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Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural Dissertation in der Philosophischen Fakultät und Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg vorgelegt von Hyok Park aus Seoul, Süd-Korea D 29

Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

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Politik und Pluralität

Die Pluralität als das politische Phänomen

bei Hannah Arendt

Inaugural – Dissertation

in der Philosophischen Fakultät und Fachbereich Theologie

der Friedrich-Alexander-Universität

Erlangen-Nürnberg

vorgelegt von

Hyok Park

aus

Seoul, Süd-Korea

D 29

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Tag der mündlichen Prüfung: 11. 02. 2009

Dekan: Universitätsprofessor Dr. Jens Kulenkampff

Erstgutachter: Universitätsprofessor Dr. Clemens Kauffmann

Zweitgutachter: PD. Dr. Wolfgang Bergem

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2008/09 von der Philosophischen Fakultät

der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen.

Mein Dank gilt in erster Linie meinem Doktorvater Prof. Dr. Clemens Kauffmann, der sich

stets freundlich um mich gekümmert und mir bei kleinen und großen Problemen zur Seite

gestanden hat. Sein Vertrauen, seine Anregungen und seine Betreuung trugen wesentlich

zum Gelingen dieses Vorhabens bei. Ein herzlicher Dank gilt auch Herrn PD. Dr. Wolfgang

Bergem, der sich die große Mühe des Zweitgutachtens gemacht hat.

Ansonsten gilt mein Dank meinen Korrekturlesern Dr. Tina Plank, Sung-Ju Kim und Alfred

Stolz. Bedanken möchte ich mich auch bei den deutschen und koreanischen Freunden in

Regensburg, die mir immer wieder Mut gemacht haben und die mir jede denkbare Unters-

tützung gegeben haben. Mein bester Dank gilt auch meiner Freundin Bomi, die immer bei

mir stand und mir die Kraft gab, mein Vorhaben zu einem guten Ende zu bringen.

Nicht zuletzt muss ich meine Dankbarkeit gegenüber meiner Familie in Korea aussprechen,

die mich neun Jahre lang unterstützt und immer ermutigt hat. Gewidmet ist diese Arbeit

meiner Mutter J.-L. Jeoung, die vor sechs Jahren verstorben ist.

Erlangen, im März 2009 Hyok Park

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1

Inhalt

Einleitung .......................................................................................................................... 7

I. Die Grundlage des politischen Denkens von Hannah Arendt ........................... 15

1. Politische Anthropologie .................................................................................... 15

1.1 Arendts Kritik an der metaphysischen Bestimmung der Menschennatur ..... 16

1.1.1 Die Verdinglichung ............................................................................... 16

1.1.2 Unveränderbarkeit................................................................................. 19

1.1.3 Singularität ............................................................................................ 21

1.2 Natalität ......................................................................................................... 23

1.2.1 Von Mortalität zu Natalität ................................................................... 23

1.2.2 Die politische Bedeutung der Natalität ................................................. 25

1.2.3 Die Zukünftigkeit der Natalität ............................................................. 27

1.3 Welt ............................................................................................................... 30

1.3.1 Die Doppeldimension der Welt ............................................................ 30

1.3.2 Die politische Wiedergewinnung des Weltbegriffs .............................. 32

1.3.3 Weltverlust und Weltentfremdung ........................................................ 34

1.4 Pluralität ........................................................................................................ 36

1.4.1 Zwei Bestandteile der Pluralität ............................................................ 36

1.4.2 Pluralität als politisches Phänomen ...................................................... 39

2. Die handlungstheoretischen Grundlagen ............................................................ 42

2.1 Das Politische als Handeln............................................................................ 42

2.2 Die Unterscheidung der Tätigkeitsformen .................................................... 44

2.3 Drei menschliche Tätigkeitsweisen .............................................................. 47

2.3.1 Das Arbeiten ......................................................................................... 48

2.3.1.1 Das Arbeiten und die Notwendigkeit ................................................. 49

2.3.1.2 Arbeit und Welt.................................................................................. 51

2.3.1.3 Arbeit und Individuum ....................................................................... 52

2.3.2 Das Herstellen ....................................................................................... 54

2.3.2.1 Die objektive Weltbildung ................................................................. 54

2.3.2.2 Die souveräne Tätigkeit ..................................................................... 56

2.3.2.3 Die zweckorientierte Tätigkeit ........................................................... 57

2.3.3 Das Handeln .......................................................................................... 58

2.3.3.1 Die Tätigkeit zwischen Menschen ..................................................... 58

2.3.3.2 Agonalität des Handelns .................................................................... 60

2.3.3.3 Die Aporien des Handelns ................................................................. 63

3. Methodologische Grundlage ............................................................................... 67

3.1 Der phänomenologische Zugang zum Politischen ........................................ 68

3.2 Das Verstehen ............................................................................................... 71

3.3 Das Erzählen ................................................................................................. 73

3.4 Archäologie der politischen Begriffe ............................................................ 76

3.5 Die Unterscheidung ...................................................................................... 78

II. Gesellschaft und Pluralität ..................................................................................... 82

1. Die moderne Gesellschaft und die Krise der Pluralität ....................................... 82

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1.1 Ökonomische Gesellschaft............................................................................ 83

1.1.1 Kolonisierung des Politischen durch das Gesellschaftliche.................. 83

1.1.2 Identifikation von Politischem und Ökonomie ..................................... 86

1.2 Arbeitsgesellschaft ........................................................................................ 90

1.2.1 Die Vergesellschaftung des Arbeitens .................................................. 90

1.2.2 Akkumulationsprozess und Entwurzeltsein .......................................... 94

1.2.3 Die Arbeitsteilung als gesellschaftliche Organisationsform ................. 98

1.3 Die Massengesellschaft ............................................................................... 100

1.3.1 Masse und Elite ................................................................................... 100

1.3.2 Massen und Totalitarismus ................................................................. 106

1.3.3 Masse und Human Condition.............................................................. 108

1.3.3.1 Weltlosigkeit .................................................................................. 108

1.3.3.2 Selbstlosigkeit ................................................................................ 112

1.3.3.3 Überflüssigkeit ............................................................................... 115

2. Die Form der menschlichen Beziehung in der Gesellschaft ............................. 118

2.1 Die konformistische Beziehung: Egalität ................................................... 118

2.2 Die Subjektivierung der Beziehung: Intimität ............................................ 122

Exkurs: Die politische Freundschaft .................................................................. 126

2.3 Die Anonymisierung der Beziehung: Bürokratie ....................................... 130

3. Kritische Argumentationen über Arendts Dualismus von Gesellschaftlichem und

Politischem ........................................................................................................ 134

3.1 Die liberale Kritik: Politisierung oder Entpolitisierung? ............................ 134

3.2 Benhabibs Kritik: agonal oder narrativ? ..................................................... 139

III. Philosophie und Pluralität .................................................................................... 147

1. Politische Philosophie und Politische Theorie .................................................. 147

1.1 Arendts Abkehr von der philosophischen Tradition ................................... 147

1.2 Die Tradition politischer Philosophie ......................................................... 150

1.3 Die politische Theorie als die Theorie der Pluralität .................................. 154

2. Plato und die Entstehung der Tradition politischer Philosophie ....................... 158

2.1 Der Konflikt zwischen Politik und Philosophie.......................................... 158

2.1.1 Die Unterordnung der Politik unter die Philosophie........................... 158

2.1.2 Die Meinungsabwertung ..................................................................... 162

2.1.3 Die Gründung der Akademie .............................................................. 168

2.2 Die Transformation des Handelns in Herstellen ......................................... 171

2.3 Die politischen Konsequenzen der Transformation des Handelns ............. 176

2.3.1 Die Instrumentalisierung der Politik im Zweck-Mittel-Schema ......... 176

2.3.2 Identifizierung von Freiheit und Souveränität .................................... 179

2.3.3 Zentralisierung des Herrschaftsbegriffs im politischen Bereich ......... 181

3. Rousseau und die Tradition politischer Philosophie ......................................... 186

3.1 Das Repräsentationsprinzip ........................................................................ 186

3.2 Volkssouveränität ....................................................................................... 191

3.3 Der Gemeinwille als die metaphysische Begründung der politischen

Ordnung ...................................................................................................... 194

4. Karl Marx und die Tradition politischer Philosophie ....................................... 201

4.1 Marx und das Ende der Tradition ............................................................... 201

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3

4.2 Der Doppelcharakter des marxschen Arbeitsbegriffs ................................. 203

4.3 Das Gattungswesen als die Einheit zwischen Gesellschaft und Individuum

..................................................................................................................... 208

4.4 Identifizierung des Politischen mit „Geschichtemachen“ ........................... 211

IV. Politik und Pluralität ........................................................................................... 218

1. Identität und Pluralität....................................................................................... 218

1.1 Gleichheit und Differenz............................................................................. 218

1.2 Der handlungstheoretische Begriff der Identität ......................................... 221

1.2.1 Der Begriff der Identität...................................................................... 222

1.2.2 Die Offenheit der Identität .................................................................. 224

1.2.3 Die Narrativität der Identität ............................................................... 226

1.2.4 Die politische Identität ........................................................................ 229

1.3 Interdependenz von Selbst und Welt: Arendts Auseinandersetzung mit

Heidegger .................................................................................................... 233

1.3.1 Der existenzphilosophische Ansatz in der politischen Theorie Arendts

............................................................................................................. 233

1.3.2 Das weltlose Selbst ............................................................................. 235

1.3.3 Die Welt als Gegensatz des eigentlichen Selbst ................................. 240

2. Pluralität und Kategorie des Politischen ........................................................... 244

2.1 Die Freiheit als ein politisches Phänomen .................................................. 244

2.1.1 Politik und Freiheit ............................................................................. 245

2.1.2 Die öffentliche und die bürgerliche Freiheit ....................................... 250

2.1.3 Freiheit und Willen ............................................................................. 255

2.1.4 Konstitution der Freiheit ..................................................................... 259

2.2 Die Autorität als die Konstitution der Pluralität ......................................... 266

2.2.1 Der Begriff der Autorität und ihre politische Bedeutung ................... 266

2.2.2 Die Interdependenz von Autorität und Freiheit .................................. 270

2.2.3 Autorität, Herrschaft und Macht ......................................................... 274

2.3 Die politische Macht ................................................................................... 279

2.3.1 Herrschaft als Entmachtung der Macht ............................................... 279

2.3.2 Macht und Gewalt ............................................................................... 285

2.3.3 Machtverteilung als Pluralität der Machtzentren ................................ 291

2.3.4 Der Begriff der öffentlichen Macht .................................................... 294

3. Pluralität und Rationalität des Politischen: Die politische Urteilskraft ............ 299

3.1 Die Umkehr zur Philosophie? ..................................................................... 299

3.2 Das Phänomen der Urteilsunfähigkeit im Totalitarismus ........................... 302

3.3 Die politische Interpretation der ästhetischen Urteilskraft von Kant.......... 306

3.3.1 Von Aristoteles zu Kant ...................................................................... 306

3.3.2 Die erweiterte Denkungsart ................................................................ 309

3.3.3 Die reflektierende Urteilskraft ............................................................ 312

3.4 Die Konzeptionen der politischen Urteilstheorie bei Hannah Arendt ........ 314

3.4.1 Der Begriff des Gemeinsinns .............................................................. 314

3.4.1.1 Gemeinsinn versus Privatsinn ........................................................ 315

3.4.1.2 Der Gemeinsinn und die Gültigkeit des Urteilens ......................... 317

3.4.1.3 Der moderne Verlust des Gemeinsinnes ........................................ 318

3.4.2 Die politische Form der Kommunikation: Überreden ........................ 322

3.4.2.1 Die Form des Gültigkeitsanspruchs des politischen Urteilens ...... 323

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3.4.2.2 Die Überzeugungskraft und die Rationalität des politischen Urteilens

....................................................................................................... 325

3.4.2.3 Die Kritik an Arendts Konzept der politischen Rationalität .......... 328

3.4.3 Die Interesselosigkeit beim politischen Urteilen ................................ 331

3.4.3.1 Der Begriff „Interesse“ .................................................................. 332

3.4.3.2 Kritik an dem Konzept der Interesselosigkeit ................................ 336

V. Zusammenfassung und Schluss............................................................................340

VI. Literaturverzeichnis....…………………………………………………………...345

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Siglen

In den Anmerkungen dieser Arbeit werden die folgenden Abkürzungen verwendet:

BAH Hannah Arendt - Martin Heidegger, Briefwechsel

BAJ Hannah Arendt - Karl Jaspers, Briefwechsel

BAM Hannah Arendt - Mary McCarthy, Briefwechsel

DD Arendt: Vom Leben des Geistes, Bd. 1: Das Denken

DLA Arendt: Der Liebesbegriff bei Augustin

DT Arendt: Die verborgene Tradition

DTB Arendt: Denktagebuch

DU Arendt: Das Urteilen

DW Arendt: Vom Leben des Geistes, Bd. 2: Das Willen

EJ Arendt: Eichmann in Jerusalem

EU Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft

IG Arendt: In der Gegenwart

IWV Arendt: Ich will verstehen

KZ Arendt: Die Krise des Zionismus

MfZ Arendt: Menschen in finsteren Zeiten

MG Arendt: Macht und Gewalt

NA Arendt: Nach Auschwitz

PP Arendt: Philosophie und Politik

PV Arendt: Was heißt persönliche Verantwortung unter einer Diktatur?

RV Arendt: Rahel Varnhagen

ÜDB Arendt: Über das Böse

ÜR Arendt: Über die Revolution

VA Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben

WEP Arendt: Was ist Existenzphilosophie?

WP Arendt: Was ist Politik?

ZVZ Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft

ZZ Arendt: Zur Zeit

GV Rousseau: Gesellschaftsvertrag

KdU Kant: Kritik der Urteilskraft

LV Hobbes: Leviathan

MEW Marx/Engels: Marx-Engels-Werke

NE Aristoteles: Nikomachische Ethik

Pol Plato: Politeia

SZ Heidegger: Sein und Zeit

WG Weber: Wirtschaft und Gesellschaft

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7

Einleitung

Hannah Arendt und die Krise des Politischen

Die totalitäre Katastrophe und die ideologischen Konflikte bestimmten das Gesicht des 20.

Jahrhunderts. Diese geschichtlichen Phänomene des letzten Jahrhunderts, das Hobsbawm

„das Zeitalter der Extreme“1 genannt hat, ließen das Politische selbst zur zentralen Prob-

lemstellung werden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint der ideologische Konflikt nicht

mehr zum Thema der politischen Diskussion zu gehören, indem der Ost-West-Konflikt mit

dem Triumph des kapitalistisch liberal-demokratischen Grundmodells des Westens beendet

wurde. Dieser Triumph wird von einigen zugleich als „das Ende der Geschichte“ 2

und als

„das Ende der Politik“3 gesehen.

Ende der Politik meint Ende ihrer Möglichkeit und Aufgabe. Das bedeutet die funktionale

Unterordnung der Politik unter die ökonomischen Imperative der Gesellschaft. Die posttota-

litäre Demokratie des 21. Jahrhunderts scheint die politische Katastrophe des letzten Jahr-

hunderts durch Gesellschaft ohne Politik überwältigen zu wollen. Vor dem Hintergrund

dieser Tendenz wird zum spezifischen Kennzeichen gegenwärtiger Politik „ihre Bedeutung-

slosigkeit“.4 Ein alter Traum der Utopisten, die Politik durch die politiklose Gesellschaft zu

ersetzen, scheint sich nicht mehr als utopisch zu erweisen, sondern als realistisch. In dieser

Situation geht es nicht um die Frage, was Politik ist, sondern vielmehr um die Frage: „Hat

Politik überhaupt noch einen Sinn?“5 Hannah Arendt hat bereits in den fünfziger Jahren die

Abschaffung des Politischen selbst als die wirkliche Gefahr diagnostiziert: „Die Gefahr ist,

daß das Politische überhaupt aus der Welt verschwindet.“6

Wo neue politische Theorie auftritt, da ist das Politische in die Krise geraten, und es fällt

der politischen Theorie die Aufgabe der „Erfindung des Politischen“7 zu. Beim angemesse-

nen Umgang mit der politisch krisenhaften Situation gehört Hannah Arendt zu jenen Auto-

ren, die zurzeit in aller Munde sind.8 Auf den ersten Blick ist dabei verwirrend, dass zur

posttotalitären Zeit eine Totalitarismustheoretikerin innerhalb der politischen Theorie wie-

1 Hobsbawm, 1996.

2 Fukuyama, 1992.

3 Vgl. Guèhenno, 1994, S. 39-58.

4 Bauman, 2000, S. 11.

5 WP, S. 28.

6 WP, S. 13.

7 Beck, 1993.

8 Dazu siehe Kühnhardt, 1997, S. 125-149.

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der Bedeutsamkeit erlangt. Es scheint nicht übertrieben zu behaupten, dass die neue Theorie

der Politik nicht nur die Auseinandersetzung mit der totalitären Vergangenheit verlangt,

sondern auch die Erfahrungsfähigkeit gegenüber veränderten Konstellationen. 9

In diesem

Zusammenhang stellt sich die Frage, wo die Ursache dieser Renaissance und die Leistungs-

fähigkeit der gegenwärtigen Ansätze der politischen Theorie Arendts liegen.

Mit Hannah Arendt können wir Zugang zum Wesen der Krise des Politischen in unserer

Zeit finden. Das Wesen der politischen Probleme in unserer Zeit besteht Arendts Ansicht

zufolge darin, dass die politische Welt, die auf dem handelnden und sprechenden Miteinan-

der beruht, ihre pluralitätskonstitutive Kraft verliert. In der radikalsten Negation der Plurali-

tät, die das von Arendt erkannte Hauptelement der totalitären Politik war, besteht die wei-

terhin bedrohlich totalitäre Tendenz der Gegenwart. In diesem Zusammenhang könnte

Arendts Antwort inmitten des Verlustes des Politischen nur lauten: das Prinzip der Pluralität

muss neu belebt werden.

Bereits im letzten Jahrhundert haben die Erfahrung des Totalitarismus und die zunehmen-

den Tendenzen der Negation der Differenzen in der globalisierten Welt das Thema Plurali-

tät auf den Tisch gebracht. Der Begriff ‚Pluralität‟ wird heute als Voraussetzung, Grund,

Mitte und Norm für das Ganze der politischen Realität verwendet. Der Begriff der Pluralität

ist neben seiner Verwendung in der politischen Theorie in den verschiedensten Wissen-

schaftszweigen verwandelt, so etwa in der Theologie, Soziologie, Philosophie, Psychologie

usw. Er ist schließlich zu einem gängigen Begriff der Alltagssprache geworden. Trotz die-

ser Inflation des Begriffs der Pluralität in den gegenwärtigen Wissenschaften und Alltags-

sprache ist das verwirrend mannigfaltig und umstritten, was mit diesem Wort eigentlich

gemeint ist: Was versteht man unter Pluralität? Wie ist der Begriff der Pluralität als das

Thema politischer Theorie begründbar?

Pluralität als das Thema der politischen Theorie

Man versteht eine Theorie erst dann, wenn man rekonstruiert hat, auf welche Frage sie die

Antwort darstellen soll und auf welche Frage sie sich konzentriert. Ohne Zweifel ist Hannah

Arendt in unserer Gegenwart zu einer der „Klassier der Politikwissenschaft“10

aufgestiegen.

Diese Klassizität zeigt sich nicht nur darin, dass sie Bezugspunkt in ganz unterschiedlichen

Diskussionsfeldern geworden ist: ob in der Totalitarismustheorie, der Revolutionstheorie,

9 „Eine völlig neue Welt bedarf einer neuen politischen Wissenschaft” (Tocqueville, 1962, S. 9).

10 Bleek/Lietzmann (Hrsg.), 2005.

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der Moralphilosophie, Feminismusdebatten, Urteilslehre und Fragen des Judentums. Die

Klassizität der Arendtschen Theorie lässt sich auch durch die Einheit des gemeinsamen

Nachdenkens über Politik in der Vielfalt der von ihr vertretenen Theorien, Begriffe und

Fragestellungen begründen.11

Hannah Arendt verwendet den Begriff der Pluralität als das

normative Kriterium für alle Zentralkategorien des Politischen.12

Die Pluralität ist im

Arendtschen gesamten Denken der kategorienbildende Begriff, von dem aus die zentralen

Konzepte des Politischen miteinander zusammengesetzt werden können.

Arendts politische Theorie wirft erneut ein klassisches Thema auf: das Verhältnis von Poli-

tik und Pluralität. In der politischen Ideengeschichte bildet die Beziehung zwischen Politik

und Pluralität einen klassischen Streit. Dabei wird die Politik als einheitsstiftendes Problem-

lösungsmedium menschlicher Pluralität, die „eine Schwäche der menschlichen Natur“13

darstellt, eingesetzt. Als Aufgabe der politischen Pluralismustheorie wird es angesehen, die

Mitte zwischen Pluralität und Vereinheitlichung zu finden. So schreibt Kurt Sontheimer:

„Im smendschen Begriff der Integration als dem Prozeß, in dem der Staat die Vielheit der

gesellschaftlichen Interessen zur Einheit eines Staatswillens fortlaufend integriert, ist die

Idee des Pluralismus mit der dem Staatswillen zugeschriebenen Idee der Einheit produktiv

verbunden worden.“14

Nach diesem Verständnis des Pluralismus ist die Pluralität nicht

„Selbstzweck“15

. Daher ist die Pluralität nicht als das Phänomen des Politischen überhaupt

behandelt.

Von dieser Pluralismustheorie unterscheidet sich Arendts Konzept der Pluralität sichtbar.

Für Arendt bezeichnet sich die Pluralität als Selbstzweck des Politischen. „Zwar ist men-

schliche Bedingtheit in allen ihren Aspekten auf das Politische bezogen, aber die Bedingt-

heit durch Pluralität steht zu dem, daß es so etwas wie Politik unter Menschen gibt, noch

einmal in einem ausgezeichneten Verhältnis; sie ist nicht nur die conditio sine qua non,

sondern die conditio per quam.“16

Diese Aussage von Arendt selbst lässt keinen Zweifel

darüber aufkommen, dass sie die Politik als das Problem der Pluralität betrachtet. So ist die

politische Theorie für Arendt die Theorie der Pluralität. Denn: „Politik beruht auf der Tat-

sche der Pluralität der Menschen“17

: „Politik handelt von dem Zusammen- und Miteinan-

11

Vgl. Bleek/Lietzmann, 2005, S. 17. 12

Dagegen weist Morgenthau darauf hin: „Es gibt also in jeder politischen Philosophie ein normatives Ele-

ment; bei Hannah Arendt ist dieses normative Element verhüllt und kommt auch im Verlauf ihrer Argu-

mentation nicht deutlich heraus.“ (Morgenthau, 1979, S. 242). 13

VA, S. 299; vgl. PP, S. 399. 14

Sontheimer, 1976, S. 256. 15

Detjen, 1991, S. 156. 16

VA, S. 17. 17

WP, S. 9.

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10

der-Sein der Verschiedenen“18

. Diese These lässt sich so interpretieren: Nur die Pluralität

ermöglicht den Menschen überhaupt das politische Handeln und damit die Freiheit. Die

Abschaffung der Pluralität bedeutet daher immer die Zerstörung des Politischen und den

Verlust der Freiheit.

Die Entdeckung der Pluralität als ein Fundament des Politischen ist ein eigenartiger Beitrag,

den Arendt zur politischen Theorie unserer Zeit geleistet hat. Hannah Arendt ist eine Den-

kerin der Pluralität, die die Frage nach der Pluralität innerhalb des politischen Zusammen-

hangs zum grundlegenden Thema politischer Theorie gemacht hat. Durch die Auseinander-

setzung mit der Politik des 20. Jahrhunderts, vor allem durch die Gefahr der totalitären Phä-

nomene, lenkt Arendt unsere Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der menschlichen Plurali-

tät für das Verstehen der politischen Welt.

Arendt versteht Pluralität nicht als eine Pluralität der Werte, sondern als eine des politischen

Handelns und der politischen Handelnden. Arendts Ansicht zufolge ist der Sinn von Politik

die Pluralität, nämlich die Möglichkeit eines Zusammenhandelns aller im öffentlichen

Raum. Das Politische wird nur erfahren, wenn Verschiedene unter Gleichen in einem öf-

fentlichen Raum zusammenhandeln. Die Pluralität ist nicht nur Vorbedingung des politi-

schen Lebens, sondern ein Zweck des politischen Lebens. Sie tritt nicht nur als die ontolo-

gische Bedingung der menschlichen Welt auf, sondern als das politische Phänomen. Beim

politischen Phänomen geht es zugleich um das Subjekt des Handelns und um die gemein-

same Welt, also um Selbst und Welt.19

Für die Konzeption der politischen Pluralität schlie-

ßen sich die beiden Pole: Differenz und Gemeinsamkeit nicht gegenseitig aus, sondern sie

stehen im Verhältnis wechselseitiger Ermöglichung. In der Diagnose der Krise des Politi-

schen stellt Arendt fest, dass die Abschaffung der öffentlich-gemeinsame Welt prinzipiell

das im Miteinander beschlossene Selbstsein des Menschen in Gefahr bringt. Politisch ge-

sagt geht Arendts Pluralitätstheorie über die Pluralismustheorien hinaus, die „den erhebli-

chen Spannungen zwischen der Macht der Verbände und der Ohnmacht des einzelnen Bür-

gers zu wenig Aufmerksamkeit schenken“.20

Arendts Pluralitätstheorie vollzieht sich im

Spannungsverhältnis zwischen den einzigartigen pluralen Individuen und der gemeinsamen

Welt.21

Was die Aufsplitterung traditioneller Einheitskonzeptionen betrifft, besteht die

wichtige Aufgabe der politischen Theorie im Lösungsversuch der Frage nach der Gründung

von Gemeinsamkeit in der Differenz der Individuen. Die Entdeckung der Pluralität stellt

18

WP, S. 9; DTB, S. 17. 19

Vgl. Meints, 2008, S. 79ff. 20

Schmidt, 2000, S. 236. 21

Vgl. WP, S. 169.

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eine intensive Suche nach den Grundlagen der Beziehung zwischen Individuum und Plura-

lität und damit nach der neuen Möglichkeit des menschlichen Zusammenlebens dar. Die

Pluralität ist für Arendt das konstitutive Prinzip der politischen Welt.

Fragestellung und Aufbau der Arbeit

Die folgende Arbeit setzt sich zum Ziel, die politische Theorie von Hannah Arendt im

Hinblick auf den Pluralitätsbegriff zu interpretieren. Diese Interpretation soll einem Zweck

dienen, verschiedene und heterogene Themen auf ein gemeinsames Fundament hin zu ver-

stehen. Das Thema, das diese Arbeit anzeigen wird, will zum Verständnis von Grunddi-

mension der politischen Theorie von Hannah Arendt und zu einer neuen Wertschätzung der

Pluralität als des politischen Phänomens beitragen. Der Versuch, verschiedene und hetero-

gene Themen der Arendtschen Theorie des Politischen auf den Pluralitätsbegriff als ein

gemeinsames Fundament hin zu verstehen, ist nicht nur durch den theoretisch-

interpretativen Ansatz begründbar, sondern er hat mit der gegenwärtigen Krise des Politi-

schen zu tun, wo der Mensch sowohl selbst- wie weltvergessen existiert. Damit verbunden

geht diese Arbeit von der Frage aus, ob sich Lösungsperspektiven aus Arendts Pluralitäts-

konzept hinsichtlich des gegenwärtigen Zusammenbruchs des politischen Zusammenlebens

gewinnen lassen, also der Frage, wie Arendts Pluralitätstheorie die Grundlagen der Bezie-

hung zwischen Individuum und politischer Welt begründet.

Die Schwierigkeit für diese Interpretation der Arendtschen Theorie steht darin, dass Arendt,

auch wenn sie ohne Zweifel zu den originellen wie brillanten Denkern gehört, keine syste-

matische Denkerin ist.22

Das Werk Hannah Arendts ist durch seinen Mangel an Systematik

oder mangelnde Thesenkonsistenz gekennzeichnet. Das erschwert, dass man die Gedanken-

reichen miteinander verbindet und kohärent interpretiert. Daraus verweist man auf die the-

matischen und zeitlichen Widersprüche und Uneinheitlichkeit ihres Denkens.23

Darüber

hinaus wird die Absicht, Arendts politische Theorie durch das theoretische Basis der Plura-

lität zu rekonstruieren, dadurch erschwert, dass Hannah Arendt das Problem der Pluralität in

ihren Werken niemals expliziert thematisiert. Trotz allem sind ihre Übung des politischen

Denkens, wie sie wenige Jahre vor ihrem Tod an Richard Bernstein schrieb, „Ausarbeitung

und Variationen des einen Themas“24

: der Pluralität, angefangen von den früheren, in der

22

Vgl. Weigel, 1997, S. 13ff.; Parekh, 1981, S. xi. 23

Vgl. Kuhn, 1960, S. 130; Diemer, 1962, S. 140. 24

Arendt an Richard Bernstein, 31. Oktober 1972; zit. nach Young-Bruehl, 1986, S. 450.

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Erfahrung von totalitärer Herrschaft verfassten politisch-historischen Analyse des Totalita-

rismus bis zur letzten, unvollendet gebliebenen Lehre der Urteilskraft.25

Dass der Begriff der Pluralität eine zentrale Rolle zur Interpretation und zur systematischen

Rekonstruktion der Arendtschen Theorie des Politischen spielt, tritt in den Arendtsfor-

schungen offen zutage, wird aber gleichwohl häufig nicht mehr in ausreichender Weise

gesehen. Das Thema ‚Pluralität bei Hannah Arendt‟ ist vor allem in der deutschsprachigen

Arendtsforschung bis heute sehr stiefmütterlich behandelt worden. Die Zahl der Arbeiten,

die ausdrücklich dem Thema gewidmet sind, ist sehr klein.26

Und nicht alle diese Arbeiten

bleiben wirklich bei der von ihnen intendierten Sache, nämlich dem Pluralitätsbegriff

Arendts. Es ist auch auffällig, dass das politiktheoretische Potenzial von Arendts Konzepti-

on der Pluralität, auch wenn die Frage nach der Pluralität im Zentrum der politischen De-

batten steht, bisher kaum ausgelotet ist. Der Grund dafür, warum trotz der Flut neuer Litera-

tur zu ihrem Werk die Verwirrung größer als die Klarheit ist27

, besteht darin, dass man

Arendts politisches Denken nicht im Blick auf das konsequente Thema als einen roten Fa-

den interpretiert. Obwohl die Phänomene von einer „Hannah Arendt – Renaissance“28

oder

dem „Arendt-Kult“29

die Anschlussfähigkeit des Arendtschen Denkens für aktuelle politi-

sche Fragstellungen reflektieren, scheint sie jedoch „zur effektiven Depolitisierung“ der

Arendtschen Theorie zu führen,30

weil sie die eigentliche Radikalität ihrer politischen Theo-

rie missverstehen oder übersehen. Diese Arbeit geht von der Aufgabe aus, das Politische an

Arendt wieder zu beleben und zu rekonstruieren.

Ein gemeinsamer Mangel aller bisherigen Beiträge zum Thema ‚Pluralität bei Hannah

Arendt‟ beruht meines Erachtens darauf, dass Arendts Schriften keine hinreichende syste-

matische Grundlage für die Analysen ihres Pluralitätsbegriffs liefern. Und die meisten Be-

schäftigungen mit dem Pluralitätsthema sind bisher nur auf die in VA dargelegte Auffassung

der Pluralität fixiert. Deshalb kommt der Pluralitätsbegriff als eins von verschiedenen The-

men in VA nebensächlich zur Sprache.31

So bleiben viele bedeutende Bereiche und Dimen-

sionen des Pluralitätsbegriffs im Dunkeln. Man darf allerdings keineswegs bestreiten, dass

das Hauptwerk von Arendt, VA, entscheidende Pluralitätskonzeptionen enthält, besonders in

25

Pilling betont, dass Arendt bereits in ihrer Dissertation über Augustinus zentrale Voraussetzungen der

Konzeption über Pluralität beschrieben hat (Pilling, 1996, vor allem S. 92-96). 26

Dazu gehören einige Aufsätze: Bösch, 1994, S. 569-588; Conradi/Plonz (Hrsg.), 2000; Greven, 1993, S.

69-96; Blättler, 2001, S. 106-135. 27

So kritisiert Sontheimer nicht zu unrecht die Arendt-Interpreten: „Studiert man manche der Beiträge zu

ihrem Werk, so ist die Verwirrung oft größer als die Erhellung.“ (Sontheimer, 2005, S. 250). 28

Benhabib, 1998, S. 18. 29

Laqueur, 1998, S. 111-125. 30

Marchart, 2005, S. 24. 31

Vgl. Jaeggi, 1997a; Reist, 1990; Schnabl, 1999.

Page 15: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

13

Bezug auf die ontologische und politische Dimension der Pluralität. Wenn man sich aber

beim Thema der Pluralität nur auf dieses Werk beschränkt, bleiben viele wesentliche As-

pekte des Pluralitätsbegriffs unberücksichtigt. In sogenannten politischen Werken wie Tota-

litarismusbuch und Revolutionsbuch manifestieren sich die politiktheoretischen Dimensio-

nen des Pluralitätskonzepts ausführlich. In der Analyse des Totalitarismus betont Arendt,

dass das Wesen des Totalitarismus in der Zerstörung von Pluralität als Voraussetzung men-

schlichen Zusammenlebens besteht.32

Arendts Kritik an den Gesellschaftsphänomenen und

an der Tradition politischer Philosophie, ihre Rekonstruktion der Kategorien des Politischen

und die politische Interpretation der Urteilskraft lassen sich meines Erachtens nur im Blick

auf den Pluralitätsbegriff hinreichend gründlich artikulieren. Das bildet den Hintergrund,

vor dem der Verfasser Arendts Gedanken der Pluralität analysieren will.

Um die Grundthesen hinsichtlich der Arendtschen Pluralitätstheorie systematisch zu struk-

turieren, ist die vorliegende Arbeit in vier Teilen untergliedert: Im ersten Teil der Arbeit

werden zunächst die theoretischen und methodischen Grundlagen des politischen Denken

Arendts skizziert, um ein brauchbares Grundbaustein für das weitere Vorgehen herzugeben.

Hier werden wir zeigen, dass sich Arendts Reflexionen zu konkreten politischen Themen

mit engem Bezug auf die theoretisch zentralen Konzepte ihres Denkens lesen lassen. In

diesem Teil reflektieren wir Arendts gesamte Theorie auf drei Ebenen: Erstens auf der Ebe-

ne anthropologischer Überlegung, zweitens auf der handlungstheoretischen Ebene und drit-

tens auf der methodischen Ebene. Diese Ebenen bestehen bei Arendts Werken nicht im sys-

tematischen Zusammenhang, sie sind jedoch vom Kontext des Gesamtwerkes von Arendt

nicht losgelöst. Hier versuchen wir, die theoretische Basis des Pluralitätsbegriffs aufzuzei-

gen.

Im zweiten und dritten Teil zeigt sich der kritisch-normative Ansatz des Pluralitätskonzepts

für Arendts Theorie. Der Pluralitätsbegriff impliziert darin ersichtlich seinen kritischen

Geist. Im Zentrum des zweiten Teils steht Arendts Kritik an der modernen Gesellschaft.

Arendts Ausgangspunkt bei ihrer Pluralitätstheorie ist die Krise des Politischen in der mo-

dernen Welt. Das Wesen der Krise der modernen Welt hat mit katastrophalen Zusammenb-

rüchen der gemeinsamen Welt zu tun. Die moderne Gesellschaft als der öffentlich gewor-

dene Private ist durch die Entpolitisierung, die durch die Veröffentlichung des Lebenspro-

zesses produziert wird, charakterisiert. In der entpolitisierten Gesellschaft ist die Pluralität

durch Prozesse vom Selbst– und Weltverlust gefährdet.

32

Fraser, 2004, S. 73-86.

Page 16: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

14

Teil drei hat Arendts Kritik an den Elementen von Anti-Pluralität in der abendländischen

Tradition politischer Philosophie zum Inhalt. Interessanterweise verknüpft Arendt die Krise

der Pluralität in der modernen Gesellschaft mit den antipluralistischen Elementen, die der

Tradition abendländischer politischer Philosophie innewohnen. Arendt sieht die tiefe Ver-

wurzelung der politisch-moralischen Krise, die der Totalitarismus gebracht hatte, nicht nur

in der westlichen Kultur, sondern auch in „fragwürdige(n) Traditionsbestände im politi-

schen Denken der Gegenwart“.33

Durch ihre Kritik der westlichen Tradition politischer Phi-

losophie gelangt sie schließlich zu einer Neubegründung des Politischen. Arendts Ansicht

zufolge bemüht sich die politische Philosophie seit Plato, die widerstreitige Vielfalt zu

schlichten. Die Auseinandersetzung mit der metaphysisch bestimmten Tradition politischen

Denkens führt Arendt im Hinblick auf das politische Handeln zu einer Reflexion über das

Wesen der politischen Pluralität.

Die Kapitel über personale und politische Identität, Kategorien des Politischen und Urteils-

lehre im vierten Teil bilden den eigentlichen Kern dieser Arbeit. Hier wird das Verhältnis

von Politik und Pluralität in den Mittelpunkt gerückt. In diesem Teil werden wir uns mit der

Frage befassen, wie sich das Selbst und Welt im politischen Handeln vereinbaren lassen

und wie sich die Pluralität politisch konstituiert lässt. Die politische Pluralität ist für Arendt

mehr als die Tatsache einer offenen und vielfältigen, durch Interessen gebundenen und zu-

gleich auseinanderstrebenden Gesellschaft. Die Politik lässt sich für Arendt nicht als die

vereinheitlichende Funktion der konkurrenzdemokratischen Interessenpluralität verstehen.

Die menschliche Pluralität lässt sich im öffentlich-politischen Handeln miteinander heraus-

bilden. Aus dieser neuen Wahrnehmung des Verhältnisses von Politik und Pluralität sind

die Neubestimmung der politischen Kategorien und die Urteilslehre thematisiert. Durch die

„Destruktion des überkommenen Begriff des Politischen“34

bildet Arendt die inhaltlich neue

Kategorie des Politischen. Diese Vorführung der Kategorien des Politischen zeigt deutlich

das auf der Pluralität beruhende Phänomen der Politik. Dass der Pluralitätsgedanke in

Arendts politischer Theorie einen zentralen Stellenwert besitzt, lässt sich auch an der Ur-

teilslehre ersehen. Durch die Betrachtung der Arendtschen Urteilslehre werden wir nach

den Grundlagen der Beziehung zwischen Individuum und Pluralität und nach einer neuarti-

gen Konzeption der politischen Rationalität im Hinblick auf die Pluralität suchen.

33

Arendt, 1957. 34

Vollrath, 1979a, S. 29.

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15

I. Die Grundlage des politischen Denkens von Hannah Arendt

1. Politische Anthropologie

Die Frage, ob wir in radikal pluralistischer politischer Welt von einem Begriff der Men-

schennatur ausgehen können, ist eine der brennenden Fragen der heutigen politischen Philo-

sophie. Auch wenn Arendts politische Theorie als den Versuch einer anthropologischen

Fundierung des Politischen angesehen werden könnte,1 inspiriert sie sich aber keineswegs

von der philosophischen Anthropologie als der „Lehre von der Menschennatur“2, deren

Endziel die Erkenntnis des essentiellen Wesens des Menschen ist.

Für die politische Ideengeschichte ist es kennzeichnend, dass der politischen Theoriebil-

dung ein Bild vom Menschen zugrunde liegt. Selbst wenn sich die Politische Philosophie

mit verschiedenen politischen Fragen wie nach der besten politischen Ordnung, nach dem

rechten Leben und nach der gerechten Herrschaft beschäftigt, lassen sich ihre zentralen

Probleme immer nur im Lichte jener Fragen nach dem Wesen des Menschen stellen.3 Darü-

ber, was eine gute Ordnung für den Menschen ist, könne nur entschieden werden, wenn

man eine transzendentale Idee davon bildet, was der Mensch ist oder sein soll. Mit der Ver-

knüpfung von Politik und Menschennatur hängt das ontologische und metaphysische Ver-

ständnis des Politischen zusammen. Um das menschliche Wesen und seine Essenz zu erklä-

ren, muss man zunächst von allem Äußerlichen und allem Zufälligen in den menschlichen

Angelegenheiten absehen, weil die Frage des menschlichen Wesens grundsätzlich Uner-

kennbares jenseits des Bereichs der menschlichen Angelegenheiten ist.4 Dieses Absehen

befähigt erst zur Unterscheidung von wesentlicher Essenz und zufälliger Existenz des Men-

schen. Insofern erweist sich die philosophische Anthropologie als metaphysisch.5

Für Arendt lassen sich die politischen Phänomene nicht auf die Menschennatur zurückfüh-

ren. Nicht über das menschliche Wesen, sondern über die Bedingtheit menschlicher Exis-

tenz und über die menschlichen Tätigkeiten, die die politischen Phänomene und ihre Reali-

tät ausmachen, sagt Arendt in ihrem politischen Denken etwas aus: Natalität, Welt und Plu-

ralität machen die menschlichen Grundbedingungen, die den menschlichen Tätigkeiten ent-

1 Vgl. Gerhardt, 1991, S. 319 und 2007, S. 215-228; Kuhn, 1960, S. 126-131; Reist, 1990; Cooper, 1979, S.

138. 2 Vgl. Gehlen, 1983, S. 143.

3 Vgl. Kauffmann, 2001, S. 186.

4 Vgl. Cassirer, 1960, S. 18.

5 Coreth vertritt die Auffassung, dass philosophische Anthropologie, „wenn sie die Dimension des men-

schlichen Wesens nicht vorschnell verkürzen, sondern aufdecken und auslegen will, notwendig metaphy-

sische Anthropologie“ ist (Coreth, 1986, S. 20).

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16

sprechen, aus.6 Im Gegensatz zur philosophischen Anthropologie gibt es für die politische

Theorie Arendts die Bezeichnung „die politische Anthropologie“, „in der nicht das Sein des

Menschen im Singular, sondern das Handeln der Menschen im Plural im Mittelpunkt

steht.“7 Eine so verstandene politische Anthropologie ist nicht zu verwechseln mit einer

Anthropologie des Politischen, „einer philosophisch-normativen Disziplin“, die mittels ei-

nes expliziten Rückgriffs auf die universale Menschennatur politische Regelungen und In-

stitutionen zu rechtfertigen versucht.8

1.1 Arendts Kritik an der metaphysischen Bestimmung der Menschennatur

Hannah Arendt beginnt ihr großes Werk Vita activa mit einer Kritik am philosophischen

Versuch, das Politische durch die menschliche Wesensbestimmung zu erklären. Seit Plato

glaubt man, dass Politik ohne ein Konzept vom Wesen der Menschen nicht ernsthaft analy-

siert werden kann. Nach dieser Vorstellung hat die Philosophie, die sich mit dem Problem

vom wahren Menschenwesen befasst, immer absolute Priorität vor der Politik als den „An-

gelegenheiten der Menschen“9. Indem man den Sinn der Politik aus einer naturrechtlichen

oder metaphysischen Teleologie erschließt, reduziert sich die Politik bestenfalls auf ein Mit-

tel zur Verwirklichung der Menschennatur.

1.1.1 Die Verdinglichung

Die von Arendt geübte Kritik an der philosophischen Bestimmung der Menschennatur be-

steht darin, dass sie den Menschen zu einem Gegenstand degradiert, ihn auf bestimmte Ei-

genschaften fixiert und damit das Leben verdinglicht. Die Verdinglichung des Menschen

entsteht unvermeidlich, wenn man das Wesen des Menschen, das unerkennbar ist, als etwas

Verfertigtes feststellen will.10

Der Versuch, die Natur des Menschen zu bestimmen, ist nur

in der Annahme gemacht, „daß der Mensch überhaupt ein Wesen oder eine Natur im glei-

chen Sinne besitzt wie alle anderen Dinge.“11

Unter dieser fundamentalontologischen An-

6 „Die Rede von der Bedingtheit der Menschen und Aussagen über die Natur des Menschen sind nicht

dasselbe. Auch die Gesamtsumme menschlicher Tätigkeiten und Fähigkeiten, insofern sie menschlichen

Bedingtheiten entsprechen, stellt nicht so etwas wie eine Beschreibung der Menschennatur dar.“ (VA, S.

19). 7 Sontheimer, 2005, S. 108 und 105; vgl. Belardinelli, 1990, S. 129.

8 Sontheimer, 1976, S. 7.

9 Plato, Nomoie 803 b 3 f.

10 Vgl. d‟Arcais, 1993, S. 118ff.

11 VA, S. 20.

Page 19: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

17

nahme verwandelt sich der Mensch in ein Ding, das unter gleichen Bedingungen sich im-

mer gleich verhalten wird. Arendt lehnt es kategorisch ab, dass wir uns selbst wie „das We-

sen der Dinge, die uns umgeben und die wir nicht sind, erkennen, definieren und bestimmen

können“.12

Arendts Ansicht zufolge kann man nicht nach dem Was des Menschen fragen wie nach dem

Was eines Dinges, sondern nur nach dem Wer des Menschen, das durch das Handeln und

Sprechen in der Öffentlichkeit in Erscheinung tritt.13

Das auf dem Handeln und dem Spre-

chen gegründete Wer lässt sich in keiner Weise verdinglichen oder objektivieren, da Han-

deln und Sprechen Vorgänge sind, die von sich aus keine greifbaren Resultate und Endpro-

dukte hinterlassen. Arendt betont, „daß das Wesen dessen, wer einer ist, sich aller Verding-

lichung und Vergegenständlichung durch ihn selbst entzieht.“14

Das Was kann niemals die

Existenz eines konkreten Menschen erklären, weil es sich auf die biologischen Attribute

beschränkt.15

Jede Form einer Fixierung der menschlichen Natur, eine Feststellung seines

Was würde die Möglichkeit der menschlichen Handlungspluralität im Gesichtskreis der

Freiheit notwendig aufheben. Arendt sagt: „Wenn es eine solche Menschennatur geben soll-

te, so wäre sie ein Naturphänomen, und ein ihr entsprechendes Verhalten menschlich zu

nennen, würde voraussetzen, dass menschliches und natürliches Verhalten ein und dasselbe

sind.“16

In der Begrifflichkeit von Arendt versteht sich unter „Verdinglichung“ der Übergang von

einem Modell zum Ding.17

Bei der Verdinglichung ist ein Ding vom Modell bestimmt. Die

Bestimmung der Menschennatur setzt immer die Idee vom Menschen als einem Modell

voraus, wie ein Ding gemäß einem Urmodell oder einer Idee hergestellt wird. Zur Bestim-

mung der Menschennatur braucht man unentbehrlich die platonische „Idee“ oder den Gott,

der nur der einzige Zugang zu dem Geheimnis der menschlichen Natur ist.18

Daher enden

die Versuche, das unerkennbare Menschenwesen zu bestimmen, „zumeist mit irgendwel-

chen Konstruktionen eines Göttlichen.“19

Die Frage: „Was bin ich?“ ist die Frage nach dem

eigentlichen, dem eigensten Ich; die Antwort kennt nur Gott.20

Im Hinblick auf die Ver-

12

VA, S. 20. 13

Zur Unterscheidung von Was und Wer siehe Abschnitt IV, 1.2.2. 14

VA, S. 268. 15

Vgl. Kristeva, 2001, S. 274. 16

MfZ, S. 21. 17

VA, S. 165. 18

„Verdinglichung bedeutet, menschliche Phänomene aufzufassen, als ob sie Dinge wären, das heißt als

außer- oder gar übermenschlich.“ (Berger/Luckmann, 1969, S. 95). 19

VA, S. 21. 20

Es ist der Ausgangspunkt bei Augustinus wie bei Pascal in Bezug auf das Problem des Wesens des Men-

schen (vgl. ZVZ, S. 307). In der ausschließlichen Orientierung an Gott für das Sichfinden spielt die

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18

dinglichung zitiert Arendt Pascal, demzufolge „die ganze Aufeinanderfolge von Menschen

durch die Jahrhunderte hindurch als ein und der selbe Mensch zu betrachten ist, der immer-

dar lebt und beständig lernt.“21

Nach Arendts Kommentar ist Pascals Begriff des Menschen

unmittelbar nach dem Vorbild des Menschen gebildet. Das bedeutet „die Personifizierung

der Menschheit“22

oder „Übersteigerung eines Menschlichen“23

. Der einzelne Mensch wird

daher als Verkörperung oder Inkarnation der vorbestimmten Menschennatur verstanden.

Folglich ist das Wesen des Menschen, das „weltlich nicht feststellbar ist“24

, untrennbar ver-

knüpft mit Glauben an Überweltliches. Insofern ist die Frage nach der Menschennatur me-

taphysisch.

Die Verdinglichung des Menschen ist nicht nur ein theoretisches Problem, sondern führt

auch zur aktuellen Bedrohung unseres politischen Lebens. Die Gefahr tritt immer da auf,

wo ein gewisser Naturbegriff des Menschen auf den politischen Bereich angewendet und

durchgesetzt wird, wie die Rassenlehre des Nationalsozialismus zeigt. In dieser Lehre wird

„die natürlich-physische, von Geburt vorbestimmte Gegebenheit als einzig Absolutes“ ge-

setzt.25

Die Rassentheorie war für Arendt jedoch keineswegs eine spezifische Erfindung der

Nazis, sondern sie war die praktische und politische Konsequenz, welche die Nazis aus der

philosophischen und biologischen Anthropologie zogen.26

Solch eine Lehre ist „eine Art

von dem umgekehrten Platonismus, der versucht, die nichtgeistigen Wesenheiten aller men-

schlichen Lebensäußerungen nachzuweisen, sei es im Ökonomischen, Biologischen, Ge-

schlechtlichen, Instinktiven.“27

Die rassistische Utopie führt zur Ausgrenzung und Zerstö-

rung des Anderen und Fremden. In diesem Zusammenhang ist die Verdinglichung in der

Idee des Menschenwesens nicht nur metaphysisch, sondern auch antipolitisch, weil sie die

menschliche Pluralität in der Welt zerstört.28

Weltwirklichkeit überhaupt keine Rolle: „Das Sichfinden geht zusammen mit dem Gottfinden. Nur mit

Gottes Hilfe ferner kann ich mich finden. Das heißt aber, in dem Augenblick, da ich anfange, mich zu su-

chen. Gehöre ich schon nicht mehr zur Welt – das ist aus dem Vorangegangenen einleuchtend – sondern

zu Gott, und dies ist aus Folgendem zu verstehen.“ (LB, S. 16). 21

DW, S. 145. Hervorhebung im Original. 22

DW, S. 146. 23

VA, S. 21. 24

MfZ, S. 26. 25

EU, S. 424. 26

Vgl. MfZ, S. 40. 27

Heller, 1995, S. 98; Arendt bemerkt, dass das rassische Denken „sich nach innen richtet und anfängt, die

menschliche Seele als die Verkörperung allgemeiner Stammeseigenschaften anzusehen; und da die Seele

ja offenbar nicht etwas sein kann, was verkörpert, findet man seine Aushilfe im Blut“ (EU, S. 482. Her-

vorhebung im Original). 28

In diesem Sinne verbindet Axel Honneth Verdinglichung mit „Anerkennungsvergessenheit“ (Honneth,

2005, S. 94ff.).

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19

1.1.2 Unveränderbarkeit

In der metaphysischen Tradition gesprochen stellt das Wesen das Unveränderbare und das

Unzerstörbare dar. Vor dem Hintergrund der Anthropologiekritik Arendts stellt sich die

Frage, ob der Rückgriff auf dieses als unveränderlich wahrgenommene Wesen des Men-

schen der politischen Relevanz zukommt.

Nach Aristoteles ist die Natur ein Endziel (telos), das erreicht wird, „wenn seine Entwick-

lung vollendet ist“29

. Für ihn beinhalten alle Dinge die Natur, die das eigentliche Ziel der

Entwicklung ist. Die Natur gehört daher zu dem, was sein soll. Für ihn verwirklicht sich die

Natur, aber sie verändert sich nicht. In Bezug auf diese anthropologische Teleologie ge-

schieht die Tätigkeit um der Erreichung eines vorgegebenen Zieles willen, und in dieser

Erreichung erfüllt sich das Wesen dessen, was ist. Daraus folgt, dass alles tätig Erscheinen-

de aus etwas erwächst, das das fertige Wesen potentiell enthält. In dieser Vorstellung von

der Natur beschränkt sich die Möglichkeit der Handlungspluralität und –freiheit. In Vom

Leben des Geistes erhebt Hannah Arendt einen Einwand gegen die aristotelische Ansicht:

„Die Auffassung, allem Wirklichen müsse eine Potentialität als eine seiner Ursachen vor-

ausgegangen sein, leugnet indirekt die Zukunft als authentische Zeitform: die Zukunft ist

nichts als eine Folge der Vergangenheit, und natürliche und von Menschen geschaffene

Dinge unterscheiden sich nur darin, daß bei den einen die Potentialitäten notwendig ver-

wirklicht werden, bei den anderen aber unverwirklicht bleiben können.“30

An einer Stelle, wo sie die Gefahr des Totalitarismus anspricht, erwähnt Arendt die Verän-

derung des Menschenwesens: „Bis zu welchem Ausmaße aber eine wirkliche Veränderung

der menschlichen Natur und eine effektive Veränderung des individuellen Charakters mög-

lich sind, wissen wir nicht.“31

Ferner hält sie fest, dass die totalitäre Ideologie auf die Trans-

formation der menschlichen Natur abzielt: „Das eigentliche Ziel der totalitären Ideologie ist

nicht die Umformung der äußeren Bedingungen menschlicher Existenz und nicht die revo-

lutionäre Neuordnung der gesellschaftlichen Ordnung, sondern die Transformation der

menschlichen Natur selbst“.32

Diese Aussage ist auf den ersten Blick überraschend, weil

Arendt den Begriff des Menschenwesens selbst ablehnt, wie wir oben gesehen haben. In

Bezug auf diesen Widerspruch gibt uns Canovan einen aufschlussreichen Hinweis. Ihr zu-

folge geht es bei Arendt darum, „daß es zum Wesen der menschlichen Existenz gehört, ein

29

Aristoteles, Politik, 1252 b 34. 30

DW, S. 18. 31

EU, S. 906. 32

EU, S. 940f.

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von anderen unterscheidbares Individuum zu sein, welches in einer Pluralität der Personen

zu Spontaneität und Initiative fähig ist. Eben deshalb haben die Menschen keine vorausseh-

bare Natur in dem Sinne, wie sie Tiere haben.“33

Anders gesagt ist die Menschennatur in

Arendts Sinne gleichbedeutend mit dem Grundvermögen des Menschen als „ein Kennzei-

chen des Menschenseins“34

. Diese Fähigkeit lässt sich nur in der Pluralität der Menschen

aktualisieren. Durch diese Fähigkeit bilden Menschen auch die Welt, und die weltbildende

Fähigkeit gehört zum Wesen des Menschen als „etwas höchst Unnatürliches“35

. Daher mag

man die menschliche Fähigkeit zum Handeln, um es mit Vollrath zu sagen, als „die unna-

türliche Natur“ verstehen: „Die Natur des Menschen, so er denn eine hat, kann verändert

werden, weil handelnde Veränderung seine Natur ist. Diese unnatürliche Natur ändern zu

wollen hieße gerade, dem Menschen eine technische Natur durch Handeln beizulegen und

damit das Handeln abzuschaffen.“36

Arendts Standpunkt von der Veränderung der menschlichen Natur ist durch die Auseinan-

dersetzung mit Eric Voegelin gekennzeichnet.37

Voegelin scheint der Begriff vom men-

schlichen Wesen unverzichtbar für eine Erforschung der sozialen Welt, weil sich die poli-

tisch-sozialen Phänomene nur durch den Begriff der Menschennatur verstehen lassen.38

Vor

dem Hintergrund seiner philosophischen Anthropologie des Politischen ist Voegelin davon

überzeugt, „daß die Wurzeln des Staates im Wesen des Menschen zu suchen sind“ und dass

damit „die Probleme der Staatslehre auf Grund einer philosophischen Anthropologie zu

entwickeln“ sind.39

Für ihn ist es beunruhigend, dass Arendt die Veränderung der Natur als

möglich ansehen konnte, weil er es für selbstverständlich hält, dass die Natur nicht verän-

dert oder umgewandelt werden kann. Die Veränderung der Natur einer Sache bedeute die

Zerstörung der Sache selbst, und deswegen sei „die Veränderung der Menschennatur“ eine

„contradictio in adjecto“.40

Voegelin hebt immer wieder hervor, dass die Vorstellung von

der Veränderbarkeit der Natur des Menschen ein Hinweis auf den geistigen Zerfall der

abendländischen Kultur ist. Die Krise des Politischen wie Totalitarismus stelle eine Krise

der moralischen und religiösen Normen und die Abwendung von der Einsicht in das Wesen

des Menschen dar.41

Zur Überwindung des totalitären Phänomens bedürfe es der Wieder-

33

Canovan, 1997, S. 57. 34

EU, S. 615. 35

EU, S. 934. 36

Vollrath, 1977, S. 27. 37

Vgl. Bluhm, 2002, S. 245-276. 38

Vgl. Gebhardt, 2004a, S. 69. 39

Voegelin, 1933, S. 2. 40

Voegelin, 1953, S. 74; zit. nach Young-Bruehl, 1986, S. 356. 41

Vgl. hierzu Henkel, 1998, S. 115f.

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gewinnung der wahren Menschennatur.42

In der Erwiderung erhebt Arendt heftigen Ein-

wand gegen seinen Rekurs auf Wesenseinsichten: „Der Erfolg totaler Herrschaft ist gleich-

bedeutend mit einer sehr viel radikaleren Liquidierung der Freiheit, im Sinne einer politi-

schen und menschlichen Realität, als alles, was wir je zuvor miterlebt haben. Unter diesen

Bedingungen wird es uns kaum ein Trost sein, an einer unveränderlichen Natur des Men-

schen festzuhalten und den Schluß zu ziehen, daß entweder der Mensch selber zerstört wird

oder daß die Freiheit nicht zu den wesentlichen Fähigkeiten des Menschen gehört. Histo-

risch wissen wir von der menschlichen Natur nur insofern, als sie existiert, und keine Sphä-

re ewiger Wesenheiten wird uns je trösten, wenn der Mensch seine wesentlichen Fähigkei-

ten verliert.“43

1.1.3 Singularität

In Bezug auf die Wesensbestimmung des Menschen liegt Arendts dritte und entscheidende

Kritik darin, dass man für die Wesensbestimmung des Menschen immer den Menschen,

nicht die Menschen, behandelt, weil man das Wesen des Menschen mit ihrem Inneren oder

mit der Idee des Einen Menschen identifiziert. In der ontologisch fundierten Theorie des

Politischen werden die Menschen im Plural vernachlässigt. Damit ist das Politische subs-

tantialisiert.

Der Mensch ist bei Arendt „ein Wesen, das sich in der Zeit der spezifischen Pluralität der

anderen aktualisiert.“44

Darüber hinaus müsse der Begriff des Menschen, „wenn er politisch

brauchbar gefaßt sein soll, die Pluralität der Menschen stets in sich einschließen.“45

Arendt

formuliert: „Viel entscheidender als diese Abhängigkeit ist, daß Menschen im Singular gar

nicht vorstellbar sind, daß ihre Gesamtexistenz daran hängt, daß es immer auch andere gibt,

42

Vgl. Young-Bruehl, 1986, S. 356f.; in diesem Zusammenhang lässt sich die Entstehung der philosophi-

schen Anthropologie im 20. Jahrhundert als Zeichen einer tiefen Krise des traditionellen Selbstverständ-

nisses des Menschen deuten. In der Gründungsschrift der philosophischen Anthropologie des 20. Jahr-

hundert, also in Die Stellung des Menschen im Kosmos, stellt Max Scheler fest: „So besitzen wir denn ei-

ne naturwissenschaftliche, eine philosophische und eine theologische Anthropologie, die sich nicht umei-

nander kümmern – eine einheitliche Ideen vom Menschen aber besitzen wir nicht. Die immer wachsende

Vielheit der Spezialwissenschaften, die sich mit dem Menschen beschäftigen, verdeckt, so wertvoll diese

sein mögen, überdies weit mehr das Wesen des Menschen, als daß sie es erleuchtet. Bedenkt man ferner,

daß die genannten drei Ideenkreise der Tradition heute weithin erschüttert sind, völlig erschüttert ganz be-

sonders die darwinistische Lösung des Problems vom Ursprung des Menschen, so kann man sagen, daß zu

keiner Zeit der Geschichte der Mensch sich so problematisch geworden ist wie in der Gegen-

wart.“ (Scheler, 1966, S. 9f.). 43

Hannah Arendt, Reply, in: Review of Politics, 1953, S.68-85; zit. nach Young-Bruehl, 1986, S. 356. 44

Kristeva, 2001, S. 275f. 45

EU, S. 604.

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die ihresgleichen sind. Gäbe es nur einen Menschen, wie wir sagen, daß es nur einen Gott

gibt, so gäbe es den Begriff Mensch in unserem Sinne überhaupt nicht.“46

Da Politisches aus der Angewiesenheit der Menschen aufeinander entspringt, könnte die

Beschäftigung mit dem Menschen keine Beantwortung der Frage geben, was das Politische

ist. Das Politische hat nichts mit „einem hybriden Singular“47

des in der platonischen Idee

oder im Ebenbilde Gottes Geschaffenseins zu tun: „Da die Philosophie und die Theologie

sich immer mit dem Menschen beschäftigen, da alle ihre Aussagen richtig wären, auch

wenn es entweder nur Einen Menschen, oder nur Zwei Menschen, oder nur identische Men-

schen gäbe, haben sie keine philosophisch gültige Antwort auf die Frage: Was ist Politik?

gefunden.“48

Die politische Welt ist für Arendt ein Erscheinungsraum, in dem immer „Menschen han-

delnd und sprechend miteinander umgehen“. 49

Für sie lässt sich der politische Charakter

der Menschen nicht auf die Natur zurückführen, sondern darauf, dass sie im Plural handelnd

und sprechend existieren. In diesem Zusammenhang erhebt Arendt den scharfen Einwand

gegen die „Aristotelische Subjektivierung“50

der Politik. Hinsichtlich der Einsicht in zoon

politikon, den Menschen als ein von Natur politisches Wesen zu betrachten, denkt Aristote-

les, als ob es im Menschen als Individuum etwas Politisches gäbe, das zu seiner Essenz

gehöre. Weil der Mensch von Natur aus als politisch bezeichnet, gehört die Polis für Aristo-

teles zu den naturgemäßen Gebilden.51

Daher bleibt die Frage nach der Gestaltung des poli-

tischen Gemeinwesens bei Aristoteles im Dunkeln.52

Im Gegensatz zur ontologischen Version des Politikverständnisses, „daß es Politik immer

und überall gäbe, wo es Menschen gibt“53

, weil der Mensch von Natur aus politisch ist, geht

Arendt aus vom Verständnis, dass es keine eigentlich politische Substanz gibt. Politik ist für

sie nicht „eine universale Erfahrung“, die zu den unausweichlichen Tatsachen der men-

schlichen Existenz gehört.54

Politik entsteht für sie erst in der Pluralität der Menschen, die

die politische Welt verbürgt. Dieser Gedanke stellt dar „eine negative Anthropologie, die

den Menschen als das zwar der Politik bedürftige und zum Politischen begabte Wesen sieht,

aber nicht als eines, zu dessen Wesen das Politische selbst hinzugehört.“55

46

ZVZ, S. 214. Hervorhebung im Original. 47

DTB, S. 159. 48

WP, S. 9. 49

VA, S. 251. 50

DTB, S. 26; vgl. auch VA, S. 250. 51

„Der Staat gehört zu den naturgemäßen Gebilden“ (Aristoteles, Politik 1253, a 2). 52

Vgl. Riedel, 1975b, S. 61. 53

WP, S. 79; vgl. VA, S. 250. 54

Dahl, 1973, S. 13. 55

Meyer, 1994, S. 202; vgl. Kallscheuer, 1997, S. 1257.

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23

1.2 Natalität

1.2.1 Von Mortalität zu Natalität

Alle menschliche Tätigkeiten und menschliche Existenz selbst sind in der wesentlichen

Bedingtheit des Menschen bedingt, also Geburt und Tod. Menschliches Leben beginnt mit

der Geburt und endet mit dem Tod. Geburt und Tod gehören zu den konstitutiven Bedin-

gungen menschlicher Existenz, weil ein Individuum in seiner konkreten Einzigartigkeit

„durch Geburt zur Welt kommt und durch Tod aus ihr wieder verschwindet.“56

Die menschliche Sterblichkeit beruht auf der Tatsache, dass sich das Menschenleben zwi-

schen Geburt und Tod abspielt. Die Menschen sind das einzig sterbliche Wesen, wie Arendt

bemerkt, „denn die Götter sind unsterblich, und die Tiere, da sie nur als Angehörige ihrer

Gattung, aber nicht als Individuen existieren, sind unvergänglich.“57

Die Sterblichkeit des

Menschen bringt das Bedürfnis nach Dauerhaftigkeit. Die von Arendt festgehaltenen drei

Grundtätigkeiten, nämlich Arbeiten, Herstellen und Handeln, sind die menschlichen Tätig-

keiten, um die Sterblichkeit in bestimmter Weise zu überwinden.58

Vor allem das politische Handeln ist für Arendt untrennbar mit der menschlichen Sterblich-

keit verbunden, weil es von dem Bedürfnis der sterblichen Existenz nach der Unsterblich-

keit ausgeht. Die mögliche Unsterblichkeit ist nach Arendts Ansicht der höchste und tiefste

Sinn aller Politik. Sie unterstreicht, dass „die Würde der Politik und der Ursprung politi-

scher Körper in der ungeheuren Anstrengung beschlossen lagen, die Vergänglichkeit des

sterblichen Lebens und die flüchtige Vergeblichkeit menschlichen Handelns zu überwin-

den.“59

Menschen können sich selbst durch ihr Handeln im öffentlichen Freiheitsraum des

Politischen unsterblich machen. Dementsprechend charakterisiert Fehér das Arendtsche

Verständnis des Politischen als „die Politik der Sterblichen“. Er weist darauf hin: „Wir alle

sind Sterbliche, und wir sind uns der Begrenztheit all unseres Tuns schmerzlich bewusst.

Diese Bewusstheit ruft einmal heimliches, mal offenkundiges Bedürfnis nach Überschrei-

tung unserer Begrenztheit hervor.“60

Im Gegensatz zum philosophisch-religiösen ewigen

Leben, das jenseits von Geburt und Tod existiert, können Menschen durch unsterbliche Ta-

ten, die unsterbliche Spuren in der Welt hinterlassen, Unsterblichkeit menschlicher Art er-

56

VA, S. 17f. 57

ZVZ, S. 58. 58

Vgl. VA, S. 18. 59

ZVZ, S. 89. 60

Fehér, 1988, S. 103; zit. nach Übersetzung von Boris Blaha, in www. Hannah-arendt.de; vgl. auch

d‟Arcais, 1993, S. 120; Ricoeur, 1989, S. 109.

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24

langen. Genau genommen bedeutet diese politische Unsterblichkeit „ewige Präsenz in der

Welt“.61

Im Blick auf das Verhältnis der Sterblichkeit zur Öffentlichkeit vertritt Arendt die

Ansicht, dass es im Wesen des Öffentlichen liegt, „daß es aufnehmen und durch die Jahr-

hunderte bewahren und fortleuchten lassen kann, was immer die Sterblichen zu retten su-

chen vor dem natürlichen Verfall der Zeiten.“62

Die mögliche Unsterblichkeit ist ein Motiv

des politischen Handelns. Daher kann Arendt beurteilen, dass der Verlust der öffentlich-

politischen Sphäre in der Moderne mit dem Verschwinden einer echten Sorge um Unsterb-

lichkeit zu tun hat. Denn: „Ohne dies Übersteigen in eine mögliche irdische Unsterblichkeit

kann es im Ernst weder Politik noch eine gemeinsame Welt noch eine Öffentlichkeit ge-

ben.“63

Während die Sterblichkeit im negativen Sinne ein Motiv der Politik ist, stellt die Gebürt-

lichkeit an sich die Möglichkeit der Politik überhaupt dar. Die Gebürtlichkeit nennt Arendt

„die Natalität“64

im Gegensatz zur Mortalität, die das Verschwinden durch Tod aus der

Welt bedeutet. Die Natalität heißt, dass „der Mensch in die Welt hineingeboren ist, in ihr als

ein Neuer durch Geburt erscheint.“65

Durch den Begriff der Natalität korrigiert Arendt „die

existentialistische Fixierung auf die Mortalität“.66

Es ist eins der ausdrücklichsten Verdiens-

te von Arendt, die Natalität als weitere Grundbedingtheit aller menschlichen Tätigkeiten in

das politische Denken eingeführt zu haben.67

Das Stichwort „Natalität“ liefert Arendt das politische Prinzip des Anfangenkönnens. Die

menschliche Geburt stellt im doppelten Sinne den Anfang einer endlichen Existenz des

Menschen dar, nämlich ein Anfang des konkreten Einzellebens einerseits und des Handelns

andererseits. Als roter Faden erscheint die Verbindung der Natalität mit dem Handeln in

Arendts politischem Denken. „Die Tatsache der Natalität“ sei die Voraussetzung dafür,

„daß es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann“.68

Anders gesagt bedeutet Handeln

„die Verwirklichung der menschlichen Bedingung der Gebürtlichkeit“69

, aber nicht der

Menschennatur. Den Zusammenhang von Handeln und Natalität stellt Arendt fest: „Philo-

61

Der Begriff der Unsterblichkeit unterscheidet sich Arendt zufolge in der Doppeldeutung: „Ewiges Leben

oder ewige Präsenz in der Welt“ (DTB, S. 540). 62

VA, S. 69. 63

VA, S. 68. 64

VA, S. 17. 65

ÜR, S. 272. 66

Gerhardt, 2001, S. 46. 67

Habermas weist darauf hin: „Auch die Natürlichkeit der Geburt füllt die begrifflich erforderliche Rolle

eines solchen unverfügbaren Anfangs aus. Die Philosophie hat diesen Zusammenhang selten thematisiert.

Zu den Ausnahmen gehört Hannah Arendt, die im Rahmen ihrer Theorie des Handelns den Begriff der

Natalität einführt.“ (Habermas, 2001, S. 101). 68

VA, S. 316. 69

Cooper, 1979, S.143.

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25

sophisch gesprochen ist Handeln die Antwort des Menschen auf das Geborenwerden als

eine der Grundbedingungen seiner Existenz“.70

Arendts Verbindung von Natalität und Handeln hält Lyotard für „ausgesprochen humanis-

tisch“ gegenüber einer ontologischen Melancholie.71

Dass die Gebürtlichkeit als Neuanfang

begriffen wird, besagt, dass das Faktum der Gebürtlichkeit die menschliche Existenz aber

nicht absolut bedingt. Im Zusammenhang mit dem Handeln entkommt die Gebürtlichkeit

der absoluten Determination.72

Durch ihre Verknüpfung mit dem Handeln grenzt sich Nata-

lität von natürlicher und biologischer Kategorie ab. Die Menschen seien nicht deshalb gebo-

ren worden, um zu sterben, sondern um etwas Neues anzufangen.73

Darüber hinaus gilt Na-

talität als ein entscheidendes konstitutives Faktum für das Politische: „Und da Handeln fer-

ner die politische Tätigkeit par excellence ist, könnte es wohl sein, daß Natalität für politi-

sches Denken ein so entscheidendes, Kategorien - bildendes Faktum darstellt, wie Sterb-

lichkeit seit eh und je und im Abendland zumindest seit Plato der Tatbestand war, an dem

metaphysisch-philosophisches Denken sich entzündete.“74

Trotzdem ist die Frage gestellt,

wie sich das Politische selbst in der natürlichen Geburt des Individuums verwurzeln lässt.75

In welchem Verhältnis steht die Natalität zur menschlichen Pluralität, auf der das Politische

beruht?

1.2.2 Die politische Bedeutung der Natalität

Arendts Zuwendung zur Natalität knüpft sich an das Konzept der Pluralität. Die Bedeutung

der Natalität für das Politische liegt darin, dass die Bedingung menschlicher Pluralität durch

die Geburt eines jeden Menschen garantiert ist. Die menschliche Geburt steht am Ursprung

der Pluralität und bietet jedem Neuankömmling die Möglichkeit des Handelns, durch das er

seine Einzigartigkeit enthüllt.76

Die Sterblichkeit spielte eine zentrale Rolle in der religiösen und philosophischen Reflexi-

on, während die Gebürtlichkeit selten behandelt wurde. Dass die Frage des Todes im Zent-

rum der Philosophie steht, hat mit der Tatsache zu tun, dass die Philosophie von Menschen

im Singular handelt, denn die Singularität des Menschen kennzeichnet sich am elementars-

70

MG, S. 204. 71

Lyotard, 1995, S. 91; vgl. Linden, 1989, S. 114-123. 72

„Ohne die Tatsache der Geburt wüßten wir nicht einmal, was das ist: etwas Neues; alle Aktion wäre ent-

weder bloßes Sichverhalten oder Bewahren.“ (MG, S. 204). 73

VA, S. 316. 74

VA, S. 18; vgl. Parekh, 1981, S. xi. 75

Vgl. Thomä, 2000, S. 205. 76

Vgl. DTB, S. 462.

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26

ten in der Verlassenheit des Sterbens.77

Nach Plato ist auch das Ewige eine Art von philo-

sophischem Tod, weil man für die Erfahrung des Ewigen den Bereich menschlicher Ange-

legenheiten, also die plurale menschliche Welt, verlassen muss.78

Denn der Mensch kann

nur angesichts des Todes ganz und gar singularisch werden, so ist „die Erfahrung des Ster-

bens“ „die Politik-feindlichste Erfahrung, die es gibt“.79

Für die Philosophen ist „die Vor-

wegnahme des Todes die entscheidende Erfahrung, durch die der Mensch zum eigentlichen

Selbstsein kommt“.80

Nach Arendts Sicht kulminiert diese philosophische Reflexion des

Todes in Heideggers Philosophie, der zufolge der Mensch nur im Gewahrwerden des Todes

„seine absolute Selbstischkeit, seine radikale Abtrennung von allen, die seinesgleichen

sind“, erfährt.81

Die Suche nach dem eigentlichen und absoluten Individuationsprinzip ver-

sperrt jeden Zugang zur politischen Betrachtung, die von der Erfahrung menschlicher Plura-

lität ausgeht.82

Mit dieser philosophischen Tradition setzt sich Arendt kritisch auseinander.

Sie sagt dazu: „Es ist uns aus der Philosophie vertraut, den Menschen als ein sterbliches

Wesen zu verstehen. Merkwürdigerweise hat aber noch keine Philosophie, auch keine poli-

tische Philosophie, sich dazu vermocht, den Menschen auf seine Gebürtlichkeit hin anzusp-

rechen, nämlich darauf hin, das mit jedem von uns ein Anfang in die Welt kam und daß

Handeln im Sinne des Einen – Anfang – Setzens nur die Gabe eines Wesens sein kann, das

selbst ein Anfang ist.“83

In diesem Zusammenhang ist Arendts Gedanke der Natalität also in

gewissem Sinne eine „Rebellion“84

gegen die philosophische „Anfangsvergessenheit“85

.

Während nur der Tod einen Menschen ganz auf sich selbst allein zurückwerfen sollte, ist

die Gebürtlichkeit immer „ein soziales Geschehen“86

. Im Mittelpunkt des Konzepts der Plu-

ralität liegt der Doppelcharakter der Natalität, nämlich „nicht nur Selbst zu sein, sondern

77

Seit Platon wurde die Vorliebe für den Tod ein allgemeines Thema der Philosophen. Nach ihm wünschen

die wahrhaften Philosophen den Tod als die Ablösung der Seele vom Leib. Platos Überlegung vom Tod

erscheint im Phaidon (Plato, Phaidon 64 b). 78

Vgl. VA, S. 31. 79

MG, S. 193. 80

DD, S. 85; vgl. ZVZ, S. 214. 81

WEP, S. 72. 82

Die meisten Autoren, die sich mit dem Werk Hannah Arendts beschäftigen, scheinen sich in diesem Punkt

zu treffen, dass Hannah Arendt sich hinsichtlich der Bedingung menschlicher Natalität von Heidegger

entscheidend trennt. Z. B formuliert Young-Bruehl im Folgenden: „Hannah Arendt rückte die Natalität in

ihrem späterem Werk in helles begriffliches Licht und bewahrte sie vor philosophischer Achtlosigkeit.

Darin setzte sie sich von Heidegger ab: Für ihn war eher die Mortalität als die Natalität die entscheidende

existentielle Bedingtheit. Heidegger kümmerte sich nicht um das Handeln oder um die politische Sphäre

ganz allgemein (…). Heidegger stellte die Geworfenheit des Menschen angesichts des Todes dar, seinen

Kopfsprung in die Zukunft, die auf ihn zukommt, aber er sagte nichts über die Macht der Vergangenheit,

die Allgegenwart des Neubeginnens.“ (Young-Bruehl, 1986, S. 658. Hervorhebung im Original; vgl. auch

Barley, 1990, S. 55f.; Saner, 1997, S. 109; Sauerland, 1992, S. 618; Reist, 1990, S. 242f.). 83

ÜR, S. 276; vgl. auch Saner, 1979, S. 11. 84

Saner hält Arendts Denken von Natalität für „revolutionär“ (Saner, 1997, S. 109). 85

Marchart, 2005, S. 17. 86

Saner, 1979, S. 15.

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27

mit einer bestimmten gesellschaftlichen Qualität, und nicht nur einer, sondern in vielen, in

der selbstverständlichen Verflechtung des sozialen Lebens zugleich als Mutter und als

Kind, als Schwester und als Geliebte, als Bürgerin und als Freundin zu existieren.“87

In dem

Sinne, dass Menschen in eine gemeinsame Welt hineingeboren werden und aus ihr heraus

sterben, sind sowohl das Geborenwerden als auch das Sterben ein weltliches Phänomen und

nicht einfach natürliche Vorgänge. In diesem Kontext führt Arendt öfters das Lateinische

an: „unter Menschen weilen (inter homines esse)“ hieß für die Römer „leben“ und „aufhö-

ren unter Menschen zu weilen (desinere inter homines esse)“ hieß „sterben“.88

Die Geburt

eines Menschen ist nicht nur die Entstehung eines Organismus, sondern „einer Art, die

Dinge zu sehen, die Entstehung einer Welt“89

.

Arendt spricht metaphorisch von der „zweiten Geburt“, die den Vollzug der Gebürtlichkeit

bedeutet. Das heißt „politische Natalität“90

, mit der das Individuum in den öffentlichen

Raum eintritt. „Dies aktive In – Erscheinung – Treten eines grundsätzlich einzigartigen We-

sens beruht, im Unterschied von dem Erscheinen des Menschen in der Welt durch Geburt,

auf einer Initiative, die er selbst ergreift, aber nicht in dem Sinne, daß es dafür eines beson-

deren Entschlusses bedürfte.“91

In einer ausgezeichneten Formulierung kommt das Konzept

der politischen Natalität zum Ausdruck: „Sprechend und handelnd schalten wir uns in die

Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschal-

tung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen,

gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen.“92

1.2.3 Die Zukünftigkeit der Natalität

Wenn sich die Gebürtlichkeit als ein Anfang begreifen lässt, gibt es eine Schwierigkeit: Die

Geburt wird als etwas Vergangenes angesehen, während sich das Phänomen des Handelns

87

RV, S. 115. 88

VA, S. 17; ZVZ, S. 92 und S. 214. 89

Wagenknecht, 1995, S. 73. 90

Bowen-Moore, 1989, S. 42. 91

VA, S. 214. 92

VA, S. 215; in ähnlichem Sinne spricht Arno Baruzzi von einer zweiten Geburt des Menschen im politi-

schen Leben: „Dieses politische Leben ist nicht einfach ein natürliches Zusammenleben und damit ein so-

ziales Leben. Es ist nicht nur ein Zusammenleben im Sinne einer Naturnotwendigkeit, vielmehr im Sinne

einer Naturfreiheit. Der Mensch ist von Natur frei, um über das bloß soziale Leben zu einem politischen

Leben zu gelangen. Wenn im natürlichen sozialen Leben dem Trieb wie dem Bedürfnis zur Geselligkeit

nachgekommen wird, dann ereignet sich beim Übergang ins politische Leben gewissermaßen eine zweite

Geburt des Menschen, die Menschwerdung im Politischen, d.h. in der politischen Gemeinschaft.“ (Baruz-

zi, 1983, S. 171f.).

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28

und des Politischen auf die Zukunft ausrichtet. Hier geht es um die „Zukünftigkeit“93

der

Natalität. Hans Saner hält die Vorstellung für falsch, dass die Geburt nur mit etwas Vergan-

genem zu tun hat, wie die Vorstellung falsch ist, dass sich der Tod immer auf das Künftige

bezieht. Er sagt daher: „Der Mensch ist sterblich von Anfang und geburtlich bis in den

Tod.“94

Um diese Schwierigkeit zu lösen, wendet sich Arendt Augustinus zu. Sie zitiert öfters Au-

gustinus` lapidaren Satz, der in der Tat zum Schlüsselzitat für Arendt wird und sich leitmo-

tivisch durch ihr Werk zieht: „Damit also ein Anfang in der Welt sei, wurde der Mensch

erschaffen, vor dem Niemand war.“95

Damit meint Augustinus nach Arendts Interpretation,

„der Zweck der Erschaffung des Menschen sei gewesen, einen Anfang möglich zu ma-

chen.“96

Arendts Sicht zufolge hat der Mensch nicht nur die Fähigkeit des Anfangens, son-

dern ist selbst dieser Anfang. Die Geburt des Menschen sei daher „der Anfang des (…) An-

fangens selbst“.97

Insofern ist die Geburt nicht etwas immer schon Vergangenes. Das be-

schreibt Arendt so: „Wenn die Erschaffung des Menschen mit der Erschaffung eines An-

fangs im Universum zusammenfällt (...), dann bestätigt die Geburt einzelner Menschen,

welche neue Anfänge sind, den Ursprungscharakter des Menschen derart, daß der Ursprung

niemals mehr ganz und gar zu einer Angelegenheit der Vergangenheit werden kann; wäh-

rend andererseits gerade die Tatsache, daß in der Generationenfolge eine erinnerungswürdi-

ge Kontinuität dieser Anfänge besteht, eine Geschichte garantiert, die niemals enden kann,

weil sie die Geschichte von Geschöpfen ist, deren Wesen der Anfang ist.“98

So impliziert

der Begriff der Natalität die Tatsache, dass jeder Mensch selbst bereits Ursprung von unre-

duzierbarem Neuanfang und damit einen solchen Einbruch des Neuen, Unvorhersehbaren

und Unableitbaren darstellt. Für Arendt stellt das Faktum der Natalität die dauernde Wie-

derholung der ersten durch eine zweite Geburt dar, die mit dem Handeln und Sprechen mi-

teinander gegeben ist. So ist der Mensch gebürtlich bis in den Tod. Dies bedeutet die Ver-

wirklichung der Geburt durch das Handeln als die Fähigkeit des Neubeginnens. Das Prinzip

der Wiederholung von Natalität ist entscheidend für Arendts Denkweise. „Insofern der

Mensch in die Welt hineingeboren ist, in ihr als ein Neuer durch Geburt erscheint, ist er mit

93

Siehe hierzu Penta, 1985, S. 35. 94

Saner, 1979, S. 30f. 95

Arendt wiederholt dieses Zitat an vielen verschiedenen Stellen; z. B. ÜR, S. 271; EU, S. 979; WP, S. 49;

VA, S. 216; DW, S. 21, 106 und 206; ZVZ, S. 125. 96

DW, S. 206. 97

VA, S. 216 und auch ÜR, S. 276. 98

ZVZ, S. 125; vgl. DW, S. 206f.; VA, S. 216.

Page 31: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

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der Fähigkeit des Beginnens begabt. Weil er ein Neuer ist, kann er etwas Neues anfan-

gen.“99

In Bezug auf die Zukünftigkeit der Gebürtlichkeit weist Ernst Vollrath darauf hin: Die

Möglichkeit des Handelns „ist die aus der Gebürtlichkeit zu verstehende Kraft des Anfan-

genkönnens, d.h. ein nicht primär von der Präsenz her zu bestimmender Modus der Zukünf-

tigkeit.“100

So reserviert Arendt das Konzept der Natalität für die Handlungspluralität und -

freiheit. Natalität verleiht dem Handeln den eigentümlichen Charakter, also Unabsehbar-

keit.101

Die Wiederholung von Natalität ist kein Ausdruck von Essentialismus oder Deter-

minismus: Sofern das Handeln den Anfang hinsichtlich der Natalität darstellt, unterbricht es

den automatischen Ablauf der Notwendigkeit. Damit ist der Anfang eine wunderwirkende

Fähigkeit: „Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer

wieder unterbricht und von dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als Gesetz

seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität“.102

Entscheidend ist es,

dass das Wunder, „das sich in allen politischen Vorgängen ereignen kann“, nur durch „die

Menschen“ in der Welt, und nicht durch den Menschen, entstehen kann.103

In diesem Kon-

text gibt uns Arendts Natalitätskonzept die Antwort auf die Frage, welche stets in ihrer Ar-

beit aufgegriffen wird, nämlich die Frage, wie sich die politische Katastrophe des 20. Jahr-

hunderts überwinden lässt: Als der Anfang selbst könnte der Mensch durch das Zusammen-

handeln die gemeinsame Welt immer erneuern: „Die Fokussierung nicht nur des Politischen

auf die Natalität, sondern auch der Natalität auf das Politische mutet an, als wolle sie das

ganze Potential der Erneuerung dort einsetzen, wo es angesichts der Katastrophen des Ho-

locaust, des Weltkrieges und der totalen Herrschaft, auch am nötigsten ist, damit die an-

fängliche Hoffnung nicht aus der gemeinsamen Welt verschwindet: Man kann zwar in ihr

vieles zerstören, aber nicht die Fähigkeit zu einem Neuanfang, weil sie mit jedem Men-

schen neu zur Welt gebracht wird.“104

99

ÜR, S. 272. 100

Vollrath, 1979a, S. 24. 101

Habermas stellt fest, jede Geburt verknüpfe sich mit der „Hoffnung, dass ein ganz Anderes die Kette der

Ewigen Wiederkehr zerbricht. Der gerührte Blick der neugierig Umstehenden auf die Ankunft des frisch

Geborenen verrät die Erwartung des Unerwarteten. An dieser unbestimmten Hoffnung auf das Neue soll

die Macht der Vergangenheit über die Zukunft zerschellen“ (Habermas, 2001, S. 102). 102

VA, S. 316. 103

ZVZ, S. 224. 104

Saner, 1997, S. 116.

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30

1.3 Welt

Die Welt ist die Möglichkeit der menschlichen Existenz und zugleich ihre Bedingtheit. Da

die Welt einen eindeutigen Vorrang, insbesondere unter der Bestimmung von Dauer und

Beständigkeit, vor dem Menschen hat, lässt sich der Mensch selbst als das weltliche Wesen

bestimmen.105

Der Mensch ist nicht Subjekt gegenüber einer objektiven Welt, sondern er

existiert in einer Welt. Darüber hinaus sind Menschen „von dieser Welt“.106

1.3.1 Die Doppeldimension der Welt

Der Arendtsche Begriff der Welt hat doppelte Bedeutung: Er impliziert die Welt der von

Menschen hergestellten Dinge einerseits und eine ungreifbare Zwischenbeziehung der

Menschen andererseits, also Weltlichkeit und Öffentlichkeit.107

Die zwei Begriffe der Welt

schließen sich aber nicht gegenseitig aus: „Die Welt ist (…) sowohl ein Gebilde von Men-

schenhand wie der Inbegriff aller nur zwischen Menschen spielenden Angelegenheiten, die

handgreiflich in der hergestellten Welt zum Vorschein kommen.“108

Die Welt, an die Hannah Arendt denkt, ist zunächst die von Menschen geschaffene Ding-

welt im Gegensatz zur bereits gegebenen natürlichen Umwelt: „Die Welt, in der die Vita

activa sich bewegt, besteht im wesentlichen aus Dingen, die Gebilde von Menschenhand

sind; und diese Dinge, die ohne Menschen nie entstanden wären, sind wiederum Bedingung

menschlicher Existenz.“109

Diese objektive Welt ist von großer Bedeutung für die men-

schliche Existenz. Sie verleiht dem menschlichen Leben Beständigkeit und Dauerhaftigkeit.

Ohne diese Dingwelt ist das menschliche Leben heimatlos. Der Mensch formt die Welt, und

umgekehrt schränkt diese Welt den Menschen ein. Die objektive und gegenständliche Welt

legt Seinsweise der Menschen als „bedingte Wesen“110

fest. „Die Welt wird unmenschlich,

ungeeignet für menschliche Bedürfnisse, welche die Bedürfnisse von Sterblichen sind,

wenn sie in eine Bewegung gerissen wird, in der es keinerlei Bestand mehr gibt.“111

In die-

sem Sinne bedeutet die Weltlichkeit „die Angewiesenheit menschlicher Existenz auf Ge-

105

„Gäbe es die Welt nicht, in die hinein die Menschen geboren werden und aus der heraus sie sterben, so

gliche menschliches Dasein in der Tat der ewigen Wiederkehr, es wäre das todlose Immersein des Men-

schengeschlechts wie jeder anderen Gattung tierischen Lebens.“ (VA, S. 116). 106

DD, S. 30. 107

Die Menschenwelt ist zugleich „das Resultat menschlichen Herstellens und menschlichen Handelns“

(WP, S. 26). 108

VA, S. 65f. 109

VA, S. 18f. 110

VA, S. 18. 111

MfZ, S. 19f.

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31

genständlichkeit und Objektivität“.112

Diese Weltlichkeit stabilisiert menschliches Leben so,

„daß sie der reißenden Veränderung des natürlichen Lebens (...) eine menschliche Selbig-

keit darbieten, eine Identität, die sich daraus herleitet, daß der gleiche Stuhl und der gleiche

Tisch den jeden Tag veränderten Menschen mit gleich bleibender Vertrautheit entgegenste-

hen.“113

Neben der hergestellten Dingwelt bedeutet die Welt, wie Arendt metaphorisch äußert, das

„Gewebe menschlicher Bezüge und Angelegenheiten“114

. Die Dingwelt bleibt nur ein Hau-

fen beziehungsloser Dinge, wenn sie nicht durch menschliches Handeln und Sprechen einen

sinnvollen Zusammenhang gewinnt. Dies besagt „Nicht-Welt“.115

Wenn die Welt kein Ort

ist, wo Menschen miteinander handeln und sprechen, bleibt die Welt unmenschlich. Wenn

die Welt zum gemeinsamen Gegenstand des menschlichen Handelns und Sprechens wird,

kann die Welt zur öffentlichen Welt werden, wo jeder sichtbar und hörbar werden kann.

„Denn menschlich ist die Welt nicht schon darum, weil sie von Menschen hergestellt ist,

und sie wird auch nicht schon dadurch menschlich, daß in ihr die menschliche Stimme er-

tönt, sondern erst, wenn sie Gegenstand des Gesprächs geworden ist. Wie sehr wir von den

Dingen der Welt betroffen sein mögen, wie tief sie uns anregen und erregen mögen, men-

schlich werden sie für uns erst, wenn wir sie mit unseresgleichen besprechen können.“116

Die Welt, wo wir für alle anderen sichtbar und hörbar sind, indem wir handeln und spre-

chen, entsteht zwischen Menschen. So ist sie Zwischenwelt, die Arendt „das zweite Zwi-

schen“117

nennt. Die Welt in diesem Sinne ist öffentlich. „Dieser Öffentlichkeit der Welt

kommt realitätskonstitutive Kraft zu“.118

Und die Existenz dieser Welt ist vollkommen ab-

hängig von der Kapazität zu handeln.119

Daher ist die öffentliche Welt, wie Arendt sagt, „in

einem spezifischeren Sinne das Werk des Menschen als das Werk seiner Hände oder die

Arbeit seines Körpers.“120

Diese Welt entsteht überhaupt „nicht durch Kraft oder durch die

Stärke, sondern durch die Vielen, deren Zusammen bewirkt, daß Macht entsteht“.121

Nun

wird die Welt zur politischen Welt „als Ort der Macht“122

.

112

VA, S. 16. 113

VA, S. 162. 114

VA, S. 113. 115

VA, S.19. 116

MfZ, S. 35. 117

VA, S. 225. 118

Jaeggi, 1997a, S. 58. 119

Arendts These, dass die öffentliche Welt vom Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheit und dem in ihr

sich abspielenden Handeln und Sprechen gebildet werde, bezeichnet Benhabib als eines ihrer Beiträge zur

politischen Philosophie des 20. Jahrhundert (vgl. Benhabib, 1998, S. 182). 120

VA, S. 263f. 121

WP, S. 90. 122

WP, S. 153.

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32

1.3.2 Die politische Wiedergewinnung des Weltbegriffs

Das Politische ist für Arendt „ein Weltphänomen“.123

Ein Leitmotiv für Arendts politische

Theorie ist „die politische Wiedergewinnung der Welt“ unter den Voraussetzungen der

Moderne.124

Die Frage der Welt wird zum Gegenstand der Politikwissenschaft. Arendts

politische Theorie trägt so zur Überwindung des Weltverlusts als des spezifischen Kennzei-

chens der Neuzeit bei.125

Arendt geht es um die Wirklichkeit der Welt. Für sie ist die weltliche Wirklichkeit auf die

menschliche Pluralität angewiesen. Anders gesagt beruht die Wirklichkeit der Welt auf der

„Gegenwart anderer, die sehen, was wir sehen, und hören, was wir hören“.126

Arendt stellt

fest: „Wenn es richtig ist, daß ein Ding in der Welt des Geschichtlich – Politischen wie in

der Welt des Sinnlichen nur dann wirklich ist, wenn es von allen seinen Seiten sich zeigen

und wahrgenommen werden kann, dann bedarf es immer einer Pluralität von Menschen

oder Völkern und einer Pluralität von Standorten, um Wirklichkeit überhaupt möglich zu

machen und ihren Fortbestand zu garantieren.“127

Kraft der weltlichen Wirklichkeit können wir unwillkürlich handeln und sprechen. Wenn

die mir erscheinende gleiche Welt auch anderen erscheint, lässt sich über diese Welt mitei-

nander reden. Für Arendt sind „In-einer-wirklichen-Welt-Leben“ und „Mit-Anderen-über-

sie-Reden“ ein und dasselbe.128

In einer Textstelle stellt sich Arendts Position fest: „So ist

Realität unter den Bedingungen einer gemeinsamen Welt nicht durch eine allen Menschen

gemeinsame Natur garantiert, sondern ergibt sich vielmehr daraus, daß ungeachtet aller Un-

terschiede der Position und der daraus resultierenden Vielfalt der Aspekte es doch offen-

kundig ist, daß alle mit dem selben Gegenstand befaßt sind.“129

Durch die Gemeinsamkeit

der gegenständlichen Welt und gleichzeitig die Pluralität der Perspektiven können wir die

subjektiv– private Position überwinden. Das Miteinanderreden lebt von der Gemeinsamkeit

des Gegenstandes. Die Welt ist für Arendt der Gegenstand vom Zusammenreden und zu-

gleich sein Produkt: „Handeln und Sprechen bewegen sich in dem Bereich, der zwischen

Menschen qua Menschen liegt, sie richten sich unmittelbar an die Mitwelt, in der sie die

123

ZVZ, S. 280. 124

Belardinelli, 1990, S. 129; vgl. Benhabib, 1998, S. 44 und 206. 125

In einem Beitrag versucht Ronald Beiner, aufzuzeigen, dass Arendt ihren Weltbegriff schon in ihrer Dis-

sertation in Umkehrung von Augustinus‟ negativem Weltbegriff gewinnt (vgl. Beiner, 1996, S. 270; Jet-

schmann, 1989, S. 6ff.; Frank, 2001, S. 127-151). 126

VA, S. 63. 127

WP, S. 105. 128

WP, S. 52. 129

VA, S. 72.

Page 35: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

33

jeweils Handelnden und Sprechenden auch dann zum Vorschein und ins Spiel bringen,

wenn ihr eigentlicher Inhalt ganz und gar objektiv ist, wenn es sich um Dinge handelt, wel-

che die Welt angehen, also den Zwischenraum, in dem Menschen sich bewegen und ihren

jeweiligen, objektiv weltlichen Interessen nachgehen.“130

Die Wirklichkeit der Welt beruht

auf der „Intersubjektivität der Welt“,131

also auf der Tatsache, dass eine gleiche Welt auch

anderen erscheint. Relevant ist, dass Arendt die Intersubjektivität nicht zur Grundkategorie

des Menschen erhebt. Die Intersubjektivität ist als Tatsache in der Welt verstanden, nicht als

etwas im Menschen Vorhandenes. Die Intersubjektivität, das menschliche Zwischen, ist das

Phänomen der gemeinsamen Welt.

Für den Weltbegriff von Arendt ist es bedeutsam, dass die öffentlich-politische Welt als

Resultat des Handelns und Sprechens nicht weniger die Wirklichkeit als die Dingwelt hat,

obwohl Handeln und Sprechen keine Endprodukte hinterlassen und daher ungreifbar

sind.132

Das besagt, dass die Wirklichkeit der Welt nicht unabhängig von den Subjekten des

Handelns ist. Vor diesem Hintergrund fordert Arendt das erneute Denken des Politischen,

also einen Bruch mit der gängigen politischen Wissenschaft, die „den Bereich des Politi-

schen materialistisch zu verstehen“ versucht.133

Denn Arendt findet den Grundirrtum dieser

Versuche darin, „daß der allem Handeln und Sprechen inhärente, die Person enthüllende

Faktor einfach übersehen wird“.134

Im Gegensatz zu einem bloß materialistischen Positi-

vismus, der den „subjektiven Faktor“135

der weltlichen Konstruktion und ihre phänomeno-

logische Analyse ausklammert, enthält Arendts Weltbegriff zugleich die objektive und sub-

jektive Komponente. Dieser Weltbegriff unterscheidet sich „von einem naiven Objektivis-

mus wie von der postmodernen Auflösung der Welt in Sprachspiele oder Machtdiskur-

se“136

.

Aus dieser gleichgewichtigen Hervorhebung der objektiven und zugleich subjektiven Be-

deutung der Welt ergibt sich der doppelte Charakter des politischen Handelns. Für Arendt

bedeutet das politische Handeln einerseits die Enthüllung des Wer des Handelns, die zwi-

schen Menschen möglich ist. Und andererseits ist das politische Handeln das Handeln für

und über die gemeinsame Welt. So stellt das politische Handeln nicht nur die Enthüllung

der Person im bereits bestehenden Raum dar, sondern ist auch die Tätigkeit, über die ge-

meinsame Welt zu sprechen, die öffentliche Welt herauszubilden und sich zu kümmern.

130

VA, S. 224. 131

DD, S. 59. 132

Vgl. VA, S. 225. 133

VA, S. 225. 134

VA, S. 225f. 135

VA, S. 226. 136

Thaa, 1997, S. 706.

Page 36: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

34

Anders gesagt lebt die politische Welt vom politischen Handeln: „Fast alles Handeln und

Reden betrifft diesen Zwischenraum, der ein jeweils anderer für jede Menschengruppe ist,

so daß wir zumeist miteinander über etwas sprechen und einander etwas weltlich-

nachweisbar Gegebenes mitteilen, für das die Tatsache, daß wir unwillkürlich in solchem

Sprechenüber auch noch Aufschluß darüber geben, wer wir, die Sprechenden, sind, von

sekundärer Bedeutung scheint. Dennoch bildet diese unwillkürlich-zusätzliche Enthüllung

des Wer des Handelns und Sprechens einen so integrierenden Bestandteil allen, auch des

objektiven, Miteinanderseins“.137

1.3.3 Weltverlust und Weltentfremdung

Das durch Handeln entstandene Bezugssystem ist die politische Welt. Die Konstitution und

das Bewahren der politischen Welt durch das politische Handeln ist das Kernthema der

Arendtschen Politiktheorie. Arendt beschreibt die politische Theorie mit den Worten: „in

Liebe zur Welt (…). Dies beinhaltet: Sorge um die Welt, wir fürchten, daß der Welt der

Menschen etwas zustoßen kann.“138

Angesichts der Veröffentlichung des Buches VA

schreibt Arendt an Jaspers 1955: „Ich habe so spät, eigentlich erst in den letzten Jahren,

angefangen die Welt wirklich zu lieben (...). Aus Dankbarkeit will ich mein Buch über poli-

tische Theorien Amor Mundi nennen.“139

Bei der Politik handelt es sich um die Verantwortung für die Welt, die wir nicht nur mit den

Zeitgenossen gemeinsam haben, sondern auch mit den Toten und denen, die nach uns

kommen werden.140

Das Überleben der Welt hängt von uns ab. Keine politische Welt über-

dauert, ohne dass die Anstrengung zum Zusammenleben sie stützt. So gesehen hängt die

Qualität der Welt mit der Qualität des menschlichen Handelns zusammen: „Daß Menschen

sich in die Öffentlichkeit überhaupt wagten, ist durch lange Jahrhunderte, eigentlich bis

137

VA, S. 224. 138

Arendt, Political Theory: Notes, S. 4; zit. nach Breier, 2001, S. 55. 139

BAJ, S. 301; Ferner betont Arendt, dass im Mittelpunkt aller Politik nicht die Sorge um das Leben steht,

sondern um die Welt. Sie sagt: „Ich (Hannah Arendt: H. P.) habe die Welt dem Leben entgegengesetzt,

und da wir in einer Zeit leben, in welcher eine ungeheuere Überschätzung des Lebens gang und gäbe ist,

habe ich die Weltliebe, die zu aller Kultur gehört, vielleicht übertrieben. Ich glaube nicht, daß ich lebens-

feindlich bin, das Leben ist etwas Herrliches, aber es ist nicht der Güter höchstes. Wenn das Leben als der

Güter höchstes angesetzt wird, ist es sogar gerade mit dem Leben immer schon vorbei. Es gibt in unserer

Gesellschaft eine gefährliche Weltentfremdung und mit ihr eine schreckliche Unfähigkeit der Menschen,

die Welt zu lieben.“ (ZVZ, S. 303). 140

Vgl. VA, S. 69.

Page 37: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

35

zum Anbruch der Neuzeit, nur dem geschuldet gewesen, daß sie ein Eigenes oder ein Ge-

meinsames dauerhafter machen wollten als ihr irdisches Leben.“141

Arendts Forderung nach der Verantwortung für die Welt beruht auf dem spezifischen Phä-

nomen der Neuzeit; dem Verlust der gemeinsamen Welt. Damit ist nicht gemeint, dass die

modernen Menschen keine bestimmte öffentliche Welt haben, sondern dass der öffentliche

Raum seine Funktion der Leuchtkraft und seine Fähigkeit, die Menschen voneinander zu

trennen und gleichzeitig miteinander zu verbinden, verliert. In einem Aufsatz über Lessing

von 1960 gibt Arendt die ausführliche Definition des Begriffs „Weltverlust“: „Aber die

Welt und die Menschen, welche sie bewohnen, sind nicht dasselbe. Die Welt liegt zwischen

den Menschen, und dies Zwischen (…) ist heute der Gegenstand der größten Sorge und der

offenbarsten Erschütterung in nahezu allen Ländern der Erde. Selbst wo die Welt noch

halbwegs in Ordnung ist oder halbwegs in Ordnung gehalten wird, hat die Öffentlichkeit

doch die Leuchtkraft verloren, die ursprünglich zu ihrem eigensten Wesen gehört (…). Der

Rückzug aus der Welt braucht den Menschen nicht zu schaden (…). Nur tritt mit einem

jeden solchen Rückzug ein beinahe nachweisbarer Weltverlust ein; was verloren geht, ist

der spezifische und meist unersetzliche Zwischenraum, der sich gerade zwischen diesem

Menschen und seinen Mitmenschen gebildet hätte“142

Wenn die Welt ihre wesentliche Funktion, die Menschen miteinander zu verbinden und

zugleich voneinander zu trennen, verliert, verschwindet das Vertrauen in die Wirklichkeit

der Welt. Beim Weltverlust ist der Mensch daher nicht in der Lage, die weltliche Wirklich-

keit zu erfahren. Mit dem Verlust der gemeinsamen Welt fällt der Verlust des eigenen Stan-

dorts in der Welt zusammen. In Bezug darauf ist der Verlust der Welt sehr eng mit dem

Verlust der eigenen Perspektive des Individuums verbunden. Wenn die Welt, die „über-

haupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven“143

existiert, nur noch unter einem gleichen As-

pekt gesehen, verstanden und beurteilt wird, kann die Welt verschwinden, ohne dass die

Menschen auf der Erde auch verschwinden. So findet der Weltverlust in einer Doppeldi-

mension statt: dem Verlust der einzelnen Perspektive einerseits und dem der gemeinsamen

Welt andererseits. Weltverlust ist daher Wirklichkeitsverlust.

In dem Ort, wo die Vielheit der Sichtweisen und die gemeinsame Welt vernichtet wird, ent-

steht nach Arendt die Gesellschaft der weltlosen und selbstlosen Massenmenschen. Im be-

rühmten Metapher vom Schachspiel kommt das zum Ausdruck: „Der Schachspieler ist mit

seinem Mitmenschen immer noch durch das Brett verbunden, das die Gegner voneinander

141

VA, S. 69. 142

MfZ, S. 12. 143

VA, S. 73.

Page 38: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

36

trennt und gleichzeitig miteinander verbindet, weil es ein Stück einer ihnen gemeinsamen

Welt ist. Nur wo diese gemeinsame Welt völlig zerstört und eine in sich völlig unzusam-

menhängende Gleichförmigkeit aus nicht nur isolierten, sondern auf sich selbst und nichts

sonst zurückgeworfenen Individuen besteht, kann die totale Herrschaft ihre volle Macht

ausüben, sich ungehindert durchsetzen.“144

Das moderne Phänomen, dass die Menschen von der gemeinsamen Welt zurücktreten und

zugleich sich in ihre Subjektivität zurückziehen, nennt Arendt „Weltentfremdung“. 145

Die

Weltentfremdung bedeutet für sie „das Absterben des Erscheinungsraumes und die ihm

folgende Verkümmerung des Gemeinsinns“146

. Für das Phänomen der Weltentfremdung

geht es nicht um die Sorge um die gemeinsame Welt, sondern um sich selbst. Menschen

denken nie „an das Weltverhältnis der Menschen und ihrer Positionen und Meinungen“,

sondern „an sich selbst“147

. So gesehen gründet sich moderne Weltentfremdung in Phäno-

menen der Privatisierung und der Zerstörung des öffentlichen Raums. Was in dieser radika-

len Privatisierung verloren geht, ist die gemeinsame Welt und die nur innerhalb ihrer gebil-

dete Pluralität. Die Kontinuität der öffentlichen Welt lässt sich stets nur durch das politische

Handeln im Zwischenraum fördern. Wenn man in der Welt miteinander handelt und über

die Welt und die Dinge der Welt spricht, wird die Welt vermenschlicht und öffentlich. In

diesem Sinne ist die öffentliche Welt immer „potenziell“.148

Die Verwirklichung dieses

Potenzials hängt von dem menschlichen Zusammenhandeln ab. Das ist die Arendtsche

Antwort auf die Frage, was die verlorengegangene Welt regeneriert: das politische Handeln

sich selbst.149

1.4 Pluralität

1.4.1 Zwei Bestandteile der Pluralität

Das politische Handeln findet direkt zwischen Menschen statt. Für das Handeln geht es um

die einfache Tatsache, „daß niemand alleine handeln kann.“150

Die Möglichkeit des Han-

delns ist daher in der existenziellen Grundbedingung des Menschen verankert, in dem „Fak-

tum der Pluralität“, „daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und

144

EU, S. 695; vgl. VA, S. 72. 145

VA, S. 15. 146

VA, S. 265. 147

MfZ, S. 40. 148

VA, S. 251. 149

Vgl. MfZ, S. 41. 150

DW, S. 190.

Page 39: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

37

die Welt bevölkern.“151

Die Menschen sind eigentlich Wesen, die in den Zustand dieser

Pluralität geworfen sind.

Aber für Arendt bedeutet „Echte Pluralität“152

mehr als das ontologische Faktum.153

Sie

unterscheidet sich von der bloßen „Mehrzahl“ als dem „Gesetz der Erde“154

. In Wahrheit

stellt die spezifisch menschliche Pluralität nicht die bloß numerisch-quantitative Vielheit

oder die Multiplizität der Gattungsexemplare dar. Sie lässt sich auch nicht auf das Ergebnis

der Vervielfältigung des Einen zurückführen. In diesem Kontext kann man Arendts Kritik

an der Bestimmung der Menschennatur und am Phänomen der Masse verstehen. „Hier ist

die Pluralität den Menschen nicht ursprünglich zu eigen, sondern ihre Vielheit ist erklärt aus

Vervielfältigung. Jede wie immer geartete Idee vom Menschen überhaupt begreift die men-

schliche Pluralität als Resultat einer unendlich variierbaren Reproduktion eines Urmo-

dells“.155

In diesem Zusammenhang ist Arendts Konzept der Pluralität durch den Doppel-

charakter gekennzeichnet: die gemeinsame Welt einerseits und die verschiedenen Perspek-

tiven andererseits: „Menschen im eigentlichen Sinn kann es (…) nur geben, wo es Welt

gibt, und Welt im eigentlichen Sinn kann es nur geben, wo die Pluralität des Menschenge-

schlechts mehr ist als die einfache Multiplikation von Exemplaren einer Gattung.“156

Die Pluralität in Arendts Sinne hängt zunächst mit der gemeinsamen Welt zusammen. Die

Pluralität ist immer weltlich und öffentlich. Pluralität realisiert sich dadurch, dass Menschen

die gemeinsame Welt haben, in der sie miteinander verbunden und zugleich getrennt sind.

Die Vorstellung der Pluralität, die auf der gemeinsamen Welt beruht, deutet die Zerstörbar-

keit von Pluralität an. Die Zerstörung der Pluralität geht in dem Moment vor, wo „die Welt

die Kraft verloren hat zu versammeln, das heißt, zu trennen und zu verbinden.“157

Die ge-

meinsame Welt wird zur Garantie der pluralen Gemeinsamkeit der Welt und zugleich ge-

wissermaßen zur Grenze der Pluralität. Das Handeln und Sprechen wird nur in der Bedin-

gung der Pluralität weltbildend. „Pluralität ist also die Bedingung dafür, dass es weltbezo-

genes Handeln unter Menschen überhaupt gibt.“158

Der Kernpunkt der Pluralität besteht zweitens in der Vielfalt der Perspektiven.159

Die Viel-

fältigkeit der Perspektiven bzw. Multiperspektivität bedeutet, dass jeder Mensch ein unver-

151

VA, S. 17. 152

VA, S. 270; vgl. Schnabl, 1999, S. 154. 153

Dazu siehe Kapitel IV. 154

DD, S. 29. 155

VA, S. 17. 156

WP, S. 106. 157

VA, S. 66. 158

Breier, S. 2001, S. 58. 159

Es gehört „zu den Freuden der Pluralität, dass die Welt sich niemals zwei Menschen in dem genau glei-

chen Aspekte zeigt“ (DTB, S. 392).

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38

wechselbares Individuum darstellt, indem jeder seinen eigenen Standpunkt hat. „Nur wo

Dinge, ohne ihre Identität zu verlieren, von Vielen in einer Vielfalt von Perspektiven er-

blickt werden, so daß die um sie Versammelten wissen, daß ein Selbes sich ihnen in äußers-

ter Verschiedenheit darbietet, kann die menschliche Pluralität eigentlich in Erscheinung

treten.“160

Dass man seine eigene Meinung und Perspektive hat, bedeutet, dass man auf der

gemeinsamen Welt seinen Ort hat. Die menschliche Pluralität steht einer gemeinsamen

Perspektive oder einem einheitlichen Maßstab ihrer Betrachtung oder Beurteilung entgegen.

Jede Perspektive entspringt „der Subjektivität eines Standorts in der Welt“.161

Wegen der

Vielfältigkeit der Perspektiven können wir in der Lage sein, „die Dinge nicht nur aus der

eigenen, sondern aus der Perspektive aller anderen, die präsent sind, zu sehen“.162

Die

Enthüllung der eigenen Perspektive ist für Arendt das politische Leben. Die Zerstörung der

Pluralität gibt es dann, „wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den al-

lein er überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, daß seine Mei-

nungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind.“163

Vor allem Habermas

versteht das Konzept der Pluralität Arendts als Pluralität der Perspektiven, die in der Inter-

subjektivität wechselseitig ausgetauscht werden und verbunden sind. Die Perspektiven soll-

ten durch das Sprechen und Handeln miteinander im Zwischenmenschen mitgeteilt und

enthüllt werden. Er schreibt: „Die Arendtsche Analyse der Pluralität richtet sich auf die

Intersubjektivität des gemeinsamen Handelns, in der die vielfachen Perspektiven der Betei-

ligten, die notwendigerweise verschiedene Standpunkte einnehmen, wechselseitig verbun-

den sind. Die vereinigende Kraft der Intersubjektivität wahrt die Pluralität der individuellen

Perspektiven; selbst im Falle einer gewaltsamen Unterdrückung kann Intersubjektivität

nicht durch eine höherstufige Subjektivität ersetzt werden.“164

Habermas‟ Interpretation des Pluralitätsbegriffs ist jedoch zu einseitig. Wie oben erwähnt,

spricht Arendt von Intersubjektivität der Welt. Die Pluralität der verschiedenen Perspekti-

ven setzt für Arendt ein „weltlich nachweisbar Gegebenes“165

voraus. Anders gesprochen

setzt die subjektive Perspektive eine uns allen gemeinsame Welt als eine objektive Gege-

benheit voraus. Die Pluralität entsteht nur, wo wir miteinander über die gemeinsame Welt

sprechen, teilen und beurteilen können. Ungeachtet der verschiedenen Perspektiven ist die

öffentliche Kommunikation nur deshalb möglich, weil sich „ein Gegenstand in seiner Iden-

160

VA, S. 72. 161

ZVZ, S. 300. 162

ZVZ, S. 299. 163

EU, S. 613. 164

Habermas, 1981, S. 404f. 165

VA, S. 224.

Page 41: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

39

tität einer Vielheit von Zuschauern darbietet“166

. Das Bindeglied in der Kommunikation ist

die gemeinsame Welt. Das Spannungsverhältnis zwischen dem verschiedenen Einzelnen

und der gemeinsamen Welt, das bei Arendts Pluralitätsbegriff erscheint, macht ihr Konzept

der Pluralität herausragend. Die Krise der Pluralität in der modernen Gesellschaft zeigt sich

darin, dass das Selbst und gleichzeitig die gemeinsame Welt drastisch bedroht werden.

1.4.2 Pluralität als politisches Phänomen

Der „Kerngedanke“ der politischen Theorie Arendts ist die Erkenntnis der Pluralität.167

Am

Anfang von VA schreibt Arendt: „Zwar ist menschliche Bedingtheit in allen ihren Aspekten

auf das Politische bezogen, aber die Bedingtheit durch Pluralität steht zu dem, daß es so

etwas wie Politik unter Menschen gibt, noch einmal in einem ausgezeichneten Verhält-

nis“.168

Die echte Pluralität lässt sich aktiv durch das politische Handeln und Sprechen he-

rausbilden. Dann versteht sich die Pluralität als das politische Phänomen. Dass die Pluralität

das politische Phänomen ist, besagt, dass sie über die ontologische Bedingung des Men-

schen hinausgeht: „Sprechend und handelnd unterscheiden sich Menschen aktiv voneinan-

der, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen sich das Menschsein

selbst offenbart.“169

Für Arendt entspricht das Sozialwesen der bloßen Tatsache der numerischen Vielheit der

Menschen.170

Das Sozialwesen beschreibt das natürlich - funktionierende Zusammenleben

von Menschen. Aber das eigentlich Politische entsteht „keineswegs notwendigerweise, wo

immer Menschen in geordneten Verhältnissen zusammenleben“.171

Erst wo sich die Plurali-

tät der Perspektiven durch das Miteinander - Sprechen enthüllt, wird der Mensch zum poli-

tischen Wesen. Erst mit der Pluralität der Perspektiven, die durch Handeln und Sprechen

erscheinen, werden „die prä–politischen Existenzialien des Politischen“172

politisch. Darauf

weist Martin Braun hin: „Bloße Gegebenheit wäre die Abwesenheit von Pluralität. Pluralität

166

VA, S. 72. 167

Geißner, 1995, S. 162. 168

VA, S. 17. 169

VA, S. 214. 170

Auf ähnliche Weise unterscheidet Tassin Vielheit und Pluralität: „Die Vielheit entspricht dem Charakter

der Seienden, während die Pluralität der Charakter der Seienden ist, die zusammen handeln (...). Die Viel-

heit entspricht dem Charakter von isolierten, vereinsamten Seienden, die alleine herstellen, der Herstel-

lung ihrer privaten Welt, während die Pluralität dem Charakter von Seienden entspricht, die sich handelnd

versammeln, die durch die konzertierte Aktion verbunden sind, so dass ihr Handeln sich mit der Errich-

tung einer gemeinsamen Welt verbindet.“ (Tassin, 1999, S. 202; zit. hier nach Seitz, 2002, S. 48). 171

VA, S. 23. 172

Greven, 1993, S. 79.

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40

ist präsent in dem, was nicht gegeben ist, sondern was sich präsentieren muß, um zu sein.

Sie liegt im Geschehen des menschlichen Miteinanders“.173

Das Spezifikum der Pluralität als politisches Phänomen wird im Verhältnis von Pluralität

und Sprechen deutlich. Im Prinzip der Pluralität spielt das Sprechen eine konstitutive Rolle.

Wenn die Pluralität für Arendt die Vielfalt der Perspektiven darstellt, lassen sich diese

Perspektiven nur im sprachlichen Handeln herausbilden und mitteilen. In Anlehnung an

Aristoteles meint Arendt im Folgenden: „Wo immer es um die Relevanz der Sprache geht,

kommt Politik notwendigerweise ins Spiel; denn Menschen sind nur darum zur Politik be-

gabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind.“174

Nach Arendt wird die Aristote-

lische Bestimmung des Menschen als eines politischen Lebewesens erst verständlich, wenn

man die zweite berühmte aristotelische Definition des Menschen berücksichtigt, dass näm-

lich der Mensch das einzige Lebewesen ist, das Sprache (logos) besitzt.175

Die beiden aris-

totelischen Wesensbeschreibungen des Menschen, also als zoon politikon und zoon logon

echon, bieten Hannah Arendt ein tiefes Verständnis der Beziehung von Politik und Sprache.

Die beiden Definitionen gehören zusammen: Das sprachliche Vermögen vollzieht sich nur

unter dem menschlichen Zwischen. Das Sprechen als das politische Vermögen des Men-

schen wäre sinnlos, wenn die menschliche Pluralität nicht vorkäme.

In der Verknüpfung des Sprechens mit der Pluralität kritisiert Arendt heftig die lateinische

Übersetzung von „politisch“ als „sozial“ und von „Logos“ als „rationale“.176

Diese Umdeu-

tung bezeichnet Arendt als „fundamentales Mißverständnis“ des Politischen.177

Für sie

könnte vor allem der alte-griechische logos nicht einfach durch die Vernunft ersetzt wer-

den.178

Der Mensch, der die menschliche Beziehung verloren hat, besitzt immer noch die

Vernunft, während das sprachliche Handeln immer die Pluralität der Menschen voraus-

173

Braun, 1994, S. 156. 174

VA, S. 11. 175

Aristoteles, Politik, 1253 a 9. 176

Vgl. VA, S. 37f. 177

VA, S. 37. 178

In der englischen Ausgabe „Human Condition“ vertritt Arendt, dass der eigentliche Gedanke von Aristo-

teles verwischt ist, indem der „logos“ nur als Vernunft oder Definition interpretiert wird. Für Aristoteles

ist die höchste menschliche Fähigkeit nicht der Logos, sondern das Vermögen der Kontemplation, für die

es einen logos nicht gibt (Aristoteles, NE 1142 a 25ff.; Arendt, Human Condition, Chicago 1958, VI,

Anm., 58; vgl. DD, S. 124f und 138; PP, S. 391). Daran hält Andreas Kamp fest: „Weil der Logos so von

Aristoteles auf seinen Bezug zu einem bestimmten Seinsbereich festgelegt wird, kann Logos an unserer

Stelle auch nicht durch Vernunft übersetzt werden, denn deren Tätigkeit ist ja keineswegs auf diesen ei-

nen Bereich des Seienden eingegrenzt. Außerdem ist der Mensch nicht das einzige vernünftige Lebewe-

sen. Das vernünftige Lebewesen schlechthin ist der Gott, und der Mensch kann deshalb in seinem Wesen

nicht durch Vernunft schlechthin definiert werden. Daher aber kann der Logos, der den Menschen in sei-

nem Wesen umgrenzt, nicht synonym mit Vernunft sein.“ (Kamp, 1985, S. 51).

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41

setzt.179

Mit anderen Worten: „Dass das logische Vermögen, das Vermögen, das uns befä-

higt, Schlüsse aus Voraussetzungen zu ziehen, in der Tat, ohne Kommunikation funktionie-

ren könnte.“180

Nur in sprachlicher Verständigung sind die personale Identität und damit

gleichzeitig die spezifisch menschliche Pluralität verwirklicht. Der Sprachakt ist der Voll-

zug der Pluralität: „Sprechen wiederum entspricht der in dieser Geburt vorgegebenen abso-

luten Verschiedenheit, es realisiert die spezifisch menschliche Pluralität, die darin besteht,

daß Wesen von einzigartiger Verschiedenheit sich von Anfang bis Ende immer in einer

Umgebung von ihresgleichen befinden.“181

179

Vgl. VA, S. 359; diese Arendtsche Interpretation des anthropologischen Satzes von Aristoteles unter-

scheidet sich von anderen, die im deutschen Sprachraum charakteristisch sind. Z. B. formuliert Joachim

Ritter: „Aristoteles gibt (...) nicht einen allgemeinen Hinweis auf die gesellige Natur des Menschen, son-

dern sagt etwas sehr Bestimmtes: Die Stadt hat die Natur des Menschen darum zu ihrer Substanz, weil in

ihr die Vernunft des Menschen zum Zuge kommt. Sie ist der Ort des Menschenseins, weil sie selbst auf

der Vernunft beruht und Vernünftige gesellschaftliche Ordnung ist. Als Aktualität der Vernunft ist die

Stadt selbst, von Natur“ (Ritter, 1969, S. 76). 180

DU, S. 86. 181

VA, S. 217.

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42

2. Die handlungstheoretischen Grundlagen

2.1 Das Politische als Handeln

Im Zusammenhang mit dem Begriff der Politik wurden die handlungstheoretischen Kon-

zepte auf dem Feld der politischen Philosophie bereits seit der Antike1 ausgearbeitet. Für

Aristoteles ist die politische Wissenschaft eine Wissenschaft vom richtigen Handeln des

Menschen, also eine Handlungswissenschaft. Politik soll die Menschen zum richtigen Han-

deln in der Gemeinschaft mit anderen anleiten.2

Hannah Arendt ist, wie Klaus Hartmann es nennt, „Proponentin einer eigenen Handlungs-

theorie“.3 Wenn sie über das Politische nachdenkt, richtet sich ihre Aufmerksamkeit auf das

Problem des Handelns.4 Für sie ist Handeln „die politische Tätigkeit par excellence“.

5 So ist

das Problem des Handelns ein Grundproblem der politischen Theorie, wie sie formuliert:

„Es ging mir um das Problem des Handelns, die älteste Frage der Theorie der Politik“.6 Ihre

ganzen Kategorien des Politischen basieren auf dem handlungstheoretischen Ansatz und

sind von ihm festgelegt. Schon der Titel ihres großen Buches „Vita activa oder Vom tätigen

Leben“, der deutschen Übersetzung von „The Human Condition“, bringt es auf den Punkt.7

Er ist darauf ausgerichtet, „dem nachzudenken, was wir eigentlich tun, wenn wir tätig

sind.“8 Bei diesem Nachdenken legt Arendt ihr Augenmerk auf die Frage nach der Mög-

lichkeit und Bedingung für politisches Handeln in der modernen Welt, und daher geht es ihr

1 Vgl. Kauffmann, 2001, S. 117-146, insbesondere S. 120f.

2 Vgl. Weber-Schäfer, 1969, S. 96.

3 Hartmann, 1984, S. 20.

4 „Kein Theoretiker im 20. Jahrhundert hat das Handeln als spezifisches Politikum so sehr ins Zentrum des

politischen Denkens gerückt wie Hannah Arendt“ (Bluhm, 2001, S. 73). 5 VA, S. 18.

6 DD, S. 16.

7 In seiner kritischen Betrachtung zu VA greift Alwin Diemer eine andere Meinung auf. Für ihn ist der eng-

lische Titel eigentlich zutreffender als der deutsche, denn das Buch „wird auch nicht vom Tätigsein als

solchem im Ganzen gehandelt; ja es wird nirgends angegeben, worin es eigentlich bestehen soll. Weder

wird etwa darauf hingewiesen, es werde von einem allgemeinen, natürlichen Vorverständnis ausgegan-

gen, noch finden sich nähere Hinweise“ (Diemer, 1962, S. 128). Aber Diemers Kritik scheint mir fraglich

zu sein: Weil für Arendt die menschliche Tätigkeit immer den bestimmten Bedingtheiten entspricht, lässt

sich die Analyse der menschlichen Tätigkeit immer in Verbindung mit den menschlichen Bedingungen

verstehen. Auch wenn sich Arendt in VA mit der Analyse der menschlichen Grundsituation und mit der

kritischen Beleuchtung der gegenwärtigen Situation beschäftigt, geht es ihr um die Untersuchung der

Möglichkeit des menschlichen Handelns; im Gegensatz zu Diemers Meinung betont Benhabib im Folgen-

den: „Das tätige Leben ist der richtigere Titel für diese Arbeit, denn wie Arendt selbst feststellte, hatte sie

zwischen dem tätigen Leben und dem Leben des Geistes unterscheiden wollen. The Human Condition –

die Bedingtheit des Menschen – ist deshalb ein etwas irreführender Titel.“ (Benhabib, 1998, S.170). 8 VA, S. 14.

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43

darum, die Tätigkeiten der Menschen in ihren eigentümlichen Gehalten, Bedingungen und

Eigenschaften zu untersuchen.9

Wenn wir in unserer Realität des Politischen das politische Handeln betrachten wollen,

dann stoßen wir gerade auf die Schwierigkeit, dass sich das politische Handeln immer als

etwas, was in institutionellen Kontexten geschieht, versteht. Man begreift durchgängig jeg-

liches Handeln, was die Herstellung, Veränderung oder bewusste Wahrung von allgemeinen

Verbindlichkeiten, Normen, Regeln und Gesetzen beabsichtigt oder bewirkt, als politisch.

Ausgehend von diesem Verständnis ist man gewohnt, das politische Handeln allein als Mit-

tel zu einem höheren Zweck wahrzunehmen. Dann versteht sich das politische Handeln als

zweck- und erfolgsorientiertes Handeln. Wenn Politik als eine für das menschliche Leben

unabweisbare Notwendigkeit betrachtet werde, ist der Zweck des politischen Handelns „die

Sicherung des Lebens im weitesten Sinne“.10

Nach dieser Sicht der Politik wird das politi-

sche Handeln einfach als staatliche Verwaltung, Ordnung und Regierung aufgefasst.11

In

diesem Zusammenhang ist das politische Handeln nur als „Politikerpolitik“12

definierbar.

Diese Funktionsbestimmung der Politik beschreibt Patzelt folgendermaßen: „Politik ist je-

nes menschliche Handeln, das auf die Herstellung allgemeiner Verbindlichkeit, v. a. von

allgemein verbindlicher Regelungen und Entscheidungen (d.h. von allgemeiner Verbind-

lichkeit) in und zwischen Gruppen von Menschen abzielt.“13

Im Gegensatz hierzu könnte man Politik als den Ausdruck einer besonderen Handlungsform

auch jenseits der staatlichen Funktion definieren. Das Handeln als das Problem des Politi-

schen hat für Arendt nicht nur mit der Gestaltung politischer Ordnung zu tun, sondern auch

mit der „Aktualisierung eines Wer“14

und mit dem „acting in concert“. 15

Arendts hand-

lungstheoretischer Begriff des Politischen geht über ein institutionelles und staatzentriertes

Verständnis des politischen Handelns hinaus. Arendt sucht die Authentizität des Politischen

im menschlichen Vermögen zum Handeln: „Was den Menschen zu einem politischen We-

sen macht, ist seine Fähigkeit zu handeln“.16

Von diesem Standpunkt aus lässt sich der Zu-

gang zum Begriff des Politischen, also die Klärung der Inhalte und Qualität des Politischen,

9 Vgl. Barley, 1990, S. 174 und 89; Erler 1979, S. 18; Habermas, 1981b, S. 233; Vollrath, 1996b, S. 131.

10 WP, S. 36.

11 Vgl. Hitzler, 2000, S. 183.

12 Hitzler, 2001, S. 48.

13 Patzelt, 2001, S. 23; ähnlich hält Niklas Luhmann auch die „funktionale Definition der Politik als Herstel-

lung kollektiv bindender Entscheidungen für das Gesellschaftssystem für das in diesem Sinne einzig soli-

de Angebot“ (Luhmann, 1984, S. 102; zit. nach Hitzler, 2000, S. 183). 14

Kristeva, 2001, S. 273. 15

ZWZ, S. 244 und auch EU, S. 956. 16

MG, S. 204.

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44

nicht über die Bestimmung seiner Funktion gewinnen, sondern nur im handlungstheoreti-

schen Bezugspunkt.17

Betrachtet man Politik als eine Handlungsform, stellt sich die Frage, welche Handlungswei-

se und welcher Handlungsinhalt politisch sind. Nicht alle Tätigkeit ist politisches Handeln.

Es ist nämlich ein eigentlicher Begriff des politischen Handelns zu finden, der sich von an-

deren Formen der Tätigkeiten unterscheidet.

Dementsprechend unterscheidet Arendt drei Tätigkeitsweisen. Das Arbeiten, das Herstellen

und das Handeln werden von Arendt als die Grundtätigkeiten des Menschen benannt. Diese

Unterscheidung läuft dem modernen Wortgebrauch strikt zuwider. Die größte Leistung der

Arendtschen Differenzierung der Tätigkeitsweisen liegt trotzdem darin, wie Habermas ein-

räumt, dass es ihr gelungen ist, „die elementaren Begriffsverwirrungen aufzulösen, die aus

der spezifisch modernen Versuchung resultierten, die politische Praxis der Bürger auf eine

Art des instrumentellen Handelns oder der strategischen Interaktion zu reduzieren.“18

Da-

durch verbindet sich das Faktum der menschlichen Pluralität auf intensive Weise mit dem

politischen Handeln. Indem Arendt die verschiedenen Tätigkeitsweisen nach dem Maßstabe

der Pluralität unterscheidet, wird der Begriff der Pluralität die normative Bedingung des

authentischen Politischen. Durch die Verquickung von Handeln und Pluralität wird Politik

nicht zum reinen und substanzhaften Begriff, sondern zum Verwirklichungsmodus des

menschlichen Zusammenhandelns.

2.2 Die Unterscheidung der Tätigkeitsformen

Man kann die Originalität der Arendtschen Handlungstheorie nicht erfassen, ohne die Un-

terscheidung von Tätigkeitsweisen zu berücksichtigen. Durch diese Unterscheidung ver-

sucht Arendt, den verstellten Sinn des politischen Handelns freizulegen. Eine prinzipielle

Art, wie Arendt die drei Grundtätigkeiten voneinander differenziert, wird in der Analyse der

menschlichen Beziehungsform einer jeden Tätigkeit begründet.

Mit der Differenzierung der Tätigkeitsform ist aber nicht gemeint, dass jede Tätigkeitsform

in einer substantialistischen Weise objektiviert werden kann.19

Arendt versucht, die exis-

17

Vgl. Gerhardt, 1990b, S. 291. 18

Habermas, 1981b, S. 238; ungeachtet ihrer Kritik hält Benhabib die Arendtsche Differenzierung der Tä-

tigkeitsweisen für sinnvoll, weil Arendts Tätigkeitstypen beim Verstehen verschiedner Tätigkeiten eine

Rolle als begriffliche Modelle spielen (Benhabib, 1998, S. 211). 19

„Die Unterscheidung dreier Tätigkeitsweisen macht nur analytisch Sinn. Solche differenten Tätigkeits-

weisen können zwar herausgearbeitet werden, aber stets nur als Momente einer Synthesis, die ihrerseits

Handlungscharakter hat. Das sichert Handeln den Primat unter allen Tätigkeitsweisen.“ (Vollrath, 1996b,

S. 131).

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45

tenzbedingenden Strukturen menschlicher Tätigkeiten mit dem Maßstab zu differenzieren,

der phänomenal angemessen ist. Insofern führt sich ihre Handlungstheorie nicht bloß auf

die „systematische Erneuerung“ der Aristotelischen Begriffe20

zurück. Im Unterschied zu

Aristoteles, der die menschlichen Tätigkeiten gemäß ihrem Zweck unterscheidet,21

ist das

Phänomen der Pluralität der fundamentale Maßstab für Arendts Unterscheidung. Der aristo-

telischen Unterscheidung der Tätigkeitsweisen fehlt die Dimension des Interpersonalen.

Bekanntlich unterscheidet Aristoteles die Tätigkeit, welche um ihrer selbst willen geschieht,

von der Tätigkeit, welche um eines außerhalb ihrer liegenden Zwecks wegen geschieht.

„Das Hervorbringen hat nämlich einen anderen Zweck als die Tätigkeit selbst, das Handeln

dagegen nicht, da hier das gute Handeln selbst oder auch das gute Befinden den Zweck

ausmacht.“22

Aber als selbstgenügsamste und höchste Lebensform wird die Tätigkeit der

Theorie als solche von Aristoteles gefeiert, weil diese Lebensform in sich vollendet, selbst-

genügsam und autark ist. Das bedeutet, dass für Aristoteles das kontemplative Leben Priori-

tät vor dem aktiven Leben hat: „Auch was man Genügsamkeit nennt, findet sich am meisten

bei der Betrachtung“23

. Das Übergewicht des kontemplativen Lebens und die Unterordnung

des Handelns beruhen für Aristoteles eigentlich darauf, dass sich das Handeln in der Plurali-

tät abspielt.24

In der theoretischen Lebensform braucht man nicht in Beziehung zu anderen

zu stehen. Im Gegensatz dazu bedarf politisches Handeln immer der Mitmenschen. Bei

Aristoteles findet man auch den Gegensatz zwischen Politik und Philosophie, der schon bei

Plato war. Darauf weist Arendt hin: „Aristoteles ist Platon nicht gefolgt; doch selbst er be-

haupte, daß der bios politikos letztendlich für den bios theoretikos da wäre; und was den

Philosophen selbst anging, so sagte er ausdrücklich, selbst in seiner Politik, daß nur die Phi-

losophie es erlaubte (…), sich von sich aus, unabhängig, ohne die Hilfe oder Gegenwart

von anderen, zu erfreuen. Dabei verstand es sich von selbst, daß solche Unabhängigkeit,

oder eher Selbstgenügsamkeit, zu den höchsten Gütern zählte.“25

Arendt sieht auch das charakteristische Merkmal des Handelns in Selbstzweck. Der Vollzug

des Handelns selbst sei das Endziel. Der Grund dafür, dass Arendt die Zweck-Mittel-

Kategorie aus dem politischen Handeln fernhalten will, liegt darin, dass sie eine „Degradie-

rung der Politik zu einem Mittel für die Erreichung eines höheren, jenseits des Politischen

20

Habermas, 1981, S. 232. 21

Vgl. VA, S. 201 und S. 261f.; vgl. Aristoteles, NE 1094 a 1-5. 22

Aristoteles, NE 1140 b 6f. 23

Aristoteles, NE 1177 a 29; vgl. Weber-Schäfer, 1969, S. 96; VA, S. 370 und 30f. 24

Vgl. Kuhn, 1960, S. 127. 25

DU, S. 34.

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46

gelegenen Zweckes“ fürchtet.26

Diese Feststellung schließt die Möglichkeit nicht aus, „daß

das Politische Zwecksetzungen zuläßt, die sich aus seiner Definition oder aus seinem We-

sen ergeben.“27

In der Tat ist das politische Handeln für Arendt die Fähigkeit des Men-

schen, „sich mit seinesgleichen zusammenzutun, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen,

sich Ziele zu setzen und Unternehmungen zuzuwenden“.28

Sie vertritt die deutliche Auffas-

sung: „Politik bezweckt Änderung oder Erhaltung oder Gründung von Welt.“29

Im Gegen-

satz zur Kritik, dass Arendt bei ihrer so ganzvollen Beschreibung des politischen Handelns

das Ziel dieses Handelns im Dunkeln lässt,30

liegt ihr Akzent jedoch nicht auf dem Aus-

schluss allen Zwecks vom politischen Handeln, sondern vielmehr auf der Ablehnung der

Instrumentalisierung des politischen Handelns.31

Was Arendt meinen will, ist nur, dass das

Zweck-Mittel-Schema im Bereich politischen Handelns nicht durchgesetzt werden kann,

weil das Handeln in der menschlichen Pluralität stattfindet.32

Da sich das Handeln zwischen

Menschen, also im Bezugsgewebe, abspielt, ist das Handeln weder souverän noch autark:

„Weil dies Bezugsgewebe mit den zahllosen, einander widerstrebenden Absichten und

Zwecken, die in ihm zur Geltung kommen, immer schon da war, bevor das Handeln über-

haupt zum Zug kommt, kann der Handelnde so gut wie niemals die Ziele, die ihm ursprüng-

lich vorschwebten, in Reinheit verwirklichen.“33

In diesem Licht betrachtet könnte es bestritten werden, dass man Arendt einfach für eine

neoaristotelische Theoretikerin hält, die in der historischen und begrifflichen Konstellation

des aristotelischen Denkens verhaftet bleibt.34

Wenn man durch die Brille von Aristoteles

das Arendtsche Handlungsmodell interpretiert35

, lässt man es außer acht, dass das Prinzip

der Pluralität in Arendts grundsätzlichen Betrachtungsweisen der menschlichen Tätigkeiten

26

VA, S. 291. 27

Wagenknecht, 1995, S. 39. 28

MG, S. 204. 29

WP, S. 192. 30

Vgl. Sternberger, 1979, S. 120. 31

Vgl. WP, S. 125f. 32

Vgl. Bluhm, 1998, S. 993. 33

VA, S. 226; „Da ferner das Handeln immer in ein Netz einander widersprechender Ziele und Absicht

hineinhandelt, kann eine Tat niemals wirklich der Erwartung des Täters voll entsprechen, so wie etwas

das hergestellte Ding den Erwartungen des herstellenden Handwerkers oder Künstlers entsprechen kann“

(ZVZ, S. 105). 34

Habermas verlangt von Arendt, „aus der Verklammerung mit einer aristotelisch inspirierten Handlungs-

theorie“ zu lösen (Habermas, 1981b, S. 240). Was die kommunikative Handlungstheorie betrifft, ist es

klar, dass Habermas selbst auf die Aristotelischen Begriffe poiesis und praxis zurückgreift. Für seine theo-

retische Entwicklung diente, wie er selbst einräumt, „die Aristotelische Unterscheidung von Praxis und

Technik als Leitfaden“. Und er hat von Arendt „die fundamentale Bedeutung der Aristotelischen Unter-

scheidung von Technik und Praxis“ gelernt (Habermas, 1971, S. 84, Anm. 4; vgl. Vollrath, 1989, S. 1-26).

Höffe weist doch darauf hin, dass Habermas und nicht Arendt der aristotelischen Unterscheidung folgt

(Höffe, 1993, S. 21); zur Kritik an der Handlungstheorie des Aristoteles siehe VA, S. 245ff. 35

Vgl. Villa, 1996, insbesondere Kap. I.

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47

eine sehr viel stärkere Rolle bekommt als bei Aristoteles.36

Daher kann man sagen, dass

Arendt die aristotelische Dichotomie der Tätigkeitsweisen durch das Kriterium der Plurali-

tät vertieft und ersetzt. Insofern unterliegt der Arendtsche Begriff des politischen Handelns,

wie Jürgen Gebhardt feststellt, „keineswegs einem restaurativen Neo-Aristotelismus“.37

Indem sie die verschiedenen Tätigkeitsweisen des Menschen anhand des pluralistischen und

kommunikativen Prozesses der Tätigkeit unterscheidet, eröffnet Arendt die Sicht auf die

politische und interaktive Dimension des Handelns.38

Im Unterschied zu den anderen Tätig-

keiten, einschließlich Denken oder Kontemplation, spielt sich das politische Handeln nur in

der Bedingung der Pluralität ab und zugleich aktualisiert sich die Pluralität nur durch das

politische Handeln. An einer Textstelle wird klar, dass Arendt für ihre Differenzierung der

Tätigkeiten das Konzept der Pluralität als das entscheidende Kriterium verwendet: „Alle

menschlichen Tätigkeiten sind bedingt durch die Tatsache, daß Menschen zusammenleben,

aber nur das Handeln ist nicht einmal vorstellbar außerhalb der Menschengesellschaft. Die

Tätigkeit des Arbeitens als solche bedarf nicht der Gegenwart anderer Menschen, wiewohl

ein in völliger Einsamkeit arbeitendes Wesen kaum noch ein Mensch wäre; es wäre ein

Animal laborans in des Wortes wörtlichster und furchtbarster Bedeutung. Ein Wesen, das

Dinge herstellt, aber schwerlich Homo faber; es hätte seine spezifisch menschliche Eigen-

schaft verloren und gliche eher einem Gott – zwar nicht einem Schöpfergott, aber doch dem

göttlichen Demiurg, wie ihn Plato in einem seiner Mythen beschreibt. Handeln allein ist das

ausschließliche Vorrecht des Menschen; weder Tier und noch Gott sind des Handelns fähig,

und nur das Handeln kann als Tätigkeit überhaupt nicht zum Zuge kommen, ohne die stän-

dige Anwesenheit der Mitwelt.“39

2.3 Drei menschliche Tätigkeitsweisen

Das Wort „Vita activa“ umfasst drei Grundtätigkeiten: das Arbeiten, das Herstellen und das

Handeln. Arendt bezeichnet drei Tätigkeitsweisen als Grundtätigkeiten, „weil jede von ih-

36

Brunkhorst formuliert treffend im Folgenden: „Mit ihrem interpersonalen Handlungsbegriff setzt Arendt

sich nicht nur deutlich von Platon und Aristoteles ab (…). Mit dem Übergang von der Selbstzwecktätig-

keit, der actio immanens, die sich selbst genug ist und auch des alter ego nicht bedarf (…), zur sprachlich

vermittelten, gemeinschaftlichen Praxis, der actio socialis (…), geht Arendt weit über Aristoteles hinaus.“

(Brunkhorst, 1999, S. 128). 37

Gebhardt, 2004b, S. 306; vgl. Wellmer, 1999, S. 128; Weiland, 1989, S. 358-365. 38

Zum Einwand gegen Arendts Unterscheidungskriterium zwischen den Tätigkeitsformen siehe Theodor

Ebert, 1976; Hartmann, 1984, S. 22. 39

VA, S. 33f.; vgl. auch Arendt, 1998, S. 1007.

