaftsschonende Umweltpolitik setzten. Allerdings wurden

die programmatischen Differenzen der Parteien in einem insgesamt nur in

verhaltenem Maße implementiert, weil die Umweltsituation und der

Umweltschutzbedarf sich am Ende als stärkere Wirkfaktoren erwiesen51.

Parteipolitische Effekte kommen auch in der Finanzpolitik der Bundesländer zum

Zuge, wie die ältere Forschung52 und neuere Analysen nachweisen.53 Zu diesen

Wirkungen gehört die signifikante Korrelation zwischen Verschuldungsstand und

parteipolitischer Couleur der Länderregierungen: je stärker die langfristige

Regierungsbeteiligung der SPD (gemessen an Kabinettsitzanteilen von der

Gründung jedes Bundeslandes bis Ende 2006), desto tendenziell höher die Pro-Kopf-

Verschuldung der Bundesländer. Die überwiegend SPD-regierten hochverschuldeten

Stadtstaaten Berlin und Bremen sind dabei das eine Extrem und Bayern, Baden-

49 Marcel Helbig and Rita Nikolai, Die Unvergleichbaren. Der Wandel der Schulsysteme in den deutschen

Bundesländern seit 1949 (Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2015). 50 Anke Schuster, Frauenpolitik zwischen parteipolitischer Programmatik und Wirklichkeit: Ein Bundes-

Länder-Vergleich (Sinsheim: Prouniversitate Verlag, 1997). 51 Bertram Seeger, Umweltpolitik in den 16 Ländern: Wahlprogramme und Regierungshandeln. Ein

Bundes-Länder-Vergleich (Universität Heidelberg: Dissertation, 2003). 52 Schmidt, CDU und SPD an der Regierung. 53 Wagschal, Wintermann, Theiß, Konsolidierungsstrategien.

14

Württemberg sowie Sachsen, die CDU- oder CSU-dominierten Länder mit niedriger

Verschuldung das andere.54

Parteieneffekte kennzeichnen überdies die Bereitschaft und Fähigkeit zum

„streamlining“ der öffentlichen Verwaltung in den Ländern seit den 1990er Jahren.

So deckten Götz, Grotz und Weber auf, dass Koalitionsregierungen aus CDU und

FDP “are the most active reformers (…) In contrast, SPD-led governments are

significantly less likely to enact reforms, with leftist coalitions (SPD-PDS) achieving

the lowest score”.55 Hinzu kommen Kontexteffekte: “The reform activity of leftist

governments varied with contextual constraints, but tends to be quite sizable under

high economic pressure or institutional opportunities. In contrast CDU-FDP reforms

have apparently been motivated by ideological reasons and where thus implemented

on a more persistent level irrespective of variations in the socioeconomic and

institutional environment.”56

Ed Turner schließlich kommt das Verdienst zu, in einer gründlichen Analyse der

Bildungs-, der Familien- und der Arbeitsmarktpolitik der Bundesländer ebenfalls

Parteieffekte nachgewiesen zu haben.57 Im Unterschied zu Schmidt (1980) kamen die

Parteieffekte aber nicht nur unter hegemonialen Regierungsparteien zustande,

sondern schon in der ersten Legislaturperiode einer neuen Regierung. Während die

SPD-geführten Regierungen in der Bildungs-, der Familienpolitik und der Childcare-

Politik nach Zielen der sozialdemokratischen „World of Welfare Capitalism“58

strebten, favorisierten die unionsgeführten Regierungen eine Politik, die die

Wahlmöglichkeiten zwischen Familienarbeit und Erwerbsarbeit offenhielt und im

Bildungswesen an Stelle der Gesamtschule die selektive Förderung im Rahmen eines

dreigliedrigen Schulwesens favorisierte.