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48

nen einer der Grundbedingungen entspricht, unter denen dem Geschlecht der Menschen das

Leben auf der Erde gegeben ist.“40

Für Arendt entfaltet sich die Ganzheit des Menschenlebens im Zusammenspiel von Arbei-

ten, Herstellen und Handeln. 41

Arendt ist der Ansicht, dass jede menschliche Betätigung

eine für sie geeignete Struktur haben muss.42

Die menschlichen Tätigkeiten, die sich in ver-

schiedenen Bereichen abspielen, entsprechen den unterschiedlichen Grundanliegen des

Menschen überhaupt. Arendts Hervorhebung der räumlichen Bezüge menschlicher Existenz

und Tätigkeit setzt sich daher der herkömmlichen Überzeugung entgegen, „daß allen men-

schlichen Tätigkeiten ein einziges zentrales Anliegen zugrunde liegen müsse, weil ohne ein

solches einigendes Prinzip Ordnung überhaupt nicht etabliert werden könne.“43

2.3.1 Das Arbeiten

In ihrem Buch VA versucht Arendt, aufzuzeigen, welche Stellung die Tätigkeit des Arbei-

tens in Bezug auf die anderen menschlichen Tätigkeiten im menschlichen Leben einge-

nommen hat, wie sich ihre Stellung im geschichtlichen Lauf verändert hat und in welchem

Verhältnis die Arbeit zur Pluralität steht.

Arendts Ansicht nach wurden die verschiedenen Tätigkeitsformen des Menschen in der

Neuzeit auf die Arbeit reduziert. Das Arbeiten wurde zur beherrschenden Tätigkeitsform

des öffentlichen Bereichs in der modernen Gesellschaft, das heißt „die Glorifizierung der

Arbeit“44

. Das bedeutet nicht, dass die Tätigkeit der Arbeit als solche auf den politischen

Bereich übergegriffen hat. Vielmehr geht es hier um die „Arbeitsmentalität“, die in allen

Schichten in der modernen Welt herrscht.45

Die Gesellschaft, die die Mentalität und die

Maßstäbe des Arbeitens beherrscht, definiert Arendt als die „Arbeitsgesellschaft“, die aber

keineswegs identisch mit einer Gesellschaft von Arbeitern ist, weil Arbeitsmentalität in der

Arbeitsgesellschaft nicht auf die sogenannte Arbeiterklasse beschränkt ist.46

Uns geht es um

existenzbezogene Bedingungen der Arbeit und ihre Mentalität, die sich von den anderen

Tätigkeitsweisen unterscheidet.

40

VA, S. 16. 41

Vgl. Cooper, 1979, S. 149. 42

Vgl. VA, S. 90. 43

VA, S. 27. 44

VA, S. 105. 45

Vgl. Wolin, 1979, S. 198; vgl. auch Seyer, 1998, S. 63. 46

Dazu siehe Abschnitt II. 1.

Page 51: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

49

2.3.1.1 Das Arbeiten und die Notwendigkeit

Arbeit ist durch Notwendigkeitscharakter gekennzeichnet. Von „Notwendigkeit“ sprechen

wir mit Aristoteles in drei Bedeutungen: im Sinne von etwas, ohne dessen Existenz das

Gute nicht existieren kann; im Sinne eines Zwanges; im Sinne von etwas, das nicht anders

sein kann, sondern schlechthin so ist, wie es ist.47

Nach der ersten Definition ist das

notwendig, ohne welches man nicht leben kann; so ist das zum Leben Erforderliche wie

Atmen und Nahrung für ein Geschöpf notwendig, weil es ohne diese nicht sein kann. In

dieser begrifflichen Grundlage versteht Arendt die Arbeit als eine in der

Lebensnotwendigkeit begründete Tätigkeit. Arbeit ist das Mittel, um die Anforderungen des

Lebens selbst zu erfüllen. Das Leben selbst hängt von der Erfüllung der

Lebensnotwendigkeit ab. Arendt formuliert: „Die Tätigkeit der Arbeit entspricht dem

biologischen Prozeß des menschlichen Körpers, der in seinem spontanen Wachstum,

Stoffwechsel und Verfall sich von Naturdingen nährt, welche die Arbeit erzeugt und

zubereitet, um sie als die Lebensnotwendigkeiten dem lebendigen Organismus zuzuführen.

Die Grundbedingung, unter der die Tätigkeit des Arbeitens steht, ist das Leben selbst.“48

Das Arbeiten findet in der Beziehung zwischen Menschen und Natur statt. Anders gesagt

stellt die Arbeit den „Stoffwechsel zwischen Menschen und Natur“ dar.49

Durch Arbeit

produzieren die Menschen die notwendigen Lebensmittel, die dem Lebensprozess des

menschlichen Körpers zugeführt werden müssen. Insofern besteht das Arbeiten in engem

Zusammenhang mit dem Konsumieren: „Arbeiten und Konsumieren (sind) nur zwei

verschiedene Formen oder Stadien in dem Kreislauf des biologischen Lebensprozesses“.50

Im Arbeiten und Konsumieren ist der Mensch völlig auf sich selbst und auf das biologische

Leben zurückgeworfen.

Wenn wir der etymologischen und historischen Evidenz folgen, dann wird deutlich, dass

das Wort „Arbeit“ eine eindeutige Konnotation von Körpererfahrung, nämlich „Mühsal“

und „Beschwerde“, hat.51

Der Zwangscharakter der Arbeit beruht darauf, wie in der zweiten

Definition von Aristoteles gesehen, dass die Tätigkeit der Arbeit vom Leben selbst erzwun-

gen wird. Was uns so zu tun zwingt, sei notwendig.52

„Die Tätigkeit, die dem Zwang ent-

spricht, mit dem uns das Leben zwingt, das für es Notwendige herbeizuschaffen, ist die

47

Aristoteles, Metaphysik, 1015 a 20- 24 und 1072 b 12; vgl. DW, S. 17f. 48

VA, S. 16. 49

Marx, MEW, Bd. 23, S. 192; zum Arbeitsbegriff von Marx siehe Abschnitt III. 4.2. 50

VA, S. 117; „Die Arbeit verbraucht ihre stofflichen Elemente, ihren Gegenstand und ihr Mittel, verspeist

dieselben und ist also Konsumtionsprozeß.“ (Marx, MEW, Bd. 23, S. 198). 51

Chenu, 1971, S. 481; vgl. VA, S. 428. 52

Aristoteles, Metaphysik, 1015 a 25.

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50

Arbeit.“53

Daher hat die Arbeit etwas Sklavisches. Für das Altertum hieß Arbeiten „Sklave

der Notwendigkeit“54

. Die Lebensnotwendigkeit, deren Zwang die Menschen unterworfen

sind, konnte im Altertum entweder durch die eigene Arbeit oder durch Herrschaft über

Sklaven bewältigt werden. Was die Gewalt angeht, besteht das „verdoppelte Unglück“55

der

Sklaven darin, dass sie dem nackten Faktum der Arbeit einerseits und der Herrschaft der

Gewalt andererseits unterstellt waren.56

In diesem Sinne, dass das Arbeiten unmittelbar mit

der Notdurft des Lebens verbunden ist und dass es sich unter dem Zwang abspielt, verachte-

te die Antike Arendt zufolge die Arbeit und betrachtete sie als präpolitisch.57

Ein Notwendiges hat doppelten Charakter; es steht einerseits im Gegensatz zur Freiheit und

bildet andererseits doch ihre Voraussetzung. Hinsichtlich der Notwendigkeit der Arbeit

besteht Arendts Punkt darin, dass die körperliche Arbeit selbst wenig mit der menschlichen

Freiheit zu tun hat, sofern sie für die Reproduktion und für die Erhaltung des Lebens not-

wendig ist: „Niemand kann frei sein, der vom Leben gezwungen, dessen Tätigsein von den

Lebensnotwendigkeiten diktiert wird.“58

Wer diktiert wird, bedarf nicht der freien Entschei-

dung und Handlung. Gerade wegen der Tatsache, dass es im Bereich der Notwendigkeit

keine Freiheit gibt, zeigt sich in der Arbeitstheorie von Marx „der fundamentale Wider-

spruch“59

; trotz seiner Verherrlichung der Arbeit handelt es sich bei Marx nicht darum, die

Arbeit zu befreien, sondern um die Befreiung von der Mühe und damit der Notwendigkeit

der Arbeit, also um die Aufhebung der Arbeit selbst. „Das Reich der Freiheit beginnt in der

Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, auf-

hört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen

Produktion“. 60

Trotzdem bildet die Überwindung der Lebensnotwendigkeit durch die Arbeit die Voraus-

setzung für andere Tätigkeiten und für die Freiheit. Damit verbunden ist es nicht zu überse-

hen, dass für Arendt das Arbeiten als die grundlegende Tätigkeit für die menschliche Exis-

tenz verstanden wird und dass durch die Arbeit überhaupt erst die Möglichkeit politischen

Handelns hergestellt wird. In diesem Zusammenhang betont Arendt, die Vitalität und Le-

53

WP, S. 74f. 54

VA, S. 101; „Zur Arbeit genötigt, um Notwendigkeiten des Lebens zu bewältigen, ist dort der Mensch

Sklave der Arbeit. Wer arbeitete, war Sklave.“ (Baruzzi, 1983, S. 71); vgl. Gorz, 1989, S. 28f. 55

VA, S. 41. 56

Vgl. WP, S. 74. 57

Vgl. VA, S. 100 und auch S. 42. 58

ZVZ, S. 286. 59

VA, S. 123. 60

Marx, MEW, Bd. 25, S. 828; durchgängig ist dieser Gegensatz von Arbeit und Freiheit, der in der Arbeits-

theorie von Marx aufgestellt ist, nicht berücksichtigt. Marcuse hält fest: Die Arbeit sei für Marx „der

wirkliche Ausdruck der menschlichen Freiheit. In der Arbeit wird der Mensch frei, im Gegenstand der

Arbeit verwirklicht er frei sich selbst“ (Marcuse, 1969, S. 30f.).

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51

bendigkeit menschlichen Lebens können nur in dem Maße gewahr werden, „als Menschen

bereit sind, die Last, die Mühe und Arbeit des Lebens auf sich zu nehmen“.61

2.3.1.2 Arbeit und Welt

Arendt vertritt die These, dass das Arbeiten als die Befriedigung der Lebensnotwendigkeit

den Menschen weder individuiert noch vergemeinschaftet, sondern privatisiert.62

In diesem

Zusammenhang weist Arendt auf die antipolitischen Eigenschaften der Arbeit hin, vor al-

lem in zwei Punkten: Zum einen bedarf die Tätigkeit des Arbeitens nicht der Gegenwart

anderer Menschen, zum anderen existiert kein konkretes Individuum in dem Arbeiten.

Das wichtige Spezifikum der Arbeit liegt darin, dass die Arbeit ihrem Wesen nach „Mono-

tonie“ 63

ist. Sofern die Arbeit auf dem Leben überhaupt beruht, ist sie privat. Der arbeiten-

de Mensch ist von allen Beziehungen zur gemeinsamen öffentlichen Welt getrennt und

zieht sich auf sich selbst zurück. Freilich setzt jede menschliche Tätigkeit, einschließlich

der Arbeit, eine Umgebung von Dingen und Menschen voraus. Das Arbeiten ist jedoch im

Grunde genommen eine unkommunikative Tätigkeit, die der anderen Menschen nicht un-

bedingt bedarf. Die Arbeit wirkt isoliert vom kommunikativen Bezug zur Welt. Arendt er-

läutert: „Die Tätigkeit des Arbeitens als solche bedarf nicht der Gegenwart anderer Men-

schen, wiewohl ein in völliger Einsamkeit arbeitendes Wesen kaum noch ein Mensch wä-

re.“64

Der Charakter dieser Weltlosigkeit von Arbeit bezieht sich auf die eigene körperliche Er-

fahrung. Im Arbeiten ist „der menschliche Körper auch auf sich selbst zurückgeworfen,

wenn auch in einer aktiv-tätigen und nicht einer passiv – leidenden Weise“.65

Dies macht

den privaten Charakter der Arbeit ersichtlich.66

Wie sich bei der Lockeschen Bemerkung

von der „Arbeit unseres Körpers“ zeigt, beruht die Arbeitskraft auf dem eigenen Körper.67

Die Arbeit meines Körpers ist im eigentlichen Sinne mein Besitz, weil der Körper in der Tat

„das Eigenste und Privateste“68

ist, was Menschen besitzen können. Die körperlichen Erfah-

61

VA, S. 142. 62

Im Arendtschen Sinne ist das Private nicht ganz identisch mit dem Individuum oder Individualität. 63

Wolin, 1979, S. 198. 64

VA, S. 33. 65

VA, S. 134. 66

„Wer nicht in der Politik ist, bleibt ein Beraubter, privatus oder, griechisch gesehen, ein idiotes, ein Ein-

samer und Einzelner. Arbeit wird einsam, im Hause, verborgen verrichtet; nicht in der Öffentlichkeit,

nicht auf der Agora. Dort arbeitete man nicht, sondern redete. Arbeit war in der Polis wesentlich Hausar-

beit.“ (Baruzzi, 1983, S. 72). 67

Locke, 1992, § 27, S. 216. 68

VA, S. 131.

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52

rungen entziehen „sich der Sichtbarkeit und Hörbarkeit und damit der Öffentlichkeit“69

. Das

Merkmal dieser Weltlosigkeit der körperlichen Arbeit drückt sich in der anschaulichen

Formulierung Arendts aus: „Selbstverständlich ist die Weltlosigkeit des Animal laborans

ganz anderer Natur als die aktive Weltflucht, die Flucht, die Flucht aus der Öffentlichkeit

der Welt, die, wie wir sahen, das Kennzeichen der tätigen Güte ist. Das Animal laborans

flieht nicht die Welt, sondern ist aus ihr ausgestoßen in die unzugängliche Privatheit des

eigenen Körpers, wo es sich gefangen sieht von Bedürfnissen und Begierden, an denen

niemand teilhat und die sich niemandem voll mitteilen können.“70

Hinsichtlich der Weltlosigkeit ist die Arbeit keine weltbildende Tätigkeit. Sie eignet sich

nicht dazu, im öffentlichen Raum menschliche Bezüge zu stiften, weil sie keine kommuni-

kative Dimension hat und weil sie „ein Zwischen nicht konstituiert“.71

In diesem Verständ-

nis lehnt Arendt kategorisch die Interpretation ab, die Arbeit sei „die Einheit von Interakti-

onsprozessen zwischen Mensch und Natur und zwischen Mensch und Mensch“72

. Das Re-

sultat der Arbeit ist nicht die Gründung der gemeinsamen Welt, sondern „die Reproduktion

des individuellen Lebens“ oder „Reproduktion der Gattung“.73

Im doppelten Sinne, daß die

Arbeit in der Einsamkeit ohne Beziehung zwischen Menschen stattfindet einerseits und daß

„sie nichts objektiv Greifbares hinterläßt, daß das Resultat ihrer Mühe gleich wieder ver-

zehrt wird und sie nur um ein sehr Geringes überdauert“74

andererseits, verschafft uns die

Arbeit keine weltliche Wirklichkeit.

2.3.1.3 Arbeit und Individuum

Gegen Arendts Verständnis des Arbeitens, das nicht der Gegenwart anderer Menschen be-

darf, kann man daran denken, dass es auch Arbeit gibt, die man in Gemeinschaft verrichtet.

Es ist die Rede von der kollektiven und gesellschaftlichen Arbeit. Denn die gesellschaftli-

69

VA, S. 132. 70

VA, S. 139. 71

DTB, S. 337; zur Kritik an Arendts Feststellung der Arbeit als die weltlose Tätigkeit siehe Inantsy –Pap

von, 1967, S. 137ff. 72

Markus, 1980, S. 36; „Auch können natürlich in der Arbeitstätigkeit selbst Formen unmittelbar kommuni-

kativer Praxis einen Raum behalten oder ihn als sogenannte Befreiung in der Arbeit gewinnen.“ (Kambar-

tel, 1994, S. 127. Hervorhebung im Original). In diesem Verständnis des Arbeitsbegriffs wirft Höffe

Arendt vor, dass ihr Arbeitsbegriff zu eng ist. Nach ihm setzt man sich beim Arbeiten nicht nur mit der

Natur auseinander, sondern auch mit sich und mit seinesgleichen: „die Arbeit wird zum Medium des

Selbstbewusstseins und der sozialen Anerkennung und tritt in die Dimension, die Arendt für das Politi-

sche reservieren will, die des Miteinandersprechens, in einem nicht nur oberflächlichen Sinne ein. (…)

Während in der Politik das Miteinandersprechen auch einen strategischen und trotzdem einen nicht eo ip-

so illegitimen, gewalttätigen Charakter hat, gewinnt es im Arbeitsleben einen durchaus kommunikativen

Wert.“ (Höffe, 1993, S. 23). 73

VA, S. 136. 74

VA, S. 104.

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53

che Arbeit meint mindestens, dass Arbeiten erstens nicht nur etwas ist, das jeder für sich als

vereinzelter Einzelner tun könnte, sondern dass der Einzelne nur in Kooperation mit Mehre-

ren handelt. Bei der Kooperation in der Arbeit geht es um Sozialität. Vor allem die gesell-

schaftlichen Organisationsformen der Neuzeit gehen von der konstitutiven Idee einer koo-

perativen Arbeit aus. Das weiß niemand besser als Marx, der der erste Theoretiker war, der

die massenhafte „Produktionskraft der gesellschaftlichen Arbeit“75

verstanden hat. Die Er-

höhung der Produktivität durch Kooperation rührt nach ihm daher, „daß der Mensch von

Natur, wenn nicht, wie Aristoteles meint, ein politisch, jedenfalls ein gesellschaftliches

Thier ist.“76

Er betont, dass Arbeiter durch die kollektive und gesellschaftliche Arbeit die

individuellen Schranken überschreiten können. In der kollektiven und gesellschaftlichen

Arbeit gewinnt der Einzelne das „Gattungsvermögen“.77

Hannah Arendt beobachtet auch am Arbeiten den „Zug in Gesellig“ und versteht die Arbeit

„ihrem Wesen nach kollektiv“78

. Der Begriff des Kollektivsubjekts im Arbeiten hat für sie

jedoch nichts mit der Bestimmung der menschlichen Pluralität zu tun. Was beim kollekti-

ven Arbeiten entsteht, ist Gattungsvermögen. Von der Vielheit in der Arbeit grenzt Arendt

daher die Pluralität kategorisch ab, weil die Pluralität der Menschen etwas anderes ist als

die einfache Multiplikation von Exemplaren einer Gattung. So hat die kollektive Arbeit

nichts mit dem gemeinsamen Handeln zu tun, das zwischen mehreren Menschen stattfindet.

Arendt schreibt: „Das Zusammen in der Arbeit besteht vielmehr in der einfachen Multiplizi-

tät von Gattungsexemplaren, die einander bis zur Austauschbarkeit gleichen, insofern sie

nämlich lediglich in ihrer Eigenschaft als lebende Organismen sind, was sie sind.“79

Im kollektiven Arbeitsprozess wird das konkrete Individuum gleichgültig. Das Individuum

wird vielmehr zum Hemmnis der Produktion. Im Arbeitsprozess muss der Mensch nur als

Arbeitskraft bezeichnet werden, und darin „tritt der Mensch nicht als Person auf, sondern

als Funktion“80

, weil der Arbeitsprozess verlangt, „daß jeder einzelne Arbeiter das Bewußt-

sein seiner individuellen Identität in sich für die Dauer der Arbeit auslöscht.“81

Daher sind

die unterschiedslosen Individuen in einem Kollektiv verschmolzen. In diesem Kollektiv

wird die Anwesenheit der anderen sinnlos, weil alle arbeiten, als ob sie einer wären. Die

Arbeit des Arbeitskollektivs in der Verschmelzung der Vielen unterscheidet sich nie von

75

Marx, MEW, Bd. 23, S. 349. 76

Marx, MEW, Bd. 23, S. 346. 77

Marx, MEW, Bd. 23, S. 349. 78

VA, S. 271. 79

VA, S. 271. 80

VA, S. 195. 81

VA, S. 271f.

Page 56: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

54

der Arbeit eines Menschen. Das ist nichts anderes als „die Aufhebung der Pluralität“82

.

Arendt hält fest: „Zwar existiert auch das Animal laborans in der Gegenwart anderer und

lebt in gewissem Sinne mit ihnen zusammen; aber dies Zusammen ist von keinem der

Merkmale echter Pluralität geprägt.“83

Abschließend ist die Tätigkeit der Arbeit „antipolitisch“, weil die arbeitende Tätigkeit we-

der mit der weltbildenden Fähigkeit noch mit der Fähigkeit zur Enthüllung der Person zu

tun hat. Die auf der Lebensnotwendigkeit beruhende Arbeit ist daher die weltlose und zu-

gleich selbstlose Tätigkeit. Arendt konstatiert: „Antipolitisch ist nur das Arbeiten, bei dem

wir uns weder in der Dingwelt aufhalten noch mit anderen zusammen sind, sondern, von

Mit – und Dingwelt verlassen, auf unsere Körper zurückgeworfen, der nackten Notwendig-

keit unterworfen sind, uns am Leben zu erhalten“84

2.3.2 Das Herstellen

2.3.2.1 Die objektive Weltbildung

Die Unterscheidung zwischen Arbeiten und Herstellen ist für uns fremd, wie Arendt selbst

einräumt.85

Arendts Intention dieser ungewöhnlichen Unterscheidung liegt nicht unmittel-

bar auf der Hand. 86

Trotzdem ist es klar zu sagen, dass Arendt in erster Linie im Blick auf

„die objektiv weltlichen Eigenschaften der produzierten Dinge“87

das Herstellen sowohl

von Arbeiten als auch von Handeln unterscheidet.

Im Unterschied zur Arbeit versteht Arendt das Herstellen als die weltbildende Tätigkeit des

Menschen. Durch das Herstellen verwandelt der Mensch die natürlichen Bedingungen, „die

gleichsam die Mitgift ihrer irdischen Existenz überhaupt darstellen“, in die künstliche Welt

von Dingen, „die ohne den Menschen nie entstanden wären“.88

Im Herstellen drückt sich

das Unnatürliche des Menschen aus. Wie wir schon gesehen haben, versteht Arendt unter

Welt weder den Erdball noch den Kosmos.89

Die Dingwelt ist nie einfach schon gegeben,

sondern die Summe des Werkes menschlicher Hände. Der wichtige Zweck der herstellen-

82

VA, S. 272. 83

VA, S. 270. 84

VA, S. 270. 85

Vgl. VA, S. 99. 86

Schnädelbach bezeichnet die Arendtsche Differenzierung zwischen Arbeiten und Herstellen als „eine

systematische Fortentwicklung des handlungstheoretischen Aristotelismus“ (Schnädelbach, 1992b, S.

215). 87

VA, S. 111. 88

VA, S. 18f. 89

Vgl. VA, S. 65.

Page 57: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

55

den Tätigkeit besteht in der Weltlichkeit des Menschen. Die Weltlichkeit bedeutet, wie wir

gesehen haben, dass menschliche Existenz auf die gegenständliche und objektive Welt an-

gewiesen ist. Diese Gegenständlichkeit der Dinge versichert sich durch die Konsistenz oder

Haltbarkeit. Die Tätigkeit des Herstellens verleiht „den zerbrechlichsten Dingen“ „eine ge-

wisse Konsistenz“.90

Angesichts der mit der Natürlichkeit unwiderruflich verbundenen

Vergänglichkeit der Menschen steht die Aufgabe und Funktion der hergestellten Dingwelt

darin, „gegen die Elementargewalten der Natur abzuschirmen“91

und menschliches Leben

zu festigen. Die hergestellten Weltdinge überdauern menschliches Leben und leisten auch

dem Fluss der Natur Widerstand. Dadurch wird die Welt nun zur eigentlichen Heimat des

Menschen, der sterblich ist: „ihre Haltbarkeit verleiht der Welt als dem Gebilde von Men-

schenhand die Dauerhaftigkeit und Beständigkeit, ohne die sich das sterblich – unbeständi-

ge Wesen der Menschen auf der Erde nicht einzurichten wüßte“.92

Der herstellenden Tätigkeit kommt ein bestimmter Moment der Gewalttätigkeit zu. Der

gewalttätige Eingriff in die Natur gehört nach Arendt zum Wesen des Herstellens, das sie

„etwas Prometheisches“93

nennt. Wie der Mensch einen Baum fällt, um Holz zu gewinnen,

ist alles Herstellen gewalttätig, „und Homo faber, der Schöpfer der Welt, kann sein Ge-

schäft nur verrichten, indem er Natur zerstört.“94

Was die Gewalt, die der Natur angetan ist,

rechtfertigt, ist der Zweck, den der Herstellende hat, „wie das Holz das Fällen des Baumes

rechtfertigt, wie der Tisch schließlich die nochmalige Zerstörung des Materials, das Zersä-

gen des Holzes, rechtfertigt.“95

Die der Natur angetane Kraft des Herstellers steht im Gegensatz zur Anstrengung der Ar-

beit. Der Moment der menschlichen Gewalt, der in allen herstellenden Tätigkeiten steckt,

schafft eine nur ihr eigene Befriedigung. Aus dieser Befriedigung stammen „Selbstgewiß-

heit und Selbstgefühl“96

, die sich grundsätzlich sowohl vom Glück der Arbeit als auch von

der „Freude“97

des Zusammenhandelns unterscheidet. Die Quelle der Zufriedenheit in den

herstellenden Vorgängen besteht darin, dass der Mensch als der Herstellende der Herr der

Natur ist.98

90

VA, S. 165. 91

VA, S. 176. 92

VA, S. 161. 93

VA, S. 165. 94

VA, S. 165. 95

VA, S. 182. 96

VA, S. 165. 97

ZVZ, S. 369. 98

„Kraft und Stärke des Menschen äußern sich am elementarsten in den Erfahrungen der Gewalttätigkeit,

und sie stehen daher im äußersten Gegensatz zu der qualvoll – erschöpfenden Anstrengung, welche die

Grunderfahrung des Arbeitens ist.“ (VA, S. 165f.).

Page 58: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

56

2.3.2.2 Die souveräne Tätigkeit

Hinsichtlich des souveränen Charakters unterscheidet sich die Tätigkeit des Herstellens von

allen anderen Tätigkeiten. Die große Zuverlässigkeit des Herstellens stammt aus seiner

Souveränität, denn das Herstellen hat immer nur „mit einem Subjekt zu tun, das einen Ge-

genstand hervorbringen will“.99

Diese souveräne Eigenschaft kennzeichnet sich am klarsten

in der Tatsache, dass das, was von einem Hersteller geschaffen wurde, sich von ihm auch

wieder vernichten lässt. Nun ist Homo faber nicht nur Herr der Natur, sondern auch „Herr

seiner selbst, seines eigenen Tuns und Lassens“.100

Der souveräne Hersteller ist unabhängig

von allen anderen und setzt sich gegen sie durch. Diese Eigenschaft des Herstellens steht

schließlich in engem Zusammenhang mit „Herrschsucht“101

. Durch die souveräne Eigen-

schaft grenzt sich das Herstellen ab sowohl vom Arbeiten, das „der Notwendigkeit des ei-

genen Lebens unterworfen bleibt“, als auch vom Handeln, das „sich immer in Abhängigkeit

von seinen Mitmenschen befindet“.102

Die Souveränität im Vorgehen des Herstellens steht in engem Zusammenhang mit der Tat-

sache, dass das Herstellen immer unter Leitung eines Modells als Leitbild stattfindet. „Die

eigentliche Herstellung nun vollzieht sich stets unter Leistung eines Modells, dem gemäß

das herzustellende Ding angefertigt wird“.103

Etwas herzustellen heißt, ein Modell als eine

kontemplierte Idee mit Hilfe gewaltsamer Mittel zu realisieren. Das Modell existiert außer-

halb des Herstellenden selbst und leitet den Herstellensprozess. Das Modell ermöglicht dem

Herstellen, dass es in Isoliertheit von den Mitmenschen stattfindet.

Die Eigentümlichkeit des Modells besteht nicht nur darin, dass es dem Herstellen voraus-

geht und den Herstellungsprozess leitet, sondern auch nach dem Abschluss des Prozesses

immer noch bleibt. Dabei ist von Bedeutung, dass die Anwesenheit des Modells nach dem

Ende des Herstellungsvorgangs die weitere Herstellung gleicher Gegenstände ermöglicht.104

Die hergestellten Gegenstände sind daher als Resultat einer unendlich variierbaren Repro-

duktion eines Urmodells anzusehen. Diese Vervielfältigung ist anders als die Wiederholung

der Arbeit. Für die Wiederholung der Arbeit sind die Bedürfnisse des körperlichen Lebens

99

EU, S. 956; „auch Robinson auf seiner Insel ist noch Mensch im Sinne des homo faber.“ 100

VA, S. 170. 101

VA, S. 313. 102

VA, S. 170; vgl. VA, S. 299 und auch ZVZ, S. 295. 103

Vgl. VA, S. 166. 104

Vgl. VA, S. 168.

Page 59: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

57

ausschlaggebend.105

Obwohl das Herstellen von „der geistigen Vorstellungswelt“ ausgeht,

bezieht es sich auf Gegenständlichkeit, die auf der Unveränderlichkeit und Vollkommenheit

des Modells beruht. Diesen Vollzug des Herstellens, vom Modell zum Ding überzugehen,

nennt Arendt daher „Verdinglichung“106

.

2.3.2.3 Die zweckorientierte Tätigkeit

Das Herstellen ist wesentlich vom Zweck-Mittel-Schema bestimmt. Alle herstellende Betä-

tigung ist von einem bestimmten Zweck motiviert, während die Arbeit „frei ist von willent-

lichen Entscheidungen und vorgefaßten Zwecken“.107

Der Zweck lässt sich durch die Ver-

wendung eines geeigneten Mittels erreichen. Die Anwesenheit des Zwecks im Herstel-

lungsprozess bedeutet, dass das Herstellen „einen definitiven Anfang und ein definitives,

voraussagbares Ende hat.“108

Darüber hinaus ist der Herstellungsprozess selbst nur das Mit-

tel zum Zweck als Endprodukt. Im Zweck-Mittel-Schema rechtfertigt und organisiert der

Zweck das Mittel. Der erreichte Zweck reduziert sich in dem Moment, an dem es fertig ist,

wieder auf Mittel zu einem anderen Zweck. Diese Zweck-Mittel-Kategorie erzeugt „eine

Kette ohne Ende“, „in welcher sich jeder erreichte Zweck immer sofort wieder in ein Mittel

in einem anderen Zusammenhang auflöst“.109

Aus diesem Zweck-Mittel-Zirkel ohne Ende

ergibt sich, dass die Errichtung der Welt gleichzeitig zur gewissen Entwertung der objekti-

ven Welt führt, weil der Hersteller alle Weltdinge nur als Mittel für sich selbst oder für neue

Zwecke verwendet. Er kann die fertige Welt für seine neuen Zwecke wieder zerstören.

Die Tätigkeit des Herstellens ist trotzdem für Arendt nicht antipolitisch, weil es im gewis-

sen Sinne mit Öffentlichkeit zu tun hat. Im Herstellungsprozess bewegt sich der Hersteller

immer in der Isolierung von anderen. Die Quelle dieser Isolierung besteht darin, wie wir

schon gesehen haben, dass der Ansatz des Herstellens aus einem Modell entsteht. „Die Iso-

liertheit gegen die Mitwelt, das ungestörte Alleinsein mit einer Idee (...) ist die unerläßliche

Lebensbedingung der Meisterschaft. Diese Meisterschaft ist nicht Herrschaft, sie meistert

nicht Menschen, sondern Material, Werkzeuge und Gegenstände, sie ist prinzipiell unpoli-

tisch.“110

Diese Isoliertheit des Herstellens endet doch zugleich mit der Fertigung der Wer-

105

„Wiederholung ist nur die Art und Weise, in welcher die Arbeit dem Kreislauf des biologischen Lebens

nachkommt (...). Vervielfältigung dagegen vervielfacht das, was bereits eine relativ stabile, relativ gesi-

cherte Existenz in der Welt besitzt.“ (VA, S. 168). 106

VA, S. 165. 107

VA, S. 124. 108

VA, S. 169. 109

VA, S. 182. 110

VA, S. 191f.

Page 60: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

58

ke. Der Herstellende tritt mit seinen Produkten in den Tauschmarkt ein. Der Tauschmarkt,

„der die Herstellenden versammelt und der den dem Herstellen eigenen, öffentlich – ge-

meinsamen Bereich darstellt“111

, wird als eine Art des öffentlichen Raums von Homo faber

bezeichnet.

Obwohl sich das Herstellen auf den öffentlichen Raum bezieht, ist der öffentliche Bereich

von Homo faber, der Tauschmarkt, nicht identisch mit der politischen Öffentlichkeit. Im

Tauschmarkt tauscht der Hersteller seine Produkte mit anderen Menschen. Im Warenhandel

manifestiert sich keine Persönlichkeit der Herstellenden. Was im Tauschmarkt erscheint, ist

nichts anderes als die Produkte. Arendt spricht daher von „Zur Schau gestellte Produkti-

on“112

, die für eine Produzentengesellschaft charakteristisch ist. Im Tauschmarkt versam-

meln sich daher nicht Personen oder Bürger, sondern Produzenten. Dort können die Herstel-

lenden ihre Produkte ausstellen und austauschen. In der Öffentlichkeit des Homo faber wird

„die Konstellation, in der das Wer-einer-ist natürlicherweise zu dem steht, was er tut, ver-

schoben und verzerrt“.113

Arendt beschreibt im Folgenden: „Der Impuls, der den Hersteller

in die Öffentlichkeit und auf den Markt drängt, ist nicht das Verlangen nach anderen Men-

schen, sondern das Interesse an anderen Erzeugnissen, und die Macht, welche diese Markt-

sphäre entstehen lässt und am Dasein hält, ist nicht das Machtpotential, das sich bildet,

wenn Menschen miteinander handeln und sprechen, sondern eine Kombination von

Tauschkraft (...), die jeweils in der Isolierung des Herstellens gewonnen wurde.“114

Im

Tauschmarkt oder in einer Warengesellschaft sieht Arendt die Möglichkeit der Weltent-

fremdung, denn „das in ihr herrschende Primat des Warenaustauschs schließt in der Tat das

Personale aus dem öffentlichen Bezirk aus und drängt alles eigentlich Menschliche in den

Privatbereich der Familie oder die Intimität der Freundschaft.“115

2.3.3 Das Handeln

2.3.3.1 Die Tätigkeit zwischen Menschen

Im Gegensatz zu den anderen Tätigkeiten besteht das Spezifikum des Handelns darin, dass

es sich direkt zwischen Menschen ohne Vermittlung von Materie, Material und Dingen ab-

spielt. Das bedeutet, dass das Handeln unerlässlich auf die Anwesenheit anderer angewie-

111

VA, S. 265. 112

VA, S. 190. 113

VA, S. 267. 114

VA, S. 266. 115

VA, S. 267.

Page 61: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

59

sen ist. Das Handeln kann sich weder im Subjekt-Objekt-Schema noch in Isolierung voll-

ziehen. Die Grundbedingung, die dem Handeln entspricht, ist Pluralität. In der Pluralität zu

handeln heißt „sich in einer Vielheit einzigartiger Wesen als unter seinesgleichen zu bewe-

gen.“116

Freilich finden zwei andere Grundtätigkeiten, das Arbeiten und das Herstellen, in

gewissem Grad in Gemeinschaft mit anderen statt. Trotzdem sind sie, wie wir oben gesehen

haben, im Vorgang nicht notwendig auf die Gegenwart anderer Menschen angewiesen. Nur

das Handeln ist die einzige Tätigkeit, die von beständiger Gegenwart anderer abhängig

ist.117

So lokalisiert sich das Handeln im öffentlichen Bereich, der sich zwischen Menschen

herausbildet.

Das Handeln, das sich zwischen Menschen abspielt, hat Doppelcharakter: die Enthüllung

eines Wer einerseits und die Gründung des menschlichen Bezugsgewebes andererseits.

Handeln gibt zuerst Aufschluss darüber, wer einer ist. Wenn man handelt, erscheint man

vor anderen. Das Erscheinen, nämlich „das von Anderen Gesehen – und Gehörtwerden“,

beruht nur auf der Tatsache, „daß jeder von einer anderen Position aus sieht und hört.“118

Die Erscheinung gewährt dem Menschen die Wirklichkeit. „Erscheinen heißt stets: anderen

so und so scheinen, und dieses Scheinen verändert sich mit dem Standpunkt und der Pers-

pektive der Schauenden.“119

So kann man nicht allein erscheinen. Da die Erscheinung die

Gegenwart der anderen voraussetzt, vermag sie ohne die Anerkennung anderer, also ohne

die Anerkennung der Pluralität, nicht zu bestehen. Daher ist das Handeln für Arendt iden-

tisch mit dem Erscheinen. So gesehen ist der Erscheinungsgrad der verschiedenen Tätig-

keitsformen, das dem Pluralitätsgrad entspricht, entscheidend für ihre Differenzierung.120

Wenn das Handeln mit dem Erscheinen verbunden ist, ist es „auf eine Welt angewiesen, die

verläßlich als der Ort seines Auftretens erscheint.“121

Daher bedarf es des bestimmten

Raums, verstanden als Bezugssystem. Dieser Raum der Erscheinung ist von Arendt als der

politische Raum begriffen, der nicht schon aufgebaute Ordnung ist, sondern das von men-

schlichem Handeln eigens gewobene Bezugsgewebe.122

Der politische Raum ist für Arendt

durch „eine Handlungsqualität“123

gekennzeichnet. Daraus erklärt sich eine politische Di-

116

VA, S. 217. 117

Vgl. VA, S.33f. 118

VA, S. 71. 119

DD, S. 31. 120

Vgl. Penta, 1985, S. 17f. 121

DD, S. 31. 122

Zur politischen Welt siehe Abschnitt IV. 123

Köster, 1992, S. 122.

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60

mension des Handelns, das „der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen

dient“.124

2.3.3.2 Agonalität des Handelns

Aus diesem Doppelcharakter des Handelns entsteht das Spannungsverhältnis zwischen der

Agonalität des Handelns und seinem Miteinander. Wenn sich das Handeln mit der Enthül-

lung der individuellen Einzigartigkeit gleichsetzt, lässt es sich für agonal halten. Das agona-

le Handeln ist das politische Prinzip in der Polis und bezieht sich auf den Redewettstreit.125

In der Polis nimmt Politik „die Form des agon an: eines Redeturnisers, einer mit Argumen-

ten geschlagenen Schlacht“.126

Für diesen agonalen Geist des politischen Handelns in der

Polis kommt es auf die Selbstdarstellung an. Dieser Handlungstyp ist, wie Arendt selbst

einräumt, „individualistisch“127

. Arendt schenkt diesem agonalistischen und dramaturgi-

schen Element des Handelns in ihren verschiedenen Arbeiten besondere Aufmerksamkeit.

128 „Es ist keine Frage“, sagt Arendt „daß das Urbild des Handelns, wie es der griechischen

Antike vorschwebte, von dem Phänomen der Selbstenthüllung bestimmt war, aus dem sich

auch der sogenannte agonale Geist erklärt, dies leidenschaftliche Sich-an-Anderen-Messen,

das seinerseits wiederum dem Begriff des Politischen in den Stadt-Staaten seinen eigentli-

chen Gehalt gab.“129

Die Schwierigkeit besteht darin, dass Arendt noch ein anderes Handlungsmodell als das

agonale beschreibt, das sie „acting in concert“130

nennt. Sie versteht die spezifisch politi-

schen Formen des Handelns „als diejenigen, in denen man sich untereinander bespricht, um

dann in Übereinstimmung miteinander zu handeln.“131

Nach dieser Auffassung bedeutet das

politische Handeln, etwas zur gemeinsamen Sache zu machen oder auch etwas gemeinsam

zur Sache zu machen. Man könne „nur mit Hilfe der anderen“ handeln.132

Hier wird die

Frage gestellt, wie das agonale Handeln in Einklang mit Miteinanderhandeln stehen kann;

wo es die Beweggründe des vielen Zusammenhandelns gibt, wenn es dem Handeln um die

Selbstenthüllung geht; wie das agonale Prinzip des Handelns auf moderne republikanische

124

VA, S. 18. 125

Reckermann, 1971, S. 112f. 126

Vernant, 1982, S. 42. 127

VA, S. 243. 128

Zur dramaturgischen Dimension von Arendts Handelnsbegriff siehe Bluhm, 2001, S. 73ff. 129

VA, S. 243. 130

ZWZ, S. 244; auch EU, S. 956. 131

VA, S. 193. 132

ZVZ, S. 224.

Page 63: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

61

oder demokratische Verhältnisse übertragbar sein soll.133

Im Hinblick auf das grundsätzli-

chen Spannungsverhältnis zwischen „expressivem“ und „kommunikativem“ Handeln134

ist

Arendts Begriff des Politischen von einigen Kritikern kritisiert worden, dass ihre politische

Konzeption zwischen der demokratischen und der elitistischen Position schwankt.135

Das virtuose und dramaturgische Moment des Handelns bezieht sich auf seine aufschlie-

ßende Eigenschaft überhaupt. Das Handeln enthüllt unverwechselbare Einzigartigkeit, Cha-

rakter und Urteilsfähigkeit des Akteurs vor anderen Menschen. Wichtiger ist hier, dass das

Virtuose weder willkürlich noch souverän ist, weil es sich nur in Wort und Taten im öffent-

lichen Raum manifestiert. So gesehen ist „das Außergewöhnliche“ des Handelns begriffen

„nicht als arrogante Ausschließlichkeit, sondern im Sinne der Heraushebung des griechi-

schen heros -, an dem alle Bürger teilhaben sollen“.136

Das bedeutet, dass das Virtuose des

Handelnden abhängig von Anerkennung und Bestätigung von seinesgleichen ist. Es wird

klar, dass das virtuose Handeln unterschiedlicher Akteure der souveränen Realisierung ei-

nes Willens entgegengesetzt ist.137

Die Einzigartigkeit jedes Handelnden, der sich selbst

durch seine Taten von anderen differenziert, unterscheidet sich von der „Singularität“.138

Das differenzierte Sein, das durch das agonale Handeln gebildet ist, ist kein egoistisches

Subjekt, sondern die Person, „die nur durch eine gemeinsame Mitte existiert und nicht auf

ein Substrat zurückgeht.“139

Durch die Selbstenthüllung des Individuums im öffentlichen

Leben wird „das Subjekt des Handelns“140

zum Bürger.

Die Stärke des Arendtschen Aspekts des agonalen Handelns besteht darin, dass er das kons-

titutive Prinzip der Pluralität einerseits und den kritischen Ansatz gegenüber der modernen

– liberalen Gesellschaft andererseits liefert, wo die Politik nur die Funktion und das Verfah-

ren charakterisiert. Nach dem agonalen Konzept bedeutet das Handeln in der Gemeinschaft

mit anderen mehr als das Zusammen-entwas-Tun, weil das echte Handeln im aktiven Sich-

voneinander- Unterscheiden die Pluralität schaffen und bewahren kann.141

Arendts Beto-

nung der agonalen Seite des Handelns wendet sich gegen die moderne Tendenz zum Han-

133

Vgl. Höffe, 1993, S. 32. 134

d´Entreves, 1994, S. 84f. 135

Vgl. Brunkhorst, 1994a, S. 354 und 356; Habermas, 1981, S. 236, Anm. 7; Parekh, 1981, S. 177f.; Cano-

van, 1978, S. 5-26. 136

Kristeva, 2001, S. 278. 137

Vgl. Straßenberger, 2005, S. 46. 138

“Diese Singularität darf man nicht mit der unverwechselbaren Einzigkeit und Einmaligkeit jedes Einzel-

menschen verwechseln. Diese gerade ist politisch und verschwindet in der Singularität, in der wir nie-

manden mehr haben, von dem wir uns unterscheiden, und daher unverwechselbar werden können.“ (DTB,

S. 461); vgl. Parekh, 1981, S. 31f. 139

Penta, 1985, S. 161. 140

VA, S. 218. 141

Vgl. VA, S. 241.

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62

deln ohne Handelnde. Das agonale Handeln hat eine Ausgerichtetheit auf die Differenzie-

rung.142

Es ist kein Zufall, dass das Prinzip der agonalen Demokratie oder das „agonistische

Öffentlichkeitsmodell“ in jüngster Zeit von der Handlungstheorie Arendts inspiriert ist.143

In feministischer Umdeutung nimmt Honig Bonnie beispielsweise den agonalen Politikbe-

griff Arendts positiv an: „Das Politische ist bei Arendt immer agonal, weil sie sich um ihrer

Auffassung vom Selbst als Pluralität, von der Identität als performativer Produktion und

von der Handlung als Schaffung neuer Realität willen immer gegen die Anziehungskraft

des Expressiven wehrt.“144

Das agonale Handeln ist nicht bloß als Entzweiung und Konflikt zu verstehen. Agonalität

des Handelns trägt in sich selbst die konstitutiven Elemente für das Bezugssystem. In der

spezifisch politischen Form des Zusammenseins spielt sich das agonale Handeln diskursiv

ab. Arendt hält fest, dass es beim agonalen Prinzip „nicht um besser und schlechter geht,

sondern darum, zusammen mit dem Andern“.145

Dabei steht die Rolle des Sprechens im

Mittelpunkt. Das Sprechen selbst enthüllt und identifiziert den Handelnden des Handelns:

„Es gibt keine menschliche Verrichtung, welche des Wortes in dem gleichen Maße bedarf

wie das Handeln. Für alle anderen Tätigkeiten spielen Worte eine untergeordnete Rolle; sie

dienen lediglich der Information oder begleiten einen Leistungsvorgang, der auch schwei-

gend vonstatten gehen könnte.“146

Die Weise der Selbstdarstellung durch das Sprechen ist

keine Form eines „Zu-anderen-Redens“, sondern die eines wirklichen „Miteinanderspre-

chens“.147

Dabei geht es nicht um die einheitliche Durchsetzung der antagonistischen Inter-

essen, sondern um das Prinzip der Anerkennung der Vielzahl der Meinungen.148

In diesem

Sinne ist das politische Sprechen „Vollzug politischer Partizipation“149

. Politisches Spre-

chen stellt den menschliche Zugang zur gemeinsamen Welt und politische Teilhabe an den

gemeinsamen Dingen dar.

Der Agonalität als politischem Prinzip geht es um das gewaltlos diskursiv Agonale, d.h. das

Überzeugen.150

Die politischen Menschen sind Teilnehmer an einem Redewettbewerb. Erst

in diesem Teilnehmen gewinnt eine Perspektive die Allseitigkeit. In der öffentlichen Ausei-

142

Vgl. PP, S. 387. 143

Nullmeier, 1998, S. 86. 144

Honig, 1994, S. 61. 145

DTB, S. 415; „Das Erscheinen vor Anderen bleibt immer an einen gemeinsamen Sinnhorizont rückge-

bunden und kann deshalb trotz des vorhandenen Elements von Wettstreit kaum im Sinne Nietzsches als

agonal verstanden werden“ (Thaa, 2005, S. 45). 146

VA, S. 218. 147

Geißner, 1995, S. 181. 148

Vgl. Vollrath, 1979c, S. 96f.; Young-Bruehl, 1986, S. 554; Barber, 1994, S. 170. 149

Geißner, 1995, S. 161ff. 150

Vgl. Nullmeier, 1998, S. 102.

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63

nandersetzung überschreitet er die Zweiseitigkeit in Richtung Viel – und Allseitigkeit.151

Kurz gesagt findet der Redewettstreit nicht im „Füreinander“ oder „Gegeneinander“ statt,

sondern nur im eigentlichen „Miteinander“ statt.152

Aus diesem Grund steht der agonale

Charakter des Handelns nicht im Gegensatz zum kommunikativen Handeln, sondern bringt

vielmehr einen pluralistisch geprägten „kommunikativen Resonanzboden“153

hervor.

Die Gefahr, die aus der unbegrenzten Agonalität des Handelns entsteht, lässt Arendt nicht

außer Acht. In der Poliserfahrung erblickt sie die Gefahr einer Destruktion des politischen

Raums wegen der agonalen Seite des Handelns: „In diesem agonalen Geist, der schließlich

die griechischen Stadtstaaten ruinieren sollte, weil er Bündnisse zwischen ihnen nahezu

unmöglich machte und das einheimische Leben der Bürger mit Neid und gegenseitigem

Haß vergiftete (…) war das Gemeinwohl ständig bedroht.“154

Arendts agonales Handeln-

smodell setzt die „Virtuosität des Mit-anderen-zusammen-Handelns“155

oder die „geselli-

ge(r) Virtuosität“156

voraus. Mit dem agonalen Handlungsmodell macht Arendt das konsti-

tutive Konzept der Pluralität als der paradoxen Vielheit einzigartiger Wesen geltend. An

einer Stelle ihres Spätwerkes spricht Arendt, „daß niemand allein handeln kann, daß die

Menschen, wenn sie etwas in der Welt erreichen möchten, koordiniert handeln müssen“.157

Schließlich lässt sich feststellen: „Obwohl man von einem bestimmten agonalen Zug bei

Hannah Arendt sprechen kann (…), bleibt die Grundsituation des Politischen nicht nur

überdyadisch, sondern auch solidarisch von ihren Ursprüngen her. Wir können vielleicht

von einem gewissen agonalen Rest bei Hannah Arendt sprechen, der aber durch den dezi-

dierten Anspruch des Kommunikativen am Handeln aufgefangen wird.“158

2.3.3.3 Die Aporien des Handelns

Aus „der einfachen Tatsache der in jedes Handeln verstrickten Pluralität von Handeln-

den“159

ergeben sich die Aporien des Handelns in drei Dimensionen: Ungewissheit, Will-

kürlichkeit und Irrtum.

Weil sich das Handeln immer auf die Gegenwart von seinen Mitmenschen verlässt, findet

es immer in Unberechenbarkeit und in Ungewissheit statt. „Handeln fällt in ein Netz von

151

WP, S. 96 und 101; vgl. Nullmeier, 1998, S. 103. 152

VA, S. 220 und 221. 153

Nullmeier, 1998, S. 101. 154

PP, S. 386f. 155

ZVZ, S. 213. 156

Reitzenstein, 1907, S. 6; zit. nach Schröder, 2006, S. 252. 157

DW, S. 191. 158

Penta, 1985, S. 161. 159

VA, S. 279.

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64

Bezügen, in welchem das von den einzelnen Intendierte sich sofort verwandelt und als ein-

deutig feststehendes Ziel, als Programm etwa, gerade sich nicht durchsetzen kann.“160

So-

weit man sich in der Pluralität bewegt, ergeben sich die Folgen einer Tat nicht aus der Tat

selbst, sondern aus dem Bezugsgewebe. Das Handeln unter der Bedingung der Pluralität

entzieht sich dem Kalkül und der Kontrolle. Vielmehr sind „die handelnden Personen

selbst“, wie Zygmunt Bauman sagt, „gezwungen, die Kosten der eingegangenen Risiken zu

tragen.“161

Darin, dass Handelnde weder die Folgen noch Nebenfolgen ihrer Handlungen

kontrollieren können, entsteht vielmehr „die Kreativität des Handelns“162

. Aber wegen sei-

ner Ungewissheit oder Zufälligkeit ist das Handeln nach der traditionellen Vorstellung poli-

tischer Philosophie die gefährlichste aller menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten.

Die abendländische Tradition der politischen Philosophie, von Plato bis Marx, hängt daher

mit der unermüdlichen Anstrengung zusammen, die Ungewissheit und Zufälligkeit des

menschlichen Handelns zu verneinen. Auch das eigentliche Wesen der totalitären Ideologie

liegt in der „Vorhersagen des Zukünftigen“163

. Der Anspruch auf absolute Herrschaft ist

nicht allein durch die Schlechtigkeit der menschlichen Natur oder die Konkurrenz von

Egoismen begründet, sondern durch die inhärente Schrankenlosigkeit des Handelns und die

Pluralität der Handlungsmöglichkeiten.

Die zweite Aporie des Handelns hat mit der Eigenschaft des Handelns als Anfang zu tun.

Für Arendt ist das Handeln die Fähigkeit, immer wieder neu anzufangen. Zudem sind

„Handeln und etwas Neues Anfangen dasselbe“.164

Handeln ist in einem ursprünglichen

Sinn beginnende Tätigkeit. Etwas anzufangen heißt etwas Neues, noch nie Dagewesenes

und Unvorhersehbares in die Welt zu bringen. 165

Da das Anfangskönnen die Spontaneität

des Menschen bedeutet, bringt das Handeln als Anfang in sich ein Element völliger Willkür

und eine subjektive Seite. Daher ist Handeln als Neubeginnen in seinem Ablauf unbere-

chenbar. Obwohl das Anfangskönnen zwar „eine Gabe des Menschen in seiner Singularität

sein mag“, trotzdem kann es sich „in Bezug auf die Welt und unter der Mitwirkung der an-

deren“166

realisieren. Die Anwesenheit der gemeinsamen Welt stellt die Grenze der Will-

kürlichkeit des beginnenden Handelns dar. Die subjektive Seite des neuen Beginnens und

seine Verarbeitung sind in Arendts politischer Theorie immer gleichzeitig thematisiert.167

160

ZVZ, S. 294. 161

Bauman, 1999, S. 27. 162

Bluhm, 2001, S. 73. 163

EU, S. 964. 164

VA, S. 215; ZVZ, S. 219 und 221. 165

Vgl. VA, S. 216. 166

ZVZ, S. 224. 167

Vgl. Bluhm, 2001, S. 82.

Page 67: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

65

Drittens und schließlich ist das Handeln durch seine Irrtumsmöglichkeit gekennzeichnet.

Wenn man handelt, ist man immer der Gefahr von Irrtum unterworfen. Weil der Handelnde

die Konsequenz seiner Handlung nicht wissen könne und weil es keine festen Maßstäbe für

das Handeln gibt, kann man in vielen Fällen nicht wissen, ob man richtig tut.168

Die Sphäre

des Handelns ist „das Reiche der Irre“; „Handeln heißt irren, in die Irre gehen.“169

Diese

Irrtumsmöglichkeit wollte man als einen mangelhaften Charakter des Handelns bezeichnen.

Sie hat aber mit Mängel oder Sündhaftigkeit der menschlichen Natur nichts zu tun; sie ist

einzig dem geschuldet, dass Menschen in der menschlichen Pluralität handeln. Daher ist sie

vielmehr menschlich. 170

Aus der Irrtumsmöglichkeit ergibt sich die Freiheit des Handelns,

weil Menschen aus ihrem Irrtum heraus wiederum ein Neues beginnen können. Daher gibt

es so etwas wie ein „Menschenrecht auf Irrtum“171

. Hannah Arendt versteht diese Aporie

des Handelns als den Preis, mit dem Menschen dafür zahlen, „daß sie frei sind“ und „daß

sie mit anderen ihresgleichen zusammen die Welt bewohnen“.172

Das Verhältnis von Han-

deln und Irren impliziert für Arendt eine große politische Bedeutung: Die irreführende Ge-

fahr unserer Welt und unserer Zeit ist kein Ausdruck des verborgenen Wollens der Natur

oder der unsichtbaren Hände, sondern entsteht aus unserem Handeln und Entscheiden. Dar-

aus kann man von der politischen Verantwortung für unsere gemeinsame Welt und für un-

ser Handeln sprechen. Ob die Ungewissheit unserer politischen Welt zur ungeheueren Ge-

fahr oder zur Chance wird, hängt von der Verantwortung der Menschen für ihr Handeln und

die Welt ab.173

Für die Lösung von Aporien des Handelns liegt die Schwierigkeit darin, dass die Pluralität

gleichzeitig die wesentliche Ursache der Aporien des Handelns und die unverzichtbare Be-

dingung des Handelns ist. Nach Arendts Ansicht liefen alle bisherigen Versuche, die Apo-

rien des Handelns überwinden zu wollen, darauf hinaus, die Pluralität zu beseitigen und das

Handeln überflüssig zu machen. Arendt entlarvt diese Tradition der politischen Philosophie

als den Versuch, das Handeln als die politische Tätigkeit zu eliminieren. Der Versuch, „der

Pluralität Herr zu werden“, ist für Arendt immer gleichbedeutend mit der Bemühung, „die

168

Vgl. VA, S. 236f. 169

DW, S. 184. 170

„Allein der Mensch kann sich irren und folglich dazulernen, es sei denn, er richtet sich die Welt so ein,

daß Irrtümer unausweichlich lebensgefährlich und gattungsbedrohend werden“ (Guggenberger, 1987, S.

91. Hervorhebung im Original). 171

Guggenberger, 1987. 172

VA, S. 312. 173

Canovan weist darauf hin, dass Arendt auf der Verantwortung sowohl für Auswirkungen vergangener

Handlungen als auch für die zukünftigen Auswirkungen gegenwärtigen Handelns beharrt (vgl. Canovan,

2004, S. 69).

Page 68: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

66

Öffentlichkeit überhaupt abzuschaffen.“174

Arendts politische Theorie geht von der Frage

aus, wie man die Aporien des Handelns lösen könnte, ohne die Pluralität abzuschaffen.

Arendt glaubt, dass sich die Aporien des Handelns nur durch Handeln lösen lassen. Das

Heilmittel gegen die Aporien des Handelns lässt sich innerhalb des menschlichen Vermö-

gens des Handelns selbst finden. Beispiele dafür sind Verzeihen und Versprechen. Beide

Handlungen setzt die Pluralität der Menschen voraus und zielen auf sie ab: „Beide Fähig-

keiten können sich somit überhaupt nur unter der Bedingung der Pluralität bestätigen, der

Anwesenheit von Anderen, die mit-sind und mit-handeln. Denn niemand kann sich selbst

verzeihen und niemand kann sich durch ein Versprechen gebunden fühlen, das er nur sich

selbst gegeben hat.“175

174

VA, S. 279. 175

VA, S. 302.

Page 69: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

67

3. Methodologische Grundlage

Arendts politische Theorie ist durch die sie auszeichnende „Denkungsart“1 gekennzeichnet,

die für sie nicht irgendeine „Methode“ bedeutet.2 Es besteht kein Zweifel, dass Arendt zu

den originellen Denkern gehört, doch ist sie keine systematische Denkerin. Sontheimer

stellt in seiner biographischen Arbeit über die Werke der Hannah Arendt fest, „daß diese

politische Denkerin sich auf keine bestimmte Methode festlegen läßt, daß sie keine syste-

matische Theorie des Politischen vorlegt, wie man sie aus den üblichen politik-

philosophischen Traktaten kennt“.3 In Bezug auf ihr empathisches Verständnis des Politi-

schen ist der Mangel an systematischer Konzeption und Methode oft kritisiert.4 Aber das ihr

von vielen Kritikern vorgeworfene methodische Defizit ist vielmehr der intensive Ausdruck

ihres unkonventionellen Verständnisses vom Politischen. Arendts methodische Ansatz geht

vom Wirklichkeitsgefühl des Traditionsbruchs aus: „Zwischen den platt gewordenen Re-

geln des gesunden Menschenverstandes, die keinem modernen Ereignis mehr adäquat sind,

und der Verstiegenheit der Ideologien muß der Geschichtsschreiber seinen Weg zu finden

versuchen, und das heißt auf viele liebgewordene Gewohnheiten und Methoden verzichten.

Er muß lernen, gleichsam ohne Geländer zu denken.“5

Ihre Ablehnung methodologischer Reflexion entspricht ihrer großen Fähigkeit, immer neue

und plurale Phänomene des Politischen zu verstehen. Sie ist der Meinung, dass die übertrie-

bene Beschäftigung mit methodischen Fragen einem Ausweichen vor den betrachteten Ge-

genständen und den drängenden Fragen nahe kommt. Darauf weist Vollrath in seinem Auf-

satz zur Methode des politischen Denkens bei Arendt hin: „Der Methodebegriff setzt näm-

lich voraus, ganz abgesehen von den mannigfachen Varianten, in denen Methode sich zu

verwirklichen sucht, daß die theoretische Betrachtung sich in eine Stellung zu versetzen hat,

die sich in objektiver Unabhängigkeit von dem zu betrachtenden Gegenstand aufhält. Diese

Stellung ist der archimedische Punkt dem Gegenstand gegenüber, d.h. außerhalb des Ge-

genstandes, und gewährt der theoretischen Betrachtung die Gewißheit, daß sie mit dem Ge-

1 Szankay, 1995, S. 45ff.

2 DD, S. 207.

3 Sontheimer, 2005, S. 106; vgl. Grunenberg, 2005, S. 219.

4 Zur methodologischen Spannung bei Arendts Werken siehe Benhabib, 1988, S. 157; Reist, 1990, S. 25;

Bielefeldt, 1993, S. 17. 5 EU, S. 41f.; Diese Haltung kommt in Arendts Brief an Scholem ausführlich zum Ausdruck: „Was Sie

dabei verwirrt, ist, daß meine Argumente und meine Denkweise nicht vorgesehen sind. Oder mit anderen

Worten, daß ich unabhängig bin. Und damit meine ich einerseits, daß ich keiner Organisation angehöre

und immer nur im eigenen Namen spreche; und andererseits, daß es darauf ankommt, selbst zu denken,

und daß, was immer Sie gegen die Resultate einzuwenden haben, Sie selbig nicht verstehen werden, wenn

Ihnen nicht klar ist, daß sie die meinigen sind und niemandes sonst.“ (Brief an Gerhard Scholem, 20. 07.

1963, in: IWV, S. 35).

Page 70: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

68

genstand in theoretisch zuverlässiger Weise umzugehen versteht. Die Stellung der Theorie

gegenüber dem Gegenstand ist selbst in einem theoretischen Verfahren gewonnen. Sie be-

reitet sich methodisch darauf vor, um so aus methodisch-theoretischer Selbstbestimmung

Herr und Meister des Gegenstandes zu werden.“6

3.1 Der phänomenologische Zugang zum Politischen

Beim politischen Denken geht es Arendt nicht um die Suche nach dem Zusammenhang von

Ursachen und Folgen oder nach Gesetzlichkeiten menschlicher Handlung, sondern um die

politischen Phänomene. In der politisch-geschichtlichen Untersuchung befasst sich Arendt

mit dem singulären und spezifischen Ereignis im Gegensatz zur Verallgemeinerung, die die

Wirklichkeit menschlicher Angelegenheiten zerstört: „Denn das politische Denken ist dar-

auf angewiesen, daß die Phänomene seines Bereiches sich selbst kund tun; es bleibt dem,

was von sich her in dem Bereich menschlicher Angelegenheiten erscheint und sich aus-

spricht, verbunden.“7

Arendts Theorie des Politischen entzieht sich durch ihre phänomenologische Untersuchung8

der Versuchung des Historismus. Der Historismus macht nicht auf die phänomenale Diffe-

renz des einzelnen Gegenstands aufmerksam und hält kein Handeln des Einzelnen für ent-

scheidend. Weil er die Geschichte in der Kausalität und Kontinuität betrachtet, bietet er

doch keineswegs eine Theorie des politischen Handelns, das die automatischen und not-

wendigen Prozesse unterbricht.9 Die Differenz zwischen Phänomenen ist daher sekundär.

10

Arendt schreibt: „Kausalität, d.h. der determinierende Faktor eines Prozesses von Gescheh-

nissen, in dem immer ein Geschehnis verursacht und durch ein anderes erklärt werden kann,

ist in der Sphäre der historischen und politischen Wissenschaften wahrscheinlich eine völlig

unpassende und verfälschende Kategorie. Von sich aus verursachen Elemente wahrschein-

6 Vollrath, 1979b, S. 61.

7 ÜR, S. 20.

8 Das Merkmal der phänomenologischen Methode besteht wesentlich darin, dass sie eine dem Gegenstand

zugewandte Haltung einnimmt. Sie ist gekennzeichnet durch die Ausschaltung „von allem Theoretischen,

wie Hypothesen, Beweisführungen, anderswo erworbenem Wissen“ und „von aller Tradition, d.h. allem,

was von andern über den Gegenstand gelehrt wurde“ (Bochenski, 1971, S. 23; zit. nach Berg-

Schlosser/Stammen, 2003, S. 116); zu Arendts phänomenologischer Denkweise siehe Vollrath, 1979b, S.

59- 84; Reist, 1990, S. 26. 9 Vgl. MG, S. 149.

10 Darauf bezogen bezeichnet Voegelin in seiner kritischen Rezension von Arendts Totalitarismusbuch den

Totalitarismus und den Liberalismus als die zwei Seiten ein und derselben Medaille der Moderne. Arendt

schreibt: „Prof. Voegelin behandelt phenomenal differences – für mich faktische Unterschiede, welchen

größte Bedeutung zukommt – als unwesentliche Auswüchse einer prinzipiellen Identität doktrinärer Art

(…) Phenomenal differences, weit davon entfernt, eine essentielle Identität zu verhüllen, sind genau jene

Phänomene, die den Totalitarismus totalitär machen.“ (Hannah Arendt, A Reply, in: Review of Politics

15, 1953, S. 80; zit. nach Barley, 1990, S. 50); vgl. Henkel, 1998, S. 116f.

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69

lich nie irgend etwas. Sie werden zu Ursprüngen von Geschehnissen, falls und wenn sie

sich zu festen und abgegrenzten Formen kristallisieren. Dann und nur dann können wir ihre

Geschichte zurückverfolgen. Das Geschehnis erhellt seine eigene Vergangenheit, aber es

kann niemals von ihr abgeleitet werden.“11

Das Hauptmerkmal der phänomenologischen

Vorgehensweise von Arendt besteht darin, dass der in Frage stehende Gegenstand unter-

sucht wird in demjenigen „geschichtlichen Augenblick, in dem das Phänomen voll in Er-

scheinung tritt und seine mehr oder minder endgültige Gestalt annimmt“12

. Schulin weist

auf Arendts Vorgangsweise der Geschichtsschreibung hin: „Sie lehnt also jeden Determi-

nismus bei ihrer Zusammenstellung der Phänomene ab. Es geht um Ursprünge und Elemen-

te, nicht um Ursachen. Es lag ihr auch viel mehr daran, das Neuartige, Unerwartete des To-

talitarismus zu betonen, als kausale Verbindungen zu suchen.“13

Mit dem phänomenologischen Zugang zum Politischen bemüht sich Arendt zu verstehen,

wie das Politische in der Erfahrung entsteht, wirkt und sich verändert. Es ist die Aufgabe

der politischen Theorie für Arendt, den politischen Phänomenen, die „den ganzen eigentlich

menschlichen Bereich (…) bilden“14

, nachzugehen. Die „Phänomenologie des Politi-

schen“15

hat neue einzelne Phänomene im politischen Bereich aufzudecken. Arendts gesam-

tes Denken stellt sich daher nach Martin W. Schnell dar als „ein Knotenpunkt der politi-

schen Theorie“ im 20. Jahrhundert, die nach dem Wegfall der Abstützungen der Traditionen

„die politischen Phänomene ernst nimmt“.16

Sie glaubt daran, dass durch die Verfolgung des Ursprungs und der Quelle des Politischen

in der Vergangenheit das verborgene, verlorengegangene „Urphänomen“17

, also die phä-

nomenologische Wirklichkeit, wieder entdeckt werden kann.18

Mit dem Urphänomen sind

aber keine platonische absolute Idee und keine verborgenen Wesenheiten der Erscheinung

gemeint.19

Das Urphänomen ist vielmehr „ein konkret und materiell Auffindbares, in dem

11

Arendt, The Nature of Totalitarism, unveröff. MS; zit. nach Young-Bruehl, 1986, S. 289. 12

ÜR, S. 53. 13

Schulin, 1997, S. 202. 14

WP, S. 90. 15

Schnell, 1995. 16

Schnell, 1995, S. 242. 17

MfZ, S. 193. 18

In Denktagebuch schreibt Arendt: „Traditionsbruch: Erst im Bruch konnte Vergangenheit, in der es kei-

nen Leitfaden mehr gab, als Tiefe erscheinen; wobei das Tiefste dann identifiziert wird mit Beginn, Urs-

prung etc. – alles rein chronologisch gesehen (…). Dabei hofft man, in der Tiefe Boden zu fassen; der

Boden wird zum Ersatz für den Leit- oder Ariadnefaden der Tradition. Aber die Tiefe der Zeit ist boden-

los. Daher ist Tiefgang immer noch ein Ausdruck – wenn auch der großartigste – für die Bodenlosigkeit

des Jahrhunderts. Boden gerade kann ich nur in der Gegenwart haben. Die Dimension der Heimat ist die

Gegenwart.“ (DTB, S. 301). 19

Damit verbunden mag man Arendts Betrachtungsweise der Polis verstehen. Polis ist die ursprüngliche

Erfahrung des Politischen in der westlichen Welt. Für Arendt verleiht die politische Erfahrung der Polis

unserem Verständnis des Politischen die begriffliche Reinheit. In der griechischen Polis wurde „das Poli-

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70

Bedeutung (…) und Aussehen oder Erscheinung, Wort und Ding, Idee und Erfahrung zu-

sammenfallen.“20

Den Zugang zum Urphänomen gewinnt Arendt durch „die kritische Inter-

pretation der Vergangenheit“21

.

Der Grund dafür, warum Arendt ein Auge auf das Urphänomen wirft, besteht darin, dass

„bestimmte Phänomene und Probleme elementarer Art sich in diesem geschichtlichen Hori-

zont klarer zeigen und einfacher stellen lassen als zu irgendeiner späteren Zeit.“22

Im Hinb-

lick auf den Rückgriff auf das Urphänomen will Arendt keineswegs „den gerissenen Faden

der Tradition wieder zusammenknüpfen“.23

Wenn wir uns an das Konzept der Natalität

erinnern, führt sich der Ursprung nicht allein auf die vergangenen Angelegenheiten zurück.

Der Ursprung und der Anfang stehen in Wechselwirkung. In diesem Sinne ist Arendts Ge-

schichtsinterpretation eine Art von „Wiederholung“, wie Jetschmann darlegt, die „nicht als

bloßes Wiederbringen, als nochmalige Verwirklichung eines bereits Geschehenen verstan-

den (ist), sondern erwidert vielmehr die Möglichkeit der damaligen Existenz im Eröffnen

eines neuen, eigenen Standpunktes in der Welt.“24

Der phänomenologische Zugang zu den Gegenständen befreit unseren Blick aus den Fes-

seln von Vorurteilen, traditionellen Vorbehalten und methodischen Zwängen. Diese Befrei-

ung ermöglicht eine Wahrnehmung der vielfältigen Phänomene. Vor allem auf die Pluralität

des politischen Handelns bezogen ist die phänomenologische Analyse der politischen Welt

unverzichtbar. In der Tat nennt Arendt sich selbst eine Art „Phänomenologin“.25

Dass

Arendt durch den vorurteilsfreien und phänomenologischen Zugang zum Politischen die

eigentümliche Pluralität der politischen Welt entdeckt, darf man, wie Klaus Held betont, als

„einen der wichtigsten Beiträge zur Jahrhundertbewegung der Phänomenologie ansehen“.26

tische in einem spezifischen Sinne zum ersten Mal entdeckt“ (ZVZ, S. 203). Was Arendt damit eigentlich

zum Ausdruck bringen wollte, ist das, im Gegensatz zur Idealisierung der Polis, dass die antike Polis die

erste spezifisch politisch geprägte Welt sei; zur Kritik an der Arendtschen Idealisierung siehe Sternberger,

1979, S. 109; Dubiel, 1994, S. 63; Habermas, 1981b, S. 239; Brunkhorst, 1996, S. 32; Wicki-Vogt, 1992,

S. 191-211; Jonas, 1979, S. 275. 20

MfZ, S. 193. 21

ZVZ, S. 18. 22

ZVZ, S. 282. 23

ZVZ, S. 18. 24

Jetschmann, 1989, S. 11; vgl. MfZ, S. 236. 25

Young-Bruehl, 1986, S. 552; zur phänomenologischen Methodik Arendts siehe Vollrath, 1979b, S. 59ff.,

besondere S. 65f. 26

Held, 1993, S. 396.

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71

3.2 Das Verstehen

Mit der phänomenologischen Denkart Arendts rückt der Begriff des Verstehens in den Vor-

dergrund der politischen Theorie. Bei Arendt gehört die Untersuchung des politischen Phä-

nomens zum Verstehen. Darüber hinaus leitet das Verstehen als „methodischer Begriff“

Arendt bei allen ihren Arbeiten.27

Beim Gespräch mit Günter Gaus betont sie selbst, dass

ihre Arbeit ein Prozess des Verstehens ist, in dem bestimmte Dinge freigelegt werden.28

Das Verstehen ist eine Antwort auf die Frage: „wie ist es möglich, etwas Neues aus der

Geschichte zu erfahren?“29

Das Verstehen ist das Verfahren, sich mit der Einzigartigkeit

und Neuartigkeit in der Geschichte zu beschäftigen. Es geht beim Verstehen nicht um das

Ziel, das faktisch Einzelne in dessen alles übergreifenden Gesamtverlauf zu subsumieren,

sondern um die konkreten geschichtlichen Gegebenheiten in ihrer faktischen Zufälligkeit.

Das Verstehen vollzieht sich in der Vielfalt weltlicher Phänomene.30

Arendt hält fest, dass

es die Aufgabe des Verstehens ist, „dies unerwartet Neue mit all seinen Implikationen in

jeder Periode zu entdecken und die volle Kraft seiner Bedeutung herauszuarbeiten.“31

Das Verstehen darf auch nicht mit den logischen Operationen und theoretischen Verfahren

verwechselt werden.32

Ein solcher Verstehensbegriff grenzt sich vom Erklären ab. Gemeint

ist durchgängig mit dem Begriff „Erklärung“ die Darlegung der Ursache oder der Zwecke,

warum und wozu etwas so ist, oder der Gesetzmäßigkeit, in die ein einzelnes besonderes

Ereignis einzuordnen ist: Alle wissenschaftliche Erklärung versuche die Subsumtion ihres

Untersuchungsgegenstandes unter generelle Regeln.33

In EU schreibt Arendt: „Wir können

aus der Geschichte des 19. Jahrhunderts den Ersten Weltkrieg nicht erklären; aber wir kön-

nen gar nicht anders, als im Lichte dieser Katastrophe das Jahrhundert verstehen, das in ihr

sein Ende fand.“34

Arendt versucht, die politischen Wirklichkeiten weder zu erklären noch

zu beweisen, sondern zu „verstehen“, indem sie sich ohne das bestimmte vorgegebene Sys-

tem der Theorie und ohne überkommene Maßstäbe nur auf die Erscheinung überhaupt kon-

zentriert.

27

Ludz, 1997, S. 20. 28

IWV, S. 46. 29

BAJ, S. 39. 30

Vollrath sagt dazu: „Als vorangehendes und vorläufiges Verstehen liefert es dem Erkenntniswissen in

seinen Urteilen und Vorurteilen gewisse kategoriale Hinblicke, an denen sich das Erkenntniswissen orien-

tieren kann, um die Erkenntnisse seiner Objekte so in die Welt einzuordnen, dass sie für alle an dieser

Welt Teilnehmenden Sinn und Bedeutung haben und verstanden werden können.“ (Vollrath, 1979c, S.

91). 31

ZVZ, S. 123. 32

Vgl. ZVZ, S. 121. 33

Narr, 1971, S. 54. 34

EU, S. 559. Hervorhebung im Original.

Page 74: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

72

Das Verstehen ist der Geschehensort des Sinnes. Im Vorgang des Verstehens wird Sinn

gefunden. Das Resultat des Verstehens ist keine Wahrheit, sondern „Sinn, den wir im blo-

ßen Lebensprozeß insofern erzeugen, als wir uns mit dem, was wir tun und erleiden, zu ver-

söhnen suchen.“35

Darauf bezogen bezeichnet Arendt das Verstehen als freie Einbildung.

Ohne Einbildungskraft ist Verstehen nur vermittelt durch allgemeine Regeln möglich.36

Das Verstehen, das „ein ganz neu erschlossener Zugang zur Wirklichkeit ist“37

, entreißt die

Phänomene nicht nur der absoluten Determination, sondern auch der völligen Zufälligkeit.

Ohne tatsächliches Verstehen wären wir niemals dazu in der Lage, „uns in der Welt zu

orientieren.“38

Daher ist Verstehen für Arendt eine Tätigkeit, „durch die wir Wirklichkeit,

in ständigem Abwandeln und Verändern, begreifen, uns mit ihr versöhnen, das heißt durch

die wir versuchen, in der Welt zu Hause zu sein.“39

Es ist daher der menschliche Akt, der

den Menschen mit der Welt verbindet und versöhnt. Das Verstehen ist für Arendt der Vor-

gang der Verwurzelung in der Welt. An diesem Punkt vergleicht Arendt das Gefühl, etwas

zu verstehen, mit dem „Heimatgefühl“.40

Die menschliche Fähigkeit zum Verstehen bedeu-

tet, dass Mensch und Welt füreinander gemacht sein könnten. Im Vorwort zum Totalitaris-

musbuch schreibt Arendt im folgenden: „Begreifen bedeutet freilich nicht, das Ungeheuer-

liche zu leugnen, das Beispiellose mit Beispielen zu vergleichen oder Erscheinungen mit

Hilfe von Analogien und Verallgemeinerungen zu erklären, die das Erschütternde der Wirk-

lichkeit und das Schockhafte der Erfahrung nicht mehr spüren lassen. Es bedeutet vielmehr,

die Last, die uns durch die Ereignisse auferlegt wurde, zu untersuchen und bewusst zu tra-

gen und dabei weder ihre Existenz zu leugnen noch demütig sich ihrem Gewicht zu beugen,

als habe alles, was einmal geschehen ist, nur so und nicht anders geschehen können. Kurz:

Begreifen bedeutet, sich aufmerksam und unvoreingenommen der Wirklichkeit, was immer

sie ist oder war, zu stellen und entgegenzustellen.“41

Arendt glaubt, dass das zwanzigste Jahrhundert einen vollkommenen Bruch mit der Traditi-

on darstellt, mit dem unsere Kategorien des politischen Denkens und unsere Maßstäbe für

das Urteilen eindeutig zerstört wurden. Für sie bezeichnet sich der Bruch jenes überlieferten

Sinnes – und Geltungsanspruchs jedoch nicht nur als eine Behinderung, sondern vielmehr

als eine der Möglichkeitsbedingungen für das Verstehen, weil das Verstehen ohne Gelän-

35

ZVZ, S. 111; vgl. DD, S. 25: „Die Vernunft ist nicht auf der Suche nach Wahrheit, sondern nach Sinn.

Und Wahrheit und Sinn sind nicht dasselbe“. 36

Vgl. ZVZ, S. 126f.; DTB, S. 317. 37

DT, S. 121. 38

ZVZ, S. 127. 39

ZVZ, 110. 40

IWV, S. 47. 41

EU, S. 25.

Page 75: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

73

der, an dem entlang das Denken der Menschen geordnet wurde, stattfindet.42

Erst im „Ver-

stehen politischer und historischer Angelegenheiten“43

wird die durch die Ereignisse verän-

derte Wirklichkeit der Welt sichtbar. Unter diesen Umständen spielt das Verstehen nicht

nur die Rolle der Interpretation eines vorgegebenen Sinns und einer vorgegebenen Erfah-

rung, sondern auch der praktischen Orientierungsleistung.44

Deshalb dient das Verstehen

weiterem Erkennen45

, und das Ergebnis des Verstehens wird zum Boden für den neuen An-

fang, also für das Handeln. Die bildende Funktion der vergangenen Erfahrungen liege im

Verstehen als solchem.46

In diesem Sinne sieht Arendt Verstehen als „die andere Seite des

Handelns“47

an. So betont Arendt in ihrem kurzen Essay Verstehen und Politik, dass man

den Totalitarismus wirklich verstehen muss, um den Totalitarismus zu bekämpfen.48

3.3 Das Erzählen

Mit dem Verstehen ist der Prozess des Erzählens die Basis von Arendts politischen Analy-

sen. Die Arendtsche Denkungsart stellt sich „als Erzählung von einem uralten Schatz“49

dar.

Angesichts des Traditionsbruchs besteht neuer Weg für den Umgang mit den politischen

Phänomenen Arendt zufolge in ihrer Erzählbarkeit. Das Erzählen ist das Vermögen, um es

mit Walter Benjamin zu sagen, „die Erfahrung auszutauschen“.50

Wenn die politische Theo-

42

In diesem Sinne verwendet Arendt oft den Satz von René Char: „Unserer Erbschaft ist keinerlei Testa-

ment vorausgegangen.“ Arendt interpretiert diesen Satz in der kurzen aber ausgezeichneten Formulierung:

„Das heißt, es steht uns vollkommen frei, uns aus den Töpfen der Erfahrungen und Gedanken unserer

Vergangenheit zu bedienen.“ (Fernsehgespräch mit Errera, in: IWV, S. 123). Siehe auch das Vorwort zu

ZVZ, S. 7ff. 43

ZVZ, S. 112. 44

Vgl. Graßenberger, 2005, S. 19. 45

„Wissen und Verstehen sind nicht dasselbe, aber sie sind miteinander verbunden. Verstehen ist auf Wis-

sen gegründet, und Wissen kann nicht ohne ein vorausgehendes, unartikuliertes Verstehen vor sich gehen

(…). Das Verstehen geht dem Wissen voraus und folgt ihm nach.“ (ZVZ, S. 113). 46

DT, S. 121. 47

ZVZ, S. 125; in unserem Zusammenhang ist es merkwürdig, dass Arendts Totalitarismusbuch, das mit

dem Verstehen der verhängnisvollen Katastrophe des Westens begann, mit dem Versprechen des neuen

Anfangs endet, also mit den Worten von Augustinus: „damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaf-

fen.“ (EU, S. 979). 48

„Auch wenn es keine sonderlich hilfreichen oder inspirierenden Ergebnisse zeitigen kann, muß Verstehen

den Kampf gegen den Totalitarismus, so er mehr sein soll als ein reiner Überlebenskampf, begleiten. Inso-

fern als totalitäre Bewegungen in der nicht-totalitären Welt entstanden sind (durch die Kristallisation von

in ihr vorhandenen Elementen, denn die totalitären Systeme wurden nicht vom Mond importiert), ist der

Prozeß des Verstehens ganz klar, vielleicht sogar in erster Linie, ein Prozeß des Selbst-Verstehens.“

(ZVZ, S. 112f.). 49

ZVZ, S. 8; vgl. Young-Bruehl, 1979, S. 319; Kristeva, 2001, besonders S. 27-166. 50

Benjamin, 1991, S. 439.

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74

rie auf die Erzählbarkeit der Erfahrungen angewiesen ist, ist der politische Theoretiker der

Erzähler.51

Das Erzählen bedeutet für Arendt keine mündliche Mitteilung des Vergangenen im nostal-

gischen Rückblick. Die Erzählung der Geschichte ist nicht einfach Wiedergabe eines bereits

Geschehenen, sondern aktualisiert die Bedeutung der Vergangenheit. Sie vermag uns die

verschiedenen Perspektiven nachzubringen. Für Arendt ist das Verstehen mit dem Erzählen

von Geschichte identisch, denn wie das Verstehen enthüllt das Geschichtenerzählen „den

Sinn (…): es führt zu Übereinstimmung und Versöhnung mit den Dingen, wie sie wirklich

sind“.52

Der Sinn, der durch die Geschichtenerzählung gefunden wird, ist keine nachträgli-

che Rechtfertigung, sondern folgt aus einer Verarbeitung des Geschehenen. Durch das Er-

zählen werden „die großen Inhalte der Vergangenheit“ „frei und spielerisch miteinander in

Verbindung gesetzt“.53

Die Bedeutung der Erzählung der Geschichte zeigt sich schon im

1933 geschriebenen Buch über Rahel Varnhagen ausführlich.54

Im Vorwort zu diesem Buch

formuliert sie: „Was mich interessierte, war lediglich, Rahels Lebensgeschichte so nach-

zuerzählen, wie sie selbst sie hätte erzählen können.“55

Wo Hannah Arendt Gebrauch von Erfahrungen und geschichtlichen Beispielen macht,

zwingt sie niemanden „durch Beweis“.56

Wenn Arendt sich an den Inhalten der Vergangen-

heit orientiert und die klassischen Texte auslegt, so wollte sie eher neue Perspektiven eines

Geschehens beleuchten. „Wenn aber die Vergangenheit nicht als Tradition überliefert wird,

dann kann frei über sie verfügt werden; und wenn eine solche freie Verfügung sich selber

historisch präsentiert, dann wird sie Anlaß zum Dialog.“57

Für die Geschichtenerzählung als

politischen Vorgang geht es nicht um den Anspruch einer Gesamtlösung, sondern um die

Erhellung der Gegenwartsproblematik.

Im Vergleich mit der kritischen Geschichtsschreibung, deren Aufgabe darin besteht, die

geschichtliche Wirklichkeit durch materielle Beweise zu erklären, bezeichnet Judith N.

Shklar diese Arendtsche Art des Geschichtenerzählens als „die monumentale Geschichts-

51

„Erfahrung, die von Mund zu Mund geht, ist die Quelle, aus der alle Erzähler geschöpft haben.“ (Benja-

min, 1991, S. 440). 52

MfZ, S. 119; vgl. ZVZ, S. 110; „Wer es unternimmt zu sagen, was ist (…), kann nicht umhin, eine Ge-

schichte zu erzählen, und in dieser Geschichte verlieren die Fakten bereits ihre ursprüngliche Beliebigkeit

und erlangen eine Bedeutung, die menschlich sinnvoll ist (…). Insofern Berichterstattung zum Geschich-

tenerzählen wird, leistet sie jene Versöhnung mit der Wirklichkeit.“ (ZVZ, S. 367). 53

MfZ, S. 97. 54

Das Buch Rahel Varnhagen, das mit dem Untertitel Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Ro-

mantik erstmals 1958 in englischer Sprache veröffentlicht wurde, war schon fertig, als Arendt 1933

Deutschland verließ. Dazu siehe IWV, 212ff.; vgl. Young-Bruehl, 1986, S. 101ff. 55

RV, S. 10. 56

MfZ, S. 17. 57

Young-Bruehl, 1979, S. 319.

Page 77: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

75

schreibung“, die von Nietzsche geprägt ist.58

Die Eigenschaft dieser Geschichtsschreibung

besteht darin, sich auf die Höhepunkte der Geschichte zu konzentrieren. Wenn Arendt in

den vergangenen Erfahrungen den authentischen Politikbegriff wiedergewinnen wollte,

scheint sie von der Vorstellung von Nietzsche auszugehen, „dass das Grosse, das einmal da

war, jedenfalls einmal möglich war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein

wird.“59

Monumentalische Geschichtsschreibung, die offenbar „Nietzsches Ideal der Ge-

schichtsbetrachtung“60

war, bedeutet für Arendt deshalb, wie Wolfgang Heuer sagt, „sich

des Werts erinnerbarer Begebenheiten neu zu vergewissern und die Erinnerung nicht bloß

hinsichtlich ihres Nutzens für das Urteilen, sondern auch als Grundlage des Denkens und

der Menschlichkeit überhaupt zu verstehen.“61

Wegen dieser monumentalen Geschichtsschreibung wird häufig kritisiert, dass Arendt die

Dinge der Vergangenheit überbewertet oder vereinseitigt. Viele Kritiker werfen ihr vor,

einen Hang zu Übertreibungen, Verallgemeinerungen und Einseitigkeiten besessen zu ha-

ben.62

In der Tat vertritt Arendt die Ansicht, dass Sinnzusammenhänge der Geschichte nur

durch Übertreibung darzustellen sei.63

Die übertreibende Geschichtenerzählung zielt darauf

ab, wie Arendt mit Benjamin meint, „Fragmente aus ihrem Zusammenhang zu reißen und

sie neu anzuordnen, und zwar so, daß sie sich gegenseitig illuminieren und gleichsam frei-

schwebend ihre Existenzberechtigung bewahren konnten.“64

Nur die Erzählung der Ge-

schichte kann das Getane und Gesagte aus der ihnen inhärenten Vergänglichkeit retten. Da-

für taucht Arendt ein „in die Tiefen der Vergangenheit, aber nicht um sie so, wie sie war, zu

beleben und zur Erneuerung abgelebter Zeiten beizutragen.“65

In diesem Sinne wird die

Metapher der Perlenfischerei zur Kennzeichnung von Arendts Methode der Geschichtser-

zählung, deren Hauptaufgabe es ist, „unter dem Schutt der Geschichte zu graben und jene

Perlen der vergangenen Erfahrungen mit ihren sedimentierten und verborgenen Bedeu-

tungsgeschichten zu bergen, um aus ihnen eine Geschichte herauszulesen, die dem zukünf-

58

Shklar, 1979, S. 175; vgl. Vollrath, 1979b, S.70; Heuer, 1992, S. 184; Nietzsche unterscheidet drei Wei-

sen der Geschichtsschreibung, nämlich eine monumentalische, eine antiquarische und eine kritische Art.

Die monumentalische Geschichtsschreibung fördert das Streben nach Ruhm und Größe, die antiquarische

gibt den Menschen durch die Verehrung des Überlieferten „Wurzeln“ und „Heimat“, und die kritische be-

freit die an der Tradition Leidenden von der Last der Vergangenheit (Nietzsche, 1967, S. 258; vgl. Ott-

mann, 1987, S. 35ff.). 59

Nietzsche, 1967, S. 258; vgl. Sontheimer, Vorwort zu WP, S. III. 60

Ottmann, 1987, S. 36. 61

Heuer, 1992, S. 184. 62

Vgl. Laqueur, 1998, S. 122; Shklar, 1979, S. 178; Hobsbawm, 1979, S. 263-271; Kallscheuer, 1993,

142ff. 63

BAJ, S. 212. 64

MfZ, S. 233. 65

MfZ, S. 236.

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76

tigen Denken Orientierung geben kann.“66

Das auf diesem Vorgang gegründete politische

Denken der Hannah Arendt ist, wie Kurt Sontheimer betont, „eine Herausforderung der

etablierten historischen und sozialen Wissenschaften“.67

3.4 Archäologie der politischen Begriffe

Wo verstecken sich die Schätze der Vergangenheit und wie können wir uns an die Schätze

der Vergangenheit erinnern? Ungeachtet des Traditionsbruchs ist für Arendt die Sprache

Augenzeugin, die die Spur des vergangenen Erkennens des Politischen enthält. „Orientie-

rungsmarke für das Verstehen“68

der vergangenen Wirklichkeit ist die Sprache, weil sich in

unserer Sprache des Politischen „die ältesten historischen Erinnerungen“69

niedergeschla-

gen haben. Die Erfahrungsbezogenheit des politischen Denkens von Arendt erweist sich

deutlich, wenn sie versucht, unseren ererbten Wortschatz des Politischen zu überprüfen.

Dabei geht es darum, welches die politischen Erfahrungen sind, denen die politischen Be-

griffe entsprachen und aus denen sie entsprangen.

In dem Moment, in dem „die in der Überlieferung so lange gesicherte Kontinuität abend-

ländischer Geschichte wirklich durchgebrochen“70

wurde und daher die uns vertrauten Be-

griffe jede Selbstverständlichkeit verloren haben, ist die „Archäologie der Begriffe“71

für

Arendt die einzig angemessene Art und Weise, mit der Vergangenheit ohne die Hilfe der

Tradition umzugehen und „die wirklichen Ursprünge der traditionellen Begriffe zu entde-

cken, um aus ihnen ihren ursprünglichen Geist neu herauszudestillieren“.72

In Anlehnung an

Walter Benjamin erörtert Arendt: „Jede Epoche, der ihre eigene Vergangenheit in einem

solchen Maße fragwürdig geworden ist wie der unseren, muß schließlich auf das Phänomen

der Sprache stoßen; denn in der Sprache sitzt das Vergangene unausrottbar, an ihr scheitern

alle Versuche, es endgültig loszuwerden. Die griechische Polis wird so lange am Grunde

unserer politischen Existenz, auf dem Meeresgrunde also, weiter da sein, als wir das Wort

Politik im Munde führen. Dies ist es, was sie Semantiker, die mit gutem Grunde die Spra-

che als das einzige Bollwerk attackieren, hinter dem sich die Vergangenheit verbirgt – ihre

66

Benhabib, 1988, S. 156; vgl. MfZ, S. 236. 67

Sontheimer, 2005, S. 124. 68

Ludz, 1997, S. 19. 69

ZVZ, S. 205. 70

ZVZ, S. 35. 71

DTB, S. 848. 72

ZVZ, S. 18.

Page 79: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

77

Konfusion, wie sie meinen -, nicht verstehen. Sie haben vollkommen recht: Alle Problem

sind letztlich sprachliche Probleme; sie wissen nur nicht, was sie damit sagen.“73

Eine der Tatsachen, die in der politischen Diskussion in besonderem Maß zutage treten, ist

die Verwirrung unseres politischen Wortschatzes. Arendt ist davon überzeugt, dass die be-

grifflichen Probleme zur Verwirrung politischer Praxis führen. Sachprobleme sind nicht

von Wortproblemen zu unterscheiden.74

Daher erkennt Arendt, wie wichtig das Wiederent-

decken der Erfahrung und des Geistes, die in allen politischen Begriffen geprägt wurden,

für politische Praxis und Theorie ist. Arendts politische Theorie ist eine Art von beständi-

gem Gespräch zur Wiedergewinnung der politischen Sprache, „die dem weiteren Denken

und Andenken als Wegweiser dienen können.“75

Begriffe zu klären heißt unsere Sprachge-

wohnheiten und Handlungsphänomene zu untersuchen und gegebenenfalls zu korrigieren

oder zu präzisieren.

Den fruchtbarsten Zugang zu den politischen Begriffen bietet ein etymologischer und be-

griffsgeschichtlicher Rückblick. Im Zug der historischen Rekonstruktion des Begriffs wer-

den die konstanten und die variablen Elemente des Begriffs herausgefiltert. Arendt verfolgt

daher die hinter den Begriffen stehenden Erfahrungen, die zur Bildung, Verwendung oder

Umdeutung geführt haben. Die Kategorien und Erfahrungen des Politischen leitet Arendt

aus der sprachphänomenologischen Analyse jener Worte ab, weil sie die Sprachgeschichte

als den Spiegel der menschlichen Handlung betrachtet: „Daher werde ich die konkreten

historischen und allgemein politischen Erfahrungen befragen, aus denen die politischen

Begriffe ursprünglich hervorgingen. Denn die Erfahrungen, die selbst hinter den abgedro-

schensten Begriffen stehen, bleiben gültig und müssen wiederentdeckt und neu aktualisiert

werden, wenn man gewissen Verallgemeinerungen entgehen will, die sich als schädlich

erwiesen haben.“76

Arendt geht es nicht um das absolute Verhältnis zwischen den Worten und ihren Bedeutun-

gen. Jenseits einer dogmatischen Feststellung der Begriffe macht Arendt aufmerksam auf

die Entsprechung von Wort und Phänomen. Die Existenz des Phänomens geht der Verwen-

dung des Begriffes voraus. Arendt schreibt: „Wir alle wachsen mit einem gewissen ererbten

Wortschatz auf. Wir müssen dann diesen Wortschatz überprüfen. Und dies nicht nur, indem

wir herausfinden, wie dieses oder jenes Wort gewöhnlich gebraucht wird, woraus sich eine

73

MfZ, S. 235. 74

„Veränderungen solcher Begriffe entsprechen“ wie Horst Günther feststellt, „nicht dem Bedeutungswan-

del von Wörtern, sondern der Veränderung einer ganzen Vorstellungs- und Anschauungsweise, wodurch

sich nicht nur einzelne Bezeichnungen, sondern die Zuordnung der Begriffe untereinander im System des

Diskurses selbst verändert“ (Günther, 1979, S. 7). 75

ÜR, S. 283. 76

WP, S. 200f.

Page 80: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

78

gewisse Anzahl von Verwendungsweisen ergibt. Diese Verwendungsweisen sind dann legi-

tim. Meiner Meinung nach hat ein Wort vielmehr eine viel engere Beziehung zu dem, was

es ausdrückt oder was es ist, als nur die Art und Weise, in der es zwischen Ihnen und mir

gebraucht wird. Das heißt, Sie schauen nur auf den kommunikativen Wert des Wortes. Ich

schaue auf die aufschließende Qualität. Und diese aufschließende Qualität hat natürlich

immer einen geschichtlichen Hintergrund.“77

Weil „Begriffsanalyse“, wie Arendt ihr eigenes Vorgehen nennt78

, in der Analyse der

sprachlichen Ursprünge begründet werde, gibt es den Vorwurf, Arendt unternehme die

sprachliche Analyse ohne Ergänzung durch die empirische Analyse.79

Und Arendts

„Archäologie der Begriffe“ wurzele in dem „phänomenologischen Essentialismus“80

. Aber

es ist sicher, dass Arendts Begriffsanalyse darauf abzielt, die umstrittenen Punkte in unserer

politischen Realität zu klären. Dabei handelt es sich nicht um eine „Wesensdefinition“ der

Begriffe, sondern um ihre „Problemdefinition“81

. Darauf weist Elisabeth Young-Bruehl

zutreffend hin: Das Ziel der Begriffsanalyse „war herauszufinden, woher Begriffe kommen.

Mit Hilfe der Sprachanalyse verfolgte sie politische Begriffe zurück zu den konkreten histo-

rischen und allgemein politischen Erfahrungen, aus denen diese Begriffe hervorgingen. Auf

dieser Grundlage konnte sie dann abschätzen, wie weit sich ein Begriff von seinen Urs-

prüngen entfernt hatte, und die Vermischung der Begriffe im Lauf der Zeit darstellen, in-

dem sie Punkte der sprachlichen und begrifflichen Verwirrung markierte.“82

3.5 Die Unterscheidung

Zu Aufgabe der politischen Theorie gehört die Klärung politischer Begriffe, um mehr Klar-

heit und folglich mehr Ehrlichkeit in die politische Diskussion zu bringen. Wenn die Klä-

rung der politischen Begriffe die fundamentale Aufgabe der politischen Theorie ist, wie

Benhabib sagt, habe die Kunst der Unterscheidung „einen zentralen Stellenwert für den

Beruf des politischen Theoretikers in diesem Jahrhundert.“83

Mary McCarthy, die Freundin

von Arendt, weist zutreffend darauf hin, sehr nahe an den Wurzeln von Hannah Arendts

Denken befinde sich das Unterscheiden.84

Gäbe es die sprachliche Unterscheidung nicht,

77

IWV, S. 95. 78

Young-Bruehl, 1986, S. 439. 79

Parekh, 1981, S. 183. 80

Benhabib, 1995, S. 103. 81

Narr, 1971, S. 87. 82

Young-Bruehl, 1986, S. 439. 83

Benhabib, 1998, S. 199. 84

McCarthy, in: IWV, S. 111f.

Page 81: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

79

würden wir ihren Ursprung in der Welt wohl kaum in den Blick bekommen. Ein Begriff

wird gegenstandslos, wenn er von anderen nicht abgegrenzt wird. Jeder Begriff hat zu ihm

gehörenden Gegenstände, Erfahrungen und Phänomene. Die Differenzierung der Begriffe

ist daher identisch mit der der Erfahrungen, Erscheinungen und Gegenstände. Durch die

begriffliche Differenzierung ist die Pluralität der wirklichen Erscheinungen wieder zu ent-

decken. Arendt hält fest: „Der Unfähigkeit, Unterschiede zu hören, entspricht die Unfähig-

keit, die Wirklichkeiten zu sehen und zu erfassen, auf die die Worte ursprünglich hinwei-

sen. In solchen scheinbar nur semantischen Schwierigkeiten fühlt man sich immer versucht,

neue Definitionen einzuführen.“85

So gesehen ist die phänomenologische Denkungsart von

Arendt durch die begriffliche Unterscheidung gekennzeichnet.86

Eine der Schwierigkeiten bei der Lektüre von Arendts Werken ist die Tatsache, dass ihre

begrifflichen Unterscheidungen mit unserer alltäglichen Verwendungsweise unvereinbar zu

sein scheinen. Aber bei solch einer Unterscheidung der Begriffe zeigt sich die besondere

Arendtsche Fähigkeit, „unsere Worte zu öffnen und darin die noch vorhandenen Fäden un-

serer Tradition zu finden“87

. Durch die Unterscheidung der Begriffe versucht Arendt, den

abstrakten Verallgemeinerungen der Begriffe zu entgehen, weil die verallgemeinerten Be-

griffe keine ursprünglichen und konkreten Erfahrungsgehalte erhellen können. Insbesondere

kritisches Denken, um das es Arendt geht, bedarf der Differenzierung der Begriffe. Zu die-

ser Bedeutung der begrifflichen Unterscheidung meint Reinhart Koselleck in der folgenden

Erläuterung: Kritik heiße Unterscheidung und Kritiker sei der, wer zu unterscheiden weiß,

denn „(Alle) Begriffe umgehen in ihrer dualen Setzung die politische Problematik, die ih-

nen enthalten ist.“88

In diesem Zusammenhang bezeichnet sich Arendt als „eine Kritikerin“,

„die Unterscheidung treffen, Dinge klarstellen, Bedeutungen geben“ kann.89

Arendts Begriffsunterscheidung stößt jedoch häufig auf die Frage, inwieweit ihre scharfe

Unterscheidung nicht nur analytisch sinnvoll, sondern auch anwendbar ist. In einer Diskus-

sion mit Freunden und Kollegen der Politikwissenschaft in Toronto widmet sich ein großer

Teil der Debatte diesem Problem der Arendtschen strengen Unterscheidung der Begriffe.

Was die Arendtsche Begriffsbildung betrifft, sind zwei Hauptfragen zu stellen. Erstens geht

es um die Eigenwilligkeit und zweitens um Unzeitmäßigkeit. Macpherson greift die Frage

einer eigenwilligen Unterscheidung der Begriffe auf: Arendt definiere viele Schlüsselbe-

85

MG, S. 174. 86

„Sie (Arendt: H. P.) meinte, wenn unterschiedliche Wörter für unterschiedliche Phänomene existieren,

dann unterscheiden sich auch die Phänomene“ (Young-Bruehl, 1986, S. 552). 87

Young-Bruehl, 1979, S. 324f. 88

Koselleck, 1969, S. 98f. 89

Young-Bruehl, 1986, S. 642.

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80

griffe „auf eine Weise, die nur für sie selbst gilt“.90

In ähnlichem Sinne hält Parekh Arendts

Unterscheidung der Begriffe für zu „exzentrisch“.91

Und damit führt diese Unterscheidung

vielmehr zur begrifflichen Verwirrung, weil die ursprüngliche Unterscheidung der Begriffe

eher die alltäglichen Phänomene trüben und gegen unsere Alltagsgewissheiten verstoßen

mag. Arendts rigorose Unterscheidung der Begriffe bewertet man angesichts unseres alltäg-

lichen Gebrauchs der Worte als unplausibel. In der Arendtschen Methode harter Unter-

scheidung der Begriffe findet Parekh den absoluten „Determinismus“, weil Arendt in ihrer

Unterscheidung nur die qualitative und reine Differenziertheit der Phänomene akzentuiert,

während sie den Zusammenhang der Phänomene einfach außer Acht lässt.92

Mit der schar-

fen begrifflichen Unterscheidung gebe es vielmehr „eine Menge an begrifflichen Unschär-

fen in ihrem Werk“.93

Die Schwierigkeit für das Verständnis der Unterscheidung Arendts ist teilweise ihrem me-

thodologischen Blickwinkel selbst geschuldet. Arendt übernimmt die Unterscheidung im-

mer in der aristotelischen Art, „A und B sind nicht dasselbe.“94

Diese Unterscheidungsart

legt den Akzent weniger auf den Zusammenhang der Begriffe und Phänomene als auf den

Unterschied. Das bezieht sich gewissermaßen auf ihre Absicht, die verwischten Verhältnis-

se von Phänomenen und Begriffen zu verdeutlichen. Trotzdem ist es sicher, dass Arendt die

Zusammenhänge der Phänomene erkennt. Ungeachtet der strikten Differenzierung der Tä-

tigkeitsweisen betont Arendt z. B. ihre unberührten Zusammenhänge: „Im Sinne von Initia-

tive – ein initium setzen - steckt ein Element von Handeln in allen menschlichen Tätigkei-

ten“.95

Arendt unternimmt den Versuch, herauszufinden, woher unsere politischen Begriffe kamen,

„bevor sie abgegriffenen Münzen und abstrakten Verallgemeinerungen zu ähneln began-

nen.“96

Dieser Versuch ist in der begrifflichen Unterscheidung der Worte, z.B. zwischen

Arbeit, Herstellen und Handeln und zwischen Macht, Gewalt und Autorität, deutlich dar-

gestellt. Auch wenn diese Unterscheidung zu exzentrisch zu sein scheinen könnte, erweist

sich Arendts Ausführung keineswegs als willkürlich, beliebig, ontologisch und idealistisch.

Dazu liefert Arendt eine aufschlussreiche Erläuterung: „Wenn wir uns solcher begrifflichen

90

IWV, S. 94; in ganz ähnlicher Weise kritisiert Wellmer (vgl. IWV, S. 98). 91

Parekh, 1981, S. 183; vgl. auch McCarthy, in der Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto, in:

IWV, S. 112. 92

Parekh, 1981, S. 184. 93

Bluhm, 1996, S. 39. 94

IWV, S. 112; „Wenn wir angeben, was etwas ist, müssen wir angeben, was es nicht ist.“ (DD, S. 182). 95

VA, S. 18; vgl. ZVZ, S. 222f. und WP, S. 51; das übersieht Martin W. Schnell, wenn er davon spricht,

dass Arendt jede interne Verbindung von Handeln, Herstellen und Arbeiten ablehne (Schnell, 1995, S.

224). 96

WP, S. 200.

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81

Unterscheidungen bedienen, dürfen wir nicht vergessen, daß sie zwar keineswegs willkür-

lich sind und den Phänomenen in der Wirklichkeit durchaus entsprechen, daß sie aber ande-

rerseits aus dieser Wirklichkeit gleichsam herauspräpariert sind und in begrifflicher Rein-

heit nur selten in ihr anzutreffen sind.“97

Durch die Unterscheidung der Begriffe kann man Perspektiven gewinnen, die die zeitge-

nössische Wirklichkeit der Begriffe verständlicher machen. Also Unterscheiden heißt Ver-

stehen. Mit d'Entrèves sagt Hannah Arendt: „Der korrekte Gebrauch dieser Worte ist nicht

nur eine Frage der Grammatik, sondern der geschichtlichen Perspektive“.98

Durch solche

methodologische Vorgehensweise der Unterscheidung hofft Arendt, wie Cooper meint,

„eine Perspektive zu gewinnen, welche die Bedeutung von Erfahrungen zu erhellen vermag,

die wir aus den Augen verloren haben.“99

97

MG, S. 176. 98

MG, S. 174. 99

Cooper, 1979, S. 164.

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82

II. Gesellschaft und Pluralität

1. Die moderne Gesellschaft und die Krise der Pluralität

Mit dem 1958 erschienen Buch VA entwirft Arendt ihre politische Theorie aus einer Analy-

se „des neuzeitlichen Gesellschaftsphänomens“.1 Ihr kritischer Blick auf die Gefahr der

Moderne, die Gefahr für die plurale gemeinsame Welt ist der Hintergrund, vor dem sie die

Krise des Politischen betrachtet. Es wäre jedoch unzutreffend, ihre Kritik an der modernen

Gesellschaft mit der Idealisierung der guten Gesellschaft der Vergangenheit gleichzusetzen.

In der Kritik der modernen Gesellschaft hat Arendt nicht die Absicht, eine „Rückkehr zum

guten Alten“2 zu unternehmen oder „eine Art von utopischer Zukunft zu entwerfen“

3.

Arendt geht es also nicht um das gute Alte, sondern um das schlechte Neue.4 Dementspre-

chend lassen sich ihre Kritik der modernen Gesellschaft und Fortschrittsskepsis nicht als

eine Art antipolitischer Kulturkritik5 ansehen, deren spezifische Kennzeichen Verachtung

und Ressentiment gegenüber der Politik sind.6 In der Tat ist die konservative Kulturkritik

durch die Politikkritik gekennzeichnet, „für die Politik in allen ihren Gestalten als eine

Form der Entfremdung vom wahren menschlichen Wesen verstanden wird.“7 Dieser Unter-

schied lässt sich an der Arendtschen Diagnose der Neuzeit festmachen: „Weltentfremdung

und nicht Selbstentfremdung (…) ist das Kennzeichen der Neuzeit“.8

Durch die Analyse des Gesellschaftsphänomens verfolgt Arendt die Genealogie der Krisen

der Moderne, deren Hauptmerkmal durch die Zerstörung der politischen Pluralität und

durch Weltentfremdung gekennzeichnet ist. Diese modernen Phänomene stehen für Arendt

in engem Zusammenhang mit der Entstehung des Gesellschaftlichen. Bezüglich ihres

1 VA, S. 15.

2 WP, S. 22.

3 ZVZ, S. 18.

4 Vgl. MfZ, S. 230; vgl. Gutschker, 2000, S. 498-510.

5 Mandt bezeichnet die Kulturkritik als eine gemeineuropäische Wurzel der Antipolitik (Mandt, 1987, S.

390). Zur totalitären Gefährdung der konservativen Kulturkritik siehe EU, S. 705ff. 6 Thaa argumentiert zu Recht über den Unterschied zwischen der konservativen Kulturkritik und der

Arendtschen Kritik der Moderne: „Während die konservative Kulturkritik in den ersten Jahrzehnten des

20. Jahrhunderts mit ihrer Gegenüberstellung von wahrer, an höheren Werten orientierter (…) Kultur auf

der einen und verflachter, utilitaristischer und amoralischer westlicher Zivilisation auf der anderen Seite

antipolitisch orientiert war und in der Demokratie ein Symptom der Dekadenz und der naturwidrigen Ni-

vellierung sah, entfaltet Arendt ihren enthusiastischen Politikbegriff als Gegenkraft zu den freiheitsbedro-

henden Tendenzen der Moderne.“ (Thaa, 2005, S. 26). 7 Vollrath, 1989b, S. 8.

8 VA, S. 325; man könnte auch sagen, dass Arendt den kritischen Blick auf die Moderne mit Heidegger teilt

und dass ihre Kritik der Gesellschaft nichts anderes als „eine Variante von Heideggers Kritik des Man“

darstellt (Brumlik, 2006, S. 1484). Während Heidegger aber die Tragödie der Moderne in der Seinsver-

gessenheit erblickt, so entdeckt sie Arendt in dem modernen Weltverlust, also in einem Verschwinden des

weltlichen Zwischen. Dazu siehe Abschnitt, IV.

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83

„enthusiastischen Begriffs des Politischen“9 konturiert sie die kritische Einsicht in die mo-

derne Gesellschaft. Ihre strikte Differenzierung zwischen Gesellschaftlichem und Politi-

schem ist keine Verkürzung des Politikbegriffs, sondern ist vielmehr „gegen die Verkür-

zung gerichtet, derzufolge Politik in modernen Massendemokratien kaum mehr sein könne

als die Gesamtheit der (…) rechtlichen und sozialstaatlichen Vorleistung für eine als End-

zweck verstandene private Lebensführung der vereinzelten Menschen.“10

Für die gegenwärtige Debatte um die politische Frage unserer Zeit ist der kritische Blick

Arendts auf die gesellschaftlich-politische Realität kein Anachronismus, weil die totalitären

Phänomene wie die Negation der Pluralität für unsere Gesellschaft gegenwärtig sind. Es ist

Arendts Absicht, die Möglichkeit politischer Pluralität in der Bedingung der Moderne wie-

derherzustellen.

1.1 Ökonomische Gesellschaft

1.1.1 Kolonisierung des Politischen durch das Gesellschaftliche

In der Entstehung und der Durchsetzung der modernen Gesellschaft werden die ökonomi-

schen Probleme, die Arendt „soziale Frage“11

nennt, zu öffentlichen politischen Angelegen-

heiten erhoben. Das bedeutet, wie Helmut Dubiel sagt, „Kolonisierung der Politik durch die

Gesellschaft“12

. Im Lauf dieser Kolonisierung sind zugleich das Politische und das Private

im Gesellschaftlichen verschmolzen. Der Aufstieg der Gesellschaft vollzieht sich daher in

einer Doppeldimension: in der Privatisierung der Öffentlichkeit einerseits und zugleich in

der Politisierung des Privaten andererseits. Das Wesen der Gesellschaft bestehe darin, so

Arendt, „das Öffentliche zu privatisieren und das Private zum Gegenstand der öffentlichen

Sorge zu machen.“13

Nach dem grundlegenden Konzept des gesamten politischen Denkens der Antike hatte Ge-

sellschaft keinen eigenen Bereich wie Staat und Haushalt. Der Begriff „Gesellschaft“ selbst

war der Antike im heutigen Sinn unbekannt, weil neben der Polis nur das Haus existierte.14

Im Rückgriff auf die Antike vertritt Arendt die These, dass die Gesellschaft nur da entstand,

9 Vollrath, 1993, S. 45.

10 Meyer, 1994, S. 213.

11 ÜR, S. 73.

12 Dubiel, 1994, S. 62.

13 ZVZ, S. 209.

14 Meier, 1983, S. 269; vgl. Kamp, 1985, S. 131f.; vgl. VA, S. 34f. und 38.

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84

wo der Abstand zwischen Privatem und Öffentlichem verschwand.15

Es ist die Gesellschaft,

„in welcher der Lebensprozess selbst sich öffentlich etabliert und organisiert hat“.16

Anders

gesprochen erscheint das Gesellschaftliche, „als das Innere des Haushalts mit den ihm zu-

gehörigen Tätigkeiten, Sorgen und Organisationsformen aus dem Dunkel des Hauses in das

volle Licht des öffentlich politischen Bereichs trat.“17

Aus diesem Grund sieht Arendt die

Gesellschaft als Gegenüberstellung nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch des Privaten.

Historisch betrachtet hängt das Aufkommen des Gesellschaftlichen untrennbar mit dem

Wachstum einer kapitalistischen Wirtschaft zusammen. Die Ökonomie, die für die Antike

eine Sache des Haushalts war, wird in der Moderne Kern der öffentlichen Angelegenheiten.

Dabei bezeichnet sich die Politik mehr oder weniger als das Mittel zum ökonomischen

Wachstum. Das läuft folglich auf eine „Funktionalisierung des Politischen“18

hinaus. Das

Neue in der modernen Gesellschaft besteht also nicht in dem Wunsch der Menschen nach

ökonomischem Reichtum, sondern in der Tatsache, dass die Politik zur Erfüllung dieses

Wunsches dient. Ein Staat ist daher keine originär politische Konstruktion, sondern er ist

bloß auf eine Funktion der Ökonomie reduziert. Arendt fasst den Entstehungsprozess der

Gesellschaft folgendermaßen zusammen: „Wollte man das Entstehen der Gesellschaft histo-

risch datieren, so müsste man sich auf den Augenblick einigen, in dem Privatbesitz aufhört,

ein privates Anliegen zu sein, und anfängt, eine öffentliche Angelegenheit zu werden. Die

Gesellschaft erschien in der Sphäre des Öffentlichen erst einmal in Gestalt von Besitzern,

die aber nun nicht auf Grund ihres Reichtums die ihnen zukommende Stimme in öffentli-

chen Angelegenheiten verlangten, sondern im Gegenteil sich zusammengefunden hatten,

um zum Zwecke der Erwerbung von mehr Reichtum den Anspruch zu erheben, aller Ver-

antwortlichkeiten öffentlich – politischer Natur enthoben zu werden.“19

Das Aufkommen der Gesellschaft und ihre Trennung vom Politischen waren stets das

Hauptthema der neuzeitlichen Philosophie des Politischen seit dem 17. und 18. Jahrhun-

dert.20

Beim Aufstieg des Gesellschaftlichen wurde die theoretische Grundlage der Libera-

lismus, demzufolge der Begriff der Gesellschaft als des Gegensatzes zur Zentralisierung der

15

Arendt findet aber die erste theoretische Grundlage für diese Vermischung von privatem und öffentlichem

bereits bei Plato vor. Plato schlägt in der Politeia vor, das private Eigentum zugunsten einer Ausdehnung

des politischen Bereiches aufzuheben, dadurch die private Familie und den privaten Haushalt innerhalb

der politischen Gemeinschaft abzuschaffen. Das läuft auf das hinaus, was Bien „Politisierung des Hauses“

oder „Oikonomisierung der Polis“ nennt (Bien, 1985, S. 309). Trotzdem blieb in Antike und auch im pla-

tonischen Denken nach Arendts Auffassung die uralte Heiligkeit des Hauses erhalten (vgl. VA, S. 39f und

47; Wicki-Vogt, 1992, S. 141). 16

VA, S. 58. 17

VA, S. 47f. 18

VA, S. 43. 19

VA, S. 81f. 20

Vgl. Kaupp, 1974, S. 461f.; Beyme, 2007, S. 74ff.

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absoluten Staatsgewalt verstanden ist. Im Mittelpunkt stand die Frage nach dem Verhältnis

zwischen Staat und Gesellschaft; der Staat sei nur ein administratives Organ, um die Werte

der vom Staat unabhängig organisierten Gesellschaft zu gewährleisten. Der klassische Libe-

ralismus fand seine theoretische Aufgabe darin, staatlichen Übergriff in die produktiven

Kräfte der Gesellschaft zu verhindern. Vor allem für die Frage der Beziehung zwischen

Individuum und Gesellschaft war er davon überzeugt, die Gesellschaft sei eine Organisati-

on, die zur optimalen Entwicklung des individuellen Menschen bestimmt ist. Daher war das

Ziel des Liberalismus die Schaffung einer großen privaten Lebenssphäre, die vom Staat

getrennt wird. „Das liberale Ideal des privaten Lebens war nicht der Schutz des einzelnen

vor der Gesellschaft, sondern die Befreiung der Gesellschaft von politischen Eingriffen.“21

Nach der liberalen Sichtweise ist die Gesellschaft „die Summe aller einzelnen, gesellschaft-

liche Interessen sind deshalb auch prinzipiell in Übereinstimmung mit dem Individualinter-

esse.“22

Die „Befriedigung egoistischer Begierden“ erweist sich „als die wirksamsten Moti-

ve des Handelns“.23

In der Gesellschaft tritt der „homo oeconomicus“, dem es um ökonomi-

sche Interessendurchsetzung geht, an die Stelle des „homo politicus“.24

In der vom homo

oeconomicus beherrschten Gesellschaft identifizieren sich Politik und Wirtschaft miteinan-

der. Die Gesellschaft „als System des marktwirtschaftlich strukturierten Verkehrs der Pri-

vatleute und ihrer gesellschaftlichen Arbeit“25

erobert nun den öffentlichen Raum. Das Ver-

hältnis zwischen moderner Gesellschaft und dem Liberalismus erörtert Arendt so: „Worum

es in Wahrheit ging, war die Existenzbedrohung und ständige Einengung der öffentlich –

politischen Sphäre überhaupt durch die gesellschaftlich-ökonomischen Konkurrenzkämpfe

einerseits und die Klasseninteressen der herrschenden Klassen andererseits. In diesem Zu-

sammenhang erschien die politische Theorie des Liberalismus, der zufolge die Summe der

Einzelinteressen sich zu dem Wunder eines Gemeinwohls addiert.“26

Im Hinblick auf die Kritik der modernen Gesellschaft sieht man bei Hannah Arendt eine

Kritikerin des Liberalismus. Arendts Kritik am Liberalismus, obwohl sie in ihren Werken

nicht systematisch erscheint, ist für ihr Grundverständnis des Politischen nicht unwichtig.

Arendt denkt, dass der liberalen Konzeption, das öffentliche Wohl aus privaten Interessen

abzuleiten, „die ursprüngliche Abneigung der Bourgeoisie für öffentliche Angelegenheiten

21

Kymlicka, 1996, S. 214. 22

Bermbach, 1987, S. 327. 23

ZVZ, S. 105. 24

Ruggiero, 1930, S. 95; hier zitiert aus Bermbach, 1987, S. 329. 25

Habermas, 1998c, S. 326. 26

EU, S. 718; vgl. EU, S. 329.

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86

und die angeborene Feindschaft gegen politisches Handeln überhaupt noch innewohnt“.27

Aus diesem Grund sieht Arendt im neuzeitlichen Liberalismus das Syndrom des Totalita-

rismus. Günter Figal weist zutreffend darauf hin: „Nach der Diagnose von Hannah Arendt

ist der neuzeitliche Liberalismus, wo er den Menschen vom homo politicus zum animal

laborans et consumens degradiert, eine notwendige Bedingung des Totalitarismus.“28

1.1.2 Identifizierung von Politischem und Ökonomie

In der Ökonomisierungsthese ist der zeitdiagnostische Kernsatz Arendts enthalten. Das Ge-

sellschaftliche hat seinen historischen und funktionalen Ursprung im privaten Haushalt. Die

Gesellschaft wird als Inbegriff der ökonomischen Beziehungen zwischen Individuen ver-

standen.29

Aus diesem Grund wäre die Gesellschaft als die natürliche Ordnung des men-

schlichen Zusammenlebens gedacht.30

In seinem Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit

betont Habermas die Herkunft der Gesellschaft aus dem privaten Haushalt: „Die Gesell-

schaft entsteht, wenn die Tätigkeiten und Abhängigkeiten, die bisher in den Rahmen der

Hauswirtschaft gebannt waren, über die Schwelle des Haushalts ins Licht der Öffentlichkeit

treten.“31

Dass die Gesellschaft die ursprüngliche und funktionale Herkunft aus dem Haus-

halt hat, besagt, dass die Gesellschaft die wesentliche Funktion mit dem Haushalt teilt.

Arendt meint: „Was wir heute Gesellschaft nennen, ist ein Familien-Kollektiv, das sich

ökonomisch als eine gigantische Über-Familie versteht“.32

Daher ist die Gesellschaft für

Arendt diejenige „Form des Zusammenlebens, in der die Abhängigkeit des Menschen von

seinesgleichen um des Lebens selbst willen und nichts sonst zu öffentlicher Bedeutung ge-

langt, und wo infolgedessen die Tätigkeiten, die lediglich der Erhaltung des Lebens dienen,

in der Öffentlichkeit nicht nur erscheinen, sondern die Physiognomie des öffentlichen

Raums bestimmen dürfen.“33

27

EU, S. 330. 28

Figal, 1994, S. 132. 29

Dieser Gedanke zeigt sich vor allem bei Hegel eindeutig. Hinsichtlich ihrer Eigenschaft ist die Gesell-

schaft für Hegel die Sphäre bürgerlicher Privatleute, denn sie erscheint als „System der Bedürfnisse“ (He-

gel, 1995, § 188, S. 169), als Feld des Strebens individueller Bedürfnisse. Die bürgerliche Gesellschaft

stellt eine Verbindung der selbständigen Einzelnen zu ihren Bedürfnissen dar. Daher besteht die bürgerli-

che Gesellschaft aus „Privatpersonen, welche ihr eigenes Interesse zu ihrem Zwecke haben.“ (Hegel,

1995, § 187, S. 167). 30

Etymologisch betrachtet, kann man sehr deutlich erkennen, dass die Gesellschaft ihre historische und

funktionale Herkunft im privaten Haushalt hat. Das deutsche Wort „Gesellschaft“ stammt aus „sal“

(Raum), „geselle“(Hausgenosse) (Riedel, 1975a, S. 801). Das Wort „Gesellschaft“ bedeutet „die Saal-

hausgenossenschaft“. (VA, S. 423f., Anm. 20). 31

Habermas, 1969, S. 29. 32

VA, S. 39. 33

VA, S. 59.

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87

In der modernen Gesellschaft verpflichten sich Bürger nicht mehr der Gesamtheit der öf-

fentlichen Angelegenheiten, sondern ihnen geht es um die Sorgen des Privatlebens und der

eigenen Familie. In diesem Zustand wird die Regelung der politischen Angelegenheiten nur

zu einer möglichst reibungslosen Durchführung von Sachproblemen zu ihrem Nutzen. Aus

diesem Wandel heraus entsteht eine neue zentrale Wissenschaft der modernen Gesellschaft,

also „die politische Ökonomie“. In der Tat steht der Aufstieg des Gesellschaftlichen in en-

gem Zusammenhang mit dem Aufkommen des Begriffs „Politische Ökonomie“. Die Zu-

sammenfügung der beiden Worte „Politische“ und „Ökonomie“ ist relativ jung; sprachge-

schichtlich besteht der Begriff „Politische Ökonomie“ erst seit dem Beginn des 17. Jahr-

hunderts.34

Er reflektiert die radikale Transformation der Politik in eine kapitalistisch ge-

wordene Gesellschaft deutlich.

Das „Politische“ und das „Ökonomische“ sind Begriffe, die eigentlich aus der griechischen

Antike stammen. Sie verkörperten in der Antike zwei strikt zu trennende Sphären und die

ihnen entsprechenden Tätigkeiten: das der Privatsphäre zuzurechnende Haus, der oikos,

wurde in zweierlei Hinsicht für nicht-politisch gehalten. Es bezieht sich zunächst auf das

Besorgen der Notwendigkeiten des täglichen Lebens: „(…) was immer ökonomisch war,

nämlich zugehörig zum schieren Leben des Einzelnen und zum Überleben der Gattung, war

dadurch bereits als nicht-politisch identifiziert und definiert.“35

Ökonomie oder Hauswirt-

schaft beschränkte sich auf die wirkungsvolle Bewältigung der alltäglich wiederkehrenden

lebensnotwendigen Tätigkeiten, weil Ökonomie oder Ökonomik eine einfache Lehre von

der Haushaltung oder Konsumtion war. Ihre Hauptfunktion war die Sicherung der physi-

schen Existenz: „Die Ökonomik als Lehre vom Oikos umfaßt eben die Gesamtheit der men-

schlichen Beziehungen und Tätigkeiten im Hause, das Verhältnis von Mann und Frauen,

Eltern und Kindern, Hausherrn und Gesinde“.36

Die Ökonomie ist aber auch deswegen

unpolitisch, weil es in ihrem Bereich um Herrschaft, um Befehl und um Gehorsam geht.37

Die Ökonomie unterwirft die Menschen unter Sachzwänge in Hinsicht auf den Druck der

Sorge um das Überleben. Das Problem der Ökonomie hängt daher immer mit dem Problem

der Herrschaft zusammen38

: „Es handelt sich erstens um die Beherrschung des Notwendi-

34

Vgl. Brunner, 1956. 35

VA, S. 39. 36

Brunner, 1956, S. 35f.; im Ökonomie entsprechenden deutschen Wort „Wirtschaft“ tritt auch die Gesam-

theit der Tätigkeit im Hause hervor; das deutsche Wort „Wirtschaft“ gehöre zu Wirt, das ursprünglich

nicht nur den planvollen Erzeuger und Verwender der Güter bezeichnet, sondern so viel wie Pfleger, der

den Schutz übenden, sorgenden Inhaber des Hauses, den Hausherrn, Hausvater bezeichnet (S. 37). 37

„Die Ökonomik ist deshalb im Gegensatz zur Politik eine Lehre von der apolitischen Herrschaft im Haus

in der Dreigliederung von Herrnverhältnis, ehelichem und väterlichem Herrschaftsverhältnis“ (Koslows-

ki, 1979, S. 66). 38

„Die Definition von Herrschaft ohne Ökonomie wird leer“ (Narr/Naschold, 1971, S. 99).

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gen, dessen, was im Sinne der Lebensnotwendigkeiten den Menschen zwingt und in seiner

Gewalt hat. Diese Beherrschung der Notwendigkeit kann aber zweitens nur dadurch erfol-

gen, dass man durch Zwang andere Menschen beherrscht, die im Sinne der Sklavenwirt-

schaft den Freien das direkte Gezwungenwerden von den Lebensnotwendigkeiten abneh-

men.“39

Ausgehend vom unpolitischen Charakter von Ökonomie behauptet Hannah Arendt, dass die

Wortverbindung „politische Ökonomie“ in sich selbst widersprüchlich ist.40

Diese Wortver-

bindung „politische Ökonomie“ bringt keine inhaltliche Veränderung der Ökonomie zum

Ausdruck, sondern dient zur Bezeichnung der vergesellschafteten Ökonomie, im Gegensatz

zur privaten Wirtschaft.41

„Wenn der Begriff trotzdem gebraucht wird“, wie Lothar Kramm

zu Recht betont, „so bedeutet er auf etwas anders hin: auf die Abdankung der Politik bzw.

deren Unterordnung unter die Ökonomie.“42

Dieser Begriff ist also Ausdruck der Ökonomi-

sierung des Politischen.

Zum Thema der politischen Ökonomie gehört nicht nur das Verhältnis von Politik und

Wirtschaft. Wenn die politische Ökonomie als Disziplin der modernen Politikwissenschaft

gilt, dann beschäftigt sie sich mit dem Sich-Verhalten von „homo oeconomicus“. Sie geht

von der Vorstellung aus, „daß der ökonomische Ansatz so umfassend ist, daß er auf alles

menschliche Verhalten anwendbar ist.“43

Die Konzeptionen der politischen Ökonomie sind

nicht lediglich auf die Frage der Produktion, der Verteilung oder des Wachstums be-

schränkt, sondern sie sind auf den Bereich des politischen Handelns übertragbar.44

Als Wis-

senschaft setzt die politische Ökonomie wenigstens voraus, dass die allgemeine Erklärung

des menschlichen Verhaltens und der Gesellschaft möglich ist. Dabei wird der Mensch nur

als ein sich verhaltendes, nicht als ein handelndes Wesen verstanden.45

Anders gesagt geht

die politische Ökonomie von der Annahme aus, dass die Gesellschaft als Ganzes von einem

einzigen allgemeinen Interesse beherrscht werde und dass „Ziel und Zweck der Vita activa

einzig und allein in wachsendem Reichtum, Überfluß und dem Glück für die größte Anzahl

39

ZVZ, S. 184; dieser Gedanke bleibt immer noch im neuzeitlichen Denken. Wegen dieses Verhältnisses

von Herrschaft und Ökonomie hat Kant in seiner Schrift über den Gemeinspruch die als die Unhabhän-

gigkeit der Politik von der Ökonomie verstandene „Selbständigkeit“ als das Prinzip der republikanischen

Verfassung neben der „Freiheit“ und „Gleichheit“ aufgestellt (Kant, 1968, S. 46); vgl. Bien, 1972, S. 1ff. 40

Vgl. VA, S. 39. 41

So ist es bemerkenswert, dass die Begriffe politische Ökonomie und Sozialökonomie für gleichwertig

gehalten wurden; vgl. Lange, 1963, S. 42; Kramm, 1979, S. 22. 42

Kramm, 1975, S. 18. 43

Becker, 1993, S. 7; zit. nach Breier/Gantschow, 2006, S. 195. 44

„In jedem Fall bestimmen die Kategorien der Wirtschaft die Interpretation der Gesellschaft und der in ihr

zu verwirklichenden Ordnung.“ (Kramm, 1979, S. 5). 45

Vgl. VA, S. 426f.

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89

bestehe.“46

Um dieses einzige Grundinteresse zu erfüllen, beschäftigt sich die politische

Ökonomie mit der Frage, wie ein funktionierendes Wirtschaftssystem beschaffen sein und

welche Rolle die Politik hierbei spielen sollte.47

So betrachtet ist der vollständige Triumph

der Ökonomie über die Politik der neuzeitliche Ausdruck des alten Misstrauens gegenüber

der Pluralität des politischen Handelns. Die im ökonomischen Denken verwurzelte Vorstel-

lung, die Pluralität menschlichen Handelns könne durch eine rationale Kalkulation ersetzt

werden, läuft schließlich auf die „Durchsetzung der Rationalität der Ökonomie gegenüber

einer offenkundig (…) irrational bewerteten Politik“ hinaus.48

Indem sich die Politik schließlich der Ökonomie unterwirft, tritt die Teilnahme am ökono-

mischen Prozess an die Stelle der Partizipation der Bürger an politischen Angelegenheiten.

Öffentliches und politisches Handeln ist auf den ökonomisch motivierten Lebensprozess

reduziert und den Imperativen der Lebensnotwendigkeiten unterworfen.49

Daher ist der

Preis, der für diesen Triumph der Ökonomie gezahlt werden muss, der Verzicht auf die öf-

fentliche Freiheit des Handelns mit anderen. Sofern sich die Politik auf die ökonomische

Sicherungsfunktion reduziert, könnte sich der Begriff der politischen Rechtfertigung weder

aus dem politischen Handeln selbst noch aus dem politischen Vorgang ableiten, sondern

immer aus dem gesellschaftlichen und ökonomischen Wachstum.50

Der Grund dafür, war-

um Arendt in der modernen Gesellschaft die Gefahr der totalitären Herrschaft sieht, besteht

darin, dass tyrannische und antidemokratische Regime erfolgreicher sein können als demo-

kratische, wenn es für die Legitimation der Herrschaft nur darum geht, die ökonomische

Wohlfahrt und Steigerung der gesellschaftlichen Produktivität zu sichern. Aus diesen prag-

matischen und funktionellen Gründen ist es unschwer zu verstehen, warum die Monarchie

als Staatsform von Hobbes bevorzugt wird: Wenn es um die Selbsterhaltung und die öko-

46

VA, S. 156. 47

Adam Smith, größer Vertreter der Politischen Ökonomie, definiert die Politische Ökonomie im Folgen-

den: „Die Politische Ökonomie verfolgt als Zweig der Wissenschaft, die eine Lehre für den Staatsmann

und Gesetzgeber entwickeln will, zwei unterschiedliche Ziele. Einmal untersucht sie, wie ein reichliches

Einkommen zu erzielen oder der Lebensunterhalt für die Bevölkerung versetzt werden kann, beides für

sich selbst zu beschaffen, und ferner erklärt sie, wie der Staat oder das Gemeinwesen Einnahmen erhalten

können, mit deren Hilfe sie öffentliche Aufgaben durchführen. Die Politische Ökonomie beschäftigt sich

also mit der Frage, wie man Wohlstand und Reichtum des Volkes und des Staates erhöhen kann“ (Smith,

Wealth of Nations, Buch IV Einleitung; zit. aus Fenke/Mertens/Reinhard/Rosen (Hrsg.), 2003, S. 359). 48

Greven, 1999, S. 95. 49

„Für Adam Smith ist es selbstverständlich, daß öffentliches Ansehen und geldliche Vergütung auf der

gleichen Stufe stehen und daher gegeneinander ausgetauscht werden können. Öffentliches Ansehen ist

auch etwas, was gebraucht und verbraucht werden kann, und gesellschaftliche Position (…) befriedigt ei-

ne Art von Bedürfnis, wie das Essen das Bedürfnis des Hungers befriedigt; die individuelle Eitelkeit ver-

langt nach öffentlicher Bestätigung wie der individuelle Magen nach Nahrungsmitteln.“ (VA, S. 70). 50

„Die politische Beschränkung auf die Förderung der Bedingungen zu einer möglichst starken Expansion

des wirtschaftlichen Sektors hat zwangsläufig zu einem Legitimationsdefizit geführt.“ (Kramm, 1979, S.

14).

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nomische Sicherheit geht, wie Hobbes der Überzeugung ist, dann könne das geforderte

Interesse mit den Mitteln der Monarchie am sichersten erfüllt werden und daher sei die Mo-

narchie die beste Staatsform von allen.51

Dabei ist die Politik mit Herrschaft für Volk iden-

tifiziert: „Wären wir wirklich der Meinung, wie die Theorien der Neuzeit uns einreden

möchten, daß es in der Politik nur um Sicherheit und Lebensinteressen geht, so hätten wir

keinen Grund, Tyrannis prinzipiell abzulehnen; denn Sicherheit gerade kann sie gewährleis-

ten, und für den Schutz des schieren Lebens hat sie sich oft allen anderen Staatsformen als

überlegen erwiesen.“52

Das seit Hobbes selbstverständlich gewordene Verständnis, dass die Lebenserhaltung das

höchste Gut sei und dass „der Lebensprozeß der Gesellschaft Zweck und Ende aller Politik

sei“, gehört für Arendt zu „der politisch jedenfalls verderblichsten Lehre der Moderne.“53

Die Pointe für Arendts Kritik an der ökonomischen Gesellschaft besteht darin, dass die poli-

tische Freiheit, wie Michael Hereth feststellt, „nicht in der Ökonomie, sondern jenseits der

Ökonomie möglich“ ist.54

Dies bedeutet nicht, dass ökonomische Bedingungen auf den po-

litischen Prozess nicht einwirken. Arendt meint nur, dass Politik und Ökonomie zwei ver-

schiedene Typen des menschlichen Zusammenlebens darstellen und dass das Ökonomische

als die Lebensnotwendigkeit noch nicht politisch ist.

1.2 Arbeitsgesellschaft

1.2.1 Die Vergesellschaftung des Arbeitens

Arendt bezeichnet die moderne Gesellschaft, in der wir bereits leben, als Arbeitsgesell-

schaft. Historisch betrachtet beginnt die moderne Arbeitsgesellschaft im siebzehnten Jahr-

hundert damit, die Arbeit, die früher als die verächtlichste Tätigkeit galt, theoretisch und

philosophisch zu verherrlichen.55

Mit dieser theoretischen Verherrlichung der Arbeit verän-

51

Vgl. Hobbes, LV, S. 145ff.; vgl. VA, S. 280. 52

ZVZ, S. 203; in diesem Kontext scheut sich Arendt nicht, Hobbes als den „einzigen politischen Denker,

der je für den von ihm entworfenen Staat mit Stolz den Namen Tyrannis in Anspruch genommen hat“, zu

bezeichnen (EU, S. 321). 53

ÜR, S. 79. 54

Hereth, 1972, S. 530. 55

So unbestreitbar steht John Locke an diesem Beginn. Locke verherrlicht die Arbeit in der These, jeder-

mann habe Eigentum an der Arbeit. Und mit der These, das Maß der aufgewendeten Arbeit bestimme den

Wert des produzierten Gutes, steht er am Beginn der Arbeitswertlehre der klassischen Politischen Öko-

nomie; „Obwohl die Dinge der Natur allen zur gemeinsamen Nutzung gegeben werden, lag dennoch die

große Grundlage des Eigentums tief im Wesen des Menschen“; „Die Arbeit seines Körpers und das Werk

seiner Hände sind (…) im eigentlichen Sinne sein Eigentum (…). Denn da diese Arbeit das unbestreitba-

re Eigentum des Arbeiters ist, kann niemand außer ihm ein Recht auf etwas haben, was einmal mit seiner

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derte sich die Hierarchie der menschlichen Tätigkeiten in der Vita Aktiva. Die der Notwen-

digkeit biologischen Lebens verhaftete Tätigkeit bezeichnet sich nun nicht nur als den Urs-

prung allen Eigentums, sondern als „Ausdruck der Menschlichkeit des Menschen selbst“56

.

Damit versteht sich die auf die Lebensnotwendigkeit bezogene ökonomische Tätigkeit als

die einzige menschliche Tätigkeit, so dass sich alle nicht-arbeitenden Tätigkeiten nur als

Spielen oder als Hobby bezeichnen. Verkürzt ausgedrückt ist die Arbeitsgesellschaft durch

die Inthronisierung der Arbeit gekennzeichnet: „die Befreiung der Arbeit hat nicht zur Fol-

ge gehabt, daß man die Arbeitstätigkeit als gleichwertig und gleichberechtigt mit allen an-

deren menschlichen Tätigkeiten der Vita activa ansetzt, sondern hat zu ihrer unbestrittenen

Vorherrschaft geführt.“57

Mit der Verherrlichung der Arbeit ist die Arbeit auch vom Dunkel des Privatraums in die

Helle eines öffentlichen Marktes befreit. Die Arbeit im Haushalt, die für das angemessene

Leben der Hausgemeinschaft stattgefunden hat, wird seit der Neuzeit zur gesellschaftlichen

Arbeit um des übermäßigen Reichtums der Gesellschaft willen. Die Befreiung der Arbeiter

vom Haushalt und damit die Versammlung der einzelnen Arbeiter bringen räumlich die

Trennung von Arbeitsort und Wohnort und damit die Trennung von Arbeitswelt und Privat-

leben. Die vergesellschaftete Arbeit steht in der Gegenüberstellung von entfremdeter Arbeit

und vertrautem Zuhause.58

Die Gesellschaft wird nun zur Sphäre der vom Haushalt befrei-

ten Arbeit. Damit verwandelt sich die moderne Welt im Ganzen in eine Arbeitsgesellschaft.

In diesem Sinne ist die Neuzeit wesentlich „eine Arbeitszeit“59

, und die moderne Gesell-

schaft ist „diese einzige auf die Arbeit abgestellte Welt.“60

Aber die Arbeitsgesellschaft bedeutet für Arendt nicht bloß die Gesellschaft von Arbeitern,

sondern vielmehr die von der Arbeitsmentalität als dem dominanten Gemütstyp beherrschte

Gesellschaft.61

In der Arbeitsgesellschaft ist Arbeitsmentalität nicht auf die Arbeiterklasse

Arbeit verbunden ist.“; „Denn es ist tatsächlich die Arbeit, die jedem Ding einen unterschiedlichen Wert

verleiht“ (Locke, 1992, S. 216f. und 225). 56

VA, S. 120. 57

VA, S. 151f. 58

Das Heraustreten dieser Situation stellt Marx in der folgenden kurzen Formulierung dar: „Zu Hause ist er

(der Arbeiter: H. P.), wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus.“ (Marx, MEW, Er-

gänzungsband I, 1974, S. 514). 59

Baruzzi, 1993, S. 130. 60

VA, S. 410. 61

Hier stellt sich die Frage, wer „Animal laborans“ in Arendts Worten ist. Hinsichtlich dieser Frage betont

Canovan, dass Arendts animal laborans „Arbeitsklasse“ bedeutet (Canovan, 1978, S. 11). Ähnlich versteht

Kateb den Begriff von Arendts animal laborans als „the laboring mass (…) in enormous number“ (Kateb,

1977, S. 144). Im Gegensatz zu beiden weist Martin Levin zutreffend darauf hin, dass Arendt mit dem

Begriff Animal laborans keine soziale Klasse oder Arbeitsklasse meint, sondern den Modus des Lebens

und die Beziehungsweise des Menschen mit der Welt (Levin, 1979, S. 523).

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beschränkt.62

In diesem Licht betrachtet wäre es unzutreffend, dass man Arendts Kritik an

der Arbeitsgesellschaft als Skepsis gegenüber der Emanzipation der Arbeiter von der Un-

terdrückung und Ausbeutung in der Neuzeit deutet.63

Arendts kritischer Blick auf die Ar-

beitsgesellschaft beruht nur darauf, dass man sich in der Arbeitsgesellschaft für nichts ande-

res interessiert als für die immer bessere Befriedigung der Bedürfnisse oder den möglichen

Überfluss dessen, was der Lebensprozess braucht.64

In einer solchen Gesellschaft herrscht

der ständige Prozess von Produktion und Konsumtion. Daher setzt Arendt die Arbeitsge-

sellschaft mit einer Konsumgesellschaft gleich. Sie hält fest: „Wir hören oft, daß die mo-

derne Gesellschaft eine Konsumgesellschaft sei, und da, wie wir sahen, das Arbeiten und

das Konsumieren eigentlich nur zwei Stadien des gleichen, dem Menschen von der Lebens-

notwendigkeit aufgezwungenen Prozesses sind, sagt dies nur mit anderen Worten, daß die

moderne Gesellschaft eine Arbeitsgesellschaft ist.“65

Die Arbeitsgesellschaft spielt eine Rolle als „ein kollektives Subjekt des Lebensprozes-

ses“66

. Zum Fundamentalsten dieser Gesellschaft wird der kollektiv betriebene Arbeitspro-

zess der Lebensfortzeugung. Wenn die Arbeit als der Ursprung allen Eigentums vergesell-

schaftlicht wird, wird der gesellschaftliche Reichtum für die Arbeitsgesellschaft „zu einem

Anliegen der Öffentlichkeit“67

. Am Ende der VA gibt Arendt eine Prognose für die Arbeits-

gesellschaft ab, die sich entscheidend von der theoretischen Verherrlichung der Arbeit und

ihrer Kreativität abhebt: „Es ist durchaus denkbar, daß die Neuzeit, die mit einer so uner-

hörten und unerhört vielversprechenden Aktivierung aller menschlichen Vermögen und

Tätigkeiten begonnen hat, schließlich in der tödlichsten, sterilsten Passivität enden wird, die

die Geschichte je gekannt hat.“68

In der beständigen Entwicklung der Arbeitsgesellschaft

reduzieren sich die Tätigkeiten des Einzelnen nur auf „Funktionen eines durch naturhafte

Notwendigkeit determinierten Lebensprozesses“69

der Gesellschaft. Arendt sieht daher die

größte Gefährdung der Arbeitsgesellschaft darin, „den handelnden Menschen und seine

Freiheit aus dem Gang der Ereignisse auszuschalten“.70

62

Vgl. VA, S. 150 und S. 59. 63

„Die Emanzipation der Arbeit, da sie von der Emanzipation der Arbeiterklasse, ihrer Befreiung von Un-

terdrückung und Ausbeutung, gefolgt war, ist zweifellos fortschrittlich, wenn wir den Fortschritt an der

Abnahme von Gewalttätigkeit in der Menschengesellschaft messen. Ob sie noch fortschrittlich ist, wenn

wir den Fortschritt an der Zunahme von Freiheit messen, ist sehr viel weniger sicher“ (VA, S. 153). 64

Vgl. VA, S. 59. 65

VA, S. 150. 66

VA, S. 327. 67

VA, S. 85. 68

VA, S. 411. 69

Thaa, 1996, S. 85; vgl. VA, S. 136 und 150ff. 70

ZVZ, S. 209.

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93

Entscheidend ist, dass die kritische Haltung Arendts gegenüber der Arbeitsgesellschaft dar-

auf beruht, dass man allein den eigenen Lebensprozess selbst als die einzige Realität an-

nimmt. Im Gegensatz zur weltlichen Wirklichkeit, die aus der Anwesenheit anderer in der

gemeinsamen Welt entsteht, hängt das Wirklichsein des Lebens selbst lediglich „von der

Intensität des subjektiven Bedürfnisses“71

ab und „diese Intensität äußert sich mit einer so

elementaren Kraft, daß (…) alles Empfinden für weltliche Realität ausgelöscht wird.“72

Diese Wirklichkeit ist kein politisches Phänomen, sondern ein biologisches. Solang unsere

Gesellschaft nur im Rahmen der dem Leben selbst bzw. der Notwendigkeit entsprechenden

weltlosen Tätigkeit des Arbeitens bleibt, führen, in den Worten Arendts, „weder der Über-

fluß noch die Verkürzung der Arbeitszeit zu der Errichtung einer gemeinsamen Welt“,73

weil es in dieser Gesellschaft keine Verantwortung für die öffentliche und gemeinsame

Welt als Ort des gemeinsamen Handelns und der Solidarität gibt.

Arendt bezeichnet den arbeitsgesellschaftlichen Typus von Menschen als „Spießer“ und als

„Jobholder“. Der Spießer stellt für Arendt den modernen Massenmenschen in seiner Isolie-

rung dar.74

Für ihn spielt privates Leben eine uneingeschränkte Rolle. „Denn der Spießer

unterscheidet sich von dem Bürger durch seine absolute Verantwortungslosigkeit für das

Öffentliche und seine rücksichtslose Ergebenheit in sein eigenes Wohl.“75

Als der gute Fa-

milienvater ist er bereit, wie Arendt feststellt, „um der Pension, der Lebensversicherung, der

gesicherten Existenz von Frau und Kindern willen Gesinnung, Ehre und menschliche Wür-

de preiszugeben“.76

Der Beruf, der das einzige öffentliche Leben des Spießers in der Ar-

beitsgesellschaft ist, stellt das Mittel dar, das die Karriere und den ökonomischen Erfolg

bringen könnte. Der Erfolglose scheidet aus der gesellschaftlichen Konkurrenz automatisch

aus. Der Spießer gehorcht bei jedem Akt in seinem Leben der eindimensionalen Logik der

Privatinteressen. Das ist die Spießermoral: „Er hat die Zweiteilung von Privat und Öffent-

lich, von Beruf und Familie so weit getrieben, daß er noch nicht einmal in seiner eigenen

identischen Person eine Verbindung zwischen beiden entdecken kann. Wenn sein Beruf ihn

zwingt, Menschen zu morden, so hält er sich nicht für einen Mörder, gerade weil er es nicht

aus Neigung, sondern beruflich getan hat.“77

Diese Spießermoral war charakteristisch für

die totalitäre Herrschaft, wo es die Leute gab, die „an das absolute Primat der sozialen und

ökonomischen Interessen vor den Ansprüchen des öffentlichen und staatlichen Lebens“

71

VA, S. 71. 72

VA, S. 141f.; vgl. Hereth, 1974, S. 38. 73

VA, S. 138. 74

Vgl. EU, S. 722. 75

KZ, S. 213. 76

DT, S. 41. 77

DT, S. 43.

Page 96: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

94

glaubten und „die einzig an die ununterbrochene Normalität ihres privaten Lebens dach-

ten.“78

Wenn das politische Handeln nur auf Karriere und Sicherheit zielt, dann schwindet

der Mut zum eigenen politischen Urteil. Clemens Knobloch hält fest: „Die privatistische

Spießermoral, die nichts kennt als Sicherheit und Karriere (und dafür gern alle öffentlichen

Werte opfert), bildet das Einfallstor für die Gleichschaltung von Gesellschaft und Privatle-

ben im Faschismus.“79

Die Arbeitsgesellschaft nennt Arendt eine Gesellschaft von Jobholders. „Das Entscheidende

hier wie überall ist, daß wir in einer Gesellschaft von jobholders leben. Das sieht man alle

Tage nur zu deutlich.“80

In der Gesellschaft von Jobholders ist das Individuum auf einen

systemfunktionalen Funktionär reduziert, und zugleich wird spontanes Handeln ausgeschal-

tet. Damit verschwindet die letzte Quelle aller politischen Freiheit, also jede Spontaneität,

„die Fähigkeit des Menschen, von sich aus etwas Neues zu beginnen.“81

Das Handeln wird

nur durch die Leistung und Funktionalität für die Gesellschaft bewertet und legitimiert. An-

ders gesagt wird das Handeln zum Funktionellen82

: „In ihrem letzten Stadium verwandelt

sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von Jobholders, und diese verlangt von

denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren, als sei das Leben

des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gat-

tung beherrscht, und als bestehe die einzige aktive, individuelle Entscheidung nur noch dar-

in, sich selbst gleichsam loszulassen, seine Individualität aufzugeben, bzw. die Empfindung

zu betäuben, welche noch die Mühe und Not des Lebens registrieren, um dann völlig beru-

higt desto besser und reibungsloser funktionieren zu können“.83

1.2.2 Akkumulationsprozess und Entwurzeltsein

Geschichtlich gesehen fällt die Befreiung der Arbeit vom Haushaltsbereich mit dem Akku-

mulationsprozess zusammen. Der Akkumulationsprozess bildet eigentlich das Herz der

Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft durch die industrielle Revolution. Der urs-

78

EU, S. 722 und 723. 79

Knobloch, 1993, S. 732. 80

BAJ, S. 259. 81

EU, S. 935. 82

„Das Funktionelle ist nicht dasjenige, wodurch der Gegenstand erscheint; das ist vielmehr seine Form und

Gestalt. Das Funktionelle an ihm ist dagegen dasjenige, wodurch er wieder aus der Erscheinung ver-

schwindet, nämlich gebraucht wird und sich abbraucht.“ (ZVZ, S. 297). 83

VA, S. 410.

Page 97: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

95

prüngliche Akkumulationsprozess vollzieht sich in zwei Dimensionen: die Enteignung des

Privateigentums und „die ursprüngliche Befreiung der Arbeiter“84

vom privaten Bereich.

Der gesellschaftliche Akkumulationsprozess, also das gesellschaftliche Wachstum des Ka-

pitals, geht vom individuellen Enteignungsprozess aus. Nach Arendts Ansicht tritt der gren-

zenlose „Akkumulationsprozeß des Kapitals“85

gleichzeitig mit der permanenten Zerstörung

des räumlich bestimmten Privateigentums auf. Ein Arbeiter verliert mit der Enteignung sei-

nes Privateigentums den Ort, „wo es vor der aller gemeinsamen Welt geborgen und verbor-

gen war.“86

Im kapitalistischen Akkumulationsprozess haben die Enteigneten „den uralt –

heiligen Schutz des Lebens durch Familie und Eigentum, die Stätte für das Leben selbst und

alle mit ihm verbundenen Tätigkeiten, verloren“.87

Hier wird klar, dass die moderne Gesell-

schaft mit der Zerstörung des Privaten zusammengefallen ist.

Die Enteignung des Privateigentums bedeutet aber kaum die Abschaffung des Privatbesit-

zes. Vielmehr ist das Enteignungsverfahren das Besitzverfahren. „Enteignung bestimmt das

Vorgehen der Neuzeit. Sie ist Enteignungszeit. Im gleichen ist sie Besitzzeit.“88

Wie Han-

nah Arendt darauf hinweist, ist Eigentum ursprünglich und primär nicht mit Besitz oder

Reichtum verknüpft worden. Der ursprüngliche Unterschied zwischen Eigentum und Besitz

besteht darin, dass Eigentum unbeweglich, Besitz aber beweglich ist. „Eigentum war urs-

prünglich an einen bestimmten Ort in der Welt gebunden und als solches nicht nur unbe-

weglich, sondern identisch mit der Familie, die diesen Ort einnahm.“89

Zumindest im anti-

ken Griechenland stand das Eigentum in Bezug zur politischen Partizipation. „Vorhanden-

sein und Schutz von Privateigentum gehören daher zu den elementarsten politischen Bedin-

gungen für die Entfaltung der Weltlichkeit menschlichen Daseins.“90

Aber die Neuzeit ver-

sucht die Unterscheidung zwischen Eigentum und Besitz aufzuheben.91

Der modernen Ver-

herrlichung des Privateigentums geht es „um den Schutz eines sich akkumulierenden Kapi-

tals, und nicht um den Schutz des Privateigentums“92

. Die Akkumulation des Kapitals, also

84

VA, S. 194. 85

VA, S. 80. 86

VA, S. 138. 87

VA, S. 327. 88

Baruzzi, 1978, S. 305. 89

VA, S. 76f.; „Wichtig ist, daß dies Eigentum kein Besitz ist, den etwa die Familie oder ihr Oberhaupt mit

sich nehmen könnte; das Eigentum ist vielmehr ein räumlicher Bezirk, die Familie ist an den Herd, der

Herd ist an den Boden gebunden. Das Eigentum ist unbeweglich wie der Herd und das Grab, zu dem es

gehört (…)“ (VA, S. 430). 90

VA, S. 324 und 75f. 91

Zur Verwirrung und Verwechselung von Eigentum und Besitz in der Neuzeit siehe Baruzzi, 1978, S. 301-

316, bes. S. 312f. 92

VA, S. 80.

Page 98: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

96

der Aufstieg des Privatbesitzes, wird nun zur öffentlichen Angelegenheit. In diesem kapita-

listischen System werden Menschen „zu Sklaven des Besitzes“.93

Es ist bemerkenswert, dass Arendts Analyse des Akkumulationsprozesses des Kapitals der

Marxschen Sicht nicht unähnlich ist, also in dem Punkt, dass die Akkumulation des Kapi-

tals mit der Enteignung des Privateigentums zusammenfällt. Beim Studium der ursprüngli-

chen Akkumulation konstatiert Marx, dass Akkumulation des Kapitals zugleich mit der

Zunahme der Enteigneten auftritt, also mit der Verproletarisierung.94

Der Akkumulations-

prozess des Kapitals in der modernen Gesellschaft und damit die Vermehrung des Proleta-

riats sind durch zwei Faktoren in Gang gekommen: Auf der einen Seite wird die Mehrzahl

befreiter Arbeiter auf den Arbeitsmarkt geschleudert und auf der anderen Seite wird ein

großes Proletariat durch die gewaltsame Verjagung der Bauern von ihrem Grund und Boden

geschaffen: „Historisch epochemachend in der Geschichte der ursprünglichen Akkumulati-

on sind alle Umwälzungen, die der sich bildenden Kapitalistenklasse als Hebel dienen; vor

allem aber die Momente, worin große Menschenmassen plötzlich und gewaltsam von ihren

Subsistenzmitteln losgerissen und als vogelfreie Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleu-

dert wurden. Die Expropriation des ländischen Produzenten, des Bauern, von Grund und

Boden bildet die Grundlage des ganzen Prozesses.“95

Wie Marx sieht Arendt den gesell-

schaftlichen Akkumulationsprozess als „Enteignung, die den Menschen von dem immer

begrenzten, dafür aber greifbaren und handhabbaren Stück Welt trennt, das er sein eigen

nennt, weil es dem, was ihm eigen ist, allein dient.“96

Wie Marx den ursprünglichen Akku-

mulationsprozess des Kapitals als die Durchführung „der freien Ausbeutung des Menschen

durch den Menschen“97

ansieht, versteht Arendt auch ihn als „das Resultat einer gewalttäti-

gen Enteignung“98

und sieht seinen Ursprung in jener Gewalt, die „gewisse Bevölkerungs-

schichten ihres Platzes in der Welt beraubt und dem Kampf um das nackte Leben ausge-

setzt“ hat.99

Durch diese gewalttätige Ausbeutung der Arbeit konnte die kapitalistische

Entwicklung möglich werden.

Durch diesen Akkumulationsprozess entwickelte sich der Kapitalismus. Ungeachtet der

Gemeinsamkeit der kritischen Analyse des Akkumulationsprozesses leistete der Kapitalis-

mus bei Marx seinen positiven Beitrag für die moderne Gesellschaft, während Arendt dem

Kapitalismus keine Verdienste um die Emanzipation der Menschheit zugesteht. Sie stellt

93

Baruzzi, 1983, S. 72. 94

„Akkumulation des Kapitals ist also Vermehrung des Proletariats.“ (Marx, MEW 23, S. 642). 95

Marx, MEW 23, S. 744. 96

VA, S. 67. 97

Marx, MEW 23, S. 743. 98

ÜR, S. 77. 99

VA, S. 325.

Page 99: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

97

fest: „Marx‟ großen Enthusiasmus hinsichtlich des Kapitalismus teile ich nicht. Wenn Sie

die ersten Seiten des Kommunistischen Manifestes lesen, so finden Sie hier das größte Lob-

lied auf den Kapitalismus.“100

In der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft sieht sie

die unpolitische Gefährdung der Weltentfremdung.101

Mit der Enteignung des Privateigentums zerstört der Akkumulationsprozess auch die Gren-

ze und die Stabilität des gemeinsamen Raums, welche Menschen brauchen. Eine der wich-

tigsten Bedingungen der gesellschaftlichen Produktivitätssteigerung ist die Mobilität der

Arbeitskraft, also dass man weltlos getrieben wird von einem endlosen Prozess, „in dessen

Ablauf das Eigentum durch Aneignung vernichtet, die Gegenstände durch den Produktions-

prozeß verschlungen, und die Stabilität der Welt durch das, was diese Jahrhunderte den

Fortschritt nannten, unterminiert wurde.“102

Der Mensch lebt in entwurzeltem Zustand, also

in der Flexibilität, weil die Freisetzung der Produktivkräfte der Arbeit überhaupt nur mög-

lich ist, wenn die Welt des Menschen dem Wachstumsprozess gesellschaftlichen Reichtums

geopfert wird. Der Prozess der Reichtumsproduktion durch gesellschaftliche Arbeit kann,

wie Arendt meint, „seinen Fortgang nun nehmen, wenn kein weltlicher Bestand und kein

Prinzip weltlicher Stabilität ihn hindert, auch nicht das von ihm selbst Erzeugte, wenn viel-

mehr alle Weltdinge, die ursprünglich Endprodukte eines Herstellungsprozesses waren, in

ihn mit ständig wachsender Geschwindigkeit zurückgeleitet werden.“103

Das sichtbarste

Zeichen der flexiblen Gesellschaft ist die Tendenz, auf Langfristigkeit und Dauer ausgerich-

tete Strukturen abzuschaffen. Die moderne Wirtschaft verlangt, „daß alle weltlichen Dinge

in einem immer beschleunigteren Tempo erscheinen und verschwinden.“104

Dies ist auch

die Logik der gesellschaftlichen Ökonomie, also die ziellose, endlose und sinnlose Dyna-

mik. Daher verwischt die Wirklichkeit der Welt mehr und mehr. Das Kennzeichen der mo-

dernen Arbeitsgesellschaft besteht in dem Verlust der „sachlich fundierten Beziehungen“.105

100

IWV, S. 108; im Licht dieser Aussage wären es die rechten und linken Fehlinterpretationen, dass Arendts

kritische Haltung gegenüber dem Kapitalismus und Bourgeois auf der marxistischen Tradition beruhe

(vgl. Furet, 1996, S. 544) oder dagegen dass der Kapitalismus bei Hannah Arendt nicht vorkomme (Ha-

bermas, 1981a, S. 226). Wenngleich Arendts politische Theorie nicht nur in antikapitalistischer Dimensi-

on steht, zeigt sich Arendts kritische Haltung gegenüber Kapitalismus wie Sozialismus hinsichtlich des

Enteignungsprozesses der Neuzeit ausdrücklich. Darauf weist Arendt ausdrücklich hin: „In dem Streit

zwischen Kapitalismus und Sozialismus wird meist vergessen, daß es der Kapitalismus war, der mit En-

teignungen angefangen hat, und daß der Sozialismus in dieser Hinsicht nur dem Gesetz folgt, nach dem

die gesamte Wirtschaftsentwicklung der Neuzeit angetreten ist.“ (VA, S. 76; vgl. Marti, 1992, S. 514). 101

Zur Arendtschen skeptischen Einschätzung des Kapitalismus siehe Urs Marti, 1997, S. 68-75. 102

VA, S. 322. 103

VA, S. 326. 104

VA, S. 149. 105

EU, S. 321; „Die Fortwährende Umwälzung“, „die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen

Zustände“, und „die ewige Unsicherheit und Bewegung“ kommen bereits bei Marx zum Ausdruck als das

spezifische Kenzeichen, das die moderne Arbeitsgesellschaft von früherer Zeit unterscheidet. In der be-

rühmten Formulierung stellt Marx die Eigenschaft der modernen Gesellschaft fest: „Alle festen eingeros-

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98

Der Akkumulationsprozess stellt daher einen Entwurzelungsprozess dar, der zum Überflüs-

sigwerden vieler Menschen führt.106

1.2.3 Die Arbeitsteilung als gesellschaftliche Organisationsform

Die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, die Arendt als „das unnatürliche

Wachstum des Natürlichen“107

bezeichnet, beruht auf der modernen Arbeitsteilung.108

Die

Arbeitsteilung ist die gesellschaftliche Organisationsform der Arbeit. Die Teilung der Ar-

beit ist eine Art der Zusammenarbeit im Arbeitsprozess. Die Arbeitsteilung ist nur möglich,

wo es eine große Arbeitsanzahl zur selben Zeit und in demselben Raum gibt. Das Prinzip

der Arbeitsteilung ist daher nicht im privaten Haushaltsbereich möglich, sondern nur unter

den gesellschaftlichen Bedingungen, wo die Arbeit „organisiert und aufgeteilt werden“

kann.109

Also findet die vergesellschaftete Arbeit nicht mehr auf natürliche Weise statt,

sondern in der gesellschaftlichen Errichtung.110

Die Arbeitsteilung stellt das Ideal der gesellschaftlichen Ordnung dar. Sie ist nur unter der

Voraussetzung möglich, dass die Qualität der aufgeteilten Arbeiten gleich ist. Für die Ar-

beitsteilung handelt es sich um die Mechanisierung und Standardisierung, mit deren Hilfe

die Menschen arbeiten können, „als ob sie einer wären“.111

In der Manifestation der Kom-

munistischen Partei charakterisiert Marx die Gesellschaft der Arbeitsteilung im Folgenden:

„Die Arbeit der Proletarier hat durch die Ausdehnung der Maschinerie und die Teilung der

Arbeit allen selbständigen Charakter und damit allen Reiz für die Arbeiter verloren. Er wird

ein bloßes Zubehör der Maschine, von dem nur der einfachste, eintönigste, am leichtesten

erlernbare Handgriff verlangt wird.“112

Der Hauptpunkt der Arendtschen Kritik am gesellschaftlichen System der Arbeitsteilung

besteht darin, dass Menschen überflüssig werden können, denn der einzelne ist jederzeit

und überall durch einen anderen ersetzbar. Die geteilte gesellschaftliche Arbeit hat nicht die

Form einer unmittelbaren konkreten Beziehung der Individuen. Bei der Arbeitsteilung han-

teten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden auf-

gelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende ver-

dampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre

gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“ (Marx, MEW, Bd. 4, S. 465). 106

„Überflüssigsein und Entwurzeltsein ist dasselbe.“ (DTB, S. 337). 107

VA, S. 60. 108

Vgl. Fetscher (Hrsg.), 1976, S. 49. 109

VA, S. 105. 110

Vgl. Kambartel, 1994, S. 127f.; vgl. auch VA, S. 145 und S. 60. 111

VA, S. 145. 112

Marx, MEW, Bd. 4, S. 468f.

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99

delt es sich um den „verschmelzenden Charakter des Arbeitens“113

, während sich die ver-

schiedenen Personen untereinander in der politischen Form des Zusammenseins bespre-

chen, um in Übereinstimmung miteinander zu handeln. Was die Arbeiter in der Arbeitstei-

lung miteinander verbindet und voneinander trennt, ist nicht die gemeinsame Welt, sondern

das Arbeitssystem und die Funktion der Maschinen. „In einer Arbeitsgesellschaft ersetzt die

Welt der Maschinen die wirkliche Welt, wenn auch diese Pseudowelt die größte Aufgabe

der Welt nie erfüllen kann, nämlich sterblichen Menschen eine Behausung zu bieten, die

beständiger und dauerhafter ist als sie selbst.“114

Die Welt der Maschine als das Arbeitssys-

tem vernichtet den Unterschied der verschiedenen Arbeit und vereinigt die verschiedenen

Interessen.115

Arendt schreibt: „Dies Eins – Sein ist das genaue Gegenteil aller eigentlichen

Ko-operation, die gerade auf der Verschiedenheit der Ko-operierenden beruht; das Eins –

Sein in der Arbeitsteilung deutet auf die Gattungseinheit, in welcher jedes Exemplar jedem

anderen bis zur Auswechselbarkeit gleicht.“116

Die Arbeitsteilung ist das Mittel zur Vermehrung der Arbeitskraft. Die vergesellschaftete

Arbeitskraft befreit die Arbeitsproduktivität von der Beschränkung der individuellen Ar-

beitskraft. Anders gesagt bringt die große Anzahl der Arbeiter eine neue gesellschaftliche

Produktivkraft hervor. Erst wenn die kollektive Arbeitskraft zum Subjekt des Arbeitspro-

zesses wird, wird der Arbeitsprozess eigentlich unendlich, weil er unabhängig von indivi-

dueller Geburt und individuellem Tod sein kann. Dadurch reduzieren sich die Menschen auf

Quasi – Naturwesen, die den Gesetzmäßigkeiten und den ewig automatischen Funktionen

unterworfen sind. Die menschliche Pluralität verwandelt sich in die funktionale Vielfalt. Im

kollektiven Arbeitsprozess verschwindet die menschliche und weltliche Bedeutung von

Geburt und Tod des Individuums als die allgemeinste Bedingtheit des menschlichen Le-

bens, in der sich Menschen als einmalige und unwiederholbare Wesen bestätigen lassen.117

Arendt formuliert: „(…) die Erschöpfung bildet nur einen Teil des individuellen Lebens-

prozesses, nicht des Kollektivlebens der Gattung, die im Falle der Arbeitsteilung als kollek-

tive Arbeitskraft das eigentliche Subjekt des Arbeitsprozesses ist. Die kollektive Arbeits-

kraft ist unerschöpflich, und sie entspricht der Todlosigkeit der Gattung, deren Lebenspro-

zeß im Ganzen auch nicht unterbrochen wird durch die Geburt und den Tod der einzelnen

113

VA, S. 208. 114

VA, S. 180. 115

Bei Marx kommt der Charakter dieser Welt ausführlich zum Ausdruck: „Die Interessen, die Lebenslagen

innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Un-

terschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedriges Niveau herabdrückt.“

(Marx, MEW, Bd. 4, S. 470). 116

VA, S. 145f. 117

Vgl. VA, S. 115 und S. 410f.

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100

Exemplare.“118

Schließlich geraten Menschen in der Arbeitsteilung in die Passivität und den

Konformismus. In diesem Sinne bildet das Prinzip der Arbeitsteilung das Ideal der Gesell-

schaft, also die normalisierte und konformisierte Persönlichkeit.

1.3 Die Massengesellschaft

1.3.1 Masse und Elite

Das zentrale Problem der modernen Welt ist für Arendt, wie sie in einer Vorlesung 1954

darlegt, „die politische Organisation von Massengesellschaften“.119

Die Massengesellschaft

stellt für Arendt „den Sieg des Gesellschaftlichen überhaupt“ dar.120

In der Massengesell-

schaft erreicht der Konformisierungs- oder Nivellierungsdrang der Gesellschaft seinen

Kulminationspunkt.

Das Arendtsche Verständnis der Massengesellschaft bezeichnet man häufig als die konser-

vativen Grundzüge ihres politischen Denkens. In der Tat verbindet man ihre Haltung zur

Masse mit dem Leitgedanken der konservativen und aristokratischen Kulturkritik, in der die

Masse als Kulturverfall abgewertet wird. Mit der Französischen Revolution markiert Masse

die dauernde Bedrohung des Politischen und den Untergang der Zivilisation, die bisher stets

nur von einer kleinen intellektuellen Aristokratie geleitet wurde.121

Dieses Misstrauen den

Massen gegenüber prägt die politische Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts in ihren

konservativen wie liberalen Versionen.

Edward Burke hat 1790 aufgrund der Kritik an der Französischen Revolution die Masse

kritisch betrachtet. Für ihn galt die Masse als die treibende Kraft hinter den blutigen Aktio-

nen der Französischen Revolution.122

Burkes Misstrauen gegenüber der Masse beruht auf

seiner „natürlichen Aristokratie“.123

Unter dieser konservativen Betrachtungsweise ist Toc-

queville der Entscheidendste. In seinem größten Werk, Über die Demokratie in Amerika,

hat Tocqueville, wenngleich er in der neuen Zeit den unaufhaltsamen und unausweichlichen

Zug zur Demokratie diagnostizierte, ihre Gefahr überhaupt in der Entstehung der Massen

118

VA, S. 146. 119

ZZ, S. 93. 120

VA, S. 52. 121

„Der Massenbegriff, der mit der Französischen Revolution in die deutsche politische Sprache einrückte,

erfaßte jene wachsende Menge der Bevölkerung, die aus der ständischen Gesellschaft ausgeschlossen war

und die seitdem ihre soziale Selbstbestimmung und ein zunehmendes Gewicht in der politischen Willens-

bildung beanspruchte und auch erreichte.“ (Koselleck, 1992, S. 415). 122

Burke, 1967. 123

Ballestrem, 2004, S. 115.

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101

gesehen. Nach ihm wäre die Demokratie immer mehr auf die Massen angewiesen und damit

würde die Masse eine absolute Gewalt werden.124

Die Menschen würden vereinzelt und

bilden als die Summe vereinzelter eine differenzlose Masse, die immer in der Gefahr stehe,

eine leichte Beute des zentralisierten Staates zu werden. In diesem konservativen Kontext

zeigt Jose Ortega y Gasset im berühmten Buch Der Aufstand der Massen seine aristokrati-

sche Haltung gegenüber der Masse auf. Er stellt die Masse, im Unterschied zu den Eliten,

als das negative Produkt der Moderne dar: „Die Eliten sind Individuen oder Individueng-

ruppen von spezieller Qualifikation; die Masse ist die Gesamtheit der nicht besonders Qua-

lifizierten (…). Masse ist der Durchschnittsmensch.“125

Im Zusammenhang mit diesem poli-

tischen Konservatismus, dessen Intention es noch war, die Gesellschaftsordnung vor den

aufsteigenden Massen zu schützen, ordnet Robert Nisbet, der der amerikanische Konserva-

tive ist, die Beschreibung Arendts über die Massen in Elemente und Ursprünge totaler

Herrschaft in die Genealogie der konservativen Positionen ein.126

Im Hinblick auf die moderne Massengesellschaft erörtert Arendt in einer Formulierung, die

uns an Tocqueville erinnert: „Große Anhäufungen von Menschen entwickeln eine nahezu

automatische Tendenz zu despotischen Herrschaftsformen, sei es nun die despotische Herr-

schaft eines Mannes oder der Despotismus von Majoritäten.“127

In ihrem Buch Über Revo-

lution sieht Arendt in der Tat den entscheidenden Grund für das Scheitern der Französi-

schen Revolution darin, dass das Masseninteresse politisiert wurde. In Bezug auf die „ge-

fühllose Verachtung für die unpolitischen Massen“128

bezeichnet sich Hannah Arendt als

eine „ultrakonservative Denkerin“129

oder „eine Art Burkeschen Toryismus“130

. Darüber

hinaus meint man, dass Arendt zwischen elitären und demokratischen Aspekten des Politi-

schen schwankt.131

Habermas beispielsweise stellt den Widerspruch zwischen Arendts par-

tizipatorischem Konzept und ihrer Vorstellung von politischer Elite fest. In seinem Aufsatz

über den Machtbegriff von Hannah Arendt zitiert er die langen Sätze aus Über Revolution,

um „die eigentümliche Verbindung von partizipatorischer Demokratie mit den von ihr für

notwendig gehaltenen elitären Strukturen“ zu zeigen.132

Ähnlich weist Alfons Söllner auf

124

Vgl. Tocqueville, 1962, Bd. 1, Kapitel 15 und 16. 125

Gasset, 1949, S. 9. 126

Vgl. Nisbet, 1986, Kap. 3; Benhabib betont, dass sich die antimodernistische Sicht Arendts im Licht der

konservativen Tradition von Hegel, Alexis de Tocqueville und Edmund Burke betrachten lässt (Benhabib,

1998, S. 255ff.). 127

VA, S. 55. 128

Dieser Ausdruck stammt von Jay; zit. nach May, 1990, S. 114. 129

Söllner, 1990, S. 242; vgl. Cranston, 1979, S. 17. 130

Young-Bruehl, 1986, S. 550. 131

Vgl. Canovan, 1978, S. 6ff. 132

Habermas, 1981b, S. 236f., Anm. 7.

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102

das Spannungsverhältnis des Arendtschen Denkens zwischen radikaldemokratischem Ge-

stus und geistesaristokratischem Kulturkonservativismus hin. Nach ihm erscheint in Vita

activa letzterer und dagegen zeigt sich in Über Revolution Arendts radikaldemokratisches

Denken.133

Um dieser Frage näher zu kommen, müssen wir uns hier dem Arendtschen Ver-

ständnis der politischen Elite und Masse zuwenden.

Das klassische Elitenkonzept geht von der Annahme aus, dass es die überlegenen Wenigen

in den politischen Angelegenheiten gäbe. Die Massen bilden demnach eine potentielle Be-

drohung der Demokratie; die Eliten seien ihre Verteidiger. Unter dieser Annahme bedeutet

Demokratie allein, „daß das Volk die Möglichkeit hat, die Männer, die es beherrschen sol-

len, zu akzeptieren oder abzulehnen.“134

Die Existenz der Eliten sei der beste Schutz vor

dem Umschlag der Demokratie in Totalitarismus, während die Politisierung von Massen als

Krisensymptom gilt. Uns geht es zuerst um die Frage, ob Arendt diese „Ideologie“135

mit

der Theorie der Eliten-Demokratie teilt, also ob Arendt die Masse in der Differenzierung

von elitären Wenigen versteht und ob Arendts Rede von Masse auf „dem Vorurteil der alt-

europäischen Tradition gegen die Vielen“ oder auf der Geistesaristokratie beruht.136

Allerdings spricht Arendt von der politischen Elite, die sie definiert als diejenige, die die

politischen Leidenschaften besitzen und besaßen.137

Trotzdem versteht sie den Begriff der

Elite nicht in der Sicht der Unterscheidung zwischen den Vielen und den Wenigen, die auf

dem traditionellen Misstrauen politischer Philosophie gegenüber der menschlichen Plurali-

tät beruht. Masse steht für sie nicht im Kontrast zu gebildeten Wenigen. Sie vertritt die The-

se, dass die Massen weder aus der modernen Gleichheit der Bildung noch aus der Emanzi-

pation der Klassen noch aus der Uniformierung der Lebensumstände entstehen. Die Massen

setzt sie nicht mit der Unterschicht oder den Benachteiligten gleich. Für sie können die

Massen aus allen Klassen kommen. Die Eigenschaft der Massen und ihre Mentalität finden

sich weder in ihrer Dummheit noch in ihrer Quantität noch in ihrem materiellen Elend.138

Es gilt Arendts Ansicht zufolge als ein Irrtum, dass man „mit einer klaren Gegnerschaft

zwischen den Massen und den Gebildeten“139

in der Massenbewegung rechnet. Vielmehr

133

Söllner, 1990, S. 218f. 134

Schumpeter, 1972, S. 452. 135

Im Vorwurf des Elitenkonzepts Schumpeters hält Peter Bachrach die Unterstellung der überlegenen Eliten

für die Ideologie: „Diese allgemeine Theorie möchte über aller Ideologie stehen, ist aber in Wirklichkeit

tief in einer Ideologie verwurzelt – einer Ideologie, die im tiefen Mißtrauen gegenüber der Mehrheit ge-

meiner Männer und Frauen und im Vertrauen in die etablierten Eliten, daß diese die zivilen Werte und

Spieregeln der Demokratie bewahren, begründet ist.“ (Bachrach, 1970, S. 111). 136

Brunkhorst, 1999, S. 87. 137

Vgl. ÜR, S. 355. 138

Vgl. Sartori, 1992, S. 36. 139

EU, S. 681; vgl. Canovan, 1978, S. 10.

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103

seien die Intellektuellen von der Massenbewegung ebenso stark angezogen wie alle ande-

ren, weil die Eliten wie die Massen „aufs engste mit den Problemen und der Mentalität der

heimatlos gewordenen Massen verbunden waren.“140

Entgegen allen konservativen Vorstel-

lungen, der zufolge der Begriff der Massen oft abwertend als dumme Masse gebraucht

wird, sei „die Masse nicht das Resultat der neuen Gleichheit und Gleichmacherei, der be-

wussten Einebnung aller Klassenunterschiede, wie sie von den Revolutionen des 18. Jahr-

hunderts geplant war, der Verbreitung der Volksschulbildung und der damit verbundenen

Senkung des Bildungsstandards und der Popularisierung der Bildungsinhalte.“ Arendt führt

fort: „Die Vereinigten Staaten, wo die Gleichheit vor dem Gesetz von vornherein mit einer

so außerordentlichen Gleichheit der Lebensbedingungen und Uniformierung verbunden

war, daß es trotz der rapiden kapitalistisch-industriellen Entwicklung des Landes niemals

zur Formierung einer Klassengesellschaft im europäischen Sinne gekommen ist, kennen

zwar alle kulturellen Nachteile der Gleichmacherei und des Fehlens einer Bildungsaristo-

kratie, haben aber dafür die vielleicht geringste Erfahrung mit der Formation moderner

Massen und dem Entstehen einer Massenpsychologie“.141

Der Verdacht auf den Elitismus des Arendtschen Denkens beruht vor allem darauf, dass sie

in der Feststellung des Rätesystems von der politischen Elite spricht. Dabei unterscheidet

Arendt die Räteelite, die „nicht von oben nominiert und von unten unterstützt, sondern frei

von ihresgleichen gewählt“142

ist, von der Parteielite, die in dem Parteisystem nach unpoliti-

schen Maßstäben oder Karrieren gewählt wird.143

Im Hinblick auf diese Unterscheidung übt

Arendt harte Kritik an der Parteielite. Politik sei im Ansatz der Parteielite als eine Karriere

von Berufspolitikern konzipiert. Sie beschränkt sich so eng auf einige wenige Individuen,

dass sie zu Angelegenheiten privilegierter Eliten wird. Arendt bezeichnet die Parteielite als

den „gründlich missverständlichen und missbrauchten Namen der Elite“ und versucht, die-

sem Namen zu entsagen, weil der Begriff der Parteielite „die Vielen aus dem politischen

Bereich prinzipiell ausschließt, obwohl politische Angelegenheiten eigentlich nicht nur die

Vielen, sondern schlechterdings alle Einwohner eines Territoriums angehen“.144

Hier ist das

Arendtsche Misstrauen gegenüber dem modernen Parteisystem entscheidend. Die Partei sei

ein System, das „mit ihrem Monopol der Nominierung derer, die überhaupt zur Wahl ge-

stellt werden, nicht mehr als Organe der Volksmacht anzusehen sind, sondern vielmehr als

die sehr wirksamen Hilfsmittel, durch welche eben diese Macht des Volkes eingeschränkt

140

EU, S. 682; vgl. Llanque, 2007, S. 200f. 141

EU, S. 681. 142

ÜR, S. 357. 143

Vgl. ÜR, S. 354ff. 144

ÜR, S. 354f.

Page 106: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

104

und kontrolliert wird.“145

Im Parteisystem bedeutet die Politik die Herrschaft der Parteieli-

ten.146

Im Gegensatz dazu ist die politische Räteelite „die einzige echte, aus dem Volke stammen-

de Elite“, die „die früheren Geburts- und Besitzeliten ersetzt und verdrängt“.147

Die Räteeli-

ten „verdanken auf allen Stufen ihre Wahl ausschließlich dem Vertrauen von ihresglei-

chen“148

. Für Arendt ist politische Elite der Mensch, der wirklich an öffentlicher Freiheit

und öffentlichen Angelegenheiten interessiert ist.149

In diesem Zusammenhang sagt Arendt:

„Nur wer an der Welt wirklich interessiert ist, sollte eine Stimme im Gang der Welt ha-

ben.“150

Aber dieser Satz lässt sich nicht als Beschränkung der politischen Teilhabe und

damit nicht als Verlangen nach der Herrschaft der Wenigen interpretieren. Was Arendt aus-

sagen wollte, ist nur, dass die Bildung der politischen Elite mit dem freiwilligen „Fernblei-

ben von öffentlichen Geschäften“151

zu tun hat. Ihre Unterscheidung zwischen Räteelite und

Parteielite verweist nicht auf die Bildung der Elite selbst, sondern auf die Art und Weise der

Elitenbildung.152

Dann widerspricht die Elitenbildung keinem demokratischen Partizipati-

onsprinzip, weil die notwendige Vorbedingung der Bildung der Räteelite „das Streben nach

einer möglichst unmittelbaren, weitgehenden und unbeschränkten Teilnahme des Einzelnen

am öffentlichen Leben“ ist.153

Arendts Sympathie für das Rätesystem ist nicht als aristokra-

tische oder antidemokratische Haltung zu verstehen, sondern vielmehr als partizipatorische

Konzeption von Bürgerschaft und zwar als „Demokratischen Extremismus“154

: Zum politi-

schen Raum soll das ganze Volk Zugang haben, das in der Demokratie ja letzter Träger der

politischen Verantwortung ist.

Im Mittelpunkt jeder Untersuchung über Eliten und Masse steht die Frage nach dem Ver-

hältnis von Masse und politischer Macht. Dabei sind die Eliten durchgängig als „Machtträ-

145

ÜR, S. 347; dazu auch Abschnitt III, 3.1. 146

Diese Perspektive wird von Schumpeter betont: „die Demokratie ist die Herrschaft des Politikers“

(Schumpeter, 1972, S. 452). 147

ÜR, S. 357. 148

ÜR, S. 358. 149

Arendt sieht das Hauptmerkmal der Räteelite „im Mut, dem Verfolg des öffentlichen Glücks, dem Ge-

schmack an öffentlicher Freiheit, dem Streben nach Auszeichnung unabhängig von Amt, Würden und ge-

sellschaftlicher Stellung, ja sogar von Erfolg und Ruhm“ (ÜR, S. 355). 150

ÜR, S. 360. 151

Vgl. ÜR, S. 360. 152

ÜR, S. 355. 153

ÜR, S. 338; vgl. auch Arendt, 1976, S. 66f.; damit verbunden weist Heuer hin: „In diesem Sinn läßt sich

auch nicht die Entstehung einer politischen Elite leugnen, bloß weil sie vermeintlich den demokratischen

Grundlagen widerspricht. Das Problem besteht nicht darin, ob Elite und demokratischer Anspruch mitei-

nander vereinbar werden können, sondern wie. Wenn unter Elite nicht eine Gruppe verstanden wird, deren

Sonderinteressen auf privilegierte Weise und womöglich auf Kosten der Allgemeinheit verwirklicht wer-

den, sondern die sich umgekehrt aus Lust am Handeln und nicht rein persönlichen Vorteilen dem öffentli-

chen Raum zuwendet, dann widerspricht das nicht dem demokratischen Prinzip.“ (Heuer, 1992, S. 378). 154

Besier, 2006a.

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105

ger“155

verstanden, wobei Macht im Weberschen Sinne die Chance bedeutet, innerhalb ei-

ner sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen. So

identifiziert sich die Elite mit der „herrschenden Klasse“ oder der „politischen Klasse“.156

Harold Lasswell beispielsweise definiert die politische Elite als „die Machthaber eines poli-

tischen Körpers“ und stellt im Folgenden fest: „Die Elite sind diejenigen mit der größten

Macht in einer Gruppe, Mittelelite die mit weniger Macht, die Masse die mit der geringsten

Macht.“157

Nach dieser Argumentation gilt eine Zunahme des Machtpotenzials der Masse

oder die ausgedehnte Partizipation der Masse an Machtausübung als Krisensymptom wie

Phänomen von Totalitarismus.158

Die Macht der Masse stelle eine zivilisationsgefährdende

Entwicklung dar. Diese Annahme ist ganz anders als die Schlussfolgerung, die Arendt

durch die Analyse des Massenphänomens ziehen wollte.

In unserem Zusammenhang ist es selbstverständlich, dass für Arendt Masse an sich nicht als

etwas Bösartiges verstanden wird, sondern als eine demokratische potentielle Machtquelle.

Wie wir sehen werden, ist es bemerkenswert, dass Arendt die Grundbedingung der Macht

in der Anwesenheit zahlreicher Menschen findet.159

Im Blick auf die politische Macht teilt

Arendt kein traditionelles und aristokratisches Misstrauen gegenüber der Menge; die Menge

gefährde die Freiheit, während die Elite „als wichtigster Hüterin des Systems gilt“.160

Was

einen politischen Körper herausbildet, ist für Arendt das Machtpotential, das sich in der

menschlichen Menge befindet. Im Gegensatz zur konservativen Haltung, die Macht und die

Masse grundlegend voneinander zu unterscheiden, sind beide für Arendt zwei Seiten einer

Medaille.161

Das bedeutet, dass die politische Aktion der Massen nicht notwendig zum To-

talitarismus führt. Geschichtlich betrachtet machte die spontane Massenaktion oft Revoluti-

on möglich und stürzte Regierungen. Als Vorbild der vielen Revolutionstheoretiker ist die

spontane Massenaktion als ein Handlungssubjekt die Quelle der Macht.162

Arendt übersieht

auch die revolutionäre Kraft der Masse nicht. Für sie ist die Masse im Plural Machtsubjekt.

155

Jaeggi, 1967, S. 13. 156

Das kommt zum Ausdruck im berühmten Diktum von Mosca: „In allen Gesellschaften, von den primitivs-

ten im Aufgang der Zivilisation bis zu den vorgeschrittensten und mächtigsten, gibt es zwei Klassen, eine,

die herrscht, und eine, die beherrscht wird. Die erste ist immer die weniger zahlreiche, sie versieht alle po-

litischen Funktionen, monopolisiert die Macht und genießt deren Vorteile, während die zweite, zahlrei-

chere Klasse von der ersten befehligt und geleitet wird“ (Mosca, 1950, S. 52ff.; zit. nach Jaeggi, 1967, S.

27). 157

Lasswell, 1950, S. 201; zit. nach Bachrach, 1970, S. 84. 158

Vgl. Bachrach, 1970, S. 89. 159

Der Begriff „Masse“ bedeutet zuerst eine Ansammlung von Menschen (vgl. Pankoke, 1980, S. 828-832). 160

Bachrach, 1970, S. 46. 161

Vgl. Vowinckel, 2001, S. 79; auch Klein/Nullmeier (Hrsg.), 1999, S. 151. 162

Vgl. Habermas, 1990, S. 184.

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106

Es ist bemerkenswert, dass Arendt der Vorstellung Rosa Luxemburgs, Masse sei Machtsub-

jekt, folgt.163

1.3.2 Massen und Totalitarismus

Die Gefahr der Massengesellschaft enthüllt sich aufs extremste im Phänomen des Totalita-

rismus. Man sollte nicht vergessen, dass die Arendtsche Überlegung über die Massen und

die Massengesellschaft den Schock der Machtergreifung des Totalitarismus widerspiegelt.

Die totalitäre Herrschaft am Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt Arendt zufolge die Mög-

lichkeit, die Masse zur Basis der eigenen Machtansprüche zu machen. Sie könnte nicht

gänzlich ohne Basis der Masse existieren: „Was immer wir von der Hitler- und der Stalin-

Diktatur wissen, deutet darauf hin, daß die Isolierung und Atomisierung, welche der totalen

Herrschaft ihre Massenbasis verschaffen, sich bis in die Spitze der Führung fortsetzen und

daß der Führer auch im intimsten Kreise niemals als ein Primus inter pares auftritt.“164

Im Blick auf das Verhältnis zwischen Massen und Totalitarismus geht es bei Arendt um die

Antwort auf die Frage, warum und wann sich Masse in ein passives, manipulierbares Ob-

jekt der totalitären Ideologie verwandelt. Warum ist das Machtpotenzial der Masse perver-

tiert und daraus auf die Unterstützung der totalitären Herrschaft hinausgelaufen?165

Damit

versucht sie, zu zeigen, unter welchen Bedingungen sich die Masse als eine Ansammlung

von Menschen qualitativ verändert und sich in einen Nährboden für die totalitären Bewe-

gungen verwandelt: „Potentiell existieren Massen in jedem Lande und zu jeder Zeit; sie

bilden sogar zumeist die Mehrheit der Bevölkerung auch sehr zivilisierter Länder“.166

Bei

der Ursache des Massenphänomens handelt es sich ihr zufolge um die eigentümlichen Be-

dingungen der Massen, und nicht um „die Masse als solche“,167

die die ontologisch geistli-

che wie praktische Neigung verinnerlicht.168

Ihr Verständnis von Masse als historischem

und politischem Phänomen muss daher vom durchschnittlichen anonymen „Man“ im fun-

damentalontologischen Sinne Heideggers und auch von der Massenpsychologie unterschie-

den werden. 169

Für Arendt ist Masse die bestimmte zugrunde liegende Erfahrung der Zeit,

wo die politische Pluralität verfällt.

163

Vgl. MG, S. 178 und MfZ, S. 65; vgl. Heuer, 1992, S. 285; Kulla, 1999, S. 46. 164

EU, S. 846. 165

Aber das bedeutet keine existentielle Manipulierbarkeit der Massen. Arendts Überlegung hat nur mit der

Veränderbarkeit der menschlichen Bedingungen und Fähigkeiten zu tun. 166

EU, S. 668. 167

Kleger, 1997, S. 91; vgl. Crick, 1979, S. 221. 168

Vgl. Gasset, 1949, S. 8f. 169

Vgl. Benhabib, 1998, S. 121.

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107

Auf die Entstehung der europäischen Massen bezogen formuliert Arendt ihre starke These:

„Das Hauptmerkmal der Individuen in einer Massengesellschaft ist nicht Brutalität oder

Dummheit oder Unbildung, sondern Kontaktlosigkeit und Entwurzeltsein.“170

Anders ge-

sagt beruht die totalitäre Masse nur darauf, dass Menschen sich von den Erfahrungen ab-

trennen, „die nur in Anwesenheit anderer gültig“ sind.171

In diesem Licht betrachtet sind

Massen Menschen, die keine bestimmten Vorgegebene erhalten, sondern unter bestimmten

Bedingungen leben, also in Beziehungslosigkeit und Weltlosigkeit. Dies bedeutet die Zer-

störung der politischen Pluralität und der Mitmenschlichkeit. In der Zerstörung der politi-

schen Pluralität verschwinden die politischen Fähigkeiten des Menschen, weil die politische

Fähigkeit des Menschen nicht auf dem Intellekt beruht, sondern auf der Pluralität der Han-

delnden oder auf dem menschenwürdigen Verkehr mit anderen. Hier wird klar, dass die

Arendtsche Kritik an der Masse nichts mit der intellektuellen Unfähigkeit der Massen zu

tun hat und dass Arendt in der Vorstellung der Masse kein aristokratisches Vorurteil hat.172

Es gibt die totalitäre Masse. Der Totalitarismus sei, wie Arendt meint, überall da möglich,

wo Massen existieren, die nach politischer Organisation verlangen.173

Aber im Gegensatz

zu den auf Dauer angelegten politischen Verbänden ist die Organisation der Masse amorph,

ephemer und strukturlos. Die eigentümliche Form der politischen Organisation der totalitä-

ren Massenmenschen ist die Bewegung. Daher seien „totalitäre Bewegungen“ „Massenbe-

wegungen“.174

Diese Bewegung folgt dem außer- oder übermenschlichen Bewegungsge-

setz, für das die Ideologie die Rechtfertigung liefert: „Zwar sind seine Bewohner alles in

freier Spontaneität entspringenden Handelns oder auch nur Tätigseins beraubt; dennoch

werden sie in dauernder Bewegung gehalten als Exponenten des gigantisch übermenschli-

chen Prozesses von Natur und Geschichte, der durch sie hindurchrast.“175

In diesem Zusammenhang sieht Arendt den Grundcharakter des Totalitarismus nicht im

herrschaftsstrukturellen Ansatz, sondern in der Strukturlosigkeit.176

Die Strukturlosigkeit

der totalen Herrschaft zerstört durch ihren Charakter permanenter Dynamik „alles Verant-

170

EU, S. 682. 171

DU, S. 86. 172

Vgl. Kleger, 1997, S. 91. 173

EU, S. 667. 174

EU, S. 663. 175

EU, S. 953; „Dieser Prozeß-Begriff (…) läßt in seiner vollen Ausprägung alle einzelnen Dinge und Ereig-

nisse, überhaupt alles, was sichtbar und greifbar ist, zu Exponenten werden, denen keine andere Bedeu-

tung zukommt, als die Existenz unsichtbarer Kräfte anzuzeigen, und deren Sinn darin besteht, bestimmte

Funktionen innerhalb des Prozesses zu erfüllen.“ (ZVZ, S. 80). 176

Vgl. EU, S. 700f und 827f.; vgl. Rensmann, 2004, S. 372; Pohlmann, 1998, S. 223; Esse, 1998, S. 11;

Söllner, 2006, S. 117.

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108

wortungsbewusstsein und alle Sachkenntnis“177

. Der Totalitarismus bezeichnet sich daher

als Dynamik der Zerstörung der politischen Beziehung und des öffentlichen Raums. Die

Gefahr dieser Strukturlosigkeit liegt darin, dass vermasste und isolierte Individuen leicht

der ideologischen Manipulation ausgesetzt sind: „(Totalitäre Herrschaft) zerstört einerseits

alle nach Fortfall der politisch-öffentlichen Sphäre noch verbleibenden Beziehungen zwi-

schen Menschen und erzwingt andererseits, daß die also völlig Isolierten und voneinander

Verlassenen zu politischen Aktionen (wiewohl natürlich nicht zu echtem politischem Han-

deln) wieder eingesetzt werden können.“178

Die Analyse des geschichtlichen und politischen Phänomens der Massen bietet einen Leit-

faden für Arendts gesamte politische Theorie an, weil Urteilskraft und Handlungsvermögen,

die nicht das „Vorrecht der wenigen, sondern eine stets bereitliegende Fähigkeit jedes Men-

schen“179

darstellt, in der Massengesellschaft drastisch gefährdet sind. In der Massengesell-

schaft herrscht das „Prinzip der Isolierung“180

, und daraus entstehen die Phänomene der

dynamischen Destabilisierung der Welt und der Atomisierung der Individuen, also Weltlo-

sigkeit und Selbstlosigkeit. In der Feststellung, dass die Vernichtungsintentionen der totalen

Herrschaft „den Erfahrungen moderner Massen von ihrer eigenen Überflüssigkeit in einer

übervölkerten Welt und der Sinnlosigkeit dieser Welt selbst“181

entspricht, skizziert Arendt

offensichtlich einen Zusammenhang zwischen der modernen Massengesellschaft und dem

totalitären Regime. Heilung gibt es hier nur, wenn die politische Öffentlichkeit für die Be-

teiligung an den gemeinsamen Angelegenheiten und für das Zusammenhandeln existiert.

1.3.3 Masse und Human Condition

1.3.3.1 Weltlosigkeit

Arendts politisches Denken ist, wie wir bereits gesehen haben, eigentlich von der Sorge um

die gemeinsame Welt motiviert. „Die Welt liegt zwischen Menschen und, dies Zwischen –

vielmehr als, wie man häufig meint, die Menschen oder gar der Mensch – ist heute der Ge-

genstand der größten Sorge und der offenbarsten Erschütterung in nahezu allen Ländern der

Erde“.182

Der Begriff Weltlosigkeit hat auch eine doppelte Bedeutung: Gemeint ist damit

177

EU, S. 849. 178

EU, S. 975; in diesem Licht nennt Habermas Arendts Äußerung über den Totalitarismus „die kommunika-

tionstheoretische Deutung des Totalitarismus“ (Habermas, 1998c, S. 446). 179

DD, S. 190. 180

VA, S. 256. 181

EU, S. 938. 182

MfZ, S. 12.

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109

einerseits das Verschwinden einer beständigen und damit verlässlichen Welt und anderer-

seits das Verschwinden des Vertrauens in die Wirklichkeit der Welt bestimmter Menschen-

gruppen.183

Weltlosigkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass „jeder in seine Subjektivität wie in eine Iso-

lierzelle“ zurücktritt.184

Die vermassten weltlosen Individuen sind von ihren Mitmenschen

völlig isoliert, obwohl sie physisch nicht voneinander getrennt sind. In Arendts Sinne hat

die Pluralität der Menschen mit einem Miteinander der Menschen und nicht mit einem ein-

fachen Nebeneinander zu tun, nämlich nicht mit „einer Masse von ungebundenen Indivi-

duen“.185

Daher definieren sich Massenmenschen für Arendt als „Individuen, zwischen de-

nen eine gemeinsame Welt in Stücke zerfallen ist.“186

Die Masse existiert in der eigentlich

weltlosen Beziehung zwischen Mensch und Mensch. „Die totalitären Bewegungen sind

Massenorganisationen atomisierter und isolierter Individuen“.187

Unter diesen Umständen

zeichnet sich eine Verarmung der Vielfalt der weltlichen Perspektiven aus.

Für Arendt gilt es aufzuzeigen, weshalb die Masse in den Zustand der Atomisierung verwi-

ckelt wird und wie sie trotz dieser Atomisierung zu einer neuen Einheit wie Massenbewe-

gung zusammengefasst wird. Die Masse ist für Arendt das politisch neue Phänomen des 20.

Jahrhunderts in Europa, wo die „Atmosphäre der allgemeinen Zersetzung einer bereits ato-

misierten Gesellschaft“188

herrschte. Ihrer Ansicht zufolge entsteht die spezifische Mentali-

tät der Massen in Europa durch drei Elemente: Zusammenbruch des Klassen- und Parteisys-

tems und der Staatslosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg. Vor allem der Untergang der Klas-

sengesellschaft, die aus Gruppen mit gleichen Interessen besteht, hatte unmittelbaren Ein-

fluss auf die Entstehung der modernen Massengesellschaft. Das Hauptmerkmal der Mas-

senmenschen ist, „daß sie keinem sozialen oder politischen Körper mehr angehören, son-

dern ein wahres Chaos individueller, nicht transformierbarer Interessen darstellen.“189

Im

Gegensatz zu den Klassen der Gesellschaft werden Arendts Ansicht zufolge die Massen

nicht durch das Streben nach gemeinsamen Zielen und Interessen zusammengehalten.

183

Mit dem Begriff der Weltlosigkeit verweist Arendt auf einen Zustand, „in dem Menschen zusammenle-

ben, ohne irgend etwas miteinander gemein zu haben, ohne irgendeinen sichtbaren, greifbaren Bereich der

Welt miteinander zu teilen“ (Arendt, 2004, S. 47). 184

VA, S. 72f. 185

„Die Reduktion des Pluralen auf den Singular, die im totalitären Regime bewerkstelligt wird, können wir

nur begreifen, wenn wir die Vielheit nicht mit der Menge, das heißt mit einer Masse von ungebundenen

Individuen verwechseln, sondern in dieser Vielheit das Merkmal der Entfaltung einer Bürgergesellschaft,

ihrer Differenzierung und der diese begleitenden Kreativität erkennen.“(Lefort, 1997, S. 50). 186

EU, S. 685. 187

EU, S. 697; „Wie sehr gerade die eigentümliche Individualisierung und Automisierung der modernen

Massengesellschaft notwendig ist, um totalitäre Herrschaft überhaupt zu ermöglichen (…)“ (EU, S. 685). 188

EU, S. 678. 189

EU, S. 739.

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110

Arendt spricht davon deutlich: „Massen werden nicht von gemeinsamen Interessen zusam-

mengehalten, und ihnen fehlt jedes spezifische Klassenbewusstsein, das sich bestimmte,

begrenzte und erreichbare Ziele setzt. Der Ausdruck ‚Massen‟ ist überall da zutreffend, und

nur da, wo wir es mit Gruppen zu tun haben, die sich, entweder weil sie zu zahlreich oder

weil sie zu gleichgültig für öffentliche Angelegenheiten sind, in keiner Organisation struk-

turieren lassen, die auf gemeinsamen Interessen an einer gemeinsam erfahrenen und verwal-

teten Welt beruht, also in keinen Parteien, keinen Interessenverbänden, keinen lokalen

Selbstverwaltungen, keinen Gewerkschaften, keinen Berufsvereinen.“190

Mit der Betrachtungsweise, der Zusammenbruch der Klassengesellschaft sei eine der ent-

scheidenden Vorbedingungen für die Nazibewegung gewesen, wollte Arendt aber nicht die

Klassengesellschaft, also die hierarchische Ständegesellschaft, verteidigen. Was Arendt

aufzeigen will, ist, dass die gesellschaftliche und politische Ordnung von Nationalstaat wie

Klassen- und Parteisystem ihre politische Unfähigkeit in sich getragen hat.191

Sie kritisiert

den unpolitischen Charakter der im Klassensystem und Parteisystem entwickelten Formen

der politischen Repräsentanz, „welche verhinderten, dass sich ein politisches Bewußtsein

entwickelte, bei dem jeder Bürger sich mehr oder minder verantwortlich für die Abwick-

lung der Regierungsgeschäfte gefühlt hätte.“192

Diese politische Unfähigkeit der Einzelnen

im nationalstaatlichen Politiksystem wurde klar gesehen, als die gesellschaftliche Struktu-

riertheit mit dem Zusammenbruch der Klassengesellschaft zerstört wurde.193

Entscheidend

ist, dass das Klassensystem im Nationalstaat die einzige traditionelle Form sozialer Asso-

ziationen war. Unter solcher Zerstörung der gesellschaftlichen Struktur konnten die demo-

kratischen Institutionen wie das Parteisystem nicht funktionieren und daher gab es keine

andere Alternative zu der politischen und gesellschaftlichen Ordnung als die totalitäre Be-

wegung, während die vormalige Klassenzugehörigkeit die Masse „vor den schlimmsten

190

EU, S. 667f.; im Gegensatz dazu hält Kershaw den Nationalsozialismus sowohl im Entstehungs- als auch

in der Regimephase für klassespezifisch. So stellt er fest: „Arendts Hauptargument, mit dem sie das An-

wachsen des Totalitarismus erklärt – Klassen würden durch Massen ersetzt und es entstehe eine Massen-

gesellschaft – ist eindeutig fehlerhaft“ (Kershaw, 1985, S. 50). 191

„Arendt interessiert sich (…) für die Ursprünge der totalen Herrschaft in der parlamentarischen Demokra-

tie“ (Schindler, 2000, S. 265). 192

EU, S. 676. 193

Aus diesem Grund bezeichnet Arendt die Masse als das politische Phänomen. Sie ist der Meinung, dass

die Grundlage der Massenbewegung in unvollkommenen politischen und sozialen Einrichtungen liegt. In

der Tat verdankt die Massenbewegung, so meint Arendt, „dem tiefen Mißtrauen gerade des Volkes gegen

das Parteiensystem und die von den Parteien gelenkte Repräsentation im Parlament.“ (ÜR, S. 348). In die-

ser Bedingung wurde die Verwandlung von Völkern in Massen vollzogen. Arendt konstatiert, „daß es um

so leichter für die Bewegung sein wird, nicht nur an das Volk zu appellieren und es zu organisieren, son-

dern es in eine Masse zu verwandeln, je offensichtlicher das Scheitern des Parteiensystems und die Kor-

ruption des Parlaments an den Tag getreten sind.“ (ÜR, S. 348).

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111

Auswirkungen der Atomisierung und Konkurrenz“194

schützen konnte. Die Zersetzung die-

ses Klassensystems führte „nicht zur Konstitution potentiell revolutionärer negativer Kol-

lektivitäten, also zu kritischen Massen, sondern zum vollständigen Verlust jeder möglichen

Gemeinschaft“.195

Damit findet eine fortschreitende Vermassung aller gesellschaftlichen

Strukturen statt. Nach der Zersetzung des Klassensystems und des von ihm entwickelten

Parteisystems kam Arendt zufolge die totalitäre Regierungsform als Interessenvertreter aller

Klassen ans Licht.196

Kurz ausgedrückt erschien Totalitarismus im Lauf der Zerstörung so-

zialer Beziehungen und der staatlichen Ordnung, und aufgrund dieser politischen und sozia-

len Strukturlosigkeit findet Masse die einzige politische Form in der totalitären Bewegung.

Die Auflösung des Klassensystems läuft natürlich auf die Zerstörung des Parteiensystems,

durch das sich Gruppeninteressen öffentlich repräsentieren, hinaus, „weil diese Parteien

wirklich Interessenparteien waren, so daß ihnen nun gleichsam keine Interessen mehr zur

Verfügung standen, die sie repräsentieren konnten“.197

Das Vakuum, das von dem Zusam-

menbruch der Klassengesellschaft geschaffen wurde, wird durch die totalitäre Bewegung

der Masse erfüllt. Die totalitäre Massenbewegung vertritt kein partikuläres Interesse, son-

dern verkörpert vielmehr den notwendig ablaufenden historischen Prozess, der als unwi-

derstehlich betrachtet wird.198

Die weltlosen Menschen, die im Zusammenbruch des Klas-

sensystems und Parteisystems produziert werden, finden in den totalitären Bewegungen ihre

neue Richtung: „Je unklarer und irrealer die Klassenbasis der Parteien wurde, desto mehr

entwickelten sie sich in der Richtung der Weltanschauungsparteien, einer Richtung, die

ihnen aus ihrer früheren Existenz keineswegs unbekannt war, die aber jetzt eine ganz andere

Bedeutung erhielt.“199

Für das Phänomen der Weltlosigkeit ist die Verantwortungslosigkeit charakteristisch. Die

Realität und Kontinuität der Welt sind die Voraussetzung des politischen Handelns des

Menschen zur Verantwortung für seine Taten. Der Begriff der Verantwortung kann nur dort

entstehen, wo man in den gemeinsamen Angelegenheiten etwas entscheidet und handelt.

Die Verantwortlichkeit für die Welt ergibt sich immer aus dem Handeln mit Mitmenschen.

Zugleich bedroht die Weltlosigkeit „jene Solidarität von Menschen untereinander, welche

194

Balke, 2000, S. 221. 195

Balke, 2000, S. 225. 196

Bossle betont, dass es in totalitären Staaten keine Vielheit von Verbänden und Gruppierungen gibt. „Der

Mensch will nicht nur Emanzipation, er will noch mehr die Integration. Deshalb sieht er sich in der Di-

rektbeziehung Einzelner - Staat der Allgewalt eines totalen Staates ausgesetzt - und aus diesem Grunde

der Bedrohung seiner relativen Unabhängigkeit stürzt er sich im Verlangen nach integrativer Sicherheit in

Klassen-, Schichten-, Gruppen- und Verbandszugehörigkeit.“ (Bossle, 1976, S. 165). 197

EU, S. 676. 198

Vgl. EU, S. 950; ZZ, S. 30. 199

EU, S. 677.

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112

die Voraussetzung dafür ist, daß wir es überhaupt wagen können, die Handlungen anderer

zu beurteilen und abzuurteilen.“200

Auf die Weltlosigkeit bezogen entstehen der Solidari-

tätsverlust und die Verantwortungslosigkeit für die gemeinsame Welt gleichzeitig, weil die

Solidarität unter Bürgern aus der gemeinsamen Verantwortlichkeit für das eigene politische

Gemeinwesen entsteht. Solidarität ist weltorientiert.201

Anders gesagt sind Verantwortung

und Solidarität erst im Rahmen der gemeinsamen Welt möglich. In der Tat geht es der tota-

len Herrschaft darum, zu verhindern, dass sich irgendeine Solidarität zwischen den Angehö-

rigen der Massenbewegung bildet202

, weil sie eines der Prinzipien ist, „die das Handeln in-

spirieren und lenken.“203

Da die Solidarität sowohl die Verschiedenheit von Menschen als

auch die Einbeziehung der Anderen voraussetzt,204

kann die menschliche Pluralität erst in

der Solidarität garantiert werden. Arendt erläutert: „Positive Solidarität im Politischen kann

es nur geben auf Grund gemeinsamer Verantwortlichkeit. Bürger eines Landes zu sein

heißt, die Verantwortung für das, was öffentlich von der Regierung im Namen des Landes

getan wird, mittragen zu müssen, und zwar ganz unabhängig von individueller Schuld oder

Unschuld“.205

Aus diesem Grund gehört der Weltverlust oder die Weltlosigkeit, also der Zusammenbruch

ziviler, politischer und kultureller Vereinigungen und der Zustand der atomisierten Masse,

zu der entscheidenden Bedingung, die „die neuzeitliche Massengesellschaft für die An-

wandlungen der totalitären Herrschaft so anfällig macht.“206

1.3.3.2 Selbstlosigkeit

Eines der auffälligsten Phänomene der modernen Massengesellschaft bezeichnet Arendt

kurz und treffend als die „unheimliche Welt absoluter Selbstlosigkeit“.207

Sie vertritt die

These, dass die Zerstörung des aktiven Verhältnisses zu den Mitmenschen letztlich auf die

200

EU, S. 946. 201

In diesem Sinne bezeichnet Arendt die Solidarität als das politische Prinzip im Unterschied zum Mitleid,

das als „ein auf sich selbst reflektiertes Gefühl“ verstanden wird. Arendt meint: „Sowohl die leidenschaft-

liche Anteilnahme an fremden Leid wie die Perversion dieses echten Leidens in das gefühlsselige Mitleid

stehen außerhalb der Politik. Im politischen Raum entspricht ihnen die Solidarität, die sich nicht wie das

Mitleid zu den Schwachen hingezogen fühlt, sondern in abwägender Freiheit von Gefühl wie Leiden-

schaft darauf sinnt, eine von dem Wechsel der Stimmungen und Empfindungen unabhängige, dauerhafte

Interessengemeinschaft mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten zu etablieren.“ (ÜR, S. 112). 202

Vgl. EU, S. 847. 203

ÜR, S. 113. 204

Vgl. ÜR, S. 113. 205

MfZ, S. 96; vgl. Thaa, 1995, S. 417. 206

Vollrath, 1979b, S. 74; vgl. Benhabib, 1998, S. 102; Arendt stellt fest: „Hitler konnte seine Organisation

auf dem festen Grund einer bereits atomisierten Gesellschaft aufbauen, die er dann künstlich noch weiter

atomisierte“ (Arendt, 2004, S. 47). 207

EU, S. 739f.

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113

absolute Selbstlosigkeit hinausläuft, weil sich das Selbst in der engen Verknüpfung mit der

gemeinsamen Welt entwirft. Mit dem Verlust der gemeinsamen Welt haben die vermassten

Individuen das Gefühl, „daß es auf einen selbst nicht ankommt.“208

Selbstlosigkeit definiert

Arendt „als Gefühl (…), daß das eigene Selbst jederzeit und überall durch ein anderes er-

setzt werden kann“ und bezeichnet es als „ein allgemeines Massenphänomen“.209

Vor allem

in totalitären Bewegungen wird der selbstlose Massenmensch „jener fanatischen und jeder-

zeit zum Opfertod bereiten Ergebenheit fähig, die sich so deutlich von der Loyalität der

treuesten Mitglieder normaler Parteien unterscheidet“.210

Im für die totalitären Bewegungen charakteristischen Glauben an die höchsten Zwecke ge-

schichtlicher Gesetze und ihre Notwendigkeit werden sowohl Mitmenschen als auch das

Selbst des Handelns überflüssig. Das Wirklichkeitsgefühl des Selbst entsteht für Arendt nur

aus dem kommunikativen Zwischenraum, wo man darüber Aufschluss gibt, wer er ist. In

der Welt radikaler Selbstlosigkeit, wo der Mensch das Wirklichkeitsgefühl verliert, wird

das Individuum nur zu einem Funktionär: „Die spezifische Selbstlosigkeit des Massenmen-

schen erschien hier als eine Sucht nach Anonymität, nach reinem Funktionieren, nach Auf-

gehen in einem sogenannten größeren Ganzen – mit anderen Worten für jegliche Verwand-

lung, die dazu verhelfen könnte, die eigene, unechte Identität mit bestimmten Rollen und

vorgeschriebenen Funktionen in der Gesellschaft auszulöschen.“211

Die Selbstlosigkeit als „Phänomen eines radikalen Selbstverlustes“212

hat mit dem verbitter-

ten Egozentrismus zu tun und nicht mit moralischem und religiösem Altruismus. Der Ego-

zentrismus konnte Arendt zufolge keine gemeinsamen Interessen entstehen lassen.213

Hin-

sichtlich des Egozentrismus ist der Mensch nicht auf die gemeinsame Welt, sondern völlig

„aufs Biologische und auf sich selbst“214

zurückgeworfen. In diesem Sinne besagt der Ego-

zentrismus die absolute Selbstlosigkeit, die mit dem Phänomen der Weltlosigkeit verbunden

ist. 215

Das Selbst oder die Persönlichkeit besitzt das Individuum nicht von Natur, sondern

verdankt es vielmehr der Mitwelt.216

Den egozentrischen Zustand, in dem keiner mehr an-

208

EU, S. 679. 209

EU, S. 679; vgl. auch DU, S. 130. 210

EU, S. 739. 211

EU, S. 707. 212

EU, S. 680. 213

Vgl. EU, S. 679. 214

IWV, S. 68. 215

Vgl. Pross, 1979, S. 203-210. 216

Darauf weist Heuer zutreffend hin: „Das eigene Selbstbewusstsein beruht Arendt zufolge sowohl auf der

aktiven Beziehung zu anderen Menschen als auch auf der eigenen geistigen und politischen Unabhängig-

keit. Dieser Doppelaspekt prägte seitdem ihre politische Philosophie: einerseits ihre Abneigung gegenüber

jeglichem gesellschaftlichen Konformismus, andererseits ihre tiefe Ablehnung eines individualistischen

Politikverständnisses oder gar eines völligen Rückzugs ins Private.“ (Heuer, 1996, S. 110f.).

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114

dere sehen und hören oder von anderen gesehen und gehört werden kann, stellt Arendt als

Verlassenheit dar, in welcher menschliche Beziehungslosigkeit in der extremsten Form auf-

taucht. Der Menschenzustand der Verlassenheit entsteht, wenn „diese gemeinsam bewohnte

Welt auseinanderbricht und die miteinander verbundenen Menschen plötzlich auf sich

selbst zurückwirft.“217

Im absoluten Verlust der Welt und des Selbst glauben Menschen nicht mehr an die Realität

der sichtbaren Welt. Dabei basiert die Urteilskraft des Individuums nicht mehr auf den

wirklichen Erfahrungen und auf dem Interesse an den Mitmenschen, sondern auf „blinder

Subsumtion,218

oder auf dem „Prozess logischen Deduzierens“219

. Diese blinde Subsumtion,

nämlich Logik, macht Ideologie selbst aus. Die „Logik einer Idee“220

und alle Selbstevi-

denz, von der das logische Denken ausgeht, können für sich eine Gültigkeit beanspruchen,

welche von der Welt und dem anderen Menschen völlig unabhängig ist.221

Die Menschen,

die weltlos wie selbstlos sind, suchen nach dem Schutz eines Kollektivs oder einer Ideolo-

gie, weil sie alle Maßstäbe der Urteile, nämlich die gemeinsame Welt, Selbstvertrauen,

Gemeinsinn und die Perspektive, verlieren. An die Stelle des Selbst tritt das „Über-

selbst“222

. Damit sind die Individualität des Menschen und seine Spontaneität völlig zer-

stört. Arendt hält fest: „Die Bedingungen, unter denen wir uns heute im politischen Feld

bewegen, stehen unter der Androhung dieser verwüstenden Sandstürme. Ihre Gefahr ist

nicht, daß sie etwas Bleibendes errichten können. Totalitäre Herrschaft gleich der Tyrannis

trägt den Keim ihres Verderbens in sich. So wie Furcht und die Ohnmacht, aus der sie ent-

springt, ein antipolitisches Prinzip und eine dem politischen Handeln konträre Situation

darstellen, so sind Verlassenheit und das ihr entspringende logisch-ideologische Deduzieren

zum Ärgsten hin eine antisoziale Situation und ein alles menschliche Zusammensein ruinie-

rendes Prinzip“.223

Nun werden die Individuen nur zum passiven und manipulierbaren Ob-

217

EU, S. 977. 218

Adorno/Horkheimer, 1988, S. 211; zu Affinitäten, die sich hinsichtlich der Totalitarismusanalyse und

Massengesellschaftsanalyse Hannah Arendts und Theodor W. Adornos auftun, siehe Ahrens, 1995, S.

27ff. 219

EU, S. 975; „In dieser Verlassenheit gehen Selbst und Welt, und das heißt echte Denkfähigkeit und echte

Erfahrungsfähigkeit, zugleich zugrunde. An der Wirklichkeit, die keiner mehr verlässlich bestätigt, be-

ginnt der Verlassene mit Recht zu zweifeln; denn diese Welt bietet Sicherheit nur, insofern sie uns von

anderen mit garantiert ist.“ (EU, S. 977). 220

DTB, S. 193. 221

ZVZ, S. 121. 222

WE, S. 73. 223

EU, S. 978f.

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115

jektiv der Ideologie und der Propaganda. Schließlich werden die modernen Phänomene der

Weltlosigkeit und damit der Selbstlosigkeit ein Nährboden für die totalitäre Herrschaft.224

1.3.3.3 Überflüssigkeit

Verlassenheit oder Selbstlosigkeit in totalitärer Herrschaft ist aber nicht ein natürliches

Phänomen, sondern ein organisiertes.225

Die weltlosen und selbstlosen Menschen lassen

sich durch das Zusammenspiel der Ideologie und des Terrors als Grundlage von politischer

Organisation der totalitären Herrschaft in Massenbewegungen integrieren. In dieser organi-

sierten Art und Weise werden Menschen überflüssig gemacht. Der Versuch der totalen

Herrschaft, in den Konzentrationslagern als Ort des vollständigen Vollzugs totaler Herr-

schaft Menschen überflüssig zu machen, realisiert „die vollendete Sinnlosigkeit“226

des

Menschen selbst und der Welt. Diese Sinnlosigkeit des Menschenlebens selbst ist der Kern

der Entpolitisierung in der totalitären Herrschaft. Arendt schreibt: „Totale Herrschaft, die

darauf ausgeht, alle Menschen in ihrer unendlichen Pluralität und Verschiedenheit so zu

organisieren, als ob sie alle zusammen nur einen einzigen Menschen darstellten, ist nur

möglich, wenn es gelingt, jeden Menschen auf eine sich immer gleich bleibende Identität

von Reaktionen zu reduzieren, so daß jedes dieser Reaktionsbündel mit jeden anderen ver-

tauschbar ist.“227

Die Zerstörung menschlicher Pluralität findet in der radikalsten Weise im Konzentrations-

lager, das „die konsequenteste Institution der totaler Herrschaft“228

ausmacht, statt. Die

Konzentrationslager als „die radikalste Form der Negation einer pluralen Struktur der

Welt“229

dienen nach Arendt nicht nur der Vernichtung von Menschen, sondern auch der

Abschaffung der Pluralität der menschlichen Handlungen, weil die Pluralität der Handlun-

gen in ihrer Unberechenbarkeit „das größte Hemmnis der totalen Herrschaft über den Men-

schen“230

ist. Arendt stellt fest: „Menschen, sofern sie mehr sind als reaktionsbegabte Erfül-

lungen von Funktionen, deren unterste und daher zentralste die rein tierischen Reaktionen

bilden, sind für totalitäre Regime schlechterdings überflüssig. Worum es ihnen geht, ist

224

„Was moderne Menschen so leicht in die totalitären Bewegungen jagt und sie so gut vorbereitet für die

totalitäre Herrschaft“, schreibt Arendt, „ist die allenthalben zunehmende Verlassenheit. Es ist, als breche

alles, was Menschen miteinander verbindet, in der Krise zusammen, so daß jeder von jedem verlassen und

auf nichts mehr Verlaß ist.“ (EU, S. 978). 225

Vgl. EU, S. 979. 226

Arendt, Die vollendete Sinnlosigkeit, in: NA, S. 7-31. 227

EU, S. 907. 228

EU, S. 912. 229

Vowinckel, 2001, S. 98. 230

EU, S. 937.

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116

nicht, ein despotisches Regime über Menschen zu erreichen, sondern ein System, durch das

Menschen überflüssig gemacht werden. Totale Macht ist zu leisten und zu gewährleisten

nur, wenn es auf nichts anderes mehr ankommt als auf absolut kontrollierbare Reaktionsbe-

reitschaft, auf restlos aller Spontaneität beraubte Marionetten.“231

In dem Versuch, Menschen überflüssig zu machen, erkennt Arendt etwas „radikal Böses“.

Arendt verbindet „das radikal Böse“, das der Mensch dem Menschen antun kann und das

bisher uns unbewusst war, mit der Erfindung eines Systems, in dem alle Menschen glei-

chermaßen überflüssig gemacht werden.232

In einem Brief an Jaspers schreibt sie: „Was das

radikal Böse nun wirklich ist, weiß ich nicht, aber mir scheint, es hat irgendwie mit den

folgenden Phänomenen zu tun: Die Überflüssigmachung von Menschen als Menschen

(nicht sie als Mittel zu benutzen, was ja ihr Menschsein unangetastet lässt und nur ihre

Menschenwürde verletzt, sondern sie qua Menschen überflüssig zu machen).“233

Nach Arendt spielt sich dieses radikal Böse, den Menschen überflüssig zu machen, in drei

Stufen ab. In der ersten Stufe vollzieht sich „die Zerstörung der juristischen Person.“234

Im

allgemeinen Sinne versteht sich die Rechtsperson als Person, die Rechte und Pflichten ha-

ben kann. In den Konzentrationslagern haben die Insassen kein Recht. In der totalen Herr-

schaft werden „die Strafe und Verbrechen als abergläubische Restbände“ liquidiert.235

Im

zweiten Schritt dienen die Lager der Abtötung der moralischen Person. In den Konzentrati-

onslagern wird die moralische Entscheidung des Gewissens sinnlos. Diese Situation stellt

Arendt in folgender Formulierung deutlich fest: „Wie ein Mensch entscheiden soll, der vor

die Wahl gestellt wird, entweder seine Freunde zu verraten und damit zu ermorden oder

seine Frau und Kinder, für die er ja in jedem Sinne verantwortlich ist, dem Tode preiszuge-

ben, ist schlechthin nicht mehr auszumachen, vor allem dann nicht, wenn Selbstmord auto-

matisch Mord an der eigenen Familie bedeutet. Die Alternative ist hier nicht mehr zwischen

Gut und Böse, sondern zwischen Mord und Mord. Klarer wird die Situation noch an dem

Beispiel, das Camus zitiert: von der Frau in Griechenland, der die Nazis die Wahl überlie-

ßen, welches von ihren drei Kindern getötet werden solle.“236

In der letzten Stufe geht es

um die vollkommene Zerstörung der Individualität, die noch nach Tötung der moralischen

und juristischen Person übrig bleibt. Arendt sagt: „Denn die Zerstörung der Individualität

ist identisch mit der Ertötung der Spontaneität, der Fähigkeit des Menschen, von sich aus

231

EU, S. 937; in diesem Kontext bezeichnet Arendt das Konzentrationslager als „das richtunggebende Ge-

sellschaftsideal“ (EU, S. 908). 232

Vgl. Bernstein, 2004, S. 95. 233

BAJ, S. 202. 234

EU, S. 924. 235

Adorno/Horkheimer, 1988, S. 242. 236

EU, S. 930.

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117

etwas Neues zu beginnen, das aus Reaktionen zu Umwelt und Geschehnissen nicht erklär-

bar ist.“237

Politisch gesagt hängt die Zerstörung der individuellen Spontaneität mit dem

Absolutismus zusammen. Die Allmacht des Menschen entspricht der Ohnmacht der Men-

schen, die überflüssig gemacht wurden. Daher führt die totalitäre Vorstellung der Allmacht

Arendts Auffassung zufolge notwendigerweise zur Überflüssigkeit der Menschen.238

Zusammenfassend wollte Arendt keineswegs meinen, dass die menschlichen Situationen,

also Weltlosigkeit, Selbstlosigkeit und Überflüssigkeit, nur im Totalitarismus des zwanzigs-

ten Jahrhunderts in Erscheinung traten. Der Totalitarismus gehört „keiner abgeschlossenen

Vorgeschichte unserer Gegenwart“ an.239

Wo keine Anerkennung menschlicher Pluralität

existiert, könnte der Mensch immer überflüssig werden. Wenn Menschen unter den Bedin-

gungen moderner Gesellschaften weltlos und selbstlos werden, können sie jederzeit behan-

delt werden, als ob sie überflüssig wären.240

In diesem Sinne kann man in der Analyse der

Massen die außerordentlich zeitkritische Dimension des Arendtschen Denkens ablesen. In

einem Brief an Jaspers schreibt Arendt über die Gefahr der Massengesellschaft der Moder-

ne: „Was ich im Auge habe, sind totalitäre Entwicklungen aus dem Schoße der Gesell-

schaft, der Massengesellschaft selbst, ohne Bewegung und ohne feste Ideologie.“241

Im Ort,

an dem sich die Zerstörung von Handlungspluralität verwirklicht, würde für Arendt der

Beweis erbracht, dass „totale Herrschaft keine Utopie ist“.242

Die einzige Möglichkeit, diese

Drohung zu verhindern, besteht in der Anerkennung menschlicher Pluralität und in der Si-

cherung der Pluralität durch eine politische Gemeinschaft, in der Menschen miteinander

handeln und sprechen. Im Abschnitt „Die totale Herrschaft“ warnt Arendt uns: „So wie in

der heutigen Welt totalitäre Tendenzen überall und nicht nur in totalitär regierten Ländern

zu finden sind, so könnte diese zentrale Institution der totalen Herrschaft leicht den Sturz

aller uns bekannten totalitären Regime überleben.“243

237

EU, S. 935. 238

„Die Allmacht des Menschen macht die Menschen überflüssig.“ (BAJ, S. 202. Hervorhebung im Origi-

nal; vgl. DTB, S. 53). 239

Greven, 1999, S. 132. 240

„Die ungeheure Gefahr der totalitären Erfindungen, Menschen überflüssig zu machen, ist, daß in einem

Zeitalter rapiden Bevölkerungszuwachses und ständigen Anwachsens der Bodenlosigkeit und Heimatlo-

sigkeit überall dauernd Massen von Menschen im Sinne utilitaristischer Kategorien in der Tat überflüssig

werden. Es ist, als ob alle entscheidenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Tendenzen

der Zeit in einer heimlichen Verschwörung mit den Institutionen sind, die dazu dienen könnten, Menschen

wirklich als Überflüssige zu behandeln und zu handhaben.“ (EU, S. 942). 241

BAJ, S. 285. 242

EU, S. 935. 243

EU, S. 943.

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118

2. Die Form der menschlichen Beziehung in der Gesellschaft

Die Gesellschaft ist für Arendt mehr als nur ein Bereich des Lebens. Es ist eine Zusammen-

lebensform der modernen Menschen, es umfasst das Organisationsprinzip des öffentlichen

und privaten Lebens. Das Gesellschaftliche bewirkt auf verschiedene Weise Wandlung der

menschlichen Beziehungsform und der politischen Ordnung. Die gesellschaftliche Form der

Menschenbeziehung ist durch Egalität, Konformismus, Anonymität und Intimität gekenn-

zeichnet. Die gesamte gesellschaftliche Ordnung stellt sich als ein durch die Bürokratie or-

ganisiertes System dar. Die verschiedenen Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens, die

die Gesellschaft wesentlich von der Öffentlichkeit differenzieren, haben eine Gemeinsam-

keit darin, dass sie auf der Zerstörung politischer Pluralität basieren.1

2.1 Die konformistische Beziehung: Egalität

Die moderne Gesellschaft ist mit der Forderung nach Freiheit und Gleichheit zusammenge-

fallen. Wie Tocqueville gesehen hat, war die Gleichheit das bemerkenswerteste Kennzei-

chen der modernen Zeitalter.2 In dem naturrechtlichen abstrakten Menschenwesen, jeder

Mensch sei gleich geboren, wurde der Begriff moderner Gleichheit begründet. Mit dieser

Idee, dass alle Menschen als Gleiche geschaffen sind, versucht die moderne Gesellschaft,

Menschen gleich zu machen: „Das Gleichmachen ist aber der Gesellschaft unter allen Um-

ständen eigentümlich“.3

Die gesellschaftliche Gleichheit zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft, als Egalität

verstanden, ist nicht identisch mit der politischen Gleichheit. Die politische Gleichheit ist

„keineswegs eine der menschlichen Natur inhärente Gleichartigkeit“4, sondern unmittelbar

das Produkt des politischen Handelns und der politischen Meinung,5 denn Menschen seien

vielmehr von Natur aus „weder frei noch gleich“.6 Arendt beschreibt dies so: „Gleichheit ist

1 Vgl. VA, S. 51.

2 Vgl. Tocqueville, 1962, Bd. 2, S. 109; vgl. ZZ, S. 74.

3 VA, S. 52.

4 VA, S. 273.

5 An einer Stelle des Totalitarismusbuchs schreibt Arendt über die Perspektive der Gleichheit folgendes:

„Unter solchen Bedingungen hat die Gleichheit den Maßstab verloren, an dem sie gemessen, und die

transzendente Wirklichkeit, durch die sie erklärt werden konnte. Sie als das, was sie ist, zu erkennen,

nämlich als das Prinzip einer politischen Organisation, innerhalb deren ungleiche Menschen gleiche

Rechte haben, hat sich erheblich schwerer erwiesen, als der Optimismus des frühen 19. Jahrhunderts ge-

glaubt hat. Die modernen Massengesellschaften bieten zahllose Beispiele dafür, daß es erheblich näher

liegt, Gleichheit für eine angeborene Eigenschaft eines jeden Individuums zu halten, das ‚normal‟, ge-

nannt wird, wenn es ist wie jedermann, und ‚anormal‟, wenn es sich unterscheidet.“ (EU, S. 139). 6 ÜR, S. 36.

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119

nicht gegeben, und als Gleiche nur sind wir das Produkt menschlichen Handelns. Gleiche

werden wir als Glieder einer Gruppe, in der wir uns kraft unserer eigenen Entscheidung

gleiche Rechte gegenseitig garantieren“.7

Die politische Gleichheit existiert nur in diesem spezifisch politischen Bereich, wo Men-

schen als Bürger und nicht als Privatpersonen zusammenkommen. Sie ist „keine Attribute

einer wie immer gearteten menschlichen Natur, sondern Qualitäten einer von Menschen

errichteten Welt“.8 Die Vorstellung dieser Gleichheit findet Arendt „im Begriff der Isono-

mie, der gleichmäßigen Beteiligung aller Bürger an der Ausübung der Macht.“9 Aber das

bedeutet für Arendt keine exklusive Gleichheit eines bestimmten Bevölkerungsteils im Sin-

ne des klassischen Republikanismus. Die politische Gleichheit, die Differenz einschließt,

kann vielmehr vom Ausgleichen der bestehenden Verschiedenheit durch die politische Or-

ganisation realisiert werden.10

Die gemeinsame politische Anstrengung, „welche die Vielen

miteinbezieht (…), gleicht die Verschiedenheit der Abstammung wie der persönlichen Qua-

lität auf eine höchst effektive Weise aus; in ihr werden wirklich alle gleich.“11

Unabhängig

von jeder Herkunft ist der öffentliche Raum deshalb „von vornherein für alle geöffnet“.12

Das macht die eigentlich modernen Grundzüge des Arendtschen Begriffs politischer

Gleichheit aus, das sich von dem klassischen republikanischen Modell des Politischen ab-

grenzt und in dessen Zentrum die autonome Verständigungspraxis der Bürger steht.13

Ver-

kürzt gesagt: Die politische Gleichheit stützt sich „auf die ausgleichende Wirkung des Han-

delns selbst“.14

Arendt bezieht die politische Gleichheit auf die Freiheit politischen Handelns. „Gleichheit,

die in der Neuzeit immer eine Forderung der Gerechtigkeit war, bildete in der Antike um-

gekehrt das eigentliche Wesen der Freiheit: Freisein hieß frei zu sein von den allen Herr-

7 EU, S. 622.

8 ÜR, S. 36.

9 Vernant, 1982, S. 57; Arendt hält fest: „Die Isonomie garantierte (isotes) Gleichheit, aber nicht weil alle

Menschen als gleich geboren oder von Gott geschaffen sind, sondern im Gegenteil, weil die Menschen

von Natur her (physei) nicht gleich sind und daher einer von Menschen errichteten Einrichtung bedürfen,

nämlich der Polis, um kraft des Gesetzes (nomo) einander ebenbürtig zu werden.“ (ÜR, S. 36). 10

„Das Prinzip der Gleichheit, das den öffentlichen Bereich beherrscht, kann überhaupt nur von Ungleichen

realisiert werden, die sich dann einander in gewissen, von vornherein festgelegten Hinsichten und für be-

stimmte feststehende Ziele angleichen.“ (VA, S. 272f.). 11

ÜR, S. 225. 12

ÜR, S. 228. 13

„Seit den Revolutionen des 18. Jahrhunderts ist Freiheit, zumindest prinzipiell, mit voller Gleichheit iden-

tifiziert worden; und obwohl es stimmt, daß die politische Theorie und Praxis in der Antike sehr wohl

Kenntnis davon hatte, daß nicht frei sein kann, wer sich nicht als Gleicher unter Gleichen bewegt, ist nicht

weniger wahr, daß dieses Verlangen nach Gleichheit niemals zuvor die ganze Bevölkerung eines Landes

erfaßt hatte. Das war die erste Folge der Revolutionen und ist wahrscheinlich noch immer deren größte

und weitreichendste.“ (ZVZ, S. 241; vgl. Brunkhorst, 1994b, S. 101). 14

ÜR, S. 225.

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120

schaftsverhältnissen innewohnenden Ungleichheiten, sich in einem Raum zu bewegen, in

dem es weder Herrschen noch Beherrschtwerden gab.“15

Nach diesem Verständnis gibt es

keine Spannung zwischen Gleichheit und Freiheit.16

Vielmehr ist die Gleichheit ursprüng-

lich mit politischer Freiheit identisch, so dass „man nur unter seinesgleichen frei sein

kann“.17

Das bedeutet, dass die Gleichheit die wesentlichste Bedingung der Möglichkeit der

Freiheit ist. Die Freiheit, sich nur unter seinesgleichen zu bewegen, hängt von der Anwe-

senheit verschiedener Anderen im öffentlichen Raum ab. In diesem Sinne lassen sich die

Gleichheit und Freiheit immer von der politischen Öffentlichkeit garantieren. So können die

Menschen für Arendt überhaupt nur im politischen Sinne gleich sein.

Wenn Arendt die Gleichheit als politisches Phänomen akzentuiert, koppelt sie Pluralität und

Gleichheit aufs engste aneinander. Wie Arendt betont, besteht die Pluralität darin, „daß We-

sen von einzigartiger Verschiedenheit sich von Anfang bis Ende immer in einer Umgebung

von ihresgleichen befinden.“18

Arendts tiefe Ablehnung gegenüber der gesellschaftlichen

Egalität bedeutet aber weder die Anerkennung der gesellschaftlich-klassischen Hierarchie

noch die Verachtung der gesellschaftlichen Gerechtigkeitsfrage.19

Ihr kritischer Blick auf

die gesellschaftliche Gleichheit hängt mit der Tatsache zusammen, dass die moderne Ge-

sellschaft eine monströse Egalität erzeugt. Aus dieser Egalität ergebe sich eine gefährliche

Konsequenz: Konformismus. Die konformistische Egalität zielt auf die gesellschaftliche

Homogenität einerseits und gleichzeitig auf die Fragmentierung andererseits. Die homoge-

nisierte Gesellschaft ist in Arendts Augen der gefährliche Nährboden für totalitäre Systeme,

weil in dieser Gesellschaft die individuellen Standpunkte der Meinungsbildung nivelliert

werden. Durch eine vollständige Homogenisierung „verwandeln sich die Personen in Nie-

mand“20

, als ob alle Menschen „zusammen nur einen einzigen Menschen darstellten“.21

Wie

15

VA, S. 43 und auch ÜR, S. 35; diese Perspektive ist vor allem von Brunkhorst kritisiert: „Arendt gibt

nicht nur grundsätzlich der Freiheit den Vorrang vor der Gleichheit, sondern sie sieht die neuzeitliche

Verbindung von Gleichheit und Gerechtigkeit wieder rückgängig gemacht.“(Brunkhorst, 1999, S. 138). 16

Vgl. ÜR, S. 36; im Gegensatz dazu weist Leibholz das unaufhebbare Spannungsverhältnis zwischen Frei-

heit und Gleichheit auf: „Freiheit erzeugt zwangsläufig Ungleichheit und Gleichheit notwendig Unfrei-

heit. Je freier die Menschen sind, um so ungleicher werden sie. Je mehr die Menschen dagegen im radi-

kal-demokratischen Sinne egalisiert werden, um so unfreier gestaltet sich ihr Leben.“ (Leibholz, 1967, S.

88f.). 17

ÜR, S. 36 und ZVZ, S. 225. 18

VA, S. 217; im Kommentar der WP betont Ludz diesen Punkt: „Keine Pluralität im recht verstandenen

Sinne ohne Gleichheit, keine Gleichheit im recht verstandenen Sinne ohne Pluralität“ (Ludz, 1993, S.

170). 19

Heuer stellt zu Recht fest: „Arendts Überlegung widerspricht nicht dem Gedanken, daß politische Freiheit

und soziale Gleichheit miteinander verbunden sind. Deshalb befaßt sie sich auch nicht mit den Fragen der

politischen Absicherung der sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit, sondern konzentriert sich auf den poli-

tischen Raum und die Frage, wie originäres Handeln in größtmöglichem Maß Zugang zu ihm finden

kann.“ (Heuer, 1992, S. 379). 20

Heuer, 1996, S. 114. 21

EU, S. 907.

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121

Greven in einem kurzen Satz formuliert, widerspricht Arendts Konzept der Pluralität dem

Phänomen gesellschaftlicher Egalität kategorisch: „Die Pluralität der Menschen, ihre Viel-

heit und Verschiedenheit sind entgegen den Homogenitätsannahmen neuzeitlicher Gesell-

schaftsvorstellung unverrückbare, unaufhebbare Grundbedingung für ihr Handeln.“22

Mit der homogenisierten Gesellschaft tritt zugleich die Fragmentierung der Menschen auf,

so dass der Mensch seines Bezugs zur Welt und zu seinesgleichen beraubt wird. In der Be-

ziehungslosigkeit, in der Fragmentierung des Menschen, verliert er seine Wirklichkeit, die

die Gegenwart von anderen und die wechselseitige Anerkennung voraussetzt: „(…) der

Sieg der Gleichheit in der modernen Welt ist nur die politische und juristische Anerkennung

der Tatsache, daß die Gesellschaft den Bereich des Öffentlichen erobert hat, wobei automa-

tisch Auszeichnung und Besonderheit zu Privatangelegenheiten von Einzelindividuen wer-

den.“23

Die Negation der homogenisierten und zugleich fragmentierten Beziehungen ist nur durch

Normalisierung erfolgreich zu bewältigen. Die Normalisierung menschlicher Angelegenhei-

ten lässt sich wirksam durchsetzen, indem die Gesellschaft „alle Unstimmigkeiten als Ab-

weichungen von einer in der Gesellschaft geltenden Norm und daher als asozial oder ano-

mal“24

bezeichnet. In der normalisierten Gesellschaft wird das politische Handeln durch ein

einheitliches Sich – Verhalten ersetzt und der Wettstreit zwischen den verschiedenen Mei-

nungen überflüssig. In ihr werden Andersdenkende und Dissidenten nicht geduldet.25

Diese

Gesellschaft leugnet menschliche Verschiedenheit, normiert den Anderen, zwingt ihn zur

Anpassung. Daraus ergibt sich die Bedrohung der Pluralität, und die Gesellschaft gewinnt

die eigentliche Herrschaft über das Individuum; „der gewaltlose Zwang öffentlicher Mißbil-

ligung ist so stark, daß der Andersdenkende sich in seiner Einsamkeit und Ohnmacht nir-

gendwo hinwenden kann und am Ende entweder zum Konformismus oder zur Verzweife-

lung getrieben wird.“26

Die Gesellschaft, wo das allgemeine Interesse und die einstimmige

22

Greven, 1993, S. 70. 23

VA, S. 52. 24

VA, S. 53. 25

„Die einheitliche Ausrichtung der Meinung ist eine bedrohliche Erscheinung und gehört zu dem Kennzei-

chen unseres modernen Massenzeitalters. Sie zerstört das gesellschaftliche wie das persönliche Leben, das

auf der Tatsache beruht, daß wir von Natur aus und von unseren Überzeugungen her verschieden sind.

Denn daß wir unterschiedliche Ansichten vertreten und uns bewußt sind, daß andere Leute über dieselbe

Sache anders denken als wir, bewahrt uns vor jener gottähnlichen Gewißheit, welche allen Auseinander-

setzungen ein Ende bereitet und die gesellschaftlichen Verhältnisse auf die eines Ameisenhaufens redu-

ziert. Wo es eine einhellige öffentliche Meinung gibt, besteht die Tendenz, Andersdenkende physisch zu

beseitigen, denn massenhafte Übereinstimmung ist nicht das Ergebnis einer Übereinkunft, sondern ein

Ausdruck von Fanatismus und Hysterie.“ (KZ, S. 89). 26

ZZ, S. 90.

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122

Meinung in voller Freiwilligkeit erreicht werden, lässt sich aus dem Konformismus herlei-

ten, den Arendt als das letzte Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung versteht.27

Die Normalisierung der modernen Gesellschaft ist in der Tat die einzige Lösung und Alter-

native „vom als unversöhnlich erlebten Widerspruch zwischen weltloser Intimität und ano-

nymer Gesellschaft“.28

Die zahllosen gesellschaftlichen Regeln laufen darauf hinaus, „die

Einzelnen gesellschaftlich zu normieren, sie gesellschaftsfähig zu machen und spontanes

Handeln wie hervorragende Leistungen zu verhindern.“29

Die gesellschaftlich normierten

Einzelnen sind nur ein Exemplar vom Ganzen. In diesem Kontext wird die moderne Gesell-

schaft als die Formel vom „Individualismus ohne Individuum“30

bezeichnet. Im Bereich

von Arbeit, Konsum und Freizeit werden die isolierten, atomisierten und unabhängigen

Menschen durch die normalisierten Rahmen wieder vergesellschaftet. Diese spezifische

Dialektik charakterisiert unsere Gesellschaft. Denn „je mehr wir uns voneinander gelöst

haben, um so abhängiger sind wir alle vom Ganzen geworden. Die ideelle und existentielle

Individuation geht Hand in Hand mit der realen Vergesellschaftung“.31

Unter der Bedin-

gung der normalisierten Egalität endet das menschliche Handeln, wie Arendt befürchtet,

„schließlich in der tödlichsten, sterilsten Passivität“.32

2.2 Die Subjektivierung der Beziehung: Intimität

Man verbindet Intimität mit Wärme, Vertrauen und der Möglichkeit zu offenem Ausdruck

von Gefühlen des Herzens.33

Mit dem Wort „Intimität“ meint Hannah Arendt das innerste

Gefühlsleben des Individuums.

In der modernen Gesellschaft hat sich die Funktion des privaten Bereiches verändert. Das

Private, das in der Antike eigentlich einen Zustand der Abwesenheit von anderen kenn-

zeichnete, nimmt in der Neuzeit „die Sphäre der Intimität“34

an. In keiner Epoche vor der

Neuzeit hat nach Arendt das Private die Funktion einer Sphäre der Intimität übernommen.

27

Vgl. VA, S. 51. 28

Marti, 1992, S. 514. 29

VA, S. 51f. 30

Guggenberger, 1987, S. 89. 31

Guggenberger, 1987, S. 91. Hervorhebung im Original. 32

VA, S. 411. 33

In der Umgangsprache schließt das Wort Intimität „intime Beziehung, Vertraulichkeit“ mit ein. Es gehört

zu dem Adjektiv „intim“, das erstens für „sehr vertraut, vertraulich“, zweitens „in jemandes Innern ver-

borgen, geheim“ und drittens etwas „bis in die verborgensten Einzelheiten“ kennen, steht (Klappen-

bach/Steinitz (Hrsg.), 1969, S. 1972). 34

VA, S. 48.

Page 125: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

123

Die veränderte Funktion des Privaten, „Intimität zu gewährleisten“ 35

, wird nicht wegen der

Unterdrückung durch das Politische entdeckt, sondern wegen des Aufstieges des Gesell-

schaftlichen, das seinem Wesen nach konformistisch ist. In der konformistischen Gesell-

schaft wurde die „Innerlichkeit des Bewußtseins“ als die einzig „angemessene Domäne

menschlicher Freiheit“ begriffen.36

Kurz gesagt entsteht die Vorliebe für das Innenleben

oder die Intimität aus der Angst davor und dem Protest dagegen, dass die Gesellschaft im-

mer konformistischer wird.37

Von diesem spezifisch neuzeitlichen Zustand spricht Arendt:

„Vor dem Druck der konformistischen Gesellschaft weicht man in ein Innenleben aus, das

sie um so reicher und individualistischer gestalten konnten, als es überhaupt keine Folgen

und keinen Einfluß auf die reale Welt hatte oder haben wollte“.38

Das moderne Phänomen der Intimität steht in engem Zusammenhang mit dem doppelten

Verlust von öffentlichem und privatem Bereich. In der Gesellschaft, wo das Private öffent-

lich wird, verwandelt sich der öffentliche Raum in die Sphäre der Intimität. Nach Arendt

gehört Rousseau zum „ersten bewussten Entdecker und gewissermaßen auch Theoretiker

des Intimen“, der sich „gegen die ihm unerträgliche Perversion des menschlichen Herzens

in der Gesellschaft, gegen das Eindringen der Gesellschaft und ihrer Maßstäbe in eine in-

nerste Region“ wendet.39

Rousseau hält die Intimität für „Formen menschlicher Existenz“40

in der Gesellschaft. Er sieht in der Gesellschaft die inneren Konflikte, „die alle aus der dop-

pelten Unfähigkeit stammen, sich in der Gesellschaft zu Hause zu fühlen und außerhalb der

Gesellschaft zu leben.“41

Dieser Konflikt löst sich erst auf, wenn die Gesellschaft intimisiert

wird, also wenn die moderne Gesellschaft von dem Prinzip der Intimität konstituiert wird.

Das Prinzip der von Rousseau entdeckten Intimität ist „nicht Sache des Bürgers, sondern

des modernen Menschen.“42

Erst durch die Intimisierung der Gesellschaft zerstört sich die

35

VA, S. 48f. 36

Arendt zitiert es aus On Liberty von John Stuart Mill, ohne eine Quellseite anzugeben; zit. nach ÜR, S.

181f. 37

„Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die moderne Entdeckung der Intimität wie eine Flucht vor der

Gesellschaft, die sich der gesamten äußeren Welt bemächtigt hat, in die Subjektivität eines Inneren, in der

allein man nun bergen und verbergen kann, was früher wie selbstverständlich in der Sicherheit der eige-

nen vier Wände aufgehoben und vor den Augen der Mitwelt geschützt war.“ (VA, S. 84). 38

ÜR, S. 181; in seinem Buch über die Staatstheorie von Hobbes weist Carl Schmitt auf die neuzeitliche

Verherrlichung des Innerlichen hin: „In dem Augenblick, in dem die Unterscheidung von Innen und Au-

ßen anerkannt wird, ist die Überlegenheit des Innerlichen über das Äußerliche und damit die des Privaten

über das Öffentliche im Kern bereits entschiedene Sache. (…) Wer sich auf den Gegensatz von Innerlich

und Äußerlich überhaupt einläßt, hat damit die letztliche Überlegenheit des Innerlichen gegenüber dem

Äußerlichen, des Unsichtbaren gegenüber dem Sichtbaren, des Stillen gegenüber dem Lauten, des Jenseits

gegenüber dem Diesseits bereits anerkannt.“ (Schmitt, 1938, S. 94f.). 39

VA, S. 49; vgl. auch MfZ, S. 34. 40

VA, S. 49. 41

VA, S. 49. 42

Herb, 2001, S. 66.

Page 126: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

124

Unterscheidung zwischen dem öffentlichen Raum und dem privaten Bereich völlig, wie

Habermas zu Recht anmerkt: „Im gleichen Verhältnis, wie sich das Privatleben veröffent-

licht, nimmt die Öffentlichkeit selbst Formen der Intimität an – in der Nachbarschaft ersteht

die vorbürgerliche Großfamilie in neuer Gestalt. Hier wiederum verlieren die Momente der

Privatsphäre und der Öffentlichkeit ihre Trennschärfe.“43

In dieser neuzeitlichen Stimmung,

wie Arendt meint, „verwischen sich die Grenzen von intim und öffentlich; das Intime wird

veröffentlicht, das Öffentliche nur im Intimen, schließlich im Klatsch erfahrbar und aus-

sprechbar.“44

Arendt vertritt die These, in der intimisierten Gesellschaft werde das menschliche Zwischen

zur Wüste. In der Gesellschaft als dem neuen Bereich des Intimen findet eine moderne Ver-

innerlichung jeder Beziehung statt. Die Verinnerlichung ist für Arendt das Resultat der ge-

sellschaftlichen Grenzüberschreitung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich

und stellt einen Verlust an Distanz zwischen Menschen, d.h. an Realität der Welt dar.45

„Weltverlust und Intimität zeigen die zwei Seiten ein und derselben Medaille der Moder-

ne.“46

In der intimen Beziehung wird auch die Enthüllung eines Wer, die sich nur in der

spezifischen Pluralität der anderen aktualisiert, unmöglich: „In dieser Verinnerlichung voll-

zieht sich die Apolitisierung des Menschen, der nun im Zwischen nur noch den Feind des

Innern, des eigentlichen Menschen sieht. Es ist der Sieg des Privaten über das Öffentli-

che.“47

Diese Betrachtungsweise findet sich auch bei dem amerikanischen Sozialwissen-

schaftler Richard Sennett, der Student von Hannah Arendt an der Universität von Chicago

war. In seinem berühmten Buch, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, beschreibt er

den Niedergang der politischen Öffentlichkeit als „Tyrannei der Intimität“.48

Die Intimisie-

rung der Gesellschaft bezeichnet Sennett in seinen am politischen Denken von Arendt ge-

schuldeten Grundargumenten als die Veröffentlichung des Privaten und die Privatisierung

des Öffentlichen. In der intimisierten Gesellschaft kennzeichnet sich die Zersetzung der

Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem. Damit wird auch der Zwischenraum zwi-

schen Menschen zerstört, weil wir in der Intimität versuchen, „Privatheit, das Alleinsein mit

43

Habermas, 1969, S. 174. 44

RV, S. 31. 45

„(…) wenn auch die vollentwickelte Intimität des privaten Innenlebens, die wir der Neuzeit und dem

Niedergang des Öffentlichen zu danken haben, die Skala subjektiven Fühlens und privaten Empfindens

aufs höchste gesteigert und bereichert hat, so konnte doch diese Intensivierung naturgemäß nur auf Kosten

des Vertrauens in die Wirklichkeit der Welt und der in ihr erscheinenden Menschen zustande kommen.“

(VA, S. 63). 46

Herb, 2001, S. 66. 47

DTB, S. 426. 48

Sennett, 1998.

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125

uns selbst, mit der Familie, mit Freunden zum Selbstzweck zu machen“49

. Sennett sagt im

Folgenden: „In der modernen Gesellschaft nimmt das Problem der Öffentlichkeit eine dop-

pelte Gestalt an. Verhaltensweisen und Fragestellungen, die unpersönlich sind, erwecken

keine großen Leidenschaften; sie erwecken erst dann Leidenschaft, wenn die Menschen

fälschlich mit ihnen umgehen, als handele es sich um etwas Persönliches. Dieses Problem

von Öffentlichkeit erzeugt innerhalb des Privatlebens ein weiteres Problem. Die Welt inti-

mer Empfindungen verliert alle Grenzen; sie wird nicht mehr von einer öffentlichen Welt

begrenzt, die eine Art Gegengewicht zur Intimität darstellen würde. Der Zerfall des öffent-

lichen Lebens deformiert also auch die intimen Beziehungen, die nun sämtliche Interessen

der Menschen mit Beschlag belegen.“50

In der intimen Gesellschaft verwandelt sich das Politische selbst, das aus dem menschlichen

Zwischen entsteht, in die Form „psychologischer Probleme“51

. Anders gesagt ist der Verlust

der gemeinsamen Welt in moderner Gesellschaft mit psychologischen Mitteln zu retten,

weil das Innere „den gleichen Standards unterworfen ist“.52

Arendt spricht von einer „per-

vertierende(n) Umwandlung eines politischen in einen gesellschaftlich-psychologischen

Begriff“.53

In der psychologischen Argumentation werden alle menschlichen Angelegenhei-

ten in seelische Probleme uminterpretiert. Dementsprechend wird alles menschliche Han-

deln psychologisch interpretiert. Nach Arendt versucht die Psychologie, uns den Bedingun-

gen des weltlosen „Wüstenlebens anzupassen“ und in dieser Bedingung „wohlfühlen zu

lassen“.54

Wenn sich die Wirklichkeit und das Andere auf Subjektives, Gefühles und Emp-

fundenes reduziert, dann findet die radikale Subjektivierung und Psychologisierung politi-

scher Probleme statt, wie Sennett sagt: „Soziale Beziehungen jeder Art sind um so realer,

glaubhafter und authentischer, je näher sie den inneren, psychologischen Bedürfnissen der

einzelnen kommen. Die Ideologie der Intimität verwandelt alle politischen Kategorien in

psychologische.“55

Die Intimisierung und Psychologisierung der menschlichen Angelegenheiten endet schließ-

lich in der Zerstörung der Pluralität. Im Brief an McCarthy schreibt Arendt: „Innen gibt es

keine Unterschiede, alle sind gleich. Nur was außen erscheint, ist wirklich, anders, ja ein-

malig. In einem Wort, unsere Gefühle sind alle die gleichen, der Unterschied ist, worin und

49

Sennett, 1998, S. 16. 50

Sennett, 1998, S. 19. 51

EU, S. 192. 52

DTB, S. 646. 53

EU, S. 139. 54

WP, S. 181. 55

Sennett, 1998, S. 329.

Page 128: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

126

wie wir sie erscheinen lassen.“56

Die psychologische Auffassung menschlicher Angelegen-

heiten hat daher zur Folge, „den handelnden Menschen und seine Freiheit aus dem Gang

der Ereignisse auszuschalten“,57

weil es nur um die Analyse psychischer Zustände geht.

Und so spricht Arendt vom „Trugschluss aller modernen Psychologie“58

, die die eigene

Sicht verabsolutiere.59

Sie hält fest: „Die Ergebnisse der modernen Psychologie sind höchst

monoton und durchweg abstoßend und stehen in einem offensichtlichen Gegensatz zu der

ungeheuren Vielfalt und dem Reichtum des wahrnehmbaren menschlichen Verhaltens; sie

bezeugen damit den radikalen Unterschied zwischen dem Inneren und dem Äußeren des

menschlichen Körpers.“60

Als eine moderne Form der Innerlichkeit verbindet sich die Intimität mit der Herausbildung

der modernen Subjektivität. Die Subjektivierung der objektiv gegebenen Wirklichkeit ist

nach Arendts Ansicht für die modernen Menschen charakteristisch. Das moderne Indivi-

duum bleibt nur „in der radikalen Subjektivität seines Gefühlslebens“.61

In der intimen Ge-

sellschaft wird das öffentliche Leben mehr und mehr durch das Interesse an dem eigenen

Selbst überlagert. Dabei kommen alle Beziehungen zur „Erweiterung des dualen Ich – und

ich“62

. Diese Subjektivierung ist sowohl mit der Vielfalt der Perspektiven als auch mit jeder

Art von Differenz unvereinbar.

Exkurs: Die politische Freundschaft

Die intime Beziehung ist in der Tat modernes Surrogat für öffentliche Lebensweise. Im

Gegensatz zur privaten und intimen Beziehung in der Gesellschaft spricht Arendt von der

Freundschaft als der Beziehungsform des gesunden Gemeinwesens. So gehört die Freund-

schaft für sie „zu einer politischen Kategorie“.63

Die politische Freundschaft beruht auf der

einfachen Tatsache, ohne andere Menschen sei Handeln nicht möglich. Das politische Ge-

meinwesen beruht auf der Freundschaft, die sich von der bloßen blutsgebundenen Verbun-

denheit ebenso unterscheidet wie von der modernen intimen Freundschaft, die sich nur auf

Distanz zur öffentlichen Welt gründet. Durch den Begriff der Freundschaft will Arendt das

Bild einer neuen politischen Beziehung des Menschen zeigen, in der sich die Pluralität rea-

56

BAM, S. 356. 57

ZVZ, S. 209. 58

DTB, S. 659. 59

DTB, S. 389. 60

DD, S. 44f. 61

VA, S. 49; hier ist nennenswert, dass Rousseau als der Entdeckung der Intimität das politische Problem in

der psychologischen Überlegung zu begründen versucht (vgl. ÜR, S. 123f.; siehe auch Abschnitt, III). 62

DW, S. 190. 63

Nitschke, 2000, S. 495ff.

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127

lisieren lässt. Freundschaft bezeichnet „die Fähigkeit zu einem unvoreingenommenen und

freien Dialog zwischen zwei Menschen, ohne die Absicherung durch eine gemeinsame kul-

turelle Zugehörigkeit.“64

Der Freundschaftsbegriff von Arendt trägt zwei wesentliche Elemente, also die Freund-

schaft „zwischen Gleichen“ einerseits und die Freundschaft in der gemeinsamen Welt ande-

rerseits. Die politische Freundschaft beruht auf der höchstemöglichen Gleichheit und auf

„dem Vertrauen von ihresgleichen“65

. Bekanntlich präzisiert Aristoteles bereits die Freund-

schaft als eine Gleichheit zwischen Freunden.66

Und zwei befreundete Menschen sind mi-

teinander in der gemeinsamen Welt verbunden, ohne ihre verschiedenen Perspektiven und

Personalität zu verlieren. Der Modus der Freundschaft ist daher nicht Gegeneinander, aber

auch nicht das Füreinander, sondern das Miteinander, das einen personalen Bezug aufweist,

ohne der Intimität und Nähe einer privaten Beziehung zu bedürfen.67

In der Freundschaft

präsentiert sich die konkrete Einzigartigkeit des Individuums. Politisch gesagt beruht die

Freundschaft auf der politischen Anstrengung, welche die Fremde miteinbezieht: „Die

Fremdheit, die gleich in der ersten Bekanntschaft klar war, bleibt kein brutales Faktum,

sondern ist - (…) dank der Menschlichkeit der Sprache - einzubeziehen in den Gang einer

Freundschaft.“68

Die Freundschaft hat also nichts mit der menschlichen Natur zu tun, son-

dern sie ist das Produkt des politischen Handelns.69

Arendt koppelt die Menschlichkeit mit der Freundschaft statt mit der intimen Beziehung

wie Brüderlichkeit. Sie preist daher Lessings Einsicht, dass die konkrete Freundschaft in der

Öffentlichkeit von größerer Bedeutung sei als die abstrakte Vorstellung von Egalität oder

64

Nordmann, 2002, S. 306; wenn Arendt Freundschaft von der intimen Beziehung unterscheidet, behält sie

die antike Auffassung im Auge, die politische Gemeinschaft habe Freundschaftscharakter. Im Anschluss

an Aristoteles‟ Definition der Freundschaft weist Alasdaier MacIntyre darauf hin: „Freundschaft beinhal-

tet nach Aristoteles natürlich Zuneigung. Aber diese Zuneigung wächst innerhalb einer Beziehung, die de-

finiert ist im Sinne einer gemeinsamen Treuepflicht gegenüber dem Guten und dem Streben nach ihm.

Die Zuneigung ist zweitrangig, was nicht im mindersten bedeutet, daß sie unwichtig wäre. In moderner

Sicht ist Zuneigung oft der Hauptaspekt; unsere Freunde sind für uns diejenigen, die wir gern haben, viel-

leicht sogar sehr gern haben. Freundschaft ist zum größten Teil die Beziehung für einen bestimmten emo-

tionalen Zustand geworden, weniger für eine soziale und politische Beziehung (…). Vom aristotelischen

Standpunkt betrachtet kann eine liberale politische Gesellschaft von heute tatsächlich nur als Ansamm-

lung von Bürgern von nirgendwo erscheinen, die sich zu ihrem Schutz zusammengetan haben. Sie besit-

zen bestenfalls jene minderwertige Form der Freundschaft, die auf dem gegenseitigen Vorteil gegründet

ist.“ (MacIntyre, 1987, S. 210). 65

ÜR, S. 358. 66

Aristoteles, NE 1157 b 36; im Hinblick auf dieses Wesen der Freundschaft lässt sich die Aussage von

Aristoteles verstehen: „Sofern er also Sklave ist, ist keine Freundschaft mit ihm möglich, wohl aber sofern

er Mensch ist (…). Denn wo man sich gleich steht, hat man vieles gemeinsam.“ (NE 1161 b 5ff.). 67

Vgl. VA, S. 310. 68

RV, S. 147. 69

„Wo uns auch Gaben, Natur trennt, verbindet uns Freundschaft“ (RV, S. 147).

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128

von einer Brüderlichkeit.70

Bei der Freundschaft geht es um die Weltbezogenheit: „Daß das

Humane nicht schwärmerisch auftritt, sondern nüchtern und kühl; daß die Menschlichkeit

sich nicht in der Brüderlichkeit erweist, sondern in der Freundschaft; daß die Freundschaft

nicht intim persönlich ist, sondern politische Ansprüche stellt und auf die Welt bezogen

bleibt.“71

Vor diesem Hintergrund unterscheidet Arendt die Freundschaft von der natürli-

chen Liebe im privaten Raum. Sie weist auf die weltzerstörende Gefährlichkeit der Leiden-

schaft der Liebe hin. Bei der Liebe existiert die Person unabhängig von dem Weltbezug: „In

der Leidenschaft, mit der die Liebe nur das Wer des Anderen ergreift, geht der weltliche

Zwischenraum, durch den wir mit anderen verbunden und zugleich von ihnen getrennt sind,

gleichsam in Flammen auf (…). Die Liebe ist ihrem Wesen nach nicht nur weltlos, sondern

sogar weltzerstörend, und daher nicht nur apolitisch, sondern sogar antipolitisch – vermut-

lich die mächtigste aller antipolitischen Kräfte.“72

Man muss gemeinsam Welt erleben, damit sich Freundschaften bilden. Die politische

Freundschaft manifestiert sich in der gemeinsamen Liebe zur Welt und stellt eine Gemein-

schaft „für etwas und gegen etwas in der Welt“73

dar. Ohne diese gemeinsame Welt, wie

Hans Jonas sagt, „wird jede Beziehung pathologisch, parasitär, kannibalisch – und man hat

nicht einmal etwas Wirkliches verschluckt.“74

Die Beziehung der Freundschaft erfolgt im-

mer unter Weltbezug. Zugleich erscheint die konkrete Person nur unter Weltbezug, also im

Horizont des weltlichen Miteinanders. Während die intimisierte Beziehung die Tendenz hat,

den Einzelnen vollkommen zu negieren, gibt der Mensch in der Freundschaft Aufschluss

darüber, wer er ist. Arendt schreibt: „Gemeinschaft ist das, was Freundschaft zustande

bringt, und offensichtlich zielt dieses Gleichmachen auf die ständig zunehmende Differen-

zierung der Bürger, die einem agonalen Leben innewohnt.“75

Im Hinblick auf diese Personenthüllung in der Freundschaft ist das Prinzip des Respekts

entscheidend. Dieses Prinzip entsteht, wie Aristoteles feststellt, nur in den gemeinsamen

Angelegenheiten: „wer der Gemeinschaft nichts Gutes leistet, genießt auch keine Ehre.“76

Das Prinzip des Respekts bei Freundschaft bezieht sich auch auf das ehrenvolle Handeln

der konkreten Person. In diesem Sinne ragt die Freundschaft nicht nur über den funktiona-

len Effekt für die politische Gemeinschaft hinaus. Respekt-haben gehört zur Anerkennung

70

Arendt bemerkt über Lessing: „Er wollte vieler Menschen Freund, aber keines Menschen Bruder sein.“

(MfZ, S. 41). 71

MfZ, S. 36. 72

VA, S. 309f.; vgl. IWV, S. 63f.; vgl. Thürmer-Rohr, 2001. 73

Jonas, 1979, S. 368. Hervorhebung im Original. 74

Jonas, 1979, S. 369. 75

PP, S. 387. 76

Aristoteles, NE 1163 b 5.

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129

oder zur „Achtung vor der Person, die aber in diesem Fall aus der Entfernung gesehen ist,

welche der weltliche Raum zwischen uns legt, wobei diese Achtung ganz unabhängig ist

von Eigenschaften der Person, die wir bewundern mögen, oder von Leistung, die wir hoch-

schätzen.“77

Arendts Ansicht zufolge ist der moderne Respektverlust ein Kennzeichen für

die fortschreitende Intimisierung des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens.

Die moderne intime Beziehung ist dadurch gekennzeichnet, dass die Menschen „den Streit

vermeiden und möglichst nur mit Menschen zu tun haben wollen, mit denen sie nicht in

einen Streit geraten können.“78

Die Wärme der Intimität ersetzt den Redestreit in der Öf-

fentlichkeit. Freundschaft bildet sich jedoch, wie Thürmer-Rohr meint, „nicht in der Ähn-

lichkeit oder Übereinstimmung der Perspektiven, sondern gerade in deren Unterschied.“79

In der Öffentlichkeit treffen sich Menschen miteinander als Freunde, die verschiedene Pers-

pektiven haben. Im Arendtschen Sinne entsteht Freundschaft weder in der Streitlosigkeit

noch in der Distanzlosigkeit noch in der Übereinstimmung der Perspektiven, sondern im

Sprechen über die gemeinsame Welt und die Dinge dieser Welt. Indem Freundschaft das

Miteinanderreden und den Austausch der Meinungen ermöglicht, bietet sie die beste Vor-

aussetzung für Gespräch und Verstehen.80

Aristoteles empfiehlt daher den Gesetzgebern,

sich mehr um die Freundschaft als um die Gerechtigkeit zu bemühen.81

Er weist darauf hin,

dass die Polisverfassungen nicht allein auf Rechtskriterien beruhen können, sondern freund-

schaftlicher Verbindungen bedürfen. Auf diese politische Bedeutung der Freundschaft gibt

uns Arendt den Hinweis: „Das politische Element in der Freundschaft besteht darin, daß in

dem wahrheitsliebenden Dialog jeder der Freunde die der Meinung des anderen innewoh-

nende Wahrheit verstehen kann. Ein Freund versteht seinen Freund mehr als eine Person,

weil er versteht, wie und in welch spezifischer Artikuliertheit die gemeinsame Welt dem

anderen erscheint, während er als eine Person für alle Zeiten ungleich oder verschieden

ist.“82

Die Bedingung der Pluralität bietet daher die besten Chancen für Freundschaften.

Im Unterschied zum Gespräch in der Freundschaft spricht der Mensch in den Gesprächen

der Intimität nur über sich selbst. In den intimen Gesprächen funktioniert Sprache nur „als

77

VA, S. 310. 78

MfZ, S. 41. 79

Thürmer-Rohr, 2001, S. 138. 80

Vgl. PP, S. 387; „Verstanden werden ist das eigentliche Glück des Gesprächs“ (RV, S. 29). 81

Vgl. Aristoteles, NE 1155 a 23ff.; an dieser Stelle formuliert Aristoteles: „Freundschaft ist es auch, die die

Staaten erhält und den Gesetzgebern mehr am Herzen liegt als die Gerechtigkeit. Denn die Eintracht ist

offenbar mit ihr verwandt, und auf diese ist das Hauptaugenmerk der Staatslenker gerichtet, während sie

die Zwietracht als eine Feindschaft am meisten zu verbannen bemüht sind. Auch bedarf es unter Freunden

der Gerechtigkeit nicht, wohl aber unter Gerechten der Freundschaft als eine Ergänzung der Gerechtig-

keit, und das höchste Recht wird unter Freunden angetroffen.“ 82

PP, S. 387.

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130

Praxis, in der sich die Subjektivität der Subjekte konstituiert.“83

Wenn der Unterschied und

der Streit der Meinungen im Raum der Öffentlichkeit andauern müssen, befähigt nur

Freundschaft, diesen Streit und Unterschied zu ertragen. Denn „das Vertrauen in die

Freundschaft ist so groß, daß man weiß, nichts kann verletzend sein.“84

2.3 Die Anonymisierung der Beziehung: Bürokratie

Ein charakteristisches Merkmal der politischen Organisation moderner Gesellschaften ist

für Arendt die Bürokratie, die das Politische durch die Verwaltung ersetzt. Um das

Arendtsche Verständnis der Bürokratie zu verstehen, kann man zuerst vor allem auf Max

Weber, der die Bürokratie als das spezifisch Kennzeichen der Moderne angesehen hat, zu-

rückgreifen. Max Weber wollte durch den Bürokratiebegriff die Funktionsweise von orga-

nisierter Herrschaft in der kapitalistischen Gesellschaft erklären. Kalkulierbarkeit, Effizienz

und Unpersönlichkeit sind das Wesen der bürokratischen Herrschaftsstruktur: „Im moder-

nen Staat liegt die wirkliche Herrschaft, welche sich ja weder in parlamentarischen Reden,

noch in Enunziationen von Monarchen, sondern in der Handhabung der Verwaltung im

Alltagsleben auswirkt, notwendig und unvermeidlich in den Händen des Beamtentums, des

militärischen wie des zivilen.“85

Die unpersönliche und in ihrer Tätigkeit an allgemeingülti-

ge Normen gebundene Bürokratie entspricht der modernen Auffassung, dass auch die ratio-

nalisierte Verwaltung ohne „Ansehen der Person“86

ihre Tätigkeit ausübt. Daher definiert

Weber die Bürokratie als „Herrschaft der formalistischen Unpersönlichkeit“.87

Diese Ana-

lyse der modernen Bürokratie ist der Sicht Arendts nicht unähnlich. Hinsichtlich der Ähn-

lichkeit des Verständnisses von Bürokratie vertritt Clemens Knobloch die These, dass

„kaum jemand Webers Lebensthema, die Rationalisierung und Bürokratisierung von Herr-

schaft, so stringent weitergedacht hat wie Hannah Arendt“.88

Für die Arendtsche Analyse der totalitären Herrschaft steht die Kritik an der Bürokratie im

Mittelpunkt. Arendt betont, dass totalitäre Herrschaft das Mittel zur systematischen Mas-

senvernichtung der modernen Bürokratie entliehen hat.89

Welche Aspekte der modernen

83

Boll, 1997, S. 92; vgl. MfZ, S. 35. 84

IWV, S. 113. 85

Weber, WG, S. 825. 86

Weber, WG, S. 664. 87

Weber, WG, S. 129. 88

Knobloch, 1993, S. 738. 89

Vgl. EU, S. 405ff.; „Daß es im Wesen des totalen Herrschaftsapparates und vielleicht in der Natur jeder

Bürokratie liegt, aus Menschen Funktionäre und bloße Räder im Verwaltungsbetrieb zu machen und sie

damit zu entmenschlichen, ist von Bedeutung für die Politik- und Sozialwissenschaften, und über die

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131

Bürokratie machten die Massenvernichtung durchführbar? Arendts Kritik der Bürokratie

beruht auf drei Elementen der bürokratisierten Gesellschaft: Anonymität der Beziehung,

Identifizierung der Politik mit der rationalen Verwaltung und Vernichtung des Machtpoten-

zials.

Arendts erster Einwand gegen die bürokratische Gesellschaft ist, dass diese Gesellschaft die

der Anonymität ist. Die Anonymität besagt, dass Menschen von anderen in der Öffentlich-

keit nicht wahrgenommen werden. Die Bürokratie ist für Arendt „die anonyme Herrschaft

auf dem Verordnungswege“90

, also die „Herrschaft von Niemand“91

. In der modernen Ge-

sellschaft sind alle Lebensbereiche durch eine anonyme Maschinerie der Bürokratie entper-

sönlicht. Dafür sind die Anonymität und das Fehlen persönlicher Verantwortlichkeit cha-

rakteristisch. So kann sich kein politisches Bewusstsein entwickeln, „bei dem jeder Bürger

sich mehr oder minder verantwortlich für die Abwicklung der Regierungsgeschäfte“ fühlt.92

Man entzieht sich der Verantwortung sowohl für die gemeinsame Welt als auch für seine

Taten. Arendt schreibt: „Wir können niemanden für das, was geschieht, verantwortlich ma-

chen, weil es für die Taten und Ereignisse eigentlich keinen Urheber gibt.“93

In dieser Ge-

sellschaft wird die Weise der menschlichen Beziehung so anonym, dass das menschliche

Handeln die „Eigenschaft, über das Wer der Person mit Aufschluß zu geben“94

, verliert und

„daß die einmalige Identität der Handelnden selbst in ihm keine Rolle mehr spielt.“95

Es

gibt zwischen der Tat und ihrem Täter keine Entsprechung. Das Handeln ohne Handelnde

macht keinen Sinn, sondern es wird nur „zu einer Art Leistung wie andere gegenstandsge-

bundene Leistungen auch“.96

Jedes Handeln macht nur Sinn, wenn es auf konkrete Indivi-

duen angewiesen ist.97

Arendt formuliert: „Handeln, das in der Anonymität verbleibt, eine

Tat, für die kein Täter namhaft gemacht werden kann, ist sinnlos und verfällt der Verges-

senheit; es ist niemand da, von dem man die Geschichte erzählen könnte.“98

Das bedeutet,

dass der unsichtbar gewordene Einzelmensch in der bürokratischen Gesellschaft so über-

flüssig werden könnte, dass er als der unsichtbare Funktionär des gesellschaftlichen Appa-

rates immer austauschbar ist.

Herrschaft des Niemand, die eigentliche Staatsform der Büro-kratie, kann man sich lange und mit Gewinn

streiten.“ (EJ, S. 18). 90

EU, S. 443. 91

VA, S. 51. 92

EU, S. 676. 93

IWV, S. 100. 94

VA, S. 221. 95

VA, S. 221. 96

VA, S. 221. 97

„Handeln ohne einen Namen, ohne ein dazugehöriges Wer, ist bedeutungslos“ (Arendt, 1998, S. 1007). 98

VA, S. 222.

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132

Arendts zweiter Einwand gegen die moderne Bürokratie besteht unmittelbar darin, dass es

dabei nur um die Verwaltung geht und nicht um die politische und öffentliche Handlung.

Das ist die Unterordnung des Politischen unter die Verwaltung. In diesem Zusammenhang

bezeichnet Arendt die Bürokratie als „Herrschaft durch Verwaltung“99

oder als „Herrschaft

des Büros“100

. Die Gefahr der bürokratischen Verwaltung besteht Arendt zufolge darin,

„daß öffentliche und private Interessen sich auf eine höchst unappetitliche und schädliche

Weise miteinander vermischen.“101

Die Vorteile der Bürokratie für eine wirtschaftlich

wachsende Gesellschaft liegen auf der Hand. Die Bürokratie ist mächtig nicht deshalb, weil

sie sich der Herrschaft bemächtigt, sondern deshalb, weil sie allein über die Fachkompetenz

verfügt, die zur Erfüllung der komplexen Aufgaben des modernen Staates erforderlich ist.

Diese Analyse findet sich schon bei Max Weber: „Die zunehmende Kompliziertheit der

Wirtschaft“ und vor allem „die ökonomische Vergesellschaftung als solche“ in der moder-

nen Gesellschaft befördern die Bürokratisierung.102

Die ökonomische Vergesellschaftung,

also das Öffentlich-Werden der Ökonomie, ist mit der Durchsetzung des unpersönlichen,

notwendigen Lebensprozesses identisch. Wo die „Verwaltung der Sachen“103

das Politische

ersetzt und wo das Gesellschaftliche über das Politische triumphiert, wird die zentralistische

Bürokratie notwendig. Anders ausgedrückt beruht die Bürokratie auf dem Verlangen nach

starker Machtkonzentration in den Händen der bürokratischen Funktionäre. Arendt ist der

Meinung, dass die anonyme Herrschaft der Bürokratie zur potentiell nicht weniger gewalt-

samen Herrschaft wird, selbst wenn es sich nicht wie in früheren Zeiten um eine Tyrannei

des Schreckens und der Unterdrückung handelt. Sie stellt fest: „Aber dieser Niemand, näm-

lich die hypothetische Einheitlichkeit des ökonomischen Gesellschaftsinteresses wie die

hypothetische Einstimmigkeit der gängigen Meinungen (…) regiert deshalb nicht weniger

despotisch, weil er an keine Person gebunden ist (…). Die Herrschaft des Niemand ist so

wenig Nicht – Herrschaft, daß sie sich unter gewissen Umständen sogar als eine der grau-

samsten und tyrannischsten Herrschaftsformen entpuppen kann.“104

Die Bürokratie ist „kei-

neswegs die mildeste der Herrschaftsformen“, die „daher der Freiheit sehr gut den Garaus

machen kann.“105

Drittens lässt sich die Quelle der Macht im Zustand der Bürokratie wirksam zerstören. Un-

ter bürokratischer Administration werden jene öffentlichen Räume überflüssig, wo die

99

EU, S. 459. 100

IWV, S. 92. 101

ÜR, S. 323. 102

Weber, 1971a, S. 63 und 65. 103

Engels, MEW, Bd. 20, S. 262. 104

VA, S. 51. 105

Arendt, 1962, S. 237; vgl. Tocqueville, 1962, Bd. 2, S. 342.

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133

Menschen zur Diskussion und Meinungsbildung zusammenhandeln. Damit verbunden ver-

steht sich die Politik nicht mehr als das menschliche Zusammenhandeln und –reden. Darü-

ber hinaus wird in der bürokratisch – zentralisierten Niemandherrschaft die Freiheit des

spontanen politischen Handelns drastisch gefährdet, „weil mit diesem Niemand niemand

reden und vor ihm vorstellig werden kann.“106

Die seit den 60er Jahren aufgebrochenen

Studentenunruhen in der ganzen Welt bezeichnet Arendt als Widerstand gegen die zentrali-

sierten Bürokratien. Die zentralisierte Bürokratie sei, wie sich Arendt sicher ist, eine

schreckliche Gefahr, weil sie die Macht von unten verhindert und den öffentlichen Raum

als Machtquelle zerstört, indem sie die Menschen der Möglichkeit des Mithandelns be-

raubt.107

Die Macht wird durch Ohnmacht ersetzt.108

Aus dieser Ohnmacht entsteht der ver-

hängnisvolle Gedanke, „daß das eigene Schicksal von einer übergeordneten Macht ab-

hängt.“109

An anderer Stelle formuliert Arendt im Folgenden: „denn in einer vollentwickel-

ten Bürokratie gibt es, wenn man Verantwortung verlangt oder auch Reformen, nur den

Niemand. Und mit dem Niemand kann man nicht rechnen, ihn kann man nicht beeinflussen

oder überzeugen, auf ihn keinen Druck der Macht ausüben. Bürokratie ist diejenige Staats-

form, in welcher es niemand mehr gibt, der Macht ausübt; und wo alle gleichermaßen ohn-

mächtig sind, haben wir eine Tyrannis ohne Tyrannen.“110

106

WP, S. 14. 107

Vgl. IWV, S. 101. 108

Charles Taylors Sicht auf diese Frage ist nicht unähnlich. Eine Seite seines Unbehagens an der Moderne

besteht darin, dass der Bürger in der bürokratischen Gesellschaft ohnmächtig wird: „Dadurch wird der

Bürger in noch höherem Maße demotiviert, und der schädliche Zirkel des milden Despotismus schließt

sich. Was sich jetzt in unserer äußerst zentralisierten und bürokratischen politischen Welt abspielt, ist

vielleicht eine solche Entfremdung von der öffentlichen Sphäre, aus der sich dann der entsprechende Ver-

lust der politischen Kontrolle ergibt.“ (Taylor, 1995, S. 17). 109

ÜR, S. 144. 110

MG, S. 203.

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134

3. Kritische Argumentationen über Arendts Dualismus von Gesellschaftlichem

und Politischem

Festgestellt haben wir oben, dass der Ausgangspunkt der Arendtschen Kritik an der moder-

nen Gesellschaft darin besteht, dass der Verfall des Politischen in der modernen Gesell-

schaft erfolgt, wo die öffentlichen Angelegenheiten den bürokratisierten - wirtschaftszentra-

listischen Verwaltungsapparaten überlassen werden und alle menschlichen Beziehungen

sich in der Anonymität und Intimität herausbilden. Arendt sieht die moderne Gesellschaft

als Massengesellschaft und darin das Potential totalitärer Elemente. In diesem Kontext

spitzt Hannah Arendt den Dualismus von Politischem und Gesellschaftlichem zu, um die

Krise des Politischen in der modernen Gesellschaft zu demontieren. In dieser Problematik

wird die negative Sicht Arendts auf die Entwicklung einer modernen Gesellschaft kontro-

vers diskutiert und auch hart kritisiert.1 Der Vorwurf, Arendt verkürze den Politikbegriff,

indem sie die Politik aus den Bezügen zum ökonomischen und gesellschaftlichen Lebensbe-

reich herausnimmt, stellt den Kern der liberalen, linken und feministischen Kritik an

Arendts Ausgrenzung des Sozialen aus der Sphäre des Politischen dar: Politik lasse sich in

der Modern nicht als bestimmter Lebensbereich in Abgrenzung zu anderen Lebensberei-

chen definieren. Arendts Verachtung der sozialen und ökonomischen Fragen ist daher von

Liberalen für „antimodernistisch“2gehalten worden. Im Zusammenhang mit der Vorstel-

lung, dass Arendt die Frage der sozialen Gerechtigkeit einfach ignoriert, hat die Linke lange

die Auseinandersetzung mit dem Denken von Hannah Arendt „verweigert“.3 Die Ausblen-

dung des Gesellschaftlichen ist unbehaglich auch für diejenigen, die Arendts politisches

Denken als demokratische Konzeption annehmen wollen.

3.1 Die liberale Kritik: Politisierung oder Entpolitisierung?

Nach liberaler Argumentation entspricht Arendts scharfe Trennung zwischen Gesellschaft

und Politik nicht unserer Realität. Darüber hinaus sei der Vorrang des Politischen vor dem

Gesellschaftlichen potentiell totalitär.4 Man fürchtet die Zerstörung der gewachsenen Le-

bensformen bis hin zu einer allgemeinen Nivellierung durch die allumfassende Politisierung

1 Vgl. Habermas, 1981a, S. 223ff.; Giehle, 1997, S. 929-948; Imhof, 1998, S. 15-24.

2 Kateb, 1984, S. 183.

3 Kallscheuer, 1993, S. 142-181; die Kerngründe für die Dialogverweigerung der Linken mit Arendts Den-

ken sucht Michael Th. Greven in dreierlei: die falsche Gleichung zwischen Kommunismus und Faschis-

mus in ihrer Totalitarismustheorie; Abwesenheit der antikapitalistischen Dimension in ihrer Theorie des

Politischen; der normativ-ontologische Ansatz ihrer Politikbegriff (Greven, 1993, S. 88f.). 4 Vgl. Kymlicka, 1996, S. 214.