Der Nachweis, dass Parteien auch in den deutschen Ländern einen Unterschied

machen, kann nicht überraschen, weil Deutschland nicht nur ein Bundesstaat ist,

sondern auch ein „Parteienstaat“. Manche Fachleute haben in der Verknüpfung

beider Staatsstrukturen sogar einen Sonderfall gesehen, den Fall des

„Parteienbundesstaates“59. In diesem Parteienbundesstaat konkurrieren aber

politische Parteien, die neben wichtigen Gemeinsamkeiten innen- und

außenpolitischer Art nach wie vor nennenswerte Unterschiede in der Programmatik

und in den Policy Positionen aufweisen.60 Am besten lassen sich diese Unterschiede 54 Wagschal, Wintermann, Theiß, Konsolidierungsstrategien, p.39. 55 Alexander Götz, Florian Grotz & Till Weber, Party Government and Administrative Reform:

Evidence From the German Länder. Administration & Society I-34, Online First, August 5, 2015, p.,

2014), p.24 56 Götz, Grotz & Weber, Administrative Reform, p.25. 57 Turner, Political Parties, 2011. 58 Gösta Esping-Andersen, The Three World of Welfare Capitalism (London: Polity Press, 1990). 59 Decker, Regieren; von Beyme, Deutschland. 60 Benoit, Kenneth/Laver, Michael, Party Policy in Modern Democracies (London–New York: Routledge,

2006); Matthias Bianchi, Steffen Bender, Karina Hohl, Andreas Jüschke, Jan Schoofs, Susanne Steitz

and Jan Treibel, Der Duisburger-Wahl-Index (DWI) zur Bundestagswahl 2013. Policy-Positionen von

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in einem zweidimensionalen Raum verorten, der durch die Links-rechts-Achse

definiert ist (im Sinne einer Arbeitsteilung zwischen Staat und Markt, die von

staatszentriert bis zu marktzentriert reicht) und durch eine Werteachse, die von

konservativen zu emanzipatorischen Werten führt. In diesem Raum nehmen die

Unionsparteien auf der Links-rechts-Achse eine Mitteposition ein und auf der

Werteachse eine konservative Position. Die SPD hingegen ist links von der Mitte

platziert und hält auf der Werteachse eine gemäßigt emanzipatorische Position.

Ähnliches gilt für die Linkspartei, auf der Links-rechts-Achse ist sie allerdings der

Linksaußen. Die Grünen hingegen sind durch Linksorientierung und

emanzipatorische Werte charakterisiert, und die FDP durch eine auf der Staat-Markt-

Achse marktorientierte Position und die Befürwortung liberaler Werte auf der

zweiten Achse.

Die unterschiedlichen programmatischen Positionen der Parteien machen sich

insbesondere dann in der Landespolitik spürbar, wenn die jeweiligen Parteien –

gemessen an ihrer Regierungsbeteiligung – eine dominante oder hegemoniale

Position einnehmen. Das ist für die Unionsparteien am ehesten in Bayern und in

Sachsen der Fall und bis 2011 galt das auch in Baden-Württemberg. SPD-dominierte

Länder sind vor allem die beiden Stadtstaaten Bremen und Hamburg und unter den

Flächenstaaten insbesondere Brandenburg.

5.2 Begrenzungen der Politikvielfalt: Sozialstaatsparteien, Kompetenzverteilung

zwischen Bund und Länder und Finanzierungsbedingungen

Parteieneffekte kennzeichnen die Politik in den deutschen Ländern vor und nach der

Wiedervereinigung. Allerdings muss die These, dass Parteien einen Unterschied

machen, mit mehreren Einschränkungen versehen werden. Eine Einschränkung liegt

darin, dass die Policy-Differenzen zwischen den CDU-, CSU- und SPD-geführten

Regierungen meist Differenzen erster und zweiter Ordnung sind, während

Unterschiede dritter Ordnung selten vorkommen.61 Die insgesamt meist moderaten

CDU/CSU, SPD, Grünen, FDP, Linke und Piraten zur Bundestagswahl 2013 im Vergleich (Duisburg:

NRW School of Governance, 2013).