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135

der Gesellschaft. In dieser liberalen Betrachtungsweise weist Kateb darauf hin, dass

Arendts Betonung des Politischen die Implikation der totalitären Politisierung hat.5 Die

Abwertung der gesellschaftlichen Sphäre führe zur Politisierung aller Sphären, und diese

Politisierung könnte auf die totalitäre Herrschaft hinauslaufen. Im Gegensatz dazu ist die

Gesellschaft nach der liberalen Ansicht der Sitz der Freiheit und „die höchste Form men-

schlicher Errungenschaften und die unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung von

Moral und Vernunft, während das Politische reduziert wurde auf das harte Symbol des

Zwanges, der zur Aufrechterhaltung geordneter sozialer Vorgänge nötig ist.“6

Was bedeutet die Politisierung? Nach Martin Rhonheimer wird der Begriff „Politisierung“

als Versuch verstanden, die Politik über die ihr zugesprochene Sphäre hinaus zu erweitern.7

Damit erscheint Politisierung für ihn a priori als etwas Verwerfliches, also als eine unsach-

liche Ausweitung der Politik auf die nicht–politische Sphäre und zugleich als „Aufsplitte-

rung“ des „politischen Handlungszentrums“8. Daraus konstatiert er, dass sich das politische

Phänomen wie Totalitarismus auf die totale Politisierung zurückführt. Dieser Begriff der

Politisierung scheint zuerst im Zusammenhang mit dem alten Misstrauen gegenüber der

Politik zu bestehen, das sich auf das etatistische bzw. staatszentrierte Politikverständnis

bezieht.9

Betrachtet im Arendtschen Sinne, bedeutet Politisierung stets Steigerung des politischen

Handelns, also „Verlagerung von gesellschaftlichen Sachverhalten aus dem Bereich des

Unstrittigen in den Bereich des Umstrittenen und damit eine Steigerung jener Aktivitäten“

10, die notwendig sind, um gemeinsames Handeln in der Pluralität zu ermöglichen. Anders

gesagt bedeutet die Politisierung für Arendt die aktive Beteiligung an öffentlichen Angele-

genheiten und die politische Absicherung der Pluralität. Arendt ist der Meinung, dass die

Beteiligung der Staatsbürger an allen Bereichen des öffentlichen Lebens der notwendige

Weg zur Entfaltung einer bestimmten Dimension des menschlichen Lebens ist11

und dass

die Freiheit im politischen Bereich lokalisiert ist. Damit verbunden bedeutet die Politisie-

rung die Entstehung der politischen Macht, und die politische Macht existiert nur in der

Öffentlichkeit, wo Menschen miteinander handeln und sprechen. Die totalitäre Herrschaft

5 Vgl. Kateb, 1977, S. 165-166.

6 Wolin, 1960; zit. nach Kymlicka, 1996, S. 214.

7 Rhonheimer, 1985, S. 138-146.

8 Rhonheimer, 1985, S. 143.

9 Vgl. Vollrath, 1987, S. 31ff.

10 Zu den Bedeutungen von Politisierung und Entpolitisierung siehe Rohe, 1978, hier S. 79.

11 „Dem Menschen, wenn er öffentlich handelt, erschließt sich eine bestimmte Dimension menschlicher

Existenz, die ihm sonst verschlossen bleibt und die irgendwie zum vollgültigen Glück gehört.“ (Reif,

1972, S. 46).

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136

zeichnet daher vielmehr „Machtverlust und schließlich Ohnmacht“12

aus, also Entpolitisie-

rung.

Mit der Terminologie „Entpolitisierung“ wollte Arendt aber nicht meinen, dass es bei totali-

tärer Herrschaft weiniger Politik im Sinne der staatlichen Verwaltung gibt, sondern dass das

politische Leben, das erscheint, wo immer Menschen handelnd und sprechend miteinander

umgehen, zerstört wird. Wenn Öffentlichkeit ihre politische Funktion verliert, vollzieht sich

die Entpolitisierung der Masse der Bevölkerung.13

Arendt erkennt die Gefahr des erweiter-

ten staatlichen Systems in der totalitären Herrschaft: „Wir wissen auch nicht, aber wir kön-

nen es ahnen, wie viele Menschen sich in der Erkenntnis ihrer wachsenden Unfähigkeit, die

Last des Lebens unter modernen Verhältnissen zu ertragen, willig einem System unterwer-

fen würden, das ihnen mit der Selbstbestimmung auch die Verantwortung für das eigene

Leben abnimmt.“14

Im Gegensatz zu anderen Totalitarismusinterpreten, die totale Herr-

schaft als völlige Überpolitisierung der Gesellschaft verstehen,15

handelt es sich bei Totali-

tarismus für Arendt um die total entpolitisierte Gesellschaft. Mit seinem bornierten politi-

schen Handeln ist der Totalitarismus im Grunde antipolitisch, ruiniert das politische Zu-

sammenleben der Menschen. Auch wenn der totale Staat die voneinander Isolierten zu poli-

tischen Aktionen erzwingt, wird das nur durch die völlige Zerstörung der politischen Öf-

fentlichkeit möglich.16

Der Totalitarismus ist daher ein antipolitisches Phänomen und steht

„jenseits des Politischen“17

. Die totalitäre Herrschaft stellt nicht nur eine Politik der Ver-

nichtung, sondern die Vernichtung des Politischen selbst dar und damit entspricht sie der

„absolut unpolitischen Politik und politischen Unpolitik“18

. In Anlehnung an Hannah

Arendt formuliert Hans Buchheim, das totalitäre Phänomen sei keine Politisierung, sondern

gerade eine Entpolitisierung, „weil dadurch die Quellen des politischen Lebens verschüttet

werden.“19

In ganz ähnlicher Sicht bemerkt Erich Christina Schröder: „Es ist eine irrige

Meinung, daß unter den totalitären Regimes das ganze Leben politisiert worden sei. Im Ge-

12

VA, S. 252. 13

In diesem Kontext gesehen, scheint mir Grevens Kritik an der Arendtschen These der Entpolitisierung ein

Missverständnis zu sein. Er vertritt die These: „Vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Entwicklungs-

geschichte der modernen, zumeist bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften ist die Politisierung der gan-

zen Gesellschaft und ihrer Mitglieder im hier angesprochenen Sinne ein unübersehbares Faktum, und es

erscheint mir ganz unsinnig, zum Beispiel die deutsche Gesellschaft zwischen 1933 und 1945 als völlig

entpolitisiert zu bezeichnen.“ (Greven, 1999, S. 59 und 93). 14

EU, S. 906. 15

Vgl. Gess, 2001, S. 192; in der liberalen Totalitarismuskritik spricht z. B. Raymond Aron von der „Politi-

sierung und Kontrolle des gesamtgesellschaftlichen Lebens“ (Aron, 1971, S. 205). Dagegen siehe Marti,

1997, S. 74; zum Vergleich der Totalitarismuskonzeption von Raymond Aron und Hannah Arendt siehe

Gess, 1996, S. 264-274. 16

Vgl. EU, S. 975. 17

Sternberger, 1979, S. 184. 18

Vollrath, 1996b, S. 144 und 146. 19

Buchheim, 1962, S. 83f.; vgl. auch d‟Arcais, 1993, S. 15.

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137

genteil: die Menschen sind entpolitisiert worden, und die totalitären Führer waren sich der

Notwendigkeit der Entpolitisierung der einzelnen auch immer bewußt.“20

Im viel zitierten

Satz schreibt Arendt dazu: „Daher glaube ich auch, daß wir das Phänomen der totalen Herr-

schaft durchaus mißverstehen, wenn wir meinen, daß in ihr eine totale Politisierung des

Lebens erfolgt, durch die Freiheit zerstört wird. Das gerade Gegenteil ist der Fall; wir haben

es mit Phänomenen der Entpolitisierung zu tun, wie in allen Diktaturen und Despotien, nur

daß diese Entpolitisierung hier so radikal auftritt, daß sie das politische Freiheitselement in

allen Tätigkeiten vernichtet und sich nicht nur damit zufrieden gibt, das Handeln, also die

politische Fähigkeit par excellence, zu zerstören.“21

Die Entpolitisierung bedeutet für Arendt, dass die Politik zu einer Funktion der Gesellschaft

wird und dass das Gesellschaftliche politisiert ist. In der liberalen Forderung nach der Funk-

tionalisierung der Politik sieht Arendt vielmehr die totalitäre Gefahr der Entgrenzung des

Öffentlichen und des Privaten, die sich ereignet, wenn sich Politik, Wirtschaft und Gesell-

schaft miteinander identifizieren, weil dabei „die politisch-staatlichen Institutionen als blo-

ße Fassade für Privatinteressen angesehen wurden“.22

Diese Entgrenzung, mit der Gesell-

schaft, Staat, Partei und alle Strukturen des menschlichen Seins nicht voneinander zu tren-

nen sind, ist „ein Steinchen im Mosaik der totalitären Bewegung.“23

Arendt ist der Ansicht,

dass die totalitäre Herrschaft nicht auf der politisierten Gesellschaft beruht, sondern viel-

mehr auf der „vergesellschafteten Politik“24

. In der vergesellschafteten Politik geht es nur

um das Gesellschaftliche, also um die ökonomische Sicherheit und Lebensinteressen der

Individuen. Unter diesen Umständen bildet sich „das Einfallstor für die Gleichschaltung

von Gesellschaft und Privatleben im Faschismus. Widerstand war nicht zu erwarten von

Leuten, die einzig an die ununterbrochene Normalität ihres privaten Lebens dachten.“25

In

der Verherrlichung des privaten Lebens „als der Güter höchstes“26

sieht Arendt eine Ten-

denz zur totalen Entpolitisierung des menschlichen Zusammenlebens, die auf die Verant-

wortungslosigkeit für die gemeinsame Welt verweist. Im Gegensatz zur liberalen Vorstel-

lung ist Arendt der Ansicht, dass unter der Entwicklung der modernen Gesellschaft als der

ständigen Erweiterung der Privatsphäre es sehr viel wahrscheinlicher ist, dass Korruption

und Machtmissbrauch durch private Interessen verursacht würden, als dass diese durch den

Missbrauch der öffentlichen Gewalten zu Schaden kommen würden. In der folgenden Fest-

20

Schröder, 1969, S. 152f. 21

ZVZ, S. 204. 22

EU, S. 719. 23

Knobloch, 1993, S. 732. 24

Fehér, 1988, S. 98. 25

Knobloch, 1993, S. 732. 26

VA, S. 399.

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stellung zeigt sich Arendts Verständnis ausführlich: „Ich muß gestehen, daß es mir unbeg-

reiflich ist, wie die heutigen liberalen Nationalökonomen (…) so sicher behaupten können,

daß die Erhaltung des Privatbesitzes in einer immer reicher werdenden Gesellschaft ein

ausreichender Schutz der bürgerlichen Freiheiten sein wird, d.h. daß dieser Besitz die glei-

che Rolle spielen kann wie das Privateigentum. In einer Gesellschaft, in der der Besitz eines

Jobs das einzige sichere Eigentum darstellt, sind diese Freiheiten nur durch den Staat garan-

tiert; dies ist eine politische und keine ökonomische Sicherheit. Die Bedrohung der Freiheit

in der modernen Gesellschaft kommt nicht vom Staat, wie der Liberalismus annimmt, son-

dern von der Gesellschaft, in welcher die Jobs verteilt werden und welche den individuellen

Anteil an dem gesellschaftlichen Gesamtvermögen festsetzt.“27

Im Kontrast zur liberalen Kritik, dass Arendt die totale Politisierung aller Lebensbereiche

erfordere, um die Entpolitisierung zu überwinden, vertritt sie die Auffassung, „daß, wenn

eine Person sich auch in der Öffentlichkeit bewegt, sie deshalb dennoch das Recht jedes

Staatsbürgers haben muß, ihren privaten Bereich abzuschützen“28

. Sie hebt die Grenze zwi-

schen Privatem und Öffentlichem hervor. Für Arendt bedeutet der Terminus „Politisierung“

keine Entgrenzung zwischen politisch und privat. Im Rückgriff auf die antike Polis ist sie

der Meinung, die im politischen Bereich adäquaten Prinzipien sollten nicht unmittelbar auf

andere Bereiche angewendet werden.29

Nur wenn der politische Bereich diese Grenze acht-

et, kann dieser Bereich als Raum der Freiheit und Gleichheit bleiben. In diesem Sinne ist es

bemerkenswert, dass Arendt die negative Freiheit als Freiheit von Politik nicht für wertlos

hält.30

Individuen haben ihr Recht auf Private, auf Fernbleiben, auf Apathie.31

So gesehen

bedeutet die Politisierung nur, dass in jedem Moment die Möglichkeit und die Gelegenheit

gegeben sein muss, an den gemeinsamen Angelegenheiten teilzunehmen.

Weil Arendt die Gefahr erkennt, dass, wenn die öffentliche Gewalt in den privaten Bereich

eingreift, sie legitime Privatinteressen verletzt, bezeichnet sie das Rechtssystem als „das

Heilmittel gegen staatliche Übergriffe“32

. In diesem Zusammenhang darf der Anspruch auf

die Politisierung nicht verwechselt werden mit „Totalpolitisierung“33

. Arendt besteht viel-

27

VA, S. 433, Anm. 74. 28

Arendt, 1962, S. 294. 29

„Die Polis regelte nicht alle Angelegenheiten, sondern nur eine begrenzte Anzahl gesellschaftlicher Tätig-

keiten, und Angelegenheiten wie die Erziehung, das Gewerbe, die Landwirtschaft und der Handel waren

der Privatinitiative überlassen.“ (Hansen, 1995, S. 81). 30

Vgl. ÜR, S. 360. 31

So gesehen scheint die Kritik Brunkhorsts nicht zutreffend zu sein: „Die politische Differenz ist nicht

differenziert genug, um dem Individuum genügend Luft zum Atmen zu lassen, die es frei macht von der

Politik, von der Gesellschaft, von der Natur“ (Brunkhorst, 1994b, S. 109). 32

ÜR, S. 323. 33

Guggenberger, 1991, S. 87.

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mehr darauf, dass es für die Politik überaus wichtig ist, „die eigenen Grenzen zu respektie-

ren“34

, also die Begrenztheit des politischen Raums, „daß dieser Raum trotz seiner Größe

begrenzt ist, daß er nicht die Gesamtheit der menschlichen Existenz und auch nicht die Ge-

samtheit dessen umfaßt, was in der Welt vorkommt.“35

Würden die unpolitischen Bedin-

gungen menschlicher Existenz verschwinden, würde das Politische verabsolutieren. Her-

vorzuheben ist, dass Hannah Arendt die nicht-politischen Elemente unseres Daseins in ihrer

Eigenständigkeit anerkennt.36

Die These der Entpolitisierung gilt auch für die heute politische Realität, deren Problem

nicht ein Überfluss an Politik ist, sondern vielmehr ein schrecklicher Mangel, durch das das

Handeln dem einzelnen Staatsbürger entzogen wird.37

Durch diese Analyse des totalitären

Phänomens, wo ein tragisches Defizit an Politik erscheint, erfordert Arendt vielmehr ein

„Mehr an Politik“38

. Die Arendtsche Forderung nach dem Mehr an Politik bedeutet nicht

die politisierte Verallgemeinerung aller menschlichen Tätigkeiten und ihrer Sphäre. Arendt

geht es um die Politisierung der Politik.39

Die Frage der Demokratisierung der modernen

Gesellschaft ist die Frage der Stärkung und Sicherung der politischen Pluralität, die nach

Arendt in der politischen Öffentlichkeit geschaffen wird. Aus dem Zerfall der politischen

Öffentlichkeit, in der Menschen zusammen handeln und sprechen, wie Arendt mahnt, könn-

ten jederzeit totalitäre Regime entstehen.

3.2 Benhabibs Kritik: agonal oder narrativ?

In differenzierter und positiver Weise übernimmt Benhabib die kritische Umdeutung der

Arendtschen Dichotomie vom Politischen und Gesellschaftlichen. Sie versucht, Arendts

Politikbegriff im Sinne der von Habermas verfochtenen Ideen deliberativer Demokratie-

theorie40

demokratietheoretisch umzudeuten. In Abgrenzung und Ergänzung zu Habermas

ist Benhabib der Auffassung, dass man den Unterschied der Personen in den Diskursen be-

34

ZVZ, S. 370. 35

ZVZ, S. 369. 36

Vgl. Buchheim, 1962, S. 106. 37

Vgl. d‟Arcais, 1997, S. 97. 38

Bauman, 1992, S. 339. 39

Ulrich Beck versteht Arendts These der Politisierung als die Forderung nach „Demokratisierung der

Demokratie“ (Beck, 1996, S. 140-146, hier S. 146). Zum Ansatz der Arendtschen Theorie für die Demo-

kratisierung, Wellmer, 1999, S. 152f. 40

Nach der Theorie deliberativer Demokratie entsteht die Legitimität demokratischer Verfahren in erster

Linie „aus der allgemeinen Zugänglichkeit eines deliberativen Prozesses, dessen Beschaffenheit die Er-

wartung auf rational akzeptable Ergebnisse begründet“ (Habermas, 1998a, S. 166).

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rücksichtigen muss und den Anderen nicht universell verallgemeinern kann.41

Darüber hi-

naus ist ihre demokratische Theorie vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sich das Kon-

zept der demokratischen Partizipation nicht mehr nur auf einen eng definierten politischen

Bereich beschränkt. Dass die öffentliche Partizipation auf allen gesellschaftlichen und kul-

turellen Ebenen keinerlei Themenbeschränkung unterliegen darf, ist das Fundament ihrer

Demokratietheorie.42

Benhabib vertritt die starke These, die Frage der Grenzziehung selbst

könne und dürfe dem öffentlichen Diskurs nicht entzogen werden, denn „ein Thema des

öffentlichen Gesprächs könnte nicht im voraus bestimmt werden“.43

Vor diesem Hinter-

grund versucht sie, die von Arendt gezogene Grenze zwischen Politischem und Gesellschaft

zu tilgen. In hermeneutischer Rekonstruktion des Arendtschen Politikbegriffes behauptet

sie, dass das Konzept der demokratischen Partizipation bereits in der Arendtschen Theorie

des Politischen enthalten ist.

Diese These untermauert Benhabib durch die tiefe Lesart der Arendtschen Frühschrift über

Rahel Varnhagen,44

weil sie davon überzeugt ist, dass im Erzählen der Geschichte Rahel

Varnhagens die Wurzel für Arendts spezifischen Zugang zur politischen Philosophie liegt.

Für die Interpretation besteht das maßgebliche Anliegen Benhabibs darin, „Arendts politi-

sches Denken zu dezentrieren“ und das „assoziative“ Modell des öffentlichen Raums als ein

Kontrastbild zum agonalen Polis-Modell herauszuarbeiten.45

In dieser behutsamen Lektüre

erblickt sie eine „alternative Genealogie der Moderne“46

, in der Arendt Gesellschaft nicht

nur kritisiert, sondern auch positiv zu würdigen weiß. Der Aufstieg des Gesellschaftlichen,

also die Grenzüberschreitung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, komme im-

merhin in der Arendtschen Frühschrift als die Entstehung neuen öffentlichen Raums der

Moderne, also als neue Form der sozialen Interaktion, zum Ausdruck. In diesem Zusam-

menhang behauptet sie, „daß in den Quellen von Hannah Arendts Denken eine andere Ge-

nealogie der Moderne zu finden ist als die für ihre späteren Schriften so charakteristi-

sche.“47

Das in Rahel Varnhagen gefundene Modell der neuen Öffentlichkeit widerspricht

Benhabib zufolge dem Modell von Arendts späterem Modell agonaler Öffentlichkeit, das in

41

Es ist sicher, dass Benhabib von Hannah Arendt die Notwendigkeit lernt, die Besonderheit von Personen

in moralischen Diskursen ernst zu nehmen; vgl. Jaeggi, 1997b, S. 147-165, hier S. 148; Rieger, 2004, S.

47; Horster, 1999, S. 213ff.; Reiter, 2004, S. 225-236. 42

Vgl. Rieger, 2004, S. 47f. 43

Benhabib, 1991, S. 106; Habermas stimmt dieser These zu: „Grenzziehungen (….) müssen Gegenstand

der politischen Auseinandersetzung sein dürfen.“ (Habermas, 1998c, S. 382). 44

Benhabib, 1998, S. 29-73; das Buch Rahel Varnhagen, das mit dem Untertitel Lebensgeschichte einer

deutschen Jüdin aus der Romantik erstmals 1958 in englischer Sprache veröffentlicht wurde, war schon

fertig, als Arendt 1933 Deutschland verließ. Dazu siehe IWV, S. 212ff.; Young-Bruehl, 1986, S. 101ff. 45

Benhabib, 1998, S. 53; vgl. auch Benhabib, 1991, S. 95-108. 46

Benhabib, 1998, S. 55. 47

Benhabib, 1998, S. 55.

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141

VA vorherrscht.48

Rahel Varnhagens Salon war für Benhabib ein Raum der neuen Gesellig-

keit, wo sich die Verschiedenheit und Auszeichnung der privaten Einzelnen ausdrücken.

Dieser Raum ist eine moderne bürgerliche Öffentlichkeit, oder, um mit Habermas‟ Worte

zu sprechen, die „Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“49

. Benhabib be-

schreibt: „Dieser Raum der Geselligkeit, für den die Salons nur ein Beispiel sind, verweist

auf eine Dimension, die in der genealogischen Darstellung vom Aufstieg des Gesellschaftli-

chen bei Arendt enthalten ist, in Vita activa jedoch völlig fehlt.“50

Nach Benhabib bleiben

Spuren des anderen Modells der neueren Öffentlichkeit in den gesamten Werken von

Arendt nicht getrübt. Das erscheine vor allem in der Arendtschen Akzentuierung der öffent-

lichen Welt und der Hervorhebung des nicht-staatlichen Politischen.

Wenn Benhabib die These vertritt, dass Arendt in ihren früheren Werken, wie z. B. im

Varnhagen-Buch und im Totalitarismus, als eine ernsthafte „Vertreterin der politischen

Moderne“51

erschien und dass aber in späterem Werk, also in VA, ihre Haltung gegenüber

der Moderne verändert ist, gibt sie uns jedoch keinen Hinweis darauf, wo der Grund für

diese Lücke zwischen früheren und späteren Werken liegt.52

Und umstritten ist Benhabibs

Bemühung, Arendts eigentliches Politikverständnis im Rahel-Buch aufzuzeigen. In der Tat

widmet sich Arendt in diesem Buch, wie Vollrath bemerkt, „dem Problem der kulturellen

jüdischen Identität und ihrer gesellschaftlichen Problematik“.53

Der Verständnishorizont,

der sich in der Biographie von Rahel Varnhagen zeigt, sei daher noch „vorpolitisch, indivi-

duell und gesellschaftlich“.54

Während Benhabib Salons versteht als die „Räume, in denen

persönliche Freundschaften durchaus zu politischen Bündnissen führen können“55

, themati-

siert Arendt, auch wenn man ihr Buch über Rahel in der politischen Dimension interpretie-

ren könnte, in der Biographie von Rahel Varnhagen den privaten Charakter von Salon und

formuliert über romantische Innerlichkeit und über innerliche Reflexion als apolitische

Qualität: „Wie die Reflexion die wirkliche, vorhandene Situation in der Stimmung vernich-

tet, so umgibt sie zugleich alles Subjektive mit der Weihe der Objektivität, Öffentlichkeit,

48

Vgl. Jaeggi, 1997b, S. 150. 49

Habermas, 1969, S. 38. 50

Benhabib, 1998, S. 66; die in VA geäußerte Öffentlichkeit sei „den Raum der Erscheinung, in dem mora-

lische und politische Qualitäten offenbar, enthüllt und mit anderen geteilt werden. Dies ist ein kompeteti-

ver Raum, in dem man um Anerkennung, Vorrang und Zustimmung konkurriert; letztlich ist es ein Raum,

in dem man eine Garantie gegen die Vergeblichkeit und die Vergänglichkeit aller menschlichen Dinge

sucht.“ (Benhabib, 1988, S. 172). 51

Benhabib, 1998, S. 20. 52

Vgl. Benhabib, 1998, S. 221f. 53

Vollrath, 1990, S. 13. 54

Vollrath, 1990, S. 13. 55

Benhabib, 1998, S. 53.

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142

höchster Interessantheit. In der Stimmung verwischen sich die Grenzen von intim und öf-

fentlich“.“56

Die rigide Unterscheidung zwischen politisch und gesellschaftlich rekonstruiert Benhabib

durch die Konversion der Handlungstheorie Arendts. Indem Benhabib Arendts Begriff des

politischen Handelns in ein Modell des agonistischen Handelns versus eines narrativen dif-

ferenziert, versucht sie, die von Arendt gezogene Grenze zwischen Politischem und Gesell-

schaftlichem abzuschaffen.57

Emphatisch akzentuiert Arendt die agonale Seite politischen Handelns, wenn sie sagt, dass

das Handeln die Enthüllung dessen ist, wer man ist. Das politische Handeln ohne die agona-

le Seite, das Wer der Person zu enthüllen, wird für Arendt nur zu einer Art Leistung wie

einem Gegenstand, der durch Herstellen hervorgebracht wird.58

An Habermas‟ Diskursmo-

dell des öffentlichen Raums orientiert59

, ist das Modell des agonistischen Handelns bei

Benhabib gegenüber den tatsächlichen Gegebenheiten komplexer, moderner Gesellschaften

nicht haltbar, weil agonales Handeln dann lediglich ein Sonderfall des Handelns sei, der das

alltägliche transzendiert.60

Um eine Veralltäglichung des bei Arendt an außergewöhnliche

Momente gebundenen agonalen Handelns zu ermöglichen, greift Benhabib „das Modell des

narrativen Handelns“ als Form der demokratischen Interaktion auf. Diese demokratische

Interaktion ist dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht nur auf den öffentlichen Erschei-

nungsraum angewiesen ist, sondern auch dass sie in vertraulich-privaten Bereichen, also im

Alltag, erfolgen kann: Narratives Handeln sei in Arendts Theorie ein Handeln, das in ein

Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten und in ihm dargestellter Geschichten einge-

bettet ist. „Das narrative Handeln ist allgegenwärtig, denn es ist der Stoff, aus dem alles

soziale Leben der Menschen, jedes Zusammenleben in Form des Sprechens und Handelns

56

RV, S. 70. 57

Vgl. Benhabib, 1998, S. 204f. 58

Vgl. VA, S. 221. 59

Als historische Folie für die politische Öffentlichkeit gilt Habermas nicht die griechische Polis, sondern

die sich im 18. Jahrhundert formierende bürgerliche Öffentlichkeit, die als „die diskursive Öffentlichkeit“

verstanden wird und im Kontrast zur antiken Polis als agonalistischem Modell steht: „Dem griechischen

Modell der Öffentlichkeit fehlen beide Züge: denn der private Status des Hausherrn, von dem sein politi-

scher als Bürger abhängt, beruht auf Herrschaft ohne irgendeinen durch Innerlichkeit vermittelten Schein

der Freiheit; und agonal ist das Verhalten der Bürger bloß im spielerischen Wettwerb miteinander, der ei-

ne Scheinform des Kampfes gegen den äußeren Feind darstellt, und nicht etwa in der Auseinandersetzung

mit der eigenen Regierung.“ (Habermas, 1969, S. 64). Angesichts seines Verständnisses der Öffentlichkeit

bezeichnet Habermas daher Arendt letztlich als „Opfer eines auf moderne Verhältnisse unanwendbaren

Politikbegriffs“, weil er die Wiederentdeckung vom antiken Vorbild als eine der Moderne nicht angemes-

sene Horizontüberschreitung ansieht (Habermas, 1981b, S. 239). 60

Benhabib konstatiert: „Arendts agonales Modell paßt nicht zur modernen gesellschaftlichen Wirklichkeit,

läßt sich auch nicht mit dem modernen politischen Kampf um Gerechtigkeit vereinen“ (Benhabib, 1995,

S. 129).

Page 145: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

143

gemacht ist.“61

Mit dem Konzept eines narrativen Handelns beseitigt Benhabib auch

Arendts Themenbeschränkung und Grenzziehung zwischen Politischem und Gesellschaftli-

chem, weil das narrative Handeln als bedeutungsschaffendes Element zur Bedingung jeder

gesellschaftlich-kulturellen Struktur überhaupt wird.62

Sofern das narrative Handeln im Mittelpunkt der demokratischen Öffentlichkeit steht, hat

das öffentlich-politische Feld keine klaren Grenzen, die ein für allemal feststehen. So ist

keine substantielle und transzendente Grenze zwischen privaten und öffentlichen Dingen zu

bestimmen. Diese Grenze sei ein Ergebnis historischer Erfahrung.63

Die Frage, was der

konkrete Inhalt des Politischen ist, ist für Benhabib sekundär. Wichtig ist nicht so sehr, was

verhandelt wird, als vielmehr die Art und Weise, wie der Diskurs stattfindet. Daher ist das

demokratische Prinzip Benhabibs der inhaltlichen Auseinandersetzung entzogen: „Wichti-

ger als der Gegenstand des öffentlichen Diskurses ist in diesem Zusammenhang das Wie

(…). Vom Standpunkt dieses prozeduralen Modells aus erscheinen weder die Unterschei-

dung zwischen dem Gesellschaftlichen und dem Politischen noch jene zwischen der Arbeit

unseres Köpers, dem Werk unserer Hände und dem Handeln besonders wichtig.“64

Benhabibs Vorschlag, das substantielle Öffentlichkeitsmodell durch ein prozedurales zu

ersetzen, wäre viel hilfreicher für die Lösung des Problems, dass der Inhalt des von Arendt

verstandenen Politischen leer ist und dass ihr Politikbegriff ohnehin eingeengt ist.65

Aber

Benhabibs Variante ist problematisch in zwei Fragen, ob Arendt den öffentlichen Raum nur

in einem funktionalen Sinn versteht und wie sich die konkreten Personen im prozeduralen

Prozess manifestieren lassen. Nach Benhabibs Auffassung verfügt die Politik über ein über-

legenes Problemlösungspotential, da es ihr um die diskursive Legitimität geht, die nur durch

einen öffentlichen Dialog entstehen kann.66

Das Politische ist daher als gesamtgesellschaft-

61

Benhabib, 1998, S. 204. 62

Zur Kritik an Benhabibs narrativer Variante des Handelnsmodells Arendts siehe Hark, 1999, S. 164; vgl.

dazu auch Honig, 1994, S. 61f.; Jaeggi, 1997b, S. 155. 63

Benhabib, 1995, S. 111. 64

Benhabib, 1995, S. 104f. 65

Es geht hier um den zentralen Einwand gegen Arendts Politikbegriff: Indem Arendt alle Gesellschaftli-

chen von der Politik ausschließt, mache sie den Inhalt des Politischen leer. Die Frage; worüber reden wir

in inhaltlich entleertem Bereich des Politischen, wenn wir alle gesellschaftlichen Sachen von der politi-

schen Diskussion ausschließen müssen? Dieses Problem formuliert Mary McCarthy, Arendts Freundin:

„Nun, ich habe mich immer gefragt: Was eigentlich soll jemand auf der öffentlichen Bühne, im öffentli-

chen Raum noch tun, wenn er sich nicht mit dem Sozialen befasst? Soll heißen: Was bleibt da noch?

(McCarthy, in: IWV, S. 87). 66

Vgl. Benhabib, 1995, S. 3-29: „Ein deliberatives Demokratiemodell versucht genau diese Frage zu beant-

worten. Legitimität und Rationalität können dem deliberativen Modell zufolge in bezug auf einen kollek-

tiven Entscheidungsfindungsprozeß in einem Gemeinwesen dann und nur dann erreicht werden, wenn die

Institutionen dieses Gemeinwesens und ihre ineinandergreifenden Beziehungen so angeordnet sind, daß

das, was als Gemeinwohl (…) aufgefasst wird, sich aus einem rational und fair geführten Prozeß der kol-

lektiven Deliberation unter freien und gleichen Individuen ergibt.“ (S. 9).

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144

licher Prozess verstanden. Aber es bleibt unklar, wie sich bei diesem Prozess die Besonder-

heit von konkreten Personen verwirklichen lässt. Benhabib antwortet nicht auf die Frage,

wie sich gleichzeitig die individuelle Einzigartigkeit und Pluralität im deliberativen Prozess

unverletzt bewahren können.

Für Arendt gibt es die normative Voraussetzung des Politischen, die sich von dem Gesell-

schaftlichen unterscheidet. Damit eine Tätigkeit politisch ist, muss sie die menschliche Plu-

ralität herausbilden und bewahren. Was Arendt von dem öffentlichen Diskurs ausschließt,

ist das, was die Pluralität verletzten könnte. Das zerstört auch die Strukturen des politischen

Handelns und macht den Prozess von politischer Kommunikation selbst unmöglich. Darauf

bezogen gilt es zu beachten, wo Arendt die Grenze zwischen Politischem und Gesellschaft-

lichem setzt. Im Mittelpunkt der Politik steht für Arendt die Sorge um eine so oder anders

beschaffene Welt.67

Wenn die weltlichen Angelegenheiten zum Thema des politischen Dis-

kurses werden, ist dieses Thema zeitlich und räumlich immer offen und fließend.68

Die

thematische Offenheit des politischen Diskurses wird offensichtlich, wenn wir uns an

Arendts Darstellung von der Wohnungsfrage in der Debatte in Toronto erinnern.69

Für

Arendt ist die Wohnungsfrage gesellschaftlich, insofern sie mit einem Konsens über die

jedem zugestandenen annehmbaren Wohnverhältnisse zu tun hat. Die Lösung dieser Frage

lässt sich eher vom Fachmann erwarten, als aus öffentlicher Diskussion. Diese Frage

braucht nicht diskutiert zu werden. Bei den gesellschaftlichen Dingen können wir „mit Si-

cherheit Maßnahmen errechnen“70

. Arendt insistiert, dass den sozialen und ökonomischen

Angelegenheiten „nicht mit politischen Mitteln abgeholfen werden konnte, da es sich hier

nicht um Dinge handelte, denen man durch Urteil, Entschluß und Überzeugung beikommen

konnte, sondern einzig und allein auf dem Wege fachmännisch geleiteter Verwaltung.“71

67

IWV, S. 82. 68

Von dieser thematischen Offenheit des politischen Diskurses spricht Arendt: „Das Leben ändert sich

dauernd, und dauernd sind Dinge da, die dazu auffordern, daß über sie gesprochen wird. Zu allen Zeiten

werden die Menschen, die miteinander leben, Angelegenheiten haben, die in den Bereich des Öffentlichen

gehören – die es wert sind, in der Öffentlichkeit beredet zu werden. Was das im jeweiligen historischen

Augenblick für Sachen sind, ist wahrscheinlich äußerst verschieden. Im Mittelalter zum Beispiel waren

die großen Kathedralen die öffentlichen Räume, die Rathäuser kamen erst später. Und dort musste man

vielleicht über eine Sache sprechen, die auch nicht ohne Interesse war: die Frage nach Gott. Was also zur

jeweils gegebenen Zeit öffentlich wird, scheint mir äußert verschieden zu sein.“ (IWV, S. 88); vgl. Her-

berg-Rothe, 2004, S. 53. 69

Auf die Frage Wellmers, was ein soziales Problem unserer Zeit ist, welches nicht gleichzeitig ein politi-

sches Problem ist, antwortet Arendt folgendermaßen: „Das soziale Problem besteht zweifellos in ange-

messenen Wohnmöglichkeiten. Aber die Frage, ob solch angemessene Wohnmöglichkeit im Zeichen der

Integration stehen soll oder nicht, ist mit Sicherheit eine politische Frage. Jede solche Frage hat zwei Ge-

sichter. Und das eine sollte nicht diskutiert werden – es sollte keine Diskussion darüber geben, daß jedem

eine anständige Wohnung gebührt.“ (IWV, S. 90f.). 70

IWV, S. 89. 71

ÜR, S. 116.

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145

Hier ist sichtbar, dass der Maßstab des Politischen ist, ob es Dinge wert sind, in dem Be-

reich des Öffentlichen mit den verschiedenen Perspektiven aller Beteiligten diskutiert zu

werden. Daher könnte man die Schlussfolgerung ziehen, dass die Wohnungsfrage gleichzei-

tig als gesellschaftlich und als politisch behandelt werden könnte. Arendt lehnt nur ab, dass

die Dinge, die in der gesellschaftlichen Sicht behandelt werden müssen, zum Thema der

politischen Debatte werden. Wenn die gesellschaftlich und technisch zu lösenden Dinge

zum politischen Thema würden und wenn sich „politische Prinzipien in gesellschaftliche

Werte transformieren“72

würden, könnte sich die Pluralität der Meinung und der Handlung

aufheben.

Schließlich könnte man urteilen: Benhabibs Theorie der deliberativen Demokratie verkennt

den Aspekt des agonalen Handelns als des konstitutiven Prinzips der Pluralität für Arendts

Theorie einerseits und schließt den kritischen Ansatz gegenüber der modernen – liberalen

Gesellschaft, wo die Politik nur die Funktion und das Verfahren zur Einheit der Gesell-

schaft charakterisiert, aus. Die Politik als Funktion zu begreifen, erlaubt die Politik tech-

nisch zu gestalten und damit „jede Form der substanziellen Debatte zwischen verschiedenen

Lebensformen unmöglich und unnötig zu machen“73

. Das Politische existiert immer in der

Auseinandersetzung der pluralen Meinungsdifferenz. „Radikaler Dissens ist konstitutiv für

die moderne Demokratie. Moderne Demokratie heißt, daß es in allen lebenswichtigen Fra-

gen Dissens und Konflikt geben kann.“74

In diesem Zusammenhang erhebt Wellmer den

Einwand gegen Benhabibs Interpretation zutreffend. Er versucht einerseits, die Schwäche

von Arendts Politikbegriff für die Demokratietheorie zu zeigen, und andererseits die Diffe-

renz zwischen den liberalen Theorien und Arendts Politikverständnis fruchtbar zu machen:

„Dies legt eine alternative Interpretation nahe, eine Interpretation, die versucht, Arendts

Begriff des Politischen demokratietheoretisch, etwa im Sinne von Habermas‟ Demokratie-

theorie, zu integrieren. Das Problematische dieses Interpretationsansatzes liegt in der Ge-

fahr einer diskurstheoretischen Einebnung von Arendts Kritik am liberal-demokratischen

Dispositiv“.75

Wellmer vertritt die These, die prozedurale Konzeption des Politischen defi-

niere nur eine Bedingung der Freiheit und gebe uns noch keinen zureichenden Begriff der

politischen Freiheit an die Hand.76

Im Vergleich zum rationalen Diskurs hält Albrecht

Wellmer, im Gegensatz zu Benhabib, den agonalen Charakter des Arendtschen Politikbe-

griffs für positiv und damit geht es ihm um „eine Verbindung von Deliberation und Han-

72

ÜR, S. 285. 73

Jaeggi, 2003, S. 250. 74

Brunkhorst, 1994b, S. 92. 75

Wellmer, 1999, S. 134f. 76

Wellmer, 1999, S. 152f.

Page 148: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

146

deln“.77

Er konstatiert: „Und sie (Hannah Arendt: H. P.) hat, wie ich glaube, recht, wenn sie

in den Bedingungen der Realisierung dieses Wunsches (nach politischer Freiheit: H. P.) ein

voluntatives, ein performatives und kontingentes Element hervorhebt, das sich in Katego-

rien des Rechts und denen eines rationalen Diskurses deshalb nicht fassen läßt, weil es al-

lererst einen Begriff politischer Freiheit ins Spiel bringt und auszuarbeiten erlaubt, der we-

der im Begriff des Rechts noch in dem des rationalen Diskurses bereits enthalten wäre.“78

77

Ahrens, 2005, S. 199. 78

Wellmer, 1999, S. 155.

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147

III. Philosophie und Pluralität

1. Politische Philosophie und Politische Theorie

1.1 Arendts Abkehr von der philosophischen Tradition

Wie in VA klar gezeigt ist, wird Arendts Kritik an der modernen Gesellschaft in der Ausei-

nandersetzung mit der philosophischen Tradition des Westens geübt. Mit dem Phänomen

der Negation der Pluralität in der modernen Massengesellschaft eng verbunden ist die Ref-

lexion auf das Verhältnis von Politik und Philosophie.1 In der Tradition der Philosophie

sieht Arendt die Geschichte der Politikvergessenheit.

Bekanntlich hat Arendt ihren Denkweg in der Philosophie begonnen, als sie in der Begeg-

nung mit den beiden bedeutendsten Hauptdarstellern der deutschen Existenzphilosophie,

Karl Jaspers und Martin Heidegger, studiert hat. Damals ist sie im typischen „bildungs-

bürgerlichen Ressentiment des Unpolitischen“ geblieben.2 In einem Brief an Gerhard

Scholem äußert Arendt selbst ihr philosophisches Anliegen und ihr politisches Desinteres-

se: „ich (interessierte) mich in der Jugend weder für Geschichte noch für Politik. Wenn ich

überhaupt aus etwas hervorgegangen bin, so aus der deutschen Philosophie.“3

In einem berühmten Fernsehgespräch von 1964 lehnt sie beharrlich ab, sich Philosophin

zu nennen. Damals sagt sie: „Ich gehöre nicht in den Kreis der Philosophen. Mein Beruf

(…) ist politische Theorie (…). Ich habe meiner Meinung nach der Philosophie doch end-

gültig Valet gesagt. Ich habe Philosophie studiert (…) aber das besagt ja noch nicht, daß

ich dabei geblieben bin.“4 In der Tat erweist sich ihr Denken als die ausdrückliche Abkehr

von der philosophischen Tradition und zugleich als ein „Schritt in Richtung Politik“.5 Was

drängte sie zum „Wagnis der Öffentlichkeit“?6 Uns geht es um die Frage nach dem Grund

dafür. Die Beantwortung dieser Frage kann auf zweierlei Weisen geschehen: Einerseits

aus ihrer persönlichen Erfahrung des Nationalsozialismus und andererseits aus ihrer

Denkübung im Verständnis der politischen Realität.

1 „Ich bin mitten in meiner Vita activa, und das Verhältnis von Philosophie und Politik, das mir eigentlich

noch mehr am Herzen liegt, habe ich gerade gründlich vergessen müssen.“ (BAJ, S. 326). 2 Vollrath, 1991, S. 156-169, hier 156.

3 Arendt, Brief an Gerhard Scholem, 20.07. 1963, in: IWV, S. 29.

4 IWV, S. 44; umstritten ist, ob Arendt letztlich mehr von der Philosophie oder von der Politik her zu ver-

stehen ist. Dazu siehe Speth, 1996, S. 74ff. 5 Young-Bruehl, 1986, S. 148ff.

6 MfZ, S. 85; dieser Ausdruck stammt eigentlich von Jaspers, 1965, S. 121.

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148

Ohne Zweifel ist Arendts Interesse und Verständnis für die Politik in den Erfahrungen des

wachsenden Antisemitismus und des totalitären Nationalsozialismus geweckt worden.7

Als Jüdin ist Arendt durch den Kampf gegen den Nationalsozialismus in die politische

Realität getreten, weil sie ihre Zugehörigkeit zum Judentum als eigenes Problem, und das

heißt als politisches Problem zu begreifen begann.8 Das von der Erfahrung des Totalita-

rismus und Antisemitismus geprägte Politikverständnis gerinnt zur elementaren Grundlage

ihrer politischen Theorie. Die Weltlosigkeit, Staatslosigkeit, Menschenrechte und die

Überflüssigkeit der Menschen, die Arendt als Jüdin und als Staatenlose erfahren hat, be-

gründen die thematischen Fundamente ihrer Theorie des Politischen.9 Darauf weist Cano-

van in ihrer Reinterpretation von Arendts Werk hin: „Man kann (…) nicht (…) umhin, ihr

ganzes politisches Denken im Licht ihrer Totalitarismustheorie zu verstehen.“10

Vor dem

Hintergrund dieser Betrachtungsweise kann man die Auffassung vertreten, dass Arendts

politische Theorie weder in der romantischen Nostalgie der griechischen Antike noch in

der existenzphilosophischen Einstellung wurzelt.11

Insofern wird ihr Denken als Antwort

auf die politischen Katastrophen des 20. Jahrhundert in neuer Weise verständlich.

Die persönliche Haltung der philosophisch Gebildeten zur politischen Krisenzeit bildet

einen Hintergrund für die Arendtsche Auseinandersetzung mit der Tradition politischer

Philosophie. Vor der politischen Katastrophe erschien die Haltung der philosophischen

Intelligenten Arendt als unpolitische Gefährdung.12

Den philosophisch Gebildeten fehlte

nach Arendts Sicht die Fähigkeit, politisch zu urteilen. Was Arendt gesehen hat, ist, dass

viele der Philosophen der Zusammenarbeit mit den Nazis ausgesetzt waren. Insbesondere

gab die Unterstützung des Nationalsozialismus von ihrem philosophischen Lehrer, Hei-

degger, den Ausschlag für ihre Abwendung von der Philosophie.13

Die damalige Erfah-

7 Vgl. Canovan, 1992, S. 2; Ludz, 1989, S. 627f.; Bernstein, 1996, S. 106f.; Pohlmann, 1998, S. 201ff.;

Marchart, 2005, S. 20f. 8 Arendts politisches Bewusstsein lässt sich auf das Interesse an der Judenfrage zurückführen. Für ihr poli-

tisches Interesse an der Judenfrage war der Einfluss von Kurt Blumenfeld und ihrem Mann, Heinrich Blü-

cher, entscheidend. Sie schrieb an Jaspers 1946: „Meine nicht-bürgerliche oder literarische Existenz be-

ruht darauf, daß ich dank eines Mannes politisch denken und historisch sehen gelernt habe und daß ich

andererseits nicht davon abgelassen, mich historisch wie politisch von der Judenfrage her zu orientieren“

(BAJ, S. 67). Und im Jahr 1952: „Ich war von Hause aus einfach naiv; die sogenannte Judenfrage fand ich

langweilig. Die Augen in dieser Hinsicht hat mir Kurt Blumenfeld geöffnet“ (BAJ, S. 234); vgl. Barley,

1988, S. 113ff.; Brumlik, 2001, S. 57-71. 9 Judesein als unbezweifelbare Faktizität ihres Lebens festigt in ihr das Bewusstsein, „Paria“ zu sein. Ein

Paria ist der, welcher „in der Wirklichkeit der politischen und sozialen Welt keinen angestammten Platz

hat.“ (VT, S. 86). 10

Canovan, 1997, S. 94; Crick, 1979, S. 232. 11

Im Gegensatz dazu versteht Söllner Arendts Analyse des Totalitarismus als einen großen existenzphiloso-

phischen Wurf (Söllner, 2006, S. 114ff.). 12

Vgl. Sontheimer, 2005, S. 37f. 13

Dazu siehe Young-Bruehl, 1986, S. 167ff.

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149

rung erklärt Arendt in dem Interview mit Gaus: „Das Problem, das persönliche Problem

war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. Was

damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch

nicht unter dem Druck des Terrors vorging: das war, als ob sich ein leerer Raum um einen

bildete. Ich lebte in einem intellektuellen Milieu, ich kannte aber auch andere Menschen.

Und ich konnte feststellen, daß unter den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen

die Regel war. Aber unter den andern nicht. Und das hab‟ ich nie vergessen.“14

Arendts kritischer Tenor bezüglich der Tradition politischer Philosophie beschränkt sich

nicht auf die Frage der Person. Ihre Kritik ist radikaler, weil sie jene antipolitische Gefähr-

dung nicht aufgrund dieser oder jener Zufälle, sondern in der ihnen zugrundeliegenden pa-

radigmatischen Tradition sieht. Durch eine radikale Neuinterpretation der Tradition der po-

litischen Philosophie findet sie „eine Art von Feindseligkeit gegen alle Politik bei den meis-

ten Philosophen“.15

Diese Feindseligkeit gilt für sie als „Antipolitik“16

. Darauf bezogen

empfindet Arendt die Bezeichnung „Politische Philosophie“ als sehr widersprüchlich.17

In

diesem Zusammenhang vertritt Arendt die umstrittene These, dass die spezifisch antipoliti-

sche Wurzel des totalitären Phänomens, also die Vernichtung der menschlichen Pluralität

und die Abschaffung des Politischen, in der Tradition der politischen Philosophie des Wes-

tens verankert sei. Nicht nur mit dem Totalitarismus, sondern auch mit dem modernen Ge-

sellschaftsphänomen ist die westliche politisch-philosophische Überlieferung Arendts Auf-

fassung zufolge verbunden. In EU wie in VA analysiert Arendt diesen Zusammenhang in

historisch-phänomenologischer Weise. Daraus folgt, dass der Totalitarismus kein bloßer

Unfall in der Geschichte war, sondern er mit der Tradition politischer Philosophie zu tun

hat. Daher dehnt Arendt ihre politische Totalitarismusanalyse zu einer Fundamentalkritik an

der philosophischen Abneigung gegen politische Pluralität aus: „Nun habe ich den Ver-

dacht, daß die Philosophie an dieser Bescherung nicht ganz unschuldig ist. Nicht natürlich

in dem Sinne, daß Hitler etwas mit Plato zu tun hätte (…). Aber wohl in dem Sinne, dass

diese abendländische Philosophie nie einen reinen Begriff des Politischen gehabt hat und

14

IWV, S. 56; schon 1931 bemerkte Jaspers Arendts Enttäuschung über die akademisch Gebildeten: „Fast

glaube ich, eine antiakademische Stimmung – begreiflicherweise – bei Ihnen wahrzunehmen.“ (BAJ, S.

50). 15

IWV, S. 45. 16

Nach Hella Mandt ist „Antipolitik“ mehr als Geringschätzung und Verständnislosigkeit gegenüber Politik.

Sie definiert Antipolitik als „die bewusste und bedachte Ablehnung der Politik“, die auf der Feindseligkeit

gegen Politik beruht (Mandt, 1987, S. 386). 17

IWV, S. 45.

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150

auch nicht haben konnte, weil sie notgedrungen von dem Menschen sprach und die Tatsa-

che der Pluralität nebenbei behandelte.“18

1.2 Die Tradition politischer Philosophie

Um auf die Arendtsche Kritik an der Tradition politischer Philosophie eingehen zu können,

soll zunächst geklärt werden, was unter „Tradition“ zu verstehen ist. Arendt definiert den

Begriff „Tradition“ als „die Kette, an die das Weltverständnis und der Erfahrungshorizont

jeder neuen Generation, ob sie sich dessen bewußt war oder nicht, angeschlossen wurde.“19

Der Begriff der Tradition entstand, als die Römer ihr eigenes Denken der griechischen

Überlieferung unterwarfen. Vor dieser eindrucksvollen Annahme eines fremden Erbes war

der Begriff „Tradition“ in seinem speziellen Sinn unbekannt.20

In diesem Verständnis legt

Arendt besonderen Nachdruck auf Tradition in der politischen Philosophie. „Die abendlän-

dische Tradition politischen Denkens hat einen klar datierten Anfang, sie beginnt mit den

Lehren Platos und Aristoteles‟. Ich glaube, sie hat in den Theorien von Karl Marx ein eben-

so definitives Ende gefunden.“21

Das „Ende der Tradition“ bedeutet aber nicht notwendi-

gerweise den Verlust der Macht des traditionellen Begriffsgerüstes über die Gedanken der

Menschen und über die Realität des Politischen. Die „außerordentliche Stärke und Zähig-

keit unserer Denktradition“22

kann, wie Arendt meint, vielmehr dann tyrannischer und bez-

wingender werden, wenn die Tradition ihre lebendige Kraft verloren hat, wenn die Begriffe

abgenutzt und die Kategorien platt geworden sind, weil es keinen Verbindungspunkt zu

Alternativen mehr gibt.23

Daher lässt sich das Ende der Tradition nur durch die Reflexion

über die Tradition verwandeln in „die große Chance, auf die Vergangenheit mit einem von

keiner Überlieferung getrübten Blick zu schauen“.24

In diesem Kontext betrachtet stellt die

Kritik der Tradition keine Ablehnung der Tradition dar, sondern die Forderung nach dem

Nachdenken über die Tradition, also „die Forderung, ohne Geländer zu denken“.25

Wenn von der Tradition politischer Philosophie des Westens die Rede ist, haben wir es je-

doch keineswegs mit einem einheitlichen Konzept politischer Philosophie zu tun.26

Man

18

BAJ, S. 203. 19

ZVZ, S. 34 und S. 190. 20

Vgl. ZVZ, S. 34. 21

ZVZ, S. 23. 22

ÜR, S. 229. 23

Vgl. ZVZ, S. 34f. 24

ZVZ, S. 38. 25

Ludz, 1989, S. 628. 26

Der amerikanische Politikwissenschaftler, Gunnell, erhebt starken Einwand gegen die Behauptung, dass

die einheitliche Tradition in der Geschichte der politischen Philosophie existiert, und er bezeichnet diese

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151

kann überhaupt keine generelle Kritik der verschiedensten Konzeptionen in der geschichtli-

chen Entwicklung dieser Denkungsart üben, weil jede Konzeption der politischen Philoso-

phie die der eigenen Zeit entsprechende historische Bedeutung hat. Der Zusammenhang

zwischen der zeitlichen Krisenerfahrung und Theoriebildung ist bereits seit Plato für die

politische Philosophie charakteristisch. Für diese „zeitkritische Ordnungsreflexion“ 27

spielt

die Tradition, wie Arendt erkennt, eine bedeutsame Rolle als „Leitfaden durch die Schatz-

kammern der Vergangenheit“28

. So gesehen lässt sich Arendts Kritik der Tradition politi-

scher Philosophie nicht als die gesamte Ablehnung der Geschichte des politisch-

philosophischen Denkens verstehen. In der Tat kehrt Arendt in ihrer Übung politischen

Denkens immer wieder zu bestimmten Werken der politischen Philosophen zurück. Die

verschiedenen Philosophen sind die Gesprächspartner für ihr politisches Denken.29

Bei Arendts Kritik handelt es sich um die „ursprünglich anti-politische Tradition“30

, die auf

die politische Realität beständig gewirkt hat und wirkt. Diese Kritik ist eine Art Destrukti-

on, die darauf abzielt, die Elemente und Ursprünge der nicht-politischen Begriffe des Politi-

schen aufzudecken und zu klären. Damit versucht Arendt, „die Grundlagen der politischen

Philosophie seit Platon umzuwälzen, insofern diese eine endgültige Flucht aus der Politik

ist“.31

Anders gesagt ist ihr politisches Denken der Kampf gegen die politische Philosophie

ohne Politik. In diesem Kampf wendet sich Arendt der Welt des Politischen zu, die von der

Philosophie traditionell missachtet worden ist.

Was sind „fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart“?32

Was

ist die antipolitische Tradition der politischen Philosophie, die Arendt beklagt? Arendt

scheut sich nicht, zu sagen, dass zu dieser Tradition der Versuch gehört, „Politik als das

Behauptung als die Mythisierung der Tradition. In diesem Zusammenhang versucht er, die wissenschaft-

liche Bedeutung von Autoren wie Arendt, Leo Strauss und Eric Voegelin „unter dem Gesichtspunkt der

Mythisierung der Tradition als einheitliches Corpus aus seiner Entstehung“ zu erklären. Hier scheint es

unübersehbar zu sein, dass Gunnell ihre unterschiedliche Haltung gegenüber der Tradition politischer

Philosophie nicht berücksichtigt. Auch wenn Leo Strauss und Eric Voegelin den Niedergang der Tradition

abendländischen politischen Denkens beklagen, versuchen sie, im Gegensatz zu Arendt, die Tradition po-

litischer Philosophie zu retten (Dazu siehe Gebhardt, 2004a, S. 61ff.). Im Gegensatz zu Gunnells Behaup-

tung richtet sich das politische Denken Arendts gegen das Vergangene als Tradition und Autorität. In die-

sem Sinne spricht Julia Kristeva in ihrer Festrede anlässlich der Hannah-Arendt-Preisverleihung im Jahr

2006 von Arendts „Entmystifizierung der politischen Tradition“ (Kristeva, 2007, S. 6). 27

Stammen, 1997, S. 15- 46, hier S. 26ff. 28

ZVZ, S. 34. 29

Vgl. Ludz, 1989, S. 628: „In einer irreduziblen Weise ist ihre Methode des Philosophierens mit ihren

politischen Einsichten legiert, und in ihren Haltungen als politische Theoretikerin sind ihre Erfahrungen

als Philosophin gegenwärtig. Die Philosophie verschwindet also nicht aus ihrem Werk, aber man kann of-

fensichtlich nicht von Arendt als von einer Philosophin sprechen.“ (Nordmann, 1994, S. 29). 30

ZVZ, S. 217. 31

Kristeva, 2001, S. 357; vgl. Parekh, 1981, S. 1ff. 32

Arendt, 1957.

Page 154: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

152

Problem der Pluralität zu eskamotieren“.33

Die „Bankrotterklärung sämtlicher politischer

Philosophie“34

, die bei modernen Phänomenen wie dem Totalitarismus gezeigt wurde, führt

Arendt darauf zurück, dass die traditionelle Philosophie des Politischen die menschliche

Bedingung der Pluralität als notwendige Voraussetzung jeglicher politischer Welt nicht

ernst nimmt. Unter solcher Tradition hat die Politik immer wieder mit metaphysischen Be-

gründungen gearbeitet.35

Die politische Theorie Arendts ist in der Tat der Ausdruck des Versuches, „die Metaphysik

und die Philosophie mit allen ihren Kategorien (…) zu demontieren.“36

Der Gegenstand

dieser Demontage ist „die politische Geschichte“37

, die immer „von Leuten geprägt worden

war, die ein kontemplatives Leben führten und alles Seiende von diesem Standpunkt aus

betrachteten.“38

Hinsichtlich dieser Demontage kündigt sich Arendts „anti-foundationalism“

und die „postmoderne“ Seite ihres traditionelle metaphysische Maßstäbe verwerfenden

Denkens an.39

Arendts Abschied von der metaphysischen Tradition politischer Philosophie ist zunächst

durch ihre Ablehnung aller philosophischen Bemühung gekennzeichnet, die Gründung des

menschlichen Zusammenlebens und die Begründung der Politik durch die Wesensbestim-

mung des Menschen gekennzeichnet. Die sogenannte politische Anthropologie Arendts ist

der Ausdruck der Ablehnung der metaphysischen Tradition.40

Sobald die Philosophie den

Menschen im Singular betrifft, als ob es nur einen Menschen gäbe, sei sie ihrem Wesen

nach unpolitisch.41

In einem Brief an Eric Voegelin erwähnt Arendt ihre Vorstellung von

der Tradition politischer Philosophie: „Wie kommt es, daß wir aus unserer Tradition nicht

33

DTB, S. 96. Hervorhebung im Original. 34

Barley, 1990, S. 89. 35

„Das metaphysische Denken aber ist seit alters her – nämlich seit Platon und Aristoteles – mit einer Meta-

physik des Politischen verbunden. Diese ist in ihren Schlüsselbegriffen wie in ihrem ganzen Horizont von

Annahmen getragen, die nicht der politischen Erfahrung entsprungen sind, sondern dem metaphysischen

Verständnis des Seins. Das mindeste, was man sagen kann, ist, daß Platon und Aristoteles als Gründer der

politischen Metaphysik die griechischen Erfahrungen mit dem Bereich des Politischen an die metaphysi-

sche Auslegung des Seins angeglichen haben.“ (Vollrath, 1979a, S. 20). 36

DD, S. 207. 37

DD, S. 207. 38

DD, S. 16. 39

Canovan, 1992, S. 278; vgl. Heuer, 1997, S. 600; vom Ende oder vom Tod der Metaphysik ist die Rede

für die sogenannte postmoderne Position charakteristisch: „Den postmodernen Theoretikern zufolge,

stand die westliche Metaphysik mindestens seit Platon unter dem Bann der Metaphysik der Präsenz. Für

die postmodernen Theoretiker verbirgt die Suche nach dem Realen nur das Begehren der meisten westli-

chen Philosophen, die Welt ein für alle Mal zu beherrschen, indem man sie in ein illusorisches, doch ab-

solutes System einschließt, das nach Meinung der Philosophen ein einheitliches Wesen jenseits von Ge-

schichte, Besonderheit und Veränderung repräsentiert bzw. ihm entspricht. Insofern das Reale der Grund

der Wahrheit ist, muß die Philosophie als privilegierte Repräsentation des Realen und Hinterfragen der

Wahrheitsansprüche eine grundlegende Rolle in jedem positiven Wissen spielen.“ (Flax, 1990, 32f.; zit.

nach Benhabib, 1993a, S. 10). 40

Vgl. Gerhardt, 1990a, S. 11. 41

ZVZ, S. 348.

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153

imstande waren, die uns von unserer Zeit gestellten politischen Fragen zu beantworten. Dies

führt zu der weiteren Frage: Was ist Politik seit Platon? Und sind die seit Platon gegebenen

Antworten zureichend? Ich weiß, daß es Ihnen hybrid klingen wird, wenn ich sage: ich

glaube nicht. Ich habe den Verdacht, daß in dieser, der rein politischen Hinsicht, irgendet-

was in unserer philosophischen Tradition nicht in Ordnung ist. Ich weiß nicht, was es ist,

aber es scheint mir im Zusammenhang mit der Pluralität der Menschen zu stehen und mit

dem Faktum, daß die Philosophie es vorwiegend mit dem Menschen zu tun gehabt hat.“42

Die metaphysische Tradition politischer Philosophie ist eng mit den Zweiweltlehren, die

davon ausgehen, dass die Erscheinung nur ein Trugbild, ein bloßer Schatten des wahren

Seins sei, verknüpft. In der Metaphysik, die man die Lehre vom Ganzen nennt, wird die

Vielfalt der Erscheinungen in der Welt unterschätzt. Indem sie die konkrete Vielfalt auf

bestimmte Elemente zu reduzieren trachtet, versucht die metaphysische Tradition, das Gan-

ze des menschlichen Lebens und der menschlichen Welt zu erklären. Der Dualismus, also

„der Vorgang des Grundes, der nicht erscheint“43

, gehört Arendt zufolge zum ältesten und

hartnäckigsten Irrtum der Metaphysik, der zur hierarchischen Beziehung zwischen der Phi-

losophie und der Politik führt. Wenn die erscheinende Welt und die menschlichen Angele-

genheiten etwas Trügerisches und Falsches wären, fragt man sich, was der Sinn der Politik

ist. Im Gegensatz zur metaphysischen Konstellation von bloßer Erscheinung und von wah-

rem Sein besteht Arendts Anliegen in „Rettung der Erscheinung“44

.

Der Dualismus von Erscheinung und Sein hat mit der Weltlosigkeit der philosophischen

Lebensweise zu tun. Die Philosophie, die sich für die hinter den vielfältigen Phänomenen

stehenden verborgenen Wesen interessiert, lenkt den Menschen von seiner wahren Verant-

wortung für die gemeinsame Welt ab. Wie Arendt immanent kritisiert, ist für das philoso-

phische Leben die Verschiebung des Interesses von der Welt auf das introspektive Selbst

charakteristisch. Wesen und Würde des Menschen werden allein in der geistigen Seele an-

gesetzt, die wesenhaft unsterblich ist. Im Politikverständnis von Arendt hingegen geht es

um die Sorge um die gemeinsame Welt als den Bereich der pluralen Erscheinungen.45

Arendt behauptet: „Nichts in dieser unserer Welt ist vielleicht eine größere Überraschung

42

Arendt an Eric Voegelin am 08. 04. 1951; zit. nach Breier, 2001, S. 63. 43

DD, S. 32ff. 44

DD, S. 63; vgl. auch DD, S. 29. 45

„Die Philosophie mag eine Vorstellung von der Erde überhaupt als der Heimat des Menschengeschlechts

haben, für das in seiner Gesamtheit ein ewiges, überall gültiges, ungeschriebenes Gesetz existiert; die Po-

litik hat mit Menschen im Plural und nicht mit einem Menschengeschlecht oder dem Menschen überhaupt

zu tun, und diese Menschen sind Bürger vieler Nationen und Erben vieler Vergangenheiten. Sie leben in-

nerhalb des positiven Rechts und ihre Gesetze sind die festen Gehege, welche den Raum, in dem Freiheit

kein Begriff und keine Vorstellung, sondern eine lebendige politische Realität ist, einschließen, ihn schüt-

zen und abgrenzen.“ (MfZ, S. 93f.).

Page 156: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

154

als die schier unendliche Vielfalt ihrer Erscheinungen.“46

Diese Betonung der Erschei-

nungswelt ermöglicht das neue Verständnis der Phänomene der weltlichen Pluralität.

1.3 Die politische Theorie als die Theorie der Pluralität

Arendts Kritik an der Tradition politischer Philosophie ist ein Ausdruck des Versuches, die

wesentlichen Bestandteile der politischen Theorie aufzuzeigen. Von dieser Kritik entwirft

Arendt „ein neues Lexikon politischer Theorie“.47

In diesem neuen Lexikon konzipiert sie

den Begriff der Pluralität als das Fundament der politischen Theorie, weil Pluralität „den

Grundzug des politischen Phänomens“48

darstellt.

Wenn Arendt sich selbst nicht als politische Philosophin bezeichnet und wenn sie von der

politischen Theorie spricht, kann man die Frage aufgreifen, ob und wo der Unterschied zwi-

schen politischer Philosophie und politischer Theorie liegt.49

Allerdings hat Arendt die Dif-

ferenzierung politischer Theorie von politischer Philosophie nicht eindeutig thematisiert.

Trotzdem hat sie in ihrem Werk die Eigenständigkeit der Politischen Theorie in der Poli-

tikwissenschaft aufgestellt. Wolin lenkt unsere Aufmerksamkeit auf Hannah Arendt als

Politische Theoretikerin, die sich von einer politischen Philosophin unterscheidet. Er be-

zeichnet diese Unterscheidung als eine besondere Leistung Arendts, dass sie die politische

Theorie zu einem eigenständigen Gebiet der Politikwissenschaft macht, und zwar zum Kern

der Disziplin.50

Wenn man die politische Philosophie als Versuch definiert, um es mit Leo Strauss zu sagen,

„Meinungen über die politischen Grundprinzipien – die Natur der politischen Dinge und die

richtige oder gute politische Ordnung – durch Wissen zu ersetzen“51

, wird sie unterschieden

sowohl vom politischen Denken, „das über politische Ideen reflektiert und dem die Unter-

scheidung von Meinen und Wissen gleichgültig ist“, als auch von der politischen Theorie,

„welche die politische Situation ihrer Zeit mit dem Ziel einer Politikempfehlung analysiert,

ohne politische Grundprinzipien in den Blick zu nehmen.“52

Während die politische Theorie

den Versuch macht, das politische Handeln und die auf ihm beruhende politische Wirklich-

46

DD, S. 30. 47

Disch, 1996, S. 24. 48

Vollrath, 1988, S. 488. 49

Die Trennung von politischer Theorie und politischer Philosophie wird häufig äquivok behandelt. Unter

Verweis auf den angloamerikanischen Raum, in dem beide Begriffe promisk gebraucht werden, wehrt

Wolfgang Kersting gegen enge Grenzziehungen zwischen politischer Philosophie und politischer Theorie

(Kersting, 1999, S. 49). 50

Vgl. Wolin, 1979, S. 188. 51

Strauss, 1955, S. 124; zit. nach Kauffmann, 2000, S. 182f. 52

Kauffmann, 2000, S. 183.

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155

keit zu verstehen, lässt sich politische Philosophie als normativer Entwurf einer gerechten

politischen Ordnung in ihrer zeitlosen Wahrheit fassen.53

Während die politische Philoso-

phie auf philosophische Erkenntnis von der Wahrheit für die richtige politische Ordnung

abzielt, versucht die politische Theorie, „den Rang und die Würde der Meinung als eines

Vermögens menschlicher Vernunft ausdrücklich geltend zu machen“.54

Wenn von politischer Theorie die Rede ist, lässt sie sich von dem Begriff dieser philosophi-

schen Theorie unterscheiden. In der philosophischen Sprache definiert sich Theorie als eine

hochabstrakte, handelnsferne und weltfremde Betrachtungsweise. Das Problem der Theorie

ist seit Plato ein Problem der Erkenntnis des wahrhaften Allgemeinen durch „das göttliche

Schauen“55

. Dieses theoretische Wissen erhebt sich eindeutig über die Ebene der weltlichen

Erfahrung. Vielmehr kann die Verdorbenheit unserer politischen Begriffe, Kategorien und

Besinnung für Arendt auf die Trennung zwischen Theorie und Erfahrung zurückgeführt

werden. Nach ihrer Überzeugung hat der „Mangel an primitivster begrifflicher Klarheit und

Deutlichkeit, was entscheidende politische Erfahrungen und Realitäten anlangt, auf der

abendländischen Geschichte im Grunde seit dem Perikleischen Zeitalter gelegen, als die

Denker sich von den Handelnden schieden und das Denken begann, sich von politischer

Faktizität und Erfahrung zu emanzipieren bzw. beschloß, diese Wirklichkeitsaspekte nicht

eigentlich ernst zu nehmen.“56

Die politische Theorie wird nur möglich, wenn man Politik mit den „von der Philosophie

ungetrübten Augen“57

sieht. Zum politischen Theoretisieren muss man das Faktum der Plu-

ralität und die Phänomene einer von der Pluralität geordneten Welt als „die elementaren

Probleme des Politischen“58

anerkennen. Für Arendt geht die politische Theorie von der

Wirklichkeit der Welt und von der in ihr herauszubildenden Pluralität der Menschen aus.

Daraus leitet Margaret Canovan ihre schlussfolgernde Deutung ab, dass Hannah Arendts

wichtigster Beitrag zur politischen Theorie darin liegt, das Wort „Pluralität“ eingeführt und

den Sinn für seine Bedeutung geschärft zu haben.59

In einer kurzen und ausgezeichneten

Formulierung stellt Ursula Ludz treffend fest: „Nie zuvor und danach ist mit gleicher Inten-

sität die Pluralität des Menschen als Voraussetzung allen Theoretisierens und Philosophie-

rens über Politik in die Debatte geworfen worden.“60

53

Vgl. Kymlicka, 1996, S. 14. 54

ÜR, S. 295. 55

Plato, Pol. 517 d. 56

ÜR, S. 229. 57

IWV, S. 45. 58

ZVZ, S. 24. 59

Canovan, 1992, S. 281. 60

Ludz, 1993, S. 179.

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156

Die Aufgabe der politischen Theorie besteht darin, die politische Realität und Erfahrungen

aus verhängnisvoller Vergessenheit und Verallgemeinerung zu retten und neu zu aktualisie-

ren. 61

Sie ist daher der Hüter der politischen Realität, die sich ungeachtet aller Zufälligkeit

durch die politischen Erfahrungen des Handelns herausgebildet hat. Die Eigentümlichkeit

der politischen Theorie von Arendt bemerkt ihr Lehrer, Karl Jaspers. In der Erwiderung auf

die Kritik seiner Schrift Wohin treibt die Bundesrepublik nennt er Arendt im Gegensatz zu

den Politologen, bei denen „Sätze aus den großen Werken der Philosophie und des politi-

schen Lebens mitschwimmen wie zu Trümmern gewordene Redensarten“, eine ursprüngli-

che Denkerin der Politik, die „verstehend auf dem Wege über das Verstehen der gegenwär-

tigen Wirklichkeit“ zu neuen Erkenntnissen gelangt.62

Politisches Theoretisieren ist von Arendt als ein auf Erfahrungen und Phänomene bezoge-

nes Nachdenken bezeichnet worden. Sie stellt keinen normativen Entwurf eines bestimmten

politischen Ideals dar, sondern ergibt sich „aus Geschehnissen der lebendigen Erfahrung“63

in der politischen Welt, die die Handelnden stiften, bewahren, verändern oder abschaffen.

Die Erfahrungen und darin die Erinnerungen, die der politischen Theorie zugrunde liegen,

sind weder geschichtlich noch philosophisch, sondern stets politisch.64

Im Gegensatz dazu

besteht die Gefahr einer von Geschichte und Erfahrung unabhängigen Anwendung von

Theorien darin, dass deren Plausibilität eher auf ihrer logischen oder methodologischen

Stimmigkeit beruht als darauf, dass sie tatsächlichen Ereignissen angemessen sind.65

Arendts Politische Theorie zielt nicht auf generalisierende Aussagen über die politische

Wirklichkeit; sie wird daher „nicht zu einer naturalistischen Doktrin, sondern zu einer Öff-

nung der Wirklichkeit und ihrer pluralistischen Verfassung.“66

Aber wenngleich die Erfahrungen der Gegenstand politischer Theorie sind, bleiben sie

blind, wenn sie nicht überprüft und überdacht werden. In diesem Sinne kann die Erfahrung

selbst noch nicht die politische Theorie sein, weil die politische Theorie keineswegs die

Nacherzählung geschichtlicher Ereignisse ist. Die bloße Erfahrung bleibt immer noch im

Bereich des Vorurteils. Wenn die Vorurteile in offenen Konflikt mit der realen Erfahrung

61

Vgl. Wolin, 1979, S. 191. 62

Jaspers, 1967, S. 186. 63

ZVZ, S. 18. 64

Vgl. Kohn, 1997, S. 32; in diesem Kontext ist die vorphilosophische Erfahrung der Polis für Arendt der

Ausgangspunkt zur Wiedergewinnung der politischen Welt und zur politischen Begriffsbildung. Ihre his-

torisch-phänomenologische Besinnung auf die vorphilosophische Erfahrung der Polis ist z.B. durch eine

Feststellung gekennzeichnet: Die Aristotelische Bestimmung des Menschen als politisches und mit Spra-

che begabtes Wesen „ist in Wahrheit nur die artikulierte und begrifflich geklärte Wiedergabe der geläufi-

gen Meinung der Polis über das Wesen, sofern er ein Polisbewohner und politisch ist.“ (VA, S. 37); vgl.

Gebhardt, 2004a, S. 67. 65

Vgl. NA, S. 87. 66

Nordmann, 1993, S. 460.

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157

des Gegenwärtigen geraten, beginnt man „sie auszuspinnen und zur Grundlage jener perver-

tierten Art von Theorien zu machen, die wir gemeinhin Ideologien oder auch Weltan-

schauungen nennen.“67

Die politische Theorie kann für Arendt nur durch die Überprüfung

und Reflexion auf der Grundlage der Erfahrung und durch das öffentliche Schauen der ein-

zelnen Phänomene aufgestellt werden. In diesem Zusammenhang ist die politische Theorie

solches Nachdenken über die politischen und geschichtlichen Erfahrungen, um „die ver-

gangenen Vorurteile durch maßstablose Urteile zu ersetzen“. 68

Damit erweist sie sich im-

mer als kritisch, politisch und „vorläufig“69

, und nicht definitiv.

Arendt wendet sich gegen die Funktionen der politischen Theorie, die kausale Beziehung

zwischen sozialen Phänomenen zu erklären und Vorhersagen über zukünftiges Verhalten

und zukünftige Ereignisse zu treffen. Hinsichtlich des Anspruchs auf diese Funktion wird

eine politische Theorie „zu einer selbstverständlichen Aussage, aus der alles andere in

stringent logischer Weise abgeleitet werden kann.“70

In der theoretischen Versuchung, aus

der politischen Realität die Elemente der Zufälligkeit zu eliminieren, von dem ontologisch-

teleologischen Denken des Wesens bis zur methodologischen Denkungsart in der Neuzeit,

sieht Hannah Arendt die totalitäre Transformation, die zum Verlust der „phänomenalen

Evidenz menschlicher Realität“71

führt. Arendt stellt fest: „Wahrheit wird hier in der Tat

das, was manche Logiker glauben, daß sie sei, nämlich Konsistenz – wobei aber davon ab-

gesehen werden muß, daß diese Gleichsetzung tatsächlich die Verneigung der Existenz von

Wahrheit insofern impliziert, als von Wahrheit immer erwartet wird, daß sie etwas enthüllt.

Konsistenz dagegen ist eine Weise, Feststellungen zusammenzufügen, und ihr fehlt als sol-

cher die Kraft der Enthüllung. Die neue aus dem Pragmatismus erwachsene logische Bewe-

gung in der Philosophie befindet sich in erschreckender Nähe zur totalitären Transformation

der den Ideologien inhärenten pragmatischen Elemente in das logische Schlussfolgern, wo-

durch sie ihre Bindungen an die Wirklichkeit und die Erfahrung ganz und gar durchtrennt.

Der Totalitarismus geht zwar bekanntlich in gröberer Manier vor, ist aber deshalb unglück-

licherweise auch noch viel effektiver.“72

67

WP, S. 78f.; Arendt sagt, Vieles in dem modernen Arsenal politischer Theorien entspringe dieser tiefsit-

zenden Abneigung gegen das Zufällige (IG, S. 329). 68

Vgl. WP, S. 79. 69

IWV, S. 112. 70

ZVZ, S. 121. 71

VA, S. 300. 72

ZVZ, S. 398, Anm. 9.

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158

2. Plato und die Entstehung der Tradition politischer Philosophie

2.1 Der Konflikt zwischen Politik und Philosophie

In der Tradition der politischen Philosophie des Westens findet Arendt „die erstaunliche

Zähigkeit“1. Das kommt zum Ausdruck im lapidaren Satz: „Nimm diesen ganzen Bereich

menschlicher Angelegenheiten nicht zu ernst!“2 Diese Tradition begann, „als Plato entdeck-

te, daß eine Abwendung von der gemeinsamen Welt menschlicher Angelegenheiten im We-

sen philosophischer Erfahrung zu liegen scheint.“3 Die so entstandene Tradition der politi-

schen Philosophie bewahre einen „Grundakkord, der in endlosen Modulationen und Varia-

tionen durch die ganze Geschichte des Denkens der westlichen Welt nachklingt.“4 Denn

dieser Grundakkord ertönt in Platos Denken als Anfang der Tradition politischer Philoso-

phie am reinsten und deutlichsten, so ist die Auseinandersetzung mit Plato der unverzich-

tbare Ausgangspunkt für Arendts Kritik an der Tradition der politischen Philosophie. Um

den antipolitischen Kernpunkt politischer Philosophie zu finden, kehrt Arendt zu ihrem

Ursprung zurück. Durch dieses Zurückkehren erkennt Arendt, die Tradition politischer Phi-

losophie beginne mit dem Konflikt zwischen Politik und Philosophie. Dieser Konflikt hat in

der politischen Philosophie drei Folge: Unterordnung der Politik unter die Philosophie;

Meinungsverachtung; Gründung der Akademie.

2.1.1 Die Unterordnung der Politik unter die Philosophie

Für Platos politische Philosophie ist die politische Erfahrung entscheidend, dass die atheni-

sche Polis den Philosophen Sokrates vor Gericht stellte und verurteilte. Der Tod des Sokra-

tes ist für Plato ganz unbestreitbar ein Anlass zum Philosophieren gewesen.5 Plato versteht

1 VA, S. 285.

2 DU, S. 34; Plato sagt: „Es sind nun zwar die Angelegenheiten der Menschen großen Ernstes nicht wert“

(Plato, Nomoie 803 b 3). 3 ZVZ, S. 33; „Unsere philosophische Tradition aber, sofern sie von Parmenides und Plato ihren Ausgang

nimmt, ist ursprünglich im Gegensatz zur Polis und dem Bereich des Politischen gestiftet worden.“ (ZVZ,

S. 211). 4 ZVZ, S. 24; Alfred N. Whitehead sagt, dass „die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophi-

schen Tradition Europas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht.“ (Whitehead,

1979, S. 91). 5 In seinem siebten Brief gibt Plato manchen Hinweis auf die Beweggründe seines philosophischen und

politischen Denkens. Darin ist vor allem der Einfluss der Hinrichtung des Sokrates auf seine politische

Philosophie ausführlich geschildert (Plato, Briefe VII 324 b – 326 b); vgl. Weber-Schäfer, 1976, S. 24;

Scholz, 1998, S. 75ff.

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seinen Tod als das Resultat vom Konflikt zwischen Politik und Philosophie.6 Das bedeutet,

dass „die Geburt der Politischen Philosophie“7 des Abendlandes weder aus der „Philosophie

über die Polis“ noch aus der Reflexion auf das Politische selbst entstand.8 Der Gegenstand

der politischen Philosophie war von Anfang an nicht die Politik und ihre praktischen Prob-

lemen, sondern der Konflikt zwischen Philosophie und Politik.

Platos Ansatz zur Lösung des Konflikts besteht in der Unterordnung des Politischen unter

die Philosophie. Mit der Unterordnung der Politik unter die Philosophie negiert Plato die

Vorstellung der Griechen, das Politische sei „Ausdruck einer besonderen Lebensweise, die

zu anderen Lebensweisen in Konkurrenz steht“.9 Arendt hält fest: „Plato leugnete nicht, daß

das Anliegen des Philosophen die ewigen, unveränderlichen und nicht menschlichen Ange-

legenheiten war. Aber er stimmte nicht zu, daß ihn dies unfähig mache, eine politische Rol-

le zu spielen. Er stimmte nicht der Schlussfolgerung der Polis zu, daß sich der Philosoph

ohne Sorge um das menschliche Wohl in der ständigen Gefahr befände, ein Nichtsnutz zu

werden.“10

Diese Unterordnung ist durch die Bemühung Platos gekennzeichnet, den Grund der Politik

außerhalb der politischen Sphäre zu verorten. Plato versucht das politische Phänomen „aus

Prinzipien des wahrheitsfähigen philosophischen Denkens“11

zu konzipieren, indem er die

Methode, Verfahren des philosophischen Denkens unmittelbar auf die politische Lebens-

weise und das politische Phänomenfeld anwendet. Dadurch verliert die Politik ihre Auto-

nomie, dass die Politik an sich einen eigentlichen Wert hat und dass die Politik für sich

selbst vollzogen werden soll.12

Arendt sagt: „Plato (…) hat auf mancherlei Weise versucht,

sich der Polis und dem, was sie unter Freiheit verstand, entgegenzustellen. Er hat es ver-

6 Vgl. ZVZ, S. 181; Arendt schreibt an Jaspers; „Es gibt seit dem Prozeß des Sokrates, d.h. seit die polis

dem Philosophen den Prozeß machte, einen Konflikt zwischen Politik und Philosophie, dem ich versuche,

auf die Spur zu kommen.“ (BAJ, S. 325). 7 Meier, 2000, S. 11.

8 WP, S. 54.

9 Kauffmann, 2001, S. 120; hinsichtlich des Verhältnisses der zwei Lebensweisen ist Arendts Vorstellung

aristotelisch, aber nicht platonisch (vgl. Plato, Pol. 618 a; vgl. VA, S. 27). In der Auseinandersetzung mit

Plato grenzt Aristoteles die Lebensweise der vita contemplativa von der Lebensform der vita activa ab,

obwohl die theoretische Lebensform für ihn den höchsten Rang einnimmt (vgl. Aristoteles, NE 1095 b

14f). Wie Arendt feststellt, „hat Aristoteles dagegen Einspruch erhoben, den Philosophen Einfluß im Be-

reich des Politischen einzuräumen“ (ZVZ, S. 348). In einer Formulierung von NE erkennt Aristoteles ein-

deutig die andere Lebensweise als die philosophische an: „Daher gelten Anaxagoras und Thales und Den-

ker ihrer Art als Repräsentanten philosophischer Weisheit, nicht aber der praktischen Einsicht, wenn man

beobachtet, wie sie es nicht verstehen, ihren eigenen Vorteil wahrzunehmen – und man schreibt ihnen ein

Wissen um bedeutende, großartige, schwer verständliche und unergründlich rätselhafte, fürs Leben aber

unbrauchbare Dinge zu, weil sie nicht das suchen, was ein Gut für den Menschen ist.“ (Aristoteles, NE

1140 a 25-30; 1141 b 3f.; zit. nach PP, S. 382f.). 10

PP, S. 383. 11

Vollrath, 1988, S. 488. 12

Zur Autonomie des Politischen siehe Bielefeldt, 1993, S. 86; vgl. Cooper, 1979, S. 139; Parekh, 1981, S.

8.

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160

sucht durch eine politische Theorie, in der die Maßstäbe des Politischen nicht aus diesem

selbst, sondern aus der Philosophie geschöpft sind, durch eine ins einzelne gehende Ausar-

beitung einer Verfassung, deren Gesetze den nur dem Philosophen zugänglichen Ideen ent-

sprechen, und schließlich sogar durch eine Einflußnahme auf einen Herrscher, von dem er

sich erhoffte, er würde eine solche Gesetzgebung in die Wirklichkeit umsetzen“.13

Das Ziel

dieser Bemühung besteht nicht nur darin, „die Philosophie für die Politik brauchbar zu ma-

chen“14

, sondern vielmehr „die Lebensweise des Philosophen zu ermöglichen“15

. Das be-

deutet, dass Politische Philosophie von Anfang an politisches Handeln von Philosophen

zum Schutz und zur Verteidigung des philosophischen Lebens gewesen sei.16

Vor diesem

Hintergrund wird die Politische Philosophie ein Teil der Philosophie.17

Der von Plato erfahrene Konflikt zwischen Philosoph und Polis verdeutlicht sich vor allem

innerhalb des Höhlengleichnisses, das man im 7. Buch von Politeia findet.18

Das Gleichnis

beschreibt die Situation der Menschen und deren Bemühen, durch die Philosophie die ei-

gentliche Wahrheit zu schauen: Unsere Umgebung gleiche bloßem Schatten, der gar nicht

die eigentliche und wahre Wirklichkeit sei. Der Philosoph steige aus der Höhle in die Welt

der Ideen hinaus, indem er die Pluralität der menschlichen Welt verlässt. Er kehre aber in

die Höhle zurück, um die anderen Menschen aus ihrer Haft zu befreien. Politisch gespro-

chen ist der Aufstieg der wenigen Philosophen aus der Höhle zur Sonne die Bedingung der

13

WP, S. 54. 14

PP, S. 399. 15

VA, S. 24; um die Haltung der Philosophen gegenüber Politik aufzuzeigen, zitiert Arendt an vielen Stel-

len Pascals Bemerkung aus den Pensees: „Man stellt sich Platon und Aristoteles nur in der feierlichen

Gewandung des Lehrers vor. Es waren Ehrenmänner, die wie andere Menschen mit ihren Freunden lach-

ten; und wenn sie zu ihrer Zerstreuung ihre Gesetze und ihre Politik machten, war das für sie nur ein

Spiel: es war der am wenigsten philosophische und am wenigsten ernste Teil ihres Lebens; der philoso-

phischste war, einfach und ruhig zu leben. Wenn sie über Politik schrieben, dann taten sie es gleichsam,

um ein Narrenhaus zu ordnen; und wenn sie zum Schein davon sprachen wie von einer großen Sache, so

geschah das nur darum, weil sie wußten, daß die Narren, zu denen sie sprachen, Könige und Kaiser zu

sein glaubten. Sie gingen auf deren Prinzipien ein, um ihre Narrheit so unschädlich wie möglich zu ma-

chen.“ (DU, S. 34f.; vgl. DD, S. 153; ZVZ, S. 96, Anm. 16). 16

Kauffmann, 2001, S. 186; Arendt sagt, der Anspruch auf Herrschaft der Philosophen sei „nicht eigentlich

um der Polis oder um der Politik willen, sondern vor allem der Philosophie willen und im Interesse der

Sicherung des Philosophen“ (ZVZ, S. 173). 17

Dieses Wesen der politischen Philosophie zeigt sich ausführlich in der Formulierung von Leo Strauss:

„Unter diesem Gesichtspunkt bezeichnet das Adjektiv politisch in dem Ausdruck politische Philosophie

primär nicht die philosophische Behandlung von Politik, sondern die politische, oder populäre, Behand-

lung der Philosophie, oder die politische Einleitung in die Philosophie – den Versuch, die geeigneten Bür-

ger, oder eher ihre geeigneten Söhne, vom politischen Leben zum philosophischen Leben zu führen. Diese

tiefere Bedeutung von politischer Philosophie stimmt gut mit ihrer gewöhnlichen Bedeutung überein, weil

in beiden Fällen politische Philosophie im Lob des philosophischen Lebens gipfelt. Auf jeden Fall muß

der Philosoph die politischen Dinge genau so verstehen, wie sie im politischen Leben verstanden werden,

weil er letztlich beabsichtigt, Philosophie vor dem Tribunal der politischen Gemeinschaft und daher auf

der Ebene der politischen Diskussion zu rechtfertigen.“ (Strauss; zit. nach Kauffmann, 1997, S. 116f.). 18

Plato, Pol. 514 a - 521 b; vgl. ZVZ, S. 23 und 320f.; auch VA, S. 31. Siehe zur Arendtschen Interpretation

vom Höhlengleichnis besonders Bluhm, 1999.

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161

Möglichkeit der Befreiung der Staaten von ihrem gegenwärtigen Unheil. Die Rückkehr die-

ser Philosophen mit der Wahrheit in die politische Arena ist Ausdruck von Platos Versuch,

seine eigene aus ganz anderen Bereichen stammende, völlig unpolitische Ideenlehre in der

Polis politisch verwerten zu wollen.19

In diesem Zusammenhang bezeichnet Arendt das

Höhlengleichnis als das Zentrum der politischen Philosophie Platos, aber keineswegs als

den Kern der Ideenlehre.

Trotz der Verachtung des Bereichs der menschlichen Angelegenheiten20

erscheint Platos

Ernstnehmen des Politischen oder das „Pflichtgefühl“21

zumindest im Höhlengleichnis als

die Rückkehr der Philosophen in die Höhle.22

Beim Höhlengleichnis geht es trotzdem nicht

um die Rückkehr selbst. Vielmehr steht die Schlussfolgerung des Höhlengleichnisses in der

Tötung des Rückkehrers durch die Bewohner der Höhle. Wenn der Philosoph den Men-

schen in der Höhle von der echten Wahrheit erzähle, um die stehende Welt zu bessern und

zu retten, dann finden sie wohl gar keinen Glauben und verspotten ihn schließlich darüber

auch noch und töten ihn sogar. Damit betont Plato den unversöhnlichen Konflikt zwischen

Politik und Philosophie. In dieser Bemerkung am Ende des Höhlengleichnisses kann man

Platos Deutung des Prozesses gegen Sokrates unschwer ablesen. Der Lebensweg des Sokra-

tes versteht sich für Plato als Vorbild des rückkehrenden Philosophen. Der Weg des Sokra-

tes endet aber nicht wie bei Thales mit einem harmlosen Spott.23

Die Unversöhnlichkeit zwischen den Bewohnern der Höhle und dem rückkehrenden Philo-

sophen liegt Arendts Ansicht zufolge daran, dass der zurückkehrende Philosoph „seinen

Gemeinsinn verloren hat, der nötig ist, um sich in einer allen gemeinsamen Welt zu orien-

tieren, und darüber hinaus, weil das, was er in seinem Denken birgt, dem Gemeinsinn der

Welt widerspricht.“24

Freilich verzichtet Plato nicht auf den Versuch, die Unversöhnlichkeit

19

Vgl. BAJ, S. 325. 20

„Das Nicht-ernst-Nehmen des Politischen zeigt sich darin, daß die beiden Tätigkeiten, durch die Men-

schen als Menschen miteinander verbunden sind, nämlich das Sprechen und das Handeln in ihm gar nicht

erwähnt werden, daß die Höhlenbewohner vielmehr dadurch charakterisiert sind, daß sie aneinander ge-

fesselt, aber nicht einander zugewandt, auf eine Wand starren, an der die Schatten und Abbilder der Dinge

erscheinen.“ (ZVZ, S. 180). Nach der Interpretation von Egon Flaig stellt die Höhle die Gesamtheit aller

politischen und sozialen Kommunikationssphären dar (Flaig, 1994, S. 34- 70). 21

Cassirer, 1949, S. 84. 22

Nach Arendts Auffassung gibt es drei Gründe dafür, warum der Philosoph in die Höhle zurückkehrt: Ers-

tens die Möglichkeit der Befreiung von der Lebensnotwendigkeit nur durch das Politische. Zweitens die

Angst des Menschen, von Schlechteren, als er ist, regiert zu werden. Drittens die Pflicht des Bürgers, was

er weiß, auch Anderen mitzuteilen (DTB, S. 497). 23

Nach Plato verkörpert Thales den der Schau des Seienden zugewandeten weltfremden Philosophen. In

seinem Dialog Theätet überliefert Plato dazu die Geschichte vom Spaziergang des Thales, der mit dem

Blick nach oben, also zum Himmel, in einen Brunnen fiel und deshalb von einer thrazischen Magd ver-

spottet wurde: „Der nämliche Spott paßt auf alle, die sich ganz der Philosophie ergeben haben.“ (Plato,

Theätet 174 a ff.). 24

PP, S. 395.

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162

dieses Konflikts zu überwinden. Dies hat zur Folge, dass es der Notwendigkeit der Herr-

schaft der Philosophen bedarf, um das philosophische Prinzip zur Stabilisierung auch der

menschlichen Angelegenheiten zu dienen. Das heißt die wahrhafte Versöhnung. Platos An-

satz zur Lösung des Konflikts zwischen Philosophie und Politik endet schließlich mit dem

Anspruch auf die absoluten Maßstäbe, also mit der Transzendentalisierung des Politischen.

Arendt sagt: „Der Konflikt (…) ist durch Plato nicht beigelegt, sondern von ihm nur dikta-

torisch zugunsten der Philosophie entschieden worden – was dann allerdings für nahezu die

gesamte politische Theorie des Abendlandes maßgebend geworden ist.“25

2.1.2 Die Meinungsabwertung

Die Unterordnung der Politik unter die Philosophie führt zur „Meinungsabwertung“, „die

seit Parmenides und Plato die philosophische Tradition des Abendlandes beherrscht und der

zufolge nicht so sehr Irrtum oder Lüge wie das bloße Meinen als der Gegensatz der (philo-

sophischen) Wahrheit erscheint.“26

Plato unterscheidet die durch Vernunft erkennbare Wahrheit von der durch die Überredung

veränderbaren Meinung. Für Plato sind Vernunft und richtige Meinung zwei verschiedene

Arten, „da sie gesondert entstanden und von unähnlicher Beschaffenheit sind. Denn das

eine entsteht in uns durch Belehrung, das andere durch Überredung; das eine ist stets mit

wahrer Begründung verbunden, das andere ist unbegründbar; das eine ist durch Überredung

nicht zu bewegen, das andere ist umzustimmen.“27

Vor allem die Tatsache, dass Sokrates

nicht fähig gewesen war, seine Richter von seiner Unschuld zu überzeugen, nährte Platos

Zweifel an der Tauglichkeit der Überzeugung, unter deren Einfluss jede Meinung zustande

kommt. Aus dieser Skepsis von Überzeugung und Meinung, die polismäßig sind, fordert

Plato einen absoluten transzendenten Maßstab sowohl für die politische Ordnung als auch

für alle menschliche Handlung, um die Willkür und Ungewissheit menschlichen Handelns

durch die Gewissheit metaphysischer Einsicht zu ersetzen. Das Wissen der Wahrheit ist für

Plato Voraussetzung vernünftigen Handelns, um das Mannigfaltige zur Einheit zu bringen,

das Chaos unseres politischen und sozialen Lebens in eine einheitliche Ordnung zu brin-

gen.28

Die Meinung hingegen stellt für Plato die Übel und das Chaos in den menschlichen

Angelegenheiten dar. Der Konflikt zwischen Wahrheit und Meinung bildet daher den in-

25

ZVZ, S. 181; vgl. PP, S. 381 und ZVZ, S. 173. 26

ÜR, S. 295. 27

Plato, Timaios 51 e. 28

Vgl. Plato, Pol, 517 c 3-5.

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163

haltlichen Ausgangspunkt für den Konflikt zwischen Philosophie und Politischem.29

Im

Hinblick auf die Lösung dieses Konflikts ist Platos politische Philosophie der Versuch, die

Meinung durch Wahrheit zu ersetzen.30

Plato unterscheidet Wahrheit und Meinung anhand der drei Maßstäbe, nämlich Subjekt von

Erkenntnis, ihr Gegenstand und ihre Form. Die Wahrheit grenzt sich zuerst im Blick auf das

sie wissende Subjekt von Meinung ab. Die Wahrheit ist nur für einige Wenige zugänglich.

„Nur diese Wenigen werden die wahren Maßstäbe allen Lebens verstehen, einschließlich

der politischen Angelegenheiten, an denen als solchen sie aber nicht länger interessiert sein

werden.“31

Bei der berühmten Definition von Aristoteles ist die Philosophie als Wissen von

der Wahrheit bestimmt.32

Die Aufgabe der Philosophie liegt in der intellektuellen Erkenn-

tnis der Wahrheit. Den Philosoph nennt Plato daher „weisheitliebend“, nicht „meinungslie-

bend“.33

Dieses höchst schwierige Geschäft der Philosophie vermögen immer nur wenige

Menschen zu vollbringen.34

Die Wahrheit lasse sich in den wenigen göttlichen Menschen

erfahren, weil philosophische Seelen naturgemäß ganz selten sind.35

Das Vermögen, die

Wahrheit zu erkennen, das Plato Vernunft nennt, ist nur den Göttern und wenigen unter den

Menschen verliehen.36

Im Gegensatz zur Vernunft als dem Göttlichen im Menschen hat die

Meinung mit der „Torheit der Menge“37

zu tun, die in der eigenen Situation befangen ist.

Im Gegensatz zur Wahrheit ist die Meinung die „Denkungsart der Vielen oder der Meis-

ten“.38

Das seelische Auge der großen Masse vermöge es nicht, die göttliche Wahrheit zu

schauen. An einer Stelle sagt Plato: „Der Philosoph hingegen, in vernunftmäßigem Verfah-

ren mit der Idee des Seienden stets beschäftigt, ist wiederum wegen der Helligkeit der Ge-

genstand keineswegs leicht zu erblicken. Denn die Geistesaugen der meisten sind in das

29

In Politik und Philosophie argumentiert Arendt im Folgenden: „Eng mit seinem Zweifel an der Tauglich-

keit der Überredung ist Platos wütende Verurteilung der doxa, der Meinung, verbunden, was sich nicht

nur wie ein roter Faden durch seine politischen Werke zieht, sondern auch einer der Ecksteine seines Be-

griffs der Wahrheit wurde. Die platonische Wahrheit wird immer als das genaue Gegenteil von Meinung

verstanden, selbst wenn doxa nicht erwähnt wird. Das Schauspiel, wie Sokrates seine doxa den unverant-

wortlichen Meinungen der Athener unterwarf und von einer Mehrheit überstimmt wurde, veranlaßt Plato,

Meinungen zu verachten und sich nach absoluten Maßstäben zu sehen. Solche Maßstäbe, durch die men-

schliche Taten beurteilt werden könnten und menschliches Denken ein gewisses Maß an Verlässlichkeit

erlangen könnte, wurden von nun an zur vorrangigen Triebkraft seiner politischen Philosophie und beeinf-

lussten entscheidend selbst die rein philosophische Ideenlehre.“ (PP, S. 381f.). 30

„Philosophie in der vollen und ursprünglichen Bedeutung des Begriffs ist der Versuch, Meinungen über

das Ganze durch Erkenntnis des Ganzen zu ersetzen.“ (Strauss, 1977, S. 13). 31

ZVZ, S. 320. 32

Vgl. Aristoteles, Metaphysik 993 b 20. 33

Vgl. Plato, Pol. 480 a. 34

Vgl. Plato, Pol. 504 a 2 ff. 35

Vgl. Plato, Pol. 491 b. 36

Vgl. Plato, Pol. 508 d; Timaios 51 d; vgl. ZVZ, S. 341. 37

Plato, Pol. 496 c. 38

Held, 1986, S. 10.

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Göttliche ausdauernd hineinzusehen unvermögend.“39

Platos gesamte politische Philosophie

beruht auf der Vorstellung, wie Arendt feststellt, „daß Wahrheit gerade unter den Vielen

weder gewonnen noch mitgeteilt werden, daß also der Philosoph, der Wahrheitssucher und

–sager, nur als einzelner mit einzelnen existieren kann.“40

Politisch betrachtet gerinnt dieser

Konflikt zwischen Wahrheit und Meinung zur abendländischen Tradition des Gegensatzes

von Wenigen und Vielen.41

Diese Tradition berechtigt zur aristokratischen Herrschaft von

wahrhaften Wenigen. In diesem Zusammenhang betont Egon Flaig, dass Plato die philoso-

phische Natur von den anderen unterscheidet: „Nur wer von Natur aus zur Philosophie ge-

eignet ist, wird zur Weisheit geführt; allen anderen soll verboten sein, sich mit Philosophie

zu beschäftigen“.42

Ein Brennpunkt im Konflikt zwischen Wahrheit und Meinung ist bei Plato die Frage nach

dem Gegenstandsbereich. Meinung und Wahrheit grenzen sich voneinander anhand ihrer

Gegenstände ab: Die Wahrheit betrifft das, was weder entsteht noch vergeht, und die Mei-

nung das Kontingente.43

Während die Wahrheit „Übersicht der ganzen Zeit und alles

Seins“44

gibt, ist die Meinung durch die Einseitigkeit und Befindlichkeit gekennzeichnet.

Dieser Gegensatz von Wahrheit und Meinung wird zur Grundlage der westlichen Philoso-

phie.45

Die Erfahrungen und Erscheinungen der menschlichen Angelegenheiten geben bestenfalls

eine richtige Meinung über die sichtbaren Dinge. Sie gibt für Plato jedoch keine wirkliche

Erkenntnis, sondern sie ist mangelhaftes Wissen. Der Gesamtbereich der Meinung ist ver-

39

Plato, Der Sophist 254 a. 40

ZVZ, S. 335. 41

Kant ist Arendt zufolge eine Ausnahme. Im Gegensatz zu Plato, demzufolge äußerst wenige zur Philoso-

phie geeignet sind, geht es bei Kant um eine „allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stim-

me hat“ (Kant, 1974a, B 782). Kant ist Arendts Auffassung zufolge der Meinung, dass jeder gewöhnliche

Mensch fähig ist, ein Leben der Lust oder Unlust zu beurteilen: „(Das Philosophieren) stellt die Wenigen

nicht den Vielen gegenüber“ (DU, S. 42-43). 42

Flaig, 1994, S. 34-70, hier S. 40; Neschke-Hentschke betont, Plato rede in den Nomoi immer von der

göttlichen Instanz im Menschen, welche herrschen solle. (Neschke-Hentschke, 1988, S. 609f.). 43

Vgl. Plato, Pol. 478 a ff.: „Ebenso nun betrachte dasselbe auch an der Seele. Wenn sie sich auf das heftet,

woran Wahrheit und das Seiende glänzt, so bemerkt sie und erkennt sie es, und es zeigt sich, daß sie Ver-

nunft hat. Wenn aber auf das mit Finsternis Gemischte, das Entstehende und Vergehende, so meint sie nur

und ihr Gesicht verdunkelt sich, so daß sie ihre Vorstellungen bald so, so herumwirft und wiederum aus-

sieht, als ob sie keine Vernunft hätte“ (Plato, Pol. 508 d). 44

Plato, Pol. 486 a. 45

Diese platonische Tradition wirkt sich nicht minder in der Neuzeit aus. Beim jungen Hegel kommt sehr

deutlich der platonische Ansatz zu seiner letzten systematischen Entfaltung. In der Vorlesung über die

Geschichte der Philosophie beschreibt Hegel die Eigenschaft der Meinung: „Meinung ist eine beliebige

subjektive Vorstellung, die nur mein ist und daher ihren Namen hat. Die Philosophie ist ein objektives Er-

kennen, ist Wissen der Wahrheit, kein Subjektives; sie ist gerade der Meinung entgegengesetzt, wie schon

bei Plato“ (Hegel, 1993, S. 110). In diesem Zusammenhang bezeichnet Arendt Hegel als den letzten Phi-

losoph, der im ganzen Sinne von Plato die allgemeine und unfehlbare Wahrheit unterschied von Meinung,

die beliebig, zufällig, einseitig und somit irrational ist. Für ihn ist die Wahrheit noch wesentlich ein Ge-

genstand kontemplativer Betrachtung (vgl. ZVZ, S. 97 und S. 430f.).

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änderlich und zufällig. Die Meinung richtet sich auf die unserer Erfahrungswelt entspre-

chenden wandelbaren Dinge, die unbeständig, wechselhaft, schwankend, parteiisch und rein

subjektiv sind. Insofern ist auch die Meinung durch ihre Wandelbarkeit, Fehlbarkeit, Parti-

kularitäten und Vielfalt gekennzeichnet. Jeder Mensch hat seine eigene Meinung, und die

Meinung drückt immer aus, dass mir etwas so und so zu sein scheint oder mir als das und

das erscheint.46

Weil die Meinung von einem eigenen Standpunkt über die erscheinende

Welt ausgeht, existiert sie in deren Vielzahl und Vielfältigkeit. Dabei ist ein Meinungsstreit

unvermeidlich. Deshalb wird der Bereich der Meinung von unversöhnlichem Streit be-

herrscht.

Im Gegensatz zur Vielfalt der Meinung ist die Wahrheit Eine. Sie ist notwendig, unverän-

derlich und universal. Auf die unveränderliche Welt der Ideen richtet sich die Wahrheit.

Der Gegenstand philosophischen Wissens sind die ersten Gründe und Ursachen jenseits der

Erfahrung menschlicher Angelegenheiten, denn „erst von der Ursache her wird auch das

Verursachte verstehbar“.47

Dementsprechend ist die Wahrheit das Unwandelbare und „das

Unfehlbare“.48

Die philosophische Wahrheit hat ihren Ursprung und ihre Erkenntnisgrund-

lage außerhalb der menschlichen Angelegenheiten. Sie bezieht sich auf das Wissen um das

Ganze der Welt, die „jenseits von Zeit und Raum war und „kein hier und jetzt“ hat.49

Ob-

wohl die Abwertung der Meinung bereits für die vorsokratischen Philosophen charakteris-

tisch war, versucht Plato zum ersten Mal auf radikale Weise, die philosophische Wahrheit

für die Gestaltung und die Stabilisierung des politischen Zusammenlebens der Menschen

umzusetzen.50

In diesem Kontext kann man sagen, dass Platos politische Philosophie „mit

der Erkenntnis dieser unsichtbaren harmonischen Ordnung“ beginnt.51

Die Differenziertheit zwischen Wahrheit und Meinung besteht drittens im Unterschied der

Form des Wissens. Für Plato entfalten sie die beiden entgegensetzten und sich entsprechen-

den Redeweisen: „Plato hat diesen ursprünglichen Antagonismus zwischen Wahrheit und

Meinung dann weiter ausgeführt in dem Gegensatz zwischen philosophischer Dialektik und

politischer Rhetorik“.52

Die der Wahrheitsfindung angemessene Form entspricht der philo-

46

Vgl. PP, S. 386. 47

Zehnpfennig, 2001, S. 126. 48

Plato, Pol. 477 e. 49

Cassirer, 1949, S. 104. Hervorhebung im Original; Arendt hingegen vertritt die Überzeugung: „Das Prä-

dikament des Politischen ist, dass es immer im Miteinander und im Hier und Jetzt verbleiben muss“

(DTB, S. 591). 50

Vgl. ZVZ, S. 332f.; vgl. Held, 1986, S. 13. 51

DD, S. 144. 52

ZVZ, S. 333f.; vgl. ZVZ, S. 300 und VA, S. 36; für die Tradition politischer Philosophie ist diese Unter-

scheidung zwischen der philosophischen und der politischen Gesprächsform charakteristisch. Aristoteles

sagt im Folgenden: „die Kunst der Überredung (und deshalb die politische Kunst der Rede) ist das Ge-

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sophischen Dialektik, während die Rhetorik als ein Mittel des Überredens mit der Meinung

zu tun hat. 53

Wo es Dinge gibt, die mit eigenen Wesen von Natur aus existieren, wird die politische Ver-

ständigung überflüssig. Zum Wissen über das Wesen der Dinge verhilft der Sprachakt

nicht: „Nicht durch den Diskurs, sondern durch den Blick auf diese für das Auge des Geis-

tes sichtbaren Formen wird dem Philosophen die Wahrheit mitgeteilt, und mit seiner Seele

– die im Gegensatz zu seinem sichtbaren, vergänglichen und ständigem Wechsel unterwor-

fenen Körper unsichtbar und unvergänglich ist – hat er an der unsichtbaren, unvergängli-

chen, unwandelbaren Wahrheit teil. Er hat teil, und zwar indem er sie sieht und schaut, und

nicht (…) durch Argumentation.“54

Da die sprachliche Form, das Plato dialektisch nennt, „das innere Gespräch der Seele mit

sich selbst, was ohne Stimme vor sich geht“55

, ist, findet es in der Isolierung von anderen

und in der Sprachlosigkeit statt. Denn philosophische Wahrheit handelt von göttlichen Din-

gen und wird durch das geistige Schauen des Wesentlichen zum Wissen. Dann bleibt der

Philosoph „in seiner wesentlichen Isolierung von allen anderen“.56

Da „das Wahre von

selbst, ohne ein Zutun des Menschen, in Erscheinung tritt“57

, ist das Wissen der Wahrheit

unabhängig von anderen, während die Meinungen auf andere angewiesen sind. Für das

Schauen des Wahren braucht man keine Worte, denn „Worte sind, wie Plato meint, zu

schwach für das Wahre, das daher überhaupt in der Rede nicht gefasst werden kann“.58

Da-

her ist die Quelle der Philosophie das „sprachlose Staunen“59

.

Die Wahrheit lässt sich weder mitteilen noch in Gestalt von Worten erwerben. Für Plato ist

die Sprache letztlich nur ein matter Abglanz des Scheins der Ideen, zu denen der Zugang

nicht auf sprachliche Weise geschaffen wird, weil sich die Wahrheit nur durch das sprach-

lose Staunen über das, was ist, wie es ist, erkennen lässt. Sein Hauptpunkt ist nämlich der,

dass das Wort selbst nicht zur Kenntnis der wahren Idee führen kann. Jede Wahrheit bringt

daher das menschliche Gespräch notwendigerweise zum Stillstand.60

So transzendiert die

genstück zur Kunst der Dialektik der Kunst der philosophischen Rede“ (Aristoteles, Rhetorik 1354 a 12ff.

und 1355 b 26ff.); vgl. Plato, Gorgias 448. 53

Vgl. Hetzel, 2006, S. 25ff.; zum Konzept des Überredens siehe Abschnitt, IV. 54

ÜDB, S. 64. 55

Plato, Der Sophist 263 e. 56

ZVZ, S. 338. 57

VA, S. 351. 58

VA, S. 370; vgl. Plato, Brief VII 341 c. 59

PP, S. 396. 60

Zur Sprachauffassung Platos fasst Gadamer folgendermaßen zusammen: „Plato will mit dieser Diskussion

der zeitgenössischen Sprachtheorien zeigen, daß in der Sprache, in dem Anspruch auf Sprachrichtigkeit

keine sachliche Wahrheit erreichbar ist und daß man ohne die Worte das Seiende erkennen müsse rein aus

sich selbst.“ (Gadamer, 1965, S. 412).

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Wahrheit den Bereich des Politischen, der sich auf das Mitsprechen gründet. Arendts An-

sicht zufolge entspringe Platos Verachtung der Politik seiner Verachtung des Geredes.61

Arendt sagt: „Denn was immer Menschen tun, erkennen, erfahren oder wissen, wird sinn-

voll nur in dem Maß, in dem darüber gesprochen werden kann. Es mag Wahrheiten geben,

die jenseits der Sprechenden liegen, und sie mögen für den Menschen, sofern er auch im

Singular, d.h. außerhalb des politischen Bereichs im weitesten Verstand, existiert, von größ-

tem Belang sein. Sofern wir im Plural existieren, und das heißt, sofern wir in dieser Welt

leben, uns bewegen und handeln, hat nur das Sinn, worüber wir miteinander oder wohl auch

mit uns selbst sprechen können, was im Sprechen einen Sinn ergibt.“62

Im Gegensatz zur

Form der Wahrheitsfindung spielt für die Bildungsform der Meinung die menschliche Plu-

ralität und die Sprache eine unabdingbare Rolle. Die Meinung lässt sich in Gestalt von Mi-

teinanderreden darbieten, mitteilen und herausbilden. Das heißt die „Überredungskünsten,

mit denen der Redner die Meinungen der Menge beeinflußt und schließlich die Vielen

überzeugt.“63

Im Gegensatz zur Wahrheit sind Meinungen nur in der Öffentlichkeit möglich

und entstehen und bewähren sich im Vorgang der Überzeugung mittels des Sprechens. „Wo

das Sprechen aufhört, hört die Politik auf.“64

Wenn die Wahrheit in den politischen Bereich eintritt, wird sie zu einer bloßen Meinung im

Plural. Plato selbst zeigt uns im Höhlengleichnis, „daß die Wahrheit in der Menge der Mei-

nungen und Ansichten verloren geht, daß, was er für Wahrheit hielt, urplötzlich zu einer

Meinung unter vielen Meinungen degradiert wird“.65

Aufgrund dessen wird die Wahrheit

unausweichlich absolut und despotisch, wenn sie sich im politischen Bereich durchsetzen

wollte. Politisch gesprochen würde sich der Anspruch auf die absolute Wahrheit im politi-

schen Bereich „von anderen Formen der Tyrannis“66

nicht abgrenzen. Arendt weist daher

auf die „Affinität des Philosophen und des Tyrannen seit Plato“ hin.67

Sie scheut sich nicht

zu sagen „daß innerhalb des Bereiches menschlicher Angelegenheiten jeder Anspruch auf

absolute Wahrheit, die von den Meinungen der Menschen unabhängig zu sein vorgibt, die

Axt an die Wurzeln aller Politik und der Legitimität aller Staatsformen legt“68

, weil die ab-

solute Wahrheit zutiefst pluralitätsfeindlich ist.

61

DTB, S. 397. 62

VA, S. 12. 63

ZVZ, S. 333. 64

WP, S. 196. 65

ZVZ, S. 337. 66

ZVZ, S. 348; Beiner wirft Arendt ihre „harsche und unplausible“ „Gleichsetzung von Wahrheit mit Ty-

rannei“ vor, die eine eng begrenzte Wahrheitskonzeption voraussetzt (Beiner, 2004, S. 140f.). 67

DTB, S. 45. 68

ZVZ, S. 333; vgl. ÜR, S. 248.

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2.1.3 Die Gründung der Akademie

Der oben formulierte Konflikt zwischen Philosoph und Polis führt praktisch zur Gründung

der Gemeinschaft von Philosophen. Um 387 v. Chr. gründet Plato in Athen eine Philoso-

phen-Schule, die Akademie benannt wird. Die Gründung der Gemeinschaft von Philoso-

phen bedeutet, dass Philosophen sich letztlich aus der Polis zurückgezogen haben. Anders

gesagt ist die platonische Akademie der Ausdruck des radikalsten Bruches mit der grie-

chisch-polisweltlichen Vorstellung, gutes Leben sei nur möglich in der Polis.69

Das ist kein

Wunder, weil es Plato anfangs nicht um die Verwirklichung einer guten Politik, der guten

Polis, sondern um die Sicherheit und das Schützen des philosophischen Lebens ging. Die

Gründung des Reiches der Philosophen ist Platos definitive Antwort auf die Grundfrage von

Sokrates; die Frage, welcher Staat sei den Philosophen angemessen sei? 70

Geschichtlich betrachtet steht die Gründung der Akademie in unmittelbarem Zusammen-

hang mit Platos Erfahrungen der Krise der Polis und des Todes von Sokrates. Plato zieht

aus dem gewaltsamen Tod seines Lehrers durch den Schierlingsbecher die Konsequenz. Er

verzichtet darauf, seine Mitbürger auf der Agora zum Philosophieren anzuhalten. Stattdes-

sen reflektiert er über ein neuartiges Ordnungsprinzip, welches die Sicherheit der Philoso-

phen garantieren konnte. Weil sich Plato und seine Schüler weigerten, „das Schicksal des

Sokrates zu teilen“71

, brauchen sie ihren eigenen Zusammenschluss statt der Gemeinschaft

mit ihren Mitbürgern.72

Vor diesem Hintergrund musste Plato die erste Schule der Philoso-

phen bilden, also „den neuen Gesellschaftstypus, der zum Träger ihrer Wahrheit werden

konnte“.73

Helmut Kuhn stellt fest: „Was sich mit der Hinrichtung des Sokrates, des Philo-

sophen in der Gestalt des vollkommenen Bürgers, vollzogen hatte, trat mit der Schulgrün-

dung im Hain des Akademos außerhalb der Mauern Athens auf neue und endgültige Weise

in Erscheinung: die aus der Krisis des athenischen Staatswesens geborene Philosophie

trennte sich in Loyalität von dem politischen Leben der väterlichen Polis.“74

Die Gründung der Akademie hat nach Arendt mit drei philosophischen Grundkonzeptionen

zu tun: Vergänglichkeit des politischen Lebens; Exklusivität von Politik und Freiheit; Prio-

rität der Wenigen vor der Menge.75

Die wichtigste Schlussfolgerung, die Plato aus dem Tod

des Sokrates zog, ist, dass die Polis keine Gemeinschaft des Erinnerns und der Unsterblich-

69

Vgl. Scholz, 1998, S. 125. 70

Plato, Pol. 497 b. 71

DD, S. 195. 72

Vgl. PP, S. 392f. 73

Voegelin, 1959, S. 110. 74

Kuhn, 1969, S. 4; vgl. Weber-Schäfer, 1976, S. 24ff. 75

Vgl. ZVZ, S. 91.

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169

keit mehr sein kann. Für Plato könne die Polis aber nicht mehr damit betraut werden, die

Erinnerung an den Philosophen zu bewahren.76

Daher verzichtet er auf den Glauben, dass

die Polis der Ort ist, „woran diese Menschen sich hielten, um von der Trauer des Lebendi-

gen nicht übermannt zu werden und aus der Finsternis der Kreatur in die Helle des Men-

schlichen zu gelangen.“77

Für die Antike bot die Polis „jedem ihrer Bürger den politisch

gesicherten, öffentlichen Raum“, „in dem seine Taten ohne alle Hilfe und Vermittlung un-

sterblich werden konnten.“78

Anders gesagt war die Polis für Bürger eine ihre individuelle

Sterblichkeit überdauernde, weltliche Erinnerungsgemeinschaft. Die Möglichkeit der Un-

sterblichkeit galt dem vorphilosophischen Denken der griechischen Polis als eines der

stärksten Motive des politischen Handelns. Mögliche Unsterblichkeit war „der höchste und

tiefste Sinn aller Politik, vor allem der nur den Griechen eigenen politischen Organisations-

form der Polis“.79

Wenn Polis wie in Perikles‟ Grabrede das Getane und Gesprochene der

Sterblichen unsterblich weiter gemacht hätte80

und wenn der Anspruch von Aristoteles in

Polis verwirklicht werden könnte,81

gäbe es keine radikale Wendung gegen die Politik. In

der Tat war der Lobpreis des politischen Lebens mit dem Verschwinden der griechischen

Polis verschwunden. Angesichts des geschichtlichen Verfalls der Polis wurden das politi-

sche Leben und die politische Sphäre nicht mehr als eine Garantie gegen die Vergänglich-

keit des Handelns der Einzelnen angesehen, und die Polis war kein Raum mehr, sterblichen

Menschen Unsterblichkeit zu gewähren.82

Diese geistigen Auswirkungen der Auflösung des

griechischen Stadtstaates wirken weitreichend in der ganzen Geschichte der politischen

Philosophie fort. Vor allem werden sie durch die Vereinigung mit dem urchristlichen Glau-

ben, dass das Leben unsterblich und die Welt sterblich sei, zur Grundlage einer großen den-

kerischen Tradition.83

Arendt schreibt im Folgenden: „Wenn die Welt vergänglich war,

konnte es keinen Sinn haben, sich mit Politik zu befassen, denn die Sache des Öffentlichen,

der res publica, war ja gerade, ein irdisch – weltlich Unvergängliches den sterblichen Men-

76

PP, S. 382. 77

ÜR, S. 362. 78

ZVZ, S. 90. 79

ZVZ, S. 290. 80

Perikles sagt, „daß Polis nicht mehr eines Homer oder anderer seiner Kunst bedürfe, sondern ohne solche

Hilfe unvergängliche Denkmäler hinterlasse, wo immer sie hinkomme.“ (Thukydides, Geschichte des Pe-

loponnesischen Krieg, Buch 2, Kap. 41; zit. nach ZVZ, S. 90 und S. 285; vgl. VA, S. 248). 81

„Man darf aber nicht jener Mahnung Gehör geben, die uns anweist, unser Streben als Menschen auf Men-

schliches und als Sterbliche auf Sterbliches zu beschränken, sondern wir sollen, soweit es möglich ist, uns

bemühen, unsterblich zu sein“ (Aristoteles, NE 1177 b 31f.; vgl. VA, S. 69f.). 82

Vgl. ZVZ, S. 90f.; „Entscheidend für alle politische Philosophie ist geblieben, dass sie mit dem Untergang

der Polis und Platos Reaktion auf die Verderbtheit des Politischen begann.“ (DTB, S. 414). 83

Vgl. ÜDB, S. 31ff.

Page 172: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

170

schen zu garantieren.“84

In dieser Hinsicht hören die Philosophen auf, Bürger der Polis zu

sein, und kehren in das rein geistige Leben zurück, um unsterblich zu sein. Eine Gesell-

schaft von Philosophen zu gründen heißt „der Gegenwart als einem Heillosen den Rücken

zu kehren.“85

Die Gründung der Akademie hat entscheidenden Einfluss auf die Abgrenzung der Freiheit

vom politischen Leben. Die Platonische Akademie bildet den Hintergrund unserer heutigen

Vorstellung von Freiheit,86

die sich als Gegensatz zur Politik versteht. Die Konstituierung

der Akademie, die der neue Freiheitsraum für die Philosophen ist, spiegelte die Entartung

des politischen Lebens wider, weil Philosophen die Polis verlassen mussten, um die Aka-

demie als den philosophischen Lebensraum betreten zu können. In diesem Augenblick ver-

wandelt sich die menschliche Freiheit, die bisher mit der Ausübung der Bürgerrechte iden-

tisch gewesen war, in eine innere Freiheit.

Die Befreiung von der Agora, dem zentralen Freiheitsraum der Polis wird „zur notwendigen

Voraussetzung für die Freiheit des Akademischen“.87

Dies bedeutet auch, dass „das Politi-

sche in seiner Gesamtheit offenbar auf eine Stufe heruntergedrückt (wird), die innerhalb des

Polispolitischen der Lebenserhaltung zukam; es wird zu einem Notwendigen, das einerseits

im Gegensatz zur Freiheit steht und andererseits doch ihre Voraussetzung bildet.“88

Im Ge-

gensatz dazu ist die philosophische Lebensform unabhängig von körperlichen Bedürfnissen

und von äußeren Gütern. So bezeichnet Plato „die Politiker als Knechte und die Philoso-

phen als Freie“.89

Dieser Gegensatz zwischen Politik und Freiheit wird zum „unabdingbaren

Bestandteil“90

des abendländischen Freiheitsbegriffs. Also besteht die Freiheit nun in der

„Enthaltung von allen öffentlichen Geschäften“.91

Daraus ergibt sich die traditionelle Über-

zeugung, dass Freiheit nur möglich ist, wenn man auf das politische Handeln verzichtet und

sich aus der politischen Welt auf sich selbst zurückzieht.92

Die Gründung der Akademie bezieht sich auf die Unterscheidung von den Vielen und den

Wenigen. Die akademische Gemeinschaft der Philosophen ist kein Bereich für gemeinsa-

84

ZVZ, S. 91. 85

Jaspers, 1967, S. 27f. 86

Arendts Ansicht zufolge ist „die Gründung der Akademie, gerade weil sie nicht, wie die Schulen der So-

phisten und Redner, primär auf Erziehung für Politik zielte, so außerordentlich bedeutend geworden für

das, was auch wir noch unter Freiheit verstehen.“ (WP, S. 57). 87

WP, S. 54. 88

WP, S. 58f. 89

Scholz, 1998, S. 125. 90

ZVZ, S. 91. 91

VA, S. 24. 92

Diese Auffassung der Freiheit spielt eine Rolle als ein Vorläufer der antipolitischen Haltung des Urchris-

tentums. Zum Parallelismus von der akademischen Freiheit und Religionsfreiheit siehe WP, S. 60f. und

ZVZ, S. 91.

Page 173: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

171

mes Handeln von Vielen, sondern der Zusammenschluss der Wenigen. Also ist die platoni-

sche Akademie der exklusive Ort der Philosophen als „der Raum der Wenigen und ihrer

Freiheit“93

, weil sie die die Meinungswelt übersteigende, der Wahrheit angemessene Welt

ist. Die Akademie ist „eine Grundkonzeption von den Wenigen“, „die ihrerseits wieder in

freier Rede miteinander philosophierten.“94

Die Akademie war der Bereich, der den Weni-

gen die Freiheit vom gemeinsamen Bereich des Politischen verbürgt, weil der politische

Bereich auf die Sphäre der Notwendigkeit reduziert ist: „Wie Befreiung von Arbeit und

Lebenssorgen notwendige Voraussetzung für die Freiheit des Politischen war, so wurde

Befreiung von Politik zur notwendigen Voraussetzung für die Freiheit des Akademi-

schen.“95

Die Aufgabe der Politik besteht darin, den Wenigen die Beschäftigung mit Philo-

sophie zu ermöglichen. Die Politik lässt sich aus dem Gesichtspunkt der Freiheit der Weni-

gen rechtfertigen. Zu dieser Freiheit, also der Überwindung der Notwendigkeit, dient die

Herrschaft der Wenigen über die Vielen. „Zu diesen Versuchen gehörte auch die Gründung

der Akademie.“96

Die akademische Gemeinschaft stellt daher „eine spezielle Gruppe, die

sämtliche politischen Funktionen und Themen monopolisiert, dar.“97

In diesem Verständnis

kündigt sich die scharfe Kritik Arendts am Elitismus Platos an.

2.2 Die Transformation des Handelns in Herstellen

Der theoretisch-philosophische Status der platonischen Transzendentalisierung des Politi-

schen wird in Arendts handlungstheoretischer Analyse deutlicher. Der Konflikt zwischen

Philosophie und Politik war eigentlich ein Konflikt zwischen dem kontemplativen Leben

und dem tätigen Leben. Arendts Auffassung zufolge hatten die Philosophen seit Plato

„Grund genug für ihr tiefes Mißtrauen gegen die durch menschliches Handeln erzeugten

Angelegenheiten der Menschen“.98

Ihr Misstrauen beruht auf der Last der Ungewissheit und

Zufälligkeit, die wir Aporien des Handelns genannt haben. Die Tradition politischer Philo-

sophie des Westens ist Arendt zufolge durch die beständige Bemühung gekennzeichnet, die

93

WP, S. 57. 94

WP, S. 54. 95

WP, S. 55. 96

WP, S. 54; „Offenbar geraten die Wenigen, wo immer sie sich von den Vielen getrennt haben (…) in eine

Abhängigkeit von den Vielen, und zwar in allen Fragen des Miteinander – Lebens, in denen wirklich ge-

handelt werden muß. Dabei kann diese Abhängigkeit im Sinne einer Platonischen Oligarchie so verstan-

den werden, daß die Vielen dazu da sind, die Befehle der Wenigen auszuführen, also das eigentliche Han-

deln zu übernehmen; in diesem Fall ist die Abhängigkeit der Wenigen durch Herrschaft überwunden“

(WP, S. 58). 97

Flaig, 1994, S. 51. 98

ZVZ, S. 105.

Page 174: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

172

Ungewissheiten und die Zufälligkeit des Handelns zu überwinden und zu kontrollieren.99

Die so beginnende Philosophie des Politischen ist der Versuch, dem „Fluch der Kontin-

genz“100

zu entkommen. „Die Weisheit der Philosophie, die hier zum ersten Mal auf eine

Abhilfe für die Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten sinnt, kommt zu dem

Schluß, daß es ratsam sein mag, auf die Fähigkeit zum Handeln in ihren reinsten und radi-

kalsten Formen zu verzichten, und zwar gerade darum, weil diese Philosophie, im Zuge des

Konflikts mit der Polis, sich der Vergeblichkeit, der Schrankenlosigkeit und der Unabseh-

barkeit der Folgen, die allem Handeln anhaften, so außerordentlich bewußt geworden

war.“101

In der philosophischen Intention, die Zufälligkeit und Ungewissheit menschlicher Angele-

genheiten zu überwinden und zu durchschauen, konnte Hegel sagen, die Philosophie habe

„keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfernen“.102

Es ist bemerkenswert, dass fast

alle philosophische Bemühung zur Überwindung der Zufälligkeit der menschlichen Ange-

legenheit hinausläuft auf die Vorstellung eines in der Geschichte seine Zwecke realisieren-

den übergreifenden Subjekts – ob dies nun im Gedanken der „List der Vernunft und des

Weltgeist“ (Hegel), der „Naturabsicht“ (Kant) oder der „unsichtbaren Hand“ (Adam Smith)

zum Ausdruck kommt. In der philosophischen Intention ist das Handeln nur zu „Exponen-

ten“103

unsichtbarer Kräfte erniedrigt, die sich hinter dem Rücken der agierenden Menschen

vollziehen und sich „ein Monopol auf Sinn und Bedeutung“104

aneignen. Arendt besteht

hartnäckig darauf, es gebe eigentlich kaum einen unter den großen Denkern seit Plato, dem

gerade das Handeln nicht suspekt gewesen wäre.105

Das grundlegende Problem des Han-

delns wird von Platon darin gesehen, dass sich alles menschliche Handeln in der Pluralität

der unwirklichen Scheinwelt bewegt.

Für Plato liegt der Anfang der Philosophie im Streben, aus der Unwissenheit, die sich aus

der einfachen Tatsache der in jedes Handeln verstrickten Pluralität von Handelnden ergibt,

99

Über die Ungewissheit als Kennzeichen der Politik, Barber, 1994, S. 157; nach Dubiel hat Arendt Unge-

wissheit zum Zentralthema ihrer politischen Theorie gemacht. In der Tat ist die grundsätzliche Ungewiss-

heit aller sich im Feld der menschlichen Pluralität abspielenden Angelegenheiten auch mit der Unmög-

lichkeit, das Wesen des Menschen zu definieren und die Identität der Person zu bestimmen, verbunden

(Dubiel, 1994, S. 8). 100

DW, S. 30. 101

VA, S. 245. 102

Hegel, 1955, S. 29; vgl. DD, S. 139; Arendt führt diesbezüglich das Zitat von Nietzsche an: „Man weiß

die Herkunft nicht, man weiß die Folgen nicht: - hat folglich eine Handlung überhaupt einen Wert?“

(Nietzsche, Wille zur Macht, No. 291; zit. nach VA, S. 297, Anm. 76; vgl. ZVZ, S. 105f.). 103

EU, S. 948 und ZVZ, S. 80. 104

ZVZ, S. 81. 105

ZVZ, S. 104.

Page 175: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

173

herauszukommen.106

In Gesetze spricht Plato über den hinter dem Rücken der Menschen

handelnden Unbekannten. „Gott ist das Maß aller Dinge“.107

Nach diesem Maßstab sollen

die Menschen wie Marionetten gottgefällig spielen.108

So betrachtet wirkt sich die platoni-

sche Bemühung zur Überwindung des Handlungsproblems nicht minder in der neuzeitli-

chen Geschichtsphilosophie aus. Obwohl sich die Geschichtsphilosophie als ein spezifisch

neuzeitliches Phänomen bezeichnen lässt,109

arbeitet sie mit der platonischen Tradition,

sofern ihre ursprünglichen Impulse darin bestehen, „daß man durch die Einführung des Be-

griffs einer Menschheitsgeschichte dieser ursprünglich politischen Verlegenheit Herr wer-

den könnte.“110

Hannah Arendt stellt fest: „So besteht Plato gerade in seiner politischen

Philosophie darauf, daß die aus dem Handeln entstandenen Angelegenheiten zwischen den

Menschen nicht wert seien, ernst genommen zu werden, daß das Tun und Treiben der Men-

schen untereinander vielmehr einem Puppenspiel gleiche, in dem die Drähte von unsichtba-

rer Hand gezogen werden, vielleicht von der Hand eines Gottes, der sich mit Menschen wie

mit Marionetten die Zeit vertreibt.“111

Die Lösung der Aporien des Handelns gehört zur notwendigen Voraussetzung jeder philo-

sophischen Weltanschauung. Ungewissheit ist durch Gewissheit zu ersetzen.112

Arendts

Auffassung zufolge findet Plato die Lösung in der Umwandlung von auf Pluralität beruhen-

dem zufälligem Handeln in das Gewissheit verbürgende Herstellen, das „immer nur mit

einem Subjekt zu tun“ hat.113

Also beginnt die Tradition politischer Philosophie mit der

Orientierung am Paradigma des Herstellens von Gegenständen. Diese Tradition hat in der

Geschichte der politischen Philosophie mit einem politischen Perfektionismus zu tun, der

die Aufgabe der Politik in der Realisierung irgendeines Ideals sieht. Arendt sagt: „Allge-

mein gesprochen handelt es sich nämlich immer darum, das Handeln der Vielen im Mitei-

nander durch eine Tätigkeit zu ersetzen, für die es nur eines Mannes bedarf, der, abgeson-

dert von den Störungen durch die anderen, von Anfang bis Ende Herr seines Tuns bleibt.

Dieser Versuch, ein Tun im Modus des Herstellens an die Stelle des Handelns zu setzen,

zieht sich wie ein roter Faden durch die uralte Geschichte der Polemik gegen die Demokra-

106

Vgl. VA, S. 478. 107

Plato, Nomoi 716 c 4. 108

Vgl. Plato, Nomoi 644 d f. 109

Vgl. ÜR, S. 64 und VA, S. 377. 110

VA, S. 228. 111

VA, S. 229. 112

„Um Gewißheit zu erlangen, mußte man Mittel und Wege finden, sich zu vergewissern, und um zu erken-

nen, mußte man etwas tun. Gewißheit wiederum konnte es nur unter einer doppelten Voraussetzung ge-

ben: erstens, daß es sich um die Erkenntnis von Dingen handelte, die man selbst gemacht hatte (…); und

zweitens, daß die gewonnenen Erkenntnisse ihrerseits wiederum in einem zugreifenden Tun verifiziert

werden konnten.“ (VA, S. 368). 113

EU, S. 956.

Page 176: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

174

tie, deren Argumente sich desto leichter in Einwände gegen das Politische überhaupt ver-

wandeln lassen, je stichhaltiger und beweiskräftiger sie vorgetragen sind.“114

Die Reduktion

des Handelns auf das Herstellen, die von Arendt „die älteste Sünde aller politischen Philo-

sophie des Abendlandes“115

genannt wird, stellt einen Versuch dar, die dem Handeln eigen-

tümlichen Elemente der Pluralität auszuschließen: „Im Modus des Herstellens zu handeln,

bzw. in der Form eines Kalküls mit Konsequenzen zu denken, heißt, das Unerwartete und

damit das Ereignis selbst auszuschalten“.116

Dies läuft für Arendt auf die Abschaffung des

Politischen selbst hinaus. Arendt stellt als Kernthese für die Kritik an der Tradition der poli-

tischen Philosophie auf, dass der Impuls dieser Abschaffung trotz ihrer verschiedenen Ent-

würfe die antipolitische Grundstruktur der politischen Philosophie bildet.

Plato versucht in seiner Ideenlehre, die menschlichen Angelegenheiten durch die Konzepti-

on des Herstellens zu ordinieren. Auch wenn Plato zwischen Handeln und Herstellen unter-

scheidet117

, zeigt sich seine Vermischung von Handeln und Herstellen deutlich in der Be-

schreibung von Praxis als „Machen des Guten“.118

Diese Auffassung der Praxis bedeutet,

„das Verhältnis von Herstellen und Handeln zugunsten des Herstellens umzukehren“.119

Nach Arendts Ansicht ist der Grund dieser Umkehrung die innere Verwandtschaft von Idee

und Herstellen, die sich im letzten zehnten Buch der Politeia findet.120

Er verbindet die

Theorie mit der Poiesis, mit Herstellung. Für Plato sind unsere Augen in der Praxis „auf das

Modell gerichtet“121

. Die Platonische Idee beruhe offensichtlich „auf Erfahrung des Herstel-

lens (…), wiewohl Plato die Ideen selbstverständlich dazu benutzt, um ganz andere, näm-

lich eigentlich philosophische Erfahrungen des Sehens mitzuteilen, greift er doch immer,

wenn er die Plausibilität seiner Lehren illustrieren will, auf Beispiele zurück, die aus der

Welt des Handwerks und des Herstellens stammen. So wird schließlich einleuchtend, daß

eine einzige, immerwährende Idee über der Vielheit vergänglicher Dinge thront, weil diese

Beziehung zwischen dem ewig Einen und dem veränderlich Vielen in offenbarer Analogie

114

VA, S. 279. 115

ZVZ, S. 98. 116

VA, S. 382; in Bezug auf die Entpolitisierung des Totalitarismus ist bemerkenswert, dass die totalitäre

Ideologie und Terror auf der „Eliminierung des Zufalls und des Unvorhersehbaren aus allem Geschehen“

gegründet sind (EU, S. 734). 117

Clemens Kauffmann zufolge unterscheidet Plato zwei Arten menschlichen Tuns, also Poiesis und Praxis.

Poiesis sei die menschliche Tätigkeit „im Sinne des Machens, des in die äußere Welt eingreifenden, ver-

ändernden oder herstellenden Tuns“. Die Praxis, die „nicht das handwerklich-technische Herstellen“ ist,

werde „innerhalb dieses Bereichs durch den Bezug auf ihr Objekt spezifiziert.“ (Kauffmann, 2001, S.

126). 118

Kauffmann, 2001, S. 126. 119

VA, S. 384. 120

Vgl. VA, S. 452f.; im 10. Buch der Politeia meint Plato, dass „der Handwerker, der ein Bett oder einen

Tisch herstellt, hierfür nicht auf ein anderes Bett oder einen anderen Tisch blickt, sondern auf die Idee des

Bettes“ (VA, S. 453). 121

Jullien, 1999, S. 13.

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175

zu der Beziehung gesehen ist, die zwischen der Beständigkeit und Einzigkeit des Modells

und den vielen entstehenden und vergehenden Dingen obwaltet, die in seinem Bilde herges-

tellt werden können.“122

Im Hinblick auf Arendts „technische Interpretation der platonischen Ideenlehre“123

gehört

Plato zum Vater des „technokratischen Modells“ der modernen Gesellschaft, das Handeln

„überflüssig“ machen zu wollen.124

Alle Probleme des Politischen sind damit letztlich auf

Probleme technischer Verwaltung reduziert. Arendt vertritt die starke These, dass große

Teile politischer Philosophie übrigens schon seit Plato, aber nicht erst seit der Neuzeit, das

technische Herstellensdenken als das theoretische und praktische Modell des Politischen

übernehmen: „Platon, der als erster utopische Staatsformen entwarf, in denen das menschli-

che Miteinander technisch geregelt werden kann, ist der eigentliche Begründer des utopi-

schen Denkens in der Politik.“125

Die politische Philosophie der Neuzeit akzeptiert für

Arendt Platos Vorschlag, „alle öffentlich-politischen Angelegenheiten so zu ordnen, daß sie

denselben Kriterien unterstellt werden können, welche für die herstellenden Künste gültig

sind“.126

In diesem Sinne stellt die Identifizierung des politischen Handelns mit Herstellen

eine ununterbrochene Tradition der politischen Philosophie des Westens dar.

Diese Transformation des Handelns hat Konsequenzen für die politische Realität. Der Tota-

litarismus ist eine spezifisch technologische Form von Politik. „Totale Beherrschung kann

freie Initiative in keinem Lebensbereich erlauben, weil sie kein Handeln zulassen darf, das

nicht absolut voraussehbar ist.“127

Arendts Ansicht zufolge beruht die totalitäre Herrschaft

auf der traditionellen „Versuchung, menschliches Handeln am Modell des Herstellens von

Gegenständen zu orientieren.“128

Hinsichtlich der Identifizierung von Handeln mit Herstel-

len gehört Plato zum „entschlossensten und einflussreichsten Gegner (…), den der politi-

sche Bereich je gehabt hat“.129

Seine Transformation des Handelns in Herstellen hat damit

122

VA, S. 168. 123

Pöggeler, 1999, S. 144. 124

VA, S. 281; vgl. Rapp, 1998, S. 957; die Technokratie der modernen Gesellschaft entspricht der Idee,

„das offene, unkalkulierbare wirtschaftliche und politische Handeln nach dem Vorbild der Ingenieurtätig-

keit und der exakten Naturwissenschaften messbar und beherrschbar zu machen“ (Rapp, 1998, S. 954). 125

VA, S. 289; in der Tat ist Hannah Arendt nicht die einzige, die das technische Herstellungsdenken unter

Berufung auf die antike Erfahrung vom praktischen Politikbegriff unterschieden hat (vgl. Hennis, 1977, S.

185ff.; Habermas, 1971, S. 48ff.; Riedel, 1969, S. 107). Aber anders als Arendt bezeichnen viele die Iden-

tifizierung von Handeln mit dem Herstellen im politischen Bereich als das spezifische Kennzeichen der

Neuzeit, das den Bruch mit der Tradition der Antike darstellt und das vor allem bei Hobbes charakteris-

tisch ist (vgl. VA, S. 383ff. und 292; ZVZ, S. 95). 126

VA, S. 292. 127

EU, S. 724. 128

EU, S. 956. 129

ZVZ, S. 365.

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176

politisch zur Folge, dass die nichtpolitischen oder antipolitischen Begriffe zu Schlüsselbe-

griffen des Politischen werden.

2.3 Die politischen Konsequenzen der Transformation des Handelns

Der Versuch von Plato, das Handeln durch Herstellen zu ersetzen, um die Aporien des

Handelns aufzulösen, wird zur elementaren und nötigen Grundlage der Tradition politischer

Philosophie. Auch diese falsche Grundlage ist nie korrigiert, ist von allen folgenden Den-

kern übernommen worden. Mit der Verwechslung von Herstellung und Handeln, also mit

der ältesten Sünde aller politischen Philosophie, verliert das Politische seine Eigenständig-

keit; stattdessen erobern antipolitische Kategorien den politischen Bereich, und ihre Diskus-

sion wird zum Inhalt der politischen Philosophie: Zweckrationalität, die das Politische als

das Mittel zum außerhalb seiner selbst liegenden Endzweck versteht; die Vorstellung, dass

die Freiheit mit der Souveränität identisch ist; die Überzeugung, dass der Herrschaftsbegriff

für die politische Realität im Mittelpunkt liegt.

2.3.1 Die Instrumentalisierung der Politik im Zweck-Mittel-Schema

In der Transformation des Handelns in eine Form des Herstellens wird die politische Philo-

sophie in die Bahnen eines Zweck-Mittel-Denkens gelenkt. Der Mensch versteht sich nun

als Hersteller, der durch die Instrumentalisierung der Welt und das Vertrauen in Werkzeuge

gekennzeichnet ist.

Die Zweckrationalität oder Zweckdienlichkeit ist in der Tat die typische Denkweise im Be-

reich des Herstellens, in dem ein adäquates Verhältnis zwischen Mittel und Zweck herr-

schen soll. Wie wir durch die Handlungstheorie Arendts erkennen, ist alle herstellende Be-

tätigung von einem isoliert gesetzten Zweck motiviert. Die herstellende Tätigkeit ist ein

Mittel zu dem entsprechenden Zweck. Beim Herstellen kann der Herstellende seinen Zweck

erreichen, weil er souverän ist. Dabei heiligt, rechtfertigt, rationalisiert und organisiert der

Zweck das Mittel. Insofern bedeutet Zweckrationalität die Rationalität von Mitteln zu ei-

nem gegebenen Zweck.130

Das Zweck-Mittel-Schema wird als einziges Paradigma zum

Verstehen des Handelns begriffen. In VA schreibt Hannah Arendt im Folgenden: „Der

durchschlagende Erfolg der Umwandlung des Handelns in eine Form des Herstellens ließe

sich leicht an der uns selbstverständlich gewordenen Terminologie politischer Theorie und

130

Vgl. VA, S. 181f.; vgl. Ebert, 1977, S. 21-39.