61 Die Unterscheidung von Policy-Differenzen erster, zweiter und dritter Ordnung erfolgt analog zu

Peter Halls Differenzierung von Reformen erster, zweiter und dritter Ordnung (Peter Hall, Policy

Paradigms, Social Learning, and the State. The Case of Economic Policymaking in Britain, Comparative

Politics 25/2 (1993), 275-296.) Policy-Differenzen erster Ordnung sind Unterschiede infolge von

inkrementellen Anpassungen bestehender Policy-Instrumente an Änderungen in der Umwelt oder

der Innenwelt der Politik. Differenzen zweiter Ordnung betreffen Unterschiede in der Art der Policy-

Instrumente und ihrer Nutzung. Policy-Differenzen dritter Ordnung schließlich umfassen zusätzlich

zu den Unterschieden bei den Policy-Instrumenten auch Unterschiede in der zugrundeliegenden

Steuerungsphilosophie, beispielsweise den Unterschied zwischen einer keynesianischen oder einer

monetaristischen Wirtschaftspolitik oder die Differenz zwischen einer Schulpolitik, die mit

16

Policy-Differenzen haben ihre Hauptursache darin, dass dass die zwei größten

Parteien im Deutschland von heute – die CDU/CSU und die SPD –

Sozialstaatsparteien sind. Insoweit haben beide Parteien in der Sozialpolitik, einem

Politikfeld von überragender Bedeutung und größtem finanziellen Gewicht, viel

gemeinsam, insbesondere die Befürwortung der Aufrechterhaltung und

gegebenenfalls des Ausbaus eines starken, finanziell höchst aufwendigen

Wohlfahrtsstaates. Das vermindert unter sonst gleichen Bedingungen das Gewicht

der Policy-Differenzen zwischen den SPD- und den CDU/CSU-Regierungen.

Weitere institutionelle Faktoren verkleinern ebenfalls den Handlungsspielraum der

Länderregierungen. Zweierlei ist hierbei wichtig: die Kompetenzverteilung zwischen

Bund und Ländern sowie die Finanzierungsbedingungen der Länderregierungen.

Bekanntlich hat die Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern sowie

zwischen der Europäischen Union und Deutschland den Ländern nur noch wenige

eigenständige Spielräume belassen. Am wichtigsten sind die Spielräume in der

Bildungspolitik, im Politikfeld der inneren Sicherheit und seit der

Föderalismusreform 2006 auch bei der Besoldung und der Versorgung62 der Beamten

und Richter der Länder. In allen anderen Politikfeldern sind die Länder – sofern es

sich nicht um ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes oder der

Europäischen Union handelt – nur ein Mitregent unter mehreren. Dass diese

Kompetenzverteilungen den Spielraum für autonome politische Gestaltung der

Länder drastisch verringern, steht außer Frage.

Als Schranke wirken zudem die Finanzierungsbedingungen, unter denen die Länder

der Bundesrepublik regieren. Zweierlei ist hier von größter Bedeutung. Erstens

bewirken die umfangreichen horizontalen und vertikalen Verteilungsströme im

Bund-Länder-Gefüge eine sehr starke Umverteilung von West nach Ost und generell

von Reich zu Arm. Die Umverteilung ist so stark, dass die finanzschwächeren

Länder nach allen Umverteilungsvorgängen ähnlich viele finanzielle Ressourcen

haben wie die wirtschafts- und finanzstärkeren Bundesländer. Die Verteilungs- und

Umverteilungsmechanismen im deutschen Föderalismus vergrößern die Chancen

der Politikgestaltung der ursprünglich finanzschwächeren Länder, vermindern aber

die Möglichkeiten zur Politikgestaltung bei den reichen Länder und verringern im

Ergebnis die Policy-Differenzen zwischen reichen und armen Ländern in

erheblichem Umfang.

Eine zweite Finanzierungsbedingung verkleinert ebenfalls den Spielraum der

Länderregierungen. Die Länderregierungen handeln im Rahmen von knapp

begrenzten finanzpolitischen Spielräumen. Besonders eng sind diese Spielräume,

Gesamtschulen an Stelle von einem beispielsweise nach Volksschule, Mittelschule und Gymnasium

gegliederten Schulsystem arbeitet. 62 „Versorgung“ ist hier als sozialpolitische Kategorie zu verstehen. Sie umfasst insbesondere die

Alterspensionen für Beamten und die Mitfinanzierung der Gesundheitsdienstleistungen für die

Beamten und Richter.