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177

des praktisch – politischen Denkens erweisen. Sie macht es nämlich nahezu unmöglich,

über Fragen der Politik auch nur zu sprechen, ohne uns der Zweck – Mittel – Kategorie zu

bedienen.“131

In Gorgias behauptet Plato, dass sich die Absicht nicht auf die Handlung richtet, sondern

auf das Ziel der Handlung, das der Handelnde stets als ein Gut betrachtet. Die Bestimmung

des Zieles sei Sache der Vernunft.132

Daher wird die Qualität der Handlung von ihrem Ziel

aus bestimmt. Menschliche Handlungen besitzen von sich aus immer schon ein Ziel, um

dessen willen sie vollzogen werden. Die Existenz des vorgegebenen Zieles gibt die klare

Antwort auf die Frage, was gehandelt werden soll. So ist die Handlung auf ein Mittel zum

vorgegebenen Ziel reduziert.133

Diese Beschränkung der Handlung auf das Handlungsziel

hat eine lange Nachwirkung in der Tradition politischer Philosophie.134

Darauf bezogen war die Politik in der Tradition immer als ein Mittel bezeichnet. Obwohl

die Bestimmung eines solchen Endzweckes durch die Jahrhunderte hindurch verschieden

war, lässt sich die Politik immer wieder auf ein Werkzeug für einen höheren Zweck außer-

halb ihres Bereiches zurückführen, wie sie bei Plato ein Werkzeug zum Schutz des Lebens

der Philosophen ist: „Die Hoffnung, Handeln durch Herstellen ersetzen zu können, und die

ihr innewohnende Degradierung der Politik zu einem Mittel für die Erreichung eines höhe-

ren, jenseits des Politischen gelegenen Zweckes – im Altertum des Schutzes der Guten vor

der Herrschaft der Schlechten im allgemeinen und des Schutzes des Philosophen vor der

Herrschaft des Mobs im speziellen, im Mittelalter des Seelenheils, in der Neuzeit der Pro-

duktivität und des Fortschritts der Gesellschaft – sind so alt wie die Tradition politischen

Denkens.“135

In der Neuzeit wird diese Tradition noch radikaler. An die Stelle des Bürgers, der zur Teil-

nahme am Erfahrungsraum der Freiheit durch das Miteinanderhandeln und –sprechen fähig

ist, tritt der Homo faber, der sich in der instrumentellen Rationalität bewegt. Beim Versuch

von Hobbes, dem größten Vater der politischen Philosophie der Neuzeit, „mit Hilfe des

Begriffs eines herstellenden Kalküls die Theorie der Politik neu zu begründen“136

, ist das

131

VA, S. 291. 132

Plato, Gorgias 467 c ff.; vgl. PP, S. 383; ZVZ, S. 181. 133

Vgl. Ebert, 1977, S. 34. 134

Arendt sagt, dass Marx‟ Tragödie auf dieser Tradition beruht: „Ein Zweck, der kein besonderer ist, ist

kein Zweck, wie ein Handeln ohne Zweck ein zweckloses, sinnloses Handeln ist.“ (Marx, aus der Kritik

der Hegelschen Rechtsphilosophie; zit. nach DTB, S. 95). 135

VA, S. 291f. 136

VA, S. 382.

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178

Handeln gemäß den Vernunftkalkülen137

funktional und zweckbezogen. „Der Staat ist eine

zweckrationale Veranstaltung zur Sicherung des Überlebenden und der Wohlfahrt der Un-

tertanen“,138

und damit sind menschliches Handeln und Politik immer als Mittel zur Befrie-

digung des jeweiligen Verlangens verstanden. Damit reduziert sich der Staat für Hobbes auf

„eine Maschine zum Zwecke des Schutzes der ihren Privatinteressen nachgehenden Indivi-

duen“139

.

Max Weber wiederum baut die gleiche Formel in seinem Verständnis der Handlung ein:

„Jede denkende Bestimmung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns

ist zunächst gebunden an die Kategorien Zweck und Mittel.“140

Für Weber stellt die moder-

ne Rationalität Zweck-Mittel-Kalkül dar. Daher ist das zweckrationale Handeln die zentrale

Konzeption für die Webersche Auffassung der politischen Kategorien wie Macht und Herr-

schaft. Der Begriff dieser instrumentellen Rationalität, deren Markenzeichen „die Übertra-

gung der Vorstellung vom Kosten und Nutzen abwägenden egoistisch-rationalen Akteur auf

die Welt der Politik“141

ist, hat das Selbstverständnis der Moderne stark geformt.

Die Zweckrationalität lässt sich als ein Funktionszusammenhang umschreiben, aber nicht

als Sinnzusammenhang. Daraus folgt „die verhängnisvolle Verwechselung von Sinn und

Zweck“.142

Die Vermischung von Sinn und Zweck beruht ursprünglich auf der Verwech-

slung von Handeln und Herstellen. Das Handeln wird nur unter dem Blickwinkel der

zweckrationalen Erfolgsrechnung beurteilt, weil Zweck im Voraus die Linie, der ein Hand-

lungsverlauf zu folgen hat, bestimmt, während der Sinn erst im Nachhinein erfassbar ist.

Während jeder Zweck wiederum selbst zum Mittel für weitere Zwecke wird, muss ein Sinn

dagegen ständig sein, und „er darf von seinem Charakter nichts verlieren, wenn er sich er-

füllt, oder besser, wenn er dem Menschen in seinem Tun aufgeht oder sich ihm versagt und

ihm entgeht.“143

In der Dominanz der nützlichen Zweckdienlichkeit sieht Arendt die Sinn-

losigkeit, die Lessing mit dieser Frage stellt: „Und was ist der Nutzen des Nutzens?“144

Oh-

137

„(...) können wir definieren, das heißt bestimmen, was mit dem Wort Vernunft gemeint ist, wenn wir sie

zu den Fähigkeiten des Geistes rechnen. Denn Vernunft in diesem Sinne ist nichts anderes als Rechnen.“

(Hobbes, LV, S. 32; vgl. ZVZ, S. 67). 138

Euchner, 1985, S. 362. 139

Fetscher, Einleitung, in: Hobbes, LV, S. XLI. 140

Weber, 1988, S. 149; zit. nach Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a. M. 2002, S. 223; an ande-

rer Stelle formuliert Weber im Folgenden: „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zwecken, Mit-

teln und Nebenfolgen orientiert und dabei die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Neben-

folgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt, also jeden-

falls weder affektuell (...) noch traditional handelt“ (Weber, WG, S. 18). 141

Schmidt, 2000, S. 213. 142

ZVZ, S. 98. 143

VA, S. 184. 144

VA, S. 183; vom Dilemma des Utilitarismus, also seiner Sinnlosigkeit spricht Arendt: „Die Aporie des

Utilitarismus besteht darin, daß er in dem Zweckprogressus ad infinitum hoffnungslos gefangen ist, ohne

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179

ne eine inhaltliche Definition dieses Nutzens wird die Politik immer auf den utilitarischen

Funktionszusammenhang degradiert. Im bloßen Funktionszusammenhang wird dann die

Ausübung der Herrschaft nur noch durch formale Verfahren legitimierbar, weil der Zweck

der Herrschaft identisch mit dem Nutzen der Beherrschten ist. In diesem zweckrationalen

Verständnis reduziert sich die politische Institution auf eine Verwaltungsorganisation, in

der die Eigenständigkeit des politischen Handelns erlischt.

2.3.2 Identifizierung von Freiheit und Souveränität

In der Mentalität des Herstellens setzt die Durchsetzung eines Zwecks eine Souveränität

voraus. Da der Herstellende die Idee des Gegenstandes des Herstellens besitzt, ist er souve-

rän. Er realisiert die Idee bzw. Absicht und Zweck beim souveränen Herstellen.145

Im iso-

lierten Zusammenhang mit der Idee steht er in Unabhängigkeit von seinem Mitmenschen.

Souveränität besitzt nur „der Herstellende, aber niemals der Handelnde: Nur der Herstellen-

de ist Herr und Meister; er ist souverän und darf sich aller Dinge als Material und Mittel für

seinen Zweck bemächtigen. Der Handelnde bleibt immer in Bezug zu anderen Handelnden

und von ihnen abhängig; souverän gerade ist er nie.“146

Arendt versteht Souveränität als „die Unabhängigkeit von allen anderen“ und „das Sich -

Durchsetzen gegen sie“.147

Philosophisch gesagt ist sie nur im Wollen und im Verkehr mit

sich selbst, also im Aufhören des Handelns, zu erfahren. Die Philosophen wie die Herstel-

lende erfahren Freiheit als Souveränität, die in dem Abstand liegt, „den die Weisen zwi-

schen sich und den zwischenmenschlichen Bereich legen und erhalten.“148

Für diese philo-

je das Prinzip finden zu können, das die Zweck-Mittel-Kategorie rechtfertigen könnte, bzw. den Nutzen

selbst.“ (VA, S. 183). 145

Vgl. VA, S. 384. 146

ZVZ, S. 295; „Die Isoliertheit gegen die Mitwelt, das ungestörte Alleinsein mit einer Idee, d.h. mit dem

inneren Bild des herzustellenden Gegenstandes, ist die unerlässliche Lebensbedingung der Meisterschaft.“

(VA, 191f.). 147

ZVZ, S. 213; der Begriff der Souveränität in der politischen Theorie entstand erst zu Beginn des 14. Jahr-

hunderts. Die Souveränität ist für den modernen Staat charakteristisch und die Form, die dem Staate sein

Wesen gibt, so dass der Staat und die Souveränität synonym sind (vgl. Staatslexikon, Art. „Souveränität“,

Bd. 7, 1962, S. 136ff.). In weitem Sinne lässt sich der Begriff der Souveränität nicht nur auf der staatli-

chen Ebene, sondern auch in der individuellen Dimension verwenden; „Auf der einen Seite steht der ein-

zelne, der frei ist, der die Macht über sich selbst hat (…) und der eine private Hoheit (…) ausübt. Und auf

der anderen Seite der Monarch, der über das ganze Reich ein souveränes Recht ausübt.“ (Jouvenel, 1963,

S. 212). In diesem Licht ist der Souverän „Selbstherrscher, selbstherrlich.“ (Staatslexikon, S. 136). Dieser

Begriff des Souveräns ist die Konsequenz der Fortentwicklung der platonischen Tradition politischer Phi-

losophie. Das Konzept der Souveränität stellt für Arendt die auf Plato zurückgehende Lehre von Selbstbe-

herrschung dar: „daß nur, wer sich selbst befehlen und sich selbst gehorchen kann, das Recht haben dürfe,

anderen zu befehlen, und die Freiheit, anderen nicht gehorchen zu müssen.“ (ZVZ, S. 212 und VA, S.

303). 148

VA, S. 298.

Page 182: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

180

sophische Tradition verhindert die Bedingtheit der Pluralität vielmehr die souveräne Frei-

heit, weil man in Seinesgleichen niemals souverän ist. In diesem Sinne trägt der Begriff der

Souveränität in sich das Prinzip der Ungleichheit. Damit verschwindet die politische Erfah-

rung, dass sich die Freiheit sowohl aus der Gleichheit als auch aus der „Bedingung der

Nicht-Souveränität“149

ergibt. Diese „Gleichsetzung von Souveränität und Freiheit“ versteht

Arendt als ein „grundsätzlicher Irrtum“150

der politischen Philosophie des Westens, weil

„Souveränität, nämlich unbedingte Autonomie und Herrschaft über sich selbst, der men-

schlichen Bedingtheit der Pluralität widerspricht“151

, während die Freiheit eigentlich „ein

politisches Phänomen“152

im Plural ist. Arendt stellt fest: „Politisch hat sich vermutlich kein

anderer Bestandteil des traditionellen philosophischen Freiheitsbegriffs als so verderblich

erwiesen wie die ihm inhärente Identifizierung von Freiheit und Souveränität.“153

Als ein politisches Phänomen liegt das hervorragende Kennzeichen der Freiheit darin, dass

sie bedingt ist, weil sie untrennbar mit dem Handeln zusammenhängt. In diesem Sinne ist

die politische Freiheit immer die bedingte Freiheit.154

Im Gegensatz dazu erweist sich die

Souveränität als „unbedingt, unwiderruflich und unbeschränkt“.155

Sie bedarf des Konzepts

absoluter Herrschaft, damit sie politisch und praktisch funktionieren kann. Die souveräne

Freiheit ermöglicht sich durch die Beherrschung des Subjekts über das Objekt. Der Begriff

der Souveränität hat daher in der politischen Realität zwei Folgen: „(…) die Souveränität

eines politischen Körpers ist immer nur ein Schein, der zudem niemals anders als mit den

Mitteln der Gewalt aufrechterhalten werden kann“; noch dazu ein Schein, der nur dadurch

zustande kommt, „daß eine Vielheit sich so verhält, als ob sie einer wäre und noch dazu ein

einziger“.156

Die Tendenz der Souveränität zur Herrschsucht schließt das Miteinander der

Menschen aus. Darauf weist Heuer wie folgt hin: „Souveränität schließt potentiell die Dis-

kussion aus und befördert damit die Konfrontation. Das trifft sowohl auf das sogenannte

autonome Individuum als auch auf den klassischen souveränen Staat zu. Die Beziehungen

zwischen den Menschen (…) bleiben nur dann dialogisch und gewaltfrei, wenn sie gerade

auf das Prinzip der Souveränität verzichten und stattdessen möglichst viele gemeinsame

Räume der Beziehungen und Bindungen zwischen sich schaffen.“157

149

ZVZ, S. 214. 150

VA, S. 298f. 151

VA, S. 299. 152

ZVZ, S. 210. 153

ZVZ, S. 213. 154

Zum Arendtschen Freiheitsbegriff siehe IV. 155

Kriele, 1980, S. 58. 156

ZVZ, S. 214f. 157

Heuer, 1996, S. 117.

Page 183: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

181

Wir haben oben schon erwähnt, dass die Gleichsetzung von Freiheit und Souveränität auf

der philosophischen Feindlichkeit gegen Pluralität beruht. Von dieser Feindseligkeit kommt

man zur philosophischen Schlussfolgerung, dass Freiheit im Verkehr nur mit sich selbst

erfahren wird; in der Souveränität als „Selbstbeherrschung“ ist der eigentliche Raum für die

Freiheit des Menschen „das Seinige“, das „sich selbst beherrscht und ordnet“.158

Wenn man

Herr seiner selbst ist, kann man sich gegen die Zufälligkeit des Handelns verteidigen. Im

Gegensatz dazu: Wer nicht einmal sich selbst beherrschen kann, erfährt noch größeres Un-

heil und Unglück, wenn er über Andere herrschen muss. Daraus folgt, dass Selbstbeherr-

schung die Herrschaft über Andere rechtfertigt. „So wird Selbstbeherrschung für Plato das

höchste Kriterium für die Fähigkeit, andere zu beherrschen; die Befehlsgewalt des Philoso-

phen-Königs ist legitim, weil die Seele imstande ist, dem Körper Befehle zu erteilen, und

weil die Vernunft die Fähigkeit besitzt, die Leidenschaften zu beherrschen.“159

Diese Vor-

stellung der Selbstherrschung wirkt sich in dem neuzeitlichen Grundsatz, dass der Mensch

nur das versteht, was er selber macht.

In der Auseinandersetzung mit dem traditionellen Verständnis der Freiheit stellt Arendt fest,

dass Menschen tatsächlich nicht frei sein könnten, wenn Souveränität und Freiheit wirklich

dasselbe wären, „denn im Bereich menschlicher Angelegenheiten kann Souveränität

schließlich und endlich immer nur auf Gewaltherrschaft durch einen Tyrannen hinauslau-

fen.“160

Wenn im Bereich des Politischen Pluralität unverzichtbar ist, muss auf den „Ans-

pruch der Macht auf Souveränität“161

verzichtet werden, weil sich die politische Pluralität

nur auf der „Entmachtung der Souveränität“ gründen lässt.162

2.3.3 Zentralisierung des Herrschaftsbegriffs im politischen Bereich

Arendts Auseinandersetzung mit Plato liefert den Schlüssel zur Beantwortung der Frage,

„wo der Begriff der Herrschaft in das Politische eingedrungen ist“.163

Die Entwicklung des

Begriffs „Herrschaft“ zum politischen Begriff ist nach Arendts Ansicht das größte Erbe

vom philosophischen Denken von Plato für die abendländische Tradition politischer Philo-

sophie. Arendt ist der Auffassung, dass Plato den Herrschaftsbegriff der Sphäre des Herstel-

lens und Produzierens entnommen hat, um in der politischen Welt die Pluralität des Han-

158

Plato, Pol. 443 d. 159

VA, S. 284; vgl. Plato, Pol. 578 d - 579 b. 160

ÜR, S. 200. 161

ÜR, S. 200. 162

Breier, 1998, S. 164. 163

BAH, S. 145.

Page 184: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

182

delns und der Handelnden aufzuheben. Arendt sagt: „So groß ist die Verführung, die men-

schlichen Angelegenheiten durch die Einführung einer unpolitischen Ordnung zu stabilisie-

ren, daß der größte Teil der politischen Philosophie seit Plato sich mühelos als eine Ge-

schichte von Versuchen und Vorschlägen darstellen ließe, die theoretisch und praktisch

darauf hinauslaufen, Politik überhaupt abzuschaffen. Schon die Rolle des traditionellen

Herrschaftsbegriffs, bzw. der Vorstellung, daß alle Politik eine Form der Herrschaft sei und

daß es zum Wesen des Rechtsstaates gehöre, das Herrschen und Beherrschtwerden, Befeh-

len und Gehorchen auf Grund positiver Gesetze zu regeln, ist kennzeichnend in dieser Be-

ziehung.“164

Für die Griechen bezeichnete das Wort „politisch“ „den Gegensatz zu despotisch, ja zu al-

len Formen der Herrschaft Weniger über Viele.“165

Die Herrschaft, die ursprünglich nicht

als eine Kategorie des Politischen bezeichnet worden ist, wird zum politischen Begriff

durch den Versuch, die aus der menschlichen Pluralität entstehende Aporien des Handelns,

also die Unabsehbarkeit und Ungewissheit allen Handelns, in einen Status der absoluten

Gewissheit zu überführen und zu lösen; „auf alle Weise einer wird aus vielen“.166

Mit dem

Sieg des Herrschaftsaspekts im politischen Denken ist die Bedingung der politischen Plura-

lität zerstört.167

Plato beschäftigt sich in seiner gesamten politischen Philosophie mit der Frage der Herr-

schaft.168

Sofern der Herrschaftsbegriff zum wichtigsten Strukturelement der politischen

Philosophie wird, gehört „das Problem der Legitimation der Herrschaft“ zum „Grundprob-

lem aller politischen Philosophie“.169

Der Kernpunkt dieses Problems steht in der Frage,

wer zur Übernahme der Herrschaft überhaupt geeignet ist. Platos Lösungsvorschlag besteht

bekanntlich darin, Philosophie mit politischer Herrschaft zu verbinden: „Philosophen-

König“ soll herrschen, weil er die absolute Wahrheit weiß.170

Die Möglichkeitsbedingung

164

VA, S. 281. 165

Meier, 1983, S. 27; der Terminus ‚Herrschaft‟ stammt vom lateinischen dominium wie dem griechischen

Despot. Das Wort Dominium bezeichnet die Gewalt des pater familias im privaten Bereich des Haushalts,

also eine Verfügungsgewalt über Frauen, Kinder und Sklaven, und hat somit eine wesentlich weitere Be-

deutung als die auf Befehl und Gehorsam eingeschränkte Beziehung. 166

Plato, Pol. 443 e; vgl. VA, S. 284. 167

Vgl. Ludz, 1993, S.173. 168

Vgl. Annas, 1988, S. 373ff. 169

Spaemann, 1977, S. 104; vgl. VA, S. 290. 170

Plato, Pol. 473 c - d; „Wenn nicht (…) entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die

jetzt so genannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren und also dieses beides

zusammenfällt, die Staatsgewalt und Philosophie, (…) eher gibt es keine Erholung von dem Unheil für die

Staaten.“

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183

einer gerechten politischen Herrschaft liegt nun in der „Koinzidenz von Wissen und

Macht“171

. Das philosophische Wissen ist so absolut, dass es zum Herrschen befähigt.172

Die Idee der vernünftigen Herrschaft lässt sich mit der Gesinnung begründen, dass Wissen

Tun leiten muss. Jede Praxis wird der Theorie subordiniert. Die Platonische Trennung von

Wissen und Tun bzw. von Theorie und Praxis wird für Arendt „als die Wurzel aller Herr-

schaftstheorien“173

verstanden: „Plato hat als erster die Menschen eingeteilt in solche, die

wissen und nicht tun, und solche, die tun und nicht wissen, was sie tun.“174

Die von Plato

übernommene Differenzierung zwischen Tun und Wissen ist in der abendländischen Tradi-

tion des politischen Denkens trotz verschiedenster Variationen nie wieder verheilt. Wenn

Plato „Wissen mit Befehlen und Herrschen“ und „Handeln mit Gehorchen und Vollstre-

cken“175

identifiziert, ist das Handeln auf die bloße Ausführung des theoretischen Wissens

reduziert. Anders gesagt ist der Begriff der Herrschaft als der politische Schlüsselbegriff

durch das metaphysische Verständnis des Handelns und des Politischen begründet, dass

sich alles menschliche Handeln unter der Leitung der theoretischen Erkenntnis abspielt.176

Die absolute Unterscheidung zwischen Wissen und Tun bezeichnet Arendt als den Kernge-

danken von Platos Staatsmann: „Der vollkommene Herrscher handelt nicht; er ist der weise

Mann, der eine Handlung einleitet und ihr beabsichtigtes Ziel kennt, und deshalb ist er der

Herrscher.“177

Arendts Ansicht zufolge greift Plato für die Trennung von Wissen und Tun auf zwei Model-

le zurück. Das Modell der Trennung von Wissen und Tun findet Plato zunächst in der Be-

ziehungsform des Haushalts, in der es einer absoluten Herrschaftsgewalt des Hausherrn

bedarf, der durch sein leitendes Wissen die Mitglieder seiner Familie zu einer Einheit zu-

sammenfügt.178

Plato parallelisiert die Herrschaftsverhältnisse im Hause mit denen in der

Polis. Despotisch herrscht der Hausherr über Sklaven, praktisch herrscht der Staatsmann

über die Freien oder der Philosoph über die Bürger. Es ist kein Zufall, dass Plato in seinem

politischen Werk die Worte benutzt, die der Haushaltssprache entnommen sind; Sklave,

171

Kauffmann, 2001, S. 139. 172

In seinem Aufsatz Das Problem der Philosophenherrschaft bei Platon hält Hans Krämer fest, dass das

philosophische Wissen für Plato unbegrenzt und absolut ist. Seiner Ansicht zufolge „ist das philosophi-

sche Wissen als einziges nicht mehr begrenzt, weil es sich auf die Totalität der Wirklichkeit bezieht. Noch

mehr: es betrifft das Absolute selbst. Wenn aber jedem Wissen Autorität und Macht zugehört, so gehört

im Grenzfall zum absoluten Wissen absolute Machtvollkommenheit“ (Krämer, 1966, S. 261). 173

VA, S. 285. 174

VA, S. 282. 175

VA, S. 285.

176 Wo es die Herrschaft gibt, also wo Wissen und Handeln sich getrennt haben, wie Arendt feststellt, gebe es

keinen Raum für Freiheit (EU, S. 340). 177

DU, S. 81. 178

Vgl. ZVZ, S. 185; „Glieder von Haus werden durch den leitenden Geist des Herrn zu einer Einheit zu-

sammengefügt; Das ist der wahre Sinn des Wortes Hausvater.“ (Brunner, 1956, S. 44; vgl. VA, S. 283).

Page 186: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

184

Herr und Despot.179

Plato glaubt, „daß schließlich alle Bürger der Polis sich wie Glieder

einer Familie führen und verhalten“ können.180

Diese platonische Tradition, die staatliche

Herrschaft auf Haushalte und Familien zu gründen, bleibt noch bei der neuzeitlichen Staats-

theorie. So formuliert Jean Bodin: „Ähnlich wie also die gut geführte Familie das wahre

Abbild des Staates ist und wie die häusliche Gewalt der souveränen Gewalt ähnelt, ist auch

die gerechte Herrschaft im Hause das Vorbild für die Regierung im Staat.“181

Wenn Plato die Übertragung der unpolitischen Familien- und Haushaltsstrukturen auf die

ganze Polis vorschlägt, gibt es dafür zwei Gründe. Erstens: er wollte eine absolute politi-

sche Einheit herstellen, indem er die Staatsangehörigen wie Hausgenossinnen und Hausge-

nossen einem Herr-abhängigen-Verhältnis unterordnet. Dieser Versuch, die politische Ord-

nung von der Familie her zu konzipieren, läuft darauf hinaus, „die Grundqualität der Plura-

lität“ aufzuheben.182

Zweitens: dass das Herrschaftsverhältnis im Hause zur Anwendung auf

die Polis kommt, hat damit zu tun, dass Plato die politische Herrschaft und die Ungleichheit

der zwei verschiedenen Klassen als etwas Notwendiges oder als etwas Natürliches bezeich-

net.183

In der Analogie der legitimen Herrschaft zum privaten Haushaltsverhältnis ist eine Schwie-

rigkeit enthalten, „daß nämlich der Herrscher eine Art von Gott sein müßte, um sich von

den Beherrschten so entscheidend zu unterscheiden wie der Herr von dem Sklaven oder der

Hirt von seiner Herde.“184

Diese Schwierigkeit löst sich mit der Analogie von Herrschaft

zum Herstellen auf: „Die Analogie zum handwerklichen Herstellen impliziert dagegen nicht

mehr als die alltäglich erfahrene und bewährte Überlegenheit des Meisters über den in sei-

ner Kunst unerfahrenen Laien, und das, was den Laien bewegt, sich dem überlegenen Urteil

des Meisters zu fügen, ist nicht seine Person, sondern nur die von ihm vertretenen und be-

herrschten Regeln der Kunstfertigkeit.“185

Aus der Analogie von Herrschaft und Herstellen ergeben sich die gewalttätigen Elemente

der Herrschaft.186

Das politische Handeln wird für Plato als die Durchsetzung und den Voll-

179

Vgl. ZVZ, S. 171f. und VA, S. 283f. 180

VA, S. 283. 181

Bodin, 1981, S. 107; für Bodin ist die Familie „eigentliche Quelle und Ursprung jedes Staates und sein

wichtigstes Glied“ (S. 107). 182

WP, S. 10f.; „Platos Forderung, die Verhaltungsregeln in öffentlichen Angelegenheiten aus dem Herr-

Sklave-Verhältnis herzuleiten, lief in Wahrheit darauf hinaus, das Handeln a priori aus dem Verlauf der

menschlichen Angelegenheiten auszuschalten.“ (VA, S. 283). 183

Vgl. VA, S. 47 und ZVZ, S. 175. 184

VA, S. 288. 185

VA, S. 288f. 186

„Dabei darf man eines in der geschichtlichen Entwicklung dieser Überlieferung nicht übersehen. Zwar

muß Gewalttätigkeit, die alles herstellende Fabrizieren als eine seiner Grundvoraussetzungen durch-

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185

zug metaphysisch begründeter Wahrheit verstanden. Allerdings zielt Plato mit der Philoso-

phenherrschaft auf die gewaltlose Polis ab. Seine Frage ist, wie die absolute Herrschaft oh-

ne Gewalt legitim begründbar ist.187

Wenn Plato die Vernunftherrschaft vorschlägt, liegt

seine Absicht darin, die Tendenz zur gewalttätigen Durchsetzung der selbstsüchtigen Zwe-

cke politischer Macht zu beschränken. Die Elemente der Gewalt im politischen Bereich

sind für Plato nur auf eine instrumentale Funktion beschränkt.188

Trotzdem ist Platos Idee

der Führung des Politischen durch die Philosophie, also die Vernunft-Herrschaft, wie

Arendt glaubt, nicht weniger tyrannisch und zwingend als andere. Daher spricht Arendt

über „die Affinität zwischen Philosophie und Tyrannis, oder die Vorliebe der Philosophen

für die vernünftige Tyrannei“189

seit Plato.190

In der Transformation des Handelns in das Herstellen werden Begriffe wie Souveränität,

Gewalt und Herrschaft allgemeine Begriffe des Politischen. Hier beginnt die Verwirrung

um die politischen Begriffe. In der Einleitung ihres Buches, Fragwürdige Traditionsbe-

stände im politischen Denken der Gegenwart, schreibt Arendt dazu: „Meine Kritik gilt (…)

dem Herrschaftsbegriff der klassischen politischen Theorie (…). Ich bin der Meinung, daß

die Rückführung aller menschlichen Tätigkeiten auf das Arbeiten oder Herstellen und die

Reduzierung aller politischen Verhältnisse auf das Herrschaftsverhältnis nicht nur historisch

nicht zu rechtfertigen sind, sondern in verhängnisvoller Weise den Raum des Öffentlichen

und die Möglichkeiten des Menschen als eines für Politik begabten Wesens verkrüppelt und

pervertiert haben.“191

herrscht, auch in allen politischen Systemen und Herstellen mehr oder minder dasselbe sind.“ (VA, S.

289). 187

Diese platonische Bemühung hat einen starken Einfluss auf die begriffliche Ausprägung des modernen

Autoritätsgedankens. Siehe dazu Abschnitt, IV. 2.2.1. 188

Vgl. Plato, Pol. 519 e - 520 a; Nomoi 753 a. 189

BAJ, S. 196. 190

In dieser Hinsicht ist die Antwort von Kant auf Platos Anspruch auf die Vernunft-Herrschaft aufschluss-

reich. Kant verwirft die platonische Einheit von politischer Macht und philosophischer Autorität ironisch,

weil die Herrschaft der widerspruchslosen Vernunft für ihn nicht weniger tyrannisch als andere: „Daß

Könige philosophieren oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wün-

schen, weil der Besitz der Gewalt das freie Urteilen der Vernunft unvermeidlich verdirbt.“ (Kant, 1984, S.

49; vgl. DU, S. 44). 191

Arendt, 1957, S. 7.

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186

3. Rousseau und die Tradition politischer Philosophie

In der platonischen Tradition ist es charakteristisch, wie festgestellt wurde, dass sich die

Übel menschlicher Angelegenheiten, die aus menschlicher Pluralität entstehen, zunächst

einmal durch die Errichtung jener homogenen Einheit vermeiden lässt. Die Einseitigkeit

und der Meinungsstreit im Bereich menschlicher Angelegenheiten können nur durch die

transzendenten Prinzipien aufgebrochen und überwunden werden. Diese Vorstellung von

„Platos unmenschlichem idealem Staat“1 fährt bis in die Neuzeit fort. Rousseau bleibt bei

dieser Tradition. Das originelle und ideale Mittel, das Rousseau gefunden hat, um die Rät-

selfrage der neuzeitlichen Staatstheorie, wie sich von Natur aus freie Personen in einem

Staat vereinigen können, ohne dass der einzelne seine Freiheit verliert, zu lösen, entsteht

aus der explosiven Mischung vom Prinzip der Volkssouveränität und dem Gemeinwillen.

Rousseaus Theorie, die „nichts mehr und nichts weniger (ist), als was die Vielen in eine

Einheit zusammenbinden sollte“2, stützt sich auf diese widersprüchliche Verbindung eines

radikalisierten Demokratieprinzips mit einer angeblichen Metaphysik. Diese rousseausche

Idee einer vollkommenen Ordnung des Staates impliziert am markantesten ein antipluralis-

tisches und „ein totalitäres Element“.3

3.1 Das Repräsentationsprinzip

Obwohl sich Arendts kritischer Blick auf das rousseausche Denken vor allem durch ÜR

zieht, findet man einige Gemeinsamkeiten des Arendtschen Denkens mit dem Rousseau-

schen.4 Diese Einschätzung wird vor allem dadurch begründet, dass Arendt wie Rousseau

eine Theorie der gut geordneten Gemeinschaft im Vorbild der antiken Polis entwickelt. Den

Hintergrund der Skepsis, die Rousseau gegen die Entwicklung der modernen Gesellschaft

hegt, bildet der Rückgriff auf die antike Unterscheidung von Privatem und Öffentlichem. 5

Rousseau bezeichnet das Private als die Gefahr für das Öffentliche. Er hält fest: „Nichts ist

gefährlicher als der Einfluß von Privatinteressen auf die öffentlichen Angelegenheiten.“6

Zwischen Privatem und Öffentlichem liegt seiner Auffassung zufolge ein antagonistischer

1 PP, S. 399.

2 ÜR, S. 97.

3 Maier, 2004, S. 72; vgl. Talmon, 1961, S. 39.

4 Cooper hält die Ähnlichkeit von Arendt und Rousseau für unwichtig. Er vertritt, dass die oberflächliche

Gemeinsamkeit von Arendt und Rousseau mit ganz anderem Inhalt gefüllt wird (Cooper, 1979, S. 171,

Anm. 74); vgl. Canovan, 1983, S. 287ff.; Herb, 2001, S. 59ff. 5 Zu Rousseaus Kritik an der kapitalistischen Klassengesellschaft siehe GV, III-15.

6 Rousseau, GV, III-4, S. 72.

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187

Gegensatz, wie er mit folgenden Worten formuliert: „Je besser der Staat verfasst ist, desto

mehr überwiegen im Herzen der Bürger die öffentlichen Angelegenheiten die privaten. Es

gibt sogar viel weniger private Angelegenheiten“. 7

Im Hinblick auf diese Unterscheidung

zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten glauben Autoren wie Miller, dass Arendt

überhaupt in der Idee der politischen Gemeinschaft dem Gedanken Rousseaus folgt.8 Aber

wenn auch Arendt wie Rousseau ohne Zweifel dem Öffentlichen den Vorrang einräumt, ist

es nicht zu übersehen, dass ihr Punkt auf der Differenzierung der verschiedenen Funktionen

und dem unterschiedlichen Wesen des öffentlichen und privaten Raums für die menschliche

Existenz liegt. Wie wir oben gesehen haben, liegt Arendts Absicht für die Unterscheidun-

gen zwischen dem Privaten und Öffentlichen darin, aufzuzeigen, dass es Dinge gibt, die der

Öffentlichkeit oder dem Privaten adäquat sind.9 Was die positive Bedeutung des Privaten

angeht, liegt Arendts Verständnis in engerem Zusammenhang mit den Römern als den

Griechen. Nach Arendt haben die Römer „niemals das Private dem Öffentlichen geopfert,

sondern verstanden, daß diese beiden Bereiche in ihrer Existenz voneinander abhängen.“10

Also bilden diese beiden Bereiche das Repräsentationsgefüge des Menschlichen. Auf diese

Frage bezogen ist der Unterschied zwischen Arendt und Rousseau ebenso groß wie der Un-

terschied zwischen Aristoteles und Plato.11

Viele Autoren finden die Gemeinsamkeit von Arendt und Rousseau unter anderem bei ih-

rer harten Ablehnung des politischen Repräsentationsprinzips. Als „eine radikale Demokra-

tin“12

zählt Arendt in der Tat die Frage der Repräsentation „zu den kritischsten und beunru-

higendsten Problemen moderner Politik“.13

Wie Rousseau erfasst Arendt scharfsinnig die

Aporien der Repräsentation, die mit dem Anspruch der modernen politischen Theorie zu-

sammenhängen: Entweder sei das Handeln des Repräsentanten ein schlichtes Surrogat für

das direkte Handeln der Bürger, dann aber stellen Repräsentanten nur „die bezahlten Agen-

ten der Wählerschaft“ dar, und das politische Handeln reduziere sich auf bloße Verwaltung;

oder aber das Handeln des Repräsentanten sei völlig autonom, aber auf diese Weise repro-

7 Rousseau, GV, III-15.

8 Vgl. Miller, 1979, S. 192.

9 Vgl. VA, S. 88; vgl. Reist, 1990, S. 61; Canivez, 1981, S. 166.

10 VA, S. 74.

11 In seinem Buch Politik erhebt Aristoteles in der Tat Einwand gegen die platonische Behauptung, die

größtmögliche Einheit sei das höchste Ziel des Staates. Plato macht nach Aristoteles die Polis zum großen

Oikos, indem er eine Einheit erstrebt, die nur im Haus, nicht aber in der Polis sinnvoll ist. Im Gegensatz

zum platonischen Staatsideal einer unzerstörbaren Einheit begreift Aristoteles den politischen Raum als

eine Notwendigkeit, die durch die Vielheit konstituiert wird: „Es ist nämlich doch offenbar, dass ein Staat,

wenn er nach dieser Richtung immer weitergeht und eine immer strengere Einheit zu werden sucht, zu-

letzt gar kein Staat mehr bleiben wird. Denn eine Vielheit seiner Natur ist der Staat“ (Aristoteles, Politik,

1261 a 16ff. und auch 1253 b 2); vgl. Herb, 2001, S. 63. 12

Benhabib, 1998, S. 54. 13

ÜR, S. 303.

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188

duziere sich die schlichte alte Trennung zwischen Regierenden und Regierten, so dass die

meisten Menschen auf die Rolle von Untertanen reduziert und ihres politischen Willens

beraubt werden.14

In Gesellschaftsvertrag lehnt Rousseau auch unerbittlich das Repräsentationsprinzip ab,

das mit dem Prinzip der Volkssouveränität unverträglich ist. Ihm zufolge könne die Volks-

souveränität nicht repräsentiert werden, und auch sei ein Volk, das repräsentiert wird, nicht

mehr frei, und es sei frei nur während der Wahl der Parlamentsmitglieder.15

Deshalb be-

hauptet Rousseau, dass nur „die unmittelbare Ausübung der Souveränität durch das Volk

selbst“16

legitim ist, aber nicht durch die Repräsentative.

Hinsichtlich der Ablehnung vom Repräsentationssystem ist bemerkenswert, dass Rousseau

das Volk als substantielle und homogene Einheit versteht. Rousseaus Gedanke von Unvert-

retbarkeit impliziert daher, so Ernst Vollrath, das „identitätsrepräsentative Paradigma“.17

Damit sind Volks- und Repräsentantenwillen miteinander identifiziert. Bei Rousseau geht

es um den repräsentativen allgemeinen Willen. So antizipiert Rousseau „die alte verhäng-

nisvolle Überzeugung des Nationalstaates“, „daß die Nation im ganzen nur von einem Wil-

len repräsentiert und in ihren Schicksalen geführt sein könne.“18

Der Gemeinwille ist für

Rousseau in der Seele jedes Einzelnen als etwas Gleiches präsent, und durch diese Reprä-

sentation sind die politischen und sozialen Unterschiede zwischen den Individuen zu besei-

tigen. Daher ist die Frage nicht in Betracht gezogen, wie sich die menschliche Verschieden-

heit und die Meinungsvielfalt bewahren und vermitteln lassen. In Rousseaus Demokratie

gibt es keine Individuen, die über die gemeinsamen Dinge frei urteilen und ihre eigene

Meinung äußern können, sondern nur Individuen, die den gegebenen Gemeinwillen wahr-

nehmen und akzeptieren müssen. In diesem Zusammenhang kritisiert Arendt das rousseau-

sche Repräsentationsverständnis eindeutig; Rousseau glaube an die „Legitimität des Reprä-

sentativsystems“ ohnehin nicht; „Aber daß Rousseau ja vor allem die union sacrèe gepre-

digt hatte, die Eliminierung aller Meinungsdifferenzen und aller Unterscheidungen inklusi-

ve des Unterschieds zwischen Volk und Regierung, konnte man theoretisch mit dieser Eini-

gung ebensogut von oben wie von unten anfangen, also den Volksgesellschaften den Ga-

14

ÜR, S. 304f. 15

„Das englische Volk wähnt frei zu sein; es täuscht sich sehr. Es ist dies nur während der Wahl der Mitg-

lieder des Parlaments. Sobald sie gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts. In den kurzen Augenblicken

seiner Freiheit verdient der Gebrauch, den es von ihr macht, daß es sie verliert.“ (Rousseau, GV, III-15). 16

Herb, 2000, S. 169. 17

Vollrath unterscheidet zwischen Identitäts- und Differenzrepräsentation (vgl. Vollrath, 2003, S. 210ff.). 18

ÜR, S. 97.

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189

raus machen, die offenbar ein wahres Treibhaus für Meinungen und Meinungsdifferenzen

darstellten.“19

Wie Rousseau charakterisiert Arendt das Repräsentationssystem der modernen Demokratie

als Ersatz für „direkte Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten“20

der Bürger, so dass

moderne Repräsentation die Individuen der Freiheit politischen Handelns beraubt.21

Aber

die Kritik von Arendt an der Repräsentationskonzeption wird mit ganz anderem Motiv er-

füllt als die rousseausche Konzeption.

Es gibt die Einschätzung, Arendt sei das Repräsentationsprinzip fremd.22

An einer viel zi-

tierten Stelle von ÜR sagt Arendt: „Der Bürger ist repräsentiert, doch repräsentiert und de-

legiert können nur Interessen und die Sorge um die allgemeine Wohlfahrt der Wählerschaft

werden, keinesfalls aber ihre Fähigkeit zu handeln oder auch ihre Meinungen.“23

Diese

Formel bezeichnet Kari Palonen als „eine Variante der Rousseauschen These, daß der Wille

nicht repräsentiert werden kann.“24

Aber diese Beurteilung ist vorschnell, weil Arendt hin-

sichtlich der politischen Urteilskraft das Repräsentationsprinzip im eigentlichen Sinne des

Begriffes25

für eine spezifisch politische Fähigkeit hält. Arendt sagt: „Politisches Denken ist

repräsentativ in dem Sinne, daß das Denken anderer immer mit präsent ist. Eine Meinung

bilde ich mir, indem ich eine bestimmte Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus be-

trachte, indem ich mir die Standpunkte der Abwesenden vergegenwärtige und sie so mit

repräsentiere.“26

Im Licht dieser Aussage gesehen lehnt Arendt keineswegs das politische Prinzip der Reprä-

sentation ab. Was Arendt an der oben erwähnten Stelle meinen wollte, ist vielmehr, dass

sich die Repräsentation ohne Institutionen, in denen der Bürger wirklich an öffentlichen

Angelegenheiten teilnehmen kann, auf das bloße Repräsentative der Interessen reduzieren

19

ÜR, S. 309f. 20

ÜR, S. 350. 21

Das moderne Repräsentativsystem hat mit der Verwandlung des Freiheitsgedankens zu tun. Zur Entste-

hung des Repräsentativsystems formuliert Benjamin Constant: „Doch da die Freiheit, die wir benötigen,

von derjenigen der Alten verschieden ist, muss sie anders beschaffen sein als diese. Je mehr Zeit und

Kraft der Mensch des Altertums für die Ausübung seiner Rechte aufbrachte, für desto freier hielt er sich.

Je mehr Zeit uns modernen Menschen die Ausübung unserer politischen Rechte für unsere Privatangele-

genheiten lassen wird, desto wertvoller wird uns die Freiheit sein. Daraus ergibt sich (…) die Notwendig-

keit des Repräsentativsystems.“ (Constant, 1946, S. 56). 22

Vor allem Claus Lefort beklagt Arendts tiefe Ablehnung gegenüber dem Begriff der Repräsentation: „Der

Begriff der Repräsentation ist ihr fremd, oder vielmehr: er widerstrebt ihr.“ (zit. nach Vollrath, 1996b, S.

150). 23

ÜR, S. 346. 24

Palonen, 2006, S. 207. 25

Nach einer Minimaldefinition ist die Bedeutung der Repräsentation „an die Stelle von etwas treten“ (Pod-

lech, 1984, S. 509); nach der Definition von Leibholz; Zum Wesen der Repräsentation gehört, „daß etwas,

was nicht real Präsentes wieder präsent, d.h. existentiell wird, etwas, was nicht gegenwärtig ist, wieder

anwesend gemacht wird.“. (Leibholz, 1966, S. 26). 26

ZVZ, S. 342.

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190

lässt. Hier beruft sich Arendt auf Thomas Jefferson: „Er (Jefferson: H. P.) erkannte die töd-

liche Gefahr, die darin lag, daß die Verfassung einerseits alle Macht dem Volke gegeben

hatte, ohne die Möglichkeit zu bestimmen, in deren Rahmen diese Volk nun auch sich als

Bürger und Bürger einer Republik betätigen und bewähren konnte. Dies konnte nur darauf

hinauslaufen, einem Volk von Privatleuten alle Macht auszuliefern, da sie ja als Bürger

kaum eine Funktion hatten.“27

Der Grund für Arendts Misstrauen gegenüber den demokratischen Organisationsprinzipien,

also dem allgemeinen Wahlrecht und Parteisystem besteht darin, dass „die Parteien mit ih-

rem Monopol der Nominierung derer, die überhaupt zur Wahl gestellt werden, nicht mehr

als Organe der Volksmacht anzusehen sind, sondern vielmehr als die sehr wirksamen

Hilfsmittel, durch welche eben diese Macht des Volkes eingeschränkt und kontrolliert

wird.“28

Wegen dieses Monopols der Kandidatennominierung verwandele sich „das Reprä-

sentativsystem in eine Art Oligarchie“.29

In diesem repräsentativen Regierungssystem gibt

es Arendts Ansicht zufolge keine Institutionen, „die eine wirkliche Beteiligung der Bürger

ermöglichen“.30

So läuft die Repräsentation in der parlamentarischen Parteiendemokratie

nur auf „Verzicht auf Macht“ und auf Verzicht auf „die Lust am Handeln“31

hinaus. Im Ge-

gensatz zum Modell der parlamentarischen Demokratie spricht Arendt über die Institution,

wo die Vielfalt der Meinungen repräsentiert und garantiert ist.32

Eine Formulierung von

Arendt in ÜR gibt einen Beweis dafür, wie sorgfältig sie über die politischen Institutionen

denkt: „Meinungen entstehen und bewähren sich in einem Prozeß allseitigen Meinungsaus-

tausches, und eine Vermittlung ihrer Verschiedenheiten und Konflikte kann daher am bes-

ten zustande kommen, wenn man sie durch das Medium einer Körperschaft leitet, deren

Glieder für diesen Zweck besonders ausgewählt sind. Nicht daß diese Meinungsrepräsen-

tanten – die Senatoren – nun selbst, als Einzelne genommen, weise oder weiser als ihre

Mitbürger wären, aber sie sind doch gewählt und in einer Institution versammelt, deren

Sinn es ist, der möglichen Weisheit in öffentlichen Angelegenheiten eine Stätte im politi-

schen Leben zu sichern; und die Institution selbst trägt den Bedingungen der Fehlbarkeit

und Fragwürdigkeit menschlicher Weisheit Rechnung.“33

Im Licht dieser Aussage macht Roviello darauf aufmerksam, dass Arendts Kritik des Rep-

räsentationsprinzips nicht eine „romantische Vision“ der Reduktion von Politik auf die di-

27

ÜR, S. 324. 28

ÜR, S. 347. 29

ÜR, S. 347. 30

ÜR, S. 148. 31

ÜR, S. 350 und 351. 32

Vgl. Schindler, 2000, S. 264-275. 33

ÜR, S. 293.

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191

rekte Demokratie darstellt.34

Im Gegensatz dazu seien die institutionellen Räume der Re-

publik als solche bereits Repräsentationsräume. Arendt geht es darum, dass diese repräsen-

tativen Räume sich vom politischen Handeln der Bürger nähren. Solcherart repräsentative

Institutionen bilden nicht ein Spiegelbild der einheitlichen Meinung des Volkes, sondern

stellen stattdessen eine gereinigte und repräsentierte Vielheit von Meinungen dar.35

Roviel-

lo konstatiert: „Das Beharren darauf, daß die Meinung nicht repräsentiert – und daß sie nur

durch das nämlich verknüpft mit dem ebenso hartnäckigen Beharren darauf, daß es notwen-

dig ist, die passenden institutionellen Räume einzurichten, worin sich die Meinungen äu-

ßern und austauschen lassen, um so ihren tatsächlichen politischen Stellenwert zu erreichen.

Diese Räume indes sind auf Anhieb solche der Repräsentation.“36

Im Gegensatz zu Rousseaus Vorstellung verankert Arendt die politische Freiheit in ange-

messenen Institutionen, die aus einem „Übereinkommen“ „zwischen Menschen, die ver-

schiedener Meinung sind“, entstehen.37

Die Sicherung der Pluralität möglicher Perspektiven

und der ihr entsprechenden Institutionen ist die wichtigste Grundlage für Arendts Verständ-

nis der Repräsentation. In diesem Punkt grenzt sich Arendts Konzeption der Repräsentation

vom rousseauschen Gedanken ab.

3.2 Volkssouveränität

Die Vorstellung, dass eine gesellschaftliche Ordnung durch den Gesellschaftsvertrag ent-

steht, ist „der modernste Grundzug“ in Rousseaus Staatstheorie.38

Für Rousseau ist der Ge-

sellschaftsvertrag „eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen

Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und

durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso

frei bleibt wie zuvor.“39

Rousseaus Frage ist, wie sich die moralisch legitime Form des Zu-

sammenschlusses herausbilden lässt, ohne die Freiheit aufzugeben.40

Rousseau beginnt sei-

34

Roviello, 1997, S. 121. 35

Arendt formuliert: „Vielheit der Interessen und Mannigfaltigkeit der Meinungen wurden allgemein für das

Kennzeichen einer freien Staatsform gehalten, und ihre öffentliche Repräsentation war das Merkmal der

Republik im Unterschied zur Demokratie, wo eine kleine Zahl von Bürgern sich zusammentut und per-

sönlich die Regierung ausübt“ (ÜR, S. 291). 36

Roviello, 1997, S. 122. 37

ÜR, S. 96. 38

Weiß, 1992, S. 1-17, hier S. 14. 39

Rousseau, GV, I-6. 40

Im Gegensatz zu Hobbes‟ Vorstellung meint Rousseau: „Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine

Eigenschaft als Mensch, auf seine Menschenrechte, sogar auf seine Pflichten verzichten. Wer auf alles

verzichtet, für den ist keine Entschädigung möglich. Ein solcher Verzicht ist unvereinbar mit der Natur

des Menschen“ (Rousseau, GV, I-4).

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192

ne berühmteste politische Schrift „Gesellschaftsvertrag“ mit der hypothetischen Feststel-

lung: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“41

Für ihn sind Ketten

nichts anderes als die Gesellschaft. Aber widersprüchlich hebt Rousseau die gesellschaftli-

che Ordnung als die Voraussetzung von Recht hervor. Eine gute Gesellschaft musste ge-

gründet werden, um die ursprüngliche Freiheit wiederherzustellen.42

Rousseaus Ausgangs-

frage ist, was „legitime Ketten“43

sind, also die legitime Art, die „die Menschen zur Freiheit

zwingt“.44

Das Grundproblem des Gesellschaftsvertrags, wie sich die Selbstbestimmung des

Menschen mit der Ordnung des Staates und seinem Zwange versöhnen lässt, ist für Rous-

seau zu lösen, indem er das Konzept der Volkssouveränität zum Grund politischer Ordnung

macht.

Rousseaus Lösung ist an das Prinzip gebunden, dass die Gesellschaftsmitglieder die Souve-

ränität gemeinschaftlich ausüben. Arendts Ansicht zufolge besteht der theoretische und phi-

losophische Beitrag Rousseaus zur Tradition politischer Philosophie darin, dass „er an-

scheinend ein höchst ingeniöses Mittel gefunden hatte, eine Vielzahl von Menschen an den

Platz zu stellen, der bisher von einer einzigen Person ausgefüllt worden war“.45

Iring Fet-

scher weist auf die eigenartige Lösung von Rousseau hin, „daß die Aufgabe der Rechte

nicht einer anderen Person (wie dem souveränen Monarchen oder den souveränen Aristo-

kraten bei Hobbes) einseitig zugute kommt, sondern der Gemeinschaft aller, von der wir

zugleich selbst ein Glied sind.“46

Daraus ergibt sich das demokratische Prinzip, „Quelle und

Ursprung aller legitimen Macht liege beim Volk“.47

Das ist das Konzept der Volkssouverä-

nität. Der Gedanke dieser Volkssouveränität scheint mit der platonischen Tradition zu bre-

chen. An die Stelle der Idee, die als den absoluten Maßstab der politischen Ordnung nur die

wenigen Wissenden erkennen können, tritt die Souveränität aller, die das Gesetz geben.

„Jedes Gesetz, das das Volk nicht selbst beschlossen hat, ist nichtig; es ist überhaupt kein

Gesetz.“48

Bei Rousseau, im Gegensatz zu Hobbes, gibt es keinen Souveränitätstransfer.

Die Souveränität entstamme nicht nur dem Volk, sondern dort müsse sie bleiben.49

41

Rousseau, GV, I-1. 42

Vgl. Fetscher, 1975, S. 103. 43

Kersting, 1994, S. 151. 44

ÜR, S. 147; vgl. Rousseau, GV, I-7, S. 21; „Das Thema des Rousseauschen Contrat social ist aber nicht

die Aufhebung der Ketten, sondern ihre Legitimierung.“ (Fetscher, 1975, S. 102f.). 45

ÜR, S. 97. 46

Fetscher, 1975, S. 107. 47

ÜR, S. 233. 48

Rousseau, GV, III-15; im Anschluss an Rousseau vertritt Kant das Prinzip der Volkssouveränität; „Was

ein Volk über sich selbst nicht beschließen kann, das kann der Gesetzgeber auch nicht über das Volk be-

schließen.“ (Kant, 1968, S. 57). 49

Rousseau, GV, II- 1.

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193

Man muss jedoch hier gleich hinzufügen, dass die Rousseausche Volkssouveränität das

platonische Staatsideal einer unzerstörbaren Ganzheit einschließt. Als Souverän sei das

Volk für Rousseau eine „Menge, die in einem Körper vereint“ ist.50

Das Wort „Volk“ ist für

Rousseau immer ein Singular, und es ist aber niemals im Begriff der Vielheit und der Un-

terschiede verstanden.51

Bei ihm stellt die Volkssouveränität hinsichtlich ihrer übergesetzli-

chen Rechtsposition die Absolutheit dar, so dass sie prinzipiell unveräußerlich und unteilbar

ist.52

Hobbes‟ Konzept von der übermächtigen Souveränität bleibt auch immanent bei

Rousseau. Da er das Souveränitätsmonopol fordert, schlägt Rousseau keinerlei Methode zur

Kontrolle der absoluten Souveränität vor. Insofern gibt es bei ihm kein politisches Mittel,

um es zu verhindern, „daß die Prozesse der Beschlussfassungen mit dem ihnen inhärenten

Majoritätsprinzip in den elektiven Despotismus der Demokratie, der Herrschaft der Majori-

tät, ausarteten.“53

Die Volkssouveränität kann nicht durch Verfassungen und Grundrechte

begrenzt werden, weil sie wie der absolute Herrscher „nicht in oder unter der Verfassung

steht, sondern über ihr“.54

Nach dieser Auffassung kann man sagen, dass Rousseau die ab-

solutistische Lehre der monarchischen Staatssouveränität „ohne Veränderung der Struk-

tur“ auf die Volkssouveränität übertragen und damit ein potentiell totalitäres Modell ge-

schaffen hat.55

Aus dem absoluten Charakter der rousseauschen Volkssouveränität lässt sich die Frage stel-

len, ob der absolute Volkswille die Freiheit in jenem Sinne stiften kann, einen dauerhaften

politischen Raum zu konstituieren, weil der kollektive Wille wie der individuelle Wille sich

jederzeit ändern kann.56

Der Wille ist nicht „rechtlich-formal“, sondern „naturalistisch“57

.

In diesem Zusammenhang verstehen die Männer der Französischen Revolution unter dem

Volkswillen, bei dem alle Macht liegt, „eine Art Naturkraft außerhalb des politischen Be-

reichs“.58

Es ist ihre Überzeugung, dass der Volkswille weder organisiert noch konstituiert

sei,59

weil, wie Rousseau die revolutionären Männer gelehrt hat, es unsinnig ist, „daß sich

50

ÜR, S. 120. 51

Vgl. ÜR, S. 119. 52

„Souveränität ist eine Eigenschaft, die absolut und unteilbar ist, an der man weder teilhaben noch graduel-

le Unterschiede feststellen kann, und die dem Souverän unabhängig von dem politischen Ganzen als sein

eigenes Recht gehört.“ (Maritain, 1970, S. 254). 53

ÜR, S. 214. 54

Kriele, 1980, S. 227; vgl. Talmon, 1961, S. 42; Tönnies, 1994, S. 57ff. 55

Becker, 2000, S. 245ff. 56

Vgl. ÜR, S. 97. 57

Brandt, 1973, S. 84. 58

ÜR, S. 235. 59

ÜR, S. 233.

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194

der Wille Ketten anlegt für die Zukunft.“60

Dem fügt Rousseau hinzu: „Wenn daher das

Volk einfach verspricht, zu gehorchen, löst es sich durch diesen Akt auf und verliert seine

Eigenschaft als Volk.“61

Auf die Ablehnung des konstitutiven Konzepts bezogen betont Wolfgang Kersting vielmehr

die Stärke der republikanisch-demokratischen Theorie von Rousseau: „Rousseau ist der

erste Vertragstheoretiker, der das kontraktualistische Argument für die Begründung der

These von der Demokratieabhängigkeit der Rechtsstaatlichkeit eingesetzt hat. Rechtsstaat-

lichkeit wird in seiner Theorie nicht durch Verfassung und Grundrechtsschutz gesichert,

sondern durch das uneingeschränkt demokratische Verfahren der politischen Willensbil-

dung.“62

Allerdings spricht Arendt von der politischen Freiheit, die nicht allein auf eine

verfassungsmäßige Garantie angewiesen ist. Aber sie spricht zugleich von der Verfassung,

„die ihrerseits von dem Nationalwillen und den wechselnden Majoritäten so wenig abhängt,

wie etwa ein fertiges Gebäude von dem Willen des Architekten oder dem seiner Bewohner

abhängig ist.“63

Bei Arendt sind Gesetz und Macht voneinander unterschieden und zugleich

abhängig voneinander.64

Die Macht des Volkes sei weder unteilbar noch unfehlbar. Daher

übe das Volk seine Macht gemäß bestimmten Regeln und im Zaun von Gesetzen aus, die

ihre positive Existenz der Macht des Volkes verdanken.65

3.3 Der Gemeinwille als die metaphysische Begründung der politischen Ordnung

In Bezug auf die Frage nach der Fundierung politischer Ordnung ist der Gemeinwille für

Rousseau der Schlüsselbegriff. Rousseausche Volkssouveränität ist nur im Zusammenhang

mit dem Gemeinwillen aufzufassen. Darüber hinaus ist der Gemeinwille der wesentliche

Gesetzgeber und das einzige Gemeinsame, was die Menschen vereinbaren kann.66

Der Ge-

meinwille spielt die Rolle des entscheidenden Bauelements für den Plan der Staatsbildung.

60

Rousseau, GV, II-1, S. 28; im Gegensatz zu diesem Verständnis des Wortes Wille spricht Hamilton von

einem „permanenten Willen“, die sich in einer Institution manifestieren sollte, „die in Stand setzt, dem,

was gerade populär ist, Widerstand zu leisten“ (ÜR, S. 397). 61

Rousseau, GV, II-1, S. 28. 62

Kersting, 2003, S. 94. 63

ÜR, S. 213. 64

Die Legitimität der Gesetze kann für Arendt darauf zurückgeführt werden, dass sie in der Verfassung

gründen. Arendt weist in ÜR darauf hin: „Der Ort der Macht wurde ins Volk verlegt, aber die Quelle aller

Gesetze sollte die Verfassung werden, ein Schriftstück und Dokument, etwas Objektives, das man zwar so

oder anders interpretieren und je nach Umständen abändern und erweitern konnte“ (ÜR, S. 204); vgl.

Vollrath, 1995, S. 13ff.; Benhabib, 1993b, S. 104. 65

Vgl. ÜR, S. 215 und 236. 66

Rousseau, GV, III-15, S. 103; „Im strengen Sinne kann also von Volkssouveränität bei Rousseau eigent-

lich nicht die Rede sein, eher von einer Souveränität der volonté générale.“ (Röttgers/Linvers, 2001, S.

1110).

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195

Nach diesem Bauplan versucht Rousseau, die „Konstruktion einer vielköpfigen Einheit“ zu

bauen.67

Wenn Rousseaus Staatsordnung auf dem Gemeinwillen basiert, verliert beim Ver-

trag das Konzept der freien Einwilligung der Individuen als unerlässliche Vorbedingung für

jeden Rechtsstaat erheblich an Bedeutung. Als der modernste Grundzug, die politische

Konstitution durch aktive Beteiligung aller Menschen an der politischen Vereinbarung he-

rauszubilden, endet Rousseaus Vertragsgedanke schließlich in der Passivität der Bürger.68

Diese Konsequenz zeigt wieder „die Stärke der antipolitischen Tradition in der Philoso-

phie“69

seit Plato.

Der Gemeinwille ist die transzendente Instanz im Unterschied zum Gesamtwillen, der

„nichts anderes als eine Summe von Sonderwillen“70

ist. Die Allgemeinheit bedeutet für

Rousseau keine Mehrheit, die aus Einzelinteressen aufsummiert wird. Im Gegensatz zur

liberalen Sicht stellt sich die Verfolgung des eigenen Interesses des Einzelnen für Rousseau

nicht als eine politische Tugend dar, sondern vielmehr als Gefährdung des Gemeinwohls.

Zur Überwindung dieser gemeinwohlschädigenden Einzelinteressen bedürfte es der tugend-

haften Form des Gemeinwesens.71

Dabei handelt es sich um den Gemeinwillen.

Der Gemeinwille ist dadurch gekennzeichnet, dass er nicht öffentlich diskutierbar ist. Lange

öffentliche Diskussion gefährdet die Einheit des Volkes. Da das Volk nur einen Willen zu

seiner Einheit haben muss, sind die vielfältigen Ansprüche von Sonderwillen und Privat-

interessen für Rousseau ein Signal der politischen Verderbtheit: „lange Debatte jedoch,

Meinungsverschiedenheiten, Unruhe zeigen das Emporkommen der Sonderinteressen und

den Niedergang des Staates an.“72

In der Tat liegt das politische Ideal von Rousseau „jen-

seits von streitbarer Demokratie und idealer Kommunikationsgemeinschaft. Im Gegenteil

signalisiert öffentlicher Diskurs bereits die Krisenstimmung der Republik. Wo öffentlich

diskutiert und gestritten wird, ist das politisch Richtige schon fragwürdig, die selbstläufige

Artikulation des Volksvotums im Sinne des Gemeinwillens bedroht.“73

Dieses rousseausche

lautlose und absolut sprachlose Staatsideal steht im Gegensatz zur Polis, die „die schwatz-

67

ÜR, S. 97. 68

Vgl. ÜR, S. 96; obwohl Kant dem Rousseauschen Volkssouveränitätsprinzip folgt, betont er im Gegensatz

zu Rousseau das Prinzip der Gesetzgebung nur unter Voraussetzung der „Existenz eines öffentlichen

Raums, wenn nicht für das Handeln, so doch zumindest für die Meinung“ (DU, S. 69). 69

ZVZ, S. 216. 70

Rousseau, GV, II- 3. 71

ÜR, S. 99. 72

Rousseau, GV, IV – 2. 73

Herb, 1999, S. 113; Talmon betont diese Qualität des Gemeinwillens. Ihm zufolge ist der Gemeinwille

nicht als Wechselwirkung von Meinungen aufgefasst, „die alle gleichermaßen Anspruch auf Gehör ha-

ben“ (Talmon, 1961, S. 39). Schmidt hingegen vertritt, dass Rousseau hinsichtlich des Gemeinwillens of-

fenbar einen Vorgang der Diskussion und der freien Meinungsäußerung vor Augen hat. Diese Behauptung

wäre durch die von Schmidt zitierte Aussage von Rousseau begründbar, „daß es im Staat keine Teilge-

sellschaften gibt und daß jeder Bürger nur seine eigene Meinung vertritt.“ (Schmidt, 2000, S. 102).

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196

hafteste aller Staatsformen“74

war. Polis war „das Treibhaus der Redner“75

. Der rousseau-

schen republikanischen Konzeption fehlt das für die griechische Polis charakteristische

agonale Element ganz, d.h. die Umstrittenheit, die einen Plural von Streitenden voraus-

setzt.76

In Rousseaus Republik gibt es keine Tugend der Polisbürger, die durch das Mitei-

nanderreden und – handeln in der gemeinsamen Welt in Erscheinung tritt.77

Dem Gemein-

willen kommt dagegen „das öffentliche Schweigen“78

zu, das jede Debatte, Differenzen und

Streit ausschließt. Weil der Gemeinwille „immer auf dem rechten Weg“79

ist, lässt sich das

politische Übel, das aus der Vielfalt der Meinungen entsteht, für Rousseau erst durch den

Gemeinwillen überwinden. An die Stelle der kommunikativen Meinungsbildung tritt der

Gemeinwille.80

Versteht man den Gemeinwillen als den absoluten Maßstab, so wird die Frage gestellt, wie

sich der Gemeinwille für den Einzelnen erkennen und gewinnen lässt. Und die Frage: Mit

Hilfe welcher Mechanismen kann man wahrnehmen, was der Gemeinwille tatsächlich ist?

Was ist das Kriterium, an dem zu ermessen wäre, ob dieser Wille richtig oder falsch ist?

Also geht es um die erkenntnistheoretische Frage des Gemeinwillens. Rousseau sagt, das

Gemeinwohl sei immer offenbar und evident, und „man braucht nur gesunden Menschen-

verstand, um es wahrzunehmen.“81

Für Rousseau ist jedes Individuum der Träger des Ge-

meinwillens in seiner Vereinzelung. Die Wahrnehmung des Gemeinwillens gelingt jedem

Einzelnen durch seinen inneren Kampf gegen sich selbst, um sein eigenes Privatinteresse zu

beseitigen. Diese Vorstellung geht von „Rousseaus Annahme vom Allgemeinen in jedem

Besonderen“82

aus. Anders gesagt wohnt das Allgemeine dem eigenen Selbst inne. In sei-

nem einzelnen Selbstbewusstsein kann der Bürger Rousseaus den allgemeinen Willen ganz

74

VA, S. 36. 75

Magass, 1967, S. 13. 76

Die Existenz der Meinungen bestimmte das Wesen der Polis. Die Frage von Burckhardt, „warum in der

Polis trotz ihrer tyrannischen Züge und ihrer Rücksichtslosigkeit gegen Privates sich so ausserordentliche

und ausserordentlich viele Individualitäten bilden konnten“, beantwortet Arendt: „Die griechische Freiheit

war der Polis-Zwang zur doxa, das, was einem scheint, in der Partikularität des Aspekts artikuliert zu sa-

gen und zur Diskussion zu stellen. (…). Diese doxa, dieser partikulare Aspekt, der sich mir bietet in der

Partikularität, die ich bin, verglichen und zusammen mit allen Anderen, kann sich nur in der Mitteilung,

dem Verstandenwerden und der Auseinandersetzung mit Anderen entwickeln.“ (DTB, S. 402). 77

Vgl. Brandt, 1973, S. 93. 78

Magass, 1967. 79

Rousseau, GV, II-3. 80

Im kritischen Blick auf das republikanische Modell Rousseaus bezeichnet Charles Taylor Arendts Theo-

riekonzeption als einen liberalen Republikanismus, der dem Wesen einer lebendigen demokratischen Ge-

sellschaft am ehesten angemessen ist, weil Arendts Modell Meinungsunterschied und Streit den Platz ein-

räumt, der ihnen in einer freien Gesellschaft gebührt, obwohl dieses Modell davon ausgeht, „daß es für

die Mitglieder der Gesellschaft einen zentralen, einheitstiftenden Identifikationspol gibt“ (Taylor,

1992/1993, S. 12). 81

Rousseau, GV, IV- 1, S. 112. 82

Williams, 1972, S. 53.

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197

zu seinem eigenen machen. Daraus folgt, dass sich der Gemeinwille nur „in dem lautlosen

Dialog mit sich selbst“ manifestiert.83

An die Stelle des kommunikativen Weltbezugs tritt

das innerliche Selbstverhör wie Descartes‟ Selbstzweifel. „In der volonté générale wird in

der Tat jeder sein eigener Henker.“84

Der gesunde Menschenverstand stellt daher für Rous-

seau ein inneres Vermögen ohne allen Weltbezug dar. Durch ein Spiel dieses Verstandes

mit sich selbst lässt sich der Gemeinwille als eine Art „zwingende Wahrheit“ durchsetzen.85

Der Gemeinwille lässt sich durch die Übereinstimmung mit sich selbst erkennen, nämlich

die sittliche „Selbst-Beherrschung“86

über den eigenen Sonderwillen, der sündhaft und ver-

brecherisch ist. Die ständige Rebellion gegen sich selbst bildet die Einheit der Gesell-

schaft.87

Diese Verknüpfung der inneren Rebellion mit der Verbundenheit zur Gesellschaft

bezeichnet Arendt als die mörderischste Lösung des Grundproblems aller politischen Philo-

sophie des Abendlandes, wie man aus einer Pluralität eine Singularität machen könne. „Was

diese Lösung so mörderisch macht, ist, daß der Souverän nicht mehr eine oder eine Vielheit

von mich beherrschenden Personen ist, sondern gleichsam in mir sitzt – als der citoyen, der

dem homme particulier entgegengesetzt wird.“88

Um der politischen Gemeinschaft anzugehören, muss der Bürger immer in der Lage sein,

„in einer ständigen Rebellion gegen sich selbst und seine eigenen Interessen zu leben“.89

Dadurch verlagert sich das politische Handeln ins Innere jedes Einzelnen. Als das konstitu-

tive Prinzip des Politischen wird das politische Miteinanderreden und -handeln durch den

inneren Kampf des Willens gegen den Gegenwillen90

ersetzt, der sich auf der mentalen

Ebene des Geistes abspielt. In dieser psychologischen Überlegung spielen der politische

Bereich und die öffentliche Organisation keine Rolle als das Medium der freiheitlichen

83

ÜR, S. 102. 84

DTB, S. 242; vgl. ÜR, S. 124. 85

VA, S. 360; „wer immer dem Gemeinwillen den Gehorsam verweigert, wird von der Gemeinschaft dazu

gezwungen.“ (Rousseau, GV, I-7). 86

VA, S. 303; in Emile sagt Rousseau: „Wer ist also der tugendhafte Mensch? Es ist derjenige, der seine

Neigungen zu überwinden weiß. Denn alsdann folgt er seiner Vernunft, seinem Gewissen; er tut seine

Pflicht, er hält sich in der Ordnung, und nichts kann ihn davon abbringen. Bisher warst du nur zum Schei-

ne frei; du hattest bloß die unsichere Freiheit eines Sklaven, dem man nichts befohlen hat. Jetzt sei in der

Tat frei, lerne, dein eigener Herr zu werden, befiehl deinem Herzen (…) und du wirst tugendhaft sein.“

(Rousseau, Emil, 1996, S. 591; zit. nach Sturma, 2001, S. 113). 87

Die innere Rebellion wird nun zum politischen Prinzip; „Die Einheit der Nation ist dadurch garantiert,

daß jeder Bürger den Landesfeind in seiner eigenen Brust trägt und mit ihm auch das Allgemeininteresse,

das nur der gemeinsame Feind wecken kann. Denn der alle gemeinsame Feind ist das Einzelinteresse und

der Eigenwille eines jeden. Nur wenn jeder Einzelne sich selbst in seiner Vereinzelung den Krieg erklärt,

kann er in die Lage kommen, in sich selbst seinen eigenen Feind zu erzeugen, und dieser Feind jedes Ein-

zelnen als Einzelnen ist der Allgemeinwille; wenn ihm dies gelingt, ist er ein wirklicher und verlässlicher

Bürger des Nationalstaates geworden.“ (ÜR, S. 99). 88

DTB, S. 242. 89

ÜR, S. 99. 90

„Alles Wollen wächst aus dieser ursprünglichen Konfliktsituation des Wollenden mit sich selbst.“ (ZVZ,

S. 213).

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Meinungsbildung. Die rousseausche Öffentlichkeit ist der Ort der Sieger, die beim Kampf

gegen sich selbst ihre eigenen Interessen überwältigen. In der Öffentlichkeit dieser Sieger

wollen alle Einzelnen dasselbe und müssen daher wesentlich gleich sein. Dadurch wird

möglich, „daß das Selbst, das über sich selbst entscheidet, auf seine Individualität verzich-

tet.“91

Klaus Held formuliert im Folgenden: „In der Herrschaft des Citoyen in meiner Brust

über den inneren Bourgeois findet nur ein Monolog der Einsicht statt, dem die stumme Füg-

samkeit oder Aufsässigkeit der Ansicht korrespondiert. Tritt diese innere Herrschaft im Zu-

sammenleben hervor, so ändert sich daran im Prinzip nichts. Nichts zufällig denkt sich

Rousseau die Beschlüsse seiner Volksversammlung als ein fast schweigendes Einverständ-

nis.“92

Da der Vereinheitlichung des politischen Gemeinwesens „eher ein Konsensus der Herzen

als der Argumente dient“93

, verlangt Rousseau die Durchsichtigkeit oder die Unverborgen-

heit des Herzens, so dass das Gesetz „weder auf Marmor noch auf Erz, sondern in die Her-

zen der Bürger“ geschrieben wird.94

Nur mit dem transparenten Herzen könnte man zum

tugendhaften Bürger, der sich selbst mit dem Gemeinwillen identifizieren kann, werden,

weil man nur in seinem Herzen den Gemeinwillen als die reine Stimme der Wahrheit ver-

nimmt. In diesem Punkt ist der rousseausche Gemeinwille mit dem platonischen Begriff der

Idee eins.95

Daraus wird die Gefahr des Gemeinwillenskonzeptes sichtbar: Wer entscheidet

darüber, was der wahre allgemeine Wille ist? Wird diese Entscheidung im konkreten Zu-

stand von der starken öffentlichen Meinung oder von der stärksten Partei getroffen? Daraus

konnte Robespierre, der „die Offenbarung Rousseauscher Lehren in Fleisch und Blut“96

erfuhr, sagen, unser Wille sei der Gemeinwille. „Rousseaus Demokratie“, wie Habermas

notiert, „postuliert am Ende die manipulative Gewaltausübung.“97

Von diesem Merkmal des

Gemeinwillens spricht Arendt: „Das Einzige, was die auf der volonté générale gegründeten

Nationalstaaten immer wieder vor dem unmittelbaren Zusammenbruch rettet, ist die phan-

tastische Leichtigkeit, mit der jeder, der Lust auf die Last und Glorie der Diktatur hat, die-

sen sogenannten Nationalwillen manipulieren und sich unterwerfen kann.“98

91

Brandt, 1973, S. 97. 92

Held, 1986, S. 28. 93

Habermas, 1969, S. 111. 94

Rousseau, GV, II-12; Plato spricht auch von der „Verfassung in uns selbst“ (Neschke-Hentschke, 1988, S.

603); vgl. Plato, Pol. 590 e 4. 95

Vgl. Talmon, 1961, S. 37. 96

ÜR, S. 154. 97

Habermas, 1969, S. 112. 98

ÜR, S. 212.

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199

Der Gemeinwille bezieht sich auf die Legitimitätsfrage der Herrschaft. Rousseaus Ansatz

zur Lösung dieser Frage liegt zuerst im Prinzip der Volkssouveränität. Das Volk ist souve-

rän, aber da es nicht erkennen kann, was für es selbst am Besten ist, braucht es einen ver-

nünftigen Führer, der den Weg ins Gemeinwohl kennt.99

Für die Gesetzgebung kommt das

Volk zum Ausdruck als „eine Menge, die beseelt ist vom dunklen Drang zum Guten, aber

da blind und ohne Verstand, der Führung und Erleuchtung bedarf.“100

Es ist kein Zufall,

dass Rousseau im Kapitel vom Gesetzgeber auf Platon verweist, um dieses Problem zu lö-

sen.101

In enger Anlehnung an Plato findet Rousseau die Quelle der gesetzgebenden Autori-

tät nicht im Volk, sondern in der letzten und göttlichen Instanz, also im „Übermenschen,

der in der Tradition des Philosophenkönigs Platons steht.“102

Er betont, dass die Formulie-

rung und Ausarbeitung der Gesetze Sachverständigen überlassen werden müssen. „Um die

für die Nationen besten Gesellschaftsregeln ausfindig zu machen, bedürfte es einer höheren

Vernunft (…). Es bedürfe der Götter, um den Menschen Gesetze zu geben.“103

Dabei taucht

die platonische Forderung nach der transzendenten Wahrheit als der Quelle legitimer Herr-

schaft wiederum auf. Weil die Vielen nicht fähig sind, ihr wahres Interesse zu erkennen,

soll derjenige nach Plato herrschen, „der imstande ist, auf Grund seiner eigenen uneigen-

nützigen Weisheit den vernünftigen Konsens aller zu antizipieren.“104

In der platonischen

Tradition unterscheidet Rousseau zwischen Mengen und Wenigen, also zwischen Bürger

und Herrscher: Der Herrscher formiert und konstituiert den Staat, wie der Ingenieur die

Maschine erfindet. Er ruft wiederholt Platos Philosoph als Experte. Für ihn ist die Figur des

Gesetzgebers ein erhabener Mann mit der höheren Vernunft, der den wahren wie allgemei-

nen Willen weiß.105

Die gesetzgebende Vernunft, die nicht jedem Menschen gegeben ist,

muss das fast göttliche Werk vollbringen, dem Volk die Gesetze zu geben und das Ge-

99

„Von selbst will das Volk immer das Gute, aber es sieht es nicht immer von selbst. Der Gemeinwille ist

immer richtig, aber das Urteil, das ihn leitet, ist nicht immer aufgeklärt. Man muß ihm die Gegenstände

zeigen, wie sie sind, manchmal so, wie sie ihm erscheinen müssen, ihm den richtigen Weg zeigen, den er

sucht, ihn schützen vor der Verführung durch die Sonderwillen, seinen Augen die Arte näher bringen und

die Zeiten verkürzen, die Anziehungskraft augenblicklicher und spürbarer Vorteile ausgleichen mit der

Gefahr entfernter und verborgener Übel. Einzelne sehen das Gute und weisen es zurück: die Öffentlich-

keit will das Gute und sieht es nicht (…) Die einen müssen gezwungen werden, ihren Willen der Vernunft

anzupassen, die andere muß erkennen lernen, was sie will.“ (Rousseau, GV, II-6, S. 42). 100

Brandt, 1973, S. 116. 101

Rousseau, GV, II-7. 102

Brandt, 1973, S. 22; vgl. Imboden, 1963, S. 13. 103

Rousseau, GV, II-7 und auch IV-8; vgl. ÜR, S. 238. 104

Spaemann, 1977, S. 110f. 105

Rousseau, GV, II-7.

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200

meinwesen zu konstituieren. Mit dieser Konzeption der Gesetzgebung steht Rousseau im

Widerspruch zu seinem Begriff der Volkssouveränität.106

Indem Rousseau den einmütigen Willen zum Prinzip der politischen Ordnung erhebt,107

macht er die Pluralität und das politische Handeln überflüssig: „Der Wille kann in der Tat

nur funktionieren, wenn er ungebrochen einer und in sich unteilbar ist; ein geteilter Wille ist

unvorstellbar; es gibt kein mögliches Übereinkommen zwischen Menschen, die Verschie-

denes wollen, wie es ein Übereinkommen gibt zwischen Menschen, die verschiedener Mei-

nung sind.“108

„Die Politik des Willens“109

endet in der Abschaffung der Pluralität, weil

sich ein sogenannter einheitlicher Wille im Staat nur durch die Überwältigung von anderen

Willen durchzusetzen vermag. Im Prinzip des Gemeinwillens Rousseaus ist die Forderung

nach der Eliminierung aller Meinungsdifferenzen und aller Unterschiede enthalten. Offen-

sichtlich steht die rousseausche Intension noch in der Nachfolge der ältesten Tradition poli-

tischer Philosophie, die Einseitigkeit und Befangenheit der Denkart der Meinung im Blick

auf die Überlegenheit des allgemeinen wahrhaften Willens zu überwinden.

106

Imboden bemerkt diesen Widerspruch. Nach ihm hatte Rousseau zwei Modelle als die begründbaren

Herrschaftssysteme im Auge: „die vollkommene Demokratie und die Unterwerfung unter den gottähnli-

chen absoluten Herrscher“ (Imboden, 1963, S. 18). Aber diese vollkommene Demokratie hält Rousseau in

Gesellschaftsvertrag für unmöglich: „Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, würde es sich demokratisch

regieren. Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht.“ (Rousseau, GV, III- 4). Konsequen-

terweise wendet sich Rousseau der Herrschaft der göttlichen Vernunft zu. 107

Vgl. Hegel, 1995, § 258, S. 209. 108

ÜR, S. 96; in ähnlichem Sinne bemerkt Habermas zum Problem des Willens: „Die positive Beziehung des

Willens auf dem Willen anderer ist möglicher Kommunikation entzogen und durch eine transzendental

notwendige Übereinstimmung isolierter Zwecktätigkeiten unter abstrakt allgemeinen Gesetzen substi-

tuiert.“(Habermas, 1974, S. 21). 109

Howard, 1995, S. 67ff.

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201

4. Karl Marx und die Tradition politischer Philosophie

4.1 Marx und das Ende der Tradition

Durch die Auseinandersetzung mit dem Marxschen Denken führt Arendt die Kritik an der

gesamten westlichen Tradition der politischen Philosophie fort. Sie spricht „über Marx in

der Tradition der politischen Philosophie“1 und geht damit den metaphysischen Restbestän-

den im marxschen Denken nach, weil sie daran glaubt, dass Marx immer noch in Grundbe-

griffen der überlieferten politischen Philosophie bleibt, indem er nicht radikal genug mit der

Tradition der politischen Philosophie bricht. In einem Brief an Kurt Blumenfeld schreibt

Arendt: „(…) ich hatte vor, eine kleine Studie über Marx zu schreiben, aber sobald man

Marx anfasst, merkt man, daß man gar nicht machen kann, ohne sich um die ganze Traditi-

on der politischen Philosophie zu kümmern.“2 Arendt ist fest davon überzeugt, wie Cano-

van feststellt, „daß die Wurzeln des Totalitarismus nicht nur im Marxismus liegen, sondern

in der ganzen Tradition des politischen Denkens seit Plato.“3

In Bezug auf die Tradition der politischen Philosophie hält Arendt zunächst die marxsche

Theorie für revolutionär.4 Im kurzen Aufsatz Tradition und die Neuzeit bestimmt sie die

Position der Marxschen Theorie für die Geschichte der okzidentalen Philosophie des Politi-

schen als deren „definitives Ende“5. Das Ende der Tradition ist für die Arendtsche Ausei-

nandersetzung mit der politischen Philosophie von großer Bedeutung, denn am Ende wie

am Anfang wird die Tradition „rein und unmoduliert“ ins Licht gebracht.6

Das Ende der Tradition ist eingetreten, wo Marx die von Plato und Aristoteles gebildete

Hierarchie von Theorie und Praxis aufzuheben versuchte, indem er die Philosophie in der

Praxis verwirklichen will. Arendt hält fest: „Das Ende dieser Tradition politischer Philoso-

1 IWV, S. 149.

2 Arendt, Brief an Blumenfeld, 16. November, 1953; hier zitiert aus Young-Bruehl, 1986, S. 388.

3 Canovan, 1997, S. 86f.; vgl. auch Schäfer, 1993, S. 32; Arendt hat das Buch, das sie „Totalitäre Elemente

des Marxismus“ nannte, als Ergänzung zu Elemente und Ursprünge der totaleren Herrschaft geplant. In

der Tat war die projektierte Arbeit zu den totalitären Elementen im Marxismus eine Reaktion auf die Kri-

tik an der ersten Ausgabe des Totalitarismusbuches, die auf die mangelnde Auseinandersetzung mit dem

Stalinismus abhob. Aber ihre Argumente über Marx wurden offenbar in Vita activa und in die Aufsatz-

sammlung Zwischen Vergangenheit und Zukunft aufgenommen. Dazu siehe Young-Bruehl, 1986, S.

385f.; Ludz, 1993, S. 145. 4 Vgl. BAJ, S. 196; in der Tat fängt Arendt die Marx-Interpretation um einer „Ehrenrettung Marx‟“ willen

an (S. 196); „Ich will ihn nicht retten als Wissenschaftler (…) und sicher nicht als Philosophen, wohl aber

als Rebellen und als Revolutionär“ (S. 203f.). 5 ZVZ, S. 23; „Marx, der der letzte politische Philosoph des Westens ist und der noch in der Tradition steht,

die mit Plato begann, versuchte schließlich, diese Tradition, ihre grundlegenden Kategorien und Hierar-

chie der Werte, auf den Kopf zu stellen. Mit dieser Umkehrung war die Tradition in der Tat an ihr Ende

gelangt.“ (PP, S. 399). 6 ZVZ, S. 24.

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phie konnte kaum anders kommen als dadurch, daß ein Philosoph der Philosophie den

Rücken kehrte, um sie in der Politik zu verwirklichen.“7 Arendts Auffassung zufolge glaubt

Marx, dass sich das Reich der Idee nur in der gemeinsamen Welt menschlicher Angelegen-

heiten verwirklichen lässt, während sich der Philosoph in der abendländischen Tradition der

Philosophie um der Verwirklichung der Idee, also des Philosophierens willen, von den

menschlichen Angelegenheiten abwandte. Das ist der Hauptpunkt der Marxschen Rebellion

gegen die traditionelle Philosophie.8

Die Verweltlichung der Philosophie, oder um mit Hegels Worten zu sprechen, die „Versöh-

nung des Geistes mit der Wirklichkeit“9 tut sich Marx zufolge durch die Praxis auf. Die

These der Verwirklichung der Philosophie durch die Praxis ist der Kernschlüssel zum Ver-

ständnis des Marxschen Denkens. Die Verwirklichung der Philosophie bedeutet, „die Idee

aus der Sphäre des reinen Denkens in die der Praxis zu überführen, den Zwiespalt zwischen

Idee und Wirklichkeit nicht bloß in der philosophischen Erkenntnis sondern in der sinnli-

chen Praxis aufzuheben.“10

Daher stellt sich das Marxsche Denken, wie Helmut Fleischer

mit Recht sagt, als eine „Philosophie der emanzipatorischen Praxis“ dar.11

Damit verbunden

bezeichnet Arendt Marx als Antipode der traditionellen Philosophie: „(Marx) war sich klar

darüber, daß seine Rebellion gegen die Tradition und gegen Hegel nicht auf seinem Mate-

rialismus beruht, sondern einzig auf seiner Weigerung, den Unterschied zwischen men-

schlichem und tierischem Leben in die ratio zu setzen, beziehungsweise Hegel darin zu fol-

gen, daß nur der Geist das wahre Wesen des Menschen und die wahre Form des Geistes

(…) der denkende Geist ist. Worum es Marx ging, war nicht nur, daß der Mensch unmittel-

bar Naturwesen, sondern daß er ein tätiges Naturwesen ist.“12

Ungeachtet seiner bewussten Rebellion gegen die philosophische Tradition, nämlich seines

Sprungs aus der Theorie in die Praxis, hat Marx Arendts Ansicht zufolge den überlieferten

Rahmen der politischen Kategorien nicht verlassen. Vor allem sei das marxistische Ideal,

der politische Staat solle verschwinden und absterben13

, der definitive Endzustand der har-

ten Feindlichkeit gegen Politik, die sich beständig in der Geschichte westlichen Denkens

des Politischen zeigt. Weil Marx den Staat als ein bloßes Werkzeug der Diktatur der herr-

7 ZVZ, S. 23f.

8 Vgl. Marx, MEW, Bd. 1, S. 384; diese Rebellion von Marx, die Kluft zwischen Idee und Wirklichkeit zu

schließen, erscheint bereits in seiner Dissertation. An dieser Stelle schreibt er, „daß das Philosophisch –

Werden der Welt zugleich ein Weltlich – Werden der Philosophie“ werden muss (Marx, 1971, S. 17); da-

zu siehe Held, 1976, S. 23ff. 9 ZVZ, S. 98 und auch VA, S. 383.

10 Landshut, 1971, S. XX.

11 Fleischer, 1970, S. 183.

12 ZVZ, S. 50.

13 Marx, MEW, Bd. 1, S. 232; vgl. auch VA, S. 57.

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schenden Klasse auffasst, würde der Staat in der klassenlosen Gesellschaft überflüssig wer-

den. Die Politik ist für Marx eine Art von Herrschaftsinstrument, während die gesellschaft-

liche Verwaltung die Utopie vom politik- und staatsfreien Zusammenleben ist. Das Abster-

ben des Staates bedeutet für Marx das Ende des Privilegs des Politischen vor dem Gesell-

schaftlichen. Mit diesem Ende reduziert sich die Politik auf bloße „Verwaltung von Sa-

chen“. 14

Daraus erklärt sich der Grund dafür, warum es bei Marx keine politische Theorie

gibt.15

Arendt hält fest: „Es liegt nahe, das Versagen der revolutionären Tradition angesichts

der einzigen neuen Staatsform, die aus der Revolution selbst geboren ist, mit Marx‟ vor-

herrschendem Interesse an der sozialen Frage und seinem kompletten Desinteresse an der

Staatsfrage zu erklären.“16

Trotzdem beschäftigt sich Marx auch mit dem Problem der Ord-

nung des menschlichen Zusammenlebens, das die Schlüsselfrage der politischen Philoso-

phie ist. An die Stelle des abgestorbenen Staates tritt die homogene, klassenlose Gesell-

schaft als Gattungswesen, wo die absolute Freiheit bei Marx verankert ist. Marx ist schlüs-

sig darüber, wie Arendt feststellt, „daß eine Vergesellschaftung des Menschen automatisch

zu einer Harmonisierung der Interessen führen würde“.17

Den Hintergrund der Betrach-

tungsweise, „daß ein vollständiger Sieg der Gesellschaft schließlich in das ‚Reich der Frei-

heit‟ führen würde“18

, bildet das älteste Selbstverständnis, Freiheit sei außerhalb der Politik.

Um der philosophisch-theoretischen Grundlage der Anti-Pluralität für das Marxsche Den-

ken nachzugehen, konzentriert sich Arendt auf seinen Arbeitsbegriff und dessen Verhältnis

zu seinem Geschichtsverständnis. Dabei handelt es sich um die Reduktion der verschiede-

nen Tätigkeitsweisen auf die Arbeit einerseits und um die Verwechslung und Vermischung

der Politik mit Geschichte andererseits.

4.2 Der Doppelcharakter des marxschen Arbeitsbegriffs

Die Arbeit ist ein Schlüsselbegriff des Marxschen Denkens. In der Tat kann man sagen,

dass der Ansatz von Arendts Handlungstheorie in einer intensiven Auseinandersetzung mit

14

Engels, MEW, Bd. 20, S. 262: „An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sa-

chen und die Leitung von Produktionsprozessen.“ 15

Vgl. Iorio, 2003, S. 307. 16

ÜR, S. 332; für die Blindheit der Staatsfrage unterscheidet sich Marx‟ Denken Arendts Ansicht zufolge

von der Vorstellung der Bourgeoisie nicht. Beide erforderten die Identität von Politik, Wirtschaft und Ge-

sellschaft. Darauf weist Arendt zu Recht hin: „Immerhin darf bemerkt werden, daß die eigentümliche und

oft gerügte Blindheit Marx‟ in der Staatsfrage aufs engste damit zusammenhängt, daß er alles vom Stand-

punkt der Bourgeoisie aus, wenn auch oft mit umgekehrten Vorzeichen, betrachtete. Sein Staatsbegriff je-

denfalls ist mit dem der Bourgeoisie nahezu identisch; er sieht im Staate genau das, was die Bourgeoisie

wollte, daß er sei.“ (EU, S. 316, Anm. 33; vgl. EU, S. 719). 17

VA, S. 56. 18

VA, S. 57.

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204

Marx‟ Arbeitsbegriff liegt. Ferner liegt die Kritik am Marxschen Arbeitskonzept in der un-

trennbaren Verknüpfung mit dem Kontext des Arendtschen Gesamtwerkes.19

Auch wenn die Neuzeit mit der Verherrlichung der Arbeit begann, war Marx der einzige,

der wirklich an der Arbeit als solcher interessiert war und die Tätigkeit der Arbeit zum Ge-

genstand der Philosophie machte.20

In seiner Rebellion gegen die Tradition der abendländi-

schen Philosophie definiert Marx: die Arbeit schaffe den Menschen selbst. Die Arbeit ist für

Marx nicht nur die Quelle aller Produktivität und Werte, sondern auch der Ausdruck der

Menschlichkeit des Menschen. Dass der Mensch sein eigenes Sein und Wesen durch die

Arbeit produziert, ist der Kerngehalt der Marxschen Anthropologie.21

Marx formuliert sein

Verständnis der Arbeit ausdrücklich in der Deutschen Ideologie: „Sie selbst fangen an, sich

von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein

Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Le-

bensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr Leben selbst (…). Was sie sind, fällt

also zusammen mit ihrer Produktion“.22

Hinsichtlich der Verherrlichung der Arbeit ist die Unterscheidung der verschiedenen Tätig-

keitsformen in der marxschen Theorie nicht vorhanden, wie die klassische Philosophie un-

ter dem absoluten Primat der Kontemplation alle verschiedenen Tätigkeitsweisen des Men-

schen unterschiedslos nur als eine Tätigkeit angesehen hat, den Bedürfnissen eines körperli-

chen Lebewesens Befriedigung zu verschaffen. Bei der Glorifizierung der Arbeit reduziert

Marx alle menschlichen Tätigkeitsweisen auf den Modus der Arbeit. Wenn es Marx um die

Praxis geht, verweist sie auf den Begriff der Arbeit.23

Marx` Arbeitskonzept ist durch einen Doppelcharakter gekennzeichnet.24

Marx begreift die

Arbeit zuerst im Sinne des sinnlichen Umgangs mit der Natur. Hier geht es um den biologi-

19

Vgl. Schindler, 1995, S. 126. 20

Vgl. VA, S. 119. 21

Hinsichtlich der Frage, die zu ersten Themen der abendländischen Philosophie gehört, also die Frage, was

es denn eigentlich ist, das den Menschen zum Menschen macht, steht die Marxsche Bestimmung des

Menschenbildes als ein arbeitendes Wesen im Gegensatz zur aristotelischen Definition, nach der sich der

Mensch durch die Fähigkeit der Sprache vom Tier unterscheidet. Im Hinblick auf die Sprachlosigkeit der

Arbeit berücksichtigt diese Anthropologie niemals das Menschensein in der kommunikativen Pluralität

(vgl. ZVZ, S. 30). 22

Marx, MEW, Bd. 3, S. 21. 23

Klaus Held stellt mit Recht fest: „Das Leben, zu dem die Philosophie zurückkehrt, heißt daher bei Marx

Praxis. Praxis bedeutet ursprünglich im Griechischen Handeln und ist von anderen Arten menschlichen

Tätigseins, z. B. der lebenserhaltenden Arbeit, zu unterscheiden. Bei Marx ist Praxis ein umfassender Be-

griff geworden, der alle Formen menschlichen Tätigseins umfasst. Das heißt aber nicht, daß der Begriff

bei Marx nur als Sammeltitel fungierte. Unter den verschiedenen Tätigkeiten, die er bezeichnet, ist näm-

lich eine Tätigkeit die maßgebende, von der her alle anderen Tätigkeiten interpretiert werden. Diese

grundlegende Tätigkeit bezeichnet der Begriff der Arbeit“ (Held, 1976, S. 30f. Hervorheben im Original). 24

„Alle Arbeit ist einerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn, und in die-

ser Eigenschaft gleicher menschlicher oder abstrakt menschlicher Arbeit bildet sie den Warenwert. Alle

Arbeit ist andererseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft in besonderer zweckbestimmter Form,

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schen Aspekt der Arbeit. In diesem Fall entspricht die Arbeit einer Grundbedingung des

menschlichen Lebens selbst: „Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und

Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene

Tat vermittelt, regelt und kontrolliert.“25

Diese marxsche Betrachtungsweise der Arbeit als

Stoffwechsel des Menschen mit der Natur bildet den Hintergrund der Arendtschen Bestim-

mung der Arbeit.26

Arendt teilt mit Marx, dass die Arbeit nichts anderes als die Tätigkeit

von Menschen ist, „ihre Lebensmittel zu produzieren.“27

In diesem Verständnis hält Arendt

die Tätigkeit der Arbeit für nicht-politisch, so dass das Potential der Verständigungsverhält-

nisse nicht aus der Produktivität der Arbeitsverhältnisse hervorgehen könnte, auch wenn der

kollektive Arbeitsprozess die Arbeitsproduktivität entwickelt. Arendt schreibt: „Nun kann

aber offenbar weder die ungeheuer gesteigerte Produktivität bzw. Fruchtbarkeit des Arbei-

tens – und Lebensprozesses noch seine eventuelle Vergesellschaftung verhindern, daß die

ihnen entsprechenden Erfahrungen privatester Natur bleiben und sich der Mitteilbarkeit

ebenso entziehen wie alle sonstigen körperlichen Erfahrungen“.28

Im Gegensatz zum biologischen und physischen Aspekt des Arbeitsbegriffs hat Marx zwei-

tens einen Begriff der teleologischen Arbeit, die „Gebrauchswerte“ produziert. Über die

Funktion der Reproduktion des Lebens hinaus stellt die Arbeit die schöpferische Tätigkeit

des Menschen dar. An einer Stelle unterscheidet Marx den Baumeister von der Biene hin-

sichtlich der Kategorie von Wollen und Bewusstsein: „Wir unterstellen die Arbeit in einer

Form, worin sie dem Menschen ausschließlich zugehört. Eine Spinne verrichtet Operatio-

nen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszel-

len manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Bau-

meister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle im Kopf gebaut hat, bevor er

sie in Wachs baut.“29

Dann fügt Marx hinzu: „Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein

Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also

schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen be-

wirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und

Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß. Und

diese Unterordnung ist kein vereinzelter Akt.“30

Diese Arbeit heißt für Marx nun die be-

und in dieser Eigenschaft konkreter nützlicher Arbeit produziert sie Gebrauchswerte.“ (Marx, MEW, Bd.

23, S. 21). 25

Marx, MEW, Bd. 23, S. 192. 26

Vgl. VA, S. 16. 27

Marx, MEW, Bd. 3, S. 21. 28

VA, S. 137f. 29

Marx, MEW, Bd. 23, S. 192f. 30

Marx, MEW, Bd. 23, S. 193.

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wusste und planende Lebenstätigkeit. An anderer Stelle charakterisiert Marx die menschli-

che Arbeit noch ausführlicher: „Das Tier ist unmittelbar eines mit seiner Lebenstätigkeit. Es

unterscheidet sich nicht von ihr. Es ist sie. Der Mensch macht seine Lebenstätigkeit selbst

zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewußtseins. Er hat bewusste Lebenstätig-

keit.“31

Diese Lebenstätigkeit wird in handlungstheoretischer Perspektive von Arendt als

das Herstellen verstanden. „Hier spricht Marx offenbar nicht mehr vom Arbeiten, sondern

Herstellen, um das er sich sonst nicht kümmert – und der Erfolg ist, daß er das Wort ideell

wie von ungefähr benützen muß, und zwar durchaus in der platonischen Prägung.“32

Im Hinblick auf den Doppelcharakter des Arbeitsbegriffs vertritt Arendt die These, dass

Marx das Arbeiten mit dem Herstellen identifiziert.33

Durch diese Identifizierung versucht

Marx, die Naturalität der Arbeit als der physischen und notwendigen Tätigkeit für die Rep-

roduktion des Lebens zu überwinden. Daraus stellt sich der Praxisbegriff von Marx in der

Perspektive des Herstellens dar. Hier folgt Marx ganz dem traditionellen Denken, dass Wis-

sen Tun leitet. Das Bestreben, alle Tätigkeitsweisen durch das Herstellen zu ersetzen, wie

Arendt davon überzeugt ist, „ist nicht neu, war aber natürlicherweise niemals so mächtig

und bedeutungsvoll wie in den letzten hundert Jahren, da Menschen (…) sich zum ersten

Mal wesentlich als arbeitende Wesen verstanden und bestimmten. Dieses neue Selbstver-

ständnis der Menschen fand seinen ersten theoretischen Ausdruck in Marx.“34

Arendts

Hauptkritik an der Arbeitstheorie von Marx besteht darin, dass er in die alte Versuchung

gerät, menschliches Handeln auf das Modell des Herstellens von Gegenständen reduzieren

zu wollen.35

Man findet in der Identifizierung vom Arbeiten und Herstellen die Spannung zwischen Ma-

terialismus und Idealismus.36

Arendts Ansicht zufolge hält Marx „ganz unbefangen an der

kategorialen Interpretation des Handelns als zwecksetzender Tätigkeit eines Subjekts“

fest.37

Die im Sinne des Herstellens verstandene Arbeit hat es immer nur mit einem Subjekt

31

Marx, MEW, Ergänzungsband I, 1974, S. 516. 32

VA, S. 442. 33

Vgl. VA, S. 120. 34

EU, S. 956. 35

Schäfer sieht Arendts Hauptkritikpunkt an Marx bei der Reduktion des Handelns auf das mit dem Herstel-

len identifizierte Arbeiten. Bei Arendt gehe es darum, „daß Marx Handeln, Praxis, grundbegrifflich nach

dem Muster von Herstellungs- oder Produktionsprozessen dachte und folglich Politik nur als instrumen-

telles und strategisches Handeln begreifen konnte.“ (Schäfer, 1993, S. 45). 36

Vgl. VA, S. 225f.; die Marxsche Kritik an konventionellem Materialismus zeigt sich in der ersten These

über Feuerbach: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (…) ist, daß der Gegenstand, die

Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber

als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu

dem Materialismus von dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht

kennt – entwickelt.“ (Marx, MEW, Bd. 3, S. 533. Hervorhebung im Original); vgl. VA, S. 460, Anm. 8. 37

Vollrath, 1977, S. 84.

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207

zu tun, weil der Mensch im Prozess des Herstellens seine kontemplativ vorgegebenen Zwe-

cke vergegenständlicht. Die Entäußerung heißt, dass ein innerer Zweck im Prozess der Ar-

beit in ein äußeres Resultat verwandelt wird. Nun ist die Arbeit für Marx die zentrale Form

der Selbstverwirklichung des Menschenwesens.38

So versteht er Gegenstände, die durch

Arbeit produziert sind, als die Entäußerung und Vergegenständlichung des menschlichen

Selbst. In dem produzierten Gegenstand schaut der Mensch sich selbst an. Die gegenständ-

liche Entäußerung des menschlichen Wesens bedeutet „die Humanisierung der Natur durch

Arbeit“39

.

Diese Vergegenständlichung des menschlichen Selbst bezeichnet Marx als die menschliche

Wirklichkeit. Er sagt: „Indem daher überall einerseits dem Menschen in der Gesellschaft,

die gegenständliche Wirklichkeit als Wirklichkeit der menschlichen Wesenskräfte, als men-

schliche Wirklichkeit und darum als Wirklichkeit seiner eigenen Verwesenskräfte wird,

werden ihm alle Gegenstände als die Vergegenständlichung seiner selbst, als die seiner In-

dividualität bestätigenden und verwirklichenden Gegenstände, als seine Gegenstände; d.h.

Gegenstand seiner selbst.“40

Die Arbeit bildet durch die Entäußerung „die sich selbstver-

wirklichende Wirklichkeit“.41

Diese Wirklichkeit durch Selbsterzeugung oder Selbstver-

wirklichung der Arbeit ist im Ganzen unabhängig von der Gegenwart anderer, während die

menschliche Wirklichkeit für Arendt das Resultat des Handelns zwischen Menschen dar-

stellt. Für die Selbstverwirklichung muss man den Preis des Verlusts der weltlichen Wirk-

lichkeit bezahlen. In diesem Licht gesehen, impliziert die marxsche Philosophie der Arbeit

den neuzeitlichen enormen Subjektivismus, wo das weltlose Ich das Fundamentalste allen

Denkens und aller Erkenntnis ist. In diesem neuzeitlichen Subjektivismus ist der Mensch

von einer gemeinsamen Welt entfremdet.42

38

Das Konzept dieser Entäußerung in der Arbeit stellt Honneth ausgezeichnet in kurzer Formulierung dar:

„Was die zentrale Fähigkeit des Menschen ausmacht, ist die Fähigkeit, sich im Produkt seiner Arbeit zu

vergegenständlichen; nur im Vollzug einer solchen Vergegenständlichung erhält das Subjekt die Chance,

sich der eigenen Kräfte zu vergewissern und dementsprechend zu Selbstbewußtsein zu gelangen.“ (Hon-

neth, 1995, S. 23). 39

Kallscheuer, 1993, S. 210; für Marx ist Humanismus identisch mit Naturalismus. Er versteht daher Hu-

manismus als „die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen und der Natur und mit

dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegens-

tändlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gat-

tung.”(Marx, 1971, S. 235. Hervorhebung im Original). 40

Marx, 1971, S. 241. Hervorhebung im Original. 41

Vollrath, 1969, S. 243. 42

„Was man gewöhnlich als den Subjektivismus der modernen Philosophie bezeichnet, kann man auch als

die im Begriff vorweggenommene Artikulation der Weltentfremdung moderner Menschen sehen.“ (ZVZ,

S. 66).

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208

Da Marx in der Tätigkeit der Arbeit die Selbstverwirklichung der Menschennatur sieht, gilt

ihm der Verlust dieses Charakters der Arbeit als Entfremdung von sich selbst.43

Diese

Selbstentfremdung lässt sich für Marx durch Rückkehr auf sich selbst aufheben. Marx for-

muliert: „Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums, als menschlicher

Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und

für den Menschen; darum als vollständige, bewußte und innerhalb des ganzen Reichtums

der bisherigen Entwicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesell-

schaftlichen, d.h. menschlichen Menschen.“44

Die Überwindung dieser Selbstentfremdung

läuft Arendts Ansicht zufolge vielmehr auf die Weltentfremdung hinaus. Arendt meint:

„Die Weltentfremdung der Neuzeit ist eingedrungen in die Politik mit Marx, der von der

Selbstentfremdung des Menschen spricht. Entscheidend ist, daß Marx die Welt nur verän-

dern wollte, um den Menschen zu erlösen, und zwar von der Welt. Der Mensch sollte soviel

Zeit wie nur möglich für sich selbst, für sein Selbst und dessen Entwicklung haben; dies

war der Begriff von Freiheit. Dies der Marxsche Humanismus.“45

4.3 Das Gattungswesen als die Einheit zwischen Gesellschaft und Individuum

Wenn die Arbeit als die selbstbezogene Tätigkeit bestimmt ist, lässt sich die Frage nach

dem Verhältnis von menschlicher Assoziation und Arbeit stellen. Anders gesprochen wird

die Grundsatzfrage aufgeworfen, welche Rolle die Arbeit als „die wenigst weltliche aller

menschlichen Tätigkeiten“46

für die soziale Integration überhaupt noch spielen kann. In

ihrem Denktagebuch fragt Arendt wie folgt: „Der Mensch als der arbeitende Produzent sei-

ner Welt, die ihm durch die Menschen (die Gesellschaft) aus der Hand geschlagen wird,

pervertiert in die gespenstische Gegenständlichkeit. Dies impliziert, dass nur das Subjekt

einer Tätigkeit menschlich ist und dass Menschen, insofern sie nicht nur und nicht wesent-

lich als Subjekte von Tätigkeiten zusammen sind, dieses Tätig-sein pervertieren. Wie aber

sollen Menschen als reine tätigende Subjekte je anders zusammen kommen, wenn ihre Tä-

tigkeit (Arbeit) immer dem eigenen Bedürfnis ursprünglich entspringt und nur sekundär –

Tausch - sich auf den Andern richtet, nämlich nur insofern das vom Andern Produzierte

benötigt wird?“47

Aber für Marx ist die Arbeit als das gesellschaftliche Gattungswesen des

Menschen gedacht. In den elf Thesen über Ludwig Feuerbach schreibt Marx: „Aber das

43

Zum Konzept der Selbstentfremdung, Marx, MEW, Ergänzungsband I, 1974, S. 515. 44

Marx, 1971, S. 235. Hervorhebung im Original. 45

WP, S. 192. 46

VA, S. 120. 47

DTB, S. 75f. Hervorhebung im Original.

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209

menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In sei-

ner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“48

Das Ensemble

der gesellschaftlichen Verhältnisse, welches das menschliche Wesen ausmacht, ist für Marx

das Gattungsleben als Kollektivsubjekt gesellschaftlicher Arbeit. „Der vollendete politische

Staat ist seinem Wesen nach das Gattungsleben des Menschen“.49

Wenn Marx über die „gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit oder Produktivkräfte

gesellschaftlicher Arbeit“50

spricht, fasst er sie unter dem Begriff einer Entwicklung des

„Gattungsvermögens“51

zusammen. Dieses Gattungsvermögen ist mehr als die Summe in-

dividueller Arbeiten. Indem Marx die menschliche Gattung als Subjekt der Arbeit be-

stimmt, versucht er den Gegensatz von Gesellschaft und Individuum aufzulösen und einen

Bildungsprozess des menschlichen Zusammenseins aufzustellen. „Der Mensch ist ein Gat-

tungswesen, nicht nur indem er praktisch und theoretisch die Gattung, sowohl seine eigene

als die der übrigen Dinge, zu seinem Gegenstand macht, sondern – und dies ist nur ein an-

derer Ausdruck für dieselbe Sache –, sondern auch indem er sich zu sich selbst als der ge-

genwärtigen, lebendigen Gattung verhält, indem er sich zu sich als einem universellen, dar-

um freien Wesen verhält.“52

Die Gattung stellt die Allgemeinheit dar. Die Gattung ist, wie Herbert Marcuse sagt, „das in

allen Besonderheiten sich als dasselbe erhaltende Allgemeine“.53

Nur in der Gattungsallge-

meinheit sei der einzelne Mensch ein universelles Wesen. Hier taucht, wie wir gesehen ha-

ben, Rousseaus Annahme vom Allgemeinen in jedem Besonderen auf. Wie der Gemeinwil-

le Rousseaus stellt das Gattungsleben die Harmonie von bürgerlichem und privatem Leben

sicher. In der Tat zitiert Marx Rousseau in der Schrift Zur Judenfrage, hier meint er, die

Vollkommenheit der Gattung sei „Zurückführung der menschlichen Welt (…) auf den

Menschen selbst.“54

Bei dieser Zurückführung streitet Marxens Bürger wie Rousseaus Bür-

ger zwischen zwei Willen, also zwischen einem unwahren und einem wahren. Das Indivi-

duum wird durch die Selbstbeherrschung über seinen unwahren Willen zum Gattungswe-

sen, das „der sozialisierte Mensch“55

oder „die vergesellschaftete Menschheit“56

ist. Das

Individuum als Gattungswesen repräsentiert die Menschheit.

48

Marx, MEW, Bd. 3, S. 6. 49

Marx, MEW, Bd. 1, S. 354; zur Interpretation des Gattungswesens bei Marx siehe Vollrath, 1971, S.

306ff. 50

Marx, MEW, Bd. 23, S. 349. 51

Marx, MEW, Bd. 23, S. 349: „Im planmäßigen Zusammenwirken mit anderen streift der Arbeiter seine

individuellen Schranken ab und entwickelt sein Gattungsvermögen.“ 52

Marx, MEW, Ergänzungsband I, 1974, S. 515. 53

Marcuse, 1969, S. 20; vgl. Vollrath, 1971, S. 316. 54

Marx, 1971, S. 199. 55

Marx, 1971, S. 47.

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210

In der Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte und somit in der Entstehung der

„bürgerlichen Gesellschaft“ sieht Marx die Gefahr für den Zerfall der Einheit des Gemein-

wesens. Marx geht es in der Tat um die Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung. Für

Marx gilt es „das wirkliche widerspruchslose Gattungsleben des Menschen zu konstituie-

ren“.57

Die Überwindung der Aufspaltung der bürgerlichen Gesellschaft fällt mit dem Gat-

tungswesen zusammen. Wie sich in Marxens These zeigt, das menschliche Gattungsvermö-

gen entwickele sich durch die individuelle Arbeit, wollte Marx durch das Konzept der ge-

sellschaftlichen Arbeit und durch den Kollektivsubjektsbegriff der Arbeit den Egoismus des

Individuums liquidieren und zugleich auf eine Einheit von Individuum und Gesellschaft

hinführen. Im menschlichen Gattungsleben ersetzt sich die bürgerliche Gesellschaft durch

„die menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit“58

. Die menschliche

Befreiung gelingt, wenn der einzelne Mensch Gattungswesen wird: „Erst wenn der wirkli-

che individuelle Mensch (…) in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit,

in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch

seine forces propres als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die

gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst

dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“59

Um das Leben des Individuums in Verbindung mit dem Gattungsleben zu bringen, bedarf

es „wahrlich keiner anderen spezifisch menschlichen Vermögen als die Arbeit“, denn „das

Einzelleben ist dem Gattungsleben eingefügt durch die Arbeit, die die Erhaltung des Eigen-

lebens und das der Familie besorgt.“60

Der politisch-staatliche Bereich ist zweifellos völlig

überflüssig, wenn sich das Gattungswesen als die Vereinigung von Individuum und Gesell-

schaft voll verwirklichen kann. Dieser Endzustand sei, wie Kallscheuer bemerkt, kein poli-

tischer mehr, sondern ein existentieller und ein gesellschaftlicher.61

Es ist kein Zufall, dass

Marx „das Gattungsleben selbst“ als „die Gesellschaft“ bezeichnet.62

Nur im Gattungsleben

lassen sich die Pluralität und die ihr entsprechende Politik als „Spiegelbild der Schwäche

der menschlichen Natur“63

überwältigen. Damit verbunden ist diese Vereinigung von Indi-

viduum und Gattung durch Arbeit der vollkommene Ausdruck des Naturalismus, so dass

56

Marx, MEW, Bd. 3, S. 535. 57

Marx, 1971, S. 184. 58

Marx, MEW, Bd. 3, S. 7. 59

Marx, 1971, S. 199. 60

VA, S. 409. 61

Kallscheuer, 1993, S. 208. 62

Marx, 1971, S. 194. 63

PP, S. 399.

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211

menschliche Geschichte ein wirklicher Teil der Naturgeschichte sei.64

Arendt stellt im Fol-

genden fest: „Erst wenn die Menschen nicht mehr als Privatpersonen handeln, die um ihr

eigenes Leben und Überleben besorgt sind, sondern, wie Marx zu sagen pflegte, als Gat-

tungswesen, für welche die Reproduktion ihres individuellen Lebens aufgeht im Lebens-

prozeß des Menschengeschlechts, kann der kollektive Lebensprozeß einer vergesellschafte-

ten Menschheit sich nach den Gesetzen einer ihm inhärenten Notwendigkeit entfalten, d.h.

den Automatismus der Fruchtbarkeit in dem doppelten Sinn loslassen, der ungeheueren

vervielfältigenden Vermehrung von Einzelleben und einer entsprechend ungeheuer verviel-

fältigenden Vermehrung von Konsumgütern.“65

Durch die Arbeit wird der Einzelne zugleich selbstverwirklicht und vergesellschaftet, weil

der Mensch „in seinem individuellsten Dasein zugleich Gemeinwesen“ oder „Gattungswe-

sen“ wird.66

Es gibt „ontologisch keine Dimensionsdifferenz zwischen Gattung und Indivi-

duum“.67

Bei Marx liegt der einzige Weg zur Überwindung der Selbstentfremdung eigent-

lich im vollendeten Gattungsleben.68

Der Begriff des Gattungswesens als das Medium der

vergesellschafteten Menschen hat daher nichts mit der menschlichen Pluralität zu tun. Der

Mensch als Gattungswesen äußert „die bloße „Multiplizität von Gattungsexemplaren, die

einander bis zur Austauschbarkeit gleichen, insofern sie nämlich lediglich in ihrer Eigen-

schaft als lebende Organismen sind, was sie sind.“69

Das Gattungswesen ist die bloß unend-

lich erweiterte Einzelheit. Die Verschmelzung der Vielen in ein natürliches Gattungswesen

bedeutet die totalitäre Aufhebung sowohl der Individualität als auch der Pluralität, die sich

nur durch das politische Handeln herausbilden lassen.

4.4 Identifizierung des Politischen mit „Geschichtemachen“

Aus handlungstheoretischer Perspektive übt Arendt Kritik nicht nur am Arbeitsbegriff von

Marx, sondern auch an seiner Geschichtsauffassung. Sie vertritt die These, dass es den tota-

litären Kern des marxschen Denkens im Verständnis der Geschichte gibt, dass man Ge-

schichte machen könne. Die Machbarkeit von Geschichte wird im Sinne eines herstellenden

64

VA, S. 409. 65

VA, S. 136. 66

Marx, 1971, S. 235; vgl. ZVZ, S. 385. 67

Kallscheuer, 1993, S. 208. 68

„Bei Marx ist (…) gerade die Differenz der Ort der Entfremdung; aus der Entfremdung befreit man sich

durch die Reduktion der Differenz auf die Identität und durch die Auflösung des Individuums in der ver-

söhnten Gemeinschaft, also in der Gattung Mensch, die endlich Eins geworden ist.“ (d‟Arcais, 1993, S.

46). 69

VA, S. 271.

Page 214: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

212

Verfahrens begriffen: „Daß man aus Marx eine totalitäre Ideologie entwickeln konnte (…),

hat letztlich seinen Grund in diesem Grundmißverständnis, das Marx, sofern er Handeln

und Herstellen identifizierte, großenteils aus einer bereits populär gewordenen Tradition des

Denkens übernahm und intensivierte.“70

Wenn Marx in Anlehnung an Hegel die Arbeit „als Selbsterzeugungsakt des Menschen“71

und zugleich im Gegensatz zu Hegel die Geschichte „als Erzeugung des Menschen durch

die menschliche Arbeit“72

versteht, gehören Geschichte und Arbeit bei Marx zusammen.

Die Verbindung der Geschichte mit der Arbeit, also das Verständnis der „Geschichte als der

vom Menschen gemachten Geschichte, die eng mit seiner Auffassung von Arbeit verbunden

ist“73

, ist das spezifische Kennzeichen der Geschichtsphilosophie von Marx.74

Die neuzeitliche Geschichtsphilosophie versteht den Geschichtsprozess als „geheime, hinter

dem Rücken der handelnden Menschen wirkende Kräfte, durch welche der jeweilig greifba-

re Vorgang und das zutage tretende Ereignis Bedeutung und Sinn erhalten“.75

Dieser Ansatz

der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie ist ohne Hegel nicht denkbar.76

Für die moderne

Geschichtsphilosophie macht Hegel den entscheidenden Schritt, indem er die gesamte

Weltgeschichte als einen realen, vom philosophischen Betrachter prinzipiell unabhängigen

Prozess der Verwirklichung der Vernunft ansieht. Allein mit dem betrachtenden Blick des

Philosophen lässt sich „der allen Handelnden unbewusste, eindeutige Zweck“77

der Ge-

schichte erkennen. Für ihn gibt es den Geschichtsprozess, der von der Entfaltung histori-

scher Gesetzmäßigkeiten beherrscht wird.78

Die menschliche Geschichte hat ihre Bedeutung

nur in der Enthüllung des absoluten Geistes und gehört zu einem „unheimlich einheitlichen

Ganzen“.79

Damit werden die menschlichen Angelegenheiten dem geschichtlichen Gesetz

und dem Geschichtsprozess als vorgefasst zielgerichtetem Gesamtprozess unterworfen. He-

gel reduziert „die Politik auf die Geschichte“ und zugleich „die Geschichte auf die meta-

physische Philosophie“.80

Er spricht im Folgenden: „Es kommt nichts Anderes heraus, als

70

Arendt, Gestern waren sie noch Kommunisten, in: IG, S. 232; zur Marxschen Geschichtsphilosophie siehe

vor allem den Aufsatz Geschichte und Politik in der Neuzeit, in: ZVZ, S. 80-109. 71

Marx, 1971, S. 281. 72

Marx, 1971, S. 247f. 73

Arendt, Antrag auf Guggenheim-Stipendium, 1952; zit. nach Heuer, 1987, S. 52. 74

Emil Angehrn weist darauf hin, dass Marx eine Kritik und zugleich eine bestimmte Weiterführung der

neuzeitlichen Geschichtsphilosophie übernimmt. Den Grund dafür sieht er darin, dass Marx dem ge-

schichtsphilosophischen Verständnis von Hegel verhaftet ist (Angehrn, 1991, S. 105ff.). 75

ZVZ, S. 80. 76

Nach Arendts Auffassung ist das gesamte neuzeitliche Geschichtsbewusstsein von Hegels Überzeugung

geprägt, „daß Wahrheit dem Zeitprozeß selbst innewohne und in ihm sich offenbare.“ (ZVZ, S. 87). 77

ZVZ, S. 98. 78

Vgl. ÜR, S. 63f.; vgl. DU, S. 77f. 79

WE, S. 49. 80

Parekh, 1981, S. 42.

Page 215: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

213

was schon vorhanden war.“81

In solchem geschichtsphilosophischen Verständnis von Hegel

findet Hannah Arendt eines der wichtigsten Hindernisse auf dem Weg zu einer Wiederhers-

tellung des politischen Handelns, weil die Freiheit des politischen Handelns nur dadurch

möglich ist, dass die zukünftigen Handlungen jetzt nicht gewusst werden und dass es einen

Neuanfang gibt.82

Gäbe es den objektiven geschichtlichen Prozess, dann würde das Handeln

überflüssig.

Im Hinblick auf dieses Verständnis der Geschichte kritisiert Marx allerdings Hegel, indem

er den Geschichtsprozess mit der konkret-historischen Praxis verknüpft. Die Originalität

des Marxschen Verständnisses der Geschichte besteht darin, dass er die von „Hegel nur

erschauten höheren Ziele des geschichtlichen Prozesses in unmittelbar geplante Endzwecke

politischen Handelns“ umdeutet.83

Erst in der Marxschen Vorstellung wird die Geschichte

menschlich und „säkular“84

. Nicht die Geschichte selbst, sondern die menschlichen Subjek-

te werden als der rationelle Kern der mystifizierten geschichtlichphilosophischen Subjekte

aufgefasst: „Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre

rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis.“85

Marx

sagt eindeutig: „Die Geschichte tut nichts, sie besitzt keinen ungeheuren Reichtum, sie

kämpft keine Kämpfe! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der

das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die Geschichte, die den Menschen zum

Mittel braucht, um ihre – als ob sie eine aparte Person wäre – Zwecke durchzuarbeiten,

sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen.“86

In Die

deutsche Ideologie bezeichnet Marx „die Wissenschaft der Geschichte“87

als Darstellung

der praktischen Betätigung. Die erste Voraussetzung aller Geschichte ist ihm zufolge, „daß

die Menschen imstande sein müssen zu leben, um Geschichte machen zu können.“88

An

anderer Stelle drückt sich der direkte Einwand gegen das Hegelsche Verständnis der Ge-

schichte aus: „Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die

Erde herabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen. D.h., es wird von den

wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die

Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt.“89

81

Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie; zit. nach MG, S. 165. 82

Vgl. ÜR, S. 64. 83

ZVZ, S. 97. 84

Parekh, 1981, S. 42. 85

Marx, MEW, Bd. 3, S. 535. 86

Marx, MEW, Bd. 2, S. 98. Hervorhebung im Original. 87

Marx, MEW, Bd. 3, S. 18. 88

Marx, MEW, Bd. 3, S. 28. Hervorhebung im Original. 89

Marx, MEW, Bd. 3, S. 26.

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214

Die marxsche Geschichtsauffassung ist in der Tat die Entsprechung für die Aporie, die zwi-

schen der Forderung nach der Objektivität der Geschichte und der nach der Humanisierung

der Geschichte entsteht. Dieses Problem wollte Marx Arendt zufolge durch den Versuch

lösen, „den Menschen als tätig handelndes Wesen zu verstehen, das heißt ihn zu politisie-

ren“.90

Wenn Marx betont, die Entwicklung der Geschichte beruhe nicht auf der Interpreta-

tion der Welt, also auf dem Betrachten der absoluten Geschichte, sondern vielmehr auf der

Praxis, die Welt verändern zu wollen,91

scheint Marx „den Ansatz einer Geschichtsphiloso-

phie in praktischer Absicht“92

zu übernehmen. Aber die Lösung der oben erwähnten Aporie

findet Marx schließlich im Begriff der gemäß dem objektiven Gesetz machbaren Geschich-

te. Wenn er das Handeln nur als „ein Geschichte-Machen“93

fasst, impliziert das die Grund-

überzeugung, dass sich die Geschichte in der objektiven Struktur- und Prozesslogik des

sozial-historischen Geschehens vollzieht; die Menschen treten als die Darsteller dieser ge-

setzmäßigen Geschichte ganz zurück, wenn Marx die gesamte menschliche Geschichte der

Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft aus dem „eisernen Gesetz historischer

Notwendigkeit“94

erklärt. Wie Marx im Vorwort von Kapital betont, geht es ihm „um diese

Gesetze selbst, um diese mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden

Tendenzen“.95

Nun begreift sich Geschichte bei Marx als gesetzmäßiger Entwicklungsprozess der Gesell-

schaft wie der Natur. Dieses Geschichtsverständnis von Marx ist in einer Aussage deutlich

ausgedrückt, die Engels am Grabe von Marx machte: „Wie Darwin das Gesetz der Entwick-

lung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen

Geschichte“.96

Wie in der Natur existieren in der Geschichte allgemeine, wesentliche und

notwendige Zusammenhänge. In dieser Voraussetzung ist die Praxis auf die selbst-

bezogene Ausführung eines Vorgegebenen eingeschränkt. Nach den vorgegebenen Gesetz-

mäßigkeiten ist Geschichte machbar. In diesem Geschichtsbegriff erliegt Marx der „ältes-

te(n) Sünde aller politischen Philosophie des Abendlandes“97

. Kurz gesagt unterscheidet

sich Marx nur im Blick auf die Praxis als ein Mittel zur Vollendung des vorgestellten

Zwecks von Hegel, aber er verbindet sich im Verständnis der geschichtlichen Zweckmäßig-

90

ZVZ, S. 97; vgl. VA, S. 229. 91

Vgl. Marx, MEW, Bd. 3, S. 535. 92

Habermas, 1971, S. 234. 93

ZVZ, S. 97. 94

ÜR, S. 79. 95

Marx, MEW, Bd. 23, S. 12. 96

Marx, MEW, Bd. 19, S. 335. 97

ZVZ, S. 98.

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215

keit mit ihm. Diese widersprüchliche Geschichtsauffassung nennt Arendt „Marx‟ Tragö-

die“98

für seinen Praxisbegriff.

Ausgehend vom im Sinne des Herstellens verstandenen Arbeitsbegriff fällt die Praxis mit

der Gesetzmäßigkeit der Geschichte reibungslos zusammen. Wenn die Geschichte als das

Produkt einer Herstellung aufgefasst wird, ist „nun das Subjekt, der Hersteller, weder der

einzelne Mensch noch die zusammenhandelnden Menschen“, sondern „entweder ein hinter

ihrem Rücken waltender Geist oder die Menschheit im ganzen.“99

Für Marx ist Praxis im-

mer vom Erkennen der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung abhängig. Da-

her wird die Geschichte als „bewusstes Machen“100

verstanden. An die Stelle des Handelns

setzt sich der dem Herstellen eigentümliche Begriff von Wollen, das identisch mit Kenntnis

der Zukunft und des gesetzmäßigen Prozesses der geschichtlichen Entwicklung ist.101

Die

marxsche Politisierung der Geschichte läuft daher auf Politik des Willens hinaus.

Zum Wesen der teleologischen Auffassung des historischen Prozesses gehört es, „daß der

Einzelne oder das Besondere nur dann und nur dadurch sinnvoll sein können, daß sie als

bloße Funktionen verstanden werden.“102

In der Vorstellung der gesetzmäßigen Geschichte

wird „die Vielheit der Menschen in ein Menschenindividuum zusammengeschmolzen.“103

Der Konzeption der die Geschichte machenden Praxis fehlt ein Begriff vom Handeln, das

auf der menschlichen Pluralität beruht. In diesem Verständnis der Geschichte gibt es totali-

täre Elemente, „die Menschen gleichsam aus der Geschichte des Menschengeschlechtes zu

eliminieren.“104

Mit dieser Eliminierung verliert der marxsche Geschichtsbegriff seinen

fundamental politischen Charakter. Da Arendt dagegen die Geschichte im Mithandeln und

nicht in transzendentalen Ideen und Gesetzen fundiert, ist die Geschichte für sie „ihrem

Wesen nach politisch“.105

Arendt argumentiert, es gebe in Marx‟ Verständnis der Geschich-

te „nicht die vielen Menschen, deren Miteinander – und Gegeneinanderhandeln schließlich

zu Geschichte als Ergebnis führt.“106

Der Glaube, die Geschichte sei machbar, ignoriert für

Arendt das Wesen des politischen Handelns.

Der Grund dafür, dass die Geschichtsauffassung von Marx in der Vollendung des hegel-

schen Geschichtskonzepts endet, besteht darin, dass er die Aporie des Handelns durch das

98

DTB, S. 95. 99

ZVZ, S. 108. 100

Angehrn, 1991, S. 106. 101

Vgl. Kolakowski, 1974, S. 23f. 102

ZVZ, S. 81. 103

WP, S. 12. 104

EU, S. 734. 105

VA, S. 230; zum Studium über Arendts historisches Denken siehe Vowinckel, 2001; Althaus, 2000. 106

IWV, S. 97.

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216

Herstellen überwältigen wollte. Aus dem „teleologischen Geschichtsgesetz“ möchte Marx

bestimmte Direktiven und Garantien für die Zufälligkeit des menschlichen Handelns ge-

winnen.107

Dabei teilt Marx mit der traditionellen Philosophie die unaufhörliche Bemühung,

die dem menschlichen Handeln anhaftenden Gefahren der Zufälligkeit zu überwinden.108

Vor diesem Hintergrund verbindet Marx den absoluten Zweck des geschichtlichen Prozes-

ses mit dem gewollten Endzweck politischen Handelns. In diesem Endzweck verwirklicht

sich „die siegreiche Überwindung der Zufälligkeit des Lebens.“109

Das bedeutet die Ab-

schaffung des politischen Handelns selbst und damit der Freiheit.110

Hätte die Geschichte vorgegebene Ziele, gäbe es das sichtbare Ende der Geschichte. In

Marx‟ Geschichtsphilosophie erreicht der Prozess der Geschichte das Ende, wenn der ge-

schichtliche Zweck verwirklicht wird. Dieser Gedanke impliziert die Vorstellung des Fort-

schritts der Geschichte. Marx zufolge stellt sich der definitive Fortschritt der Geschichte in

der klassenlosen Gesellschaft dar. Die Idee des Endes der Geschichte verweist in der Tat

darauf, dass Marx die Geschichte im Sinne der Herstellung sieht. Dass es einen Anfang und

ein definitives, voraussagbares Ende gibt, gehört zum von anderer Tätigkeit unterschiede-

nen Merkmal des Herstellens.111

Der Herstellensprozess schließt sich mit der Realisierung

des Endziels ab. Der Traum vom Ende der Geschichte trägt totalitäre Züge. „Es ist typisch

für totalitäres Denken, an einen Endkampf in der Geschichte zu glauben.“112

Im Gegensatz

zur marxschen Geschichtsauffassung lehnt Arendt kategorisch alle Konzepte vom Ende der

Geschichte ab. Die Geschichte, die sich aus dem Zusammenhandeln ergibt, hat kein End-

ziel. In einer kurzen Formulierung sagt Arendt: „Die Geschichte kennt keine Endgültigkeit;

die Geschichte, die sie uns erzählt, hat viele Anfänge, aber kein Ende.“113

Das Ende der Geschichte bedeutet für Marx die Verwirklichung der politiklosen Gesell-

schaft. Marx erklärt die geschichtliche Entwicklung aus dem Klassenkampf, der auf dem

entgegengesetzten, widerstreitenden Klasseninteresse beruht.114

Für ihn wird Politik als

„Klassenpolitik“115

bezeichnet. Wenn Politik auf Klassenkämpfe116

oder Klassenherrschaft

107

Vgl. Topitsch, 1958, S. 255 und 252. 108

Vgl. VA, S. 278, vor allem S. 292; Topitsch, 1958, S. 254. 109

Kolakowski, 1974, S. 25; vgl. Marx, 1971, S. 235. 110

Vgl. ZVZ, S. 97; in ähnlichem Sinne bemerkt Erich Christian Schröder: „Alle Vorstellungen, nach denen

die Politik die Bewerkstelligung geschichtlicher Endzwecke und der Vollzug geschichtlicher Gesetze sein

soll, tendieren daher im Grunde auf eine Abschaffung des Handelns und damit der Freiheit und der Poli-

tik, ja der Geschichte selbst, wie es sich bei Marx ganz deutlich zeigt.“ (Schröder, 1969, S. 131f.). 111

Vgl. VA, S. 169. 112

IG, S. 235. 113

IG, S. 235. 114

„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ (Marx, MEW, Bd.

4, S. 462). 115

Negt/Mohl, 1985, S. 483.

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217

zurückgerechnet wird, dient sie paradoxerweise als ein Mittel, um sich selbst aufzuheben,

weil die Vollendung der Geschichte in der klassenlosen Gesellschaft, wo es keine Klassen-

kämpfe mehr gibt, nur die Selbstaufhebung des Politischen als des Klassenkampfs ist. Das

Ende der Geschichte ist also „Abschaffung der Politik durch Politik“.117

Schließlich endet

die Politisierung der Geschichte in der Entpolitisierung der Politik. Arendt konstatiert: „Alle

Theorien, in welchen Handeln als Geschichte – Machen, und also als Herstellen, verstanden

wird, führen letztlich zu der in Marx‟ Werk so klar ersichtlichen Konsequenz, in einer so

oder anders beschaffenen, endgültig festgelegten Gesellschaftsordnung das Handeln, und

damit das eigentlich Politische im Menschen, abzuschaffen. Die totalen Herrschaftssysteme,

die Tyranneien und Diktaturen unseres Jahrhunderts, sind gerade deshalb so zerstörerisch,

weil sie aus dieser Gesinnung entstanden sind und dies letztlich bezwecken.“118

116

„Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf.“ (Marx, 1971, S. 523). 117

WP, S. 197. 118

ZVZ, S. 109.

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218

IV. Politik und Pluralität

1. Identität und Pluralität

Im Hinblick auf die moderne Krise der Politik gehört das Bestreben, das Politische in der men-

schlichen Pluralität zu begründen, zum Kernpunkt der Arendtschen „Rehabilitierung der Poli-

tik“.1 Es ist der originale Pluralitätsgedanke Arendts, dass Menschen durch das politische Han-

deln ihre Identität entfalten und zugleich die gemeinsame Welt gestalten und bewahren. Arendts

Pluralitätstheorie unterscheidet sich daher von den Pluralismustheorien, die „den erheblichen

Spannungen zwischen der Macht der Verbände und der Ohnmacht des einzelnen Bürgers zu

wenig Aufmerksamkeit schenken“.2

Im Folgenden versuchen wir, das Verhältnis des Politischem und der Pluralität aufzuzeigen. Die

Pluralität ist für Arendt der handlungstheoretische Begriff. Deshalb stellt das politische Handeln

die Grundlage für die Individualität und Integration dar. Insofern kann man diese Pluralität als

offene Pluralität ansehen. Die Frage ist, auf welche Art und Weise das politische Handeln Selbst

und Welt miteinander verbindet und damit die plurale Einheit ermöglicht.

1.1 Gleichheit und Differenz

Arendt begründet den Begriff Pluralität zuerst in der ontischen Tatsache, „daß nicht ein Mensch,

sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern.“3 So stehen die Natalität

und Pluralität in so engem Zusammenhang, dass Pluralität „auf dem alles menschliche Zusam-

mensein begründenden Faktum der Natalität“ beruht.4 Die menschliche Mehrzahl oder die quan-

titative Pluralität wurzelt im biologischen Vorgang der Geburt, also „in der Tatsache, daß Men-

schenwesen, neue Menschen, wieder und wieder durch Geburt in der Welt erscheinen.“5

Ausgehend davon, dass das Geborensein des Menschen die existenzielle Voraussetzung für die

Pluralität ist, hat die Pluralität zwei entgegengesetzte Eigenschaften, die der Natalität innewoh-

nen: Gleichheit und Verschiedenheit. In der menschlichen Geburt drückt sich dieses paradoxe

Verhältnis aus, also sind wir gleich und zugleich unterschiedlich. In der Geburt sind „zwar alle

1 Gebhardt, 2004b, S. 306; Benhabib erläutert zu Recht im Folgenden: „Die Entdeckung der menschlichen Plura-

lität wird Arendt in die Lage versetzen, an den Begriffen des menschlichen Handelns und der menschlichen

Identität sowie schließlich der Kategorie der Welt grundlegende Änderungen vorzunehmen.“ (Benhabib, 1998,

S. 96). 2 Schmidt, 2000, S. 236.

3 VA, S. 17.

4 VA, S. 217.

5 DW, S. 206.

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219

dasselbe“ als Menschen.6 Diese gleichartige Pluralität bezeichnet Arendt als die Voraussetzung

für das kommunikative Handeln: „Ohne Gleichartigkeit gäbe es keine Verständigung unter Le-

benden, kein Verstehen der Toten und kein Planen für eine Welt, die nicht mehr von uns, aber

doch immer noch von unseresgleichen bevölkert sein wird.“7

Andererseits impliziert das Geborenwerden die Tatsache, „daß keiner dieser Menschen je einem

anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird.“8 In die Welt werden Menschen

als Einzelne, die einmalig, unverwechselbar und unwiederholbar sind, hineingeboren. Kommu-

nikatives Handeln zwischen Menschen wird durch ihre Gemeinsamkeit möglich, aber auch we-

gen ihrer Unterschiedlichkeit geradezu notwendig. Die grundlegende Differenz zwischen den

Menschen, die sich aus der Geburt an sich ergibt, bedeutet eine andere Vorbedingung der Plura-

lität. Darüber hinaus ist die Anerkennung dieser gebürtlichen Differenz die Grundlage für die

Pluralität. Von der Bedeutung der Verschiedenheit spricht Arendt: „Ohne Verschiedenheit, das

absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen, die ist, war oder sein wird, bedürfte

es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung; eine Zeichen- und Lautsprache

wäre hinreichend, um einander im Notfall die alten gleichen, immer identisch bleibenden Be-

dürfnisse und Notdürfte anzuzeigen.“9

Arendt geht noch weiter. Wie wir schon erwähnt haben, geht Natalität bei Arendt über ein ver-

borgenes privates Faktum hinaus. In einem zentralen Sinne zeichnet die Natalität das weltbezo-

gene Handeln aus, das wiederum die individuelle Einzigartigkeit und die spezifisch menschliche

Pluralität hervorbringt. In diesem Zusammenhang unterscheidet Arendt die Besonderheit, Ver-

schiedenheit und Einzigartigkeit voneinander. Die Besonderheit gehört zu jedem einzelnen

Exemplar einer Gattung. Solche Besonderheit ist allem Seienden eigen. Im Unterschied zur Be-

sonderheit gründet sich die Verschiedenheit in lebendigen Prozessen. Als Spezifikum des orga-

nischen Lebens10

ist die Verschiedenheit die Vorbedingung der Pluralität. Von der Verschieden-

heit unterscheidet Arendt die spezifisch menschliche Einzigartigkeit, die durch die aktive Arti-

kulation der Verschiedenheit entsteht.11

Die Einzigartigkeit sei nicht so sehr ein Tatbestand be-

stimmter Qualitäten oder entspreche nicht der einzigartigen Zusammensetzung bereits bekannter

6 VA, S. 17.

7 VA, S. 213.

8 VA, S. 17.

9 VA, S. 213.

10 Vgl. Bösch, 1999, S. 571.

11 Vgl. VA, S. 214.

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220

Qualitäten in einem Individuum, sondern beruhe vielmehr auf der Differenzierung von anderen

durch das Sprechen und Handeln.12

Die Differenzierung heißt sich selbst entwerfen. „Die Differenzierung ist Vollzugsmoment der

Pluralität.“13

Das Handeln ist der Vorgang der Differenzierung. Durch das Handeln entsteht et-

was, was vorher noch nicht existierte. Das Handeln bedeutet daher die „Geburt des Jemand“.14

Mit dieser Auffassung wird der diskursbedingte und anti-essentialistische Charakter der Plurali-

tät verständlich gemacht. Die Pluralität stellt für Arendt die Vielzahl des einzigartigen Jemand

dar: Die „menschliche Pluralität ist eine Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, daß jedes

ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist.“15

Im Sinne, dass die Pluralität der Effekt des men-

schlichen Handelns und Sprechens ist, gilt die Pluralität für den handlungstheoretischen Begriff:

„Handeln als Neuanfangen entspricht der Geburt des Jemand, es realisiert in jedem Einzelnen

die Tatsache des Geborenseins; Sprechen wiederum entspricht der in dieser Geburt vorgegebe-

nen absoluten Verschiedenheit, er realisiert die spezifisch menschliche Pluralität, die darin be-

steht, daß Wesen von einzigartiger Verschiedenheit sich von Anfang bis Ende immer in einer

Umgebung von ihresgleichen befinden.“16

Nun geht „die angeborene Pluralität“17

zur politischen Pluralität über. Entscheidend dafür ist die

öffentliche Welt, wo sich zwischen Menschen bildet. Politisches Handeln produziert Strukturen,

die gleichzeitig die Bedingungen für weiteres Handeln festlegen. Es schafft neue Beziehungen

und Realität. Das ist die gemeinsame Welt einzigartiger Wesen: „Menschen im eigentlichen

Sinn kann es, mit anderen Worten, nur geben, wo es Welt gibt, und Welt im eigentlichen Sinn

kann es nur geben, wo die Pluralität des Menschengeschlechts mehr ist als die einfache Multip-

likation von Exemplaren einer Gattung“.18

In diesem Zusammenhang bilden Menschen selbst

durch das politische Handeln die Bedingung der Pluralität, also Einzigartigkeit des Individuums

und die gemeinsame Welt. So ist Arendts Pluralitätsbegriff das konstitutive Prinzip der Bezie-

hung zwischen dem einzigartigen Individuum und der gemeinsamen Welt. Im Hinblick auf diese

fundamentale Annahme der Pluralität gewinnt Politik identitätsbildende wie weltbildende Di-

mension.

12

VA, S. 217; „Dies aktive In-Erscheinung-Treten eines grundsätzlich einzigartigen Wesens beruht, im Unter-

schied von dem Erscheinen des Menschen in der Welt durch Geburt, auf einer Initiative, die er selbst ergreift,

aber nicht in dem Sinne, daß es dafür eines besonderen Entschlusses bedürfte“ (VA, S. 214). 13

Bösch, 1999, S. 571. 14

VA, S. 217. 15

VA, S. 214. 16

VA, S. 217. 17

DTB, S. 768. 18

WP, S. 106.

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221

Im Phänomen des Totalitarismus zeigt sich das Verhältnis der politischen Welt zur Einzigartig-

keit des Individuums am klarsten. Wie gesehen, wird die individuelle Einzigartigkeit nur in der

Öffentlichkeit erreicht, also nur im Bezugsgewebe mit anderen. Differenzierung wird daher erst

durch die Teilhabe an der Öffentlichkeit politischer Diskurse herausgebildet. Totale Herrschaft

zielt auf die Vernichtung der Öffentlichkeit und damit der Individualität ab, indem sie jeden

Menschen auf eine sich immer gleichbleibende Identität von Reaktion reduziert. Vor allem in

dem Konzentrationslager ist die Pluralität Arendt zufolge aufs extremste zerstört. Der Zweck

des Konzentrationslagers besteht endgültig darin, alle Menschen zu den „gleichen Bestien“ zu

machen.19

Dort ist die Einmaligkeit und Einzigartigkeit der menschlichen Person überflüssig, so

dass jeder durch andere ersetzt werden könnte. Die „Zerstörung der Individualität“20

, die iden-

tisch mit der Ertötung der Fähigkeit des Menschen ist, mit anderen zu handeln, fällt mit der Ab-

schaffung der öffentlichen Welt zusammen.

Zusammenfassend lässt sich die Arendtsche emphatische Hervorhebung der Einzigartigkeit im

politischen Handeln keineswegs nicht als die Forderung nach dem politischen Elitismus verste-

hen, sondern als eine Kritik an der modernen homogenen Gesellschaft. Bei Arendt geht es um

die Gefahr einer alle Unterschiede einreißenden Gesellschaft, die die Bedingungen des Politi-

schen zerstören würde. Diese Gesellschaft negiert die Differenz der Individuen, indem sie jeden

Menschen zum leistungsorientierten Wesen macht.21

Im Gegensatz dazu geht es bei Arendts

Konzept der Pluralität um das Prinzip des Verbindens und Trennens, also um die Dialektik von

Gemeinsamkeit und Differenz.22

Individualität und gemeinsame Welt erscheinen nicht als Ge-

gensätze, sondern als gegenseitige Voraussetzungen. Das Verbinden und Trennen können sich

Arendts Ansicht zufolge nur durch das Handeln im politischen Raum vollziehen.

1.2 Der handlungstheoretische Begriff der Identität

Für die Analyse des Konzeptes der Pluralität Arendts sollte zunächst der Begriff der personalen

Identität thematisiert werden. Wenn von Identität die Rede ist, scheint sie „unsere moderne

Identitätskrise“23

unter der gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingung wiederzugeben. Was

hat die moderne Identitätskrise mit der Krise des Politischen zu tun? Für Arendt stellt die mo-

derne Krise der politischen Handlungsfähigkeit die Unmöglichkeit der Herausbildung personaler

Identität dar. Der handlungstheoretische Begriff der Identität bezeichnet einen identitätsstiften-

19

EU, S. 934. 20

EU, S. 935. 21

Vgl. d‟Arcais, 1997, S. 106f. 22

Vgl. Benhabib, 1997, S. 43. 23

DD, S. 186.

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222

den Charakter politischen Handelns. Der handlungstheoretische Begriff der Identität hellt die

persongebundene Dimension des Arendtschen Begriffs des Politischen auf.

1.2.1 Der Begriff der Identität

Bevor wir die Arendtsche Einstellung zum handlungstheoretischen Begriff der Identität untersu-

chen, beginnen wir damit, die klassische Bestimmung der Identität zu betrachten. Als ein klassi-

scher Begriff der Philosophie lässt sich der Begriff der Identität zuerst in der Tradition des au-

thentischen Selbstseins suchen. Die Identität wird in der wahrnehmbaren Sich – Selbstgleichheit

und in der Kontinuität begründet.24

Die Identität kommt in der Einheit des Selbst und in einem

fortdauernden Selbst zustande, das sich immer gleich bleibt. So versteht sich Identität als das

ein- und dasselbe Sein des einzelnen Individuums. Die hier gestellte Frage ist, was ein Einzel-

ding zu einem solchen macht. Mit diesem Identitätsproblem verbunden beschäftigt sich die phi-

losophische Tradition mit dem Substanzproblem.25

Schon in Platos Philosophie findet sich die

Bedeutung von Selbigkeit, die keine Relation meint, sondern unbezügliches Sein. Nach platoni-

scher Tradition besteht der Mensch aus einem Körper und einer davon getrennten substantiellen

Seele, die „das eigentliche Selbst des Menschen“ ist.26

So war das Problem der Identität die on-

tologische Grundfrage nach der Substantialität von Seiendem.

In der Neuzeit tritt an die Stelle der Substanz die Kontinuität des Bewusstseins. Anders gesagt

macht das Bewusstsein eine Person zu sich selbst. 27

Die Identität ist das im subjektiven Bewuss-

tsein aufgebaute und durchgehaltene Bild. Dieses neue Paradigma der Identität findet sich vor

allem bei John Locke. In seinem kurzen Text Über Identität und Differenz bestimmt John Locke

die durch Bewusstsein konstituierte Einheit von Gedanken und Handlungen als die Identität der

Person. Selbstbewusstsein wird als ein konstitutiver Bestandteil der hinreichenden Bedingung

für die personale Identität betrachtet.28

Daher versteht er die personale Identität als „ein denken-

des, verständiges Wesen, das Vernunft und Überlegung besitzt und sich selbst als sich selbst

betrachten kann.“29

24

Vgl. Lorenz, 1976, S. 144. 25

Vgl. Henrich, 1979, S. 137. 26

Aristoteles, NE 1166 a 16. 27

Im Gegensatz dazu hält Arendt fest: „Das Bewusstsein ist wesentlich sprunghaft und ohne Kontinuität. Die

Verwandlung oder Verfälschung des Gedächtnisses in das Bewusstsein schneidet den Umgang, die Kommuni-

kation des Menschen mit der Welt ab und ist darum das Zeichen der Isoliertheit des Individuums oder besser:

des Gefangenseins des Individuums in sich selbst. Bewusstsein aber könnte auch ein einziges Individuum ha-

ben, wenn es ganz ohne seinesgleichen zu leben gezwungen wäre.“ (DTB, S. 104). 28

Vgl. Thiel, 1997, S. 151. 29

Locke, 1968, S. 419; vgl. Thiel, 1997, S. 162f.

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In dieser Tradition ist die Identität unverwechselbares und einmaliges Wesen von der Geburt

aus. Im Gegensatz dazu bedeutet die personale Identität für Arendt mehr als die Verschiedenheit

oder Selbigkeit im Sinne eines, das sich immer gleich bleibt.30

Vielmehr zeigt sich die personale

Identität im Sinne von einem wandelbaren Selbst. Wie Arendt betont, „bleibt dieses Selbst im-

mer veränderlich und etwas unbestimmt. In der Form dieser Veränderlichkeit und Unbestimmt-

heit verkörpert dieses Selbst (…) die Menschlichkeit aller Menschen.“31

So beruht die personale

Identität bei Arendt auf der Einzigartigkeit des Selbst, die sich im Zusammenhandeln und -

sprechen aktiv artikuliert. Handelnd und sprechend schafft das Individuum „etwas noch nicht

Dagewesenes“.32

Anders gesagt bietet das Zusammenhandeln und –sprechen dem unbestimmten

und veränderlichen Selbst eine Möglichkeit, mit der eigenen Stimme zu sprechen und als das

einzigartige Wesen vor allen anderen erkennbar zu erscheinen.33

Die Frage der Identität ist für Arendt die Frage nach dem Wer. „Das eigentlich personale Wer“34

unterscheidet sich nicht nur von der selbstbewussten Subjektivität der Neuzeit, sondern auch

vom Was der Person, das sich als „Eigenschaften, Gaben, Talente, Defekte“35

darstellt, die der

Einzelne besitzt. Die personale Identität als die Frage des Wer ist abhängig von den Qualitäten

des politisch denkenden und handelnden Menschen, die vor anderen erscheint. In der Beziehung

zum Anderen erlangen die Menschen Arendt zufolge „ihre volle Wirklichkeit als Menschen,

weil sie nicht nur sind (…), sondern erscheinen.“36

Die Frage des Wer ist daher öffentlich.

Arendt schreibt: „Wir müssen erscheinen, sehen und gesehen werden, hören und gehört werden;

was wir zeigen, sind wir, nicht umgekehrt. Wir können nicht einfach umhergehen und uns zei-

gen, wie wir sind. Was wir sind, ist nicht wichtig, es ist privat.“37

Arendts These, die Identität des Menschen erscheine durch das Handeln und das Sprechen in der

Gemeinschaft mit anderen, steht der Vorstellung gegenüber, dass eine essentielle Identität exis-

30

Ein Denker wie Dieter Henrich schränkt den Begriff der Identität auf den Begriff der Selbigkeit ein: „Ist etwas

ein Einzelnes, so ist ihm Identität zuzusprechen. Es hat keinen Sinn zu sagen, daß es Identität erwirbt oder ver-

liert.“ (Henrich, 1979, S. 135). 31

PP, S. 390. 32

Krappmann, 1971, S. 11. 33

Vgl. PP, S. 389. 34

VA, S. 219; Die italienische Philosophin Adriana Cavarero argumentiert, dass Arendt die Frage des Wer in den

Mittelpunkt stellt: „Das Wer ist also eine unwiederholbare ausgesetzte und sich aussetzende Identität, eine in-

nerste und vollkommene Äußerlichkeit des Selbst, womit in der Terminologie Hannah Arendts das Wort Sub-

jekt mit seiner impliziten Substantialität sorgfältigst vermieden wird. Das Wer ist, mit anderen Worten, ganz

einfach die Bezeichnung für die Einzigartigkeit, die sich in der Beziehung und im Mit-Erscheinen zeigt und

sich damit zugleich von jeder anderen Einzigartigkeit unterscheidet.“ (Cavarero, 1997, S. 213). 35

VA, S. 219. 36

PP, S. 390. Hervorhebung im Original. 37

Unveröffentlichte Schriften Arendts; zit. nach Breier, 2001, S. 71; an anderer Stelle sagt Arendt: „Wenn ich

erscheine und von anderen gesehen werde, bin ich gewiß Einer; sonst könnte man mich gar nicht erkennen.

Und solange ich mit anderen zusammen und kaum meiner selbst bewußt bin, bin ich so, wie ich den anderen

erscheine.“ (DD, S. 182); „Meine Identität ist an meine Erscheinung und damit an die Anderen, denen ich er-

scheine, gebunden. Mein Selbst qua Identität gerade empfange ich von Andern.“ (DTB, S. 734).

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tiert. Relevant sind nicht die innerlichen und wesentlichen Instanzen, sondern allein die sichtbar

werdenden, sprechenden und handelnden Personen. Daher versteht Arendt „alle Identitäten als

Tun und nicht als Sein“.38

Die Identität beruht nicht auf „einer absoluten Selbstsucht“39

, sondern

auf der „Ex-position des Selbst“40

, in der sich eine konkrete differenzierte Einzigartigkeit

zeigt.41

Darin liegt kein Tod des Subjekts, sondern die Kritik einer bestimmten verdinglichenden

und substantialistischen Beschreibung des Subjekts. Hinter der erscheinenden Person gibt es

kein eigentliches Personales. Damit lehnt Arendt das „alte Vorurteil des Vorrangs des wahren

Seins vor der bloßen Erscheinung“42

ab. Das bedeutet, dass Arendt die Identität als einen politi-

schen Begriff verstehen, aber nicht als einen psychologischen und nicht als einen irgendwie

gearteten philosophischen Begriff.

1.2.2 Die Offenheit der Identität

Wie alle Angelegenheiten, die sich direkt im Miteinander der Menschen vollziehen, ist auch die

Frage des Wer durch die vieldeutige und unnennbare Ungewissheit gekennzeichnet, denn die

personale Identität besteht eben auch in der unvorhersehbaren Möglichkeit des Anders-werden-

könnens. Hier geht es um die Offenheit der Identität: „Das unverwechselbar einmalige des Wer-

einer-ist, das sich so handgreiflich im Sprechen und Handeln manifestiert, entzieht sich jedem

Versuch, es eindeutig in Worte zu fassen.“43

Die Offenheit der Identität ist politisch von herausragender Bedeutung, weil sie offener Politik

entspricht. Eine Identität, die auf die Anerkennung durch Andere angewiesen ist, wird als insta-

bil, zumindest als offener Prozess verstanden. Wenn die Identität a priori vorgegeben und fixiert

wäre, wären die Ausgrenzung und Zerstörung des Anderen und Fremden die notwendigen Be-

dingungen von Identität.44

Die Gefahr der Objektivierung der Identität kulminiert im Phänomen

des Totalitarismus. „Wer der zu Verhaftende und Liquidierende ist, was er denkt und plant, ist

von vornherein entschieden, sein wirkliches Denken und Planen interessiert keinen Menschen.

38

Pulkkinen, 2001, S. 48; die Verbindung von der Identität und dem Handeln bedeutet die menschliche Freiset-

zung in einem doppelten Sinne: „zum einen ihn zu befreien aus einer Ohnmachtsposition des Ausgeliefertseins

an von außen festgesetzte Determiniertheiten und Konformitäten und zum anderen ihn freizusetzen (…) für das

Recht auf Verantwortung für sich selbst und sein Handeln“ (Schües, 1997, S. 163). 39

VA, S. 220. 40

Cavarero, 1997, S. 223. 41

„Das Selbe ist nicht das Einerlei des Gleichen, sondern das Einzige im Verschiedenen und das verborgene

Nahe im Fremden.“ (DTB, S. 65). 42

DD, S. 37. 43

VA, S. 222. 44

Vgl. VA, S. 220; vgl. Nordmann,. 2002, S. 305; Schindler, 1999, S. 151.

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Was sein Verbrechen ist, ist objektiv, ohne alle Zuhilfenahme subjektiver Faktoren festges-

tellt.“45

Die ursprüngliche Fremdheit und Verschiedenheit der Vielen wird in der Öffentlichkeit gemil-

dert, weil sie sich darin als Gleichberechtigte anerkennen. Für Arendt ist die unbegrenzte Betei-

ligung an Kommunikations- und Handlungsprozessen die notwendige Bedingung der Möglich-

keit der Identität des Individuums. Deshalb, weil der politische Raum identitätsstiftende Bedeu-

tung hat, fordert Arendt eine Ausweitung der Zugangsberechtigung zum politischen Raum für

alle Menschen. Der Ausschluss vom Politischen bedeutet daher die Beraubung der Möglichkeit

der Identität, also „der Wirklichkeit, die durch das Gesehen- und Gehörtwerden entsteht.“46

Im

Gegensatz dazu ist die offene Politik möglichste Vorbedingung der offenen Identität.47

In Bezug auf den offenen Charakter der Identität besteht die fundamentale Bedeutung des Han-

delns für das menschliche Existieren in seiner identitätsstiftenden Qualität. „Ohne diese Eigen-

schaft, über das Wer der Person mit Aufschluß zu geben, wird das Handeln zu einer Art Leis-

tung wie andere gegenstandsgebundene Leistungen auch.“48

Die handlungstheoretische Be-

stimmung der Identität begründet die Doppeldimension der Identität: Zuerst hat die Identität

nicht mit der Selbstaneignung zu tun. Das Handeln ist maßlos, nicht die Realisierung vorgefaß-

ter Ziele und Zwecke. Keine Identität lässt sich daher planvoll und zielbewusst verwirklichen.

Die Identitätsbildung wird nicht als souveräner Akt begriffen. Damit verbunden ist die Identität

anders als „die Qualität des hergestellten Dinges“.49

Sie hat daher nichts mit der selbstmächtigen

Identität des souveränen Subjekts zu tun.50

So ist „das eigentlich personale Wer-jemand-

45

EU, S. 654. 46

VA, S. 57. 47

Auf diesen Charakter der Identität weist Lothar Krappmann im Folgenden hin: „Die vom Individuum für die

Beteiligung an Kommunikation und gemeinsamem Handeln zu erbringende Leistung soll hier mit der Katego-

rie der Identität bezeichnet werden. Damit das Individuum mit anderen in Beziehungen treten kann, muß es

sich in seiner Identität präsentieren; durch sie zeigt es, wer es ist. Diese Identität interpretiert das Individuum

im Hinblick auf die aktuelle Situation und unter Berücksichtigung des Erwartungshorizontes seiner Partner.

Identität ist nicht mit einem starren Selbstbild, das das Individuum für sich entworfen hat, zu verwechseln;

vielmehr stellt sie eine immer wieder neue Verknüpfung früherer und anderer Interaktionsbeteiligungen des In-

dividuums mit den Erwartungen und Bedürfnissen, die in der aktuellen Situation auftreten, dar.“ (Krappmann,

1971, S. 11). 48

VA, S. 221. 49

ZVZ, S. 301. 50

In diesem Zusammenhang vertritt Lübbe die These, dass die Identität nicht mit teleologischen Kategorien be-

schrieben werden könne. Die personale Identität ist für Lübbe nicht die Realisation einer Intention. Und daher

ist auch unsere eigene Identität nie das Produkt unserer Absicht (Lübbe, 1979b, S. 657). Darüber hinaus

schließt Lübbe, weil er die Identität nicht als das Resultat des Handelns ansieht, vom Bildungsprozess der Iden-

tität das Handlungssubjekt aus. Für ihn wird der Prozess der Bildung der eigenen Identität nur als autopoieti-

scher Prozess aufgefasst, in dem das Individuum selbst vollständig untergeht. Daher stellt Lübbe das Problem

der Identität nicht auf den Horizont der Pluralität der Handelnden. Die Geschichte als das Resultat des Han-

delns für Arendt stellt sich bei Lübbe als „Vorgänge ohne Handlungssubjekt“ dar (Lübbe, 1977, S. 69). Nun ist

der Handelnde im Verhältnis zu der Geschichte „nicht deren Handlungssubjekt, sondern lediglich das Refe-

renzsubjekt seiner Geschichte“ (Lübbe, 1979a, S. 280). Dem Begriff der Identität Lübbes mangelt das Moment

der individuellen Formung. Er erkennt keine Identität als Produkt des individuellen Handelns im ständigen öf-

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jeweilig-ist unserer Kontrolle darum entzogen, weil es sich unwillkürlich in allem mitoffenbart,

was wir sagen oder tun.“51

Zweitens beruht die Offenheit der Identität auf dem „subjektiven

Faktor“52

des politischen Handelns, die Person zu enthüllen.53

Das performative Handeln äußert

keine vorhergehende Essenz, sondern es enthüllt den Handelnden.54

Tatsächlich betont Arendt

den die Person enthüllenden Faktor des politischen Handelns im Gegensatz zur traditionellen

Einsicht, das politische Handeln in Bezug auf die Verwirklichung der materialistischen und ob-

jektiven Zwecke zu verstehen. Dabei wird der lediglich funktionalen und instrumentellen Cha-

rakter des politischen Akteurs hervorhebt. Was die offene Identität angeht, gehört die Gründung

der personalen Identität zur Wirklichkeit der Politik, die zwischen handelnden Personen stattfin-

det. Daher könne das Personhafte des Menschen nur da erscheinen, wo es eine öffentliche Welt

gibt.55

Buchheim stellt fest: „Weil damit teils das Person-Sein Voraussetzung der Politik ist,

teils Politik sich auf die Eigenarten des Person-Seins einlassen muß, kehren diese als typische

Erscheinungen praktizierter Politik wieder. Und insoweit lassen sich – umgekehrt – typische

Erscheinungen der Politik als Auswirkungen des Person-Seins auf die Politik erklären.“56

1.2.3 Die Narrativität der Identität

Die Verbindung von Identität und Pluralität ist durch den narrativen Charakter der Identität ge-

kennzeichnet. In VA § 25 beschreibt Hannah Arendt die narrative Eigenschaft des Handelns. Sie

fentlichen Raum: „Die Identität eines Individuums beruht demnach für Lübbe auf einer Geschichte von reinen

Kontingenzen, auf deren Verknüpfung das Individuum selbst keinerlei Einfluß mehr hat.“ (Meuter, 1993, S.

255). Obwohl Lübbe festhält, die Identität beruhe nicht auf zielkonsistenten Handlungen, berücksichtigt er aber

keine Unterscheidung von Herstellen und Handlung, die von Arendt vorgenommen wird. Daher erkennt er kein

Verhältnis des Handelns zur Identität. Darauf weist Angehrn hin: „Aus dieser Sicht wäre dann gegen Lübbe

festzuhalten, daß nicht schon die begriffliche Konvergenz von Handeln (…) und Geschichte, sondern erst die

Deutung des Geschichtsbegriffs nach dem spezifischeren Modell herstellender Tätigkeit für die Geschichtsphi-

losophie fatal ist.“ (Angehrn, 1985, S. 85). Das Handeln ist im Arendtschen Sinne die die Identität konstituie-

rende Form. Im Vergleich von Arendt und Lübbe stellt Angehrn fest: „Allerdings wäre es nach dem Konzept

von Arendt dann auch nicht nötig, den Handlungsbegriff so strikt vom Geschichtsbegriff fernzuhalten, den spe-

zifischen Begriff eines (politischen) Handelns nämlich, der sehr wohl eine Zukunftsausrichtung hat, aber darin

ein Sicheinlassen in gesellschaftliche und geschichtliche Zusammenhänge bezeichnet, die nicht unter der Kont-

rolle des Handelnden verbleiben, sondern von diesem freigelassen werden und sozusagen autonom einen Sinn

des Geschehens konstituieren, der erst im nachhinein festgestellt werden kann. Vielleicht wäre das Handeln in

diesem Sinn sogar als das eigentliche Medium der Realkonstitution von Geschichte anzusehen.“ (Angehrn,

1985, S. 85). 51

VA, S. 219. 52

VA, S. 225. 53

VA, S. 225f.; vgl. VA, S. 460, Anm. 8. 54

Vor allem Honig betont die performative Dimension des Handelns: „Das Performative und das Agonale wer-

den in Arendts Arbeit nicht zufällig miteinander verbunden. Das Politische ist bei Arendt immer agonal, weil

sie sich um ihrer Auffassung vom Selbst als Pluralität, von der Identität als performativer Produktion und von

der Handlung als Schaffung neuer Beziehungen und neuer Realitäten willen immer gegen die Anziehungskraft

des Expressiven wehrt“ (Honig, 1994, S. 61f.; vgl. Reist, 1990, S. 210; Villa, 1996, S. 52ff.). 55

MfZ, S. 85 ; vgl. EU, S. 371; VA, S. 224. 56

Buchheim, 1990, S. 97.

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selbst benutzt jedoch niemals die Bezeichnung Narrativität.57

Die Narrativität des Handelns liegt

am Wesen des menschlichen Handelns, die Geschichte herauszubilden, die erzählt werden kann:

„Diese bleibende Befindlichkeit, welche die Identität der Person ausmacht, enthüllt sich sich-

tbar, aber doch in spezifischer Ungreifbarkeit im Handeln und Sprechen, während sie greifbar

und gewissermaßen handhabbar in der Lebensgeschichte hervortritt; aber diese Lebensgeschich-

te liegt vollendet und damit potentiell wie ein Ding unter Dingen erst vor, wenn sie an ihr Ende

gekommen und der Träger tot ist. Das Wesen einer Person – nicht die Natur des Menschen

überhaupt (die es für uns jedenfalls nicht gibt) und auch nicht die Endsumme individueller Vor-

züge und Nachteile, sondern das Wesen dessen, wer einer ist- kann überhaupt erst entstehen und

zu dauern beginnen, wenn das Leben geschwunden ist und nichts hinterlassen hat als eine Ge-

schichte.“58

Die Narrativität sorgt „für eine gewisse Vereinheitlichung der unterschiedlichen Sinneffekte der

Erzählung“.59

Der Begriff der narrativen Identität bedeutet „die Einheit einer Person als die Ein-

heit einer bestimmten erzählten oder zumindest erzählbaren Geschichte“60

. Anders gesagt lässt

sich die Identität einer Person nicht mit abstrakten Kriterien wie etwas Wesentliches im Men-

schen verstehen, sondern nur in Bezug auf die jeweilige konkrete und erzählbare einzigartige

Lebensgeschichte des Individuums.61

Die Identität eines Individuums angeben heißt auf die Fra-

ge antworten: wer hat diese Handlung ausgeführt, wer ist der Handelnde? Diese Antwort kann

nur narrativ ausfallen: „Die erzählte Geschichte gibt das wer der Handlung an. Die Identität des

wer ist also selber bloß eine narrative Identität.“62

Handlungen sowie deren Akteure werden

nämlich durch Erzählungen identifiziert. Durch diese Identifizierung in narrativen Formen hat

der Mensch als der konkrete Einzelne im Gegensatz zur anonymen Handlung die Verantwortung

für sein Handeln zu übernehmen. Die Erzählung enthüllt den Täter und identifiziert, daß er han-

delt. „Narrativität meint die Art und Weise, auf die Handlungen zu individuellen Handlungen

werden und die Identität des Selbst sich konstituiert.“63

Die Narrativität der Identität hat Doppelcharakter: Zuerst ist die narrative Identität durch die

Passivität gekennzeichnet. Wie das Handeln auf die Anwesenheit anderer angewiesen ist und

daher nicht souverän ist, ist der Handelnde auch nicht Verfasser seiner eigenen Lebensgeschich-

57

Zur Bedeutung der Narrativität in Arendts politischem Denken; Straßenberger, 2005; Benhabib, 1988; Lenz,

2001, S. 203-239. 58

VA, S. 242; vgl. VA, S. 226f. 59

Ricoeur, 1991, S. 395. 60

Meuter, 1993, S. 10. 61

„Das Nichtmitgeteilte, das Nichtmitteilbare, das, was niemandem erzählt wurde und auf niemanden Eindruck

machte, das, was nirgends eingehet in das Bewußtsein der Zeiten und ohne Bedeutung in dem dumpfen Chaos

des unbestimmten Vergessen versinkt, ist verdammt zur Wiederholung.“ (RV, S. 104f.). 62

Ricoeur, 1991, S. 395. 63

Benhabib, 1995, S. 139.

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te.64

Obwohl die Geschichte das Resultat des Handelns ist, wird die Geschichte dagegen als

Werk eines Erzählers herausgebildet oder verfasst: „Kein Mensch kann sein Leben gestalten

oder seine Lebensgeschichte hervorbringen, obwohl ein jeder sie selbst begann, als er sprechend

und handelnd sich in die Menschenwelt einschaltete.“65

Andererseits hat die narrative Identität

auch aktive subjektive Dimension. Die narrative Identität beruht nicht nur darauf, die Geschich-

te als das vergangene Handeln zu erzählen, sondern auch auf dem gegenwärtigen narrativen

Handeln. In diesem Licht betrachtet ist die narrative Struktur der menschlichen Identität nicht

nur als „die unablässige Nacherzählung der Vergangenheit“66

zu bezeichnen.

Wenn die narrative Struktur ein politisches Organisationsprinzip ist, besteht ihre zentrale politi-

sche Bedeutung darin, dass die vergangenen Handlungen in Form der redenden und immer noch

beredeten Geschichten weiterleben. In der narrativen Struktur sind die Taten der Menschen vor

der Vergänglichkeit zu retten.67

Der Grund dafür, warum Geschichte und Erfahrung des Han-

delns erzählt werden müssen, ist: „nichts ist flüchtiger und vergeblicher als menschliche Worte

und Taten; wenn sie nicht erinnert werden, überleben sie kaum den Augenblick ihres Voll-

zugs“.68

Narrative Identität hat daher mit dem Interesse an der Unvergänglichkeit des Vergäng-

lichen zu tun. „Die Flüchtigkeit des Handelns, seine Gebundenheit an den immer einmaligen

Akt des Sprechens und die unmittelbare Interaktion machen eine narrative Tradierung notwen-

dig, ohne die sowohl die handelnden Personen selbst wie der Sinn eines Handlungsgeschehens

dem Vergessen anheim fallen würden.“69

In diesem Sinne ist das „Geschichtenerzählen“ für

Arendt „politisch“.70

So gesehen gehört die narrative Identität zur politischen Identität. Der öf-

fentliche Raum stellt daher „den öffentlichen Erzählraum“71

und damit den Raum politischer

Identität dar.

64

„Die wirkliche Geschichte, in die uns das Leben verstrickt und der wir nicht entkommen, solange wir am Le-

ben sind, weist weder auf einen sichtbaren noch einen unsichtbaren Verfasser hin, weil sie überhaupt nicht ver-

fasst ist.“ (VA, S. 231). 65

VA, S. 174. 66

Benhabib, 1998, S. 155. 67

In diesem Sinne war die antike Polis diese narrative Struktur. Nach Arendts Verständnis war die Polis ein Erin-

nerungsraum, so dass sich die Polis verstand als Organisation, um „die Taten der Menschen vor der Vergäng-

lichkeit zu bewahren“ (ZVZ, S. 58). 68

ZVZ, S. 105. 69

Straßenberger, 2005, S. 40. 70

Kohn, 1997, S. 31. 71

Althaus, S. 326.

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1.2.4 Die politische Identität

Wie wir oben gesehen haben, kommt es für die personale Identität auf das „Subjekt des Han-

delns und Sprechens“ an.72

Aber die Enthüllung des handelnden und sprechenden Subjekts ist

für Arendt „unwillkürlich“.73

Damit ist gemeint, dass die Person-Identität mit dem weltlichen

gemeinsamen Zwischenraum zu tun hat, der einen integrierenden Bestandteil des Miteinanders

darstellt. Und so spricht Arendt von „Intersubjektivität der Welt“74

.

Der Sinn der gemeinsamen Welt für Identität steht darin, dass die Objektivität der Welt das

menschliche Leben stabilisiert. Sie ist die Möglichkeitsbedingung von Neuanfängen und zu-

gleich von Kontinuität des Miteinanders. Der objektive Charakter der gemeinsamen Welt beruht

Arendts Ansicht zufolge auf der Pluralität der handelnden, urteilenden und meinenden Men-

schen.75

Der subjektive Charakter der Perspektiven und der Meinungen ist durch das Miteinan-

der in Schranken gehalten. Arendt sagt, „ohne den Erscheinungsraum und ohne ein Minimum an

Vertrauen auf Handeln und Sprechen als Weisen des Miteinander wäre für Menschen weder die

Realität der Außenwelt noch die ihrer eigenen Identität je wirklich vorhanden.“76

Der Erschei-

nungsraum ist ein Ort, wo sich der Mensch und die Welt „wirklich“ manifestieren.

In diesem Zusammenhang findet man den identitätsstiftenden Charakter des politischen Han-

delns nicht nur bei dem Aufschluss des Wer, sondern auch bei der Gründung und Bewahrung

des politischen Gemeinwesens. Arendt versteht das politische Handeln und Sprechen als das

Medium, in welchem erst die Erfahrung des Wer und zugleich des Wir möglich wird. Diese

doppelte Aufgabe des politischen Handelns wirkt wechselseitig. Die gemeinsame Welt lässt sich

als Gemeinsames des Wer, also als politisches Wir, verstehen. Das ist jedoch keine Negation

eines Wer. Das politische Wir beruht auf dem „wechselseitigen Sichtbarwerden des Wer einer

ist“77

. Wenn das Wer des Menschen sich auflöst und nicht mehr erscheint, geht das politische

Wir selbst in Stücke. Über diese Korrelation zwischen Wer und Wir, zwischen Person und Plu-

ralität formuliert Penta ausführlich: „Der Vorgang des Verfalls des Wir des Handelns kann zu-

gleich und alternativ als ein Schwund des im Handeln erscheinenden Wer beschrieben werden,

während sich das Verschwinden dieses Wer wiederum als Verfallserscheinung des Wir manifes-

72

VA, S. 220. 73

VA, S. 220 und S. 224. 74

DD, S. 59. 75

Vgl. Vollrath, 1977, S. 213. 76

VA, S. 264. 77

Baule, 1996, S. 96.

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tiert.“78

Wie wir gesehen haben, ist der Totalitarismus durch die Negation sowohl des Wer als

auch des Wir gekennzeichnet.

Der Begriff des Wir gehört zum Hauptelement des Arendtschen Konzepts der Pluralität. In DW

spricht Arendt vom „Wir, der wahren Pluralität des Handelns“79

. Dies Wir ist „nicht bloß eine

Erweiterung des dualen Ich-und-ich zu einem pluralen Wir“.80

Wenn das Wir auf der wahren

Pluralität des Handelns gegründet ist, nennt man es „das politische Wir“.81

Das plurale Wir wird

durch die Vielfalt des einzigartigen Wer, also durch das antagonistische Miteinander, gesichert.

Das plurale Wir oder die politische Pluralität meint „einen Jeden, aber gerade als Einzelnen, der

sich zwar einer besonderen Vereinigung einer Menge von Menschen handelnd anschließen

kann, aber von jedem anderen Menschen gerade unterschieden bleibt.“82

Es unterscheidet sich

daher von Allgemeinheit aller Menschen bei Rousseau und vom Gattungswesen bei Marx.

Hier lässt sich die Frage aufgreifen, wie sich das Wir hinsichtlich der vielen einzigartigen Per-

sonen konstituieren lässt. Wie lassen sich Menschen in „eine politische Identität“83

integrieren?

Die politische Identität beruht nicht auf Gemeinschaft, sondern auf einer geteilten Welt, die zwi-

schen den Individuen besteht. Das politische Wir ist die kommunikative Gemeinsamkeit.84

Auf

dem gemeinsamen Handeln und Sprechen im öffentlichen Raum gründet sich das politische

Wir.85

Sofern die Einheit des politischen Wir aus dem politischen Handeln entsteht, ist sie keine

absolute, sondern eine bedingte und eine gebrochene Gemeinsamkeit. Diese Gemeinsamkeit

unterscheidet sich sowohl von dem im politischen Feld repräsentierten allgemeinen Willen als

kollektiver Identität als auch von irgendeiner präexistenten substantiellen Zugehörigkeit. Wie

ihre Kritik am Nationalismus zeigt, lehnt Arendt den Begriff der Nation als die natürliche, prä-

politische Einheit des ursprünglichen Volkes ab.86

Nach der ideologischen Vorstellung des Na-

78

Penta, 1985, S. 133. 79

DW, S. 191. 80

DW, S. 191. 81

Vollrath, 1977, S. 45. 82

Vollrath, 1977, S. 45; ähnlich meint Szankay: „Wenn wir hier über das 'Wir' sprechen, so ist dabei weder von

etwas Substantiellem oder Kollektivem, noch über eine Art von Selbstbewußtsein die Rede. Das Wir, von dem

aus wir auch sprechen können, ist auch kein Kollektiv-Ego. Es ist (…) an das Andere gerichtet und gewendet“

(Szankay, 1995, S. 58). 83

Meier, 1979, S. 392. 84

Diese Gemeinsamkeit ist schließlich auch „nicht die Identität der immer schon Geeinten", sondern "das, worauf

sich Verschiedene und Unterschiedliche als das ihnen Gemeinsame geeinigt haben“, also eine „Gemeinsamkeit,

deren Stiftungsgrund gerade die bewahrte Differentialität ist.“ (Vollrath, 1990, S. 21 und 23). 85

Vgl. Assmann, 1992, S. 137f. 86

Angesichts des Nationalstaats scheinen Arendts Vorstellungen in Widerspruch zueinander zu stehen. Neben

der starken Kritik am Modell des Nationalstaats wird der Nationalstaat bei Arendt in Bezug auf das Menschen-

recht für positiv gehalten. Denn: „Nur innerhalb eines Volkes kann ein Mensch als Mensch unter Menschen le-

ben – wenn er nicht vor Entkräftung sterben will. Und nur ein Volk, in der Gemeinschaft mit anderen bewohnte

Erde eine von uns allen gemeinsam geschaffene und kontrollierte Menschwelt zu konstituieren.“(DT, S. 73).

Dies Spannungsverhältnis sieht Benhabib als die „Paradoxien des Nationalstaats in der modernen Welt“ an.

Benhabib macht uns darauf aufmerksam, dass Arendt die Unterscheidung zwischen jüdischer Heimat und der

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tionalismus ist „die Nation ein unvergänglicher Organismus, das Produkt einer unvermeidlichen

natürlichen Entfaltung angeborener Qualitäten; die Völker werden nicht als politische Organisa-

tionen, sondern als übermenschliche Persönlichkeiten betrachtet.“87

Die Durchsetzung des Prin-

zips des Nationalismus führt zur „Eroberung des Staates durch die Nation“.88

Daraus folgt, dass

die Frage der Identität allein am Kriterium der völkischen Verbundenheit, der natürlichen Ho-

mogenität, der nationalen Zugehörigkeit im Sinne der Abstammung entschieden wird. Im Ge-

gensatz dazu beruht das politische Wir für Arendt nicht auf dem einzelnen Bewusstsein der Zu-

gehörigkeit zu einer vorgängigen, nicht zur Disposition stehenden sozialen Bindung, sondern

auf der politischen Zugehörigkeit, die die Pluralität, die Differenz und den Meinungsaustausch

voraussetzt.89

Eine gemeinsame politische Identität ist nicht durch den gemeinsamen Interessen-

und Erfahrungshorizont einer Nation oder eines Volkes gegeben, sondern entsteht durch das

Versprechen als „die zentrale politische Fähigkeit“, die sich „überhaupt nur unter der Bedingung

der Pluralität betätigen (kann), der Anwesenheit von Anderen“.90

Das politische Wir wird nicht

als exklusives und geschlossenes System aufgefasst, das nur zum Ausschluss anderer führen

kann. Das politische Wir schließt jeden Herkunftspartikularismus aus, so dass die politisch

konstituierte Gesellschaft von vornherein für alle offen ist. Das politische Wir ist „inklusiv und

nicht exklusiv, auch wenn der Zugang zeitlich geregelt, sachlich kontingentiert und sozial kont-

rolliert ist“.91

Das politische Wir ist nicht für etwas zu halten, was ewig, unveränderlich, allgegenwärtig und

vollständig ist. Im Zusammenhandeln ist stets „ein Wir mit der Veränderung unserer gemeinsa-

men Welt beschäftigt“92

, „um neue Bezüge zu etablieren und zu festigen, und damit neue Reali-

tät zu schaffen“.93

Das politische Wir sei „keine göttliche Schöpfung, sondern eine von Men-

schen herbeigeführte Folge von Ereignissen“94

. Die gemeinsame Welt und Bezüge werden im

Idee eines jüdischen Nationalstaates übernimmt. Daher zeige sich der Volksbegriff in den zwei Sinnen, auf der

einen Seite „das Volk als „demos“, das sich auf die demokratische Selbstorganisation bezieht, und auf der an-

deren Seite das Volk als „ethnos“, das von gemeinsamer ethischer Herkunft ist (Benhabib, 1997, S.47ff. und

1998, S. 85f.; vgl. Blätter, 2000, S. 691ff.; Greven 1993). 87

DT, S. 159. 88

EU, S. 487. 89

„Arendt war deshalb skeptisch gegenüber politischen Bewegungen bzw. Gemeinschaften, die sich auf eine

gemeinsame Identität ihrer Mitglieder beriefen. Die Subsumierung der Einzelnen unter totalisierend gedachte

Identitäten, wie Geschlecht oder Kultur, Ethnie, Volk und Nation auf der Basis dieser Identitäten galt Arendt

als Indiz der Zerstörung des politischen Raums, dessen unabdingbare Prämisse ja gerade die Pluralität und in-

dividuelle Verschiedenheit der Menschen, die gleichzeitige Antwort zahlloser Aspekte und Perspektiven ist.“

(Hark, 2001, S. 155; vgl. Cavarero, 1997, S. 222). 90

VA, S. 311 und 302. 91

In diesem Punkt unterscheidet Brunkhorst Arendts Verständnis des politischen Gemeinwesens vom aristoteli-

schen Republikanismus (Brunkhorst, 1994a, S. 357). 92

DW, S. 190. 93

VA, S. 252. 94

DW, S. 193.

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aktuellen Kontext des Anfangens gestiftet und erneuert. In diesem Zusammenhang ist es wichtig

zu beachten, dass Arendts Verständnis der politischen Welt sich wesentlich vom antiken Ver-

ständnis des Weltbezugs unterscheidet. Die Welt ist in der antiken Philosophie als „die an sich

seiende Ordnung“95

verstanden, und das Individuum ist ein Glied der kosmischen Ordnung.96

Da die Welt für die griechische Philosophie eine absolute Realität und eine objektive Vernunft

ist, hängt die Existenz dieser Ordnung nicht von der menschlichen Handlung ab.97

Dagegen

orientiert sich das Urchristentum wegen des Misstrauens gegen die vergängliche irdische Welt

am Prinzip der unendlichen Person.98

Aus diesem Gegensatz zwischen Person und Welt ergibt

sich die disjunktive Beziehung zwischen Individuum und politischer Welt.

Aber für Arendt setzt die politische Welt das Handeln der konkreten Individuen voraus.99

Nach

ihrer Ansicht ist es ein Vorurteil, dass der eigentlich politische Raum immer und überall schon

vorhanden sei, wo Menschen zusammenleben.100

Die freie „Gründung und Erhaltung politischer

Gemeinwesen“101

werden nur durch das Handeln und Sprechen gespeist. Die politische Identität

ist nicht nur auf die Einrichtung von Mauern beschränkt, sondern ist abhängig von der Art und

Weise, wie Menschen im öffentlichen Zusammensein die gemeinsamen Angelegenheiten be-

handeln.102

Im Rückgriff auf die antike Polis sieht Arendt den Wesenszug der Polis in der Ge-

meinsamkeit der einzigartigen Personen und im pluralen Handeln der Menschen. Als die politi-

sche Welt war Polis in der Tat „eine Gemeinschaft von Bürgern, die sich nicht territorial ver-

stand, wie ein moderner Staat, sondern personalistisch“.103

Nicht das Territorium und seine

95

Schulz, 1992, S. 184. 96

Vgl. VA, S. 402. 97

„Die griechische Philosophie begann nicht bei der Reflexion auf das Handeln der Menschen, sondern mit dem

Nachdenken über Aufbau und Ordnung der Welt.“ (Dihle, 1985, S. 46). 98

Vgl. VA, S. 67f.; diese Verwandlung findet sich auch bei der Änderung des Personbegriffs. Das lateinische

Wort persona, auf das das deutsche Wort „Person“ zurückgeht, meint ursprünglich „Schauspieler“ und „Mas-

ke“, die der Schauspieler trägt. Aus dieser Grundbedeutung wird der Ausdruck persona in der übertragenen

Bedeutung als Rolle, die der Mensch in der Gesellschaft spielt, gebraucht (vgl. Fuhrmann, 1989, S. 269). Aber

im Anschluss an die theologische Diskussion der Spätantike bedeutet der Begriff der Person das Wesentliche

im Menschen. Person ist ein Individuum aufgrund seines Vermögens, Bewusstsein, Vernunft und Selbstbe-

wusstsein zu entwickeln. Dieses Verständnis lässt sich im Gegensatz zur öffentlichen als die subjektive Be-

gründung des Personseins bezeichnen. In dieser individualistischen Begründung des Personseins führen sich

die Freiheit der Person und ihre daraus abgeleitete Würde auf das einzelne vernunftbegabte Individuum zurück.

Auf dieser Auffassung der Person gründet sich die spezifisch neuzeitliche Vorstellung menschlicher Subjektivi-

tät und Individualität. Zum Personverständnis von Hannah Arendt, Die Sonning-Preis-Rede, 2005, S. 10; ÜR,

S. 136; MfZ, S. 85ff. 99

Vgl. Noetzel, 1999, S. 158. 100

Vgl. VA, S. 250; WP, S. 38. 101

VA, S. 18. 102

Siehe dazu Castoradis, 1990, S. 310; in ganz ähnlichem Sinne hält Vernant fest, „daß die polis nur in dem Ma-

ße existiert, wie sich in ihr eine Öffentlichkeit herausbildet.“ (Vernant, 1982, S. 46). 103

Wesel, 1997; zit. nach Weber-Schäfer, 2000, S. 14; Aristoteles stellt fest, dass eine Polis „eine Gemeinschaft

von Bürgern hinsichtlich einer Staatsverfassung“ ist und dass niemand bloß dadurch ein Bürger ist, dass er sei-

nen Wohnsitz an einem bestimmten Platz hat (Aristoteles, Pol. 1276 b 1 und 1275 a 7).

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Grenzen sowie die darin eingeschlossene Menschenmenge machen das Wesen der Polis aus.104

Als Öffentlichkeit sei die Polis „Organisationsstruktur ihrer Bevölkerung, wie sie sich aus dem

Miteinanderhandeln und – sprechen ergibt; ihr wirklicher Raum liegt zwischen denen, die um

dieses Miteinander willen zusammenleben, unabhängig davon, wo sie gerade sind.“105

1.3 Interdependenz von Selbst und Welt: Arendts Auseinandersetzung mit Heidegger

1.3.1 Der existenzphilosophische Ansatz in der politischen Theorie Arendts

Indem Arendt die menschliche Pluralität zu einem Grundprinzip des menschlichen Zusammen-

lebens erklärt, bietet sie uns einen Schlüssel, das Spannungsverhältnis zwischen Selbst und Welt

aufzulösen. Dabei erscheinen das Selbst und die Welt nicht als Gegensatz, sondern als gegensei-

tige Bedingungsgefüge.106

Dieses Konzept der Pluralität Arendts entzündet sich vor allem an der

Auseinandersetzung mit der Philosophie Heideggers.107

Welt und Selbst sind derart häufige und auch systematisch entscheidende Begriffe in der gesam-

ten Philosophie Heideggers. Aber in seinem philosophischen System stehen sie in einem unvert-

räglichen Widerspruchsverhältnis. Wie sich eine Gemeinsamkeit der Existenzphilosophen in der

Fokussierung auf das Individuum entdecken lässt,108

geht es auch bei Heidegger zunächst dar-

um, „die Möglichkeit und Notwendigkeit der radikalsten Individuation“109

festzuhalten. Damit

verbunden kennzeichnet der Terminus „Selbst“ das Individuum in seiner Innerlichkeit, also in

seinem spezifischen Verhältnis zu sich selbst.110

Die „grundsätzliche Schwierigkeit aller exis-

tenzphilosophischer Ansätze, die den konkreten einzelnen in den Mittelpunkt stellen, um von

dort aus den Anderen angemessen thematisieren zu können“,111

bleibt bei Heidegger.

Der Arendtsche Begriff der Pluralität vermittelt zwischen der Welt und dem Selbst. Die pluralis-

tische Welt bietet bei Arendt dem Selbst die Chance, kommunikative Dynamik zu entfalten, und

104

Zur Differenzierung zwischen neuzeitlicher Staat und Polis siehe Ottmann, 2001, S. 9f. 105

VA, S. 249f. 106

Vgl. WP, S. 169. 107

Arendts unmittelbare philosophische Diskussion mit Heidegger findet sich in drei Schriften. Dazu gehören die

Aufsätze, Was ist Existenzphilosophie, eine Würdigung zu Heideggers 80. Geburtstag 1969 und eine Untersu-

chung zur Rolle des Willens in Heideggers Werk in Vom Leben des Geistes. 108

Die existenzphilosophischen Denker beziehen sich alle Arendts Ansicht zufolge mehr oder weniger auf Sören

Kierkegaard: „Mit Kierkegaard fängt die moderne Existenzphilosophie an. Es gibt nicht einen Existenzphiloso-

phen, auf den sein Einfluß nicht nachweisbar wäre“ (WE, S. 61). Sein Denken richtet sich gegen das Hegelsche

Gedankengebäude: „Dem Hegelschen System, das das Ganze zu fassen und zu erklären prätendierte, setzte er

den Einzelnen, den individuellen Menschen entgegen, für den in dem vom Weltgeist dirigierten Ganzen weder

Platz noch Sinn gelassen war“ (WE, S. 61). 109

Heidegger, SZ, S. 38. 110

Kierkegaard sagt: „Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Der Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst?

Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“ (Kierkegaard, 1995, S. 9). 111

Speth, 1996, S. 78.

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daher ist sie konstitutiv für das Selbst. Anders gesagt macht die Bedingung der Pluralität ein

Individuum zu einem einzigartigen Selbst. Im Gegensatz zu Arendt bemerkt Heidegger aber

keine Interdependenz zwischen der Welt und dem Selbst. In diesem Punkt stellt Benhabib einen

Abstand zwischen der Arendtschen Theorie des Politischen und der heideggerschen Existenz-

philosophie fest: „Als sie (Arendt: H. P.) die Existenzphilosophie schließlich ablehnte und den

Heideggerschen Welt-Begriff umgestaltete, setzte sie das Mitsein-in-der-Welt oder die Bedingt-

heit der menschlichen Pluralität wieder ins Zentrum unserer Erfahrung von Weltlichkeit ein. Die

Entdeckung menschlicher Pluralität als einer fundamentalen Existenzbedingungen ist Arendts

wahre Antwort auf die Existenzphilosophie, in der sie geschult war, und ihre Antwort auf deren

eindrucksvollsten Vertreter, Martin Heidegger.“112

Der Einfluss von Heideggers philosophischen Konzeptionen auf Arendts politisches Denken ist

trotzdem nicht zu leugnen.113

So betont man, dass sich die Verwurzelung Hannah Arendts in der

deutschen Existenzphilosophie zum Verständnis der Arendtschen politischen Theorie unent-

behrlich untersuchen lässt.114

In der Tat verdankt ihm Arendt die grundlegenden Kategorien wie

Welt, Selbst, Tod, Sterblichkeit und Unsterblichkeit. Dieser Einfluss lässt sich, wie Arendt

selbst einräumt, unter anderem anhand von VA verdeutlichen. Anlässlich der Veröffentlichung

von ihrem Buch VA schreibt Arendt an Heidegger: „Du wirst sehen (…), daß das Buch keine

Widmung trägt. Wäre es zwischen uns je mit rechten Dingen zugegangen (…), so hätte ich Dich

gefragt, ob ich es Dir widmen darf; es (VA: H. P.) ist unmittelbar aus den ersten Marburger Ta-

gen entstanden und schuldet Dir in jeder Hinsicht so ziemlich alles.“115

So könnte man die poli-

tische Theorie Arendts als den existentiellen Entwurf des Politischen, also „als die politische

Anwendung der Existenzphilosophie“, interpretieren. 116

Aber es darf nicht übersehen werden, dass Arendt, auch wenn Heideggers Philosophie auf ihr

politisches Denken Einfluss hatte, durch die kritische Auseinandersetzung mit den philosophi-

schen Begriffen Heideggers ein eigenständiges „Welt- und Selbstverständnis“ antizipiert, das

von Heidegger abweicht.117

Das drückt Rüdiger Safranski in der ausgezeichneten Formulierung

aus: „Auf das Vorlaufen in den Tod wird sie antworten mit einer Philosophie der Gebürtlichkeit,

112

Benhabib, 1998, S. 96. 113

Zum Überblick über Arendts philosophische Beziehung zu Heidegger siehe vor allem Thomä, 2003, S. 397-

402; Vollrath, 1988, S. 357-372; Barley, 1990, S. 39-60; Barash, 1989, S. 112-127; Sauerland, 1992, S. 610-

621; Pöggeler, 1999, S. 138-148; Grunenberg, 2008, S. 49-69. 114

Vgl. Mommsen, 2007, S. 35; Jay, 1978, S. 348-364; Söllner, 2006, S. 114ff.; Parekh, 1981, S. 177. 115

BAH, S. 149; vgl. Eittinger, 1995, S. 121. 116

Jay, 1978, S. 351ff.; vgl. Parekh, 1981, S. 183f.; im Hinblick auf diese Interpretation sieht Jay in der politi-

schen Theorie Arendts totalitäres Element, das sich im sogenannten „politischen Existentialismus“ zeigt. Beim

politischen Existentialismus geht es um „eine unmittelbare Politisierung existentiellen Denkens durch einfache

Analogiebildung zwischen den Bedingungen individueller und politischer Existenz“ (Schnädelbach, 1992a, S.

352). 117

Meints, 2008, S. 73; vgl. Saner, 1997, S. 105; Benhabib, 1998, S. 171.

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235

auf den existentiellen Solipsismus der Jemeinigkeit wird sie antworten mit einer Philosophie der

Pluralität; auf die Kritik der Verfallenheit an die Welt des Man wird sie antworten mit dem amor

mundi. Auf Heideggers Lichtung wird sie antworten, indem sie die Öffentlichkeit philosophisch

adelt.“118

So gesehen wäre Hannah Arendt, wenn man sie so nennen könnte, „die einzige exis-

tenzphilosophische Denkerin, die radikal die Begrenztheit der Philosophie hinsichtlich der Poli-

tik gesehen und die Politik aus sich selber neu begründet hat.“119

1.3.2 Das weltlose Selbst

Arendt favorisiert in erster Linie Heideggers Idee der „Destruktion der Tradition“120

. Wenn sie

das Selbst als Wer im Unterschied zum Was versteht, ist sie von Heidegger geprägt, der die

„Destruktion der ontologischen Überlieferung“ zur Bedingung einer „wahrhaften Konkretion

der Seinsfrage“121

macht. Dabei geht es um den „Vorrang der existentia vor der essentia“122

, der

im Kern der heideggerschen Existenzphilosophie betont wird. Schließlich wird „das Wort Sein

durch das Wort Existenz ersetzt“123

. Im Gegensatz zur Fundamentalontologie, die stets von be-

reits vorgebildeten, gewissermaßen fertigen Individuen ausgeht, ist für Heidegger das Wer kein

Vorhandenes. Arendt selbst formuliert: „In Sein und Zeit ist der Begriff des Selbst die Antwort

auf die Frage, wer der Mensch ist im Unterschied zu der Frage, was er ist; das Selbst ist der Be-

griff für die Existenz des Menschen im Unterschied zu seinen jeweiligen Eigenschaften.“124

In

der Tat sagt Heidegger in Sein und Zeit: „Mit dem Ausdruck Selbst antworten wir auf die Frage

nach dem Wer des Daseins. Die Selbstheit des Daseins wurde formal bestimmt als eine Weise

zu existieren, das heißt nicht als ein vorhandenes Seiendes.“125

Aber in ihrem Aufsatz WE setzt sich Arendt kritisch mit Heideggers Selbst auseinander. Obwohl

Heidegger im Hinblick auf den Begriff der Geschichtlichkeit Abschied vom metaphysischen

Denken nimmt,126

bleibe er noch bei der Tradition des philosophischen Denkens, weil er den

118

Safranski, 1994, S. 163. 119

Heuer, 1996, S. 108. 120

Heidegger, SZ, S. 24; im Gegensatz zum kritischen Blick auf die Arendtschen existentialphilosophischen

Denkmotive vertreten Autoren wie Vollrath, Bluhm und d‟Arcais die Ansicht, dass Arendt im existentialphilo-

sophischen Ansatz das politische Denken als eine antimetaphysische Form entwarf (vgl. Vollrath, S. 19;

Bluhm, 2003, S. 70; d‟Arcais, 1993, S. 27f.). 121

Heidegger, SZ, S. 26. 122

Heidegger, SZ, S. 43. 123

WE, S. 49. 124

DW, S. 173. 125

Heidegger, SZ, S. 267. 126

In einem Vortrag, gehalten auf der Tagung der „American Society of Political Scientists“, führt Hannah Arendt

selbst aus, was sie von Heidegger gelernt hat und warum sie von ihm abweicht. Was das politische Denken be-

trifft, findet Arendt den heideggerschen Verdienst in seinen zwei Begriffen von Geschichtlichkeit und Welt, die

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236

Menschen nicht als ein handelndes Wesen versteht.127

Heideggers Philosophie endet daher im

Versuch, „mit den neuen Inhalten systematische Philosophie durchaus im Sinne der Tradition

wieder zu beleben.“128

Nach dem Bericht von Young-Bruehl pflegte Arendt über Heidegger zu

sagen, dass er nicht in der Lage war, einen Neuaufbau zu leisten,129

weil er die Welt nicht als

Zwischenraum für und durch das menschliche Handeln sah. Arendts Auffassung zufolge erweist

sich das Selbst Heideggers daher als weltlos.

Für Heidegger äußert sich die Seinsgeschichte „im Denken des Handelnden“,130

während bei

Arendt die Lebensgeschichte das Resultat des Handelns selbst ist. Bei ihm bezeichnet sich daher

das Denken selbst als das Handeln, nämlich die „rein innere Handlung“131

. Dazu sagt Arendt:

„Bei Heidegger hat dieser Niemand, der angeblich hinter dem Rücken der handelnden Men-

schen am Werke ist, eine konkrete Verkörperung in der Existenz des Denkens gefunden, der

handelt, während er nichts tut; natürlich eine Person, die sogar als Denker auszumachen ist –

was freilich nicht bedeutet, daß sie in die Welt der Erscheinungen zurückgekehrt wäre. Der

Denker bleibt der solus ipse in existenziellem Solipsismus, nur daß nun das Schicksal der Welt,

die Seinsgeschichte, von ihm abhängt.“132

Der Denker ist nichts anderes „als das eigentliche

Selbst“133

, weil sich das Wesen des Seins im Denken enthüllt. Das Selbst ist in der Identifizie-

rung des Denkens mit dem Handeln das Subjekt des Denkens. Arendts Ansicht zufolge ist die

Philosophie für Heidegger „die ausgezeichnete existentielle Seinsmöglichkeit des Daseins“134

in

einer Umformulierung der aristotelischen Tradition, in der der Bios theoretikos als die höchste

Möglichkeit des Menschen bezeichnet wird.135

Das eigentliche reine Selbst wäre das Sein des

Menschen nur, „wenn es sich aus diesem seinen In-der-Welt-sein auf sich selbst zurückziehen

könnte“.136

von den traditionellen Perspektiven abweichen (Arendt, Concern with Politics in Recent European Philosophi-

cal Thought, in; Hannah Arendts Papers; zit. nach Barash, 1989, S. 112). 127

Im Gegensatz zu dieser Auffassung hält Roberto Esposito Heideggers Philosophie grundsätzlich für eine Philo-

sophie des Handelns, die die Handlung als ursprüngliche Offenheit des Daseins begreift. In diesem Zusammen-

hang formuliert er im Folgenden: „Arendts eigene Auffassung von Politik als ursprünglicher Pluralität wäre

ohne Rücksicht auf diese Wendung nicht zu verstehen; sie bezieht sich auf Heideggers Behauptung vom onto-

logischen Primat der praxis über die theoria, die den Ausgangspunkt der Existenzialanalytik bildet. Wenn das

Dasein zuallererst Handeln ist, so kann sich dies nur aus der Beziehung zum anderen ergeben.“ (Esposito,

1997, S. 553). 128

WE, S. 65. 129

Young-Bruehl, 1986, S. 643. 130

DW, S. 172; im folgenden Satz kann man das Verhältnis zwischen dem Denken und dem Handeln bei Heideg-

ger ablesen: „Das Denken handelt, indem es denkt.“ (Heidegger, 1969, S. 145; zit. aus Thomä, 2000, S. 179). 131

DW, S. 176. 132

DW, S. 178. 133

DW, S. 178. 134

WE, S. 69. 135

Vgl. WE, S. 69. 136

WE, S. 70; Heidegger sagt: „Das Dasein ist sein Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses Selbst geht.“ (Hei-

degger, SZ, S. 191).

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237

Arendts Auffassung zufolge wertet Heidegger den Begriff des Handelns ab und ignoriert ihn.

Darüber hinaus wolle Heidegger, wie er in Sein und Zeit erklärt, die Beschäftigung mit dem

Terminus Handeln absichtlich vermeiden.137

Dazu bemerkt Sergio Belardinelli: „Was das Han-

deln und die spezifischen Kennzeichen anlangt, die Hannah Arendt ihm zuschreibt, ist es

schwer, irgendeinen expliziten Zusammenhang mit Heidegger zu finden.“138

Heideggers Selbst

ist ganz unabhängig vom Handeln und deshalb völlig isoliert von anderen. Heideggers Selbst

legt daher „eine idealistische Radikalisierung des nicht – handelnden Selbst“139

dar. Deshalb

wird die Wer-Frage für Heidegger in ganz anderer Art und Weise beantwortet als bei Arendt.

Diesen Unterschied führt Paul Ricoeur aus: „Bei Heidegger gehört die Untersuchung des Wer in

den gleichen ontologischen Bezirk wie die der Selbstheit. Hannah Arendt greift dies auf, und sie

verknüpft die Wer-Frage mit einer eigentümlichen Spezifizierung des Handlungsbegriffes (…).

Bei Heidegger ist es die Abhängigkeit der Problematik des Selbst vom Existenzial Dasein, die

das Wer in das gleiche ontologische Gravitationsfeld hineinzieht. Was aber Hannah Arendts

Wer anbelangt, so ist es durch eine Handlungstheorie vermittelt“.140

So betrachtet ist Dana Vil-

las Einschätzung irreführend, dass Heideggers Werk als eine Art von Auftakt zu Arendts Wie-

dergewinnung des Handelns zu begreifen ist.141

Die heideggersche „Ersetzung von Handlungen durch Seinsweisen“142

hat nach Arendt drei Fol-

gen. Hinsichtlich der Unabhängigkeit des Wer vom Handeln wird der Mensch zuerst auf bloße

Funktion der Seins reduziert. Heidegger spricht nie vom Menschen, sondern ausschließlich vom

Dasein, das gemäß seiner „Seinsmodi“ inmitten eines Vorgegebenen funktioniert. Als Hirt des

Seins soll der Mensch seinsgemäß funktionieren. Bei Heidegger tritt daher an die Stelle von

Freiheit, die ein Wesenszug menschlichen Handelns mit anderen ist, ein Dasein.143

„Es entfallen

alle jene Charaktere des Menschen, die Kant als Freiheit, Menschenwürde und Vernunft vorläu-

fig skizziert hatte, die aus der Spontaneität des Menschen entspringen und darum phänomenolo-

gisch nicht nachweisbar sind, weil sie als spontane mehr sind als bloß Funktionen des Seins und

weil der Mensch in ihnen mehr intendiert als sich selbst“.144

So fährt Arendt fort: „Der Heideg-

gersche Funktionalismus (…) enden schließlich nur dabei, ein Modell vom Menschen zu ent-

137

Vgl. SZ, S. 300; vgl. DW, S. 176. 138

Belardinelli, 1990, S. 138. 139

Penta, 1985, S. 136. 140

Ricoeur, 1996, S. 76. 141

Vgl. Villa, 1996, S. 211. 142

Thomä, 2000, S. 191. 143

Vgl. WE, S. 68. 144

WE, S. 68; vgl. Thomä, 2000, S. 199.

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238

werfen, demzufolge der Mensch noch besser inmitten eines Vorgegebenen funktionieren würde,

weil er von aller Spontaneität befreit wäre.“145

Zweitens ist Heideggers Selbst durch seine Ausschaltung der anderen gekennzeichnet. Dies be-

deutet die fehlende Rückbindung an eine mit anderen geteilte und verantwortete Praxis. In Sein

und Zeit schreibt Heidegger: „Das Wer beantwortet sich aus dem Ich selbst, dem Subjekt, dem

Selbst. Das Wer ist das, was sich im Wechsel der Verhaltungen und Erlebnisse als Identisches

durchhält und dabei auf diese Mannigfaltigkeit bezieht.“146

An die Stelle des Handelns tritt die

Selbsterfahrung des Denkens in Bezug auf sich selbst. So erscheint die romantische Subjektivi-

tät wieder, denn das Dasein im Menschen ist ja nichts anderes als die für sich gesetzte Dimensi-

on der reinen „Innerlichkeit“.147

Heideggers Selbst erweist sich als introspektiv. Arendt weist

darauf hin: „Der wesentlichste Charakter dieses Selbst ist seine Selbstischkeit, seine radikale

Abtrennung von allen, die seinesgleichen sind“.148

Die Eigentlichkeit des Selbst beruht für Hei-

degger auf der „Treue der Existenz zum eigenen Selbst“149

, während die Realität des Selbst im

Arendtschen Sinne auf die Gegenwart anderer angewiesen ist. Daraus ist festzustellen, dass das

heideggersche Selbstsein „der eigentliche Gegenbegriff zum Menschen“150

ist, weil der Begriff

der Menschen die Pluralität der Menschen stets in sich einschließt.151

Benhabib stellt fest, „daß

Heideggers Unfähigkeit, die menschliche Bedingtheit der Pluralität zu artikulieren, bei ihm dazu

führte, daß er eine Vorstellung äußerst isolierter Selbstheit entwickelte“.152

Im Rahmen der radi-

kalen Isolierung des Individuums besteht die Welt aus einer Mehrzahl von beziehungslosen

Selbsten. Angesichts des isolierten Selbst und des Fehlens der Pluralität in Heideggers Dasein

lässt sich eine Gemeinschaft nur noch durch Rückzug in ein „Überselbst“ wie Volk und Erde

jenseits von Zusammenhandeln und –sprechen herstellen. Diese Idee ist Arendts Ansicht zufol-

ge eine der intellektuellen Quellen des modernen Totalitarismus.153

145

WE, S. 69. Hervorheben im Original. 146

Heidegger, SZ, S. 114. 147

Helmuth Plessner hat Heidegger in die Geschichte der deutschen Innerlichkeit eingeordnet (Plessner, 1985, S.

239). Darauf weist Habermas auch hin: „Denn das solipsistisch angesetzte Dasein besetzt wiederum den Platz

der transzendentalen Subjektivität. Dies erscheint zwar nicht mehr als omnipotentes Ur-Ich, aber doch noch als

die Urhandlung der menschlichen Existenz, in der alles Existieren inmitten des Seienden gewurzelt sein muß.

Dem Dasein wird die Autorschaft für das Entwerfen der Welt zugemutet.“ (Habermas, 1998b, S. 179). 148

WE, S. 71. 149

Heidegger, SZ, S. 391; „Sich selbst treu sein heißt nichts anders als: der eigenen Originalität treu sein, und

diese ist etwas, was nur ich selbst artikulieren und ausfindig machen kann. Indem ich sie artikuliere, definiere

ich zugleich mich selbst. Damit verwirkliche ich eine Möglichkeit, die ganz eigentlich mir selbst gehört. Dies

ist Auffassung im Hintergrund des modernen Authentizitätsideals und der Ziele Selbsterfüllung oder Selbst-

verwirklichung, in deren Sinne das Ideal normalerweise formuliert wird.“ (Taylor, 1995, S. 39). 150

WE, S. 72. 151

Vgl. EU, S. 604. 152

Benhabib, 1998, S. 172. 153

Vgl. WE, S. 73; vgl. MfZ, S. 178; zum Zusammenhang der heideggerschen Philosophie mit der totalitären

Herrschaft im Hinblick auf Arendts Analyse des Totalitarismus siehe Erler, 2002, S. 347; Benhabib, 1998, S.

172; Brunkhorst, 1999, S. 50f.

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239

Drittens laufen die heideggersche Vernachlässigung des menschlichen Handelns und die Ver-

herrlichung des absoluten Selbigkeit auf die Orientierung am Tod als Eingehen ins Alleine hi-

naus. Der Tod versteht sich bei Heidegger als ein auf sein Selbst bezogenes absolut Vereinzel-

tes: „Der Tod mag zwar das Ende des Daseins sein; er ist zugleich der Garant dafür, daß es letz-

tlich auf nichts ankommt als auf sich selbst“.154

Im Tod realisiere der Mensch „das absolute

principium individuationis“.155

Der Tod wird also absolut verinnerlicht.156

Der Heideggerschen

Todesauffassung fehlt daher die Dimension des Anderen. In diesem Zusammenhang setzt Hei-

degger die philosophische Tradition seit Plato fort. Im Gegensatz zu solipsistischer Ontologie

Heideggers macht die Natalität Arendts den Menschen zu einem Individuum, das des Handelns

mit anderen fähig ist.157

Handeln als Neuanfang bedeutet die Verwirklichung der Geburt. Hel-

mut Dubiel weist darauf zu Recht hin: „Das Existential des gerade Geborenen, des Neuan-

kömmlings in der Welt prägt ihren Begriff des Handelns so sehr, daß sich mit einer gewissen

Überspitzung sagen ließe, daß Menschen immer dann wiedergeboren werden, wenn sie öffent-

lich handeln. Dieser der Welt zugewandte Existentialismus steht in einem deutlichen Kontrast

zu Heideggers nekrophiliem Sein zum Tode. Während dieser tragischen Weltsicht eine dramati-

sche Abwertung alles Politischen und Öffentlichen eingeschrieben ist, eignet sich Arendts Phi-

losophie, die politisches Handeln am Paradigma des Geborenwerdens entwickelt, zum Ver-

ständnis des schwierigen Phänomens weltimmanenter Legitimität.“158

Im Gegensatz zum „existenzialen Solipsismus“159

in der Heideggerschen Todesauffassung be-

schreibt die Weltbezogenheit des Selbst Arendt zufolge keinen Abfall vom Selbst, sondern des-

sen ursprüngliche Wirklichkeit. Die mit anderen gemeinsame Welt ist eine möglichste Bedin-

gung zur Erhellung des Selbst. Mit anderen Worten: Das Selbst lebt und bildet sich im weltli-

chen Modus der Interaktion mit seinesgleichen. „So wie ich von mir selbst als einem Selbst nur

weiss, weil es Spiegel gibt, so bin ich ein Selbst, identisch Eins, nur weil ich als solches von

Anderen angesprochen, anerkannt usw. werde.“160

Am Ende ihres Essays WE spricht Arendt im

Einklang mit Jaspers vom Verhältnis des Selbst und der menschlichen Pluralität: „Die Existenz

154

WE, S. 72. 155

WE, S. 72. 156

Heidegger erklärt abschließend: „Die Charakteristik des existenzial entworfenen eigentlichen Seins zum Tode

lässt sich dergestalt zusammenfassen: Das Vorlaufen enthüllt dem Dasein die Verlorenheit in das Manselbst

und bringt es vor die Möglichkeit, auf die besorgende Fürsorge primär ungestützt, es selbst zu sein, selbst aber

in der leidenschaftlichen, von den Illusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich äng-

stigenden Freiheit zum Tode.“ (Heidegger, SZ, S. 266. Hervorhebung im Original). 157

Eine kritische Haltung Arendts gegenüber Heideggers Begriffen zeigt sich Young-Bruehls Auffassung zufolge

bereits in ihrer Dissertation: „Während Heideggers Werk um die zukünftige Todeserfahrung kreist, legt

Arendts Dissertation, auch wenn sie auf Heideggers Zeitmodell beruht, ebenso viel Gewicht auf die Geburt, auf

das, was sie später Natalität nannte.“ (Young-Bruehl, 1986, S. 126f.). 158

Dubiel, 1994, S. 51. 159

DW, S. 174; vgl. Heidegger, SZ, S. 188. 160

DTB, S. 735.

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240

selbst ist wesensmäßig nie isoliert; sie ist nur in Kommunikation und im Wissen um andere

Existenzen. Die Mitmenschen sind nicht (wie bei Heidegger) ein zwar strukturell notwendiges,

aber das Selbstsein notwendig störendes Element der Existenz; sondern umgekehrt nur in dem

Zusammen der Menschen in der gemeinsam gegebenen Welt kann sich Existenz überhaupt ent-

wickeln.“161

1.3.3 Die Welt als Gegensatz des eigentlichen Selbst

Der Begriff der Welt bildet das Zentrum der heideggerschen Philosophie. Im Begriff der Welt

Heideggers sieht Arendt eine Möglichkeit für die philosophische Wendung gegen das isolierte

Subjekt.162

Heideggers Begriff „In-der-Welt-Sein“ war in der Tat ein Versprechen zur Überwin-

dung des bewusstseinsphilosophischen Subjektivismus, weil für Heidegger das In-der-Welt-Sein

immer schon ein Mitsein mit Anderen ist.163

In diesem Zusammenhang hat dieser Begriff für

Arendt einen Ansatz zur politischen Interpretation der Welt geliefert: Die heideggersche Analy-

se des Menschenseins unter dem Gesichtspunkt eines In-der-Welt-Seins war die philosophische

Möglichkeit, den politischen Bereich zum Gegenstand des Denkens zu machen.164

Arendt sagt:

„Heidegger selbst hat den ersten Schritt in diese Richtung getan, als er in Sein und Zeit begann,

das menschliche Dasein durch eine ausgedehnte phänomenologische Beschreibung des Alltags-

lebens zu analysieren, wobei dieses Leben die Einsamkeit nicht kennt, sondern ständig im und

unter dem Bann von anderen steht.“165

Im Hinblick auf Arendts Weltbegriff hebt ein Autor wie Belardinelli hervor, dass Arendts Kon-

zept der Welt vom Begriff der Welt Heideggers am stärksten beeinflusst ist. Darüber hinaus

vertritt er die Ansicht, dass Arendt ihr Prinzip der Pluralität aus dem Begriff der Welt Heideg-

gers ableitet.166

In ähnlicher Sicht betont Brunkhorst: „Es ist aber falsch, wie oft behauptet wird,

erst Arendt habe aus Heideggers Begriff der Welt ein pluralistisches Konzept gemacht. Pluralität

ist schon die Pointe von Heideggers Begriffen der Welt und des In-der-Welt-seins. Welt ist für

Heidegger immer schon perspektivisch ausgelegt. Sie ist als kontingentes Projekt, als geworfe-

161

WE, S. 80. 162

In seinem Buch Sein und Zeit schreibt Heidegger: „Die Klärung des in-der-Welt-seins zeigte, daß nicht zu-

nächst ist und nie gegeben ist ein bloßes Subjekt ohne Welt. Und so ist am Ende ebenso wenig zunächst ein

isoliertes Ich gegeben ohne die Anderen.“ (Heidegger, SZ, S. 116). 163

Vgl. Habermas, 1998b, S. 160ff. 164

Das Verhältnis von Arendts politischem Denken zu der heideggerschen Auffassung von In-der-Welt-sein ist

bisher verstärkt in den Mittelpunkt der Arendt-Forschung gerückt. Dazu siehe Barash, 1989, S. 112ff.; Belardi-

nelli, 1990, S. 135ff.; Thomä, 2003, S. 400ff.; Benhabib, 1998, S. 169ff. 165

Arendt, Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought, 1953; zit. aus Young-Bruehl, 1986,

S. 419. 166

Vgl. Belardinelli, 1990, S. 135.

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241

ner Entwurf je mein Horizont.“167

In diesem Kontext vertritt Roberto Esposito die These, Han-

nah Arendts Begriff der Welt werde als eine bloße Ausdeutung oder Konkretisierung von Hei-

deggers In-der-Welt-sein verstanden.168

Im Gegensatz zu diesen Einschätzungen kann man Hannah Arendts Begriff der Welt als die

Umdeutung und Revision von Heideggers Weltbegriff verstehen. In seiner eminenten Analyse

versucht Barash zu zeigen, dass Arendts Weltbegriff keine bloße Ergänzung von Heideggers

Sein und Zeit ist, sondern eine Neubewertung der philosophischen Tradition, die Heidegger

fortschreibt.169

Im Kontrast zur Einschätzung Brunkhorsts vertritt Benhabib die Ansicht, dass

sich die Originalität des Arendtschen Weltbegriffs in ihrer stärkeren Betonung des Prinzips der

Pluralität zeigt: „Obwohl Heidegger die menschliche Pluralität für die menschliche Bedingtheit

konstitutiv machte, indem er das In-der-Welt-sein des Daseins als eine Form des Mitseins analy-

sierte, verunglimpften die grundlegenden Kategorien seiner existenzialen Analytik das men-

schliche Zusammensein gleichwohl als eine Form des Seins mit dem Man, statt die menschliche

Pluralität zu erhellen.“170

In diesem Sinne sprechen viele Autoren davon, dass sich Arendts öf-

fentliche Welt als der Raum des politischen Zusammenhandelns gegen den Begriff der Welt

Heideggers richtet. Anders gesagt besteht die Differenz zwischen Arendt und Heidegger darin,

dass Heidegger keine Beziehung zwischen Pluralität und Handeln erkennt.171

Hinsichtlich der

Verachtung der menschlichen Pluralität bleibt Heidegger Arendts Ansicht zufolge bei der Tradi-

tion politischer Philosophie: „Diese Pluralität ist seit Plato (und bis Heidegger) dem Menschen

im Wege“.172

Dieter Thomä hält fest: „Die Welt, die zu dieser Art von Interaktion gehört, rückt

damit von Heideggers ursprünglichem Bild noch weiter ab; die Eigenständigkeit von Arendts

Theorie und ihre Kompetenz für das politische Miteinander wird nur noch deutlicher. Umge-

kehrt aber gewinnt damit Heideggers eigene Konzeption der Welt auch wieder ihre Unabhän-

gigkeit von Arendt zurück, und mit ihrer Hilfe lässt sich nun umgekehrt die Einsicht in einen

Aspekt befördern, mit dem Arendt mehr Mühe hat als Heidegger.“173

Wir suchen nach der Beantwortung der Frage, warum Heidegger in seinem Begriff der Welt

keine Implikation politischer Pluralität entwickeln konnte. Einer der Gründe dafür besteht darin,

167

Brunkhorst, 1999, S. 19. 168

Esposito, 1997, S. 551f. 169

Barash, 1989, S. 112-127; vgl. Thomä, 2000, S. 205; Benhabib, 1998; Vollrath, 1988. 170

Benhabib, 1998, S. 171. 171

„Die Differenz zwischen Arendt und Heidegger besteht also nicht darin, daß sie aus Heideggers Begriff der

Welt ein pluralistisches Konzept gemacht hat, (…) sondern darin, daß der Mensch nicht nur In-der-Welt ist,

sondern daß Arendt die Konstituierung des Selbst an eine mit anderen geteilte und verantwortete öffentlich-

politische Praxis rückbindet.“ (Meints, 2008, S. 79). 172

DTB, S. 80. 173

Thomä, 2000, S. 205; vgl. Vollrath, 1988, S. 361.

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dass Heideggers Denken ein Begriff für Handeln als Interaktion fehlt.174

Im Hinblick auf seine

Vernachlässigung des politischen Handelns stellt die Welt als der Raum des Handelns für Hei-

degger den Existenzmodus des uneigentlichen Daseins dar. Die Welt ist daher „als Strukturen

einer durchschnittlichen Alltagsexistenz, d.h. des uneigentlichen Daseins“ verstanden.175

So ist

die „öffentliche Wir-Welt“176

die „Seinsweise des Man“.177

Selbst wenn das Seiende ein Mitda-

sein ist, wie Michael Theunissen meint, „so ist doch der spezifische Sinn der zwischenmenschli-

chen Begegnung (…) in dieser Fassung des Begriffs von vornherein eliminiert.“178

Im Weltbegriff von Heidegger findet man die traditionelle Feindseligkeit des Philosophen gegen

die menschlichen Angelegenheiten. Heidegger begreift das Dasein als faktischen Selbstvollzug,

der unbeeinflusst von Welt vonstatten geht. Authentisch ist ein Dasein, das sich in einem Akt

der radikalen Vereinzelung aus der Um- und Mitwelt löst, um sich auf sich selbst zurückzuzie-

hen. Diesen Gegensatz zwischen dem Man und dem Selbst stellt Saner in der kurzen Formulie-

rung dar: „Je selbstischer, desto eigentlicher; Je gemeinsamer, um so verfallender an das

Man.“179

Darauf weist Arendt hin: „Wir entdecken die Feindseligkeit des Philosophen gegenü-

ber der Polis in der Art, wie Heidegger das Alltagsleben des Man in seiner Durchschnittlichkeit

analysiert und die Herrschaft der öffentlichen Meinung gegenüber dem Selbst betont: Der öf-

fentliche Bereich wirkt sich vorwiegend darin aus, die wahre Wirklichkeit zu verdecken und die

Erscheinung der Wahrheit zu verhindern.“180

Arendt wendet sich gegen die heideggersche Entwertung der Welt bezüglich der Eigentlichkeit

des Selbst. Im Gegensatz zu Heideggers Vernachlässigung des politischen Handelns stellt die

Welt bei Arendt ein durch gemeinsames Handeln geprägtes Bezugssystem dar. Arendt wandelt

den heideggerschen Begriff der Sorge des Daseins um sich selbst in die Sorge um die Welt zwi-

schen Menschen um. Der Standort des Arendtschen Verständnisses der Welt ist die Pluralität

der in der Welt handelnden Menschen. Das stellt Jeffrey fest: „Während Heidegger die Welt und

ihre Öffentlichkeit aus der Seinweise des jemeinigen Daseins entspringen lässt, wobei die

Dauerhaftigkeit der Weltöffentlichkeit sich als eine uneigentliche Seinweise des Man enthüllt,

das sich seine eigene Endlichkeit zu verheimlichen sucht, fasst Arendt die Öffentlichkeit der

Welt ganz anders auf. Sie begreift die Öffentlichkeit der Welt bereits als symbolischen und

174

Vgl. Benhabib, 1998, S. 172. 175

Habermas, 1998b, S. 178. 176

Heidegger, SZ, S. 65. 177

Heidegger, SZ, S. 127: „Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweisen des Man

das, was wir als die Öffentlichkeit kennen. Sie regelt zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in

allem Recht.“ 178

Theunissen, 1977, S. 170. 179

Saner, 1997, S. 104; vgl. Heidegger, SZ, S. 128. 180

Zit. nach Barash, 1989, S. 121.

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243

kommunikativen Raum – als Zwischenraum-, der sich nicht aus der Jemeinigkeit des Daseins

ableiten lässt, sondern aus einer ursprünglichen Pluralität entspringt, deren wesentlicher Sinn die

Endlichkeit des Menschen übersteigt.“181

Für Arendt sind die Mitwelt und Mitmenschen nicht ein das Selbstsein störendes notwendiges

Element der Existenz. Das Selbst verbindet untrennbar mit dem weltlichen Zusammenhandeln

der Menschen. In diesem Zusammenhang ist Arendts These unschwer zu verstehen: Menschen

seien „nicht bloß in der Welt, sie sind von dieser Welt“.182

Die Welt könnte für Arendt die men-

schliche Heimat werden, wenn die Welt zum Raum des Miteinanderhandelns und Miteinander-

redens wird. Während Heidegger die Verdunkelung als das Wesen der öffentlichen Welt be-

zeichnet183

, erhält die Öffentlichkeit für Arendt „eine Leuchtkraft“184

, die verschwindet, wenn

Menschen sich aus der öffentlichen Welt zurückziehen. Bei Arendt geht es nicht um die Verde-

ckung des eigentlichen Selbst durch die Öffentlichkeit, sondern um den Verlust der Leuchtkraft

der Öffentlichkeit.185

Wo Arendt mit ihrer handlungstheoretischen Denkfigur der Pluralität die

moderne Weltentfremdung bewältigen und das Handeln mit einer Verantwortlichkeit gegenüber

der gemeinsamen Welt verbinden will, steht bei Heidegger eine Fundamentalkritik an der Unei-

gentlichkeit der öffentlichen Welt. Angesichts der Laudatio auf Jaspers, die sich als eine mittel-

bare Kritik an Heidegger verstehen lässt, schreibt Arendt: „Jaspers hat nie das allgemeine Vor-

urteil der Gebildeten geteilt, daß die Helle des Öffentlichen alle Dinge flach und platt mache,

daß in ihm nur das Durchschnittliche zur Geltung komme und daß daher der Philosoph sich aus

ihm entfernen müsse.“186

181

Barash, 1989, S. 122. 182

DD, S. 30. 183

„Sie regelt zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem Recht (…), nicht weil sie über eine

ausdrücklich zugeeignete Durchsichtigkeit des Daseins verfügt, sondern (…) weil sie unempfindlich ist gegen

alle Unterschiede des Niveaus und der Echtheit. Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte

als das Bekannte und jedem Zugängliche aus.“ (Heidegger, SZ, S. 127). 184

MfZ, S. 83. 185

Vgl. Jaeggi, 1997a, S. 26f. 186

MfZ, S. 86.

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244

2. Pluralität und Kategorie des Politischen

Durch Kategorie erkennt man die Grundformen der Phänomene. Daher kann das Aufzeigen der

Kategorien des Politischen den Zugang zum wesentlichen Phänomen des Politischen liefern.1

Die Radikalität der politischen Theorie Arendts findet sich vor allem in der kritischen Zurück-

weisung und Rekonstruktion der überlieferten Kategorien des Politischen. Durch die Auseinan-

dersetzung mit den traditionellen Kategorien des Politischen stellt Arendt die Frage, ob die tra-

ditionellen Kategorien des Politischen die politische Qualität erhalten und in welchem Verhält-

nis sie zu politischen Phänomenen stehen.

In der Betrachtung der politischen Kategorien rückt Arendt die Frage in den Mittelpunkt, was

die sichtbaren „ursprünglichen Gegebenheiten in dem Bereich der menschlichen Angelegenhei-

ten“ sind.2 Wenn man nach dieser Gegebenheit der politischen Welt in der Vielfalt politischer

Phänomene suchen will, muss man zuerst von einem Maßstab oder einer Konstellation ausge-

hen, welche in sämtlichen Erscheinungsformen des Politischen unbezweifelbar gemeinsam ist.

Diese phänomenale Gemeinsamkeit sieht Arendt darin, dass alle politischen Phänomene Resul-

tate der in der Pluralität mithandelnden Menschen sind.3 Politik und alle Begriffe, die aus dem

politischen Bereich erwachsen, haben im „Faktum der Pluralität“ ihren phänomenalen Ursprung.

Bei Arendt ist das Faktum der Pluralität die Grundbedingung dafür, „daß es so etwas wie Politik

unter Menschen gibt“.4 Durch das Konzept der Pluralität verleiht Arendt allen zentralen politi-

schen Begriffen „einen originär demokratischen Sinn“.5 Dabei geht es um die folgenden: Frei-

heit, Autorität und Macht. Im Licht der Pluralität versucht Arendt, die politische Qualität dieser

Begriffe zu erschließen.

2.1 Die Freiheit als ein politisches Phänomen

Für die politische Grundstruktur ist die Freiheit als Legitimationskriterium heute beinahe allge-

mein anerkannt. Die Freiheit, die in Wahrheit als unverzichtbare Grundbedingung für die Reali-

sierung der Menschenwürde bezeichnet wird, gilt als die einzige Sache, für die „es sich zu

kämpfen lohnte“.6 Eine nähere Bestimmung des Begriffs „Freiheit“ erweist sich jedoch als

1 „Kategorien sind verallgemeinernde Begriffe, in denen prägende Elemente des Politischen deutlich werden. Sie

sollen Zugänge zum Politischen eröffnen, indem sie in Schlüsselfragen umformuliert das Wesentliche, das

Verallgemeinerbare von Politik aufschließen.“ (Massing, 1999, S. 11). 2 MG, S. 174; vgl. auch MG, S. 193.

3 Vgl. DTB, S. 16.

4 VA, S. 17.

5 Schönherr-Mann, 2006, S. 144.

6 ÜR, S. 9.

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245

schwierig, weil der Begriff der Freiheit historisch sehr verschiedene Ansprüche und Prinzipien

enthält. Der Streit um den Freiheitsbegriff verweist daher auf „heute aktuelle Konflikte und ge-

sellschaftspolitische Positionen“.7

Das Problem der Freiheit steht im Mittelpunkt der politischen Theorie von Arendt. In der Totali-

tarismusanalyse wie in der Untersuchung der modernen Gesellschaft thematisiert Arendt die

Krise der Freiheit. In der Revolutionsgeschichte geht Arendt dem „Freiheitsmythos“8 nach.

Arendts politisches Denken geht, wie Jaspers sagt, vom „Traum der politischen Freiheit“ aus.9

Arendt findet das spezifische Kennzeichen der Freiheit in ihrer Korrelation mit der Pluralitäts-

konzeption heraus. Die Freiheit ist für sie kein Begriff, sondern „ein wesentlich politisches Phä-

nomen“10

, das in der menschlichen Pluralität erfahrbar ist: „Die politische Freiheit ist nur mög-

lich in der Sphäre der menschlichen Pluralität.“11

2.1.1 Politik und Freiheit

Die Beziehung zwischen der Politik und der Freiheit ist vielleicht die zentrale Herausforderung

für die politische Ideengeschichte. Arendts politisches Denken ist durch die Identifizierung von

Politik und Freiheit gekennzeichnet. Die Freiheit steht nicht im Kontrast zum Politischen, son-

dern hat „von allem Anfang an, jedenfalls im Abendland, das eigentliche Wesen von Politik

bestimmt“.12

Das Buch Was ist Politik? beginnt Arendt mit den Sätzen: „Auf die Frage nach

dem Sinn von Politik gibt es eine so einfache und in sich so schlüssige Antwort, daß man mei-

nen möchte, weitere Antworten erübrigten sich ganz und gar. Die Antwort lautet: Der Sinn der

Politik ist Freiheit“13

. Im Aufsatz Freiheit und Politik formuliert Arendt im Folgenden: „Man

kann nicht über Politik sprechen, ohne immer auch über Freiheit zu sprechen, und kann nicht

von Freiheit sprechen, ohne immer schon über Politik zu sprechen“14

, denn die Freiheit sei ein

„ausschließlich und radikal politischer Begriff“ und „der Inbegriff des politischen Lebens“.15

Noch mehr: Freiheit sei „nicht nur eines unter den vielen Phänomenen des politischen Bereichs,

wie Gerechtigkeit oder Macht oder Gleichheit; Freiheit (…) ist tatsächlich der Grund, warum

7 Greven, 1995, S. 116.

8 Besier, 2006b.

9 BAJ, S. 542.

10 ZVZ, S. 210.

11 DW, S. 191.

12 ÜR, S. 9.

13 WP, S. 28.

14 ZVZ, S. 201.

15 ZVZ, S. 211.

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246

Menschen überhaupt politisch organisiert zusammenleben. Der Sinn von Politik ist Freiheit, und

ohne sie wäre das politische Leben sinnlos.“16

Die Politik ist für Arendt der Ort der Freiheit und ihre Lebensweise. Das Wesen der heutigen

„Krise des Politischen“17

besteht Arendts Auffassung zufolge darin, dass wir das Verhältnis des

Politischen zur Freiheit und zum Menschensein nicht mehr erhellen können. In dieser Zeit, wo

man sich im Namen der Freiheit gegen die Politik wendet, ist die Frage gestellt: „Hat Politik

überhaupt noch einen Sinn?“18

Vor allem scheint die Erfahrung der totalitären Herrschaftsform die Vereinbarkeit von Politik

und Freiheit gar nicht zuzulassen. Dabei handelt es sich vielmehr um die bittere Feindschaft

zwischen Politik und Freiheit. Zwecks Erweiterung der Freiheit sollten möglichst große Gebiete

des menschlichen Lebens aus dem Einflussbereich der Politik ausgeklammert werden. Dieser

Gegensatz zwischen Politik und Freiheit ist charakteristisch nicht nur für den individualistischen

Liberalismus, sondern auch für den Sozialismus. Wie wir gesehen haben, ist „das Reich der

Freiheit“ für Marx keineswegs in dem politischen Bereich erreicht und erreichbar. So teilt der

Sozialismus mit dem Liberalismus die Vorstellung: „Je weniger Politik (…) desto mehr Freiheit,

oder je kleiner der Raum, den das Politische einnimmt, desto größer der Raum, der der Freiheit

gelassen ist.“19

Die Unvereinbarkeit zwischen der Politik und der Freiheit beruht Arendts Ansicht zufolge auf

dem Vorurteil gegenüber der Politik überhaupt. Wenn die Politik als Herrschaft verstanden

wird, ist die Freiheit im Kontrast zum Politischen gesehen. Insofern lässt sich die Utopie der

Freiheit nur durch die Selbstaufhebung der Politik verwirklichen.20

Bestenfalls bezeichnet sich

die Politik als das funktionale Werkzeug der Freiheit. Das Verhältnis zwischen Politik und Frei-

heit ist so verstanden, „daß die Politik ein Mittel ist und die Freiheit ihr höchster Zweck“21

. Da-

mit verbunden lässt sich Freiheit nur durch staatliche Sicherheitsmaßnahmen gleichsam herstel-

len. Dabei existiert die Politik als der souveräne Gestalter, der den Zweck individueller Freiheit

ermöglicht.22

Daraus entsteht die Gefahr des „Despotismus der Freiheit“23

. Im Gegensatz zu

dieser Betrachtungsweise ist die Freiheit für Arendt nicht das Ziel oder der Zweck von Politik;

16

ZVZ, S. 231. 17

WP, S. 13. 18

WP, S. 77. 19

ZVZ, S. 202. 20

Vgl. DW, S. 206. 21

WP, S. 69. 22

Auch wenn Benjamin Constant bei seiner Unterscheidung zwischen der Freiheit der Modernen und der Freiheit

der Alten den Wert der (politischen) Freiheit der Alten betont, sieht er sie nur als Mittel zur Gewährleistung der

privaten Freiheit an: „Die persönliche Freiheit, ich wiederhole es, ist die wirkliche moderne Freiheit. Die politi-

sche Freiheit gewährt ihr Schutz: die politische Freiheit ist deshalb unentbehrlich.“ (Constant, 1946, S. 52). 23

ÜR, S. 226.

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247

und die Freiheit ist „vielmehr der eigentliche Inhalt und der Sinn des Politischen selbst, aber

nicht sein Zweck. In diesem Sinne sind Politik und Freiheit identisch, und wo immer es diese

Art von Freiheit nicht gibt, gibt es auch keinen im eigentlichen Sinne politischen Raum.“24

Die

Politik ist „Praxis der Freiheit“25

. Dass der Sinn von Politik Freiheit ist, bedeutet „daß die Frei-

heit beziehungsweise das Frei-Sein im Politischen und seinen Tätigkeiten beschlossen liegt.“26

Kurz gesagt ist das politische Handeln selbst das Zeichen der Freiheit.

Die Bezeichnung „Politische Freiheit“ verwendet Arendt unter der Vereinbarkeit von Politik

und Freiheit. Die politische Freiheit ist im positiven Sinne die „handelnde Freiheit“.27

Diese

Freiheit impliziert eine Doppeldimension des Handelns, also die „Verantwortung für das Ge-

meinwesen“28

einerseits und die Enthüllung der Person andererseits. Diese Dimensionen des

politischen Handelns verweisen auf den Inhalt der Freiheit. So stellt die Wortverbindung „Politi-

sche Freiheit“ weder die Freiheit von Politik noch die Freiheit durch Politik dar. Die politische

Freiheit weist für Arendt die „Freiheit zur Politik“29

auf. Die politische Freiheit sei „das Recht

auf aktive Teilhabe der Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten“. 30

Sie ist das Ergebnis der

politischen Anstrengungen in Worten und Taten: „Ursprünglich erfahre ich Freiheit und Unfrei-

heit im Verkehr mit anderen und nicht im Verkehr mit mir selbst. Frei sein können Menschen

nur in Bezug aufeinander, also nur im Bereich des Politischen und des Handelns“.31

Wenn man Freiheit und Politik zusammenbringen will, so muss man sie zuerst in ihrem Urs-

prung aufsuchen, weil es darauf ankommt, ob diese beiden Begriffe wirklich gleichen geschich-

tlichen Lebenswelten zugehörten. Aus dieser geschichtlichen Betrachtung können „ein anderes

Bewußtsein von Freiheit“ und „ein anderer Begriff von Politik“32

erwachsen. Arendts Versuch,

den Politikbegriff der antiken Polis zu vitalisieren, entspricht dem Versuch, den Zusammenhang

von Politik und Freiheit wiederherzustellen und die Freiheit als politische Wirklichkeit zu ver-

stehen. Arendts Denken bahnt uns den Weg zur Wiederentdeckung der politischen Freiheit.

Arendts Auffassung zufolge liegt der Ursprung des Freiheitsbegriffs in der Poliswelt: „Freiheit

als ein politisches Phänomen datiert von dem Entstehen der griechischen Polis.“33

Was politi-

sche Freiheit wirklich bedeutet, spricht Herodot für die Polis aus, „daß man weder beherrscht

wird noch selber herrscht und daß daher Menschen nur (…) in dem Unter – seinesgleichen -

24

WP, S. 52. 25

Reist, 1990. 26

WP, S. 203. 27

ÜR, S. 173. 28

ÜR, S. 356. 29

Barley, 1990, S. 116; Penta, 1985, S. 82. 30

ÜR, S. 281. 31

ZVZ, S. 201. 32

ZVZ, S. 205; vgl. WP, S. 38. 33

ÜR, S. 35; vgl. Meier, 1975, S. 426.

Page 250: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

248

Sein frei sein können.“34

Der Grund dafür, dass die Freiheit der politischste Begriff in der grie-

chischen Begriffswelt war und dass die Polis das Reich der Freiheit war, besteht darin, dass in

der Polis „alle Angelegenheiten vermittels der Worte (…) geregelt werden und nicht durch

Zwang oder Gewalt“35

. Herrschaft und Freiheit waren zwei gegensätzliche Werte des menschli-

chen Zusammenlebens. Das Herrschaftsverhältnis zerstöre den politischen Raum, und „das Re-

sultat dieser Zerstörung ist die Vernichtung der Freiheit für Herrscher und Beherrschte.“36

Jen-

seits vom Herrschaftsverhältnis bewegt sich jeder in der Polis unter seinesgleichen: „Ohne sol-

che Anderen, die meinesgleichen sind, gibt es keine Freiheit, und darum ist der, der über Andere

herrscht und daher auch von Anderen prinzipiell verschieden ist, zwar glücklicher und benei-

denswerter als die, welche er beherrscht, aber er ist um nichts freier.“37

Eindrucksvoll ist, dass sich die griechisch-polisweltliche Freiheit als politisches Phänomen mit

der Krise der Polis rasch in „die Freiheit der individuellen Lebensführung“ verwandelte.38

Und

damit wird die Trennung von Freiheit und Politik schlagartig klar. Angesichts dieser Trennung

ist es nicht verwunderlich, dass man sich von dem politischen Leben für Freiheit abkehrt. Nun

wird die Freiheit, die ein politisches Phänomen war, zum philosophischen und religiösen The-

ma. Die philosophisch und religiös verstandene innere Freiheit tritt an die Stelle der Freiheit als

weltlicher Realität. Vor allem die philosophische Vorliebe für das kontemplative Leben richtet

sich auf solche andere Freiheit, also eine Freiheit, die außerhalb des Miteinanders anhebt.

Arendt weist darauf hin, „daß der abendländische Freiheitsbegriff entscheidend durch eine lange

und schwer zu überblickende Geschichte religiösen und philosophischen Denkens vorgeformt

ist, und zwar gerade in jenen langen Jahrhunderten zwischen dem Untergang der antiken und der

Geburt der neuzeitlichen Welt, in denen es politische Freiheit nicht gab und Menschen aus

Gründen, die uns hier nichts angehen, sich für eine solche Freiheit auch nicht interessierten. So

versteht man selbst in politischer Theorie gemeinhin unter politischer Freiheit überhaupt kein

primär politisches Phänomen, sondern im Gegenteil die mehr oder minder ungehinderte Ausü-

bung nicht-politischer Betätigung, die jeweils von einem Staat erlaubt und garantiert ist.“39

Den verlorengegangenen politischen Freiheitsbegriff entdeckt Arendt wieder in der Geschichte

der Revolutionen. Diese Entdeckung ermutigt sie zur Unterscheidung zwischen Befreiung und

Freiheit. Aus der politischen Erfahrung der Zeiten zentralisierter Unterdrückung mag man poli-

tische Freiheit als die Abwesenheit der staatlichen Einschränkungen und Zwänge verstehen. Es

34

ZVZ, S. 225. 35

VA, S. 36. 36

ÜR, S. 37. 37

WP, S. 39. 38

Krämer, 1977, S. 245; vgl. Günther, 1979, S. 65; ZVZ, S. 210f. 39

ÜR, S. 35.

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249

ist zweifellos, dass das freiheitliche Handeln nicht nur den Verzicht auf Gewalt voraussetzt,

sondern auch die ökonomische Unabhängigkeit, denn die Freiheit beginnt dort, wo die Sorge um

das Leben die Menschen zu unterdrücken aufhört. In diesem Zusammenhang kann man sagen,

dass der große Reichtum des Landes oder die Befreiung der Unterdrückten die Voraussetzung

für die Verwirklichung der politischen Freiheit ist. Auch in der antiken Polis, wo der Freiheits-

begriff entstand, setzt Freiheit zunächst einmal die Unabhängigkeit von ökonomischen wie phy-

sischen Notwendigkeiten voraus.40

In diesem Zusammenhang lehnt Arendt die ökonomische

und politische Emanzipation als die wichtigste moderne Errungenschaft für die menschliche

Freiheit nicht ab.41

Man muss jedoch gleich hinzufügen, dass diese moderne Emanzipation höchstens eine Voraus-

setzung für die Freiheit sein kann, aber nicht diese selbst.42

Obwohl Arendt nicht ausschließt,

dass die Vorbedingung der politischen Freiheit ein Gewicht hat, ist für sie eher entscheidend,

dass die politische Freiheit in erheblich große Gefahr gerät, die Unfreiheit im Namen der Frei-

heit verewigen zu können, wenn die Politik auf ein Mittel zur Lösung der sozialen Fragen redu-

ziert wird und wenn die politische Freiheit mit Sicherheit gleichsetzt wird.43

Dann wird die poli-

tische Freiheit durch „Zwang für Freiheit“44

oder Herrschaft für Volk ersetzt. Politisch gesehen

impliziert der Zustand der Befreiung oder der Emanzipation gleichzeitig zwei Möglichkeiten,

entweder zur Errichtung der Freiheit oder zur Tyrannei zu führen. Durch die Geschichte der

Revolutionen erkennt man, dass die wirtschaftliche Befreiung von der Armut oder die politische

Befreiung vom Zwang nicht unmittelbar die politische Freiheit verursacht.45

Arendt vertritt die

40

„Es ist ja selbstverständlich, daß öffentliche Tätigkeit nur dann möglich ist, wenn für die viel vordringlicheren

Lebensnotwendigkeiten gesorgt ist.“ (VA, S. 79). 41

Arendt unterscheidet zwischen zwei Aspekten der Freiheit, also negativer und positiver Freiheit: „Die Mensch-

heit hat immer gewußt, daß es zwei Aspekte der Freiheit gibt, einen negativen, nämlich frei zu sein vom Zwang

durch andere, und einen positiven, nämlich frei zu sein im Handeln, um nicht so sehr das Ich –will wie das Ich-

kann zu verwirklichen. Ferner ist stets mehr oder weniger verstanden worden, daß beide miteinander verbunden

sind, daß niemand zur Tat frei sein kann, der nicht frei von Zwang ist.“ (ZVZ, S. 239f.). 42

Vgl. DW, S. 197. 43

„Aber selbst wenn man die freie Marktwirtschaft ökonomisch nur für einen Segen hält, dürfte diese Freiheit

doch immer noch sehr sekundärer Natur sein, wenn man an die wirklich politischen Freiheiten denkt – Gedan-

ken- und Redefreiheit, Versammlungs- und Organisationsfreiheit. Auf keinen Fall ist auf ein wie immer gear-

tetes Wirtschaftssystem in Sachen der Freiheit Verlaß. (…) und niemals können die wirtschaftlichen Faktoren

automatisch in die Freiheit führen oder als Beweis für die freiheitliche Natur einer Regierung ins Feld geführt

werden.“ (ÜR, S. 280). 44

Vgl. ÜR, S. 147. 45

Gegen die Arendtsche Einsicht in die Geschichte der Revolutionen erhebt Habermas den Einwand, dass Arendt

die Emanzipation des Einzelnen zur Freiheit gering schätzt: „Wir können die Bedingungen politischer Freiheit

sinnvoll nur im Zusammenhang einer Emanzipation von Herrschaft diskutieren. Diese Kategorie von Herr-

schaft darf politische Gewalt und soziale Macht nicht trennen, sondern muß sie als das zeigen, was beide sind:

als Repression. Unter Bedingungen sozialer Abhängigkeit bleibt das beste Recht auf politische Freiheit Ideolo-

gie.“ (Habermas, 1981a, S. 227). Aber in seiner Überlegung von Arendts Macht-Begriff, die zehn Jahre später

nach seiner Analyse der arendtschen Revolutionstheorie beschrieben wurde, räumt er selbst interessanterweise

ein, „daß die technisch – ökonomische Bewältigung der Armut keineswegs schon die praktisch- politische Si-

cherung der öffentlichen Freiheit bedeutet.“ (Habermas, 1981b, S. 239).

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250

These, die politische Freiheit lasse sich da realisieren, „nur wo der Befreiungskampf gegen den

Unterdrücker die Begründung der Freiheit wenigstens mitintendiert.“46

Von der brüchigen Be-

zugnahme von Befreiung und Freiheit formuliert Arendt im Folgenden: „Daß Befreiung und

Freiheit nicht dasselbe sind, daß Freiheit zwar ohne Befreiten nicht möglich, aber niemals das

selbstverständliche Resultat der Befreiung ist, daß der Freiheitsbegriff, der der Befreiung eigen

ist, notwendigerweise nur negativ ist, und daß also die Sehnsucht nach Befreiung keineswegs

identisch ist mit dem Willen zur Freiheit“.47

2.1.2 Die öffentliche und die bürgerliche Freiheit

Dem Begriff der Öffentlichkeit kommt in Arendts Verständnis der Freiheit eine Schlüsselrolle

zu. Politische Freiheit ist öffentlich, aber nicht bürgerlich48

oder privat. Sie ist auf Öffentlichkeit

angewiesen und zugleich schafft Öffentlichkeit. So stehen die Freiheit und die Öffentlichkeit im

wechselseitig konstitutiven Verhältnis. Die Verbindung der Freiheit mit der Öffentlichkeit liegt

im Zentrum vom republikanischen Freiheitsbegriff Arendts.49

Im Hinblick auf das Polisleben hat die Öffentlichkeit den Doppelcharakter: „sowohl als ein Sek-

tor gemeinschaftlicher Interessen – im Gegensatz zu den Privatangelegenheiten - als auch als ein

Bereich von Handlungen, die offen vor aller Augen vorgenommen werden – im Gegensatz zu

geheimen Prozeduren.“50

Das Wort „öffentlich“ ist für Arendt mit dem Wort „politisch“ und

„pluralistisch“ identisch und steht im Gegensatz zu „privat, selbstbezogen, eigennützig“.51

Ety-

mologisch betrachtet, bedeutet das Wort „öffentlich“ „publicus“ oder „vor der gemeind und Of-

fenlich reden“.52

Die öffentliche Sphäre wird in den griechischen Quellen meistens mit der Polis

identifiziert und ist „eine Gemeinschaft von Ebenbürtigen, die alle die gleiche Kapazität des

Handelns besitzen“.53

In diesem Zusammenhang versteht man die öffentliche Freiheit als die

Freiheit, gemeinsam mit den anderen die öffentlichen Angelegenheiten zu regeln. In diesem

46

ÜR, S. 42. 47

ÜR, S. 34f. 48

Wenn hier von der bürgerlichen Freiheit die Rede ist, wird das Wort „Bürger“ ausschließlich im Sinne von dem

bourgeois, der als Privatperson seine Eigeninteressen verfolgt, verwendet, im Gegensatz zum Citoyen als Bür-

ger, „der fähig sein müsse, an dem, was zur Regierung gehört, Anteil zu nehmen.“ (Sternberger, 1980b, S.

119); vgl. Aristoteles, Pol. 1275 b 18f. 49

Zum republikanischen Freiheitsbegriff von Hannah Arendt siehe Gebhardt, 2004b; Vollrath, 1996b; Rö-

del/Dubiel/ Frankenberg, 1989, S. 52; Breier, 1996, S. 55ff.; Bonacker, 2006, S. 177-245. 50

Vernant, 1982, S. 46. 51

Meier, 1983, S. 27. 52

Hölscher, 1978, S. 414; vgl. auch Habermas, 1969, S. 28; Held formuliert: „Das deutsche Wort öffentlich hat

das Hilfreiche, daß es durch den sprachlichen Zusammenhang mit dem Wort offen das Hervortreten aus der le-

bensweltlichen Verborgenheit des instrumentellen Handelns anklingen läßt. Indem das Licht der Offenheitsdi-

mension Welt in den Brennpunkten des öffentlichen Meinungsstreits aufleuchtet, gewinnt die Welt einen

neuartigen Charakter“ (Held, 1993, S. 405). 53

VA, S. 312.

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251

Verständnis unterscheidet Arendt rigoros zwischen der öffentlichen Freiheit und der privaten. In

die Öffentlichkeit treten heißt aus dem Privatleben heraustreten. Arendt hält fest: „Freiheit kann

der Sinn von Politik nur sein, wenn wir unter dem Politischen einen öffentlichen Raum verste-

hen, der sich nicht nur von der Sphäre des Privatlebens abgrenzt, sondern sogar immer in einem

gewissen Gegensatz zu ihr steht.“54

Was die Öffentlichkeit betrifft, hat die Freiheit zwei Merkmale: Erstens hat die öffentliche Frei-

heit mit der Wirklichkeit der Person zu tun. Durch die Teilnahme an der Öffentlichkeit, zu deren

Wesen die Leuchtkraft gehört, kann man Aufschluss darüber geben, wer er ist.55

Wenn die Öf-

fentlichkeit als Erscheinungsraum verstanden wird, enthüllen Menschen sich selbst in der Öf-

fentlichkeit miteinander handelnd und sprechend. So ist die öffentliche Freiheit mit dem Prinzip

der Individuierung verbunden: „Das Wort öffentlich (…) bedeutet (…), daß alles, was vor der

Allgemeinheit erscheint, für jedermann sichtbar und hörbar ist, wodurch ihm die größtmögliche

Öffentlichkeit zukommt. Daß etwas erscheint und von anderen genau wie von uns selbst als sol-

ches wahrgenommen werden kann, bedeutet innerhalb der Menschenwelt, daß ihm Wirklichkeit

zukommt.“56

Die öffentliche Freiheit erweist sich zweitens als weltlich. Die Weltlichkeit der öffentlichen

Freiheit hat mit dem Interesse an der gemeinsamen Welt zu tun. Die Weltlichkeit bedeutet, dass

sich das plurale Wir an der Veränderung unserer gemeinsamen Welt beteiligt. Sofern die Frei-

heit weltlich ist, lässt sich sie nicht als natürliche Ausstattung des menschlichen Daseins be-

zeichnen. Die Welthaftigkeit der Freiheit entsteht durch Pluralität, in der sich ein Gemeinsames

präsentiert. Die weltliche Freiheit ist „nicht jene Innerlichkeit, in die man sich vor dem Druck

der Welt beliebig zurückziehen kann“57

. Die öffentliche Freiheit vollzieht sich im Zusammen-

handeln und -sprechen über die gemeinsame Welt. Vor diesem Hintergrund verknüpft sich die

öffentliche Freiheit mit der Verantwortung für die gemeinsame Welt.

Die öffentliche Freiheit liegt in der Anerkennung der Pluralität der Perspektiven.58

Wenn der

öffentliche Raum vom Privatinteresse oder einheitlichen Gesellschaftsinteresse unterdrückt wird

und wenn er die unterschiedlichen Positionen ausschließt, wird die öffentliche Freiheit abge-

54

ZVZ, S. 209. 55

In diesem Sinne ist die individuelle Freiheit nicht ganz identisch mit der privaten Freiheit. Daher hat die Unter-

scheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen nichts mit dem heutigen Gegensatz zwischen dem In-

dividuum und dem politischen Welt; im Gegensatz zur öffentlichen Sphäre hat „die private Sphäre einen rein

sozialen Charakter ohne jede Betonung des Individuellen“ (Hansen, 1995, S. 81). 56

VA, S. 62. 57

ÜR, S. 159. 58

„Eine Sache kann sich unter vielen Aspekten nur zeigen, wenn Viele da sind, denen sie aus einer jeweils ver-

schiedenen Perspektive erscheint. Wo diese gleichberechtigten Anderen und ihre partikularen Meinungen abge-

schafft sind, wie etwa in der Tyrannis, in der alle und alles dem einen Standpunkt des Tyrannen geopfert ist, ist

niemand frei und niemand der Einsicht fähig, auch der Tyrann nicht.“ (WP, S. 98).

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252

schafft. „Wo alle das gleiche tun, handelt niemand mehr in Freiheit, auch wenn keiner direkt

gezwungen wird.“59

Frei ist die Person tatsächlich also nur, wenn sie mit ihrer eigenen Perspek-

tive an den öffentlichen und gemeinschaftlichen Angelegenheiten teilnimmt. Im Hinblick auf

die Pluralität der Perspektiven gehören die Mitrede und die Versammlung zur konkreten Praxis

der öffentlichen Freiheit: „Freiheit der Rede bedeutet das Recht, in der Öffentlichkeit zu spre-

chen und gehört zu werden, und solange die menschliche Vernunft nicht unfehlbar ist, wird die-

se Freiheit die Voraussetzung für die Freiheit der Gedanken bleiben. Gedankenfreiheit ohne

Redefreiheiten ist eine Illusion. Versammlungsfreiheit ist darüber hinaus insofern die Voraus-

setzung für die Freiheit des Handelns, als kein Mensch allein handeln kann.“60

Die absolute

Unmöglichkeit zu dieser Praxis der öffentlichen Freiheit charakterisiert das Wesen des Totalita-

rismus.61

In der totalitären Herrschaft fällt der Verlust der Freiheit mit der Zerstörung des öffent-

lichen Raums vom Mitreden und Versammlung zusammen. Das Prinzip der totalen Herrschaft

stellt daher für Arendt das Gegenprinzip zum Prinzip der öffentlichen Freiheit.62

Die so begriffene öffentliche Freiheit unterscheidet sich von der bürgerlichen Freiheit als „der

negativen Freiheit“63

, bei der es nur „um den Schutz der bürgerlichen Privatsphäre“64

geht. Im

modernen Phänomen der Gesellschaft wird die Freiheit „nicht mehr im öffentlichen Bereich

lokalisiert, sondern in der Privatsphäre“. 65

Nach der modernen Idee bürgerlicher Freiheit nimmt

sich Politik nur in zunehmendem Maß der Sicherheit von Einzelnen an. In dieser Gesellschaft

wird „der Verfolg des öffentlichen Glücks“66

, der im antiken Denken „die höchsten und größten

Möglichkeiten des Menschen“67

dargestellt hat, vielmehr für eitel gehalten.

Der bürgerliche Freiheitsbegriff lässt sich durch den modernen Begriff des Bürgers begründen.

Der moderne Bürgerbegriff entspricht dem Bourgeois, den Hegel den Bürger im System der

Bedürfnisse nennt.68

Für die modernen Bürger werden „die Pflichten und Verantwortlichkeiten

des Bürgers zu einer untragbaren zusätzlichen Last“.69

Sie sind „Privatpersonen, welche ihr ei-

59

ZVZ, S. 215. 60

ZVZ, S. 248. 61

„Der Totalitarismus ist die radikalste Verneinung der Freiheit.“ (Arendt, 2004, S. 15). 62

„erstens die Zerstörung der öffentlichen Sphäre und die Abschaffung der Meinungsvielfalt zugunsten einer

Einheitsmeinung, die als Wissen propagiert wird; zweitens die Aufhebung der Trennung zwischen privater und

öffentlicher Sphäre durch eine scheinbar unbegrenzte Politisierung des Privaten und das Verschwinden öffent-

licher Politik; und drittens die Ausübung und Rechtfertigung von Gewaltherrschaft unter Berufung auf ein pri-

vilegiertes Wissens, die Ideologie, nicht aber auf einsichtige und zustimmungsfähige Prinzipien.“ (Rö-

del/Dubiel/Frankenberg, 1989, S. 52). 63

ZVZ, S. 248; vgl. ÜR, S. 186 und 354. 64

ÜR, S. 162. 65

ÜR, S. 177. 66

ÜR, S. 162. 67

VA, S. 263. 68

Hegel, 1995, § 190. 69

EU, S. 673.

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253

genes Interesse zu ihrem Zwecke haben.“70

Es sei der Bourgeoisie gleichgültig gewesen, „ob sie

Untertanen einer Monarchie oder Bürger einer Republik waren. Für sie waren Monarchie und

Republik genau das gleiche, nämlich ein Staat überhaupt, in dem es eine Polizei gab.“71

Damit

erfordern sie nur einen Staat, der ihr Interesse am wirtschaftlichen Wachstum schützt. Dieser

politische Charakter der Bourgeoisie bereitet Arendts Ansicht zufolge den Schauplatz für den

Triumph des totalitären Syndroms des absoluten Apolitischen.72

Die bürgerliche Freiheit ist durch die Abneigung gegen die politische Macht gekennzeichnet. In

diesem Punkt unterscheidet sich der moderne Bürger von der antiken Auffassung der Bürger.73

Die bürgerliche Freiheit stellt keinen Anspruch auf Mitbeteiligung an der Macht dar, sondern ist

der Schutz und die Sicherheit, „die das Streben nach privater Wohlfahrt gegen den Staat si-

chern“74

. Das stellt Arendt fest: „Macht und Freiheit gehen nicht mehr Hand in Hand, sie haben

sich voneinander getrennt, und die verhängnisvolle Gleichsetzung von Macht und Gewalt, von

Politik und Herrschaft, und die daraus folgende Definition des Staates und der Politik als not-

wendiger Übel beginnen wieder sich geltend zu machen.“75

Im Gegensatz dazu vertritt Arendt

die These, Freiheit und Macht schließen sich nicht voneinander. Vielmehr stehen sie in der

Wechselwirkung, so dass das eine das andere mehrt.76

Die politische Macht entsteht Arendts

Ansicht zufolge im Vollzug der öffentlichen Freiheit. Wie Arendt meint, sei niemand frei, „der

keine Macht hat, nämlich keinen Anteil an öffentlicher Macht“.77

In dem Sinne, dass Macht und

Freiheit in der öffentlichen Sphäre der menschlichen Pluralität realisiert werden, seien sie „fast

synonym“.78

Das Prinzip der bürgerlichen Freiheit beruht auf der modernen Überzeugung, dass sich die Frei-

heit wesentlich in der Positivierung vom Recht verwirklichen lässt. So setzt sich die bürgerliche

Freiheit mit der rechtlichen Freiheit gleich.79

Der Rechtsstaat, der als Begriff im Frühliberalis-

70

Hegel, 1995, § 187. 71

EU, S. 316. 72

Vgl. EU, S. 719. 73

„Die Freiheit der Antike bestand in allem, was den Bürgern den größten Anteil an der Ausübung der gesell-

schaftlichen Macht zusicherte. Die Freiheit der Moderne liegt in dem, was die Unabhängigkeit der Bürger ge-

gen die öffentliche Gewalt schützt“ (Herb, 1999, S. 87). Damit verbunden kritisiert Brumlik, dass Arendts

strikte Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit in ihrer Fixierung auf das antike Ideal der Polis

nicht mehr der weltgesellschaftlichen Gegenwart entspricht (Brumlik, 2007, S. 311-330). 74

ÜR, S. 174. 75

ÜR, S. 177. 76

Von der Zusammengehörigkeit von Macht und Freiheit spricht Bernard Crick: „Freiheit bedeutet nicht, wie die

Liberalen behaupten, daß man von der Macht, vor allem von der Staatsmacht, in Ruhe gelassen wird: Im Ge-

genteil, Freiheit ist wechselseitige Machtausübung.“ (Crick, 1979, S. 217). 77

ÜR, S. 327. 78

DW, S. 190; vgl. ÜR, S. 195. 79

Dieser Gedanke findet sich schon bei der neuzeitlichen Vertragstheorie, wenn etwas Rousseau sagt: „Was der

Mensch durch den Gesellschaftsvertrag verliert, ist seine natürliche Freiheit und ein unbegrenztes Recht auf al-

les, wonach ihn gelüstet und was erreichen kann; was er erhält, ist die bürgerliche Freiheit und das Eigentum an

allem, was er besitzt.“ (Rousseau, GV, I-8).

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254

mus des 19. Jahrhunderts entstanden ist, eröffnet in Wahrheit die Möglichkeit, die Gesellschaft

vor Machtkonzentrationen innerhalb des Staates und vor Übergriffen der Machthaber zu schüt-

zen.80

Er setzt der Staatsmacht Grenzen und gewährleistet den Schutz der bürgerlichen Grund-

rechte und –freiheiten. Das fundamentale Prinzip des Rechtsstaates ist jedoch die Unterwerfung

von Politik unter das Recht. 81

„Damit rückt die Rolle der Verwaltung in den Mittelpunkt der

Überlegung.“82

Unter diesem Gesichtspunkt können die bürgerlichen Rechte und Freiheiten

durch die Errichtung einer konstitutionellen Monarchie ebenso gut erreicht werden, ohne der

Bürgerschaft erlaubt zu sein, an den öffentlichen Mächten teilzunehmen. Ohne aktive Teilhabe

und Teilnahme des Individuums an den öffentlichen Angelegenheiten könnte auch die private

Freiheit intakt bestehen bleiben. Arendt stellt fest: „Diese politische Freiheit muß von den bür-

gerlichen Rechten und Freiheiten unterschieden werden, die in allen Verfassungsstaaten die

Macht der Regierung in Schranken halten und das Individuum in seinen legitimen privaten und

sozialen Bestätigungen schützen. Solche Rechte und Freiheiten werden von dem politischen

Körper garantiert, aber das Leben und die Aktivitäten, die sie schützen, sind nicht politisch im

strengen Sinne. Vom politischen Bereich her gesehen, sind sie also negative Freiheiten, sie ste-

cken die Grenzen nicht nur der Herrschaft, sondern auch des öffentlichen Raums als solchem

ab.“83

Als Praxis der Freiheit ist die Politik nicht nur ein Instrument zur Sicherung individueller

Rechtspositionen. Die moderne Überbetonung der bürgerlichen und rechtlichen Freiheit enthält

die Gefahr, dass die Bürger von der Schaffung der öffentlichen Macht ausgeschlossen sind. Das

Fehlen der politischen Freiheit unter der Herrschaft des aufgeklärten Absolutismus des acht-

zehnten Jahrhunderts besteht weniger im Absprechen der Rechte und der Freiheit der Individuen

als in der Tatsache, dass „die Welt der öffentlichen Angelegenheiten ihnen nicht nur so gut wie

unbekannt blieb, sie war unsichtbar“84

. Ohne die „Helle des durch Macht gestifteten Öffentli-

chen“85

und ohne den öffentlichen Erscheinungsraum der Freiheit, in dem Menschen handelnd

und sprechend in Erscheinung treten, führt die bürgerlich-rechtliche Freiheit zur Ohnmacht der

Bürger und kann damit zur Unfreiheit werden. Der Einzelne gilt „als ohnmächtig und schutzbe-

dürftig, er hat an Macht nicht mehr teil, es genügt, ihn gegen den Missbrauch der Macht zu

80

Vgl. Benda, 1995, S. 515ff. 81

Vgl. Kriele, 1980, S. 109ff. 82

Benda, 1995, S. 516; Arendt sagt: „Im achtzehnten Jahrhundert aber, wie auch im siebzehnten und noch im

neunzehnten, lag die Aufgabe der Gesetze primär darin, Eigentum zu schützen, nicht Freiheit zu garantieren,

denn die Freiheit mit all ihren Rechten und Privilegien war grundsätzlich durch das Eigentum garantiert (…).

Im achtzehnten Jahrhundert aber fielen Besitz und Freiheit noch zusammen; wer von dem einen sprach, meinte

auch immer das andere, so daß der Kampf um das Eigentumsrecht ein Freiheitskampf war“ (ÜR, 233f.). 83

ZVZ, S. 248. 84

ÜR, S. 159. 85

VA, S. 262.

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255

schützen.“86

In diesem Kontext hält Arendt die Verwechslung einer verfassungsmäßigen Garan-

tie von bürgerlicher Freiheit mit der politischen Freiheit verhängnisvoll, weil die bürgerlich-

rechtliche Freiheit keine Garantie gegen totalitäre Abschaffung der menschlichen Pluralität gibt.

2.1.3 Freiheit und Willen

Hinsichtlich der Verbindung von Freiheit und Pluralität besteht die schwierige klassische Frage

darin, ob und inwiefern der Mensch mit dem Willen Freiheit erlangt und ob Wille und Freiheit

zusammengehören oder vielmehr gegeneinander stehen. Vor allem in DW beschäftigt sich

Arendt mit dem Verhältnis des Willens und der Freiheit.

In der Polis war Freiheit der politischste Begriff. Damit verbunden hatte der Begriff der Freiheit

in der antiken Philosophie keinen wesentlichen Platz.87

Erst als sich eine Individualisierung und

die Verinnerlichung der Freiheitsvorstellung nach dem Untergang der Polis vollzogen haben,

erfolgt ein begrifflicher Übergang von der politischen Freiheit zur inneren Freiheit des Indivi-

duums. Daraus folgt, „daß Freiheit erst dort beginnt, wo der Mensch sich aus dem Zusammenle-

ben mit den vielen, also aus dem politischen Bereich, zurückgezogen hat, und daß er Freiheit in

dem Umgang mit sich selbst, nicht mit anderen, erfährt“88

Mit dieser Wandlung wird die Freiheit als Gegenbegriff der Politik in der Geschichte der Philo-

sophie gesetzt. Arendt schreibt: „die Philosophen haben erst angefangen, sich für die Freiheit zu

interessieren, als sie nicht mehr im Handeln und im Verkehr mit anderen, sondern im Wollen

und im Verkehr mit sich selbst erfahren wurde.“89

Wie sich schon bei Platos Gründung der

Akademie zeigt, lokalisiert er die Freiheit in der Lebensweise von „Denkern von Gewerbe, die

auf diese oder jene Art dem bios theoretikos verpflichtet sind“90

, denn „Philosophie bedeutet

Freiheit außerhalb der Polis“.91

Bei Aristoteles findet sich auch dieser veränderte Aspekt des

Freiheitsbegriffes: „Frei ist der Mensch, der um seiner selbst willen, nicht um eines anderen

willen ist“.92

Daraus enthält die Vorstellung der Freiheit einen immanenten Konflikt, der in dem

gespannten Verhältnis zwischen der politischen Erfahrung der Polis und den nachfolgenden

Versuchen griechischer Philosophen exemplarischen Ausdruck findet. Die Gleichsetzung von

Freiheit mit politischem Handeln des Menschen, die aus der Erfahrungswirklichkeit stammt,

wird ersetzt durch die Gleichsetzung von Freiheit mit dem Innenleben seiner Seele.

86

ÜR, S. 177. 87

Vgl. DW, S. 19; vgl. Marquard 2007, S. 112. 88

ZVZ, S. 211. 89

ZVZ, S. 213. 90

DW, S. 185. 91

Kauffmann, 1997, S. 111. 92

Aristoteles, Metaphysik 982 b 25f. und vgl. Politik, 1317 b 11.

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256

Die Vorstellung der Freiheit im Sinne freier Persönlichkeit und Individualität wurde jedoch erst

seit dem Auftreten des Christentums als selbstverständlich anerkannt und stark betont. 93

Die

Geburt der Individuen bezieht sich auf die Erfindung des Begriffs des Willens, der in der Be-

griffswelt des Altertums kaum von Bedeutung war, weil der Wille das Problem der Freiheit vor-

aussetzt. Als „der erste Philosoph des Willens“94

entwickelt Augustinus den Begriff der Willens-

freiheit. Nach Arendts Interpretation versteht Augustinus die Willensfreiheit nicht im Sinne des

Wahlfreiheit „zur Auswahl der passenden speziellen Mittel zu einem universellen Ziel“95

, son-

dern im Sinne der Kantischen Definition der Freiheit als Selbstanfang: „Die Freiheit der Sponta-

neität ist fester Bestandteil der menschlichen Existenz. Ihr geistiges Organ ist der Wille.“96

Aber

die Tradition christlicher oder neuzeitlicher Philosophie entfernt sich vom Augustinusschen

Freiheitsbegriff, der „der letzte und höchste Ausdruck des antiken Freiheitsbegriffs“ ist.97

So

verweist das christliche Freiheitsverständnis vielmehr auf seine radikale Ablehnung des Politi-

schen und der Öffentlichkeit, also die Freiheit von Politik. Im Zentrum des Interesses steht eher

das Wohl der Seele als das der Welt. In Bezug auf die christliche Abneigung gegen das politi-

sche Leben zitiert Arendt an vielen Stelle den Satz von Tertullian, der Jurist und Kirchenvater

zu Beginn des 3. Jahrhundert: „Bei den Christen geht es nicht darum, einen Raum der Wenigen

neben dem Raum der Vielen zu erstellen, auch nicht darum, einen Gegenraum für Alle gegen

den offiziellen Raum zu gründen, sondern darum, daß ein öffentlicher Raum überhaupt, gleich

ob für Wenige oder für Viele, wegen seiner Öffentlichkeit untragbar ist. Wenn Tertullian sagt,

daß uns Christen nichts fremder ist als die öffentlichen Angelegenheiten, so liegt der Ton durch-

aus auf der Öffentlichkeit“.98

Mit der Akzentverschiebung vom öffentlichen Handeln auf die Innerlichkeit des wollenden In-

dividuums ist gemeint, dass die Freiheit nicht in der vergänglichen Welt erfahrbar ist, sondern

nur im unsterblichen und unendlichen Leben des Individuums überhaupt.99

In dieser „älteren

und radikaleren Umkehrung des Verhältnis von Leben und Welt“100

ist die moderne subjektive

Freiheit verwurzelt. Dabei weist der Begriff des Wollens auf einen Rückzug aus der gemeinsa-

93

Hegels Auffassung zufolge ist die Idee, dass „das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat“, erst

durch das Christentum in die Welt gekommen. Unabhängig von Geburt, Stand, Bildung sei der Mensch an sich

zur höchsten Freiheit bestimmt. Platon und Aristoteles haben diese Idee nicht gehabt (Hegel. 1991, § 482, S.

387). 94

DW, S. 82; vgl. Dihle, 1985, S. 9ff. 95

DW, S. 115. 96

DW, S. 107. 97

DTB, S. 405; vgl. ZVZ, S. 220. 98

WP, S. 61; ZVZ, S. 319 und VA, S. 90; vgl. VA, S. 24 und ZVZ, S. 91; „Die Freiheit, die das Christentum in

die Welt brachte, war eine Freiheit von der Politik“ (ZVZ, S. 310). 99

„Was die christliche Umkehrung des Verhältnisses von Welt und Mensch politisch besagte, kann man sich

vielleicht am besten darin klarmachen, daß das Leben des Einzelnen nun genau an die Stelle zu stehen kam, an

der für das Denken der römischen Antike das Leben des Gemeinwesens gestanden hatte“.“ (VA, S. 401). 100

VA, S. 407.

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257

men Welt in Innen auf: „Aber das Ideal des Freiseins konnte jetzt, da sich der Akzent so ent-

scheidend vom Handeln - Können auf das Wollen verschoben hatte, nicht mehr die Virtuosität

des Mit - anderen - zusammen - Handelns sein“.101

Die Freiheit des Willens steht nicht mehr im Vermögen des Willens, etwas Neues zuwege zu

bringen, sondern darin, dass der Mensch der Herr seiner Tätigkeit ist. Philosophisch ist diese

Souveränität nichts anderes als absolute Autarkie. Daher ist der Anspruch absoluter Souveränität

identisch mit dem Anspruch auf die eigene Willkür. Weil jedes Wollen stets „zu sich selbst in

Imperativen spricht“102

, ist die Beziehung des Willens zum Willen anderer unkommunikativ und

monologisch: „Der Wille ist (…) durch Selbstbeziehung bestimmt als Vermögen, durch das ich

mein Wollen will (…) und durch Selbstbewegung, weil er allein seines Tuns Herr ist und sich in

Bewegung setzt.“103

Das Ideal der Willensfreiheit ist „die Souveränität, die Unabhängigkeit von

allen anderen und gegebenenfalls das Sich –Durchsetzen gegen sie.“104

Diese traditionelle, phi-

losophische Reduktion der menschlichen Freiheit auf den solipsistischen Willen verkennt nach

Arendt, dass der Mensch ein bedingtes und auf andere angewiesenes Wesen ist.

Hinsichtlich des Problems der Freiheit ist der Wille ein Grundwort der neuzeitlichen Philoso-

phie. Nun ist der Wille mit dem Sein selbst identifiziert als „die höchste Macht“, die es in dem

Menschen gibt.105

Die Neuzeit bezeichnet „die neue Innerlichkeit des Bewußtseins“ als die „ein-

zig angemessene Domäne menschlicher Freiheit“106

. Das verweist auf die neuzeitliche Verherr-

lichung vom Innerlichen des Menschen, seinem Willen. Auf dieser Verbindung von Wille und

Freiheit beruht die souveräne Humanität der Neuzeit, die für die Geschichtsphilosophie charak-

teristisch ist.

In dieser philosophisch-christlichen Tradition wird die Trennung von Freiheit und Politik als

selbstverständlich anerkannt. Dass selbst Montesquieu, der die andere Besonderheit politischer

Freiheit als philosophische Freiheit erkennt, politische Freiheit als „dasselbe wie Sicherheit“107

bezeichnet, zeigt die außerordentliche Stärke neuzeitlicher Trennung von Politik und Freiheit

deutlich. In seinem großen Buch Der Geist des Gesetzes unterscheidet Montesquieu die politi-

sche Freiheit von der philosophischen Freiheit. Bei dieser Unterscheidung definiert er die philo-

sophische Freiheit als eine innere Willensfreiheit und die politische Freiheit als eine weltlich-

rechtliche Realität. Die politische Freiheit habe daher nicht im Willen, sondern im Können Urs-

prung und Sitz: „Die philosophische Freiheit besteht in der Bestätigung des eigenen des Willens,

101

ZVZ, S. 213. 102

DD, S. 210; vgl. DW, S. 92. 103

Günther, 1979, S. 69. 104

ZVZ, S. 213. 105

Zur neuzeitlichen Verherrlichung des Willens siehe DW, S. 22ff. 106

ÜR, S. 181. 107

ZVZ, S. 202.

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258

oder zumindest um es allen Systemen recht zu machen, in der Überzeugung, dass man seinen

eigenen Willen betätige. Die politische Freiheit besteht in der Sicherheit oder der Überzeugung,

man habe seine Sicherheit.“108

Im Hinblick auf die politische Freiheit wird die Funktion des

Staates als Garantie persönlicher Sicherheit der Individuen betont. Im Gegensatz zur politischen

Freiheit ist die reine Freiheit als „ein wollendes Selbst“109

für Montesquieu im Bereich des phi-

losophischen Lebens zu finden.

Niemand hat das Verständnis der Willensfreiheit in der Neuzeit einleuchtender vorgeführt als

Hegel. Für ihn hat die Freiheit als der Zweck der Philosophie ihren Grund im Willen.110

Die

Freiheit hat für Hegel mit dem Prinzip der Subjektivität als einem Prozess der Selbstrealisie-

rung, die in einem Zustande der vollkommenen Aktualisierung des eigenen Wesens kulminiert,

zu tun. Das Konzept der subjektiven Freiheit ist, gegenüber dem Altertum, das neue Prinzip der

modernen Zeit.111

Er versteht die Freiheit daher als „das Beisichselbstsein des Menschen“112

,

nämlich als die absolute Ichbezogenheit des Wollenden: „Das Bei-sich-Selbst-seyn (…) ist die

Freiheit, denn wenn ich abhängig bin, so beziehe ich mich auf ein Anderes, das ich nicht bin;

(…) frei bin ich, wenn ich bei mir selbst bin.“113

Unter Bezugnahme auf diese Auffassung der

Freiheit definiert Hegel die Handlung als „Äußerung des Willens als subjektiven oder morali-

schen“114

. In Auseinandersetzung mit Hegel bezeichnet Arendt seine Philosophie als „Willens-

philosophie“, in der sich „der von der Pluralität schlechthin unabhängige“115

Wille nur noch auf

sich selbst bezieht und aus sich selbst versteht. In diesem Kontext versteht sie die neuzeitliche

Willensphilosophie als „der letzte der metaphysischen Trugschlüsse“.116

Wir haben uns überlegt, ob überhaupt Wille und Freiheit zusammenpassen. Freiheit ist für

Arendt kein Willensphänomen. Bei der Willensphilosophie hat die Freiheit keine welthafte Rea-

lität, sondern existiert nur im philosophischen Solipsismus, der fast die ganze philosophische

Tradition bestimmt. Die Willensfreiheit opfert die gemeinsame Welt für ein isoliertes, einsames

Selbst. Jede Willensphilosophie gilt daher als „eine Unfreiheitsphilosophie“.117

Arendt formu-

liert: „das Freisein beginnt überhaupt erst mit dem Handeln, so daß Nicht-handeln-Können und

108

Montesquieu, 2006, S. 255; vgl. auch DW, S. 189. 109

ZVZ, S. 215. 110

Vgl. Hegel, 1991, § 526 und § 481. 111

„Das Recht der subjektiven Freiheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums

und der modernen Zeit. Dies Recht in seiner Unendlichkeit ist im Christentum ausgesprochen und zum allge-

meinen wirklichen Prinzip einer neuen Form der Welt gemacht worden.“ (Hegel, 1995, § 124). 112

Ritter, 1969, S. 197. 113

Hegel, Philosophie der Geschichte XI, S. 44; zit. nach Ritter, 1969, S. 197; Ritter stellt Hegels Verständnis der

Freiheit fest: „Freiheit besteht nur, wenn der Mensch in seiner Innerlichkeit, in Vorsatz, Absicht und Gewissen

wollen kann, dass er selbst in Allem sei, was er tut“ (Ritter, 1969, S. 283). 114

Hegel, 1995, § 113. 115

DTB, S. 84. 116

DD, S. 210. 117

Baruzzi, 1993, S. 91.

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259

Nicht-Freisein auch dann ein und dasselbe bedeuten, wenn die (philosophische) Willensfreiheit

intakt fortbesteht. Mit anderen Worten, die politische Freiheit ist nicht innere Freiheit, sie kann

in kein Innen ausweichen; sie hängt daran, ob eine freie Nation den Raum gewährt, in welchem

das Handeln sich auswirken und sichtbar werden kann. Die Macht des Willens, sich durchzuset-

zen und andere zu zwingen, hat mit diesem Freisein gar nichts zu tun.“118

Die politische Freiheit

entsteht nicht aus einer Ausübung des allmächtigen Willens, sondern aus der menschlichen Plu-

ralität. Die politische Freiheit setzt daher voraus, dass sich der freie Wille in politischen Ge-

meinschaften oder in der Bedingung der Pluralität einschränken lässt. Arendts Kritik an der Wil-

lensfreiheit zielt auf eine nicht-subjektive Begründung der Politik und auf die „Suche nach der

Freiheit jenseits von Souveränität“119

ab. Die politische Freiheit besteht im Verzicht auf absolute

Souveränität.120

Die wollende Freiheit überwindet durch das Handeln seine radikale solipsisti-

sche Souveränität und ist mit der politischen Freiheit vereinbar, die sich nur in der Existenz der

menschlichen Pluralität greifbar realisiert.

2.1.4 Konstitution der Freiheit

Der Mensch fühlt sich im Handeln frei, etwas Neues zu beginnen. In der Tat versteht Arendt das

Anfangenkönnen als „die elementarste und ursprünglichste Erfahrung des gewaltigen Vermö-

gens menschlicher Freiheit.“121

Sie fasst Freiheit als Spontaneität, als unsere Fähigkeit, um es

mit Kants Worten zu sagen, „eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen“122

.

Vor diesem Hintergrund entsteht das Bild, dass die handlungstheoretische Dimension der Frei-

heit die entscheidende Rolle spielt, während ihre institutionellen Überlegungen ignoriert wer-

den. In diesem Bild findet man bei ihrem Freiheitsbegriff „nicht nur ein romantisches Element,

sondern auch ein halbanarchisches“.123

Ein Autor wie Mckenna wirft Arendt vor, dass sie die

Freiheit als eine Form der vollkommenen Willkürlichkeit versteht, die unbeschränkt und gren-

zenlos ist.124

Nach diesem Einwand halte Arendt Institutionen in ihrem Konzept politischer

Freiheit für sekundäre Gebilde. So stehe ihr Freiheitsbegriff in einem unerträglichen Span-

nungsverhältnis zu jedem Prinzip der demokratischen Konstitution.

118

ZVZ, S. 216; vgl. ÜR, S. 380. 119

Meyer, 2004, S. 159-180. 120

„Wo Menschen (…) souverän sein wollen, müssen sie die Freiheit abschaffen. Wollen sie aber frei sein, so

müssen auf Souveränität gerade verzichten.“ (ZVZ, S. 215). 121

VA, S. 285. 122

Kant, 1974a, B 478; vgl. ZVZ, S. 220, DW, S. 107 und EU, S. 969. 123

Morgenthau, 1979, S. 241; zur Kritik an Arendts Geringschätzung der Institution, Gehlen, 1961, S. 485; Kall-

scheuer, 1996, S. 205; Sternberger, 1979, S. 120. 124

Vgl. Mckenna, 1984, S. 339.

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260

Die Spontaneität ist für Arendt ein wichtiges Element der Freiheit und ihre Vorbedingung. Aber

für sie ist der „politisch organisierte Raum“125

auch das wesentliche Element dessen, was Arendt

mit der politischen Freiheit meint. Deswegen lässt sich Arendts politischer Freiheitsbegriff im

großen und ganzen nur erfassen, wenn man den politischen Freiheitsbegriff in Verbindung mit

dem konstitutionellen und spontaneistischen Moment in den Blick bekommt.126

Das Problem

der politischen Freiheit denkt Arendt immer in Bezug auf das Problem der politischen Instituti-

on. Es besteht kein Zweifel, „daß für Hannah Arendt politische Institutionen nicht etwa nur ir-

gendeine beliebige, sondern eine für die Konstitution der Republik ganz zentrale Bedeutung

haben.“127

Am Ende ihres Aufsatzes Freiheit und Politik spricht Arendt „von der Freiheit der

Menschen – von ihrer Fähigkeit, das Unheil zu wenden, das immer automatisch verläuft und

daher stets unabwendbar scheint; von ihrer Gabe, das unendlich Unwahrscheinliche zu bewirken

und als Wirklichkeit zu konstituieren“.128

Die Spontaneität des Menschen ist eine in Willkür verendete leere Freiheit, wenn sie nicht „in

dem Erscheinungsraum zur Geltung kommen kann“.129

Wie Arendt in einer Formulierung aus

WP ausführlich zum Ausdruck bringt, lässt sich die Freiheit der Spontaneität für vorpolitisch

halten, weil sie als auf den Einzelnen bezogene Fähigkeit nicht zwischen den Menschen entsteht:

„Die Freiheit der Spontaneität, wiewohl ohne sie alle politische Freiheit ihren besten und tiefen

Sinn verlöre, ist selbst noch gleichsam präpolitisch; sie hängt von den Organisationsformen des

Miteinander – Lebens nur insofern ab, als auch sie schließlich aus der Welt heraus organisiert

werden kann.“130

Es ist Arendts starke These, die Freiheit gewinne nur im politisch organisier-

ten Raum „eine weltliche Realität“.131

Die politische Freiheit ist für Arendt nichts anderes als

die weltliche „beschränkte Freiheit“132

. Mit weltlich ist gemeint, dass die Freiheit ihre Bedin-

gung und Grenze hat.133

Da die politische Freiheit nur in der menschlichen Pluralität entsteht,

die nur „räumlich“ denkbar ist, besteht sie wesentlich in der räumlichen Beschränktheit. 134

In

125

ZVZ, S. 207; es ist bemerkenswert, dass der politische Raum für Arendt Doppelcharakter hat, wie Köster zu

recht interpretiert; „sowohl eine Gruppe von Beziehungen, die topisch lediglich modelliert werden, als auch ei-

ne soziale Institution, die durch ihre reale räumliche Organisationsform wesentlich bestimmt ist.“ (Köster,

1992, S. 122); zum ähnlichen Verständnis des politischen Raums siehe Taylor, 1988, S. 69f. 126

Vgl. Vollrath, 1996b, S. 143ff.; Wellmer, 1999, S. 125ff. 127

Brokmeier, 1996, S. 102. 128

ZVZ, S. 226. 129

DW, S. 13. 130

WP, S. 51. 131

ZVZ, S. 226. 132

DW, S. 191. 133

„Jedes Gesetz schafft vorerst einen Raum, in dem es gilt, und dieser Raum ist die Welt, in der wir uns in Frei-

heit bewegen können. Was außerhalb dieses Raumes ist, ist ohne Gesetz und genau gesprochen ohne Welt; im

Sinne menschlichen Zusammenlebens ist es eine Wüste“ (WP, S. 122). 134

WP, S. 40f.; vgl. Heuer, 1996, S. 113.