17

weil die Länder ihre Politiken hauptsächlich aus Steuern finanzieren. Die

ertragreichsten Steuern sind aber Teil des Steuerverbundes von Bund und Ländern,

die allesamt gesetzgebungstechnisch nur durch Zustimmung des Bundestages und

des Bundesrates verändert werden können. Die potenziell denkbare Erhöhung der

Staatseinnahmen durch Steuererhöhungen ist gesetzgebungstechnisch schwierig und

wird deshalb selten beschritten: Steuererhöhungen erfordern entweder

zustimmungspflichtige Gesetze oder Verfassungsänderungen. In beiden Fällen sind

die Hürden der Konsensfindung für ein Vorhaben besonders hoch, das obendrein bei

den Wählern höchst unpopulär gilt.

Mehr noch: Der steuerfinanzierte Teil der Staatstätigkeit von Bund und Ländern ist

derzeit mit rund 23 Prozent63 auch im internationalen Vergleich klein64 und er war

auch zuvor nicht viel größer. Die Ursache dafür liegt zum einen in der besonderen

Größe der aus den Sozialabgaben der Arbeitnehmer und ihrer Arbeitgeber

finanzierten Staatstätigkeit, die rund zwei Drittel des gesamten Sozialbudgets in

Deutschland, das sich auf rund 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) beläuft,

finanzieren. Weil aber zum anderen der Anteil der gesamten öffentlichen Ausgaben

am Bruttoinlandsprodukt in Deutschland im internationalen Vergleich nur

mittelgroß ist, bleiben für die steuerfinanzierten Staatstätigkeiten nur eng begrenzte

Mittel übrig.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Finanzierungsbedingungen den

Länderregierungen insgesamt enge Grenzen setzen und zudem aufgrund

weitreichender Umverteilungen zugunsten von finanzschwächeren Bundesländern

die Chancen größerer Politikdifferenzen zwischen den Ländern erheblich verringern

soweit es sich um finanziell kostspielige Vorhaben handelt. Beide Entwicklungen

verengen demnach auch den Spielraum für Parteiendifferenzen in der Länderpolitik.

6. Schlussfolgerung

Das Narrativ der policy-diversity ist – so zeigen die Beiträge in diesem Band und

andere Studien zum Bundesländervergleich – außerordentlich hilfreich und liefert

eine unverzichtbare Korrektur einer Perspektive, die primär die Einheitlichkeit der

Lebensverhältnisse in Deutschland betont. Doch wie bei allem sozialen Wandel sollte

ein Lehrsatz der komparatistischen Forschung nicht übersehen werden: Auch große

Änderungen in den politischen, den sozialen oder den ökonomischen Strukturen

gehen in der Regel mit einem hohen Maß an Kontinuität einher. Ähnliches gilt für

die Analyse von policy-diversity im Bundesländervergleich. Neben der

unbestreitbaren Politikvielfalt gibt es – nicht zuletzt aufgrund des Wettbewerbs

63 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Mehr Vertrauen in

Marktkräfte. Jahresgutachten 14/15 (Wiesbaden: Statistisches Bundesamt, 2014), p. 29. 64 Frieder Wolf, Bildungsfinanzierung in Deutschland (Wiesbaden: VS, 2008), p.41.

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zwischen zwei Sozialstaatsparteien und aufgrund der zuvor erwähnten

Finanzierungsstrukturen – beträchtliche Gemeinsamkeiten zwischen den

konkurrierenden Parteien sowie ein erhebliches Ausmaß an Kontinuität von Politik

einerseits. Mitunter kommen auch Gegenbewegungen zur zunehmenden policy-

Diversität zustande. Insoweit ist Deutschlands Föderalismus vielfältiger als man auf

den ersten Blick meinen könnte: Zu ihm gehören, so zeigt der

Bundesländervergleich, Kontinuität und Diskontinuität, Gemeinsamkeiten und

Unterschiede und nicht zuletzt sowohl zunehmende wie auch abnehmende policy-

Diversität. Insgesamt aber ist, so lehrt der Vergleich des deutschen Föderalismus mit

anderen Bundesstaaten, das verbleibende Maß an Diversität von beachtlicher Größe.