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261

ÜR schreibt Arendt: „Wo immer Freiheit je als eine greifbar weltliche Realität existiert hat, war

sie räumlich begrenzt.“135

Hier stellt sich die Frage, in welcher Weise die beschränkte Freiheit mit der Freiheit als dem

Anfangenkönnen zusammenhängt. Das Anfangenkönnen steht für Arendt nicht im Gegensatz

zur pluralen und weltlichen Freiheit. Das Vermögen des Anfangens kann sich Arendts Ansicht

zufolge „in Bezug auf die Welt und unter der Mitwirkung der anderen“136

realisieren. Es handelt

sich um das öffentliche Anfangen, also das Anfangen mit den Anderen.137

Der Grund dafür, dass

ein Anfang erst im Moment der Konstitution gesetzt wird, liegt daran, dass der Abgrund der

Willkür in jedem Anfang steht. Dieser „Abgrund der Freiheit“138

macht den Bereich menschli-

chen Handelns verletzbar. Das Problem der willkürlichen Freiheit lässt sich für Arendt nicht

durch kausale oder notwendige Gesetze auflösen, sondern einzig mittels der Pluralitätsfähigkeit

des Handelns überwinden.139

Politisch gesagt bedeutet die politische Institution die Konstitution

der Pluralität der Anfangenden. Im durch Pluralität eröffneten Raum findet das Anfangen mit

den Anderen statt, das dem willkürlichen Anfangen entgegengesetzt ist: „Für Arendt ist die Be-

grenztheit der Anfänge eine Begrenztheit durch die Macht der Pluralität, durch die Versamm-

lung noch anderer Anfänge, Standpunkte, Machtmanifestationen, die schon in der Welt sind.“140

Auf welche Art und Weise kann nun die politische Freiheit konstituiert werden? Die als eine

weltliche Realität verstandene Freiheit ist „Qualität einer von Menschen errichteten Welt“141

.

Diese Welt legt die politische Institution dar, in der „Freiheit als ein positiver Modus des Han-

delns möglich“ wird.142

Die politische Institution definiert Arendt auf verschiedene Weise als

„einen so integrierenden Bestandteil allen, auch des objektiven, Miteinanderseins“143

, „den ob-

135

ÜR, S. 354; die Bedeutung des politisch organisierten Raums für die Frage der Freiheit findet sich auch in

Arendts Feststellung des Verhältnisses von Menschenrechten und politischer Ordnung deutlich. In ihrer eige-

nen biographischen Erfahrung stellt Arendt fest, dass die Menschenrechte nur Geltung haben, wenn die politi-

sche Gemeinschaft die Rechte als die proklamierten Menschenrechte anerkennt und nur wenn sich die Men-

schenrechte in der politischen Ordnung durchsetzen: „Daß es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben

(und das heißt: in einem Beziehungssystem zu leben, wo man nach seinen Handlungen und Meinungen beur-

teilt wird), oder ein Recht, einer politisch organisierten Gemeinschaft zuzugehören – das wissen wir erst, seit-

dem Millionen von Menschen auftauchten, die solche Rechte verloren hatten und sie zufolge der neuen globa-

len politischen Situation nicht wiedergewinnen konnten.“ (Arendt, 1981, S. 158). 136

ZVZ, S. 224. 137

Vgl. Thürmer-Rohr, 1997, S. 142. 138

DW, S. 197. 139

Obwohl Kant die Freiheit mit dem Vermögen, eine Reihe in der Zeit ganz von selbst anzufangen, gleichsetzt,

sagt er, dass „ein absolut erster Anfang nicht der Zeit nach, sondern der Kausalität nach“ ist (Kant, 1974a, B

478). 140

Thürmer-Rohr, 1997, S. 142. 141

ÜR, S. 36. 142

VA, S. 312; vgl. ÜR, S. 39; zum Gedanken des Konstitutionalismus bei Arendt siehe vor allem Brokmeier,

1994, S. 169-186; Vollrath, 1996b, S. 130-150; Gess, 2001, S. 207; Becker, 1998, S. 1031-1057; Roviello,

1997, S. 129; Kulla, 1999, S. 33f. 143

VA, S. 224.

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262

jektiven Zwischenraum“, „das Bezugsystem“144

, „den politisch organisierten Raum“ und „die

Gemeinschaft von Ebenbürtigen“145

. In diesen verschiedenen Definitionen liegt der gemeinsame

Akzent darauf, dass die politische Ordnung und Institution durch das freie politische Zusam-

menhandeln der Bürger geschaffen wird. Eine politische Konstitution beruht auf der politischen

Fähigkeit, miteinander zu handeln. Anders gewendet hängt die Qualität einer politischen Institu-

tion von der Qualität des menschlichen Handelns ab. Die Weise dieser politischen Institutionali-

sierung unterscheidet sich deutlich von den naturrechtlichen Vertragstheorien des 17. und 18.

Jahrhunderts.146

Die auf dem Prozess wechselseitigen Handelns und Redens errichtete Instituti-

on bedeutet Eröffnung und Gründung eines freiheitlichen Handlungsraums. Arendt schreibt:

„Die Menschen werden nicht von einer Zwangsinstanz von außen (oben), durch monopolisierte

Gewalt in Zaum gehalten, sondern die Begrenzung ergibt sich aus dem Zusammenschluß der

Vielen zu einem organisierten Ganzen, das dem Einzelnen aber auch erst die Chance gibt in

Freiheit zu handeln“.147

Die politische Institution verweist auf die weltbildende Fähigkeit des Handelns in der Pluralität.

Sie ist für Arendt die Grenze der Pluralität und zugleich ihre Quelle.148

In diesem Zusammen-

hang kann man die politische Theorie von Arendt als eine Theorie der Konstitution der Pluralität

ansehen. Aber in der Institutionalisierung der Pluralität verschwindet kein Potential des Anfan-

genkönnens. Die Konstitution der Pluralität setzt „die Erhaltung der Fähigkeit zum Anfangen,

das Fortführen des Anfangens“ voraus.149

Auch wenn die gegründete Institution die Freiheit als

Anfangenkönnen zu entmachten scheint, kann die Erhaltung der Fähigkeit zum Anfangen die

versteinerten Institutionen wieder zum Leben erwecken. So gesehen ist die politische Institution

der Ort, an dem sich die Beständigkeit und das Anfangen miteinander verbinden. Anfangen -

Gründung und Erhalten - Bewahren sind die miteinander verbundenen Grundmomente des

Arendtschen Begriffs des Politischen.150

Den Zusammenhang zwischen Institution und Anfan-

genkönnen beschreibt Arendt an einer Stelle von EU: „Die Kontinuität menschlichen Zusam-

menlebens wird immer wieder durch das erschüttert, was wir gemeinhin Freiheit des Menschen

nennen; und das ist politisch die Geburt jedes neuen Menschen, der in dieses Zusammenleben

hineingeboren wird, weil mit jeder Geburt ein neuer Anfang, eine neue Freiheit, eine neue Welt

anhebt. Diesen neuen Anfang hegen die Zäune der Gesetze ein und sichern zugleich seine Frei-

heit, schaffen ihm den Raum, in welchem allein Freiheit sich verwirklichen kann. So garantiert

144

VA, S. 225. 145

VA, S. 312. 146

Vgl. Greven, 1993, S. 80f. 147

ÜR, S. 224. 148

„Die Grenzen dieser Pluralität liegen in der Verfassung“ (IG, S. 236). 149

Vollrath, 1996b, S.135. 150

Vgl. ÜR, S. 260; vgl. Ricoeur, 1989, S. 111.

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263

das Gesetz die Möglichkeit eines unvoraussehbar, absolut Neuen und zugleich die Präexistenz

einer gemeinsamen Welt, deren Kontinuität alle einzelnen Anfänge übersteigt; also eine Wirk-

lichkeit, die alle neuen Ursprünge in sich aufnimmt und von ihnen sich nährt.“151

Arendt spricht von der „Heilkraft der Institutionen“152

in der doppelten Bedeutung: Die politi-

sche Institution ist die „abgegrenzte Insel der Freiheit in einem Meer der Ungewissheit“153

der

menschlichen Angelegenheiten. Institutionen ermöglichen gewissermaßen „Stabilität“154

. Ande-

rerseits ist die politische Institution Hilfsmittel, die Überlagerung der gesellschaftlichen und

geschichtlichen Notwendigkeit in den politischen Bereich verhindern zu können.155

Die politi-

sche Freiheit und die Pluralität des Handelns stehen dauernd in der Gefahr, von den Gesetzen

der gesellschaftlichen und geschichtlichen Notwendigkeit überwuchert und zerstört zu werden.

Für Arendt darf sich die politische Institution weder auf die Funktion von Administration oder

von Ausgleich der Interessenkonflikte noch auf die Vollstreckung der notwendigen Gesetze der

Geschichte reduzieren.156

Die politische Institution der Freiheit gleicht daher „Oasen in der

Wüste zufälliger Willkür“ und einer „Insel im Meer der Notwendigkeit“.157

Arendts Beschäftigung mit der politischen Ordnung steht bei der Analyse der Revolutionsge-

schichte und der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus im Mittelpunkt. In ihrer Analyse

der Geschichte der Revolutionen weist Arendt darauf hin, dass man erst von der politischen

Freiheit sprechen kann, wenn „die neue gewonnene Freiheit in angemessenen Institutionen und

Verfassungen“158

verankert ist. Für sie ist der Geist der Revolution die Gründung des öffentli-

chen Erscheinungsraums der Freiheit. Vor allem in der Überlegung des Totalitarismus als einer

„neuen, in der Geschichte noch unbekannten Staatsform“159

thematisiert Arendt das Verhältnis

der Krise der Freiheit zur Zerstörung der politischen Ordnung. Dabei vertritt Arendt die starke

These, dass die eigentümliche Strukturlosigkeit totalitärer Herrschaft zur radikalen Zerstörung

der politischen Freiheit führte.160

Das Wesentliche der totalitären Herrschaft liegt also nicht dar-

in, „daß sie bestimmte Freiheiten beschneidet oder beseitigt, noch darin, daß sie die Liebe zur

151

EU, S. 957; hier ist Arendts Gesetzesbegriff entscheidend. Ein Gesetz kann nur durch die menschliche Plurali-

tät begründet werden und zugleich begrenzt die menschliche Pluralität: „Alle Gesetze, außer den Geboten eines

Gottes, sind Direktiven und nicht Imperative. Sie lenken das menschliche Miteinander wie Regeln das Spiel.“

(IG, S. 446). 152

ÜR, S. 226. 153

VA, S. 313. 154

Göhler, 2004, S. 210. 155

Vgl. Brokmeier, 1994, S. 178. 156

Vgl. ZVZ, S. 210. 157

ÜR, S. 354. 158

ÜR, S. 185; vgl. ÜR, S. 161, 206 und 347. 159

EU, S. 944. 160

Vgl. Bluhm, 1996, S. 44ff.

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264

Freiheit aus dem menschlichen Herzen ausrottet; sondern einzig darin (…), daß der Raum des

Handelns, und dies allein ist die Wirklichkeit der Freiheit, verschwindet.“161

Im Aufsatz Macht und Gewalt definiert Arendt die politische Institution als „organisierte und

institutionalisierte Macht“.162

Worum es geht, ist die Frage, wie die öffentliche Freiheit und

Macht plural instituiert ist. Die politischen Institutionen gelten als Ergebnis kommunikativer

Macht und zugleich als ihre Quelle.163

In diesem Zusammenhang ist Arendts Verständnis der

politischen Institution mit der republikanischen Einsicht verbunden, dass die öffentliche Macht

„Institutionen und Gesetze ins Leben (ruft)“.164

Der Raum politischer Freiheit, in dem Macht

entsteht, ist ein Raum der Kommunikation über die Institution an sich.

Die politische Institutionalisierung bedeutet die Beschränkung des Handelns durch das

Handeln.165

In VA schreibt Arendt: „In diesem einzigen Fall erwächst das Heilmittel gegen die

Unwiederruflichkeit und Unabsehbarkeit der von ihm begonnenen Prozesse nicht aus einer

anderen und potentiell höheren Fähigkeit, sondern aus den Möglichkeiten des Handelns

selbst.“166

Der institutionelle Rahmen des Politischen darf nicht nach dem Modell

verdinglichenden Herstellens begriffen werden, sondern muss auf die Fähigkeit bezogen bleiben,

politisch zu handeln.167

Eine freiheitliche Ordnung des Politischen ist „eine lebendige

Angelegenheit, die von niemandem hergestellt werden kann und die nicht als eine Idee begriffen

und ergriffen werden kann. Sie ist nicht vollkommen und wird nie vollkommen sein, weil der

Maßstab der Vollkommenheit hier nicht am Platze ist.“168

Die politische Institutionalisierung

lässt sich für Arendt „im Sinne der das weitere Handeln ermöglichenden ersten

Tat“ verstehen.169

In diesem Licht betrachtet ist die Kritik zu bezweifeln, dass Arendt die Aufgabe der Gesetz- und

Verfassungsgebung aus ihrem Begriff vom Politischen herauslöst, indem sie diese Tätigkeit dem

Herstellen zuordnet.170

Nach diesem Einwand tue Arendt das Problem der politischen Institutio-

161

EU, S. 970. 162

MG, S. 172; in ÜR spricht Arendt „von der vereinten Macht der Vielen“ (ÜR, S. 275). 163

Vgl. ÜR, S. 227. 164

MG, S. 172. 165

Vgl. EU, S. 949; dazu Gess, 2001, S. 204; obwohl Schönherr-Mann Arendts Perspektive der Institutionalisie-

rung betont, unterschätzt er jedoch die Bedingungsgefüge von Handeln und Institution (Schönherr-Mann, 1996,

S. 146ff.). 166

VA, S. 301. 167

Vgl. Brokmeier, 1994, S. 169-186. 168

IG, S. 236. 169

ZVZ, S. 196; diese Institution versteht Vollrath als Republik des Handelns: „Der Begriff der Republik bedeutet

also eine Vereinigung einer Menge von Menschen, bei welcher das Handeln von Menschen gemäß der phäno-

menalen Struktur des Handelns selbst das Prinzip der Stiftung und Bewahrung dieser Vereinigung ist. Die Stif-

tung dieser Vereinigung einer Menge von Menschen beruht ebenso auf dem anfangenden Sich-zusammen-

schließen zum Handeln, wie die Bewahrung dieser Vereinigung auf dem Fortführen des Sich-zusammen-

schließens im Handeln beruht“ (Vollrath, 1977, S. 74). 170

Vgl. Höffe, 1993, S. 31; Bielefeldt, 1993, S. 90; Gehlen, 1961, S. 485.

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265

nalisierung nach dem griechischen Vorbild als präpolitisch ab. Für die Griechen muss die Ge-

setzgebung in der Tat eine präpolitische Tätigkeit gewesen sein.171

Dagegen ist zu sagen, dass

„nur für die Römer die gesetzgeberische Tätigkeit und damit die Gesetze selbst in den Bereich

des eigentlich Politischen fallen.“172

Für die Römer war die Gesetzgebung alles andere als eine

präpolitische Tätigkeit.173

Im Anschluss an die Vorstellung der Römer versteht Arendt die

Gründung der politischen Gemeinwesen und die Gesetzgebung als das Produkt des politischen

Handelns, also als Ergebnis des Miteinanderhandelns und –sprechens zwischen ebenbürtigen

Bürgern.174

Die politischen Institutionen und Organisation beruhen für Arendt „auf wechselsei-

tigen Versprechen, gegenseitigen Verpflichtungen und Abkommen“.175

Die Fundamente eines

neuen Gemeinwesens werden nur von den handelnden Vielen gelegt, denn die „weltbildende

Fähigkeit des Menschen“ setzt „die menschliche Pluralität“ voraus.176

Wenn die Rede von der „Konstitution der Freiheit“177

ist, liegt der Akzent auf dem Verfassungs-

akt und nicht auf der Verfassung selbst. Anders ausgedrückt besteht die politische Freiheit

„nicht als Institution, sondern als Kritik der Institutionen“.178

In diesem Zusammenhang ist es

bemerkenswert, dass Arendt zivilen Ungehorsam als Verhaltensform der öffentlichen Freiheit

befürwortet.179

Ziviler Ungehorsam entsteht nach Arendt dadurch, aus der Übereinstimmung mit

anderen gemeinsam in die Öffentlichkeit zu gehen, um die Autorität bestehender Regeln heraus-

zufordern.180

Die Möglichkeit des zivilen Ungehorsams spielt für Arendt eine Rolle als ein Kri-

terium der öffentlichen Freiheit. Arendt versteht zivilen Ungehorsam nicht nur als legitime Form

politischen Widerstands, sondern auch als Möglichkeit der Bürger zur politischen Innovation,

also das „Heilmittel gegen das Versagen der Institutionen“181

. So ist ziviler Ungehorsam eine

Art von Verfassungsakt oder von „politischer Institutionalisierung“182

. In zivilem Ungehorsam

zeigt sich klar, dass die öffentliche Freiheit die handelnde und meinende Freiheit ist, aus der die

öffentliche Macht resultiert. Die öffentliche Freiheit derer, die an der öffentlichen Macht teil-

nehmen, schafft den öffentlichen Raum der Macht. Umgekehrt führt der Mangel an öffentlicher

171

Vgl. VA, S. 244; WP, S. 111ff. 172

WP, S. 109. 173

Vgl. ÜR, S. 242. 174

Vgl. ÜR, S. 244; vgl. Heuer, 1996, S. 118; Vollrath, S.135; Rose, 2004, S. 91. 175

ÜR, S. 235. 176

ÜR, S. 227. 177

ZVZ, S. 244; Arendt unterscheidet „zwischen der Konstitution, die ein Regierungsakt ist, und der Verfassung,

durch welche das Volk eine Regierung konstituiert“ (ÜR, S. 190). 178

Bauman, 1999, S. 31. 179

Vgl. IG, S. 283-321; vgl. Gess, 2001, S. 210. 180

Hier ist es entscheidend, dass Arendt den auf dem Forum der Öffentlichkeit praktizierten zivilen Ungehorsam

als die Möglichkeit der Freiheit von der individuellen Verweigerung aus Gewissensgründen unterscheidet (vgl.

IG, S. 295). 181

IG, S. 321; „Die politische Institutionalisierung des zivilen Ungehorsams könnte das bestmögliche Heilmittel

gegen dieses letztendliche Scheitern juristischer Überprüfung sein“ (S. 319). 182

IG, S. 319.

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266

Freiheit zur „Unfähigkeit, auf die eigenen Rechte zu pochen und Widerstand zu leisten“183

und

zugleich zum Verlust der öffentlichen Macht.

2.2 Die Autorität als die Konstitution der Pluralität

Wenn man die Autorität als einen politischen Grundbegriff betrachten will, stößt man gerade auf

die Schwierigkeit, dass der Begriff „Autorität“ heutzutage nicht nur im politischen Raum für

negativ gehalten wird, sondern auch in dem privaten. Wie Engels schon im Jahr 1873 gesehen

hat, brauchen Menschen heute auch „nur zu sagen, dieser oder jener Akt sei autoritär, um ihn zu

verurteilen“.184

Im modernen Verständnis, dass „so etwas wie Autorität in dieser demokrati-

schen und liberalen Staatsverfassung selber schlechterdings nicht zu finden sei oder jedenfalls

legitimerweise nicht zu finden sei“185

, scheint die Sehnsucht nach einer politischen Autorität

eher die konservative Haltung zum Ausdruck zu bringen. Umgekehrt gibt es zugleich ein Ver-

langen nach der neuen Autorität angesichts der modernen Krise der Autorität. Unter solchen

Umständen scheint Engels‟ Anspruch, die Frage der Autorität „ein wenig aus der Nähe zu be-

trachten“186

, auch heute noch zeitgemäß zu sein.

Die Frage der Autorität bezeichnet Arendt in der Tat als eines der „schwerwiegendsten Proble-

me“187

des gegenwärtigen Politischen. Zur Lösung des Problems sucht sie danach, was „echte

Autorität“ war.188

Doch wäre es unzutreffend, Arendts Versuch, Autorität als politische Katego-

rie zu berichtigen, als die romantische konservative Sympathie für die alten Autoritäten anzuse-

hen.189

Im Folgenden gilt es zu eruieren, ob sich der Begriff Autorität mit dem Verständnis des

Politischen von Arendt selbst vereinbaren lässt: Was den Autoritätsbegriff zum unverzichtbaren

Grundbegriff des Politischen macht: In welchem Verhältnis Autorität zu menschlicher Pluralität

steht: Und ob sich die Autorität in Verbindung mit der Freiheit bringen lässt.

2.2.1 Der Begriff der Autorität und ihre politische Bedeutung

In der Gegenwart ist Autorität, wie Arendt sagt, „das begrifflich am schwersten zu fassende

Phänomen und daher das am meisten missbrauchte Wort“.190

Im politischen Bereich ist heute

183

Bauman, 1999, S. 32. 184

Engels, MEW, Bd. 18, S. 305. 185

Sternberger, 1980d, S. 119. 186

Engels, MEW, Bd. 18, S. 305. 187

ÜR, S. 207. 188

ZVZ, S. 163 und auch ÜR, S. 232. 189

Vgl. Reist, 1990, S. 28. 190

MG, S. 175.

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267

der Zweifel laut geworden, ob denn für die moderne Welt überhaupt noch so etwas wie Autori-

tät erfahrbar sei. In einer solchen Situation versteht man gar nicht, was „Autorität überhaupt“191

ist und war. Dabei wird die begriffliche Verwirrung vertieft. In Bezug auf die begriffliche Ver-

wirrung geht Arendt zuerst auf den Ursprung des Autoritätsbegriffs zurück, um den ursprüngli-

chen politischen Gehalt des Begriffes Autorität zu rekonstruieren. Arendt überprüft kritisch den

Autoritätsbegriff, der auf die Theorie und Realität politischer Geschichte des Westens wirkte

und wirkt: „Welches sind die politischen Erfahrungen, denen der Begriff der Autorität entsprach

und aus denen er entsprang? Welcher Art ist eine öffentlich-politische Welt, die durch Autorität

konstituiert ist? Hat es Autorität in einem spezifischen Sinne, der über das Befehl-Gehorsams-

Verhältnis (…) hinausgeht, immer gegeben?“192

Dass der Begriff und das Wort „Autorität“ römischen Ursprung haben und dass es kein Äquiva-

lent für die römische Autorität in der griechischen Sprache und in den griechischen politischen

Erfahrungen gibt, ist bekannt.193

Trotzdem hat die griechische politische Philosophie auf die

begriffliche Ausprägung des modernen Autoritätsgedankens einen stärkeren Einfluss als der

römische Autoritätsbegriff.194

In Wahrheit sieht man in Platos Anspruch auf die den menschlichen Angelegenheiten transzen-

denten absoluten Maßstäbe seine Bemühung, etwas wie Autorität in den Bereich der Politik zu

übertragen. Der Autoritätsgedanke ist eigentlich auf die Idee der legitimen Herrschaft gegründet.

Plato wollte einen freiwilligen Gehorsam der Bürger begründen durch etwas wie Autorität. Er

leitet zuerst das Modell der Autorität aus dem präpolitischen Bereich ab, also aus der Beziehung

zwischen Eltern und Kindern und zwischen Lehrer und Schüler.195

In Analogie zum präpoliti-

schen Modell der Autorität fordert Plato blinden Gehorsam gegenüber den transzendenten abso-

luten Maßstäben. Weil diese Autorität absolut ist, unterscheidet sie sich von Herrschaft nicht.196

Der Absolutismus als die Eigenart der sogenannten autoritären Staatsform ist dieser griechische

Ursprung der Autorität: „Aber auch das eigentliche Merkmal spezifisch autoritärer Staatsfor-

men, daß die Quelle ihrer Autorität, das, was Macht in ihrem Vollzug legitimiert, außerhalb und

innerhalb der Machtsphäre selbst sich befinden muß, also von Menschen nicht gemacht sein

191

ZVZ, S. 160. 192

ZVZ, S. 170. 193

Vgl. ZVZ, S. 170; vgl. Heinze, 1960, S. 56; Sternberger, 1980d, S. 127f. 194

Vgl. ZVZ, S. 170. 195

Vgl. Plato, Pol. 412 c ff. 196

In diesem Sinne ist für Arendt der platonische Autoritätsbegriff antipolitisch: „Autorität ist das jedem Einzel-

nen in seiner Isoliertheit sich Offenbarende, an dem gemessen wird und das demnach, unter Voraussetzung der

richtigen Handhabung des Maßstabes, immer gleiche Resultate zeitigen muss. Die Autorität des Maßstabes

herrscht über alle und schaltet das Chaos und die Relativität der Meinungen aus. Diese Herrschaft selbst ist

primär die Herrschaft in der Seele des Einzelnen als eines Isolierten.“ (DTB, S. 375).

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268

darf, wie das Naturrecht oder die Gebote Gottes, ist durchaus noch im Sinne der platonischen

Maßstäbe konstruiert.“197

Platos Forderung nach etwas wie Autorität entspricht sowohl der Ablehnung der Gewalt als

auch dem Misstrauen gegenüber der diskursiven Überzeugung in der Polis. Plato schlägt die

Herrschaft der Vernunft als die Form der autoritären Herrschaft vor. Die platonische Identifizie-

rung von Autorität mit einer tyrannisch gewordenen Vernunft hat entscheidende Bedeutung für

unseren Autoritätsbegriff.198

In der Herrschaft der Vernunft findet Plato jedoch einen „Haken“:

Wenn die Wahrheit keineswegs von allen Menschen erkennbar ist, sondern nur von wenigen,

wie man die Vielen der Wahrheit unterwerfen kann.199

Wie lassen sich die transzendenten

Maßstäbe ohne Gewalt durchsetzen?

Vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeit versucht Plato, einen Mittelweg zwischen der bloßen

Gewaltherrschaft und der rein rationalen Einsicht des Weisen zu entdecken. Die Lösung findet

Plato im Jenseits-Mythos von Belohnungen und Strafen nach dem Tode.200

Ohne den Glauben

an die Höllenstrafe müssen die transzendentalen Maßstäbe leer bleiben. Als Sanktion funktio-

nieren so die zukünftigen Belohnungen und Bestrafungen. Die platonische Höllenstrafe als „die

Autorität der Nachwelt“201

ist die philosophische Erfindung zum politischen Zweck. Wenn-

gleich die Lehre von der Hölle ein gewichtiges Element auch für das Autoritätsverständnis der

katholischen Kirche ist, ist sie bei Plato nicht religiös, sondern politisch motiviert: „Die Lehre

von der Hölle ist bei Plato klar ein politisches Instrument, das für politische Zwecke erfunden

wurde.“202

Wie groß der Einfluss dieser bedrohlichen Erwähnung eines Jenseits mit Belohnung

und Strafe auf die politische Geschichte ist, kann man dadurch unschwer erkennen, dass sie in

der Geschichte der Revolution, die darauf abgezielt hat, eine neue Basis der Autorität zu schaf-

fen, immer wieder aufgetaucht ist.203

In diesem Versuch, einen Autoritätsbegriff aus der trans-

zendenten Quelle abzuleiten, gebe es „ein auf eigenständig politische Erfahrung gegründetes

Autoritätsbewußtsein überhaupt nicht“.204

Dieser eigentlich antipolitische Autoritätsbegriff, der

schon mit dem Herrschaftsbegriff identifizierbar ist, spielt im politischen Bereich eine sehr gro-

ße Rolle.

197

ZVZ, S. 178. 198

Vgl. ZVZ, S. 176. 199

Vgl. ZVZ, S. 174. 200

Vgl. ZVZ, S. 174 und S. 320. 201

Popitz, 1986, S. 33f. 202

ZVZ, S. 321. 203

Vgl. ÜR, S. 246f. 204

ZVZ, S. 186.

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269

Auf die römische Bedeutung der Autorität geht Arendts politischer Autoritätsbegriff zurück.

Autorität war im antiken Rom „der moralisch-politische Maßstab schlechthin“205

und gehörte

„zu einem politischen Zentralbegriff“.206

Etymologisch betrachtet kommt das Wort Autorität

vom lateinischen Wort auctoritas, und dieses ist abgeleitet von dem Verb augere. Augere heißt

„vermehren, zunehmen, wachsen lassen, auch fördern“207

. Autorität wurde vom Römer im Sinne

von Gründen und Fortführen der politischen Gemeinwesen verwendet. Bei Cicero findet sich

diese Bestimmung: „Denn es gibt nichts, wobei menschliche Vollkommenheit näher an der Göt-

ter Walten heranreicht, als neue Staaten zu gründen oder schon gegründete zu bewahren.“208

In

der Erfahrung der amerikanischen Revolution entdeckt Arendt die politische Bedeutung des

römischen Autoritätsbegriffs wieder: „Daß Gründen und Erhalten zusammengehören und daß

dies Zusammengehören sich lebendig in Vermehrungen der Fundamente manifestiert, daß also

der revolutionäre Akt des völligen Neubeginns und der konservierende Geist, durch den das

Neue durch die Jahrhunderte gegen den Ansturm der Zeit bewahrt wird, von vornherein mitei-

nanderverbunden sind, diese Vorstellungen sind so typisch römisch, daß man sie in der Tat

überall in lateinischer Literatur finden und sich aneignen kann.“209

Die Autorität war für Römer ein politischer Zentralbegriff in drei Dimensionen: Erstens hat der

römische Autoritätsbegriff untrennbar mit dem politischen Handeln zu tun. Die politische Im-

plikation vom Autoritätsbegriff ist unschwer zu verstehen, wenn man das römische Verständnis

des Politischen erblickt. „Politik treiben hieß immer vorerst die Gründung der Stadt Rom be-

wahren und vermehren.“210

Genau genommen: auctoritas heißt „das Politische mehren, das Poli-

tische füllen und erfüllen“.211

Der Begriff der Autorität hängt daher mit dem Handeln zusam-

men, das der Gründung und Bewahrung der politischen Ordnung dient. 212

In diesem Kontext

wohnt dem Autoritätsbegriff das Prinzip des Gründungsaktes inne. Im Gegensatz zum griechi-

schen Verständnis greift Autorität für Römer weder auf eine göttlich geleitete Vernunft noch auf

die natürliche Überlegenheit zurück, sondern einzig und allein auf den Gründungs- und Bewah-

rensakt, der im Kern des politischen Handelns besteht.213

Wenn die Grundlage der politischen

Autorität die durch Handeln geschehende Gründung der Gemeinwesen ist, braucht man keine

Götter, um der politischen Ordnung Autorität zu geben.

205

ZVZ, S. 190. 206

Eschenburg, 1965, S. 12. 207

Eschenburg, 1965, S. 9; vgl. auch ZVZ, S. 188 und ÜR, S. 258f. 208

Cicero, De republica I. 7. 12; zit. nach ÜR, S. 259. 209

ÜR, S. 260f. 210

ZVZ, S. 187. 211

Baruzzi, 1973, S. 175. 212

Vgl. Baruzzi, 1984, S. 50ff. 213

Vgl. ÜR, S. 252f.

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270

In zweiter Hinsicht war der römische Autoritätsbegriff politisch, weil Autorität in einer be-

stimmten politischen Institution verankert war. Die Autorität gehörte zu einer von drei Begriffen

der römischen Verfassungsordnung und wurde verkörpert in einer politischen Institution, dem

römischen Senat. 214

Arendt sagt, „daß die Autorität des Staates in einer konkreten Institution

verkörpert ist, die sich klar von den anderen Staatsgewalten der Legislative und der Exekutive

abhebt“.215

So kann man sagen, dass Autorität „Schlüsselbegriff für die abendländische Idee der

politischen Ordnung“216

war. Die Funktion der Autorität, die politische Welt zu stabilisieren und

zu sichern, ist politisch, denn die verbindende Kraft der Autorität bezieht sich auf „das Prinzip

wechselseitigen Versprechens und gemeinsamen Beratens“.217

Die dritte politische Komponente der Autorität besteht darin, dass ihre Quelle die öffentliche

Anerkennung ist. Das bedeutet, dass sich die Autoritätsstruktur von der transzendenten oder

naturrechtlichen Herrschaftsstruktur unterscheidet, die sich bei Plato wie bei Aristoteles zeigte.

Die politische Autorität hat „nichts mit einer natürlichen Tugend zu tun, noch ist sie irgendwie

charismatisch, noch ein Wert der Person an sich. Autorität hat man nur im Hinblick auf ande-

re“.218

Wenn es um die politische Autorität geht, ist ein Minimum von öffentlichem Vertrauen

erforderlich.219

Das Vertrauen, das Arendt als Quelle der Autorität bezeichnet, basiert nicht auf

der Kraft außerhalb des politischen Bereiches, sondern auf den wechselseitigen Versprechen

und der Anerkennung in der Öffentlichkeit. Für Arendt ist die Lösung des politischen Problems

der Autorität in der „Idee gegenseitigen Vertrauens als einem Prinzip organisierten Handelns“220

zu suchen. Der Begriff der Autorität ist daher das fundamentale Konstruktionskonzept des poli-

tischen Gemeinwesens.

2.2.2 Die Interdependenz von Autorität und Freiheit

Geschichtlich betrachtet ist es auffallend, dass die Degradierung des Autoritätsbegriffs im politi-

schen Denken vor allem mit dem neuzeitlichen Aufbruch zur Freiheit aller Individuen zusam-

menfällt. Gegen die alte Autorität steht die neuzeitliche Vernünftigkeit „in jedem Individuum als

214

In der römischen Republik teilt sich die politische Ordnung in Volk, Senat und Beamte: Cicero sagt, die aucto-

ritas wäre dem Senat, die potestas (Macht) den Magistraten und die libertas (Freiheit) dem Volk zuzuordnen

(Cicero, De republica II, 57; zit. nach Eschenburg, 1965, S. 15; vgl. ZVZ, S. 189 und ÜR, S. 257). 215

ÜR, S. 257. 216

Fueyo, 1968, S. 217. 217

ÜR, S. 275. 218

Fueyo, 1968, S. 218. 219

Vgl. ÜR, S. 358; im Gegensatz zu diesem öffentlichen Vertrauen spricht Arendt von „totaler Treue“, die „nur

von absolut isolierten Individuen geleistet werden“ kann (EU, S. 698). Nach Arendt ist das politische Vertrauen

„niemals absolut und niemals absolut zuverlässig“, weil es auf der Pluralität beruht (EU, S. 698). 220

ÜR, S. 236.

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271

legitime Quelle von Recht und Wahrheit“.221

Beim Kampf der Aufklärung gegen die überliefer-

ten Autoritäten gilt „die Vernunft als letzte Instanz gegenüber allen herkömmlichen Autoritä-

ten“.222

In der Erfahrung und dem Bewusstsein von individueller Freiheit, die zunächst als per-

sönliche Souveränität und Unabhängigkeit verstanden wird, wird Autorität als ein abwertender

Begriff verwendet. Wo es Autorität gäbe, da gäbe es keine Freiheit. Die Abschaffung der Auto-

rität erweist sich als unentbehrlich um der individuellen Freiheit willen. Das verweist auch auf

den neuzeitlichen Siegeszug der souveränen – individuellen Freiheit: „Freiheit ist nach unserer

modernen Erfahrung das exklusive Gegenteil von Autorität. Und wenn es ohne Freiheit kein

wahres Menschsein gibt, dann ist der Protest gegen Autorität unerläßlich zur Wahrung der Men-

schenwürde.“223

Aber diese oft gehörte antagonistische Entgegensetzung von Autorität und Freiheit bezeichnet

Arendt als ein Missverständnis: „Autorität und Freiheit sind keineswegs Gegensätze, und einem

Autoritätsverlust entspricht kein automatischer Freiheitsgewinn. Vielmehr leben wir bereits seit

geraumer Zeit in einer Welt, in welcher dem fortschreitenden Autoritätsverlust eine ebenso evi-

dent fortschreitende Freiheitsbedrohung entspricht.“224

Diese Arendtsche positive Formulierung

des Verhältnisses von Autorität und Freiheit hält man für romantisch und konservativ. Die Rich-

tigkeit dieser Einschätzung ist jedoch anzuzweifeln, weil etwas wie die Restauration der überlie-

ferten alten Autoritäten nichts mit der Intention von Arendt zu tun hat.

Autorität ist für Arendt nicht identisch mit Gewalt oder Herrschaft, wie Freiheit nicht mit Will-

kür oder Souveränität. Die unversöhnliche Gegnerschaft von Autorität und Freiheit entsteht

notwendigerweise dann, wenn unter Autorität Herrschaft, wenn unter Freiheit Willkür verstan-

den wird.225

Die Verbindung von Freiheit und Autorität verhindert die anarchistische Willkür

und auch die tyrannische Herrschaft. Arendt formuliert: „Aufgabe der Autorität ist immer gewe-

sen, die Freiheit zu begrenzen und gerade dadurch zu sichern, so daß eine autoritäre Staatsform

ihre eigentliche Substanz verliert, wenn sie die Freiheit schlechterdings abschafft. Sie ist dann

eben nicht mehr autoritär, sondern tyrannisch.“226

Auf die kontradiktorische Entgegensetzung

von Freiheit und Autorität bezogen unterscheidet der Liberalismus gar nicht zwischen autoritä-

rer und totalitärer Staatsform. Der Unterschied zwischen beiden Typen ist nach seiner Ansicht

kein prinzipieller, sondern nur ein gradueller. Aber nach Arendt übersieht der Liberalismus „die

in der Wirklichkeit ausschlaggebenden Unterschiede zwischen einer autoritär beschränkten

221

Horkheimer, 1992, S. 149. 222

Rabe, 1972, S. 21. 223

Krüger, 1953, S. 45f. 224

ZVZ, S. 162; „Freiheit ist nur gehaltvoll durch Autorität, der sie folgt. Autorität ist nur wahr durch Erwecken

der Freiheit.“ (Jaspers, 1958, S. 45). 225

Vgl. Jaspers, 1958, S. 46. 226

ZVZ, S. 162.

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272

Freiheit, der tyrannischen Abschaffung der politischen Freiheit und der totalen Elimination jeder

Spontaneität, wie wir sie nur in totalitär beherrschten Ländern finden.“227

Daher sind die eigent-

lich politischen Phänomene verdunkelt. Dafür macht Arendt ein Beispiel: „Ein autoritär geleite-

tes Gemeinwesen wie die Katholische Kirche ist nicht totalitär, und totale Herrschaft, wie wir

sie von den Hitler und Stalin-Regimen kennen, hat mit Autorität nicht das geringste zu tun.“228

Der politische Zusammenhang zwischen Autorität und Freiheit besteht darin, dass sie nur bei

der Anerkennung der Pluralität zusammenfallen können. Die Anerkennung einer politischen

Autorität stellt keinen Ausschluss der Freiheit dar, sondern sie ermöglicht den Menschen, poli-

tisch zu handeln. In dem Verständnis des Autoritätsbegriffs als Gründung der politischen Ge-

meinschaft rührt die Freiheit nicht von der Abwesenheit der Autorität, sondern sie entsteht aus

dem politischen Handeln zur Schaffung der neuen Autorität. Die Möglichkeit zur Freiheit wird

„von einer kollektiven Autorität gestützt, nämlich der Autorisierung durch eine politische Ge-

meinschaft. Diese beruft sich explizit nicht auf von vornherein abgesprochene Solidarität und

dauernde Identität, wie es zum Beispiel der politische Zionismus tut, sondern auf offene Prozes-

se gegenseitiger Verständigung und die sich in dieser Verständigung etablierende Gleichheit.“229

Diese Beziehung von Autorität und Freiheit wird in Arendts Überlegung der Revolutionen ein-

deutig gemacht. Die Revolution bringt Arendts Ansicht zufolge Freiheit und zugleich die neue

Autorität. Für sie ist die Revolution selbst die Antwort auf den entscheidenden Autoritätsverlust.

Die Revolution ergibt sich, wenn die „Autorität des bestehenden Regimes hoffnungslos diskre-

ditiert ist.“230

Die Revolution ist die Folge des Autoritätsverlusts, sie ist niemals dessen Ursache.

In diesem Zusammenhang bezieht sich die Gründung der Freiheit, die in der erfolgreichen Re-

volution gesehen wird, auf die Schaffung einer neuen Autorität.231

Nach Arendt war es die Auf-

gabe der Revolutionen, „eine neue Autorität zu etablieren, die sich weder auf Sitten und Ge-

bräuche, noch auf Präzedenzien, noch auf die Heiligung durch unvordenkliche Zeiten berufen

konnte“.232

Interessant ist, dass Engels die Revolution mit dem Autoritätsprinzip verbindet. Engels lehnt die

Forderung danach, dass die Revolution zunächst die Autorität abschaffen muss, ab. Für ihn ist

eine Revolution vielmehr „das autoritärste Dinge, das es gibt.“233

Aber Engels sieht die Autorität

227

ZVZ, S. 162; dazu siehe auch Eschenburg, 1965, S. 159ff. 228

ZVZ, S. 162. 229

Barnouw, 2003, S. 51. 230

ÜR, S. 148. 231

Vgl. ÜR, S. 231. 232

ÜR, S. 208. 233

Engels, MEW, Bd. 18, S. 308.

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273

der Revolution als Durchsetzung brutaler Gewalt an.234

Engels Reduzierung der revolutionären

Autorität auf Gewalt war nichts anderes als eine Vollendung der Ideologisierung des Autoritäts-

begriffs unter geschichtsphilosophischer Einstellung. Die ideologisierte Autorität ist im Vorfeld

der Revolution machbar. Engels ist daher davon überzeugt, „daß Revolutionen nicht absichtlich

und willkürlich gemacht werden, sondern daß sie überall und zu jeder Zeit die notwendige Folge

von Umständen waren, welche von dem Willen und der Leitung einzelner Parteien und ganzer

Klassen durchaus unabhängig sind.“235

Ganz im Gegensatz dazu verbindet Arendt die Etablierung der Autorität durch Revolution mit

dem Handeln. Der Faktor der Freiheit, der beim Autoritätsbegriff bleibt, beruht darauf, dass sich

Autorität auf das Handeln als Anfang bezieht. Autorität hat es mit dem Gründungsakt im Sinne

des Einen – Anfang - Setzens zu tun. Der Neuanfang ist „nur möglich, wenn es die Autorität

selbst wieder – gründet“.236

Der Neuanfang und die Wiedergründung der Autorität beruhen nicht

auf dem Motiv der zweckmäßigen und vollständigen Machbarkeit, sondern auf dem unvorher-

sehbaren und ungewissen Zusammenhandeln der Menschen. In diesem Sinne spricht Jaspers

von der „Nichtherstellbarkeit“ der Autorität.237

Wenn Autorität herstellbar wäre, wäre sie das

Werk der Gewalt und des Zwangs. Wenn Machiavelli und Robespierre das „Gründen“ mit ei-

nem „Herstellen“ verwechselt haben, haben sie Autorität für machbar gehalten. „Erst für die

Spätern war das Gründen ein Ziel der Politik, und sogar das höchste, dem darum alle anderen

politischen Handlungen als Mittel unterstellt und für alle Mittel, auch die Mittel des Terrors und

der Gewalt, gerechtfertigt werden. Das aber bedeutet, daß hier der Gründungsakt nicht mehr im

Sinne des Handelns oder im Sinne der das weitere Handeln ermöglichenden ersten Tat, sondern

im Sinne eines Herstellens verstanden wurde. Für Machiavelli handelte es sich im wörtlichen

Verstand des Wortes darum, ein geeintes Italien zu machen, und Robespierre wollte eine Repub-

lik herstellen.“238

Der autoritäre Charakter der Gründung unterscheidet sich von der „Verfügung

über die Gewalt, die für alles Herstellen und Ausführen notwendig ist, ob sie sich nun auf Per-

sonen oder auf Sachen erstreckt“.239

234

In einem Brief erläutert er: „Ich kenne nichts Autoritäreres als eine Revolution, und wenn man seinen Willen

den anderen mit Bomben und Gewehrkugeln aufzwingt, wie in jeder Revolution, dann scheint mir, daß man

Autorität ausübt.“ (Engels, MEW, Bd. 33, S. 374). 235

MG, S. 152. 236

Kristeva, 2007, S. 9. 237

Jaspers, 1958, S. 55. 238

ZVZ, S. 193. 239

ZVZ, S. 189; dieses Merkmal der Autorität betont auch Baruzzi: „Autorität stiftet hier das politische Leben,

wobei die Stiftung in der Praxis beruht. Darin liegt der entscheidende Unterschied zur Poiesis oder Technik

(…). Die Römer wußten um dieses Problem, insofern sie Autorität als jenes verstanden, was außerhalb der

technischen Machtregelung im System der potestates bleiben musste.“ (Baruzzi, 1973, S. 176).

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274

Autorität und Freiheit haben mit der Verantwortung für die gemeinsame Welt zu tun. Wir haben

schon erwähnt, dass politische Autorität aus einer gegenseitigen Anerkennung der Pluralität

entsteht. Im politischen Bereich stellt sich diese Anerkennung als Verantwortung für die Ge-

meinschaft dar. Diese Verantwortlichkeit beruht nicht auf der moralischen oder transzendenten

Autorität, sondern auf der Tatsache, dass wir in der gemeinsamen Welt leben. Der Verlust der

Autorität hat eng mit dem Verschwinden der Verantwortung für die gemeinsame Welt zu tun.240

Darauf bezogen ist bemerkenswert, dass Arendt den Autoritätsverfall im präpolitischen wie po-

litischen Bereich mit der Weigerung der Übernahme von Verantwortung für die gemeinsame

Welt verknüpft: Es komme „in diesem Extrem der Autoritätsfeindlichkeit eine Art Abdankung

der Zeitgenossen zum Ausdruck, die sich als Eltern und Erzieher gewissermaßen weigern, eine

der allerelementarsten Funktionen in jedem Gemeinwesen, das Hineinleben derer, die durch die

Geburt neu in die Welt gekommen und daher in ihr notwendigerweise Fremdlinge sind, zu über-

nehmen und so die Kontinuität dieser gemeinsamen Welt zu sichern. Es ist, als wollten die El-

tern ihren Kindern gegenüber die Verantwortung für die Welt, in die sie sie hineingezeugt und

hineingeboren haben, nicht mehr übernehmen.“241

In diesem Zusammenhang verbindet Arendt

den modernen Autoritätsverfall aufs Engste mit dem Phänomen der spezifisch modernen Welt-

entfremdung.242

2.2.3 Autorität, Herrschaft und Macht

Für das Verständnis der Autorität besteht die Schwierigkeit darin, dass politische Schlüsselbe-

griffe wie Autorität, Macht und Herrschaft in der Fachsprache der Politikwissenschaft unter-

schiedslos verwendet werden. Darum bleibt oftmals unklar, welcher Begriff welchen Sachver-

halt bezeichnen soll und wer über welches Phänomen spricht.243

Meistens werden sie nur als

„verschiedene Worte für ein Verhältnis zwischen Befehlenden und Gehorchenden“244

verstan-

den. Bei dieser begrifflichen Verwirrung geht es nicht nur um einen leichtsinnigen Sprachge-

brauch. Hinter der scheinbaren Verwirrung steht vielmehr die Überzeugung, dass Herrschen und

240

Vgl. Wessel, 2006, S. 57ff. 241

ZVZ, S. 165. 242

Vgl. ZVZ, S. 165 und 275. 243

d‟Entreves weist darauf hin: Die Autorität, die Macht und die Herrschaft - „auf die exakte Verwendung all

dieser Worte legt die Umgangssprache keinen besonderen Wert; sogar die größten Denker gebrauchen sie

manchmal aufs Geratewohl. Aber es wäre angebracht, darauf zu bestehen, daß sie sich auf ganz bestimmte Ei-

genschaften beziehen und daß ihr Aussagegehalt deshalb jeweils sorgfältig abgewogen und geprüft werden

sollte“ (d‟Entreves, 1967; zit. nach MG, S. 174). 244

ÜR, S. 232.

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275

Beherrschtwerden alle politischen Verhältnisse bestimmen: „Daß in unserem Dasein Autorität

mit Herrschaft verknüpft sein muß, ist ihr Verhängnis.“245

In Bezug auf die Gleichsetzung von Autorität und Herrschaft haben wir oben Platos Bemühung,

die Herrschaft durch etwas wie präpolitische Autorität zu ersetzen, gesehen. Auch bei Aristote-

les ist für ausgemacht gehalten, dass ein Aspekt einer politischen Assoziation das Vorhanden-

sein von Herrschaft ist, indem er die Perspektive eines politischen Verhältnisses vom Unter-

schied etwa zwischen Herrn und Sklaven, Ehemann und Ehefrau und Eltern und Kinder ablei-

tet.246

Zur politischen Ordnung führt er das Verhältnis von natürlicher angeborener Überlegen-

heit und natürlicher Unterlegenheit in die Angelegenheiten der Polis ein.247

Durch die Verwen-

dung dieser zweifelhaften anthropologischen Aussage entpolitisiert er Arendts Auffassung zu-

folge die Politik. Wenn die präpolitische Autorität zum Modell von der politischen Autorität

gemacht wird, führt das „zu der grundsätzlichen Perversion des Politischen“.248

Aber die präpo-

litische Autorität ist nach Arendts Auffassung für den politischen Bereich nicht geeignet, weil

sie „von der Natur selbst diktiert und von allen geschichtlichen Veränderungen und politischen

Verfassungen unabhängig“ ist und weil es im Politischen immer um das Verhältnis zwischen

gleichen Erwachsenen geht.249

Die Gleichsetzung von Autorität und Herrschaft zeigt sich stets in den neuzeitlichen Staatstheo-

rien. Vor allem in dem Begriff der Souveränität als Schlüsselbegriff der neuzeitlichen politi-

schen Ordnungsvorstellung ist die Unterscheidung zwischen Autorität und Herrschaft fast ver-

schwunden.250

Mit einem Rechtsakt per Vertrag wollten die neuzeitlichen politischen Philoso-

phen die Frage der legitimen Begründung der Herrschaft beantworten. Bei Hobbes handelt es

sich auch um die Verbindung von Autorität und Souveränität.251

Das auf dem Vertrag gegründe-

te Gesetz ist für Hobbes die Erzeugung des Autorisierungsprozesses252

, das durch eine Art von

Delegierung den „sterblichen Gott“253

als den absoluten Souverän erzeugt. Aus diesem Autori-

sierungsprozess ergibt sich die Legitimation der Herrschaft. Daraus folgt die Identifizierung von

Autorität und Souveränität, wie Hobbes sagt, dass „die Autorität des Gesetzes (…) nur im Be-

245

Jaspers, 1958, S. 47. 246

Aristoteles, Politik 1253 b und 1332 b; vgl. ZVZ, S. 185 und S. 407. 247

„Bei Aristoteles findet die Betonung des herrschaftlichen Moments ihren stärksten Ausdruck in der Begrün-

dung der Sklaverei auf die angeborene Ungleichheit der Menschen.“ (Brunner, 1950, S. 124; zit. nach Kos-

lowski, 1979, S. 64). 248

WP, S. 10. 249

ZVZ, S. 272. 250

Zum Verhältnis von Autorität und Souveränität siehe Eschenburg, 1965, S. 109ff. 251

Vgl. Hobbes, LV, Kap. 16. 252

„Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht,

mich zu regieren, unter der Bedingung, daß du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen

autorisierst.“ (Hobbes, LV, S. 134). 253

Hobbes, LV, Kap. 17.

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276

fehl des Souveräns besteht“.254

Autorität wird zur Befehlsgewalt des Souveräns unter Geltung

kraft Autorität. Sie stellt daher immer „Autorität des Souveräns“255

dar. Diese souveräne Autori-

tät ist durch ihre Absolutheit gekennzeichnet, weil der Autorisierungsprozess zur Machtzentrali-

sierung führt. Obwohl Hobbes Autorität zunächst als „ein Recht auf irgendeine Handlung“256

definiert, setzt die Autorisierungskonstruktion jedoch den Verzicht auf das Recht auf bestimmte

eigene Handlungen des Autors voraus, um die Handlungen des Souveräns als die eigenen an-

zuerkennen: „Ich autorisiere alle ihre Handlungen oder nehme sie auf mich.“257

Nun wird es

selbstverständlich, dass das Ziel der Autorisierung für Hobbes in der Unterwerfung der vielen

Einzelnen unter eine Person besteht, also in einer wirklichen „Einheit aller in ein und derselben

Person“.258

Die aus dem Vertrag entstehende Autorisierung führt zur „Entmachtung Aller zu-

gunsten Eines“259

. Die Autorität, als Herrschaft verstanden, und damit die politische Vereini-

gung geschehen bei Hobbes also nicht aus dem gemeinsamen Handeln zum Zusammenschluss,

sondern nur aus einer „Entmündigung der Autoren durch den Akt der Autorisierung“260

.

Die begriffliche Vermischung von Herrschaft und Autorität findet sich aufs ausführlichste bei

Max Weber.261

Für ihn ist Herrschaft ein Zentralbegriff der Politik. Herrschaft ist bei Weber die

Chance, „für spezifische (oder: für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen

Gehorsam zu finden. Nicht also jede Art von Chance, Macht und Einfluß auf andere Menschen

auszuüben. Herrschaft (Autorität) in diesem Sinn kann im Einzelfall auf den verschiedensten

Motiven der Fügsamkeit: von dumpfer Gewöhnung angefangen bis zu rein zweckrationalen Er-

wägungen, beruhen. Ein bestimmtes Minimum an Gehorchenswollen, also: Interesse (äußerem

oder innerem) am Gehorchen, gehört zu jedem echten Herrschaftsverhältnis.“262

Nach dieser

Definition verlangt Herrschaft zumindest Interesse am Gehorchen des Herrschaftsunterworfe-

nen. Aber die „Herrschaft kraft Interessenkonstellation“263

ist für Weber nicht hinreichend.

Deswegen beschränkt er die Herrschaft auf die „Herrschaft kraft Autorität“ oder „autoritäre Be-

254

Hobbes, LV, S. 210; vgl. EU, S. 320. 255

Hobbes, LV, S. 212. 256

Hobbes, LV, S. 124. 257

Hobbes, LV, S. 168. 258

Hobbes, LV, S. 134; „Eine Menge von Menschen wird zu einer Person gemacht, wenn sie von einem Men-

schen oder einer Person vertreten wird und sofern dies mit der besonderen Zustimmung jedes einzelnen dieser

Menge geschieht. Denn es ist die Einheit des Vertreters, nicht die Einheit der Vertretenen, die bewirkt, daß eine

Person entsteht. Und es ist der Vertreter, der die Person, und zwar nur eine Person verkörpert – anders kann

Einheit bei einer Menge nicht verstanden werden.“ (Hobbes, LV, S. 125f. Hervorhebung im Original). 259

DTB, S. 81. 260

Münkler, 1993, S. 133. 261

„Jedwede Autorität war für ihn eine Art von Herrschaft“ (Sternberger, 1980c, S. 152; vgl. Weber, WG, S. 38,

157 und 691). 262

Weber, WG, S. 157. Hervorhebung im Original. 263

Weber, WG, S. 691.

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277

fehlsgewalt“.264

Wenn das Zusammengehen von Befehl und Gehorsam unabhängig von allem

Interesse zu einer Angewohnheit geworden ist, dann ist Herrschaft Autorität zu nennen. So defi-

niert Weber Autorität als „ein unabhängig von allem Interesse bestehendes Recht auf Gehorsam

gegenüber den tatsächlich Beherrschten“. 265

Herrschaft ist für Weber wie für Hobbes auf der

Geltung kraft Autorität gegründet.

Arendt verweist auf das spezifische Phänomen der Autorität folgendermaßen: „Da Autorität

immer mit dem Anspruch des Gehorsams auftritt, wird sie gemeinhin für eine Form von Macht,

für einen Zwang besonderer Art gehalten. Autorität jedoch schließt gerade den Gebrauch jegli-

chen Zwanges aus, und wo Gewalt gebraucht wird, um Gehorsam zu erzwingen, hat Autorität

immer schon versagt. Andererseits ist Autorität unvereinbar mit Überzeugungen, welches

Gleichheit voraussetzt und mit Argumenten arbeitet.“ 266

Diese Feststellung beruft sich aller-

dings auf den römischen Autoritätsbegriff. Für Römer ist die Autorität dadurch gekennzeichnet,

dass sie „mehr als ein Ratschlag, und weniger als ein Befehl, eben ein Ratschlag, dessen Befol-

gung man sich nicht füglich entziehen kann“267

ist.

Für ein solches Verständnis von Autorität liegt die Schwierigkeit darin, dass die Autorität nicht

nur von dem Zwang abgegrenzt ist, sondern auch von der argumentativen Überzeugung. Daraus

folgt, dass die Autorität als ein politischer Begriff in deutlichem Unterschied nicht nur zur Herr-

schaft, sondern auch zur Macht steht. Im Gegensatz zur vorherrschende Definition der Autorität

als „formale Macht oder als rechtmäßige Macht“268

sind Macht und Autorität für Arendt nicht

dasselbe, und beide Phänomene haben ihre eigene Bedeutung für den politischen Bereich.269

Die

Unterscheidung zwischen Autorität und Macht findet sich schon bei Ciceros Bestimmung von

potestas und auctoritas: „wie der Sitz der Macht im Volk, so liegt der Sitz der Autorität im Se-

nat.“270

Das Kennzeichen der Autorität, das sich von Macht unterscheidet, liegt darin, dass sie ihren Ort

in der politischen Ordnung hat. Die Gestaltungen dieser Ordnung haben Arendts Ansicht zufol-

ge „weder oben noch unten ihre Quelle“271

. Die politische Autorität bezieht sich auf „die fraglo-

se Anerkennung seitens derer, denen Gehorsam abverlangt wird“.272

Der die politische Autorität

264

Weber, WG, S. 692. 265

Weber, WG, S. 693. 266

ZVZ, S. 159; „So kann ein Vater seine Autorität entweder dadurch verlieren, dass er das Kind durch Schläge

zwingt oder dadurch daß er versucht, es durch Argumente zu überzeugen. In beiden Fällen handelt er nicht

mehr autoritär, in dem einen Fall tyrannisch, in dem anderen demokratisch“. (MG, S. 176). 267

Mommsen, 1888, Bd. III/2, S.1034; zit. nach ZVZ, S. 189. 268

Lasswell/Kaplan, 1950, S. 133; zit. nach Friedrich, 1974, S. 50. 269

Vgl. ÜR, S. 231. 270

ZVZ, S. 189. 271

ÜR, S. 358. 272

MG, S. 175.

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278

herausbildende Gehorsam ist jedoch vom blinden Gehorsam zu unterscheiden. Die politische

Autorität des römischen Senats war von der Zustimmung des Volkes abhängig, weil der Senat

„weder Macht hatte, dem Volk zu befehlen, noch die Gewaltmittel besaß, um seine Ratschläge

durchzusetzen.“273

Die politische Autorität hat auch keine platonische transzendente Quelle,

„die als Gebote den ‚blinden„ Gehorsam fordern, der unabhängig ist von Zustimmung oder

wechselseitigen Abmachungen“.274

Politisch gesehen bedeutet der Gehorsam die Unterstützung

der Stifter der Macht.275

So wird Autorität in dem Moment zerstört, wenn man den Gehorsam,

verstanden als Unterstützung und Zustimmung, verweigert.276

In diesem Zusammenhang bestehen Autorität und Macht in einer Wechselbeziehung. Für Arendt

liegt die Aufgabe der Autorität darin, den Raum des Politischen, in dem alle Macht entsteht, zu

begrenzen und zu schützen, weil Macht schwerlich genügt, „Dauerhaftigkeit zu gewährleisten

und also die Angelegenheiten der Menschen so weit zu stabilisieren, daß sie für ihre Nachkom-

men Sorge tragen und in der Welt etwas errichten können, was sie überdauert.“277

Weil Macht

im Sinne Arendts nicht etwas „Unveränderliches, Messbares, Verlässliches“278

ist, muss sie

durch eine politische Institution begrenzt werden, die der Vermehrung fähig ist. Anders gesagt

liegt der Grund für die Begrenztheit der Macht in ihrem Wesen, nicht aber in einem Gegensatz

zwischen Macht und Autorität. Damit verbunden kommt es Arendt auf die Differenzierung zwi-

schen Macht und Gesetz.279

Die Autorität, welche die Gesetze gegenüber den Bürgern eines

Landes beanspruchen kann, besitzt den Zweck, die öffentliche Macht abzusichern und auch zu

vermehren, indem sie dem Neuanfang eine weltliche Stabilität verleiht.280

Mit anderen Worte:

Die politische Autorität hängt davon ab, wie die öffentliche Macht organisiert ist und wie die

menschliche Pluralität konstituiert ist. Diese Korrelation von Macht und Autorität haben die

Männer der amerikanischen Revolution erkannt, wie Arendt davon überzeugt ist. Sie hält fest:

„Wobei ihnen aber wieder zu Hilfe kam, daß sie bei den Römern gelernt hatten, daß dies

Machtprinzip zur Formulierung eines Staates nur imstande ist, wenn man es durch die weitere

römische Formel auctoritas in senatu ergänzt; sie gingen also von vornherein davon aus, daß

Macht und Autorität nicht dasselbe sind, daß man aber beider bedarf für den Staat (…). Diese

273

ZVZ, S. 189. 274

ÜR, S. 244f. 275

Vgl. ÜR, S. 293. 276

Aus dem Eichmannprozess in Jerusalem berichtet Arendt: „Denn wenn Sie sich auf Gehorsam berufen, so

möchten wir Ihnen vorhalten, daß die Politik ja nicht in der Kinderstube vor sich geht und daß im politischen

Bereich der Erwachsenen das Wort Gehorsam nur ein anderes Wort ist für Zustimmung und Unterstützung.“

(EJ, S. 329). 277

ÜR, S. 236. 278

VA, S. 252; „Auf Macht ist kein Verlaß; sie entsteht, wenn Menschen sich für ein bestimmtes Ziel zusammen-

tun und organisieren, und verschwindet, wenn dies Ziel erreicht oder verloren ist“ (ZVZ, S. 363). 279

Vgl. ÜR, S. 204 und 237; dazu siehe Abschnitt über Rousseau. 280

Zu einem solchen Verständnis von Gesetz siehe IG, S. 445f.

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279

Autorität war dem Volk abhanden gekommen durch die Unabhängigkeitserklärung, und das

Hauptproblem der Amerikanischen Revolution war daher nicht nur, ein neues Machtsystem zu

etablieren, sondern zugleich damit auch eine neue Quelle der Autorität zu finden, auf die sich

diese Macht zusätzlich stützen konnte.“281

2.3 Die politische Macht

Aus der komplexen Begriffswelt der politischen Ideengeschichte ragt Macht als grundlegender

und zugleich umstrittener Begriff hervor. Obwohl die Macht zweifellos als „Grundkategorie des

Politischen“282

bezeichnet wird, bleibt ihre eigentlich politische Qualität im Dunkeln. Der ganz

eigenständige Beitrag von Arendts Macht-Begriff zur politischen Philosophie des 20. Jahrhun-

derts besteht darin, dass sie Macht als „das Urphänomen der Pluralität“283

charakterisiert. Macht

könne „nur in einer der vielen Formen der menschlichen Pluralität ihren Wohnsitz haben, woge-

gen jede Art der menschlichen Singularität per definitionem ohnmächtig ist.“284

Die menschli-

che Pluralität ist die entscheidende Bedingung für die Entstehung der Macht und ihre Begrenzt-

heit.285

Arendts Machtbegriff geht eigentlich von der phänomenologischen Abgrenzung von Herrschaft

und Gewalt aus. Aus der Tatsache, dass Macht dem Grundfaktum der Pluralität von handelnden

und meinenden Menschen entspricht, unterscheidet sie sich von anderen Phänomenen. Um die

politische Qualität der Macht zu erkennen, ist es zunächst notwendig, den Begriff der Macht von

den verwandten und benachbarten Begriffen abzugrenzen und näher zu bestimmen.

2.3.1 Herrschaft als Entmachtung der Macht

In der philosophisch-sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweise teilt man weithin die Über-

zeugung: Politik sei eine beständige Beziehung der Herrschaft, deren Grundstruktur der Gegen-

satz von Herrschenden und Beherrschten oder von Befehlen und Gehorchen ist. Als „ein Urphä-

nomen der Politik“286

wird Herrschaft so zum wesentlichen Merkmal der Politik und ihrem

Grundprinzip, dass alle anderen politischen Phänomene wie Macht und Autorität ihr unter-

281

ÜR, S. 231. 282

Sontheimer, 1966, S. 197ff. 283

DTB, S. 160. 284

ÜDB, S. 93. 285

Vollrath stellt zu Recht fest: „Hannah Arendt versteht jetzt das Phänomen der Macht weltlich, d.h. aus der

Pluralität der die Welt bevölkernden Menschen.“ (Vollrath, 1979a, S. 48). 286

Lenk, 1993, S. 241.

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280

geordnet sind.287

Darüber hinaus wird Herrschaft als „das historisch wichtigste-allgemeinste

Strukturelement der gesellschaftlichen Wirklichkeit“288

verstanden. Die Notwendigkeit der

Herrschaft im sozialen und politischen Bereich drückt Weber in kurzer Formulierung aus: „Je-

der Gedanke (...), durch noch so ausgetüftelte Formen der Demokratie die Herrschaft des Men-

schen über den Menschen zu beseitigen, ist eine Utopie“.289

Der Gedanke der Notwendigkeit der Herrschaft im politischen Bereich beruht vor allem auf ei-

nem Verständnis des Politischen als Funktion der Gestaltung des einheitlichen Willens oder der

gesellschaftlichen Verwaltung. Wenn die Lebensversorgung oder die Beherrschung der Lebens-

notwendigkeit im Mittelpunkt der politischen Aufgabe steht, sind Herrschaft und Politik vonei-

nander untrennbar.290

Das stellt Max Weber ganz deutlich fest: „Jede Herrschaft äußert sich und

funktioniert als Verwaltung. Jede Verwaltung bedarf irgendwie der Herrschaft, denn immer

müssen zu ihrer Führung irgendwelche Befehlsgewalten in irgend jemander Hand gelegt

sein.“291

Es ist kein Zufall, dass auch die sogenannten Kritischen Theoretiker das herrschaftska-

tegoriale Politikverständnis, dass Politik vollständig in undifferenzierter Herrschaft des Men-

schen über den Menschen aufgeht, übernehmen.292

Im Denken der Kritischen Theorie kommt es

zu einer Identifikation von Politik und Herrschaft, wie diese von Horkheimer in „Anfänge der

bürgerlichen Geschichtsphilosophie“ erörtert wird: „Aber nicht nur auf der Beherrschung der

Natur im engeren Sinne, nicht nur auf der Erfindung neuer Produktionsmethoden, auf dem Bau

von Maschinen, auf der Erhaltung eines gewissen Gesundheitszustandes beruht die Gesellschaft,

sondern ebenso sehr auf der Herrschaft von Menschen über Menschen. Der Inbegriff der Wege,

die dazu führen und der Maßnahmen, die der Aufrechterhaltung dieser Herrschaft dienen, heißt

Politik.“293

Vor dem Hintergrund dieser Tradition der Kritischen Theorie wirft Habermas Arendt vor, dass

sie alle administrative Ausübung von Macht aus dem Machtbegriff ausschließt.294

Nach Greven

bezieht sich seine Kritik an dem Arendtschen Machtbegriff darauf, dass er Politik eng verbindet

„mit machtgestütztem Verwaltungshandeln des ausdifferenzierten politisch-administrativen Sys-

287

Vgl. Dahl, 1973, S. 16f. 288

Freyer, 1987, S. 31. 289

Weber, Brief an Michels vom 4. 8. 1908; zit. nach Mommsen, 1974, S. 420; „Herrschaft sei unausweichlich,

Herrschaftsfreiheit ein widersinniges, ein widernatürliches Ziel, ein Wahn“ (Sternberger, 1980a, S. 17). 290

Vgl. WP, S. 56 und 74ff. 291

Weber, WG, S. 697. 292

Vgl. Vollrath, 1990, S. 283. 293

Horkheimer, 1971, S. 12; zit. nach Vollrath, 1989a, S. 203. 294

Habermas erhebt Einwände gegen Arendts Machtbegriff in drei Dimensionen, „daß sie erstens alle strategi-

schen Elemente als Gewalt aus der Politik ausblendet; daß sie zweitens die Politik aus den Bezügen zu ihrer

ökonomischen und gesellschaftlichen Umwelt, in die sie über das administrative System eingebettet ist, he-

rausnimmt; und daß sie drittens Erscheinungen struktureller Gewalt nicht fassen kann.“ (Habermas, 1981b, S.

240f.).

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281

tems“295

. In der Tat formuliert Habermas in seinem Buch Faktizität und Geltung sein eigenes

Konzept der Politik in der Auseinandersetzung mit Hannah Arendt: „Politik kann nicht als ganze

mit der Praxis derer zusammenfallen, die miteinander reden, um politisch autonom zu handeln.

Die Ausübung politischer Autonomie bedeutet die diskursive Bildung eines gemeinsamen Wil-

lens, noch nicht die Implementierung der aus ihm hervorgehenden Gesetze. Der Begriff des Po-

litischen erstreckt sich zu Recht auch auf die Verwendung administrativer Macht im und auf

Konkurrenz um den Zugang zum politischen System.“296

Beim Verständnis der Politik auf die-

ser Übernahme der funktionalistischen Systemtheorie lassen sich das Eigenwesen und die Ei-

genständigkeit des Politischen selbst nicht deutlich sehen.297

Da sich für das Habermassche Ver-

ständnis der Politik der Graben zwischen dem administrativen und funktionalen System einer-

seits und dem kommunikativen Handeln andererseits auftut, bleiben die Spezifika des Politi-

schen im Dunkeln.298

In diesem Zusammenhang scheint Habermas die Politik mit der Herrschaft

gleichzusetzen. Aber an einer Stelle vertritt Greven die These: Habermas, auch wenn er die Poli-

tik mit administrativer Macht und mit dem Verwaltungssystem verbindet, stelle eine Verbin-

dung der Politik zur Herrschaft nicht mehr her.299

Man kann gerade bemerken, dass sich seine

These gegen Vollraths Behauptung wendet, das Habermassche Verständnis des Politischen trage

den „beibehaltenen entqualifizierten und undifferenzierten – unpolitischen – Herrschaftsbe-

griff“,300

der der Tradition der Kritischen Theorie innewohnt. In Anlehnung an das Arendtsche

Verständnis der Politik meint Vollrath, dass Habermas die Politik als den Bereich der Herrschaft

versteht, soweit er das politische Handeln als Verwaltungshandeln bezeichnet. Der politische

Bereich, der die Opposition der herrschaftsfreien Lebenswelt ist, ist nichts anderes als der Ort

„von Herrschaft, der Ausübung politischer Macht“.301

Wenn von der Notwendigkeit der Herrschaft die Rede ist, geht es immer um die Frage, wer die

Herrschaft ausüben und wer sie erdulden soll. Diese Frage beantwortet man stets mit, „daß die

Macht allein es ist, welche herrschen kann.“302

Daraus ergibt sich die Verknüpfung zwischen

Macht und Herrschaft. Macht bezeichnet sich als Mittel der Herrschaft oder als ihre Möglich-

keit: „Herrschen heißt Macht üben, und Macht üben kann nur der, welcher Macht besitzt. An-

ders gesagt, ist der Inhaber der Macht der Herrschende. Dieser unmittelbare Zusammenhang von

295

Greven, 1991, S. 216. 296

Habermas, 1998c, S. 186f. 297

In Bezug auf die Tradition der Kritischen Theorie weist Martin Jay auf das Ausbleiben „einer autonomen Theo-

rie der Politik“ und damit auf „ihre im Innersten apolitische Haltung“ hin (Jay, 1976, S. 148 und 341). 298

Vgl. Greven, 1993, S. 77. 299

Greven, 1991, S. 216. 300

Vollrath, 1989a, S. 221. 301

Vgl. Habermas, 1981b, S. 242. 302

Rochau, 1972, S. 25.

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282

Macht und Herrschaft bildet die Grundwahrheit aller Politik und den Schlüssel der ganzen Ge-

schichte.“303

Arendt hält fest, dass sich hinter der Verwirrung der Worte Macht, Herrschaft und

Gewalt in der Terminologie der modernen Politikwissenschaft kein mangelndes Unterschei-

dungsvermögen, sondern eine theoretische Überzeugung verbirgt, „die Überzeugung nämlich,

daß es in der Politik immer nur eine entscheidende Frage gäbe, die Frage: Wer herrscht über

wen? Macht, Stärke, Kräfte, Autorität, Gewalt – alle diese Worte bezeichnen nur die Mittel,

deren Menschen sich jeweils bedienen, um über andere zu herrschen; man kann sie so synonym

gebrauchen, weil sie alle die gleiche Funktion haben.“304

In der herrschaftskategorialen Bestimmung des Politischen reduziert sich die Macht auf „In-

strument der Herrschaft“305

. Diese Instrumentalisierung der Macht ist schon bei Hobbes charak-

teristisch. Herrschaft werde „durch Macht“306

erworben. Macht ist für Hobbes alles, was einem

Menschen zu Vorteil verhelfen könnte.307

Alle die gegenwärtigen Mittel zur Erlangung eines

zukünftigen Gutes bedeuteten Macht, sei es „das Herausragen der körperlichen oder geistigen

Fähigkeit, wie außerordentliche Stärke, Schönheit, Klugheit, Geschicklichkeit, Beredsamkeit,

Freigebigkeit und Vornehmheit“, sei es „die Macht, die durch natürliche Macht oder durch Zu-

fall erlangt wird und als Mittel oder Instrument zum Erwerb von mehr Macht dient, wie Reich-

tum, Ansehen, Freunde und das verborgene Wirken Gottes, das man gewöhnlich Glück

nennt“.308

Hinsichtlich der Instrumentalisierung der Macht können alle sozialen Beziehungen als Grundla-

ge für das Streben nach Macht dienen. Obwohl Hobbes erkennt, dass die Macht nicht die Sache

des isolierten Menschen ist, sondern dass sie vielmehr in der sozialen Beziehung der Menschen

besteht, bedeutet das aber nicht, dass er die Pluralität der Menschen oder die menschlichen Be-

ziehungen selbst als eine Quelle der Macht auffasst.309

Wenn Hobbes die Freundschaftsbezie-

hung mit der Beziehung zwischen Herrn und Diener gleichsetzt, instrumentalisiert er die men-

schlichen Beziehungen selbst unterschiedslos.310

Dieser Machtbegriff ist Arendt zufolge vor

303

Rochau, 1972, S. 25. 304

MG, S. 174; vgl. ÜR, S. 232. 305

MG, S. 168. 306

Hobbes, LV, S. 70. 307

„Die Macht eines Menschen besteht, allgemein genommen, in seinen gegenwärtigen Mitteln zur Erlangung

eines zukünftigen anscheinenden Guts und ist entweder ursprünglich oder zweckdienlich.“ (Hobbes, LV, S. 66.

Hervorhebung im Original). 308

Hobbes, LV, S. 66; vgl. EU, S. 319ff. 309

„In diesem negativen Sinne ist er (Hobbes: H. P.) der einzige, der die Pluralität als das zentrale Problem er-

kennt.“ (DTB, S. 81). 310

„Deshalb ist es Macht, Diener zu haben, Freunde zu haben ebenfalls, denn sie sind vereinte Kräfte.“ (Hobbes,

LV, S. 66).

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283

allem in der politischen Weltanschauung der modernen Bourgeoisie charakteristisch. 311

Diese

Auffassung über Macht findet ihren Ausdruck auch in der berühmten Definition von Max We-

ber. In seiner klassischen Formulierung definiert Weber Macht wie folgt: „Macht bedeutet jede

Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben

durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“312

Obwohl sich sein Machtbegriff, in-

dem Weber Macht als das Modell der monologischen Durchsetzung eines individuellen Willens

bestimmt, von der Staatlichkeit abweicht313

, erweist sich er als nicht politisch. Der Mensch mit

der Macht richtet sich zur Durchsetzung des eigenen Willens stets feindlich gegen den anderen

Willen. Dabei ist der Unterschied von Macht und Gewalt verwischt.314

Als Grundlage der Macht

kann die Bedrohung durch physische Gewalt dienen: „Was für Weber Macht, ist für Hannah

Arendt Gewalt.“315

Macht hat für Arendt nichts mit dem Wollen der Einzelnen zu tun. „Macht

ist kein Willensphänomen, weder wird sie durch Willen erzeugt, noch ist sie primär das Objekt

eines Willens.“316

Es ist bemerkenswert, dass sich Herrschaft und Macht im hierarchischen Zusammenhang ver-

stehen. Macht gilt für ein faktisches und natürliches Verhältnis, während Herrschaft ein Aus-

druck der legitimierten Beziehung ist. Von der Ausübung elementarer Macht kann keine stabile

politische Ordnung ausgehen, da diese bloß ein Mittel ist. So muss die Macht zur Herrschaft

übergehen. Der anthropologischen Bestimmung von Hobbes zufolge strebt jeder nach Macht.

Das endlose Streben nach Macht findet aber nur in dem Naturzustand statt, weil Macht selbst für

gleichbedeutend mit Konflikt und chaotischem Kampf gehalten und nicht mit Frieden vereinbar

ist. Die Lösung dieses Problems liegt für Hobbes in der Monopolisierung der Macht durch Le-

viathan.317

Diese Machtmonopolisierung versteht Hobbes als die Herrschaft. Im Blick auf die

Machtmonopolisierung ist Herrschaft um so größer, je weniger die Bürger selbst noch Macht

haben. Diese Zentralisierung der Macht, also Herrschaft, verlangt Entmachtung der Macht der

311

„Der Machtbegriff der neuen Klasse war aus gesellschaftlichen und nicht aus politischen Erfahrungen bezogen,

er hatte sich in der anarchistischen Konkurrenz aller mit allen im Zusammenleben vereinzelter Individuen ge-

bildet, nicht in der Sphäre politischen Handelns. Ein auf diese Art Macht begründetes Gemeinwesen konnte in

der Ruhe der Stabilität nur zerfallen“ (EU, S. 323). 312

Weber, WG, S. 38. 313

Die Bestimmung der Macht als des Willens des Individuums bezeichnet Plessner als die „Emanzipation der

Macht von Staat“ (Plessner, 1980, S. 276). 314

Vgl. dagegen Kondylis, 1992, S. 32. 315

Göhler/Speth, 1998, S. 20; Göhler und Speth stellen den Kern dieser Unterscheidung fest: „Transitiv ist die

Macht, wenn sie auf andere bezogen ist (eben als Willensdurchsetzung). Intransitiv ist die Macht, wenn sie auf

sich selbst bezogen ist. Das Grundmuster der transitiven Macht ist die Unterordnung des Willens unter den

Willen eines anderen. Das ist auch unser Alltagsverständnis von Macht. Das Grundmuster der intransitiven

Macht ist Selbstbezüglichkeit im Sinne von Mächtigkeit der Selbstmächtigkeit einer sozialen Einheit. Intransi-

tive Macht umfaßt das Ensemble der Beziehungen, welches eine Gruppe von Menschen als eine Gemeinschaft

konstituiert. Intransitive Macht entsteht im Zusammenhandeln der Akteure.“ 316

DTB, S. 184. 317

Vgl. ÜR, S. 222.

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284

Bürger und läuft schließlich auf ihre Ohnmacht hinaus. Darauf weist Henning Ottmann in der

kurzen Formulierung hin: „Die extreme Ohnmacht des Menschen führt zur äußersten Macht des

Staates“318

Eine völlig ähnliche Sichtweise von Herrschaft geht auf Max Weber zurück. Die monopolisti-

sche Anwendung der Macht gehört für ihn zum wesentlichen Merkmal der Herrschaft. Er unter-

scheidet klar zwischen Herrschaft und Machtbeziehung.319

Macht ist sowohl instabil als auch

„amorph“320

, während Herrschaft die gültig anerkannte Staatsordnung darstellt.321

Herrschaft

versteht sich als „autoritäre Befehlsgewalt“322

, während Macht „eine autoritäts-lose Gewalt“323

ist. Herrschaft beruht auf dem „Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit“324

, während sich

Macht mit der individualisierten und natürlichen Gewalt gleichsetzt. Aber die Macht gehe durch

das Bestehen einer zentralisierten Macht zur Herrschaft über, die „spezifische Verdichtung von

Macht“325

ist. Die staatliche Ordnung entsteht durch die Zentralisierung der Macht. „Der Staat

ist (…) ein auf das Mittel der legitimen (das heißt, als legitim angesehenen) Gewaltsamkeit ge-

stütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen.“326

In diesem Sinne drückt sich

Herrschaft als „durchgesetzte Macht oder institutionalisierte – gesetzmäßige Macht“327

oder „ein

Sonderfall von Macht“328

aus.

Diese Korrelation zwischen Macht und Herrschaft lehnt Hannah Arendt ab. Die Originalität und

die Radikalität des politischen Denkens von Arendt zeigen sich in der Bemühung, sich gegen

das vorteilhafte Verständnis des Politischen als ein reines Herrschaftsverhältnis zu wenden.

Arendt zweifelt grundsätzlich an der Notwendigkeit von Herrschaft. Arendt stellt fest: „Ich bin

der Meinung, daß die Rückführung aller menschlichen Tätigkeiten auf das Arbeiten oder Hers-

tellen und die Reduzierung aller politischen Verhältnisse auf das Herrschaftsverhältnis nicht nur

historisch nicht zu rechtfertigen sind, sondern in verhängnisvoller Weise den Raum des Öffent-

lichen und die Möglichkeiten des Menschen als eines für Politik begabten Wesens verkrüppelt

und pervertiert haben.“329

Macht im politischen Raum ist ursprünglich ein anderes Phänomen als Herrschaft. Das zentrale

Problem des Politischen ist für Arendt nicht die Herrschaft, sondern das Problem der Macht.

318

Ottmann, 1992, S. 83f. 319

Vgl. Neuenhaus, 1998, S. 77f. 320

Weber, WG, S. 38. 321

Vgl. Neuenhaus, 1998, S. 77. 322

Weber, WG, S. 692. 323

DTB, S. 185. 324

Weber, 1971b, S. 506; auch Weber, WG, S. 1043. 325

Hättich, 1987, S. 979. 326

Weber, 1971b, S. 507. 327

Popitz, 1986, S. 38. 328

Weber, WG, S. 692. 329

ZVZ, S. 380.

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285

Das politische Wesen der Macht besteht darin, dass sie zugleich Produkt und Quelle der öffent-

lichen Freiheit ist,330

während das Resultat der Herrschaft „die Vernichtung der Freiheit für

Herrschaft wie Beherrschte“331

ist. Der Kern des Entpolitisierungseffekts der Herrschaft besteht

darin, dass sie das politische Handeln zur bloßen Befehlsausführung degradiert. Wie wir schon

gesehen haben, wurde der Begriff der Herrschaft als Ersatz für die Machtsphäre der Pluralität in

den politischen Bereich eingeführt. Die ontologische Verankerung der Herrschaft im politischen

Bereich ist aber nicht mit dem Pluralitätspostulat vereinbar, weil „sich Pluralität und Herrschaft

(…) gegenseitig ausschließen“.332

2.3.2 Macht und Gewalt

Die Frage, wie das Verhältnis von Macht und Gewalt zu bestimmen ist, ist in der Tat „ein klas-

sischer Topos machttheoretischer Erörterungen“333

. In westlichen Machttheorien sowohl von

rechten als auch linken Denkern findet sich die auffällige gemeinsame Behauptung, dass Macht

ohne Gewalt nicht denkbar sei. Im Blick auf die Instrumentalisierung der Macht, sie als das Mit-

tel zur Verwirklichung des Zwecks anzusehen, ist die Gewalt zweifellos zu einem der wirksams-

ten Mittel der Macht oder zur Macht an sich zu zählen. Trotz der endlosen Variationen durch die

ganze Geschichte der Machttheorie ist eine gemeinsame Maxime festzustellen, „daß Macht und

Gewalt dasselbe sind beziehungsweise daß Gewalt nichts weiter ist als die eklatanteste Manifes-

tation von Macht. Alle Politik ist Kampf um die Macht; aufs höchste gesteigerte Macht ist Ge-

walt“.334

In einer solchen Identifikation wird die Rolle der Gewalt in der Politik für selbstver-

ständlich gehalten.335

Der Arendtsche Machtbegriff wird in der prinzipiellen Unterscheidung zwischen Macht und

Gewalt begründet. Macht und Gewalt werden in der Arendtschen Terminologie anhand des

Phänomens unterscheiden. Diese Unterscheidung konzipiert die Grundlage ihrer gesamten

Theorie des Politischen, weil Arendt also Macht und Gewalt nach dem für ihr politisches Den-

ken fundamentalen Aspekt von Pluralität und Singularität differenziert.336

Durch die grundsätz-

330

Vgl. ÜR, S. 194f.; „Machtursprung ist letztlich die Freiheitsqualität des Menschen.“ (Vollrath, 1979b, S. 47). 331

ÜR, S. 37. 332

Ludz, 1993, S. 170; „Wem es wirklich um Macht zu tun ist, der muß den unter Menschen unabdingbaren Preis

zahlen, auf das Herrschen aus einer Distanz zu verzichten, und sich in den Raum begeben, wo Macht entsteht,

nämlich in den Zwischenraum, der zwischen Menschen sich bildet, die etwas Gemeinsames unternehmen“ (EU,

S. 974). 333

Röttgers, 1990, S. 250. 334

MG, S. 167; Arendt zitiert nach C. Wright Mills, 1956. 335

WP, S. 73. 336

Vollrath meint zu Recht: „Man kann das gesamte Werk von Hannah Arendt als einen Versuch bestimmen,

Macht und Gewalt zu unterscheiden.“ (Vollrath, 1979a, S. 47).

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286

liche Unterscheidung von Macht und Gewalt richtet sich Arendt gegen die „schockierende

Theorie von der positiven Rolle der Gewalt im Bereich des Politischen“.337

Sie hält fest: „Macht

gehört in der Tat zum Wesen aller staatlichen Gemeinwesen, ja aller irgendwie organisierten

Gruppen, Gewalt jedoch nicht.“338

Gewalt ist für Arendt die Entartung des Politischen.

Die Verwechslung der Macht mit Gewalt beruht Arendts Sicht zufolge auf der Verwirrung von

Handeln und Herstellen. Aus handlungstheoretischer Perspektive ordnet Arendt Gewalt dem

Bereich des Herstellens zu. Wenn man die Macht als Machbarkeit versteht, unterscheidet sich

die Macht von Gewalt nicht. Die Auffassung der Macht als Machbarkeit ist vor allem in der

neuzeitlichen Philosophie des Thomas Hobbes augenscheinlicher: „Der Mensch hat seine Akti-

vität und ihre Gegenstände in seiner Gewalt, das ist der erste Begriff der Macht, der im Gegen-

satz zum Begriff der Natur des Tieres gewonnen ist. Macht ist Machen-können.“339

Aber in ihrer

Terminologie verweist Arendt auf das falsche Verständnis der Macht als „Machen“.340

Macht

entspricht nach Arendts Ansicht der Fähigkeit und dem Vermögen von mithandelnden Men-

schen.

Macht und Gewalt seien nach ihren Ursprüngen und eigentlichem Sinne nicht nur nicht dassel-

be, die beiden seien distinkt.341

Arendt stellt fest: „Wo die eine absolut herrscht, ist die andere

nicht vorhanden.“342

Macht und Gewalt haben keine gemeinsame Wurzel, sondern werden viel-

mehr für völlig unabhängig voneinander gehalten. Daher ist der Übergang von der einen zur

anderen unmöglich. Für Arendt ist Gewalt weder der außergewöhnlichste Ausdruck von Macht

noch umgekehrt Macht „eine Art gemilderter Gewalt“343

. Dieses absolute Gegenüber stellt

Arendt folgendermaßen fest: „Zwischen Macht und Gewalt gibt es keine quantitativen oder qua-

litativen Übergänge; man kann weder die Macht aus der Gewalt noch die Gewalt aus der Macht

ableiten, weder die Macht als den sanften Modus der Gewalt noch die Gewalt als die eklatantes-

te Manifestation der Macht verstehen.“344

Arendts These, zwischen Macht und Gewalt sei ein Abgrund, der keinen unmittelbaren Über-

gang zulässt, lässt sich interessanterweise vergleichen mit Canettis Behauptung, die in seinem

Buch Masse und Macht aufgestellt ist. Den prinzipiellen Gegensatz zwischen Macht und Gewalt

337

ÜR, S. 44. 338

MG, S. 180; ganz im Gegensatz dazu ist Gewalt für Weber eine Elementarkategorie politischer Ordnung. Da-

her stimmt Weber Trotzki zu, der gemeint hat: „Jeder Staat wird auf Gewalt gegründet.“ (Weber, 1971b, S.

506; vgl. MG, S. 168). 339

Schelsky, 1981, S. 84. Hervorhebung im Original. 340

Das deutsche Wort Macht leitet sich „von mögen und möglich, und nicht von machen“ her (vgl. VA, S. 252). 341

Zur Kritik an Arendts grundsätzlicher Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt, Kaiser, 1979, 307ff.; Pala-

ver, 1995, S. 191ff. 342

MG, S. 184; vgl. WP, S. 73. 343

MG, S. 169. 344

MG, S. 185.

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287

überführt Canetti in „eine relative Differenz“345

. Er vertritt die Ansicht: „Wenn die Gewalt sich

mehr Zeit läßt, wird sie zu Macht.“346

Es gebe keine feste Grenze zwischen Macht und Gewalt,

so dass das eine in das andere übergehen kann. Canetti vergleicht das Verhältnis zwischen

Macht und Gewalt mit der Beziehung zwischen Katze und Maus. Dadurch wird klar, dass für

Canetti die Macht der Begriff ist, der den Begriff der Gewalt impliziert: „Der Unterschied zwi-

schen Gewalt und Macht lässt sich auf sehr einfache Weise darstellen, nämlich am Verhältnis

zwischen Katze und Maus. Die Maus, einmal gefangen, ist in der Gewalt der Katze. Sie hat sie

ergriffen, sie hält sie gepackt, sie wird sie töten. Aber sobald sie mit ihr zu spielen beginnt,

kommt etwas Neues dazu. Sie lässt sie los und erlaubt ihr, ein Stück weiterzulaufen. Kaum hat

die Maus ihr den Rücken gekehrt und läuft, ist sie nicht mehr in ihrer Gewalt. Wohl aber steht es

in der Macht der Katze, sie sich zurückzuholen.“347

An diesem Beispiel will Canetti aufzeigen,

dass Gewalt die Macht begleiten kann.

Im Gegensatz zu anderen Theorien, die nur die praktisch notwendige Verknüpfung von Macht

und Gewalt aufweisen, werden Gewalt und Macht in Arendts Machttheorie im Hinblick auf das

Phänomen unterschieden. Die grundsätzliche Differenz der Macht von Gewalt sieht Arendt in

drei Punkten.348

Zu einem der entscheidenden Unterschiede zwischen Macht und Gewalt gehört, „daß die Gewalt

bis zu einem gewissen Grad von Zahlen unabhängig ist, weil sie sich auf Werkzeuge ver-

lässt.“349

Im Gegensatz dazu hängt Macht immer ab von „der Anzahl derer, die eine bestimmte

Meinung teilen.“350

Macht ist bei Hannah Arendt immer nur zwischen Vielen möglich, während

Gewalt eigentlich „ein Phänomen des Einzelnen oder der Wenigen“ ist.351

Entscheidend ist, dass

die bloße Anwesenheit einer Menge von Menschen noch keine Macht im ausdrücklichen Sinne

herausbildet. Macht entsteht erst im Sich-Zusammenschließen einer menschlichen Menge durch

das Miteinanderhandeln und -sprechen. „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit nicht nur

zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einver-

nehmen mit ihnen zu handeln.“352

Diesen Charakter der Macht zeigt Arendt an der Analyse der

Masse. In diesem Sinne entspricht die Trennung von Macht und Gewalt der Differenzierung

345

Gebhardt/Münkler, 1993, S. 17; zum Vergleichen zwischen Arendts Machtbegriff und Canettis siehe Marti,

1991, S. 86ff. 346

Canetti, 1960, S. 323. 347

Canetti, 1960, S. 323. 348

Zur Arendtschen Unterscheidung von Macht und Gewalt, Röttgers, 1974, S. 205ff.; Penta, 1985, S. 61ff. 349

MG, S. 172f. 350

MG, S. 182. 351

WP, S. 73; „Der Extremfall der Macht ist gegeben in der Konstellation: Alle gegen Einen, der Extremfall der

Gewalt in der Konstellation: Einer gegen Alle. Und das letztere ist ohne Werkzeuge, d.h. ohne Gewaltmittel

niemals möglich.“ (MG, S. 173). 352

MG, S. 174.

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288

„von intersubjektiver Verständigung und possessivem Individualismus“353

. Während Gewalt auf

die eigene Stärke oder Kräfte oder Instrumente angewiesen ist, ist die Quelle aller Macht das

gemeinschaftliche Handeln zwischen Menschen. Diese Position von Arendt geht über zweierlei

Aspekte des Machtbegriffs hinaus, also Macht über etwas und Macht zu etwas.354

Sofern unter

Macht das Miteinander-Reden und –Handeln der Menschen verstanden ist, existiert sie immer

nur als „ein Machtpotential“355

, während Gewalt als eine Art von Eigentum in Form der Ge-

waltmittel anhäufbar ist. Aufgrund der Akkumulation durch Mittelvermehrung ist Gewalt mo-

nopolisierbar. Daher kann sie die menschliche Pluralität und Macht vernichten, aber „sie ist

gänzlich außerstande, Macht zu erzeugen“356

, weil das konstruktive Zusammenwirken der men-

schlichen Pluralität entscheidend für die Entstehung der Macht ist. „Die einzige rein materielle,

unerlässliche Vorbedingung der Machterzeugung ist“, wie Arendt feststellt, „das menschliche

Zusammen selbst. Nur in einem Miteinander, das nahe genug ist, um die Möglichkeit des Han-

delns ständig offen zu halten, kann Macht entstehen“.357

Nicht nur bei der Entstehung, sondern auch bei der Ausführungsweise unterscheidet sich Gewalt

von Macht.358

Bei der Durchführung ist Gewalt im Wesentlichen sprachlos und stumm. „Gewalt

ist eigentlich die einzige Art menschlichen Handelns, die definitionsgemäß stumm ist; sie wird

weder durch Worte vermittelt, noch arbeitet sie mit Worten.“359

Sobald das politische Handeln

sprachlos wird, pervertiert es zur Gewalt. Die Gewalt herrscht dort, wo noch nicht oder wo nicht

mehr miteinander gesprochen wird. „Hier handelt es sich nicht einfach darum, daß die Sprache

hilflos ist, wenn ihr Gewalt gegenübertritt (…), sondern vielmehr darum, daß die Gewalt stumm

ist, unfähig nämlich, sich in Wort wirklich zu äußern.“360

Diese stumme Eigenschaft der Gewalt

ergibt sich aus der oben erwähnten Tatsache, dass man bei der Gewalttätigkeit der Gewaltmittel

bedarf. „Alle Mittel der Gewalt sind Mittel, die Sprache zu ersetzen oder überflüssig zu ma-

chen“.361

Durch diese Sprachlosigkeit ist der antipolitische Charakter der Gewalt gekennzeich-

net. In ihrer Stummheit zerstört sich die in der Pluralität offenbarte weltbildende Fähigkeit des

353

Brunkhorst, 1994a, S. 352. 354

Zur Unterscheidung zwischen power over, power to und power with siehe Göhler, 2004, S. 244ff., insbesonde-

re S. 255; ganz ähnlich wie Göhler betont Penta in Arendts Machtbegriff den Charakter von „Macht mit“: „Es

können weder ‚Macht über‟ noch ‚Macht zu‟ mehr zugelassen werden, sondern es müsse folgerichtigerweise

‚Macht mit‟ heißen.“ (Penta, 1985, S. 54). 355

VA, S. 252. 356

MG, S. 184. 357

VA, S. 253. 358

Im Unterschied zu Arendt unterscheidet Habermas den Entstehungsprozess der Macht von ihrer Ausführung

und bezeichnet damit Gewalt als die Mittel zur Ausführung der Macht (Habermas, 1981b, S. 242f.). 359

ZVZ, S. 315; vgl. VA, S. 36. 360

ÜR, S. 19f.; in diesem Zusammenhang könnte Arendt der Behauptung von Benjamin zustimmen, „die eigentli-

che Sphäre der Verständigung, die Sprache“ sei der Gewalt „vollständig unzugänglich“ (Benjamin, 1966, S.

55). 361

DTB, S. 340.

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289

Menschen.362

Im Hinblick auf die Sprache ist Macht das zentrale Phänomen des Politischen,

während Gewalt hingegen ein „Grenzphänomen“363

des Politischen ist, denn die „politischen

Phänomene bedürfen der Sprache und der sprachlichen Artikulation, um überhaupt in Erschei-

nung zu treten; sie sind als politische überhaupt erst existent, wenn sie den Bereich des nur sinn-

fällig Sichtbaren und Hörbaren überschritten haben.“364

In diesem Zusammenhang sieht Arendt

die marxsche „Verherrlichung der Gewalt“ als eine sehr ausdrückliche Verneinung des Politi-

schen an.365

Freilich wäre Gewalt durch Sprache auszuüben.366

Aber wenn Sprechen als ein bestimmtes Ge-

waltmittel für die Erreichung eines Zweckes zur Anwendung gebracht wird, verlieren diese in-

strumentalisierten Worte ihren eigentlichen Charakter als Sprache. „Worte, die zum Zwecke des

Kämpfens benutzt werden, verlieren ihre Redequalität; sie werden Klischees.“367

So ist die ele-

mentare sprachliche Form der Gewalt „Befehl“368

, der das Zwingen und Gezwungenwerden

voraussetzt: „Das Sprechen aber in der Form von Befehlen und das Hören in der Form des Ge-

horchens wurden nicht als eigentliches Reden und Hören gewertet; es war keine freie Rede“.369

Darüber hinaus sind die zweckorientierten Worte „bloßes Gerede, weil es überhaupt über nichts

mehr Aufschluß gibt, also dem eigentlichen Sinn des Sprechens geradezu zuwiderläuft“.370

Ganz

im Gegensatz zu Gewalt beruht die kommunikativ erzeugte Macht auf dem sprachlichen Han-

deln, das „das Subjekt des Handelns und Sprechens“371

enthüllt. Hier ist entscheidend, dass der

plurale Charakter von „Macht mit“ die Bildung der gemeinsamen Welt und gleichzeitig den

Aufschluss über den Wer von Handeln einschließt: „Mit realisierter Macht haben wir es immer

dann zu tun, wenn Worte und Taten untrennbar miteinander verflochten erscheinen, wo also

362

In kurzer Formulierung weist Taylor auf die weltbildende Fähigkeit der Sprache hin: „Sprache erzeugt etwas,

das man als öffentlichen Raum bezeichnen könnte oder als gemeinsamen Ausgangspunkt, von dem aus wir zu-

sammen die Welt betrachten“ (Taylor, 1988, S. 68). 363

ÜR, S. 19. 364

ÜR, S. 20. 365

ZVZ, S. 30; vgl. Marx, MEW, Bd. 23, S. 779. 366

Kurt kritisiert das wechselseitige Ausschließen von Gewalt und Sprache und behauptet, „daß die Gewalt sich

unter anderem auch verbaler Mittel bedient, daß Sprache ein vorzügliches Mittel ist, manifeste in latente Ge-

walt zu überführen“ (Röttgers, 1974, S. 215). 367

ZVZ, S. 111. 368

Vgl. DTB, S. 399; Hobbes zufolge ist „Befehl“ das elementare Strukturprinzip des Handelns. Nach ihm ver-

danken wir der Sprache, „daß wir befehlen und Befehle verstehen können. Denn ohne diese gäbe es keine Ge-

meinschaft zwischen den Menschen, keinen Frieden und folglich auch keine Zucht“ In diesem Kontext sagt er,

dass der Mensch durch die Sprache nur mächtiger wird (Hobbes, 1959, X, 3, S. 17f.). Hennis stellt fest: „Hob-

bes sah den nicht geringsten Wert der Sprache darin, daß sie Befehle ermöglicht. Aber gerade Befehle sind

durch optische oder akustische Zeichen weithin ersetzbar (…): unser überkommener Begriff des politischen

Gemeinwesens wäre in der Wurzel getroffen, wenn das, was dieses Gemeinwesens im Kern zusammenhält, der

durch Zeichen ersetzbare Befehl und nicht mehr die (...) gemeinsame Beratschlagung wäre.“ (Hennis, 1977, S.

114). 369

WP, S. 40. 370

VA, S. 221. 371

VA, S. 220.

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290

Worte nicht leer und Taten nicht gewalttätig stumm sind, wo Worte nicht missbraucht werden,

um Absichten zu verschleiern, sondern gesprochen sind, um Wirklichkeiten zu enthüllen, und

wo Taten nicht missbraucht werden, um zu vergewaltigen und zu zerstören, sondern um neue

Bezüge zu etablieren und zu festigen, und damit neue Realitäten zu schaffen.“372

Das Misstrauen

der antiken Polis gegen Gewalt beruht Arendt zufolge auf ihrer Sprachlosigkeit. Nach Arendts

Auffassung führten die Bürger der Polis die politischen Angelegenheiten nicht „durch den

stummen Zwang der Gewalt“, sondern „durch das Mittel des Redens und Überredens“.373

Arendt stellt fest, dass die „Entdeckung des Politischen darauf beruhte, daß die Polis den ersten

Versuch machte, die Gewalt aus dem Zusammenleben des Menschen auszuschalten“, und dass

dort nur „die Macht der Peitho, die Kunst des Überredens und des Miteinandersprechens, als

legitim im Verkehr miteinander galt.“374

Drittens ist Gewalt durch ihre Instrumentalität gekennzeichnet, die mit der Zweck-Mittel-

Kategorie zu tun hat. Zu den hervorragenden Kennzeichen der Gewalttätigkeit gehört, dass sie

materieller Mittel bedarf: „Gewalt ist ihrer Natur nach instrumental; wie alle Mittel und Werk-

zeuge bedarf sie immer eines Zwecks, der sie dirigiert und ihren Gebrauch rechtfertigt. Und das,

was eines anderen bedarf, um gerechtfertigt zu werden, ist funktioneller, aber nicht essentieller

Art.“375

So ist Gewalt ein „Werkzeug“376

, mit dessen Hilfe ein bestimmter Zweck erreicht wer-

den kann.377

Wenn es nur um das Erreichen eines Zwecks geht, kann dies mit stummen Ge-

waltmitteln viel schneller und leichter erreicht werden: „Solange wir uns einbilden, daß wir im

Politischen uns im Sinne der Zweck-Mittel-Kategorie bewegen, werden wir schwerlich imstande

sein, irgend jemand davon abzuhalten, jedes Mittel zu benutzen, um anerkannte Zwecke zu ver-

folgen.“378

Wenn Gewalt näher zum Ziel führt, ist sie gerechtfertigt. „Werden die Ziele nicht

schnell erreicht, so ist das schließliche Resultat nicht nur die Niederlage, sondern das Überhand-

nehmen von Gewalttätigkeit in allen Bereichen des politischen Lebens.“379

Arendt konstatiert,

Gewalt verändere die Welt, doch das wahrscheinlichste Ergebnis der Veränderung sei eine noch

gewalttätigere Welt. Macht hingegen entsteht aus dem ohne die Vermittlung von Material und

Dingen direkt zwischen Menschen stattfindenden Zusammenhandeln. Die Instrumentalisierung

eines Anderen für eigene Zwecke gehört nicht zum Grundphänomen der Macht. Die Macht ist

372

VA, S. 252. 373

ZVZ, S. 30. 374

ZVZ, S. 293. 375

MG, S. 180. 376

Nach Engels ist die Gewalt „das Werkzeug (…), womit sich die gesellschaftliche Bewegung durchsetzt und

erstarrte, abgestorbene politische Formen zerbricht.“(MEW, Bd. 20, S. 171). 377

Im Hinblick auf die Zweckrationalität ist entscheidend, dass die Gewalt in der Politik nichts mit einer Einschät-

zung der menschlichen Natur zu tun hat (vgl. ÜR, S. 47). 378

VA, S. 291. 379

MG, S. 202.

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291

kein Mittel zur Herrschaft, sondern sie selbst ist „ein Selbstzweck“.380

Macht ist nicht von

Zweck motiviert, sondern sie ist inhärent der politischen Fähigkeit selbst, in der Pluralität zu

handeln.381

2.3.3 Machtverteilung als Pluralität der Machtzentren

Das moderne Politikverständnis des Westens wächst aus der Herausbildung der Nationalstaaten.

Ab hier entwickelt sich die Frage nach der staatlichen Souveränität. Das Konzept der Souveräni-

tät, die ein beherrschender Wille zur Einheit ist, begleitet die Forderung nach dem Absolutis-

mus.382

Auf Grund der souveränen Herrschaft fasst man die Machtteilung als die Verminderung

der Macht und zwar ihre Abschaffung auf; denn „geteilte Gewalten zerstören sich gegensei-

tig.“383

Macht könne nur bestehen, wo sie zentralisiert ist. Aus diesem Grund gaben sich die

Menschen nicht viel Mühe, wie Locke sagt, „um Mittel zu finden, wie sie etwaige Übergriffe

von seiten derer, denen sie Autorität über sich eingeräumt hatten, in Schranken halten und wie

sie die Regierungsgewalt ausbalancieren könnten, indem sie durch Gewaltenteilung die ver-

schiedenen Teile in verschiedne Hände legten.“384

Die politische Konsequenz der neuzeitlichen

Idee des Machtmonopols ist Arendts Ansicht zufolge die „Ohnmacht von Macht“385

und zu-

gleich „eine ungeheuere Steigerung des Gewaltpotenzials“386

.

In der Geschichte politischer Philosophie gibt es eine Idee der Machtkontrolle, die zumindest

bei Polybius zu finden ist, nämlich „das System von Hemmungen und Gegengewichten“.387

Die

Begrenzungsfrage der Macht greift man im 18. und 19. Jahrhundert ausgehend von dem großen

Misstrauen gegen Macht auf, weil Macht an sich repressiv und böse sei und daher Macht als

begrenztes Mittel zu guten Zwecken rechtfertigt sei.388

Im Hinblick auf diese Repressionstheorie

380

MG, S. 180; „Macht bedarf keiner Rechtfertigung, da sie allen menschlichen Gemeinschaften immer schon

inhärent ist. Hingegen bedarf sie der Legitimität. Macht entsteht, wann immer Menschen sich zusammentun

und gemeinsam handeln, ihre Legitimität beruht nicht auf den Zielen und Zwecken, die eine Gruppe sich je-

weils setzt; sie stammt aus dem Machtursprung, der mit der Gründung der Gruppe zusammenfällt. Ein Macht-

anspruch legitimiert sich durch Berufung auf die Vergangenheit, während die Rechtfertigung eines Mittels

durch einen Zweck erfolgt, der in der Zukunft liegt.“ (MG, S. 181). 381

„Damit soll natürlich nicht geleugnet werden, daß Regierungen jeweils eine bestimmte Politik verfolgen und

ihre Macht dafür einsetzen, vorgegebene Ziele zu erreichen. Aber die Machtstruktur selbst liegt allen Zielen

voraus und überdauert sie, so daß Macht, weit davon entfernt, Mittel zu Zwecken zu sein, tatsächlich überhaupt

erst die Bedingung ist, in Begriffen der Zweck-Mittel-Kategorie zu denken und zu handeln.“ (MG, S. 180). 382

„Die beiden Begriffe Souveränität und Absolutismus sind gemeinsam auf demselben Amboß geschmiedet

worden“ (Maritain, 1970, S. 267); Bodin definiert die Souveränität wie folgt: „Unter der Souveränität ist die

dem Staat eignende absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt zu verstehen“ (Bodin, 1981, S. 205). 383

Hobbes, LV, S. 248. 384

Locke, 1992, S. 267. 385

MG, S. 207. 386

WP, S. 73. 387

ÜR, S. 195. 388

Vgl. Röttgers, 1993, S. 8.

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292

der Macht waren die frühen liberalen Denker der Überzeugung, „daß jeder Staat in seiner Macht

begrenzt sein müsse“389

; Macht sollte nur minimale Macht sein; Um Macht zu minimalisieren

und zu paralysieren, sollte sich Macht verteilen und begrenzen. Die Gewaltenteilung sei zur Si-

cherung der Freiheit des Individuums unerlässlich.

Im Gegensatz dazu beruht das Konzept der Machtverteilung für Arendt nicht auf die repressive

Eigenschaft der Macht. Da die Macht immer als Machtpotential existiert, gibt es die Möglichkeit

der Allmächtigkeit der Macht, wenn sie nicht von dem menschlichen Miteinander abhängig wä-

re. Die Allmacht ist nur möglich, wenn Pluralität zerstört ist und die verschiedenen Menschen

wie zu Einem gemacht sind. „Ungeteilte und unkontrollierte Macht kann eine Meinungsunifor-

mität erzeugen, die kaum weniger zwingend ist als gewalttätige Unterdrückung“.390

Um den

Anspruch der Macht auf Souveränität als einen „beherrschenden Willen eines Einzelnen, der aus

Vielen Einen macht“391

, konsequent zu eliminieren, bedarf es der Machtverteilung.392

Das Konzept der Machtverteilung bezieht sich auf die Frage, in welcher Weise sich die Macht

kontrollieren lässt. Damit verbunden vertritt Arendt die starke These, dass Macht nur durch

Macht zu beschränken ist. Wie sich das Handeln nur durch Handeln einschränken lässt, muss

eine Macht durch eine andere Macht kontrolliert werden. In dieser Betrachtungsweise schließt

sich Arendt dem lapidaren Satz von John Adams an: „Macht muß Macht gegenüberstehen, Kraft

der Kraft, Stärke der Stärke, Interesse dem Interesse, genauso wie Vernunft der Vernunft, Be-

redsamkeit der Beredsamkeit, und Leidenschaft der Leidenschaft“.393

Was das Prinzip der Teilung von Macht betrifft, ist Arendt wie die Gründungsväter von Mon-

tesquieu inspiriert. Im Gegensatz zum rousseauschen souveränitätsorientierten Machtkonzept,

Macht sei unteilbar, argumentiert Montesquieu in seinem großen Buch Geist des Gesetzes fol-

gendermaßen: „Damit die Macht nicht mißbraucht werden kann, ist es nötig, durch die Anord-

nung der Dinge zu bewirken, daß die Macht die Macht bremst.“394

Um die Gefahr des Macht-

missbrauchs zu verhindern, ist es nach Montesquieu notwendig, dass sich die unterschiedlichen

Mächte einander beschränken. Machtbeschränkung, also „die Entsouveränisierung der

Macht“395

, ist für ihn Bedingung politischer Freiheit.396

Während für Hobbes Sicherheit und

Freiheit aus der Monopolisierung der Macht resultieren, beruht die politische Freiheit für Mon-

389

ÜR, S. 190. 390

MG, S. 173. 391

VA, S. 313. 392

ÜR, S. 200. 393

ÜR, S. 199; für amerikanische Gründungsväter wurde diese Ansicht zum Prinzip der Gewaltenteilung: Sie

stellen fest, dass „der Ehrgeiz in die Lage versetzt werden soll, dem Ehrgeiz entgegenzuwirken“ (Federalist, Nr.

51; zit. nach Hirschman, 1980, S. 38). 394

Montesquieu, 2006, S. 215. 395

Hereth, 1995, S. 45; vgl. ÜR, S. 200. 396

Vgl. ÜR, S. 198.

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293

tesquieu auf der Beschränkung von Macht durch die Teilung. In der Zentralisierung werde

Macht „nicht, wie man geneigt wäre anzunehmen, gesteigert und vergrößert, sondern zer-

stört.“397

Es bedarf also der Pluralität der Mächte, um die Macht zu vermehren und dem Volk

die Freiheit zu erhalten. In Anlehnung an Montesquieu hält Arendt fest: „Nur eine andere Macht

ist imstande, Macht zu begrenzen und in ihrer Mächtigkeit zu erhalten, und dies besagt, daß das

Prinzip der Gewaltenteilung, das eigentlich Machtteilung heißen sollte, nicht nur verhindert, daß

ein Teil des Staatsapparats, etwa die Legislative oder die Exekutive, alle Macht an sich reißt und

monopolisiert, sondern daß ein Gleichgewicht hergestellt ist, das es ermöglicht, überall neue

Macht zu erzeugen, aber eben nicht auf Kosten anderer Machtquellen und Machtzentren.“398

Dieses Prinzip der Machtverteilung zielt, im Gegensatz zur liberalen Ansicht, nicht auf die mi-

nimale Macht ab. Arendt ist nicht der Meinung, „daß Trennung der Gewalten Ohnmacht er-

zeugt, sondern im Gegenteil glaubt, daß Macht durch Teilung ständig erneuert und stabilisiert

wird.“399

In dem Zusammenspiel der Mächte ist mehr Macht zu erzeugen. Während die Gewal-

tenteilung eines der vorrangigen Mittel in den Händen der Liberalen ist, sich politische Macht

selbst zu verkleinern, ist sie für Arendt der einzige Weg, den Verlust der Macht zu behindern.

Macht, die ungeteilt und unkontrolliert ist, läuft auf den Machtverlust hinaus, und jeder Macht-

verlust öffne der Gewalt Tor und Tür: „Monopolisierung der Macht führt zur Austrocknung oder

zum Versickern aller lokalen Machtquellen des Landes und damit letzten Endes zu einem offen-

baren Machtverlust.“400

Für die Machtverteilung spielt das Prinzip der Pluralität die ausschlaggebende Rolle. „Es ist

primär die Pluralität, welche die Macht der Menschen und des Menschen eingrenzt.“401

In der

pluralen Öffentlichkeit wird die souveräne Macht eingeschränkt. Arendt stellt fest: „Die Grenze

der Macht liegt nicht in ihr selbst, sondern in der gleichzeitigen Existenz anderer Machtgruppen,

also in dem Vorhandensein von Anderen, die außerhalb des eigenen Machtbereichs stehen und

selber Macht entwickeln. Diese Begrenztheit der Macht durch Pluralität ist nicht zufällig, weil

ihre Grundvoraussetzung ja von vornherein eben diese Pluralität ist.“402

Anders gesagt bedeutet

die Begrenzung der Macht durch Pluralität die Sicherstellung der Pluralität als der Quelle der

Macht. In diesem Sinne geht es Arendt nicht um die Begrenzung der Macht selbst, sondern um

die neue Etablierung und Vermehrung der Macht. Machtverteilung, die Arendt „Pluralität der

397

Hereth, 1995, S. 47f. 398

ÜR, S. 197. 399

ÜR, S. 345; vgl. VA, S. 254. 400

MG, S. 207. 401

DTB, S. 54. 402

VA, S. 254.

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294

Machtzentren“403

nennt, sichert die Möglichkeit der Macht selbst und verhindert Ohnmacht von

Macht.

2.3.4 Der Begriff der öffentlichen Macht

Mit dem Begriff „Öffentliche Macht“ ist gemeint, die Öffentlichkeit sei die grundsätzliche Be-

dingung für Macht und zugleich ein Produkt und Folge der Macht. Macht entsteht zwischen

Menschen und bildet auch das menschliche Zwischen, in dem sich alles Handeln weiter abspie-

len könnte. Der öffentliche Raum wird zusammengehalten von einem „Machtpotential“404

, das

das Entscheidende für das Fortbestehen eines politischen Körpers ist. So besitzt Macht für

Arendt einen konstruktiven Charakter: „Macht ist, was den öffentlichen Bereich, den potentiel-

len Erscheinungsraum zwischen Handelnden und Sprechenden, überhaupt ins Dasein ruft und

am Dasein erhält.“405

Zuerst setzt sich Arendts Begriff öffentlicher Macht der Subjektivierung der Macht entgegen. In

der abendländischen politischen Philosophie tritt der Zugang zur Politik auf zwei verschiedene

Arten zutage. Während Aristoteles Politik als eine Substanz in der Menschennatur annimmt,

geht Hobbes von dem Machtstreben in der menschlichen Beziehung aus.406

Wenn die Politik im

Denken von Hobbes als Frage der Macht durchgeführt wird und wenn das Machtverhältnis bei

ihm auf dem Vertrag begründet wird, spricht man von Hobbes‟ „Politisierung von Macht“407

.

Aber diese Politisierung wird auf der engen Basis des Interesses der Subjekte an der Selbsterhal-

tung konstruiert. Das politische Handeln wird bei Hobbes auf den rationalen Eigennutz des Sub-

jekts zurückgeführt. Indem Hobbes das menschliche Streben nach Macht aus einem in der Natur

des Menschen verborgenen Trieb erklärt,408

entpolitisiert und subjektiviert er Macht.409

So nennt

Wolfgang Kersting die Machttheorie von Hobbes „Subjektivitätstheorie der Macht“ und stellt

ihren Charakter folgendermaßen fest: „Subjektivitätstheorien der Macht neutralisieren die Diffe-

renz zwischen Macht und Gewalt, enttabuisieren Gewalt und lassen bei der Beurteilung von

403

MG, S. 207. 404

VA, S. 281. 405

VA, S. 252. 406

Vgl. WP, S. 11. 407

Euchner, 1982, S. 180; Arendt stellt auch fest: „Die Größe der Hobbesschen Konzeption (…) liegt darin, daß er

erkannte, daß Macht wesentlich politisch ist“ (DTB, S. 81). 408

„So halte ich an erster Stelle ein fortwährendes und rastloses Verlangen nach immer neuer Macht für einen

allgemeinen Trieb der gesamten Menschheit, der nur mit dem Tode endet. Und der Grund hierfür liegt nicht

immer darin, daß sich ein Mensch einen größeren Genuß erhofft als den bereits erlangten, oder daß er mit einer

bescheidenen Macht nicht zufrieden sein kann, sondern darin, daß er die gegenwärtige Macht und die Mittel zu

einem angenehmen Leben ohne den Erwerb von zusätzlicher Macht nicht sicherstellen kann.“ (Hobbes, LV, S.

75). 409

Vgl. DTB, S. 21 und 26; vgl. Kauffmann, 2008, S. 254f.

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295

Handlungen, Menschen und Situationen nur noch den Instrumentalitätsgesichtspunkt gelten

(…). Subjektivitätstheorien der Macht sind Theorien der Machtakkumulation.“410

In diesem

Licht gesehen hat die Aristotelische Substantialisierung der Politik ihre Parallele in der Hobbes-

schen Subjektivierung des Machtbegriffs.411

Eine solche Subjektivitätstheorie der Macht kann

keine spezifisch politische Qualität der Macht erschließen, die nur da entsteht, „wo viele sich

zusammentun, um zu handeln; sie ist nie ein fester Besitz, sondern verschwindet, sobald die

Vielen, aus gleich welchen Gründen, wieder auseinandergehen oder einander im Stich las-

sen.“412

Arendts öffentlicher Machtbegriff ist durch Entsubjektivierung der Macht und ihre Entsubstan-

tialisierung gekennzeichnet. Damit pointiert Arendt die Entstehung der Macht durch den kom-

munikativen Meinungsaustausch und das darauf ausgerichtete Zusammenhandeln. Arendt ver-

tritt die starke These, der Einzelne könne keine Macht besitzen. Macht sei keineswegs „jedem

Einzelnen in Besitz gegeben“.413

Macht ist bezogen nicht auf ein isoliertes Individuum, sondern

auf eine Gruppe und somit auf eine Gemeinschaft von Individuen. Damit erweist sich Macht im

Kern als ein politisches Phänomen, weil sie sich allein in der Pluralität der Menschen ergeben

und bewahren kann.414

Sofern Macht nur in der Öffentlichkeit potentiell existiert, bleibe die Po-

sition der Macht „symbolisch leer“.415

Mit der Entsubjektivierung der Macht meint Arendt jedoch nicht, dass die Macht die anonyme

und entpersönlichte Macht ist. In der Verwirklichung der Macht, also im gemeinsamen Handeln

enthüllt sich das Wer des Handelns.416

In diesem Sinne ist die Realisierung der Macht der Voll-

zug der Pluralität; die Bildung des politischen Zwischenraums und zugleich die Enthüllung der

Handelnden. Der Begriff der öffentlichen Macht, also die Entsubjektivierung der Macht,

schließt daher die Bedeutung des Individuums nicht aus, weil die Person immer durch Mithan-

deln in der Öffentlichkeit individuiert ist.417

Auf die „Entsubstantialisierung der Macht“ bezogen scheint sich Arendt auf den ersten Blick in

Einklang mit dem postmodernen Denker wie Michel Foucault zu befinden, dem zufolge Macht

410

Kersting, 1991, S. 137. 411

Vgl. DTB, S. 26. 412

ÜR, S. 227. 413

ÜR, S. 227. 414

„Und so wie es zur Grammatik des Handelns gehört, daß sie die einzige Fähigkeit ist, die menschliche Plurali-

tät voraussetzt, so gehört es zu der Syntax der Macht, daß sie das einzige menschliche Attribut ist, das nicht

dem Menschen selbst anhaftet, sondern dem weltlichen Zwischenraum eignet, durch den Menschen miteinan-

der verbunden sind“ (ÜR, S. 227). 415

Rödel/Dubiel/Frankenberg, 1989, S. 43. 416

Vgl. Brunkhorst, 2005, S. 253. 417

Vgl. Schnabl, 1999, S. 223.

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weder fassbares Objekt noch Eigentum von Individuen ist.418

„Die Macht wird deshalb nicht

besessen“, wie Foucault sagt, „weil sie spielt, weil sie sich riskiert.“419

Darüber hinaus ist die

Macht für Foucault als Strategie verstanden, ohne Rückgriff auf eine konstitutionelle Dimension

von Macht. Macht verfestigt sich für Foucault nirgends als Gestalt. „Die Macht ist nicht eine

Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist

der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.“420

So-

fern Foucault Macht als eine bewegliche „Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen“421

auffasst,

stimmt sein Machtbegriff mit dem Weberschen Begriff der amorphen Macht überein. In diesem

Machtbegriff muss die politische Handlung, durch die die Macht entsteht, als eine bestimmte

Strategie einer immerwährenden Schlacht begriffen werden. In Umformulierung der berühmten

Definition des Kriegs von Clausewitz bestimmt Foucault die Macht wie folgt: „Die Macht ist

der Krieg, der mit anderen Mitteln fortgesetzte Krieg; man würde somit die Formel von Clause-

witz umkehren und sagen, daß die Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln

ist.“422

Hier entspricht Foucaults Erläuterung der Hobbesschen Behauptung eines Zustandes des

Kampfes aller gegen aller. Darüber hinaus kann man bei Foucault die Webersche Einstellung

zum Verhältnis von Macht und Herrschaft wieder finden. Darauf bezogen ist die Machtbezie-

hung für Foucault in die Herrschaftsbeziehung zu überführen.423

Die Herrschaftszustände sind

für ihn institutionalisierte Ausübung von Macht. So stellt sich der Staat als „Überbau“ der

Machtbeziehung die Herrschaftsbeziehung dar.424

Was Foucault unter Herrschaft versteht, stellt

Georg Kneer fest: „Während Macht als etwas Bewegliches, Dynamisches und Veränderbares

gedacht wird, gilt Herrschaft ihm (Foucault: H. P.) nun als etwas Stabiles, Irreversibles, Starres

(…). Herrschaft ist somit geronnene, erstarrte Macht.“425

In Foucaults Verständnis existiert Macht überall und allgegenwärtig, während sie für Arendt

nur im öffentlichen Erscheinungsraum entsteht. Für Foucault ist die Macht mikrophysisch, wäh-

rend sie für Arendt öffentlich ist. Macht ist bei Arendt eigentlich das Phänomen des Politischen.

Nach ihrer Ansicht existiert Macht als Machtpotential und konstituiert sich in der Wirklichkeit

zwischen den handelnden Menschen. Für Arendt bedeutet die Institutionalisierung der Macht

418

Vgl. Beyme, 2007, S. 187ff. 419

Foucault, 1976, S. 114. 420

Foucault, 1995, S. 114. 421

Foucault, 1995, S. 114. 422

Foucault, 1978, S. 71. 423

In einem Interview wirft Foucault Arendt vor, dass sie zwischen Macht und Herrschaft unterscheidet und dass

sie die Herrschaftsbeziehung aus dem politischen Bereich ausgrenzt. Nach ihm „können wir erkennen, dass be-

stimmte Machtbeziehungen in einer Weise funktionieren, dass sie umfassende Herrschaftseffekte hervorrufen.“

(Foucault, 1994, S.707 und 1987, S. 241-261). 424

„Der Staat ist Überbau in bezug auf eine ganze Serie von Machtnetzen, die die Körper, die Sexualität, die Fa-

milie, die Verhaltensweisen, das Wissen, die Techniken usw. durchdringen.“ (Foucault, 1978, S. 39). 425

Kneer, 1998, S. 252.

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297

keinen Übergang zur Herrschaft.426

Die Bildung der politischen Macht ist ein sehr realer Vor-

gang, der in institutionellen Formen stattfindet bzw. verkörpert ist. In folgender Formulierung

zeigt sich der spezifische Charakter der Institutionalisierung der Macht ausführlich: „Alle politi-

schen Institutionen sind Manifestationen und Materialisationen von Macht; sie erstarren und

verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt.“427

Entscheidend für den Begriff der öffentlichen Macht ist die Beziehung zwischen Macht und

Meinung. Das spezifische Kennzeichen öffentlicher Macht besteht darin, dass sie von Meinun-

gen lebt. Nicht Gewalt, sondern Meinung ist die konstitutive Grundlage von Machtbeziehungen.

Gerade im Hinblick auf dieses Verhältnis von Macht und Meinung lässt sich von der „kommu-

nikativen Macht“428

sprechen, die sich in der öffentlichen Meinungsbildung manifestiert. „Die

Macht existiert nur durch Kommunikation, sie ist der politisch relevante Ausdruck der Kommu-

nikation.“429

Für die Klärung des Verhältnisses der Macht zur Meinung führt Arendt häufig Ma-

dison an, demzufolge Macht auf Meinung beruht, „da ohne die Unterstützung Gleichgesinnter

nicht einmal die Tyrannenherrschaft an die Macht kommen oder sich an ihr halten könnte.“430

Dass Macht auf Meinung beruht, bedeutet, dass die Macht nicht nur aus der großen Menschen-

anzahl entsteht, sondern dass sie sich aus der Möglichkeit der Handlungs- und Meinungsplurali-

tät ergibt.431

Man muss in der Öffentlichkeit sein, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Die

„vernünftige Meinungsbildung“ bedarf daher der Bedingungen fundamentaler Pluralität, und

„wer nicht dabei ist, hat entweder – im günstigsten Falle – gar keine Meinung, oder er macht

sich in den Massengesellschaften des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts aus allen mög-

lichen, konkret nicht mehr gebundenen Ideologien einen Meinungsersatz zurecht“.432

Ungeach-

tet des Charakters ihrer Selbstbezüglichkeit entstehen die Meinungen für Arendt nur da, „wo

Menschen frei miteinander Verkehr pflegen und das Recht haben, ihre Ansichten öffentlich

kundzutun“.433

In diesem Sinne ist der Prozess der Meinungsbildung der der Machtbildung. Der

426

Vgl. Vollrath, 1979a, S. 43. 427

MG, S. 172. 428

Habermas, 1998c, S. 182ff. 429

Kepplinger, 1970, S. 27f.; Becker, 1998, S. 170ff. 430

ZVZ, S. 333; vgl. MG, S. 172; ÜR, S. 293; die öffentliche kommunikative Macht wendet sich gegen die abso-

lute Wahrheit. Macht und Wahrheit sind für Arendt wesentlich verschiedene Phänomene. „Wahrheit aber, weil

sie immer nur vom Einzelnen gefunden und gesagt werden kann, hat keine Macht; sie selbst ist unfähig zu or-

ganisieren. Erst wenn Viele sich auf eine Wahrheit einigen, wird sie zur Macht. Aber was dann Macht verleiht,

ist das Sich-darauf-Einigen, nicht die Wahrheit als solche.“ (DTB, S. 627). Im kritischen Blick sagt Kersting,

dass die Reduzierung politischer Machtbasis auf Meinungsäußerung zu einem beunruhigenden „Intuitionismus

des Meinens“ führt. Er stellt fest: „Wird die Tyrannei der Wahrheit durch die Politie des wahrheitsfreien Mei-

nens abgelöst, dann liefert sich diese Politie der kontingenten Konkordanz intuitiver Urteile aus, dann gerät die

Macht unter die Kontrolle einer unbegriffenen Gewalt des Traditionalen.“ (Kersting, 1991, S. 152). Schließlich

konstatiert er, dass Intuitionismus des Meinens durch wahrheitsgerichtete Rede diszipliniert werden muss. 431

Vgl. Geißner, 1995, S. 175. 432

ÜR, S. 303. 433

ÜR, S. 292.

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298

„Tod aller Meinungen und Meinungsbildung“434

bedeutet für Arendt die Unmöglichkeit der

Machtentstehung. Wo eine Einheitsmeinung herrscht, gibt es keine politisch-öffentliche Macht;

denn „die Diskussion, der Austausch und Streit der Meinungen macht das eigentliche Wesen

allen politischen Lebens aus.“435

Die öffentliche Macht entsteht in der agonalen Mitwelt.

434

ÜR, S. 294. 435

ZVZ, S. 342.

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299

3. Pluralität und Rationalität des Politischen: Die politische Urteilskraft

In ihren späteren Werken erstreckt Arendt das Konzept der politischen Pluralität auf das den-

kende Leben. Dabei geht es um die Urteilskraft als „eine geistige Grundtugend“1. Die Urteils-

kraft wird für Arendt als das politische Vermögen zu einer pluralen, menschlichen Gemein-

schaft verstanden.2 So ist die Urteilsfähigkeit der Bürger die wichtige Grundlage des politischen

Gemeinwesens. Und die Pluralität ist die entscheidende Bedingung der Urteilskraft.3

Durch das Herangehen an die Urteilslehre versucht Arendt nach den Grundlagen der Beziehung

zwischen Individuum und Pluralität zu suchen und einen neuen Begriff von politischer Rationa-

lität zu konzipieren, der im Gegensatz zum okzidentalen Rationalismus weder zweckrational

noch autoreflexiv ist. In der Kritik der Urteilskraft Kants findet Arendt „ein versteckte Kritik der

politischen Vernunft“4, weil sie die Pluralität als die Elementarbedingungen eines jeden Urtei-

lens behandelt.

3.1 Die Umkehr zur Philosophie?

In der Untersuchung der politischen Urteilskraft wollte Arendt die philosophischen sowie die

politischen Grundlagen der Pluralität fundieren. Leider ist sie nicht mehr dazu gekommen, ihr

Buch, das das Verhältnis des Politischen zum geistigen Vermögen reichend beantworten sollte,

zu schreiben.5 Aus diesem Grund gibt es Anlass zu verschiedenen Interpretationen über ihre

Gedanken der Urteilskraft. Trotzdem ist die Betrachtung ihrer Urteilslehre nicht unmöglich,

weil die Frage nach dem Verhältnis von der geistigen Fähigkeit und Pluralität bereits in ihren

frühen Gedanken ein der grundlegenden Themen war.

Ihr Zurückkehren zum Problem des Urteilens lässt sich als die Verlängerung ihrer Überlegung

des Verhältnisses von Politischen und Pluralität verstehen.6 Durch die Urteilslehre will Arendt

auf die Frage antworten, wie sich die verschiedene Meinungen und Handlungen miteinander in

Beziehung setzen können, ohne den subjektiven Faktor des politischen Handelns aufzugeben.

Sie versucht, das Problem der Pluralität, also den alten Gegensatz von Selbst und Welt, durch

die Urteilslehre zu überspringen. Anders gesagt verstärkt die Urteilslehre die intersubjektive

1 Gadamer, 1965, S. 36.

2 Vgl. ZVZ, S. 299.

3 „Die Bedingung der Möglichkeit der Urteilskraft ist die Präsenz der Andern, die Öffentlichkeit.“ (DTB, S.

570). 4 DTB, S. 577.

5 Als Hannah Arendt am 4. Dezember 1975 in ihrer Wohnung starb, fand man in ihrer Schreibmaschine ein ein-

zelnes Blatt, auf dem nichts außer der Überschrift Judging und zwei Zitaten stand (vgl. DW, S. 228). 6 Vgl. Heller, 1987, S. 286; Jay, 1994, S. 190.

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300

Dimension des politischen Handelns und sein Prinzip der Assoziation.7 Arendt meint: „Das Ur-

teil entspringt hier der Subjektivität eines Standortes in der Welt, aber es beruft sich gleichzeitig

darauf, daß diese Welt, in der jeder einen nur ihm eigenen Standort hat, eine objektive Gege-

benheit ist, etwas, das uns allen gemeinsam ist.“8

Trotzdem versteht man häufig die Arendtsche Beschäftigung mit der Fähigkeit des menschli-

chen Geistes als die „Kehre“9 von der Politik zur Philosophie als ihrem intellektuellen Ursprung.

Ferner ist für Kritiker wie Stuart Hampshire beunruhigend, dass Arendt als politische Theoreti-

kerin angesehen wird, weil für ihn ihre späteren Werke wie Vom Leben des Geistes als eine

Senke „metaphysischer Nebel“10

gesehen wird. Was die Kontinuität der politischen Theorie von

Arendt betrifft, greift Ronald Beiner, der Herausgeber von Das Urteilen, die Kernfrage auf. Er

wirft Arendt vor, sie habe ihre frühre Position aufgegeben und an die Stelle der Beschäftigung

mit dem politisch aktiven Leben die Beschäftigung mit dem kontemplativen Leben gesetzt.11

In

Arendts späteren Schriften bezieht sich die Urteilskraft Beiners These zufolge nicht auf das poli-

tische Vermögen des Handelnden: „Das Urteil verfängt sich also in der Spannung zwischen der

vita activa und der vita contemplativa.“12

Den Grund für die Differenz zwischen der frühen Arendt und der späten begründet man häufig

in Arendts Schwankung zwischen der Aristotelischen und der Kantischen Version. Das bezeich-

net man als eine Spannung zwischen der Urteilskraft als formalem Vermögen und der Urteils-

kraft als praktischer Klugheit, die Arendt nicht mehr gelöst hat. Zu dieser Schwankung merkt

Benhabib an: „Hinzu kommt noch eine tiefer sitzende philosophische Verunsicherung im Hinb-

lick auf den Status des Urteilens. Dies betrifft ihren Versuch, in ihrem Werk die Aristotelische

Auffassung vom Urteilen als einem Aspekt der phronesis mit dem Kantischen Verständnis vom

Urteilen als der Fähigkeit zur erweiterten Denkungsart oder zum repräsentativen Denken zu-

sammenzuführen.“13

Trotzdem wäre es unzutreffend, wenn man schätze, dass Arendts Urteilslehre „politisch weniger

ergiebig“14

sei. Was die Urteilskraft angeht, vertritt Arendt die starke These, „daß zumindest

eine unserer geistigen Fähigkeiten, die Fähigkeit des Urteilens, die Anwesenheit anderer Men-

7 Vgl. Paetzold, 2000, S. 191f. und 207.

8 ZVZ, S. 300.

9 Söllner bezeichnet die Bruch in Arendts Denken als „Kehre“, die von der realgeschichtlichen Analyse in eine

hochabstrakte Spekulation führt (Söllner, 1990, S. 219f.). 10

Young-Bruehl, 1986, S. 640. 11

Beiner, 1985, S. 119; zur ähnlichen Position siehe Bernstein, 1986, S. 237; May, 1990, S. 169ff.; Wolf, 1991,

S. 110f.; Jonas, 1979, S. 355. 12

Beiner, 1985, S. 177. 13

Benhabib, 1998, S. 275f. 14

Sontheimer, 2005, S. 135.

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301

schen voraussetzt.“15

Sie fasst die Urteilskraft daher als die politischste geistige Fähigkeit des

Menschen auf. So darf das Arendtsche Interesse an der Fähigkeit des Urteiles als keine „Ab-

kehr“ von Politik verstanden werden.16

Hinsichtlich der späteren Schriften Vom Leben des Geistes verankert Arendt das Politische in

dem weiteren Kontext des geistigen Lebens der Menschen. Dabei thematisiert sie die Beziehung

zwischen geistigem Vermögen und politischem Handeln.17

In ihrem Aufsatz, Über Zusammen-

hang von Denken und Moral, in dem sich Arendt mit den geistigen Tätigkeiten erstmals be-

schäftigt hat, geht es um politische Implikationen des Denkens und der Urteilskraft: „Wenn je-

der nicht–denkend hinweggefegt wird von dem, was alle anderen tun und glauben, werden die-

jenigen, die denken, aus dem Versteck herausgezogen, weil ihre Weigerung, sich allen anzu-

schließen, auffällt und deshalb zu einer Art Tat wird. Das reinigende Element im Denken – So-

krates` Hebammenkunst, die die verborgenen Bestandteile unerforschter Meinungen, also Wer-

te, Lehren, Theorien und selbst Überzeugungen, an die Oberfläche befördert und sie dadurch

zerstört – ist durch Implikation politisch. Denn diese Zerstörung hat eine befreiende Wirkung

für ein anderes menschliches Vermögen, das Vermögen der Urteilskraft, das man mit einer ge-

wissen Berechtigung als das politischste unter dem geistigen Vermögen des Menschen bezeich-

nen darf.“18

Nun geht es Arendt darum, in welchem Verhältnis das geistige Vermögen zur menschlichen

Pluralität steht, wenn das geistige Vermögen mit dem politischen Handeln verbunden ist. Bei

ihrer Erörterung der politischen Urteilskraft verliert Arendt nicht das Hauptthema ihrer politi-

schen Theorie aus dem Augen: Pluralität. Darüber hinaus ist Arendts Urteilslehre nicht als Zu-

sammenbruch ihres früheren Denkens zu verstehen, sondern im Vorgang der Entwicklung ihres

politischen Denkens. Arendt entwickelt eine Theorie des politischen Urteilens als Fundament

einer Theorie der politischen Pluralität. Das wird klar, wenn man die Spur der Urteilslehre in

ihrem früheren Werk über den Totalitarismus verfolgt.

15

DU, S. 98. 16

Im Gegensatz zu Söllners Ansicht betont Vollrath die Kontinuität von Arendts politischem Denken: „Ich glau-

be schon gar nicht, daß Hannah Arendt in ihren letzten, teilweise noch veröffentlichten Werken eine Kehre

vollzogen hat, eine Abkehr von dem, was das Thema ihres Denkens gewesen ist: dem Bereich des Politischen.“

(Vollrath, 1979b, S. 60); vgl. Barley, 1990, S. 165; Schäfer, 1993, S. 98; Nordmann, 1994, S. 123. 17

Hinter Arendts Unterscheidung zwischen den tätigen und nicht-tätigen Tätigkeiten steht keine Über- oder Unte-

rordnung von vita activa und vita contemplativa. Vielmehr besteht Arendts Absicht darin, die klassisch-

philosophische Überordnung des kontemplativen Lebens über das aktive Leben zu korrigieren: „wenn ich von

der Vita activa rede, so setze ich voraus, dass die in ihr beschlossenen Tätigkeiten sich nicht auf ein immer

gleichbleibendes Grundanliegen, des Menschen überhaupt zurückführen lassen, und daß sie ferner den Grund-

anliegen einer Vita contemplativa weder überlegen noch unterlegen sind.“ (VA, S. 27). 18

ZVZ, S. 154f.

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302

3.2 Das Phänomen der Urteilsunfähigkeit im Totalitarismus

Den Kristallisationspunkt im ganzen politischen Denken von Arendt bildet die Erfahrung der

totalitären Herrschaft. Wenn sich das „Nachdenken über den Totalitarismus“ als „das Herz“

ihrer politischen Theorie verstehen lässt,19

ist das Problem der Urteilskraft als das politische

Problem schon in ihrer Analyse des Totalitarismus ansatzweise thematisiert. Das bedeutet, dass

die Überlegung der Urteilskraft sehr früh für Arendt im Zentrum ihres politischen Denkens „als

eine theoretische Reaktion auf die Entstehung totalitärer Bewegungen und Herrschaften“ steht.20

Wie sie selbst sagt, befasst sich Arendt im Hinblick auf das unmittelbare Ergebnis der totalitären

Herrschaft mit dem Verlust der Urteilskraft.21

Ihr geht es darum, in welchem Zusammenhang

die Zerstörbarkeit der Pluralität unter den Bedingungen der totalen Herrschaft mit der Unfähig-

keit zu Denken und zu Urteilen steht. Daher sieht sie, wie wir schon erwähnt haben, die totalitä-

re Herrschaft nicht lediglich in der Form der Herrschaftsstruktur. Vielmehr ist der Totalitarismus

durch die Zerstörung der Fähigkeit zu handeln und zu urteilen charakterisiert.

Im Totalitarismusbuch vertritt Arendt die These, der Verlust der Urteilskraft sei in der totalitä-

ren Herrschaft mit der Vernichtung der menschlichen Pluralität zusammengefallen. Im Hinblick

auf die absolute Zerstörung der Pluralität bezeichnet Arendt den Totalitarismus als eine „neue,

in der Geschichte noch unbekannte Staatsform“.22

Sie findet im Totalitarismus zwei Umstände

der Menschen. Einerseits wurden die Menschen vereinzelt und andererseits als die Summe ver-

einzelter differenzloser Menschen dargestellt. Das bedeutet das Verschwinden des Individuums

und damit das Zersetzen der gemeinsamen Welt. Darin wird die Urteilskraft drastisch bedroht:

„Der Mangel an wirklicher Urteilskraft geht hier Hand in Hand mit der eigentümlichen, moder-

nen Selbstlosigkeit, und beides findet nur zu sehr seine Entsprechung in dem Drang der Massen

in eine fiktive Welt und ihre Ungebundenheit durch kollektive Interessen. Es gehörte zu den

großen Chancen der totalitären Bewegung.“23

Damit haben die Menschen keine „Sphäre ge-

meinschaftlicher Beziehungen, in deren Rahmen der gesunde Menschenverstand alleinsinnge-

mäß funktionieren kann“.24

In der Verkümmerung der gemeinsamen Welt leiden die Menschen

19

Canovan, 1997, S. 59. 20

Vollrath, 1979c, S. 88; vgl. Gess, 1999, S. 33ff.; Falkenhagen, 2004. 21

Arendt erläutert in der Einleitung zum ersten Band vom Leben des Geistes verschiedene Begründung für die

Beschäftigung mit den geistigen Tätigkeiten. Der unmittelbare Anlass war ihre Teilnahme am Eichmannpro-

zess in Jerusalem (DD, S. 13). 22

EU, S. 944. 23

EU, S. 717. 24

EU, S. 747.

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303

„an einem radikalen Schwund des gesunden Menschenverstandes und seiner Urteilskraft.“25

In

dieser Situation wird „auf den urteillosen Vollzug des Urteils“26

regrediert.

An die Stelle der menschlichen Urteilskraft treten die Ideologie als der „innere Zwang“ und der

Terror als der „äußere Zwang“27

. Diese „Verbindung von absoluter Gewalt und absoluter Rech-

tfertigung“28

ist Kernstück der totalen Herrschaft, um Urteilsvermögen und Meinung des Men-

schen zu eliminieren: „Der äußere Zwang des Terrors vernichtet mit der Zerstörung des Raums

der Freiheit alle Beziehungen zwischen Menschen; zusammengepreßt mit allen anderen ist ein

jeder ganz und gar von allen anderen isoliert. Der innere Zwang des konsequent ideologischen

Denkens sichert diesem Zwang seine Wirksamkeit, indem er die also isolierten Individuen in

einen permanenten, jederzeit übersehbaren, weil konsequent logischen Prozeß hineinreißt, in

welchem ihnen jene Ruhe niemals gegönnt ist, in der sie allein der Wirklichkeit einer erfahrba-

ren Welt begegnen können.“29

Indem der Terror aus vielen Menschen einen Menschen macht,

und indem Ideologie die logisch–deduzierende Schlussfolgerung erzwingt, wird die menschliche

Urteilskraft nicht nur nicht möglich, sondern überflüssig. Die Gültigkeit der Ideologie ist absolut

und zwingend, weil die Ideologie für sich Anspruch auf eine Gültigkeit nimmt, welche von der

Anwesenheit anderer Menschen völlig unabhängig ist.30

Der radikale Schwund der Urteilskraft

findet da statt, wo die Ideologie und der Terror die Menschen so organisiert, „als gäbe es sie gar

nicht im Plural sondern nur im Singular, als gäbe es nur einen gigantischen Menschen auf der

Erde, dessen Bewegungen in den Marsch eines automatisch notwendigen Natur- oder Ge-

schichtsprozesses mit absoluter Sicherheit und Berechenbarkeit einfallen.“31

Das ideologische Denken ist durch die völlige Unabhängigkeit von der Wirklichkeit gekenn-

zeichnet. Die Ideologie ist so pluralitätsfeindlich, dass sie weder konflikt- noch kompromißfähig

ist. Arendt stellt fest: „Der Emanzipation des Denkens von erfahrener und erfahrbarer Wirklich-

keit dient auch die Propaganda der totalitären Bewegung, die immer darauf hinausläuft, jedem

offenbar Geschehenden einen geheimen Sinn und jedem offenbaren politischen Handeln eine

verschwörerische Absicht unterzulegen.“32

Die Wirklichkeit generiert sich durch die Vielzahl

von Perspektiven, die wir in der Kommunikation erfahren. Der Verlust dieser Wirklichkeit, der

25

EU, S. 737. 26

Adorno/Horkheimer, 1988, S. 211. 27

EU, S. 970. 28

Maier, 1997, S. 17. 29

EU, S. 970. 30

„Die logische Stimmigkeit tritt auf, wenn es weder die Übereinstimmung mit sich selbst noch die Einstimmig-

keit mit den Anderen gibt.“ (DTB, S. 572). 31

EU, S. 958. 32

EU, S. 965.

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304

zur Unfähigkeit zum Urteilen führt, entspricht daher dem gleichzeitigen Verlust des „Selbst und

der Welt, und das heißt echte(r) Denkfähigkeit und echte(r) Erfahrungsfähigkeit.“33

Im Zusammenhang mit der totalitären Herrschaft ist die Anwesenheit Arendts beim Eichmann-

Prozess für sie der Anstoß gewesen, um unmittelbar über die politische Bedeutung des Urteilens

nachzudenken und sich mit den geistigen Tätigkeiten des Menschen zu beschäftigen. Von der

Zeit des Eichmann–Prozesses hat sich Arendt immer wieder mit der Frage befasst, was das We-

sen und die Funktion der menschlichen Urteilskraft ist.34

So gesehen sei das Eichmannbuch

„nicht primär ein Beitrag zur historischen Analyse der Endlösung, sondern eine Übung im Den-

ken und Urteilen.“35

In Bezug auf den Eichmann-Prozess geht es bei Arendt um die Frage: „Hängt vielleicht das

Problem von Gut und Böse, unsere Fähigkeit, Recht vom Unrechten zu unterscheiden, mit unse-

rem Denkvermögen zusammen?“36

Eichmanns Unfähigkeit zu denken führt Arendts Ansicht

zufolge dazu, dass er sich nicht mehr vorstellen kann, was er angestellt hat. Was den Menschen

wie Eichmann zu einem der größten Verbrecher jener Zeit macht, wie Arendt spricht, seien we-

der der ursprünglich böse Wille noch die sündigen Motiven, sondern gewissermaßen „schiere

Gedankenlosigkeit“37

, also die Weigerung, etwas zu urteilen. Diesen Charakter des Bösen, den

Eichmann zeigte, drückt Arendt mit ihrem bereits berühmt gewordenen Schlagwort der „Banali-

tät des Bösen“38

aus. An diesem Punkt lehnt Arendt Kausalerklärungen im Bereich der Moral

viel zu eindeutig ab, und sie will zeigen, dass die böse Absicht der Person nicht zwangsläufig

Voraussetzung für böse Taten ist: „Daß eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in

33

EU, S. 977. 34

Young-Bruehl stellt fest, dass „die Unfähigkeit und die Weigerung zu urteilen“ Arendts Themen in Eichmann

in Jerusalem seien (Young-Bruehl, 1986, S. 465). In der Einleitung ihres Eichmannbuches schreibt Arendt:

„Damit kommen wir zu einer anderen der grundsätzlichen Fragen, die in allen diesen Nachkriegsprozessen und

natürlich auch im Eichmann-Prozeß berührt wurde und um die sich zu streiten in der Tat lohnen würde. Sie be-

trifft das Wesen und das Funktionieren der menschlichen Urteilskraft. Was wir in diesen Prozessen fordern, ist,

daß Menschen auch dann noch Recht von Unrecht zu unterscheiden fähig sind, wenn sie wirklich auf nichts

anderes mehr zurückgreifen können als auf das eigene Urteil, das zudem unter solchen Umständen in schreien-

dem Gegensatz zu dem steht, was sie für die einhellige Meinung ihrer gesamten Umgebung halten müssen.

Und diese Frage ist um so ernster, als wir wissen, daß die wenigen, die unbescheiden genug nur ihrem eigenen

Urteil trauten, keineswegs identisch mit denjenigen waren, für die die alten Wertmaßstäbe maßgebend geblie-

ben oder die sich von einem kirchlichen Glauben leiten ließen.“ (EJ, S. 22f.). 35

Bernstein, 2000, S. 307; vgl. Beiner, 1985, S. 125; Seyer, 1998, S. 132. 36

DD, S. 15. 37

EJ, S. 16; in der kontroversen Darstellung spricht Arendt von Eichmann: „Das beunruhigende an der Person

Eichmanns war doch gerade, daß er war wie viele und daß diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern

schrecklich und erschreckend normal waren und sind.“ (EJ, S. 326); „Die Taten waren ungeheuerlich, doch der

Täter – zumindest jede einst höchst aktive Person, die jetzt vor Gericht stand, war ganz gewöhnlich und durch-

schnittlich, weder dämonisch noch ungeheuerlich.“ (DD, S. 14). 38

EJ, S. 300; Arendt sagt: „Es ist in der Tat meine Meinung, daß das Böse niemals radikal ist, daß es nur extrem

ist und daß es weder Tiefe noch irgendeine dämonische Dimension besitzt. Es kann die ganze Welt überwu-

chern und verwüsten, eben weil es sich wie ein Pilz auf der Oberfläche ausbreitet. Es ist resistent gegen den

Gedanken, wie ich gesagt habe, weil der Gedanke danach strebt, Tiefe zu erreichen, an die Wurzeln zu gehen,

und in dem Augenblick, da er sich mit dem Bösen befaßt, wird er vereitelt, weil da nichts ist. Das ist Banalität.“

(NA, S. 78).

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305

einem mehr Unheil anrichten können als alle die dem Menschen vielleicht innewohnenden bö-

sen Triebe zusammengenommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen

konnte.“39

Der Charakter der Gedankenlosigkeit Eichmanns bezieht sich für Arendt auf dem Mangel an der

Anerkennung der Pluralität. Eichmann ist für sie ein besonderer Typ des modernen Menschen,

der jeglichen Weltbezug verloren hat. Entscheidend ist für Eichmanns Gedankenlosigkeit seine

nahezu totale Unfähigkeit, jemals eine Sache vom Gesichtspunkt des Anderen her zu sehen. Als

Folge kann er nicht in der Lage sein, die Wirklichkeit der Welt zu erfahren. Daraus entsteht die

umfassende Krise des Urteilens. Eichmanns Realitätsferne führt schließlich zum Verlust des

weltlichen Gemeinsinnes. Arendt berichtet: „Je länger man ihm (Eichmann: H. P.) zuhörte, des-

to klarer wurde einem, daß diese Unfähigkeit, sich auszudrücken, aufs engste mit seiner Unfä-

higkeit zu denken verknüpft war. Das heißt hier, er war nicht imstande, vom Gesichtspunkt ei-

nes anderen Menschen aus sich irgend etwas vorzustellen. Verständigung mit Eichmann war

unmöglich, nicht weil er log, sondern weil ihn der denkbar zuverlässigste Schutzwall gegen die

Worte und gegen die Gegenwart anderer, und daher gegen die Wirklichkeit selbst umgab: abso-

luter Mangel an Vorstellungskraft.“40

Bei Eichmann zeigt sich dieser Fehler deutlich in seiner

von Redensarten und Klischees überfrachteten Sprache gegenüber der Wirklichkeit.41

In Jerusalem pochte Eichmann stets darauf, Befehle ausgeführt zu haben. Bei diesem Eichmann

sieht Arendt die Mangel der Reflexion auf das eigene freie Urteilen. Sie schreibt: „Diejenigen,

die urteilten, urteilten frei; sie hielten sich an keine Regel, um unter sie Einzelfälle zu subsumie-

ren, sie entschieden vielmehr jeden einzelnen Fall, wie er sich ihnen darbot, als ob es allgemeine

Regeln für ihn nicht gäbe.“42

Im Gegensatz zum Gehorsam Eichmanns waren „diejenigen, die

nicht teilnahmen“, wie Arendt bemerkt, „die einzigen, die es wagten, selber zu urteilen.“43

Arendt hält fest: „Ich erwähnte den totalen Zusammenbruch moralischer und religiöser Normen

unter Leuten, die allem Anschein nach immer an sie geglaubt hatten, und ich habe auch die un-

leugbare Tatsache angeführt, daß die Wenigen, denen es gelang, nicht in den Wirbel hineinge-

zogen zu werden, keineswegs die Moralisten waren, also Leute, die schon immer Regeln des

richtigen Verhaltens hochgehalten hatten.“44

39

EJ, S. 16. 40

EJ, S. 78. 41

Vgl. DD, S. 14; DTB, S. 317. 42

EJ, S. 23. 43

PV, S. 93. 44

ÜDB, S. 139.

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306

Aus dem Eichmann-Prozess stellt sie noch die Konzeption der Urteilskraft auf, dass die Urteils-

fähigkeit vom Erkennen oder von der intellektuellen Fähigkeit unabhängig ist.45

Die Urteilskraft

untersteht nicht den selbst gebildeten Vermögen des Subjekts. Der Mangel an Urteilskraft kann

mit sehr hoher und starker Intelligenz Hand in Hand gehen, während umgekehrt gar nicht sehr

intelligente Menschen gerade große Urteilskraft besitzen können. So stellt Arendt fest: „Die

Voraussetzung für diese Art der Urteilsbildung ist keine hoch entwickelte Intelligenz oder ein

äußerst differenziertes Moralverständnis, sondern schlicht die Gewohnheit, ausdrücklich mit

sich selber zusammenzuleben, das heißt, sich in jenem stillen Zwiegespräch zwischen mir und

meinem Selbst zu stehen, das wir seit Sokrates und Plato gewöhnlich als Denken bezeichnen.

Obwohl sie allem Philosophieren zugrundeliegt, ist diese Art des Denkens nicht fachorientiert

und handelt nicht von theoretischen Fragen. Die Trennungslinie zwischen denen, die urteilen,

und denen, die sich kein Urteil bilden, verläuft quer zu allen sozialen Unterschieden, quer zu

allen Unterschieden in Kultur und Bildung.“46

Ausgehend vom Phänomen der Urteilsunfähigkeit in der totalitären Herrschaft verschafft sich

Arendt die theoretische Perspektive mithilfe von Kants Urteilslehre, der es um das Verhältnis

von Urteilskraft und Pluralität geht.

3.3 Die politische Interpretation der ästhetischen Urteilskraft von Kant

3.3.1 Von Aristoteles zu Kant

Wie wir oben gesehen haben, gibt es eine Einschätzung, dass Arendt in der Urteilslehre von

Aristoteles zu Kant übergehe. In der Tat beendet Arendt ihre eigene unvollendete Urteilslehre

bei Kant.47

Entscheidend ist, dass man den Arendtschen Übergang von der aristotelischen Phro-

nesis zur Kants Urteilskraft als die Abkehr von der Beschäftigung mit der Politik interpretiert.

Im Hinblick auf die Arendtsche Abwendung vom aristotelischen Phronesiskonzept werfen Kri-

tiker Arendt vor, dass sie ihr eigenes Handlungskonzept, das sich aus der aristotelischen Traditi-

on der handlungsorientierten Klugheit48

ableitete, in der Urteilslehre ignoriert, indem sie sich

45

Vgl. DD, S. 23. 46

PV, S. 93f. 47

Vgl. Shklar, 1979, S. 185. 48

Klugheit ist die deutsche Übersetzung des griechischen Worts phronesis. In seinem Buch NE definiert Aristote-

les die Klugheit als ein mit einer richtigen Regel verbundener, „untrüglicher Habitus vernünftigen Handelns in

Dingen, die für den Menschen Güter und Übel sind.“ (Aristoteles, NE, 1140 b 5f.).

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307

der ästhetischen Urteilskraft Kants zuwendet.49

Es fragt sich daher, warum Kants Geschmacks-

urteil eine so große Bedeutung für Arendts Auffassung zum politischen Urteilen hat.

Tatsächlich betont Arendt in ihrem frühen Werk, dass Aristoteles die politischen Implikationen

der Urteilskraft erkannt hat, die aber „in der Tradition philosophischen wie politischen Denkens

kaum beachtet worden waren“.50

An anderer Stelle verbindet Arendt die Urteilskraft Kants mit

der Phronesis von Aristoteles, weil beide die Fähigkeit, die Dinge aus der Perspektive aller An-

deren zu sehen und alle Standorte zu berücksichtigen, gemeinsam teilen.51

Diese Vermischung

hält man jedoch für unhaltbar, weil es die Kluft gibt, die zwischen der Moralphilosophie von

Kant und der von Aristoteles unüberbrückt trennt. Dazu merkt Christopher Lasch an: „Auf der

einen Seite scheint Arendts Verteidigung des Urteilens als der politischen Tugend zu einer aris-

totelischen Auffassung der Politik als Teil der praktischen Vernunft zu führen. Auf der anderen

Seite verweist ihre Berufung auf Kant als Quelle ihrer Gedanken über das Urteilen auf ein ganz

anderes Politikverständnis, in dem politisches Handeln nicht in den praktischen Künsten veran-

kert ist, sondern in universalen moralischen Grundsätzen (...). Arendt scheint in ihrer Auseinan-

dersetzung mit dem Problem des Urteilens die alten und die modernen Konzeptionen von Mora-

lität und Politik zu vermischen, anstatt zu klären, worin sie sich unterscheiden.“52

Arendt macht zumindest zwei politische Bedeutungen von der Aristotelischen Phronesis ge-

ltend. Zuerst verweist Arendt auf seine Unterscheidung zwischen Klugheit und Weisheit, also

zwischen dem politischen und dem philosophischen Leben.53

Nach Arendt versteht Aristoteles

die Phronesis in betontem Gegensatz zur Weisheit der Philosophen. Die Klugheit ist nicht

Weisheit schlechthin, die zur Betrachtung der Wahrheit gehört. Für Aristoteles können nur die

irdischen und menschlichen Dinge und Kontingente die Gegenstände der Klugheit sein.54

Aus-

gehend von der Unterscheidung zwischen der Klugheit und der Weisheit weist Aristoteles den

platonischen Versuch zurück, das Besondere vom Allgemeinen abzuleiten. Er charakterisiert die

Klugheit als das Vermögen, das Besondere zu erkennen.55

Dieser Begriff der Klugheit ist für das

Paradigma der pluralen politischen Welt konstitutiv. Trotzdem ist es nicht zu übersehen, dass

49

So betont Wellmer, dass sich Arendt durch ihre Konzept der Urteilskraft von „Aristotelian“ zu „anti – Aristote-

lian“ wendet (Wellmer, 1996, S. 33-52, hier S. 34). 50

ÜR, S. 295. 51

WP, S. 97; ZVZ, S. 299 und S. 342; zum Vergleich des Begriffes Phronesis bei Arendt und Aristoteles siehe

Mahrdt, 2007, S. 587-603. 52

Lasch, 1983; zit. aus Benhabib, 1995, S. 133f. 53

Vgl. ZVZ, 299; WP, S. 97; PP, S. 396. 54

Vgl. Aristoteles, NE 1141 b 8f. 55

„Auch geht die Klugheit nicht bloß auf das Allgemeine, sondern auch auf die Erkenntnis des Einzelnen. Denn

sie hat es mit dem Handeln zu tun, das Handeln aber bezieht sich auf das Einzelne und Konkrete. Daher sind

auch manche, die keine Wissenschaft haben, praktischer oder zum Handeln geschickter als andere mit ihrem

Wissen.“(Aristoteles, NE 1141 b 15f.); „Die Klugheit ist aber praktisch, und darum muß man beides, Kenntnis

des Allgemeinen und des Besonderen, haben oder, wenn nur eines, lieber das letztere.“ (NE 1141 b 21f.).

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308

Aristoteles die philosophische Weisheit und die politische Klugheit hierarchisiert und dass er die

Unterordnung der Klugheit unter die Weisheit wieder herstellt. Im Verständnis der Klugheit

greift Aristoteles auf eine Unterteilung der Seele zurück. Für ihn gehört die Klugheit zum auf

„das Schließen oder Meinen“ bezogenen Seelenteil.56

Dabei findet sich die platonische Span-

nung zwischen dem tätigen und dem kontemplativen Leben wieder. Arendt stellt fest: „So wie

Plato die doxa der Wahrheit entgegensetzte, so stellt Aristoteles die phronesis (die politische

Einsicht) dem nous (dem philosophischen Geist) gegenüber.“57

Arendt hat noch lange den Begriff des Urteilens im aristotelischen Klugheitskonzept mit der

erweiterten Denkungsart von Kant gleichgesetzt. Aber es gibt im aristotelischen Verständnis der

Klugheit die ursprünglichen Komponenten, die dem Arendtschen Begriff des Urteilens und des

Politischen nicht entsprechen. In der Konzeption der aristotelischen Klugheit als „einer mora-

lisch-praktischen Urteilskraft“58

liegt das Dilemma zwischen der Willkür des gesetzlosen Wil-

lens und der Normativität des Verstands, also der „Widerspruch zwischen dem spontanen Wol-

len und dem Sollen“.59

Die Klugheit versteht sich zuerst im Verhältnis von Ziel und Mittel. Sie hat etwas Instrumenta-

les; sie befasst sich nicht mit der Überlegung von Ziel, sondern mit der Wahl der Handlungen,

die zur Erreichung der bereits gegebenen Ziele beitragen.60

Deshalb beschränkt sich die Rolle

der Klugheit nur auf das Problem, welche Handlungen zur Verwirklichung des Ziels angemes-

sen und tauglich sind.61

Die Entscheidung zwischen alternativen Mitteln62

kann ohne Verständi-

gung grundsätzlich monologisch getroffen werden. Der Hauptvorzug eines klugen Menschen

liegt nur darin, „daß er sich seine Sache gut zu überlegen weiß“.63

Diese kluge Fähigkeit könnte

ohne mögliche Kommunikation mit anderen urteilenden Subjekten funktionieren, weil sie auf

das Wissen angewiesen ist. So hält Aristoteles an einem gewissen platonischen Intellektualis-

mus fest.

56

NE, 1140 b 25ff. 57

PP, S. 396; Aristoteles betont: „Somit ist offenbar, daß die Weisheit die vollkommenste Wissenschaft ist. Mi-

thin muß der Weise nicht bloß die Folgerung aus den Prinzipen wissen, sondern auch bezüglich der Prinzipien

die Wahrheit erkennen. Demnach wäre also die Weisheit Verstand und Wissenschaft, eine Wissenschaft, die

gleichsam als Haupt über die anderen gestellt, die allerwürdigsten Objekte umfaßt“ (Aristoteles, NE 1141 a

16f.). 58

Höffe, 1999, S. 211. 59

Gigon, 1977, S. 75; vgl. Großmann, 1997, S. 214. 60

Höffe hingegen meint, dass die Klugheit keine instrumentelle Vernunft ist (Höffe, 1999, S. 211). 61

Vgl. Aristoteles, NE 1112 b 11f.; vgl. Vollrath, 1977, S. 87. 62

Arendt stellt fest, dass für Aristoteles auch die Mittel schon gegeben sind: „Auch die Mittel und nicht bloß die

Ziele sind also gegeben, und unsere freie Wahl besteht nur in einer vernünftigen Auswahl zwischen ihnen.“

(DW, S. 61; vgl. Aristoteles, NE 1112 b 11-18). 63

Aristoteles, NE 1141 b 10.

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309

In engem Zusammenhang damit bezieht sich die Klugheit immer auf die Zukunft.64

Der kluge

Mensch achtet auch auf das, was geschehen kann.65

Diesen zukunftsorientierten Charakter der

Phronesis hält Vollrath für „reflexionsfrei“.66

Die reflexionsfreie Klugheit wird fragwürdig, wo

„wir die Maßstäbe zum Menschen und die Regeln, unter die das Besondere zu subsumieren ist,

verloren haben“.67

Arendt sagt: „Urteilen kann aber auch etwas ganz anderes meinen, und zwar

immer dann, wenn wir mit etwas konfrontiert werden, was wir noch nie gesehen haben und wo-

für uns keinerlei Maßstäbe zur Verfügung stehen. Dies Urteilen, das maßstablos ist, kann sich

auf nichts berufen als die Evidenz des Geurteilten selbst, und es hat keine anderen Vorausset-

zungen als die menschliche Fähigkeit der Urteilskraft, die mit der Fähigkeit zu unterscheiden

sehr viel mehr zu tun hat als mit der Fähigkeit zu ordnen und zu subsumieren.“68

Es geht Arendt darum, wie wir handeln und urteilen können, ohne uns auf den Faden der Tradi-

tion, auf die religiös, metaphysisch legitimierte Wertordnung zu verlassen und ohne uns von

Erfahrungen loszulösen, „die nur im Verein mit anderen gültig sein und erhärtet werden“69

kön-

nen. Für die Überwindung des Dilemmas, das im aristotelischen Klugheitskonzept gefunden ist,

zieht Arendt Kant zu Rate, weil „kein Philosoph vor oder nach Kant sie (Urteilskraft: H. P.) zum

Gegenstand einer eigenen Untersuchung gemacht hat; und der Grund für dieses Erstaunliche

liegt in der tiefen Politikfeindlichkeit unserer philosophischen Tradition“.70

Die politische Be-

deutung und der politische Rang der ästhetischen Urteilskraft Kants sieht Arendt einerseits in

seiner Konzeption der erweiterten Denkungsart und andererseits in seinem Verständnis der ref-

lektierenden Urteilskraft. Die beiden Konzepte antizipieren Arendts Ansicht zufolge das Prinzip

der Pluralität als das Kennzeichen der politischen Welt.

3.3.2 Die erweiterte Denkungsart

Kant unterstellt in seinen angeblich politischen Werken die Politik dem Bereich der Moral. Er

versucht „seine politischen Einsichten mit seiner Moralphilosophie in Einklang zu bringen“.71

Bekanntlich beruht seine Moralphilosophie auf einem zwingenden Prinzip der Übereinstimmung

mit sich selbst im vernünftigen Sittengesetz. Der kategorische Imperativ und die gesetzgebende

64

Prudentia, der lateinische Ausdruck von Phronesis, kommt von providere, und das heißt vorausschauen und

sich vorsehen (vgl. Comte-Sponville, 2003, S. 482). 65

Vgl. Aristoteles, NE, 1141 a 27f. 66

Vollrath, 1993, S. 44. 67

ZVZ, S. 125. 68

WP, S. 20. 69

DW, S. 217. 70

ZVZ, S. 299. 71

DU, S. 32; Kant sagt: „Die wahre Politik kann also keinen Schritt tun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu

haben“ (Kant, 1984, S. 49).

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310

Vernunft setzen nicht die Anderen voraus, sondern nur ein sich nicht widersprechendes Selbst.

Die praktische Vernunft ist im Kern eine Tugendlehre des Einzelmenschen,72

wobei es um den

Willen geht, weder um das Urteil noch um das Handeln.73

Der Wille als Maxime der praktischen

Vernunft ist unpolitisch, weil er im Gegensatz zum politischen Handeln grundsätzlich monolo-

gisch ist.74

Arendt verweist auf den Charakter der kantischen Moralphilosophie: „Daß es ein

Absolutes gibt, die Pflicht des kategorischen Imperativs, die über den Menschen steht, in allen

menschlichen Angelegenheiten entscheidet und auch um der Menschlichkeit in jeglichem Ver-

stande nicht gebrochen werden darf – dies ist ja den Kritikern der Kantischen Ethik als etwas

durchaus Unmenschliches und Unbarmherziges aufgefallen. Aber diese Unmenschlichkeit ist

nicht dem geschuldet, daß die Forderung des kategorischen Imperativs etwa die Möglichkeiten

einer zu schwachen Menschennatur überfordert, sondern einzig und allein dem, daß er absolut

gesetzt ist und in seiner Absolutheit den zwischenmenschlichen Bereich, der seinem Wesen

nach aus Bezügen und Relationen besteht, auf etwas festlegt, das seiner grundsätzlichen Relati-

vität widerspricht.“75

Während sich Kants praktische Philosophie ganz und gar auf die selbstbezogenen moralischen

Subjekte konzentriert und die „Bedingung der Pluralität auf ein Minimum“76

begrenzt, hat seine

Kritik der Urteilskraft mit den Menschen, die in Gemeinschaft mit Anderen leben, zu tun. In

diesem Punkt sieht Arendt den politischen Kernpunkt seiner ästhetischen Urteilslehre. Im Hinb-

lick auf Kants Urteilskraft besteht Arendts größte Zufriedenheit darin, dass Kant die Urteilslehre

auf einer Grundlage der Pluralität entwickelte, weil ihm „die Pluralität der Menschheit mehr als

jedem anderen Philosophen bewußt war“.77

Arendt stellt fest: „Die Kritik der Urteilskraft ist die

einzige (von Kants) großen Schriften, wo sein Ausgangspunkt die Welt ist und die Sinne und die

Fähigkeiten, die die Menschen (im Plural) so ausstatten, daß sie deren Bewohner sind. Das ist

vielleicht noch nicht Politische Philosophie, aber es ist sicherlich deren conditio sine qua non.“78

In der Tat war Kant der Erste, der von Pluralismus gesprochen hat.79

Für ihn unterscheidet sich

der „Pluralism“ vom „Egoism“, in dem man sein Urteil nicht an dem Anderer prüft.80

Nach sei-

ner Ansicht ist die Urteilskraft „die Denkungsart“, die des „Pluralism“ bedarf. Im Hinblick auf

72

„Praktisch heißt bei Kant moralisch und betrifft das Individuum qua Individuum.“ (DU, S. 83). 73

Vgl. DU, S. 32; vgl. ZVZ, S. 298; WP, S. 98; MfZ, S. 37f. 74

Vgl. DU, S. 26 und 82f.; „Der Wille ist bei Kant in der Tat praktische Vernunft (...); er bezieht seine Verbind-

lichkeit aus dem Zwang, den evidente Wahrheit oder logisches Denken auf den Geist ausüben.“ (DW, S. 61f.). 75

MfZ, S. 37f. 76

DU, S. 33. 77

DD, S. 101. 78

DU, S. 179; vgl. Paetzold, 2000, S. 195. 79

Vgl. Kerber, 1985, S. 988; Hinske, 1986, S. 31-49; Beiner, 1985, S. 154. 80

Kant sagt, der Egoist halte „es für unnötig, sein Urteil auch am Verstand anderer zu prüfen“ (Kant, 2000, § 2).

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311

die kantische Differenzierung der „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“81

hält Arendt

die zweite Maxime, die Kant die „erweiterte Denkungsart“ nennt, für die Form der Pluralität,

die eine elementare Bedingung für die politische Existenz des Menschen darstellt.82

Die Fähig-

keit, „an der Stelle jedes anderen zu denken“83

, ist für Arendt das Zeichen politischen Denkens:

„Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungsart: sich nicht

als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als bloßen Weltbürger zu betrachten und

zu verhalten“.84

Das Prinzip der erweiterten Denkungsart überwältigt das moralische Prinzip der „Einstimmig-

keit mit sich selbst“, das seit Sokrates die Maxime der abendländischen Ethik ist, durch „eine

mögliche Einstimmigkeit mit anderen“.85

Diese Überwältigung des Solipsismus, der sich in der

Dominanz des moralischen Prinzips der Übereinstimmung mit sich selbst äußert, ist für Arendt

„in der politischen Philosophie der größte Schritt seit Sokrates“.86

Die politische Qualität eines

Urteilens hänge daher „von dem Grad der erweiterten Denkungsart“ ab.87

Anders gesagt: Das

politische Handeln ist allein durch das Urteilsvermögen des Individuums gekennzeichnet, sich

an die Stelle anderer Individuen zu versetzen. Kants Begriff der „erweiterten Denkungsart“ zielt

auf die „grundlegende Gerichtetheit von Urteil und Geschmack auf andere“88

ab. Er liefert daher

das Modell für die Pluralität, die sich im öffentlichen Raum verwirklichen lässt. Die erweiterte

Denkungsart, die als Urteil ihre individuellen Beschränkungen zu überwinden weiß, kann in

strenger Isolation oder in der Einsamkeit nicht funktionieren; sie braucht die Gegenwart der An-

deren.89

In diesem Kontext reserviert Arendt die erweiterte Denkungsart für das politische Urtei-

len. Damit verbunden bezeichnet sie Kants Kritik der Urteilskraft als seine wirkliche politische

Philosophie, die er niemals geschrieben hat, während die politischen Schriften Kants für das

politische Denken völlig belanglos sind.90

Arendt hat bereits am 29. August 1957 an Karl Jas-

81

Zu den Maximen des gemeinen Menschenverstandes zählt Kant: „1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes an-

dern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Die erste ist die Maxime der vorurteilfreien, die

zweite der erweiterten, die dritte der konsequenten Denkungsart.“ (Kant, KdU, § 40, B 158). 82

DU, S. 94ff. 83

Kant, KdU, § 40, B 158. 84

Kant, 2000, § 2, S. 13; vgl. ÜDB, S. 145. 85

ZVZ, S. 298; Sokrates war der Meinung, „daß eher die meisten Menschen nicht mit mir übereinstimmen, son-

dern mir widersprechen mögen, als daß ich allein mit mir selbst nicht zusammenstimmen, sondern mir wider-

sprechen müßte“ (Plato, Gorgias 482 c; vgl. ZVZ, S. 298). 86

DTB, S. 570. 87

ZVZ, S. 343. 88

DU, S. 91. 89

Vgl. ZVZ, S. 216. 90

DU, S. 17ff. und 83; in ähnlicher Sicht betont Jean-Francois-Lyotard, dass „die Rechtslehre (…) kein Text zu

sein scheint, der für eine Studie über das Politische bei Kant relevant wäre“ (Lyotard, 1988, S. 30). Lyotard

sucht somit das Politische in der Kritik der Urteilskraft, weil „die reflektierende Bedingung (…) ein Analogen

zur Bedingung für das Politische nach Kant ist (Ebd., S. 25); im Gegensatz dazu vertritt Gerhardt die Ansicht,

dass die den Kern des Politischen treffenden Thesen Kants aus dem Zentrum seiner Kritischen Philosophie

stammen (Gerhardt, 1996, S. 464ff. und 1991, S. 316ff.; Höffe, 1993).

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312

pers geschrieben, warum die Urteilslehre von Kant in ihren Augen politisch so bedeutsam ist:

„Augenblicklich lese ich mit steigender Begeisterung die Kritik der Urteilskraft. Da ist Kants

wirkliche politische Philosophie vergraben, nicht in der Kritik der praktischen Vernunft. Der

Lobgesang auf den so geschmähten Gemeinsinn, das Phänomen des Geschmacks als Grundphä-

nomen der Urteilskraft – was er vermutlich in allen Aristokratien wirklich ist – philosophisch

ernst genommen, die erweiterte Denkungsart, die zum Urteilen gehört, daß man an Stelle aller

anderen denken kann. Die Forderung der Mitteilbarkeit. Da sind die Erfahrungen des jungen

Kant in der Gesellschaft; und dann von dem alten Mann wieder ganz lebendig gemacht.“91

3.3.3 Die reflektierende Urteilskraft

Es ist aber sicher, dass Kant seine Kritik der Urteilskraft nicht im politischen Zusammenhang

geschrieben hat, sondern im ästhetischen Bezug. Er hat Arendt zufolge die Elemente des Politi-

schen, die in der ästhetischen Urteilskraft impliziert sind, nicht gesehen.92

Trotzdem sieht

Arendt in Kants ästhetischem Geschmacksurteilen die Parallelität zwischen dem Ästhetischen

und dem Politischen. Schönheit sei wie Politisches das Phänomen der öffentlichen Welt, die des

Erscheinungsraums bedarf.93

Aus dieser Affinität von Kunst und Politik, also ihrer „Öffentlich-

keit und Weltlichkeit“94

, rechtfertigt sich für sie eine politische Lesart von Kants ästhetischer

Urteilskraft. An einer Stelle, wo sie von der Analogie zwischen dem politischen Handeln und

den ausübenden Künsten spricht, führt sie aus, das Handeln bedürfe der Präsenz anderer in ei-

nem eben politisch organisierten Raum, wie die ausübenden Künste „für die Entfaltung ihrer

Virtuosität auf ein Publikum angewiesen sind“.95

Aber diese Verklammerung zwischen Kunst

und Politik impliziert dies keineswegs, Politik mit Kunst gleichzusetzen. Der Bezug zu der kan-

tischen Geschmacksurteilskraft bringt die Tatsache zur Geltung, dass es beim Urteilen um Plura-

lität geht. In diesem Zusammenhang kann man sagen, dass Arendts Interesse an der Urteilskraft

91

BAJ, S.355. 92

Den Grund dafür erläutert Vollrath: „Die Antwort kann – versuchsweise – darauf hinweisen, daß Kant, wie das

gesamte politische Denken im deutschen Kulturkreis, das Politische mit dem Staat identifizierte, der Staat wie-

derum als personales Subjekt auftritt, dessen Subjektivität in einer Vernunftwillensstruktur erblickt wird.“

(Vollrath, 1993, S. 42). In der Tat leitet Kant den Staat aus der Notwendigkeit des Zwangs ab, weil „der

Mensch ein Tier, das, wenn er unter anderen seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat“ (Kant, 1964, § 6). Der

Herr, der Staat, wird „die Willkür des individuellen Willens brechen und den Menschen dazu bringen, einem

allgemeinen Willen zu gehorchen, unter dem alle werden frei sein können.“ (Weil, 1973, S. 355). 93

Vgl. ZVZ, S. 296f.; in der Kritik der Urteilskraft schreibt Kant: „Das Schöne (interessierte) nur in der Gesell-

schaft (…) Für sich allein würde ein verlassener Mensch auf einer wüsten Insel weder seine Hütte, noch sich

selbst ausputzen“ (Kant, KdU, § 41, B 163; vgl. DU, S. 90). 94

ZVZ, S. 298. 95

ZVZ, S. 207.

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313

die Verlängerung von Arendts Begriff des politischen Handelns darstellt.96

Das Handeln und das

Urteilen haben ihren gemeinsamen Anstoß in der Pluralität von Menschen.

Kants Unterscheidung zwischen einer bestimmenden und einer reflektierenden Urteilskraft bie-

tet Arendt den Ansatz der Theorie des politischen Urteilens an, das von der Erfahrung der Welt

in ihrer Besonderheit ausgeht. Das moralische Urteilen, wobei Moralgesetz als universale Rich-

tlinie des moralischen Handelns vorgegeben ist, ist für Kant eher bestimmend als reflektierend:

„Die bestimmende Urteilskraft hat für sich keine Prinzipien, welche Begriffe von Objekten

gründen. Sie ist keine Autonomie; denn sie subsumiert nur unter gegebenen Gesetzen, oder Be-

griffen, als Prinzipien.“97

Die bestimmende Urteilskraft ist nicht anderes als die Fähigkeit, „die

Einzelne richtig und angemessen dem ihm zugehörenden Allgemeinen, über das man einig ist,

zuzuordnen.“98

Für das bestimmende Urteil ist es eine Selbstverständlichkeit, dass das Allge-

meine höherer Rang ist als das Besondere. Ihm geht es um „die Präsenz des Allgemeinen, das

Apriori in der Vernunft“99

. Arendt stellt fest: „Es meint einmal das ordnende Subsumieren des

Einzelnen und Partikularen unter etwas Allgemeines und Universales, das regelnde Messen mit

Maßstäben, an denen sich das Konkrete auszuweisen hat und an denen über es entschieden wird.

In allen solchen Urteilen steckt ein Vor–Urteil.“100

In der bestimmenden Urteilskraft ist nach

Arendt „eine eigentliche Erfahrung des Gegenwärtigen unmöglich“.101

Das politische Urteilen hingegen ist immer das Urteilen über das Besondere, „ohne den Kodex

von Sittenregeln, das heißt Moral, zu urteilen.“102

Es hat „keine anderen Voraussetzungen als

die menschliche Fähigkeit der Urteilskraft, die mit der Fähigkeit zu unterscheiden sehr viel mehr

zu tun hat als mit der Fähigkeit zu ordnen und zu subsumieren.“103

Aus diesem Grund verknüpft

Arendt das politische Urteilen mit Kants Analyse der reflektierenden Urteilskraft, deren speziel-

le Fähigkeit darin liegt, sich mit dem Besonderen zu befassen. Kant bezeichnet die reflektieren-

de Urteilskraft als „das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu den-

ken“104

. Er schreibt: „Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die

Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert, (...) bestimmend. Ist aber nur das Be-

sondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektie-

96

Vgl. Negt, 1993, S. 67. 97

Kant, KdU, § 69, B 311. 98

WP, S. 22. 99

DTB, S. 570. 100

WP, S. 20. 101

WP, S. 19. 102

ZVZ, S. 125. 103

WP, S. 20. 104

Kant, KdU, B XXVI.

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314

rend.“105

Reflektierendes Urteilen kommt weder „durch Deduktion noch durch Induktion zu-

stande“106

, weil sie mit Einzelnem oder mit Besonderem zu tun hat. Dies Konzept reflektieren-

der Urteilskraft gibt Arendt die Antwort auf die Frage, wie wir urteilen und handeln können,

ohne auf die festen Geländer der Tradition von der konkreten Gemeinschaft angewiesen zu sein.

Im politischen Bereich lassen sich Urteile nur im öffentlichen Gespräch zwischen verschiedenen

Meinungen gewinnen. Die Pluralität, also die Präsenz der Andern, stellt die Bedingung des

Funktionierens der politischen Urteilskraft dar. Die reflektierende Urteilskraft entspricht

Arendts Ansicht zufolge dem spezifischen Charakter des politischen Phänomens selbst, das un-

vorhersehbar und kontingent ist.107

3.4 Die Konzeptionen der politischen Urteilstheorie bei Hannah Arendt

3.4.1 Der Begriff des Gemeinsinns

In Arendts Urteilstheorie spielt der Gemeinsinn eine wichtige Rolle. Als Maßstab und Bedin-

gung des Urteilens, nämlich als „die Mutter der Urteilskraft“108

, pointiert Arendt den Gemein-

sinn stärker als Kant.109

Indem sie den Begriff Gemeinsinn spezifiziert, übernimmt sie den Ver-

such, einen weltlichen Gemeinsinn zu rekonstruieren, und sie unterstreicht seine spezifisch poli-

tische Bedeutung. Bereits in ihren frühen Werken wie RV und EU spricht Arendt vom Leis-

tungsverlust des Gemeinsinns in Neuzeit und Moderne. Sofern sich der Gemeinsinn in Arendts

Verständnis auf die Wirklichkeit der Menschen, die Geltung der Urteile und die Möglichkeit der

Kommunikation bezieht, führt der Verlust des Gemeinsinns schließlich zur völligen Zerstörung

der Urteilskraft selbst. Unter solchen Umständen wird der Gemeinsinn „zu einem inneren Ver-

mögen ohne allen Weltbezug“,110

und damit tritt der Suprasinn der Ideologien an die Stelle des

Gemeinsinns.

105

Kant, KdU, B XXVI; „Allein die reflektierende Urteilskraft soll unter einem Gesetze subsumieren, welches

noch nicht gegeben und also in der Tat nur ein Prinzip der Reflexion über Gegenstände ist, für die es uns objek-

tiv gänzlich an einem Gesetze mangelt, oder an einem Begriff vom Objekt, der zum Prinzip für vorkommende

Fälle hinreichend wäre.“ (Kant, KdU, § 69, B 312). 106

DD, S. 211. 107

Vgl. Vollrath, 2003, S. 216f. 108

ÜDB, S. 143. 109

Vgl. Kurbacher, 2005, S. 63-78, 110

VA, S. 359.

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315

3.4.1.1 Gemeinsinn versus Privatsinn

Die politische Implikation des Gemeinsinnes besteht zunächst darin, dass er das menschliche

Zusammenleben ermöglicht. Den sensus communis versteht Arendt als „den gemeinschaftlichen

Sinn“ in Anlehnung an Kant111

und grenzt vom sensus privatus ab. Also lässt sich der gemein-

schaftliche Sinn weder durch ein Vermögen, welches wir alle besitzen, das uns gemeinsam ist,

noch durch die Gleichartigkeit des Sinnesapparats begründen. Arendt hält fest: „Gemeinsinn

war für Kant nicht ein Sinn, der uns allen gemeinsam ist, sondern genaugenommen jener Sinn,

der uns in eine Gemeinschaft mit Anderen einpaßt, uns zu ihren Mitgliedern macht und uns in

die Lage versetzt, Dinge, welche unseren fünf privaten Sinnen gegeben sind, zu kommunizie-

ren.“112

In Bezug auf das Prinzip der Pluralität besteht die Bedeutung des Gemeinsinns daher darin, dass

man durch den Gemeinsinn die privaten und subjektiven Bedingungen überwinden kann. Der

Gemeinsinn setzt sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils hinweg, weil durch

ihn alle anderen Sinne, die von sich aus rein subjektiv und privat sind, in eine gemeinsame Welt

gefügt und auf eine Mitwelt zugeschnitten werden.113

Aber das bedeutet keineswegs, dass der

Gemeinsinn den Privatsinn völlig ausschließt.114

Der Privatsinn ist notwendig perspektivisch.

Trotzdem gibt es etwas Nicht-Subjektives in dem, was scheinbar der privateste und subjektivste

Sinn ist. Jedes Urteilen habe einen Bestimmungsgrund, „der nicht anders als subjektiv sein kann

und doch unabhängig bleiben muß von allen direkten subjektiven Interessen. Das Urteil ent-

springt hier der Subjektivität eines Standortes in der Welt, aber es beruft sich gleichzeitig dar-

auf, daß diese Welt, in der jeder einen nur ihm eigenen Standort hat, eine objektive Gegebenheit

ist, etwas, das uns allen gemeinsam ist.“115

Bei jedem gemeinsinnigen Urteilen lassen sich so-

111

„Unter dem sensus communis aber muß man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d. i. eines Beurteilungs-

vermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori)

Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch der Illu-

sion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden könnten,

auf das Urteil nachteiligen Einfluß haben würde. Dieses geschieht nun dadurch, daß man sein Urteil an anderer,

nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes anderen versetzt,

indem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälliger Weise anhängen, abstra-

hiert“ (Kant, KdU, § 40, B 159; vgl. DU, S. 94). 112

ÜDB, S. 140; „Indem Kant aber nun den lateinischen Begriff gebraucht, deutet er an, daß er hier etwas anderes

meint: einen Sondersinn, der uns in eine Gemeinschaft einfügt“ (DU, S. 94). 113

„Denn nur ihm (dem Gemeinsinn: H. P.) verdanken wir es, daß unsere privaten und subjektiven fünf Sinne und

ihre Sinnesdaten in eine nicht subjektive, objektiv–gemeinsame Welt eingepaßt sind, die wir mit anderen teilen

und beurteilen können.“ (ZVZ, S. 299). 114

„Auch wenn ich Andere beim Urteilen berücksichtige, heißt das nicht, daß ich in meinem Urteil mit dem ihren

übereinstimme. Ich spreche immer noch mit meiner eigenen Stimme und zähle nicht Stimmen ab, um zu dem

zu kommen, was ich für richtig halte. Aber mein Urteil ist auch nicht mehr in dem Sinne subjektiv, daß ich zu

meinen Schlußfolgerungen nur komme, indem ich mich selbst berücksichtige.“ (ÜDB, S. 142). 115

ZVZ, S. 300.

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316

wohl das Subjektive als auch das Objektive verschränken.116

Anders gesagt bewegt sich das ge-

meinsinnige Urteil im Medium von Pluralität und Individualität.

Im sensus communis sieht Arendt die Grundlage der Wirklichkeit und der Weltlichkeit. Über

die Überwindung des subjektiven Privatsinns hinaus besteht die politische Qualität des Gemein-

sinns in seiner weltbildenden Fähigkeit, also in seiner „Weltorientierung“.117

Der Gemeinsinn

selbst ist also Orientierungsorgan in der Welt. Das Urteilen entzündet sich nur an der Wirklich-

keit, die in der Faktizität des Bezugsgewebes der menschlichen Angelegenheiten gegründet

wird. Indem der Gemeinsinn „unsere anderen fünf Sinne und die radikale Subjektivität des sinn-

lich Gegebenen in ein objektiv Gemeinsames und darum eben Wirkliches fügt“,118

ermöglicht er

den Zugang zur wirklichen Welt. Der Gemeinsinn ermöglicht, dass wir die gemeinsame Welt

mit anderen teilen. Ohne die gemeinsame Welt gibt es keinen Gemeinsinn.119

Dass man im Ge-

meinsinn urteilt, bedeutet, wie Arendt selbst dazu sagt, dass der Urteilende als Mitglied einer

Gemeinschaft ist.120

In diesem Zusammenhang bezeichnet Arendt den Gemeinsinn als den

„Weltsinn“121

oder „den gemeinschaftlichen Sinn“.122

Der Verlust der gemeinsamen Welt hängt

daher mit dem Verlust des Gemeinsinns zusammen und schließlich führt zur Zerstörung der

Urteilskraft.123

Arendts Akzentuierung auf den Gemeinsinn als den gemeinschaftlichen Sinn darf nicht als ein

Absehen der persönlichen Existenz verstanden werden.124

Durch den Gemeinsinn wird der

Mensch erst menschlich, weil die sprachliche Verständigung in der Bedingung des Gemeinsinns

stattfinden kann. „Der sensus communis ist der spezifisch menschliche Sinn, weil die Kommu-

nikation, d.h. die Sprache, von ihm abhängt.“125

Mit der Bedingung des Gemeinsinns können

wir zugleich das uns eigne Persönliche herausbilden. Arendt sagt: „Was sich hier gemäß dem

Urteilen über eine gemeinsame Welt mitentscheidet, (...) ist ein So – und – nicht anders – Sein

des Persönlichen, das in dem Maß an Gültigkeit gewinnt, als es sich von dem nur individuellen

116

Vgl. ZVZ, S. 299f.; DU, S. 90; „Das nichtsubjektive Elemente bei den nichtobjektiven Sinnen“ definiert

Arendt als „Intersubjektivität“ (DU, S. 91). 117

Vgl. ZVZ, S. 299; vgl. Kleger, 1990, S. 207ff. 118

VA, S. 264f. 119

Vgl. BAM, S. 75. 120

„Wenn man urteilt, urteilt man als ein Mitglied einer Gemeinschaft. Das liegt an der Natur der Urteilskraft.“

(DU, S. 97). 121

ZVZ, S. 299. 122

DU, S. 94. 123

Aus diesem Grund verbindet Arendt den Gemeinsinn mit der Humanität des Menschen; vgl. ZVZ, S. 301:

„wenn wir den Sinn verloren haben, durch den unsere fünf animalischen Sinne sich einer Menschenwelt fügen,

die uns allen gemeinsam ist, so bleibt vom menschlichen Wesen in der Tat nicht mehr viel mehr übrig als die

Zugehörigkeit zu einer Tiergattung, die sich von anderen Tiergattungen nur dadurch auszeichnet, daß sie es

vermag, Schlussfolgerungen zu ziehen.“ (VA, S. 360). 124

Vgl. DW, S. 224, auch DU, S. 94; Kant, KdU, § 40, B 157. 125

DU, S. 94 und auch DW, S. 221.

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317

Indiosynkratischen entfernt.“126

Ohne Gemeinsinn und ohne Kommunikation „als Weisen des

Miteinander wäre für Menschen weder die Realität der Außenwelt noch die ihrer eigenen Identi-

tät je wirklich vorhanden.“127

3.4.1.2 Der Gemeinsinn und die Gültigkeit des Urteilens

Zu der Idee eines sensus communis kommt Kant im Hinblick auf die Frage nach der Gültigkeit

von Geschmacksurteilen. Der sensus communis, an den unsere Urteilskraft appelliert, ist auch

bei Hannah Arendt nicht nur die Bedingung des Urteilens, sondern derjenige, der „den Urteilen

ihre spezifische Gültigkeit gibt“.128

Das Urteilen kann seine Gültigkeit nur auf der Basis des

Gemeinsinnes erlangen.

Die Kommunikation zwischen allen Beteiligten entsteht aus dem „Anspruch auf subjektive All-

gemeinheit“129

der Urteile. Im politischen Bereich kann man nicht mit Hilfe von universellen

oder traditionellen geschlossenen Maßstäben urteilen und handeln.130

Im Bereich des politischen

Urteils kann man um die Übereinstimmung mit den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft nur

werben, aber sie nicht erzwingen. Anders gesagt kann die Gültigkeit des Urteilens weder aus

den konventionellen Normen noch aus der Autonomie des Individuums abgeleitet werden.

Arendt beharrt darauf: „Auf dieser erweiterten Denkungsart beruht die Urteilskraft, aus ihr

schöpft das Urteilen seine eigentliche Kraft der Gültigkeit (...). Was die Präsenz des Selbst für

die formale Widerspruchslosigkeit der Logik und die nicht weniger formale Widerspruchslosig-

keit der Gewissensethik ist, ist die Präsenz der anderen für das Urteilen. Ihm kommt daher eine

gewisse konkrete Allgemeingültigkeit zu, aber niemals eine universale Gültigkeit überhaupt.

Der Anspruch auf Geltung kann nie weiter reichen als die anderen, an deren Stelle mitgedacht

wird.“131

Der Gemeinsinn ist die Bedingung für die allgemeine Mitteilbarkeit eines Urteilens, durch die

sich die subjektiven Bezüge jedes Urteilens überwinden lassen. „Mitteilbarkeit hängt offensich-

tlich von der erweiterten Denkungsart ab; man kann nur dann kommunizieren, wenn man fähig

ist, vom Standpunkt einer anderen Person aus zu denken; anderenfalls wird man sie niemals

126

ZVZ, S. 301. 127

VA, S. 264. 128

DU, S. 96; daher wirbt man, wie Kant bemerkt, „um jedes andern Beistimmung, weil man dazu einen Grund

hat, der allen gemein ist.“ (Kant, KdU, § 19, B 64). 129

Kant, KdU, § 6, B 19. 130

„Die Geltung dieser Urteile ist niemals die gleiche wie die von Erkenntnis- oder wissenschaftlichen Aussagen,

die genaugenommen keine Urteile sind.“ (DU, S. 96). 131

ZVZ, S. 298f.; vgl. DW, S. 219.

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318

erreichen, niemals so sprechen, daß sie einen versteht.“132

In Kants Sinne enthält das Urteilen

immer eine Verpflichtung in sich, mein Urteil mitzuteilen; d.h. das Urteil will sich im Aus-

tauschprozess seiner selbst vergewissern bzw. andere überzeugen. Im Hinblick auf diese Mit-

teilbarkeit unterscheiden sich die politischen Urteile von den moralischen Urteilen, die von der

praktischen Vernunft diktiert wird. Die Mitteilung des Urteilens hat mit der Fehlbarkeit der

menschlichen Vernunft zu tun.133

Arendt stellt fest: „Sie (moralische Urteile: H. P.) mögen mit-

geteilt werden, aber diese Mitteilung ist sekundär; selbst wenn sie nicht mitgeteilt werden könn-

ten, blieben sie gültig.“134

Im Unterschied zum moralischen Urteilen liegt der Grund des Geltungsanspruchs eines Urteils

nur darin, dass es veröffentlicht werden könnte. Die Gültigkeit des Urteilens wird durch ein Ge-

fühl der Billigung beurteilt, dessen Kriterium wiederum die Mitteilbarkeit ist, die sie dem Ge-

meinsinn verdankt. Daraus entsteht eine wichtige Konsequenz für das Politische. Der Begriff

der Mitteilbarkeit hat eine konstitutive Funktion für die Eröffnung einer gemeinsam geteilten

Welt, weil das Kriterium der Mitteilbarkeit einen Bereich voraussetzt, in dem die wirklichen

Meinungen und Urteile sprachlich kommunizierbar und mitteilbar sein können. Mitteilbarkeit

lässt sich durch die Freiheit des Miteinanderredens begründen. Die Möglichkeit der Mitteilung

setzt einen intakten öffentlichen Raum voraus, in dem die Menschen miteinander reden.

3.4.1.3 Der moderne Verlust des Gemeinsinnes

Der arendtsche Gemeinsinn ist ganz im Gegensatz zum traditionellen Gemeinsinn unabhängig

von der geschlossenen Sittlichkeit der konkreten Gemeinschaft. So hängt der Gemeinsinn für

Arendt wie für Kant von der reflexiven Fähigkeit des Menschen ab. Der Gemeinsinn ist Kants

Ansicht zufolge die Wirkung aus dem freien Spiel unserer Einbildungskraft und unseres Ver-

standes, und kein Ausdruck einer bestimmten Erkenntnis.135

In Kants Theorie des Gemeinsinnes

genügt es sogar, sich an „mögliche Urteile“136

anderer zu halten, so dass die Urteilskraft auch

dann noch funktioniert, wenn keine anderen mehr anwesend sind, auf deren Vorstellungsart der

Urteilende Rücksicht nehmen kann.137

Also bildet sich Gemeinsinn durch eine „Operation der

132

DU, S. 98. 133

Spinoza, der an die Unfehlbarkeit der menschlichen Vernunft glaubte, sagt ausdrücklich, „daß es ein allgemein

menschlicher Fehler sei, seine Gedanken auch anderen mitteilen zu wollen.“ (ZVZ, S. 334). 134

DU, S. 94. 135

Vgl. Kant, KdU, § 9, B 32; Einbildungskraft ist „ein Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegen-

wart in der Anschauung vorzustellen“ (Kant, 1974a, B 151; vgl. DU, S. 104). 136

Kant, KdU, § 40, B 157; dieses reflexive Urteilen widersteht dem alten Vorurteil, „daß man nicht urteilen kann,

wenn man nicht dabeigewesen ist“ (EJ, S. 23). 137

Vgl. Kant, KdU, § 40, B 157.

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319

Reflexion“.138

Die Operation der Reflexion macht „unser Gefühl (gleich Empfindung) an einer

gegebenen Vorstellung (nicht Wahrnehmung) ohne Vermittlung eines Begriff allgemein mitteil-

bar“.139

Im kritischen Blick auf das Verhältnis zwischen Reflexion und Gemeinsinn bezeichnet Gadamer

Kant als den Täter, der in entscheidender Weise den Bedeutungsbereich des

Gemeinsinnsbegriffs nur auf die Subjektivität des Subjekts einschränkt und damit seine

eigentlich politischen Aspekte vernichtet.140

Für ihn gehört die Urteilskraft eigentlich in die

„politisch-gesellschaftliche Überlieferung des Humanismus“.141

Aber durch die problematische

ästhetische Wende des Gemeinsinnbegriffs subjektiviere Kant die Urteilskraft, indem er den

Gemeinsinn auf ästhetische Leistungen beschränkte.142

Auf ähnlicher Weise wird Arendt von

manchen Kritikern vorgeworfen. Brunkhorst beispielsweise vertritt die kritische Ansicht, dass

Arendt mit Kant den Begriff des Gemeinsinns entpolitisiere.143

Die erweiterte Denkungsart sei

eine Art der Erweiterung monologischer Vernunft. Wie Kant führe Arendt zur „Privatisierung

der Urteilskraft“ oder zur „Subjektivierung der Urteilskraft“.144

Beiner weist auch in seiner

kritischen Anmerkung darauf hin, dass die transzendentale Deduktion des Gemeinsinns auf eine

unvermeidliche „Ästhetisierung der Politik“145

hinausläuft. Der entpolitisierte Gemeinsinn sei

nichts anderes als die transzendentale Form ohne Inhalt.

Der Kernpunkt dieses Einwandes besteht darin, wie Habermas meint, dass Arendt den Charakter

des Gemeinsinnes nicht beim realen Dialog findet, indem sie wie Kant den Gemeinsinn als die

Denkungsart in der subjektiven Reflexion bezeichnet und damit jeden argumentativen, kogniti-

ven Status des Gemeinsinnes ablehnt.146

Der Arendtsche Gemeinsinn richte sich nicht „auf die

138

Kant, KdU, § 40, B 157. 139

Kant, KdU, § 40, B 160; vgl. DU, S. 96. 140

Vgl. Kurbacher, 2005, S. 78-90; Hammermeister, 1999, S. 35-39. 141

Gadamer, 1965, S. 38. 142

Gadamer, 1965, S. 27ff.; Ottmann vertritt die ähnliche Auffassung: „Bei Kant verbirgt sich darin kein Appell

an irgendeine konkrete Gemeinschaft. Bei Kant wird damit appelliert an die Menschheitsvernunft überhaupt.

Die transzendentale Vernunft, die immer schon bei sich ist, erweitert sich durch Ausdehnung ihrer selbst. Ein

stummer Denker denkt sich hier etwas für alle. Ein monologisches Denken phantasiert sich ins Allgemeine.

Kants Lehre von der Urteilskraft ist – politisch gewendet – eine Pseudo-Erweiterung monologischer Vernunft.“

(Ottmann, 1991, S. 336). 143

Brunkhorst, 1991, S. 109. 144

Brunkhorst, 1991, S. 109f.; vgl. Ptassek/Sandkaulen-Bock/Wagner/Zenkert, 1992, S. 137. 145

Beiner, 1985, S. 175; „Kant bietet (…) eine höchst formale Darstellung des Urteilens. Sie kann insofern akzep-

tiert werden, als das, was gesucht wird, eine transzendentale Deduktion des Geschmacksvermögens ist“ (174f.). 146

Vgl. Habermas, 1981b, S. 248; im Gegensatz zur subjektiven Reflexion betont Habermas den Begriff der

kommunikativen Reflexion: „Die kommunikative Alltagspraxis ist in sich gleichsam reflektiert. Freilich ist

Reflexion nicht mehr eine Sache des Erkenntnissubjekts, das sich objektivierend auf sich bezieht. An die Stelle

dieser vorsprachlich-einsamen Reflexion tritt die ins kommunikative Handeln eingebaute Schichtung von Dis-

kurs und Handeln.“ (Habermas, 1998c, S. 375). In Anlehnung an Habermas kritisiert Wellmer an Arendt, dass

sie das Politische ästhetisiert, indem sie Politik in einen Gegensatz zu kommunikativen Diskursen bringt

(Wellmer, 1996, S. 33-52).

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320

empirisch vorfindbaren Meinungen, sondern wird nur in Gedanken – a priori – vollzogen“.147

So

konkludiert Beiner, das Ziel der Arendtschen Umwandlung der ästhetischen Urteilstheorie von

Kant sei nicht mehr eine Theorie des politischen Urteils.148

Aber dieser Einwand ist zu bezweifeln, weil die erweiterte Denkungsart keine logische innere

Reflexion ist, sondern das, „was andere denken und meinen, mit zu berücksichtigen“.149

Der

Gemeinsinn ist das Resultat dieser Berücksichtigung. Das Prinzip der erweiterten Denkungsart

fordert eine Kommunikation mit allen Beteiligten.150

Die erweiterte Denkungsfähigkeit lässt

sich ohne die öffentliche Kommunikation und ohne Meinungsaustausch nicht entfalten.151

Arendt hält fest, „daß mein Urteil in einem bestimmten Fall nicht nur von meiner Wahrnehmung

abhängt, sondern davon, daß ich mir etwas repräsentiere (…), was ich nicht wahrnehme.“152

Der

reflektierende und repräsentiere Charakter der politischen Urteilskraft ist also, wie Vollrath

meint, „nicht auto-reflexiv tätig, sondern im bildenden Projekt eines pluralen und mundanen

Horizontes der Gemeinsamkeit einer Menge von Menschen.“153

Der nicht-autoreflexive weltli-

che Gemeinsinn steht „nicht nur im Gegensatz zum advokatorischen, sondern auch zum rein

logischen Denken“154

. Das Vorgehen des reflektierenden Urteilens ist keine theoretische weltlo-

se Reflexion, sondern muss vielmehr als ein Prozess verstanden werden, der „in einer beständi-

gen Überprüfung und Veränderung der vorliegenden gemeinschaftlich geteilten Verständnisse

besteht“.155

Dieser Charakter des Gemeinsinns ist durch Arendts Kritik an dem neuzeitlichen

Ersatz der inneren Reflexion für den weltlichen Gemeinsinn gekennzeichnet. Der Gemeinsinn

wird in der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie zu einem inneren Vermögen ohne jeglichen

Weltbezug. Dabei geht es um die Verselbständigung des Ichs, das als unabhängig von der Au-

ßenwelt verstanden wird. Der Gemeinsinn, der sich in ihm kundgab, „war nun nicht mehr die

dem Gemeinsinn zugängliche Gemeinsamkeit einer Außenwelt, sondern lediglich die Tatsache,

daß er als Räsonnement in allen Menschen gleich funktionierte; was die Menschen des gesun-

den Menschenverstands miteinander gemein haben, ist keine Welt, sondern lediglich eine Ver-

standesstruktur, die sie zudem genaugenommen gar nicht gemein haben können, es kann sich

147

Opstaele, 1999, S. 150. 148

Beiner, 1985, S. 175; dort weist er darauf hin, dass Arendt für eine Konzeption des politischen Urteilens besser

mit der aristotelischen phronesis beraten gewesen wäre. 149

ZVZ, S. 342. 150

Vgl. Kant, KdU, § 6, B 19; vgl. Magiera, 2004, S. 457f. 151

Vgl. Kristeva, 2001, S. 357. 152

ÜDB, S. 141f. 153

Vollrath, 1996a, S. 244. 154

BAJ, S. 196. 155

Zum Verhältnis von Gemeinsinn und Reflexion siehe Menke, 2002, S. 81f., hier S. 82.

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321

höchstens herausstellen, daß sie in jedem Exemplar der Gattung des Menschengeschlechts

gleich funktioniert.“156

Die Selbstreflexion bedeutet die Rückwendung des Menschen auf sich selbst. Wie Arendt betont,

wurzelt die Anfälligkeit für Totalitarismus im auf sich selbst zurückgeworfenen Individuum, das

den Gemeinsinn als einen gemeinschaftlichen Sinn verloren hat.157

Mit anderen Worte: Die

Selbstreflexion entspricht dem „logischen Eigensinn“158

. Schon im frühen Werk RV weist

Arendt gerade auf das Problem dieser neuzeitlichen Subjektivierung des Gemeinsinns hin. Das

Zurückziehen in die Reflexion der Innerlichkeit bezeichnet Arendt als das spezifische

Kennzeichen der Moderne. Im neu einsetzenden Paradigma der Selbstreflexion wird der

Gemeinsinn zu einem inneren Vermögen ohne allen Weltbezug degradiert: „Schlägt das Denken

in sich selbst zurück und findet an der eigenen Seele seinen einzigen Gegenstand, wird es zur

Reflexion, so erzwingt es allerdings, sofern es vernünftig bleibt, einen Schein unbegrenzter

Macht, indem es sich eben von der Welt isoliert, an ihr sich desinteressiert, sich schützend vor

den eigenen interessanten Gegenstand stellt: das eigene Innere. In der durch Reflexion

geleisteten Isoliertheit wird es unbegrenzt, weil kein Außen es mehr behelligt; weil kein

Handeln mehr verlangt wird, dessen Konsequenzen auch den Freiesten anschränken (…). Die

Wirklichkeit kann nichts Neues bringen, die Reflexion hat immer schon alles

vorweggenommen.“159

Bei Selbstreflexion in dem bewusstphilosophischen Sinne stellt die Vernunft vor allem die Fä-

higkeit der logischen Schlussfolgerung dar. Vor allem in ihrer Ideologiekritik stellt Arendt fest,

dass wir schnell geneigt sind, „das logische Schlussfolgern als Ersatz zu akzeptieren“160

, wo

immer uns der Gemeinsinn bei unserem Urteilen im Stich lässt. „Der katastrophale Schwund an

Urteilskraft, der sich in der modernen Welt überall zeigt, begann deutlich mit einem Misstrauen

gegen Urteile und der Hoffnung, durch logisches Folgern Urteilen überflüssig zu machen.“161

Im Briefwechsel mit Mary McCarthy spricht Arendt von der neuzeitlichen Verwandlung von

Common Sens in logische Schlussfolgerung.162

Der gesunde Menschenverstand wird in der mo-

156

VA, S. 359. 157

„Nichts erwies sich leichter zerstörbar als die Privatmoral von Leuten, die einzig an die ununterbrochene Nor-

malität ihres privaten Lebens dachten, nichts konnte leichter gleichgeschaltet, öffentlich uniformiert werden als

dieses Privatleben“ (EU, S. 723). 158

DU, S. 86. 159

RV, S. 21. 160

ZVZ, S. 121. 161

ZVZ, S. 68. 162

BAM, S. 74.

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322

dernen Philosophie zum „reckoning with consequences“163

umgedeutet. „Die Umdeutung des

Common sense begann, als angenommen wurde, daß er nicht ein Sinn ist, der die gemeinsame

Welt konstituiert, sondern ein Vermögen, welches wir alle besitzen, das uns gemeinsam ist. Dies

Vermögen ist das logische Vermögen, die Tatsache, daß wir alle einstimmig sagen werden (…).

Aber dieses Vermögen (…) ist vollkommen unfähig, uns durch die Welt zu geleiten oder über-

haupt irgendetwas zu erfassen.“164

Damit beginnt das Phänomen der neuzeitlichen Weltentfrem-

dung als „Flucht aus der Welt in das Selbstbewusstsein“.165

Arendt hält fest: „Die Weltlosigkeit,

die mit der Neuzeit einsetzt, ist in der Tat ohnegleichen. Was in ihr an die Stelle der Welt getre-

ten ist, ist das nur der Selbstreflexion zugängliche Bewußtsein, in dessen Felde die höchste Tä-

tigkeit das Formelspiel des Verstandes ist“.166

3.4.2 Die politische Form der Kommunikation: Überreden

Wenn das Kriterium des Urteils seine Mitteilbarkeit ist, muss man nach der spezifisch sprachli-

chen Form dieser Mitteilung fragen. Aufgrund dieser Frage führt Arendt Überreden oder Über-

zeugen als den politischen Modus der sprachlichen Kommunikation des Urteilens vor. Die Ur-

teilskraft bedarf der kommunikativen Vergewisserung „durch das Miteinanderreden und das

gegenseitige Sich-Überzeugen.“167

In der Form der Überredung erkennt Arendt den Zusammen-

hang von Urteilen und Rhetorik.168

Der politische Diskurs gilt im wesentlich „als ein Mittel des Überredens und des Überzeu-

gens“.169

Die Überredung ist „die spezifisch politische Form der Rede“170

, weil sie die Existenz

der anderen und die Erweiterung und Pluralität ihrer Perspektiven voraussetzt. Das Überreden

beruht daher darauf, „daß der Überzeugte vorher eine andere Meinung gehabt hat.“171

Die Form

der Überzeugung ist möglich nur da, wo sich die Bildung der individuellen Meinungen und Ur-

teile garantiert. Anders gesagt gründet sich die Überzeugung auf Anerkennung des anderen Ur-

teilens und Meinens. Dass wir die anderen überzeugen wollen, „unserem reflexiven Urteil zu-

zustimmen“, wie Richard Howard sagt, „bedeutet gleichzeitig, daß wir sie als unabhängige, von

163

BAM, S. 74; diese modere Argumentation findet man bei Hobbes: „(...) können wir definieren, das heißt be-

stimmen, was mit dem Wort Vernunft gemeint ist, wenn wir sie zu den Fähigkeiten des Geistes rechnen. Denn

Vernunft in diesem Sinne ist nichts anderes als Rechnen.“ (Hobbes, LV, S. 32). 164

BAM, S. 75. 165

VA, S. 15. 166

VA, S. 408. 167

WP, S. 39. 168

Vgl. ZVZ, S. 300. 169

VA, S. 36. 170

PP, S. 381. 171

EU, S. 669.

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323

uns verschiedene Individuen anerkennen“172

. Niemand kann andere öffentlich von der eigenen

Sichtweise überzeugen, ohne sich in den Standpunkt anderer Beteiligten hineinzuversetzen, um

deren Zustimmung man wirbt.

3.4.2.1 Die Form des Gültigkeitsanspruchs des politischen Urteilens

Der Gültigkeitsanspruch des politischen Urteilens findet in der Form des Überredens statt. Der

politische Charakter der Überredung, also die Garantie der Pluralität, beruht darauf, dass sie

niemanden zwingen kann. Beim Geschmacksurteil geht es um Werben der Beistimmung.173

Politisch gesagt ist dieses Werben nichts anders als Überreden, „welches der Polis als die her-

vorragende Art und Weise des politischen Miteinandersprechens galt“.174

Darin findet Arendt

eine Affinität zwischen dem Geschmacksurteil und dem politischen Urteil.175

Das Geurteilte hat

nach Arendts Ansicht niemals Zwangscharakter, so niemals den Anderen im Sinne eines logisch

unausweichlichen Schlusses zur Beistimmung zwingen, sondern nur überzeugen kann.176

Der Nicht-Zwangscharakter der Überredung widerspricht der Verwendung der Gewalt einerseits

und dem absoluten Geltungsanspruch der Wahrheit anderseits. Zuerst ist die Überzeugung im

praktischen Sinne gewaltlos. Da Überreden „Gleichheit voraussetzt und mit Argumenten arbei-

tet“177

, lässt sich die Ordnung der Überzeugung nur in der Gemeinschaft der Gleichen und Frei-

en bilden. Überreden bedeutet also Verzicht auf Gewalt. Damit wendet sich Arendt der griechi-

schen Auffassung zu. Die griechische Polis beruht nicht auf der physischen Gewalt, sondern auf

dem gegenseitigen Sich – Überzeugen, das die eigentliche Art des Miteinandersprechens über

etwas ist: „Politisch zu sein, in einer Polis zu leben, das heißt, daß alle Angelegenheiten vermit-

tels der Worte, die überzeugen können, geregelt werden und nicht durch Zwang oder Gewalt.

Andere durch Gewalt zu zwingen, zu befehlen statt zu überzeugen, galt den Griechen als eine

gleichsam präpolitische Art des Menschenumgangs.“178

Wenn uns Thukydides als Augenzeuge

zur Verfügung steht, habe man in Polis die zum Tode Verurteilten nicht einfach hingerichtet,

sondern überredet, den Schierlingsbecher selbst an die Lippen zu setzen.179

172

Howard, 1995, S. 77. 173

Vgl. Kant, KdU, § 19, B 63. 174

ZVZ, S. 300. 175

Vgl. ZVZ, S. 300. 176

Vgl. WP, S. 22. 177

ZVZ, S. 159. 178

VA, S. 36f.; vgl. auch WP, S. 93; Christian Meier weist auf dieses griechische Verständnis hin: „Das Überzeu-

gen stellte die friedliche Lösung dar, die politische, und war deshalb allemal dem gewaltsamen Austrag vorzu-

ziehen. Voraussetzung war, daß man die Bürger in ihrer Gegenwärtigkeit für voll nahm. Eben das gehört zum

Politischen der Griechen“ (Meier, 1983, S. 196). 179

Vgl. ÜR, S. 11.

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324

Arendt grenzt Überreden nicht nur gegen Gewalt ab, sondern auch gegen Wahrheitsfindung. In

Bezug auf den zwingenden Geltungsanspruch hat eine absolute Wahrheit die Affinität mit dem

Zwangscharakter der Gewalt. Die Wahrheit sei das, „was der Mensch nicht ändern kann; meta-

phorisch gesprochen ist sie der Grund, auf dem wir stehen, und der Himmel, der sich über uns

erstreckt“.180

Der Zwang der universalen Wahrheit ist unpolitisch, weil „jeder Anspruch auf

absolute Wahrheit, die von den Meinungen der Menschen unabhängig zu sein vorgibt, die Axt

an die Wurzeln aller Politik“ legt.181

So wird die Gültigkeit der Wahrheit durch Übereinkunft,

Diskussion oder Zustimmung weder gestärkt noch erschüttert. Arendt stellt fest: „Jede Wahrheit

erhebt den Anspruch zwingender Gültigkeit, und die so offensichtlich tyrannischen Neigungen

professioneller Wahrheitssager mögen weniger angeborener Rechthaberei als der Gewohnheit

geschuldet sein, ständig unter einem Zwang, dem Zwang der erkannten oder vermeintlich er-

kannten Wahrheit zu leben.“182

Anders gesagt wird für den Gültigkeitsanspruch der Wahrheit

die menschliche Pluralität überflüssig.

Die Überredung ist kein Mittel zur Mitteilung der Wahrheit. Das ist der Grund dafür, dass Plato

im Gorgias die sophistische Überredungskunst für methodisch unzugänglich hält.183

Wie wir

schon bei der Thematisierung der Tradition politischer Philosophie gesehen haben, lehnt Plato

anhand des Todes Sokrates‟ die Überzeugung im politischen Bereich ab. Während Plato an der

Tauglichkeit der Überredung aufgrund philosophischer Wahrheit zweifelt, findet Arendt im

Überreden eine große politische Bedeutung. In politischen Angelegenheiten geht es ihr nicht um

einen zwingenden Wahrheitsbeweis, sondern um die in öffentlicher Debatte durch Argumente

gebildete Meinung. Allerdings müsse beim diskursiven Argumentieren zum Überreden Rechen-

schaft abgelegt werden, „wie und aus welchen Gründen man zu einer Meinung kam.“184

Der

Geltungsanspruch des Urteilens beruht „ebenfalls auf einer Überzeugung durch Argumente, nur

eben nicht auf universell, unbestreitbar und unwiderruflich wahren Argumenten nach dem Mus-

ter der von ihr kritisierten Wahrheitsbegriffe.“185

Aber aus dieser Trennung von Überzeugung

und Wahrheit ist die Frage gestellt, woher die Überzeugungskraft einer Argumentation kommt,

die mit der Rationalität des politischen Urteilens zu tun hat.

180

ZVZ, S. 370. 181

ZVZ, S. 333. 182

ZVZ, S. 340. 183

Vgl. Plato, Gorgias 463 b. 184

DU, S. 58; vgl. ZVZ, S. 159f. und 349f. 185

Schäfer, S. 96.

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325

3.4.2.2 Die Überzeugungskraft und die Rationalität des politischen Urteilens

Hier stellt sich die Frage, worauf die Überzeugungskraft eines Urteils beruht, wenn es „kein

Erkenntnisurteil (ist), mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht,

dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann.“186

Arendt spricht von der

„Überzeugungskraft“187

, die Meinungen innewohnt. Die Meinung sei von Natur aus überzeu-

gend und argumentativ. Und der Vorgang der Überzeugung durch die Meinung ist der Prozess

des diskursiven Meinungsstreits. Im Lauf des diskursiven Meinungsaustausches gewinnt ein

Urteil die Überzeugungskraft, die sich auf das politische Vermögen bezieht, „eine Sache von

den verschiedensten Seiten und von den verschiedensten Interessen rundherum verstehen zu

können.“188

So wird die Überzeugungskraft der Meinung durch die Anzahl derer, die mit ihr

einstimmig sind, gestärkt. Je mehr Leute sich an der Meinungsbildung beteiligen, desto besser

und überzeugender ist die Meinung.189

In Anlehnung an Madison hält Arendt fest, die Überzeu-

gungskraft der Meinung sei „von der Zahl derer bestimmt, von denen man annimmt, daß sie die

gleichen Meinungen hegen.“190

Aber die Zustimmung der Vielen ist nicht unbedingt identisch mit dem Konsens Aller. Sie voll-

zieht sich in der menschlichen unendlichen Pluralität. Darauf weist Klaus Held zutreffend hin:

„Der Meinungsstreit bei einer Beratung solcher Art ist dadurch bedingt, daß sich die Unbe-

kanntheit der künftigen Handlungsfolgen nicht beseitigen läßt. Deshalb darf kein Beteiligter für

seine Meinung die endgültige Wahrheit in Anspruch nehmen. Trotzdem ist es denkbar, daß tref-

fendere und weniger treffende Urteile über die Situation gefällt werden. Um ein Urteil zu fällen,

das von den anderen Beteiligten als treffend anerkannt werden kann, muß man bei der eigenen

Meinungsbildung eben darauf Rücksicht nehmen, daß die Beurteilung der Situation unvermeid-

lich umstritten ist. Der Umstrittenheit Rechnung tragen heißt: der eigenen Meinung eine Gestalt

geben, durch die sie eine Chance hat, allen anderen, die möglicherweise eine andere Meinung

haben, akzeptabel zu erscheinen. Treffend über Handlungsmöglichkeiten urteilen kann nur, wer

die Bereitschaft aufbringt, nicht nur auf die Stimme seiner eigenen Ansicht zu hören, sondern

seine Stimme beim Meinungsstreit auf die möglichen Gegenstimmen abzustimmen.“191

186

Über das Geschmacksurteil spricht Kant: „Das Geschmacksurteil ist also kein Erkenntnisurteil, mithin nicht

logisch, sondern ästhetisch“ (Kant, KdU, § 1, B 4). 187

ZVZ, S. 346. 188

Arendt, 1986, S. 236. 189

„Je größer schließlich der Bereich derjenigen ist, mit denen man kommunizieren kann, um so größer ist der

Wert des Gegenstandes.“ (DU, S. 99). 190

ZVZ, S. 335; vgl. DU, S. 55. 191

Held, 1993, S. 404; Arendt stellt fest: „Eine Meinung bilde ich mir, indem ich eine bestimmte Sache von ver-

schiedenen Gesichtspunkten aus betrachte, in dem ich mir die Standpunkte der Abwesenden vergegenwärtige

und sie so mit repräsentiere. Dieser Vergegenwärtigungsprozeß akzeptiert nicht blind bestimmte, mir bekannte,

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326

Die Überzeugungskraft des Urteilens entspricht eigentlich seiner Rationalität. Arendts Urteils-

lehre verschafft sich Zugang zur Rationalitätsproblematik für das politische Handeln und Urtei-

len. Im Hinblick auf die Urteilskraft rekonstruiert Arendt die Geltungsbasis der Rede und Urtei-

le, indem sie nach dem vernünftigen Ursprung von Urteilen und Handeln sucht.192

Die Urteils-

kraft war Arendts Sicht zufolge als eine der „politisch ausschlaggebenden rationalen Vermögen

des Menschen in der Tradition philosophischen wie politischen Denkens kaum beachtet wor-

den“, obwohl sie zweifellos zu einem der „Obliegenheiten der Vernunft“ gehört.193

Bei Arendt

hat die Rationalität des politischen Urteilens zu tun nichts mit der Fähigkeit der Vernunft, die

Wahrheit zu erkennen, noch mit Folgen zu rechnen. Arendt lehnt die traditionelle Auffassung

der Vernunft als „Organ für das Vernehmen der Wahrheit“194

ab. Die Rationalität des Politi-

schen beruht für Arendt nicht auf dem metaphysischen Gedanken, „daß es eine objektive und

universal gültige Wahrheit in politischen Dingen gibt, daß der menschliche Verstand (…) diese

Wahrheit erfassen kann und daß diese in den wechselnden Gestalten aufeinanderfolgender histo-

rischer Perioden verkörpert wird.“195

Darüber hinaus lehnt Arendt die neuzeitliche Auffassung

der politischen Rationalität ab, dass die Rationalität des politischen Handelns in der logischen

Schlussfolgerung oder in der Selbstbestimmung der Vernunft oder in der Zwecksetzung begrün-

det wird. Nach Arendt führt die in sich stimmige logische Vernünftigkeit zur radikalen Tren-

nung der „geistig-intellektuellen Fähigkeiten des Menschen von aller direkten Welt- und Wirk-

lichkeitserfassung“.196

Für Arendt ist die politische Rationalität nicht an die selbst-gebundene

Vernunft, sondern an das Vermögen, an der Stelle jedes andern zu denken. Dieses Vermögen

bildet das Band zwischen Menschen. Vollrath hält fest: „Die Verschiedenheit und Andersheit

pluraler Meinungen ist ein wesentliches Moment in der Rationalitätsstruktur des Politischen.“197

Für Arendt ist das Problem der politischen Rationalität die Frage: „Wie erlange ich Legitimität

für meinen Anspruch, ohne die Bedingungen der Möglichkeiten des Handelns überhaupt zu ver-

von anderen vertretene Ansichten (…). Je mehr solcher Standorte ich in meinen Überlegungen in Rechnung

stellen kann, und je besser ich mir vorstellen kann, was ich denken und fühlen würde, wenn ich an der Stelle

derer wäre, die dort stehen, desto ausgebildeter ist dieses Vermögen der Einsicht, und desto qualifizierter wird

schließlich das Ergebnis meiner Überlegungen, meine Meinung sein.“ (DU, S. 137). 192

Vollrath zufolge versucht Arendt auf die Urteilskraft die Rationalität des Politischen zu gründen (Vollrath,

2003, S. 216). 193

ÜR, S. 295. 194

ZVZ, S. 341. 195

Morgenthau, 1963, S. 9; zit. nach Narr, 1971, S. 86. 196

ZVZ, S. 67; bekanntlich übernimmt Habermas einen Rationalitätsbegriff aus Arendts Konzept des Handelns,

also die kommunikativen Rationalität. „Der Begriff kommunikativer Rationalität führt Konnotationen mit sich,

die letztlich zurückgehen auf die zentrale Erfahrung der zwanglos einigenden, konsensstiftenden Kraft argu-

mentativer Rede, in der verschiedene Teilnehmer ihre zunächst nur subjektiven Auffassungen überwinden und

sich dank der Gemeinsamkeit vernünftig motivierter Überzeugungen gleichzeitig der Einheit der objektiven

Welt und der Intersubjektivität ihres Lebenszusammenhangs vergewissern.“ (Habermas, 1984, S. 605). 197

Vollrath, 1993, S. 49.

Page 329: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

327

letzten: Pluralität?“198

Das Spezifikum des politischen Handelns ergibt sich daraus, dass Politik

mit einer Wirklichkeit zu tun hat, die vieldeutig, vielschichtig, von Unbestimmtheiten durchge-

setzt ist. Deshalb kann die Ratio politisches Handelns nicht in präzisen Regeln und allgemein-

gültigen Anweisungen und Aussagen formuliert werden, sondern vielmehr in der auf Pluralität

beruhenden Urteilskraft. Die Rationalität der politischen Vernunft entspricht der menschlichen

Pluralität, „weil der Mensch in der Mehrzahl existiert, deshalb bedarf auch seine Vernunft der

Kommunikation und geht leicht in die Irre, wenn sie davon abgeschnitten ist.“199

Da die Plurali-

tät sowohl die unabdingbare Bedingung des Politischen als auch sein Zweck ist, besteht die poli-

tische Rationalität in der Anerkennung der Pluralität. Daher sei sie „weder objektiv und univer-

sal, noch subjektiv, von persönlichen Einfällen abhängig, sondern intersubjektiv oder repräsen-

tativ.“200

Den Kern der politischen Vernünftigkeit entdeckt Arendt wieder in der Erfahrung ame-

rikanischer Revolution.201

Eine „vernünftige Meinungsbildung“202

entsteht aus dem Überreden miteinander im öffentlichen

Raum. In diesem Kontext konzipiert Arendt das Konzept von staatsbürgerlicher Rationalität.

Diese Rationalität hat mit dem menschlichen Vermögen zu tun, die gemeinsame Welt zu bilden

und darüber mitzusprechen. Die Überredung setzt die Gemeinsamkeit des wie immer umstritte-

nen Gegenstands voraus. Der Sinn des politischen Diskurses ist, jemanden zu überzeugen, sich

mit jemand in einem strittigen Punkt über die gemeinsame Welt zu verständigen. Im weitesten

Sinne ist das Überreden immer über die gemeinsame Welt. Die Differenz im Interesse an den

gemeinsamen Gegenständen könnte die politische Rationalität enthalten bleiben. Klaus Held

stellt fest: „Die Vernünftigkeit der politischen Verständigung beruht also auf einem labilen

Gleichgewicht zwischen reiner meinungshaftlebensweltlicher Partikularität und ihrer Transzen-

dierung zugunsten eines Allgemeinen. Dieses Gleichgewicht der Vermittlung von Allgemeinheit

und Partikularität kann von beiden Seiten zerstört werden, sowohl durch den Versuch, das poli-

tisch Gemeinsame durch Verwissenschaftlichung der Weise, wie es erkennt wird, auf die Höhen

des theoretisch Allgemeinen zu heben, als auch durch die Korrumpierung der auf das politisch

Gemeinsame gerichteten Urteilskraft zum Gehilfen bei einem allgemeinen Handel um die Be-

friedigung von Interessen.“203

198

Saavedra, 2002, S. 47. 199

DD, S. 104. 200

ÜDB, S. 143 ; vgl. DU, S. 91. 201

In ÜR sagt Arendt im Anschluss an Väter amerikanischer Gründung: „Denn die Vernunft des Menschen wie

der Mensch selbst ist zaghaft und ängstlich, solange sie sich selbst überlassen bleibt, und erwirbt Festigkeit und

Selbstvertrauen, je größer die Zahl derer ist, mit denen sich verbinden kann.“ (ÜR, S. 292; vgl. auch ZVZ, S.

334). 202

ÜR, S. 303. 203

Held, 1980, S. 15.

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328

3.4.2.3 Die Kritik an Arendts Konzept der politischen Rationalität

Arendt akzeptiert allein das Prinzip der Pluralität als Rationalitätskriterium. Damit verbunden ist

ihr Konzept der Rationalität des politischen Urteilens durch Ausschluss der Wahrheit gekenn-

zeichnet. Bei der politischen Rationalität gehe es nicht um Wissen oder Wahrheit, sondern um

Urteil und Meinung über eine gemeinsam geteilte Welt.204

Hinsichtlich des Ausschlusses der

Wahrheit vom politischen Urteilen fragt man sich, woher die Überzeugungskraft eines Urteilens

kommt, wenn die Überzeugung weder auf dem Wissen noch auf der Wahrheit als dem mögli-

chen Maßstab des Urteilens beruht und wenn es für das Überreden keiner letzten Prinzipien be-

darf: wie man die Gefahr der Manipulation, um die Meinung durchzusetzen, überwinden

kann.205

Beim Gespräch in Toronto greift Hans Jonas diese Frage auf. Nach ihm müssen wir irgendwel-

ches letzte Prinzip fordern, um Urteile, „die uns ins Verderben führen“, zu vermeiden.206

Er

fragt Arendt, was einem Urteil die Gültigkeit zu verleihen vermag, wenn wir uns nicht auf die-

ses letzte Prinzip berufen können. Aus ähnlicher Perspektive stellt Beiner die Frage, was das

Motiv und die Begründung der meinenden Überzeugung ist, wenn es keine Wahrheit gibt. Nach

ihm könne die Meinung ihre Überzeugungskraft nur „in Hinsicht auf ihre Wahrheit“ gewin-

nen.207

Für ihn besteht die Aufgabe der politischen Diskussion in einer gemeinsamen Such nach

moralischer und politischer Wahrheit. Der rationale Diskurs gehe von den Wahrheitsansprüchen

aus. Die meinende Überzeugung sei sinnvoll, nur wenn sie auf Wahrheit abzielt. „Unsere Mei-

nungen trennen uns, aber wir hätten keinerlei Motivation, Meinungen zu formulieren und zu

artikulieren, und sie auf diese Weise mit anderen zu teilen, wenn wir nicht auf einer tieferen

Ebene an einer gemeinsamen Suche nach moralischer und politischer Wahrheit teilhätten, die

uns wieder in eine Gemeinschaft von Wahrheitssuchern einbindet.“208

So bezeichnet Beiner den

Ausschluss der Wahrheit und der kognitiven Erkenntnis aus dem politischen Urteilen als „eine

mangelhafte Phänomenologie des politischen Urteils“209

. In diesem Kontext hält er die Haber-

massche Kritik an der Arendtschen Ablehnung der kognitiven Dimension für politisches Urtei-

len für zutreffend.210

204

ZVZ, S. 300; vgl. Barber, 1994, S. 154ff. 205

Zur Kritik siehe Beiner, 1985, S. 173f.; Habermas, 1981b, S. 247f. 206

Jonas, in: IWV, S. 84. 207

Beiner, 2004, S. 138. 208

Beiner, 2004, S. 149; auch Nanz, 2006, S. 70. 209

Berner, 2004, S. 145. 210

Vgl. Beiner, 1985, S. 173f.; im Gegensatz dazu vertritt Penta die Ansicht, Arendts Form von Kommunikation

bleibe für beiden Möglichkeiten der kognitiven argumentativen Modus und der rhetorischen überzeugenden

offen, indem sie Kants Urteilskraft und der griechischen Rhetorik miteinander verbindet (vgl. Penta, 1985, S.

183).

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329

Im Hinblick auf die Rolle der Wahrheit im Bereich des Politischen sind die Positionen von

Hannah Arendt und Habermas einander diametral entgegengesetzt. In der Kritik an Arendts

Machtbegriff erhebt Habermas einen Einwand, dass Arendt die Praxis in der klassischen Unter-

scheidung von Theorie verbindet mit Meinungen und Überzeugung, „die nicht im strikten Sinne

wahrheitsfähig sind.“211

Die kommunikative Rationalität von Habermas hingegen setzt die

Wahrheit von Aussagen und Normen voraus. Bei ihm dient der Diskurs, als Kommunikationsakt

verstanden, der kooperativen Wahrheitssuche: „Ein Diskurs steht vielmehr unter dem Anspruch

der kooperativen Wahrheitssuche, d.h. der prinzipiell uneingeschränkten und zwanglosen

Kommunikation, die allein dem Zweck der Verständigung dient, wobei Verständigung ein nor-

mativer Begriff ist, der kontrafaktisch bestimmt werden muß.“212

So ist es für ihn beunruhigend,

dass Arendt den Prozess der kooperativen Wahrheitssuche nicht als die rationale Willensbildung

auffassen wollte. Habermas‟ ideale Bedingung des nicht manipulierbaren herrschaftsfreien Dis-

kurses setzt die Anwesenheit der Wahrheit voraus.213

Sein Versuch, durch die „subjektlosen

Kommunikationen“ „die bewußtseinsphilosophischen Denkfigur“ zu verabschieden214

, zielt

normativ auf den rationalen Konsens, den Habermas als einen gemeinsam geteilten Anspruch

auf die universale Gültigkeit von Aussagen und Normen bezeichnet. Die gesellschaftlichen Be-

ziehungen finden ihre Versöhnung im auf herrschaftsfreier Kommunikation beruhenden Kon-

sens.215

„Wenn die Wahrheitsfähigkeit praktischer Fragen zwingend bestritten werden könnte,

wäre die von mir vertretene Position unhaltbar.“216

Der Abstandpunkt zwischen Habermas und Arendt wird in dem Gegensatz „zwischen dem phi-

losophischer Wahrheit angemessenen Dialog und den Überredungskünsten ausgedrückt, mit

denen der Redner die Meinungen der Menge beeinflußt und schließlich die Vielen über-

zeugt.“217

Der von Habermas bevorzugte kommunikative Konsens ist zwar dialogisch erzeugt,

aber dieses Modell ist eine Art vom philosophischen Dialog, der „an der Idee der Wahrheit

orientiert ist“.218

Wie die Griechen das politische Miteinandersprechen vom philosophischen

Dialog genau zu trennen wussten, betont Arendt die Form einer Debatte als der Struktur des

politischen Lebens, wo das Element des Wettstreits und der Überzeugung verankert, weil

211

Habermas, 1981b, S. 247. 212

Habermas, 1971, S. 401; zit. nach Williams, 1973, S. 172f. 213

„Das Ziel der Kritischen Theorie – eine von überflüssiger Herrschaft aller Art befreite Lebensform –wohnt dem

Begriff der Wahrheit inne und es wird in jedem kommunikativen Akt antizipiert (McCarthy, 1989, S. 310). 214

Habermas, 1998c, S. 362. 215

„Das Ziel ist (…) eine Organisation der gesellschaftlichen Beziehungen nach dem Prinzip, daß die Geltung

jeder politisch folgenreichen Norm von einem in herrschaftsfreier Kommunikation erzielten Konsensus abhän-

gig gemacht wird (Habermas, 1988, S. 344). 216

Habermas, 1973, S. 139f. 217

ZVZ, S. 333. 218

Bernstein, 1979, S. 353, Anm. 48.

Page 332: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

330

„Überzeugung die einzige Weise ist, mit den Vielen umzugehen.“219

Die konsensorientierte

Diskurstheorie von Habermas enthält die politische Gefahr, wie Vittorio Hösle beispielsweise

zutreffend argumentiert: Ein Konsens könne auch dann Unrecht sein, wenn alle Betroffenen mit

einbezogen seien. Die Konzeption der deliberativen Demokratie könne sich nicht gegen den

kollektiven Wahn schützen, also nicht gegen den pathologischen Zustand ideologischer Verein-

heitlichung, den Arendt in ihrer Totalitarismusanalyse dargelegt hat.220

Nur unter Dissensbedin-

gungen kann man politisch handeln und sprechen. „Wo der Konsens aufhört, beginnt die Poli-

tik.“221

Nichts anderes als das unaufhörliche Gespräch unter den Menschen rettet das Politische,

weil Politik von dem Zusammen– und Miteinandersein der Verschiedenen handelt. „Politisch

organisieren sich die Menschen nach bestimmten wesentlichen Gemeinsamkeiten in einem ab-

soluten Chaos oder aus einem absoluten Chaos der Differenzen.“222

Es ist das Kennzeichen der

freien politischen Gemeinwesen, dass nicht jeder Meinungsstreit, auch nicht die meisten politi-

schen Fragen nach den Kriterien des vernünftigen Diskurses konsensfähig sind.223

In Abgren-

zung zu Habermas weisen Heller darauf hin, dass der Konsens zwar wichtig, aber „nicht das

Zentrum ist, um das sich unsere politische Untersuchung und Philosophie dreht. Der erste Grund

hierfür ist, daß wir Arendts Warnung vor dem potentiell totalitären und unterdrückerischen We-

sen der Konsenspolitik ernst nehmen.“224

Im Gegensatz zu dem dialogischen Konsens, der die kognitive Universalität voraussetzt, hat das

Arendtsche Konzept der Überzeugung nicht mit der subjektlosen Kommunikation zu tun.

Arendt stellt fest: „Solche objektiven Kriterien, die sich dem Meinungsaustausch und dem per-

sönlichen Eindruck entziehen, gibt es in der Politik, wo immer die Person und ihre persönliche

Überzeugungskraft entscheidend sind, nicht.“225

Für Arendt zielt der Diskurs nicht auf Konsens

ab, sondern vielmehr auf Pluralität und Dissens als Diskursergebnisse. So erkennt man im Dis-

kurs das „Recht auf Dissens“226

an. Allerdings spricht Arendt auch von Konsens. „Dissens

schließt Konsens ein und ist das Kennzeichen des freien Staates.“227

Der Konsens bedeutet aber

nicht notwendigerweise den Konsens der Meinungen. Der Konsens, die die Grundvoraussetzung

einer jeden demokratischen Politik ist, hat also nicht mit einer Übereinstimmung in allen politi-

219

ZVZ, S. 321. 220

Hösle, 1997; Vollrath, 1993, S. 435: in diesem Zusammenhang bezeichnet Walzer die delibarative Demokratie

als die neue Variante des philosophischen Prinzips der Wahrheitssuche (Althaus/Harmann (Hrsg.), 1999, S.

139-161). 221

Barber, 1994, S. 117. 222

WP, S. 9f. 223

Vgl. Greven, 1991, S. 217. 224

Heller, 1987, S. 12; zit. nach Jay, 1994, S. 188. 225

ÜR, S. 359. 226

IG, S. 314. 227

IG, S. 309; „Diese Konsens erkennt an, daß niemand allein handeln kann, daß die Menschen, wenn sie etwas in

der Welt erreichen wollen, koordiniert handeln müssen.“ (DW, S. 191).

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331

schen Entscheidungen zu tun, sondern vielmehr mit einem Konsens „über die politischen Prin-

zipien der Entscheidungsfindung“.228

Der Konsens dieser Art beruht auf der Verantwortung für

die gemeinsame Welt. „Alle einzelnen Übereinstimmungen und Nichtübereinstimmungen setzen

voraus, daß wir über das gleiche Ding sprechen – daß wir, die wir viele sind, übereinstimmen,

zusammenkommen im Hinblick auf etwas, was ein und dasselbe für uns alle ist.“229

Die Mög-

lichkeit dieses Konsenses beruht nicht auf der Anwesenheit der Wahrheit, sondern auf dem

Interesse an der gemeinsamen Welt, also auf „aktiver Unterstützung und dauerhafter Anteil-

nahme an allen Angelegenheiten“.230

3.4.3 Die Interesselosigkeit beim politischen Urteilen

Mit dem Kantischen Konzept der reflektierenden Urteilskraft findet Arendt ein Kriterium, das

sicherstellt, dass es eine Zustimmung unter verschiedenen Meinungen geben kann. Kants An-

sicht zufolge entspringt die Geschmacksurteilskraft dem Ausschluss von allen subjektiven Inter-

essen gegenüber dem zu beurteilenden Objekt.231

Der Geschmacksurteil setzt kein Bedürfnis

nach dem Zustand des Wohlgefallens voraus: „Alles Interesse setzt Bedürfnis voraus, oder

bringt eines hervor; und (…) läßt es das Urteil über den Gegenstand nicht mehr frei sein.“232

Darüber hinaus: „Alles Interesse verdirbt das Geschmacksurteil“.233

So hat der Geschmacksur-

teil immer mit dem „Wohlgefallen ohne alles Interesse“234

zu tun, das sich als ein Zustand des

„einzigen freien Wohlgefallens“235

versteht. Die These der Interesselosigkeit ist mit der These

„der subjektiven Allgemeingültigkeit“236

des Urteilens verbunden: Bei Kant sei „das Ge-

schmacksurteil subjektiv allgemeingültig, weil es von Privatbedingungen frei ist“.237

228

Heller, 1987; zit. nach Jay, 1994, S. 188. 229

DU, S. 109. 230

IG, S. 307. 231

Vgl. Kant, KdU, § 2, B 5; Kant definiert Interesse als „Wohlgefallen, was wir mit der Vorstellung der Existenz

eines Gegenstandes verbinden.“ 232

Kant, KdU, § 5, B 16. 233

Kant, KdU, §12, B 38. 234

Kant, KdU, § 6, B 17. 235

Kant, KdU, § 5, B 16. 236

Kant, KdU, § 6, B 19. 237

Strube, 1979, S. 173; „Denn das, wovon jemand sich bewußt ist, daß das Wohlgefallen an demselben bei ihm

selbst ohne alles Interesse sei, das kann derselbe nicht anders als so beurteilen, daß es einen Grund des Wohlge-

fallens für jedermann enthalten müsse. Denn da es sich nicht auf irgend eine Neigung des Subjekts (noch auf

irgend ein anderes überlegtes Interesse) gründet, sondern da der Urteilende sich in Ansehung des Wohlgefal-

lens, welches er dem Gegenstande widmet, völlig frei fühlt: so kann er keine Privatbedingungen als Gründe des

Wohlgefallens auffinden, an die sich sein Subjekt allein hinge, und muß es daher als in demjenigen begründet

ansehen, was er auch bei jedem andern voraussetzen kann; folglich muß er glauben Grund zu haben, jedermann

ein ähnliches Wohlgefallen zuzumuten.“ (Kant, KdU, § 6, B. 17).

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332

Beim Geschmacksurteil erfährt man „die Befreiung aus der Verstrickung in Privat- und Grup-

peninteressen“.238

In Anlehnung an Kant ist Arendt der Meinung, dass die eigentliche Qualität

eines Urteils „von dem Grad (…) der Unabhängigkeit von Interessen“239

abhängt. Für sie ist die

Bedingung der Unparteiligkeit, des uninteressierten Wohlgefallens, „die wichtigste Bedingung

für alle Urteile“.240

Durch die Konzeption der Interesselosigkeit versucht Arendt „die problema-

tische Seite der Subjektivität des Urteils zu überwinden“.241

Das Selbstinteresse, das mich im-

mer wieder auf mich selbst zurückwirft, ist für Arendt die Vernebelung des politischsten und

weltlichsten Vermögens des vernünftigen Urteils. Nur im interesselosen Urteilen kann man die

eigene Denkart erweitern und die Parteiligkeit seiner Urteilung überschreiten. Aufgrund der

politischen Urteilskraft stellt das Prinzip der Interesselosigkeit eine Art einer Modifikation, um

die Möglichkeit der Manipulation des politischen Urteilens zu verhindern.

Arendts Konzept der Interesselosigkeit für die politische Urteilskraft wäre jedoch überraschend,

wenn man denkt, dass die Grundbasis der demokratischen und pluralistischen Politik die Viel-

falt der Interessen ist, dass sich der demokratische Prozess des Politischen ausschließlich in der

Form der Ausgleichung der verschiedenen Interessen vollzieht und dass die grundlegende Auf-

gabe der Politik in der Konfliktlösung oder Interessenausgleich besteht. Darüber hinaus stellt

sich die Frage, ob und wie das kontemplative Element der Interesselosigkeit im ästhetischen

Urteilen mit dem politischen Handeln zu tun haben kann.

3.4.3.1 Der Begriff „Interesse“

Bevor das Verhältnis der Urteilskraft zum Begriff der Interesselosigkeit untersucht werden soll,

scheint es notwendig, zunächst kurz auf die unterschiedlichen Bedeutungen der Termini „Inter-

esse“ im Verlauf der Sprach- und Ideengeschichte einzugehen, um die politische Implikation

dieses Begriffs zu erklären.

Ganz ursprünglich bedeutet die lateinische Wendung des Begriffs „Interesse“ räumliches oder

zeitliches „Dazwischenliegen“.242

Zugleich hat dieses Wort eine andere Grundbedeutung: „ent-

fernt sein“ oder „verschieden sein“.243

So betont Albert Eßer, dass das Wort Interesse eine dy-

namische Beziehung intendiert: „Je nach dem von welcher Seite und in welche Richtung ich

blicke, muß sich ein Zwischen, sofern es sich bewegt, als ein Sich-entfernen oder als ein Sich-

238

ZVZ, S. 343. 239

ZVZ, S. 343. 240

DU, S. 92; vgl. Kant, KdU, § 2, B 18. 241

Schnabl, 1999, S. 307. 242

Eßer, 1973, S. 746; vgl. Döhn, 1970, S. 15f. 243

Orth, 1982, S. 307.

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333

nähern zeigen.“244

Der Interessenbegriff als die Interaktion findet sich insbesondere bei Julius

Jakob Schaaf deutlich. Nach ihm bringt dieser Begriff im weitesten Sinne ein anthropologisches

Tatbestand des zwischenmenschlichen Seins zum Ausdruck: „Inter-esse besagt ja nichts anderes

als Zwischensein, es kann somit zwanglos als ein Wechselwort für Relation angesehen werden

(…). Interesse im weitesten Sinne stellt in der Tat ein Synonym für den Tatbestand des sozialen

Seins dar, insoweit das soziale Sein das zwischenmenschliche Sein überhaupt besagt, wie es sich

in der unübersehbaren Fülle der möglichen Mensch-Menschbeziehungen manifestiert.“245

In

dieser etymologischen Auffassung des Begriffs hat das Interesse „mit dem Individuum und des-

sen materiellem Wohl wenig zu tun“.246

Wenn Arendt vom Weltinteresse spricht, geht es ihr um das Interesse am menschlichen Zwi-

schen. Es bezeichnet das inter homines esse, wie es die Römer verstanden als Interesse an einer

mit anderen gemeinsamen Welt. Ihrer Auffassung zufolge ist das Interesse das, „was inter – est,

also was dazwischen liegt und die Bezüge herstellt, die Menschen miteinander verbinden und

zugleich voneinander scheiden. Fast alles Handeln und Reden betrifft diesen Zwischenraum, der

ein jeweils anderer für jede Menschengruppe ist, so daß wir zumeist miteinander über etwas

sprechen und einander etwas weltlich-nachweisbar Gegebenes mitteilen, für das die Tatsache,

daß wir unwillkürlich in solchem Sprechenüber auch noch Aufschluß darüber geben, wer wir,

die Sprechenden, sind, von sekundärer Bedeutung scheint.“247

In dieser begrifflichen Ansicht ist

das Handeln selbst immer weltorientiert und damit interessebezogen. Das Weltinteresse ist

Orientierungsmarke für das politisches Handeln und Urteilen: „In dem Augenblick, in dem ich

politisch handele, bin ich nicht an mir interessiert, sondern an der Welt“.248

Warum betont

Arendt trotzdem die Interesselosigkeit beim politischen Urteilen und Handeln? Dahinter liegt

ein tiefgreifender historischer Wandel.

Im Lauf der Neuzeit wurde unter Interesse der „Eigennutzen“ verstanden.249

Damit wurde der

Begriff „Interesse“ zur grundlegenden sozialtheoretischen und politischen Kategorie, weil er als

Schlüssel zum Verständnis menschlichen Handlungsweisen bezeichnet war. Dabei wird Interes-

se als selbstbezogene Handlungsorientierung definiert. Generell lässt sich sagen, dass die meis-

ten sozialwissenschaftlichen Interessenbegriffe eigennützige und partikularisierte Subjekte als

Träger von Interessen bereits voraussetzen.250

In diesem begrifflichen Gebrauch fungiert der

Begriff Interesse geradezu als die neuzeitliche Grundposition der Subjektivität und der Indivi-

244

Eßer, 1973, S. 738. 245

Schaaf, 1970, S. 226. 246

Hirschman, 1980, S. 41. 247

VA, S. 224. 248

IWV, S. 82. 249

Fisch, 1982, S. 310ff. 250

Vgl. Neuendorff, 1984, S. 270-274; Döhn, 1970, S. 15.

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334

dualität.251

Die selbstinteressenorientiert handelnde Person wird als nach Nutzen und Schaden

kalkulierendes Subjekt vorgestellt. Dieses Verständnis des Interessenbegriffes hängt mit der

neuzeitlichen Ökonomisierung des gesamten Bereiches des Handelns zusammen: „Die klassi-

sche Nationalökonomie unterstellt bereits, daß der Mensch, soweit er sich überhaupt aktiv betä-

tigt, ausschließlich im eigenen Interesse handelt und nur einem Trieb gehorcht, dem Erwerbs-

trieb.“252

Vor allem bildet das Selbstinteresse den Hintergrund der liberalen Vertragstheorien,

die von einem atomistischen Menschenbild ausgehen. Das zentrale menschliche Handeln richte

sich nach dem grundlegenden Interesse der Selbsterhaltung und der ruhelosen Maximierung von

Wohlbefinden.253

Wie es bei Hobbes gezeigt ist, ist das gesamte Handeln der Menschen an der

Verfolgung seiner Eigeninteressen orientiert: Die zahllosen „Möglichkeiten menschlicher Han-

delnsorientierung mit Hilfe der Kategorie des Interesses zu reduzieren, wobei Hobbes dann un-

terstellt, daß menschliches Handeln plausibel und angemessen als interessengeleitetes Handeln

analysiert werden kann.“254

Hier stellt sich die Frage, ob politische Stabilität allein durch die

zweckrationale Eigennutzkalkulation des Einzelnen zu erreichen ist.255

Das neuzeitliche Verständnis des Interessenbegriffs als Eigeninteresse hat zur Folge, dass sich

im politischen Bereich das Interesse mit der Meinung gleichsetzt, obwohl beide die gegensätz-

lich andere Herkunft und Struktur haben. Nun verschwindet die unterschiedliche Rolle von

Meinung und Interesse völlig, und damit wird die Politik nur zur Sache der Interessen. „Die Un-

terscheidung liegt ersten in der Vorstellung von Gruppeninteressen, die immer da sind, und

Meinungen, wo ich mir mein Urteil bilden muß. Diese Unterscheidung ist ganz klar vorhanden.

Sie finden sie in der Verfassung selbst: Die Legislative (das Repräsentantenhaus) sollte mehr

oder weniger die Interessen der Bevölkerung vertreten; im Gegensatz dazu sollte der Senat diese

Interessen filtern und zu so etwas wie unparteiischen Meinungen unter Bezug auf das Allge-

meinwohl kommen.“256

Während Interesse seiner Natur nach „von gesellschaftlicher Partikulari-

tät“ ist,257

ist die Meinung zuerst subjektiv. In der ausschlussreichen Formulierung erwähnt

Arendt diesen Unterschied von Meinung und Interesse eindeutig: „Seit Marx ist es üblich, Inter-

esse und Meinung, über deren Relevanz für den politischen Bereich natürlich kein Zweifel be-

251

Hegel hält fest: „Die Individuen sind als Bürger dieses Staates Privatpersonen, welche ihr eigene Interesse zu

ihrem Zwecke haben.“ (Hegel, 1995, § 187, S. 167). 252

VA, S. 426, Anm. 36. 253

Vgl. Hobbes, LV, S. 75ff; zur für Hobbes‟ Theorie grundlegenden Kategorie des Interesses siehe Neuendorff,

1973, S. 32-72. 254

Münkler, 1993, S. 94. 255

Wenn Hobbes das Selbstinteresse zum dominierenden Beweggrund menschlicher Aktivitäten erklärt, ist es

unmöglich, dass man durch Selbstinteresse „soziale Perspektive“ einnimmt (Kersting, 1996, S. 211-233, hier S.

220). 256

IWV, S. 104. 257

Schaaf, 1970, S. 227.

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335

steht, so eng aneinander zu koppeln, daß die Meinung als eine Funktion des Interesses erscheint.

In Wahrheit handelt es sich hier um zwei grundsätzlich voneinander geschiedene politische

Phänomene. Interessen sind politisch nur als Gruppeninteressen von Bedeutung, und für ihre

Bereinigung genügt es, wenn ihr partieller Charakter, Teile eines Ganzen zu sein, gewahrt wird,

so daß keines dieser Gruppeninteressen je herrschend werden kann, auch nicht als das Interesse

der Mehrheit. Meinungen dagegen können sinngemäß niemals die Meinungen von Gruppen,

sondern immer nur von Einzelnen sein, sofern sie sich ihrer Vernunft in Freiheit und ohne die

Hitze der Leidenschaft, welche das Interesse oder auch das bloße Gefühl entfacht, bedienen.

Keine Menge, ob sie nun als Teilgruppe auftritt oder vorgibt, die Gesellschaft im ganzen zu ver-

treten, ist je fähig, sich eine Meinung zu bilden. Meinung entstehen nur, wo Menschen frei mi-

teinander Verkehr pflegen und das Recht haben, ihre Ansichten öffentlich kundzutun.“258

Arendts Konzept von Interesselosigkeit liegt im Kontrast zur neuzeitlichen Tradition politischer

Philosophie, der zufolge das Motiv des Handelns nur im Selbstinteresse besteht und sich Politik

als Ausgleichsverfahren der Interessenkonflikte gestaltet. Wenn Arendt das Weltinteresse aus-

drückt, führt sie das Wort „Interesse“ auf den antiken Sprachgebrauch zurück. Sie spricht vom

Interesse für die Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten. Wenn die Rede von Interesse-

losigkeit ist, gebraucht Arendt das Wort Interesse in seiner neuzeitlichen Transformation. Im

Gegensatz zu den Selbstinteressen handelt sich es bei Arendt um „eine Mißachtung des Selbst-

interesses“259

oder um ein Interesse an der Welt, nämlich „uninteressiertes Weltinteresse“260

.

Überhaupt nur durch das Weltinteresse können der moderne Subjektivismus und der Relativis-

mus bewältigt werden, und nur dadurch kann „weltliche Wirklichkeit eigentlich und zuverlässig

im Erscheinung treten.“261

In diesem Sinne stellt das Weltinteresse das Interesse an Pluralität

oder das öffentliche Interesse dar. So besteht die Leugnung der Selbstinteressen nicht im Zu-

sammenhang einer Moralphilosophie, sondern im Zusammenhang des politischen Lebens der

Menschen im Plural. „Egoismus kann damit nicht durch das Predigen von Moral überwunden

werden“262

, sondern durch die Anerkennung der Pluralität. Das interesselose Urteilen bildet den

Zugang zur pluralen und gemeinsamen Welt.

258

ÜR, S. 292. 259

DU, S. 61. 260

ZVZ, S. 300; dazu zitiert Arendt oft Machiavellis Satz: „Ich liebe mein Land, die Stadt Florenz, mehr als das

Heil meiner Seele.“ ( IWV, S. 82; ÜR, S. 366 Anm. 21). 261

VA, S. 72. 262

ÜDB, S. 145.

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336

3.4.3.2 Kritik an dem Konzept der Interesselosigkeit

In der Neuzeit war Interessenbegriff „zum Vehikel der Demokratisierungsforderungen gewor-

den“.263

Im Hinblick auf die Entwicklung der modernen bürgerlichen Gesellschaft sei die freie

Bewegung der „bürgerlichen Interessen“ ihre Grundlage.264

In diesem Zusammenhang stößt Arendts Trennung der politischen Urteilskraft von Interesse auf

den starken Einwand, dass Arendts Urteilskraft der ererbten metaphysischen Philosophie zum

Opfer fällt. Auch wenn die interesselose Urteilskraft für die Überwindung der Interessepolitik

oder der Politik der Lebensnotwendigkeit sinnvoll ist, laufe sie auf die Einführung der elitären

und kontemplativen Haltung in die Politik hinaus. Den Grund dafür findet man darin, dass

Arendt die ästhetische Urteilskraft Kants auf die politische anwenden wollte, obwohl Kant seine

Theorie der Geschmacksurteilskraft nicht an dem politischen, sondern am ästhetischen Phäno-

men entwickelt.265

Schon in Bezug auf die Unterscheidung zwischen dem Gesellschaftlichen und dem Politischen

lässt sich die Interesselosigkeit als Überwindung oder Überschreitung der ökonomischen Ein-

sicht verstehen. Denn die ästhetische Urteilskraft bildet sich „einzig und allein in einer von

Dringlichkeit befreiten Welt–Erfahrung und in Tätigkeiten aus, die ihren Zweck in sich selbst

tragen (...). Sie setzt, mit anderen Worten, jene Distanz zur Welt voraus (...), die das Fundament

der bürgerlichen Welt–Erfahrung ausmacht.“266

Nach diesem Vorwurf beruhe die Interesselo-

sigkeit ästhetischer Urteile nur auf einem bevorrechtigten Status der Besitz – und Bildungsbür-

ger, weil ein interessloses Urteilen die gesellschaftliche wie wirtschaftliche Vorbedingungen

voraussetzt.267

Diese Kritik weist den Elitismus der politischen Theorie Arendts auf. Anderer-

seits verweist man auf das philosophisch-metaphysische Element ihres Denkens. Brunkhorst

beispielsweise vertritt die Ansicht: Hinter Arendts Versuch, Urteilen und Interesse zu trennen,

liege der kantische Platonismus, dem es um „reine, bloß kontemplative Lust, das interesselose

Wohlgefallen“268

geht. Arendts politische Urteilskraft entziehe sich nicht der kontemplativen

und uninteressierten Dimension ästhetischer Urteilskraft von Kant. Brunkhorst konstatiert: „Im

263

Fisch, 1982, S. 317. 264

Locke bezeichnet die moderne Gesellschaft als das, was „die Befriedigung, Wahrung und Beförderung ihrer

bürgerlichen Interessen“ bezweckt. Damit definiert er „Bürgerliche Interessen“ als „Leben, Freiheit, Gesund-

heit, Schmerzlosigkeit des Körpers und den Besitz äußerer Dinge wie Geld, Ländereien, Häuser, Einrichtungs-

gegenstände und dergleichen.“ (Locke, 1957, S. 13). 265

Vgl. Becker, 1997, S. 241ff. 266

Bourdieu, 1987, S. 101f. 267

Jay, 1993, S. 135. 268

Kulenkampff, 1978, S. 67; in der Tat behauptet Kant, dass das Urteilen aus einer „bloß kontemplativen Lust“

oder aus „untätigem Wohlgefallen“ entsteht (Kant, Die Metaphysik der Sitten. Einleitung in die Metaphysik der

Sitten, Abschnitt I; zit. nach DU, S. 26 und auch 82); „Daher ist das Geschmacksurteil bloß kontemplativ.“

(Kant, KdU, § 5, B 14).

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337

interesselosen Wohlgefallen eines ästhetisierenden oder politisierenden Publikums taucht der

alte, kontemplative Theoriebegriff im Rücken des Kritizismus wieder auf.“269

Die Interesselosigkeit entsteht bei Arendt aus der Sorge um die gemeinsame Welt als das men-

schliche Bezugsgeflecht von Sprechen und Handeln. Hingegen liegt das Ziel der philosophi-

schen Kontemplation darin, aus der Welt in sich selbst zurückzutreten. Bei der Kontemplation

bleibt man „in einem Zustand der Sprachlosigkeit, einer Anschauung, die sich in Worten nicht

mitteilen läßt“270

. Arendts Konzeption der Interesselosigkeit bedeutet nicht, aus der Welt zu-

rückzutreten, sondern die Überwindung der individuellen Beschränkungen und der subjektiven

und privaten Bedingtheiten für das Urteilen zu ermöglichen. Das interesselose Urteilen geht

nicht in der Muße des theoretischen Lebens vor, sondern in den politischen Anstrengungen. Die

Interesselosigkeit beim Urteilen ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, mich den Ge-

sichtspunkten der Anderen auszusetzen.

Andererseits vertritt man die Ansicht, dass die kontemplative Dimension interesseloser Urteile

durch Vorzug des unbeteiligten Zuschauers vor dem Handelnden gekennzeichnet ist, weil das

interesselose Urteilen des Zuschauers für etwas Kontemplatives anders als Handeln gehalten

ist.271

In der Tat ist die Position des Betrachters das grundlegende Thema von Arendts Kant-

Referat. „Kant ist überzeugt, daß die Welt ohne den Menschen eine Wüste wäre, und ohne den

Menschen heißt für ihn: Ohne Zuschauer.“272

Wie Arendt erkennt, bietet Kants Geschmacksur-

teilskraft die Analyse der Schönheit in den Perspektiven der urteilenden Zuschauer im Hinblick

auf ein interesseloses Urteilen an. Arendt folgert: „Also ist der Rückzug aus der direkten Betei-

ligung auf einen Standpunkt außerhalb des Spiels eine conditio sine qua non allen Urteils.“273

Es

scheint, als ob hier in Arendts Denken eine alte Tradition der kontemplativen Lebensweise ank-

linge, die Arendt früher vehement kritisiert hat: Ist die Haltung der „aktiven Nichtteilnahme“274

des Zuschauers übertragbar auf das politische Handeln?

Auf die politische Urteilskraft bezogen versteht Arendt den Zuschauer nicht im Sinne der tradi-

tionellen politischen Philosophie.275

In der Kant-Interpretation sagt Arendt: „Das Urteil des Zus-

chauers schafft den Raum, ohne den solche Gegenstände überhaupt nicht erscheinen könnten.

269

Brunkhorst, 1991, S. 119; vgl. Beiner, 1985, S. 177. 270

VA, S. 384. 271

Vgl. DU, S. 75f. 272

DU, S. 84. 273

DU, S. 75. 274

DD, S. 98. 275

Die philosophische Idee von der Überlegenheit der kontemplativen Lebensweise zeigt sich deutlich in der Pa-

rabel von Diogenes Laertius, die er dem Pythagoras zuschreibt: „Das Leben (…) ist wie ein Festspiel; zu einem

solchen kommen manche als Wettkämpfer, andere, um ihrem Gewerbe nachzugehen, doch die Besten kommen

als Zuschauer (theatai), und genau so ist es im Leben: die kleinen Naturen jagen dem Ruhm (doxa) oder dem

Gewinn nach, die Philosophen aber der Wahrheit.“ (DU, S. 75 und auch DD, S. 98).

Page 340: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

338

Der öffentliche Bereich wird durch die Kritiker und Zuschauer konstituiert, nicht durch die Ak-

teure oder die schöpferisch Tätigen. Und dieser (...) Zuschauer befindet sich in jedem Akteur

(…); ohne dieses kritische, urteilende Vermögen wäre der Handelnde oder Schaffende so losge-

löst vom Zuschauer, daß er nicht einmal wahrgenommen würde.“276

Die Zuschauer sind für

Arendt die Leute, die sich an den öffentlichen Angelegenheiten beteiligen.277

In dieser Teilnah-

me findet die Vereinigung von Akteur und Zuschauer statt; die urteilenden Zuschauer sind die

kommunizierenden Zuschauer, weil es ihnen um die allgemeine Mitteilbarkeit geht. So ist jeder

zugleich Zuschauer und Mithandelnder: „Der Zuschauer ist nicht mit dem Akt, aber immer mit

den Mit-Zuschauern verbunden.“278

So gesehen bedeutet der Akzent auf die Zuschauer keine Betonung der kontemplativen Dimen-

sion des Urteilens, sondern die Betonung der Pluralität als Bedingung des politischen Urteilens

und Handelns.279

Der urteilende Zuschauer ist Kants Zuschauer, der immer „in der Mehrzahl“

existiert, aber nicht Hegels Zuschauer, der „streng in der Einzahl“ existiert.280

Zuschauers „Dis-

tanz für das Urteil ist offenbar etwas ganz anderes als die Distanz des Philosophen“, die aus der

Gesellschaft ihrer Mitmenschen heraustreten.281

Das Urteil des Zuschauers ist unparteiisch, aber

es ist nicht autonom ist, weil er im Plural existiert. „Die Zuschauer sind zwar von der Partikula-

rität des Akteurs distanziert, aber sie sind nicht allein. Sie sind auch nicht sich selbst genug“282

.

Der Rückzugsort des Zuschauers befindet sich eindeutig „in der gewöhnlichen Welt“283

und in

den pluralen Menschen. Die Behauptung des urteilenden Zuschauers in der Öffentlichkeit ent-

spricht der Arendtschen Konzeption des narrativen Handelns, dass der Handelnde von den Mei-

nungen von vielen Zuschauern abhängig ist. Im Verhältnis von Handelnden und Zuschauer wird

die nichtsubjektive Dimension des Handelns selbstverständlich.284

Mit der Interesselosigkeit meint Arendt keine Selbstlosigkeit. Bei der politischen Urteilskraft

lässt sich die Interesselosigkeit nicht mit Neutralität oder mit wissenschaftlicher Objektivität

verwechseln. Die wissenschaftliche Objektivität bemüht sich mittels allgemeiner Gesetze, die

durch die Einnahme eines Standpunktes außerhalb des Geschehenen gewonnen wird, die Viel-

276

DU, S. 85. 277

Vgl. ZVZ, S. 299. 278

DU, S. 85. 279

Schäfer, 1996, S. 85. 280

DD, S. 101. 281

DD, S. 99. 282

DD, S. 99. 283

DD, S. 102. 284

„Der Akteur hat mit doxa zu tun; das Wort bedeutet sowohl Ruhm als auch Meinung, und Ruhm kommt ja

durch die Meinung der Zuschauer (...) zustande. Für den Akteur, nicht aber für den Zuschauer, ist entscheidend,

wie er anderen erscheint; er ist abhängig vom Es-scheint-mir beim Zuschauer (…); er ist nicht sein eigener

Herr“ (DD, S. 99 und S. 79).

Page 341: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

339

falt der gegensätzlichen Phänomene auf einen Nenner zu bringen.285

Im Gegensatz dazu beruht

die politische Urteilskraft auf der Meinung, die der Subjektivität eines eigenen Standortes ent-

spricht. Die Meinung verhelft der Tatsache, dass „ungeachtet aller Unterschiede der Position

und der daraus resultierenden Vielfalt der Aspekte es doch offenkundig ist, daß alle mit dem

selben Gegenstand befaßt sind.“286

Das interesselose Urteilen ist das Interesse an diesem ge-

meinsamen Gegenstand und an den gemeinsamen Angelegenheiten: „Das ästhetische Interesse

ist (…) ein Welt-Interesse.“287

Das Weltinteresse ist die Vorbedingung der politischen Mei-

nungsbildung und Urteilskraft der Individuen. Es beruht auf nichts anderem als der Tatsache,

dass wir am öffentlichen Handeln ein Interesse nehmen.

285

Vgl. Barber, 1994, S. 165. 286

VA, S. 72. 287

DTB, S. 573.

Page 342: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

340

V. Zusammenfassung und Schluss

Seit ihrer Entstehung bei den Griechen erscheint die Politiktheorie als Produkt der Krise des

Gemeinwesens. Politische Theorie ist ein Streben nach der neuen Grundlage eines politischen

Zusammenlebens, wenn der traditionelle Konsens einer Gesellschaft zerbrochen ist. Als eine

politische Theoretikerin versucht Hannah Arendt im Horizont des Traditionsbruchs des letzten

Jahrhunderts die Grundfrage zu beantworten, wie ein politisches Gemeinwesen pluralistisch

organisiert werden kann. Auch wenn diese Frage unbeantwortet bleibt, bezeichnet Arendt die

Pluralität als das zentrale Kriterium, welches die Beantwortung dieser Frage leistet. So ist der

Begriff der Pluralität als der normative Gehalt für die politische Theorie Arendts zu bezeichnen.

Wir haben mit unserem Projekt zwei Ziele verfolgt: Zunächst ging es uns darum, Arendts politi-

sche Theorie anhand des Begriffes der Pluralität zu interpretieren und zu verstehen. Dabei ver-

suchten wir, aufzuzeigen, dass sich der Begriff der Pluralität wie ein roter Faden durch die Ent-

wicklung der politischen Theorie Arendts zieht. Damit sollte der Versuch gemacht werden, die

von Arendts Pluralitätskonzept ausgehenden Lösungsperspektiven hinsichtlich des gegenwärti-

gen Zusammenbruchs des politischen Zusammenlebens herauszustellen.

Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit haben wir uns ausführlich mit den anthropologischen,

theoretischen und methodischen Grundlagen des Arendtschen Denkens über die Politik beschäf-

tigt. Dabei wurde deutlich, dass der philosophisch-anthropologische Versuch, das politische

Zusammenleben durch das Wesen des Menschen zu setzen und zu bestimmen, nicht umhin

kann, eine metaphysische Vorstellung der Politik aufzubauen. Arendts politisches Denken geht

vom Versuch aus, die metaphysische Konstellation des Politischen zu destruieren, die das Politi-

sche für etwas Substantialistisches hält. Für Arendt ist das Politische das weltliche Phänomen,

das den menschlichen Bedingtheiten und Tätigkeiten entspricht. Eine politische Theorie geht

vom Versuch aus, dieses Phänomen zu verstehen. So geht es politischer Theorie um das Prob-

lem des Handelns. Aber Arendts Handlungstheorie führt sich nicht bloß auf die systematische

Erneuerung der Aristotelischen Begriffe zurück, weil das Phänomen der Pluralität der funda-

mentale Maßstab für Arendts Unterscheidung der menschlichen Tätigkeitsformen darstellt. Mit

dem handlungstheoretischen Zugang zum Phänomen des Politischen wendet sich die Aufmerk-

samkeit der Frage nach der Beziehung von Politischem und Pluralität zu.

Arendts Entdeckung der politischen Pluralität ist der originelle Ansatz für ein neues Verständnis

des Politischen. Die Eigenart des Politischen gegenüber anderen Lebensbereichen erblickten wir

in einem engen Konnex zur Pluralität. In der Verknüpfung des Politischen mit der Pluralität

wird die Möglichkeit der politischen Konzeptionen wie Kommunikation, Meinungsbildung,

Page 343: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

341

Urteilskraft, Partizipation, Verantwortung und Solidarität formuliert. In diesem Zusammenhang

bietet Arendts politische Theorie der Pluralität den demokratietheoretischen Ansatz und das kri-

tische Potential hinsichtlich der gegenwärtigen politischen Realitäten an. Das kulminiert in einer

massiven Kritik an Phänomenen des Zerbrechlichen der politischen Pluralität in der modernen

Massengesellschaft, die im zweiten Teil thematisiert wurde. Arendt findet wesentliche Stücke

der Krise der modernen Gesellschaft in fehlender Pluralität, also in arbeitsteiligen, versachlich-

ten, intimisierten und anonymisierten Beziehungen, die als Privatisierung, Ökonomisierung,

Bürokratisierung und Intimisierung erscheinen. In dieser Beziehung werden Menschen selbstlos,

weltlos und überflüssig. In der Massengesellschaft wird Pluralität wesentlich als eine Summie-

rung der Vereinzelten oder als ein Monster-Individuum gesehen. Und die Politik unterordnet

unter Gesellschaft, die durch den Konformismus und die Homogenität gekennzeichnet ist. Die

Ökonomie wird zum Paradigma des politischen Zusammenlebens. Der wirtschaftliche Determi-

nismus ist für die Pluralität partikularer politischer Perspektiven zerstörerisch. Damit verbunden

wird die Aktualität der Arendtschen These von der der Moderne inhärenten totalitären Gefahr

deutlich. Die Gefahr eines Totalitarismus in der Massengesellschaft liegt nicht eigentlich in der

Massenhaftigkeit selbst, sondern im Verlust der pluralitätskonstitutiven Kraft der politischen

Öffentlichkeit.

Im Ergebnis der vorliegenden Untersuchung konnte gezeigt werden, dass sich Arendts Konzept

politischer Pluralität unmittelbar auf die Erfahrung und Analyse der totalen Herrschaft bezieht.

Arendts Analyse des Totalitarismus markiert also den zentralen Wendepunkt in ihrer Reflexion

über das Verhältnis von Politik und Pluralität. Das Wesen der totalen Politik ist für Arendt von

der radikalen Negation der Pluralität geprägt. Die totale Herrschaft zielt auf die Vernichtung der

individuellen Spontaneität und der Solidarität in der gemeinsamen Welt ab, welche die Wurzeln

der menschlichen Pluralität konstituieren. Mit der Vernichtung der Pluralität werden Menschen

als handelnde und urteilende Wesen überflüssig. In diesem Zustand werden Menschen der

Zwangsläufigkeit einer Ideologie geopfert. Deshalb bezeichnet Arendt die totalitäre Politik als

die Entpolitisierung und die Perversion des Politischen.

Mit der Betonung der unaufhebbaren Pluralität eng verbunden ist die Neubestimmung des Ver-

hältnisses von Politik und Philosophie. Dem Phänomen der Negation der Pluralität in moderner

Gesellschaft auf den Grund zu gehen, ist das philosophische Grundmotiv im politischen Denken

Hannah Arendts. Im dritten Teil konnten wir die These erhärten, dass die in der abendländischen

politischen Philosophie liegende Tradition durch Abwendung von der Pluralität gekennzeichnet

ist. Was Philosophen seit Plato nicht ertragen konnten, ist die Pluralität der Menschengesell-

schaft. Im negativen Sinne ist die Pluralität immer das zentrale Problem politischer Philosophie.

Page 344: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

342

Die Lösung dieses Problems war die Triebkraft politischer Philosophie. Das Hauptthema dieser

Tradition ist die Idee der absoluten Wahrheit, die die menschlichen Angelegenheiten einheitlich

ordnen kann. Aus dieser metaphysischen Konstellation des Politischen wird zur Überwindung

des Problems der Pluralität in menschlichen Angelegenheiten die antipluralistischen und antipo-

litischen Konzeptionen wie Herrschaft, Zweckrationalität und Souveränität in den politischen

Bereich eingeführt. Dafür ist die philosophische Transformation des Handelns in das Herstellen

charakteristisch, die auf die perfekte Lösung aller menschlichen Pluralität als Schwäche men-

schlicher Natur abzielt. Die verhängnisvolle Identifizierung von Handeln und Herstellen führt zu

einem politischen Perfektionismus, dem es um die politische Realisierung irgendeines Voll-

kommenheitsideals geht. Im Hinblick auf die Vorstellung von der Machbarkeit der politischen

Angelegenheiten ist die Politik kein Ergebnis offener freier Kommunikation, sondern bezieht

ihre Begründung aus einem den pluralen menschlichen Angelegenheiten entzogenen absoluten

Idealbild. Zu dieser perfekten Lösung werden Bürger nur als Material bezeichnet und damit geht

die Pluralität der Handlungen verloren, weil sie sich als Agentur irgendeines Absoluten oder als

Produkt fremder Idealvorstellungen erfahren. Kurz gesagt: Zur Lösung des Pluralitätsproblems

treten in der Geschichte der politischen Philosophie zwei Elemente auf: Der unkonkurrierende

absolute Wahrheitsanspruch und die Monopolisierung aller Gewaltmittel in einer Hand.

Die Ausschaltung der Pluralität durch unangefochtenes Herrschaftsprinzip ersetzt sich in der

modernen Gesellschaft durch den scheinbar frei gewählten Konformismus.288

Das Ergebnis ist

eine homogene Gesellschaft, in der kein Einzelner als Handelnder bekannt ist. In dieser Gesell-

schaft ist die totalitären Elemente, Abwendung von der Solidarität und der Verantwortung für

die gemeinsame Welt und Hinwendung zur Ideologie, verstärkt. Daher verweist Arendt auf die

starke Interdependenz zwischen homogener Gesellschaft und totalitärer Herrschaft.

Die vorliegende Arbeit begnügt sich nicht mit einer Kritik antipolitischer Konzepte, vielmehr ist

sie von dem Verständnis des Politischen getragen, das eine plurale Weltgestaltung ermöglicht.

Im vierten letzten Teil wurde die konstitutive Beziehung zwischen Pluralität und Politischem

thematisiert. Ausgangspunkt des Politischen ist die Bedingung der Pluralität, ihre Möglichkeiten

und Verwirklichung. Der Begriff der Pluralität als politisches Phänomen besagt eigentlich, dass

das Politische Menschen zu einer gemeinsamen Welt zusammenbringen kann, ohne dass sie

dabei ihre Einzigartigkeit aufzugeben hätten. Daher ist der Pluralitätsbegriff Arendts zunächst

durch die grundlegende Interdependenz von Individualität und gemeinsamer Welt geprägt. Für

die Pluralität stehen Selbst und Welt im Verhältnis wechselseitiger Ermöglichung. Im Gegensatz

zur christlich-philosophischen Position, demzufolge sich die Wendung zum eigentlichen Selbst

288

Vgl. VA, S. 72.

Page 345: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

343

für den Menschen als einzigen Weg darstellt, um untrügliches, von Täuschung unangefochtenes

Sein zu erlangen, steht die Liebe zur Welt für Arendt der Konstituierung des Selbst nicht entge-

gen. Die gemeinsame Welt existiert nicht durch eine allen Menschen gemeinsame Natur, son-

dern nur in der Vielfalt der Perspektiven der Einzelnen. Aus dem Verhältnis von Selbst und

Welt, die sich wechselseitig begrenzen und ermöglichen, entsteht die politische Pluralität, also

das Zusammen- und Miteinandersein der Verschiedenen. Sie bedeutet keine quantitative Vielfalt

der Menschen, die die gleiche Natur haben, sondern stellt die handlungstheoretische Dimension

dar, die Hannah Arendt die „zweite“ oder die „politische“ Geburt nennt: Die politische Pluralität

verwirklicht sich im Sprechen miteinander und in der Spontaneität, also im Weltbezug der ein-

zigartigen Individuen. In diesem Punkt unterscheidet sich Arendts Konzept der Pluralität sowohl

von der postmodernistischen Perspektive, die die Differenz und die Vielfalt der Individuen ein-

seitig betont, als auch von der liberalen Pluralismustheorie, der zufolge der Pluralismus primär

als das System der Vielfalt und Konkurrenz von den egoistischen und partikularen Interessen

verstanden wird. Die Pluralität existiert für Arendt immer im durch das freiheitliche Handeln

geprägten Bezugsgewebe zwischen Menschen.

Das Interdependenzgefüge von Politischem und Pluralität bildet eine neue Bestimmung elemen-

tarer politischer Kategorien. Für die Analyse politischer Phänomene wie Freiheit, Macht und

Autorität geht Arendt von Pluralität aus. Die politischen Phänomene entstehen nur in einem Mi-

teinander, das den öffentlichen Raum stiftet und erhält. Neben der Tatsache, dass die politischen

Phänomene nur in der Bedingung menschlicher Pluralität erscheinen, konnten wir mit unseren

Überlegungen zeigen, dass sie alle mit dem Schaffen der Pluralität, ihrer Konstitution und ihrem

Bewahren zu tun haben. In kritischem Blick auf die prinzipielle Unfähigkeit der gegenwärtigen

Demokratie, den freiheitlichen Raum der Pluralität institutionalisieren zu können, wirft Arendt

die Frage nach der politischen Konstitution der Pluralität auf, die für diejenigen, die aus dem

politischen Zusammenhandeln ausgegrenzt werden, die Bedingung der Möglichkeit zur Partizi-

pation garantieren kann.

Einen besonderen Schwerpunkt hat die Analyse des Verhältnisses von Pluralität und politischer

Rationalität gebildet. Was die Rationalität betrifft, gibt es zwei herkömmliche Formen: Eine

Form der Rationalität beruht auf der philosophisch-dogmatischen Einsicht in reinen Vernunft-

wahrheiten. Eine andere Form setzt auf die Transformation der pluralen Meinungen in rational

kontrolliertem Interesse. Diese Formen der Rationalität sind die mögliche Reaktion auf die men-

schliche Pluralität, die die Ursache der gesellschaftlichen Konflikte ist und die sich als irrational

erweist. Um wirklich rational zu sein, muss das Urteilen zur Wahrheit führen. Aber die Vorstel-

lung dieser Rationalität lässt sich im politischen Bereich nicht durchsetzen, weil das politische

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344

Urteilen im Umfeld pluraler Perspektiven geschieht. Im Zentrum der Arendtschen Untersuchung

über die Urteilskraft steht die Frage nach dem Wesen der politischen Rationalität. Bei der Suche

nach Antworten wendet sich Arendt der Kantischen Entdeckung der Pluralität und der Öffent-

lichkeit in der Geschmacksurteilskraft zu. Die Anknüpfung an Kant dient der Freilegung einer

erneuerten Perspektive in die Rationalität politisches Urteilens und Handelns. Die politische

Rationalität im Urteilen bezieht sich auf eine erweiterte Denkungsart, die auf dem Interesse für

die Pluralität beruht. Das politische Urteilen ist der öffentliche Vernunftgebrauch, der aus der

Begegnung mit anderen entsteht. Die Anwesenheit pluraler verscheidener Meinungen und die

Kommunikation dieser Meinungen ist ein Wesen in der Rationalitätsstruktur des Politischen. So

setzt die politische Rationalität die Freiheit und Partizipation voraus und ermöglicht sich in der

Politik der Anerkennung der anderen.

Das Neue und Besondere an Arendts Pluralitätsauffassung besteht darin, dass sie die menschli-

che Pluralität nicht nur als eine anthropologische Bedingtheit der Menschen, sondern als das

primäre Phänomen des Politischen überhaupt sieht. Politik organisiert und realisiert die absolut

Verschiedenen im Hinblick auf die gemeinsame Welt. Das bedeutet nicht, dass die Politik als

Werkzeug zu verstehen ist, die Vielfalt unter der Einheit zu unterwerfen. Die Politik ist vielmehr

das pluralitätskonstituierende Zusammen- und Miteinander-Handeln.

Eine Politik der Pluralität kümmert sich nicht nur um die Fähigkeit zur Differenzierung, sondern

auch um die Fähigkeit, die Gemeinsamkeit zu herstellen. Dabei geht es um die Partizipation, die

das Recht meint, in einem Beziehungssystem zu leben, wo man durch seine Handlungen und

Meinungen Aufschluss darüber gibt, wer er ist. Diese Partizipation ermöglicht sowohl die Aner-

kennung der Unterschiede als auch das Zusammenhalt der Unterschiede. In der Angewiesenheit

auf die Anerkennung Anderer und die gemeinsame Welt, die zwischen ihnen entsteht, wird die

Tragweite des Pluralitätsbegriffs deutlich. In der Möglichkeit der öffentlichen Partizipation, also

der eines Zusammenhandelns der Vielen, liegen die Freiheit des Menschen und zugleich die

einzelne Verantwortlichkeit für die gemeinsame Welt begründet. Einen Einblick in diese parti-

zipatorische plurale Politik zu geben, war das Ziel der vorliegenden Ausführung.

Page 347: Politik und Pluralität - OPUS 4 · Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät

345

VI. Literaturverzeichnis

1. Werke und Aufsätze Hannah Arendts

Arendt, Hannah: Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretati-

on, Berlin 1929.

Arendt, Hannah: Philosophie und Soziologie. Anläßlich Karl Mannheims Ideologie und Uto-

pie, in: Die Gesellschaft, Bd. 7, 1930, S. 163-176.

Arendt, Hannah: Was ist Existenzphilosophie?, in: Sechs Essays, Heidelberg 1948, S. 48-80.

Arendt, Hannah: Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart,

Frankfurt a. M. 1957.

Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München

1964.

Arendt, Hannah: Europäisches Gespräch vom 8. bis 10. Juli 1961, in: Heinz Küppers (Hrsg.),

Sachverstand und Politik in der Demokratie, Düsseldorf 1966, S. 177-294.

Arendt, Hannah: Die verborgene Tradition, Frankfurt a. M. 1976.

Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes, Bd. 1: Das Denken, München 1976.

Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes, Bd. 2: Das Denken, München 1976.

Arendt, Hannah: Politik und Revolution, in: Adelbert Reif (Hrsg.), Gespräche mit Hannah

Arendt, München 1976, S. 41-67.

Arendt, Hannah: Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, in: Otfried Höffe / Gerd Kadelbach /

Gerhard Plumpe (Hrsg.), Praktische Philosophie/Ethik, Bd. 2, Frankfurt a. M.

1981, S. 152-167.

Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, München 1985.

Arendt, Hannah: Zur Zeit. Politische Essays, Berlin 1986.

Arendt, Hannah: Nach Auschwitz, Berlin 1989.

Arendt, Hannah: Die Krise des Zionismus, Berlin 1989.

Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten, München 1989.

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