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47 Klaus Pähler Politik, Wirtschaft und Religion in Indonesien „Im Jahre 2000 ist Indonesien ein Industrieland“ (Weltbank, Anfang der neunziger Jahre) „Seit der Unabhängigkeit 1945 war Indonesien noch nie in so großen Schwierigkeiten“ (Vizepräsidentin Megawati, Anfang 2001) Ein reiches Land Indonesien ist ein Land der Superlative – es hat poli- tisch wie militärisch große strategische Bedeutung und ein erhebliches wirtschaftliches Potenzial. Seine Sta- bilität und Prosperität liegen damit auch im Interesse Deutschlands und Europas. Trotzdem ist es außerhalb der Fachkreise weitgehend eine unbekannte Größe, gibt seine oft mit einem javanischen Schattenspiel ver- glichene Politik westlicher Analyse immer wieder Rätsel auf und bleibt meist nur begrenzt verständlich. Mit über 210 Millionen Einwohnern in Hunderten von Ethnien ist es der viertvolkreichste Staat und nach dem Sturz Soehartos nach Indien und den USA auch die drittvolkreichste Demokratie. Mehr als 80 Prozent der Indonesier sind Moslems, damit ist es nach der Teilung Pakistans das bevölkerungsreichste islamische Land. Sein Staatsgebiet hat eine Landfläche von 1,9 Mio. qkm, verteilt auf 17 000 Inseln. Ein- schließlich seiner Hoheitsgewässer und Wirtschafts- zonen beansprucht es ein Gebiet von 7,9 Mio. qkm und ist somit praktisch ein maritimer Kontinent. Zum Vergleich: Australien hat 7,7 Mio. qkm und knapp 20 Millionen Einwohner, USA 9,6 Mio. qkm, rund 250 Millionen Einwohner. Indonesien hat damit ungefähr soviel Einwohner wie Deutschland, Frank- reich und Großbritannien zusammen, oder soviel wie Polen, Rumänien und Russland zusammen, oder wie Argentinien, Brasilien und Chile zusammen. Die Bevölkerungsdichte auf der Hauptinsel Java ist etwa Der wichtigste Faktor zur Erklärung der multidimen- sionalen Krise Indonesiens ist seine bisherige politi- sche und wirtschaftliche Ordnung („Autoritarismus“ und „Günstlingskapitalis- mus“). Das bevölkerungs- reichste islamische Land der Welt befindet sich in einem voraussichtlich langwierigen und mühsa- men Transformations- und Modernisierungsprozess. Wohin er führen wird, scheint aber noch ungewiss. KAS-AI 12/01, S. 47–71

Politik, Wirtschaft und Religion in Indonesien

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Klaus Pähler Politik, Wirtschaft und Religion

in Indonesien

„Im Jahre 2000 ist Indonesien ein Industrieland“(Weltbank, Anfang der neunziger Jahre)

„Seit der Unabhängigkeit 1945 war Indonesiennoch nie in so großen Schwierigkeiten“(Vizepräsidentin Megawati, Anfang 2001)

Ein reiches Land

Indonesien ist ein Land der Superlative – es hat poli-tisch wie militärisch große strategische Bedeutung undein erhebliches wirtschaftliches Potenzial. Seine Sta-bilität und Prosperität liegen damit auch im InteresseDeutschlands und Europas. Trotzdem ist es außerhalbder Fachkreise weitgehend eine unbekannte Größe,gibt seine oft mit einem javanischen Schattenspiel ver-glichene Politik westlicher Analyse immer wiederRätsel auf und bleibt meist nur begrenzt verständlich.

Mit über 210 Millionen Einwohnern in Hundertenvon Ethnien ist es der viertvolkreichste Staat undnach dem Sturz Soehartos nach Indien und denUSA auch die drittvolkreichste Demokratie. Mehr als80 Prozent der Indonesier sind Moslems, damit ist esnach der Teilung Pakistans das bevölkerungsreichsteislamische Land. Sein Staatsgebiet hat eine Landflächevon 1,9 Mio. qkm, verteilt auf 17 000 Inseln. Ein-schließlich seiner Hoheitsgewässer und Wirtschafts-zonen beansprucht es ein Gebiet von 7,9 Mio. qkmund ist somit praktisch ein maritimer Kontinent.Zum Vergleich: Australien hat 7,7 Mio. qkm undknapp 20 Millionen Einwohner, USA 9,6 Mio. qkm,rund 250 Millionen Einwohner. Indonesien hat damitungefähr soviel Einwohner wie Deutschland, Frank-reich und Großbritannien zusammen, oder soviel wiePolen, Rumänien und Russland zusammen, oder wieArgentinien, Brasilien und Chile zusammen. DieBevölkerungsdichte auf der Hauptinsel Java ist etwa

Der wichtigste Faktor zurErklärung der multidimen-sionalen Krise Indonesiensist seine bisherige politi-sche und wirtschaftlicheOrdnung („Autoritarismus“und „Günstlingskapitalis-mus“). Das bevölkerungs-reichste islamische Landder Welt befindet sich ineinem voraussichtlichlangwierigen und mühsa-men Transformations- undModernisierungsprozess.Wohin er führen wird,scheint aber noch ungewiss.

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860 Einwohner pro qkm, in Deutschland sind esetwa 230.

Indonesien verfügt besonders in den dünn besie-delten Randprovinzen wie Aceh, Kalimantan oderPapua (früher Irian Jaya) über reichliche und wert-volle natürliche Ressourcen von Erdöl und -gas, überZinn, Kupfer, Nickel und Gold bis hin zu Nutzholzund landwirtschaftlichen Produkten aller Art. Einwichtiger Teil des Reichtums liegt im oder unter Was-ser: Gas, Öl, Fisch etc. Und Indonesien liegt an einergeostrategisch außerordentlich wichtigen Stelle zwi-schen dem asiatischen Festland und Australien: Esriegelt den Indischen Ozean vom Pazifischen Ozeanab und beherrscht somit wichtige Seewege, etwa diefür Atomunterseebote wichtige Straße von Alor oderzusammen mit dem ebenfalls überwiegend islami-schen Malaysia die Straße von Malakka, mit mehrerenhundert Schiffen pro Tag wohl die meistbefahreneSeestraße der Welt. All dies erklärt, warum Indone-sien noch bis vor kurzem wirtschaftlich außerordent-lich attraktiv war und als Musterbeispiel positiver,wenn auch nicht perfekter Entwicklung galt. Roh-stoffe und ausländische Investitionen allein verbür-gen zusammen mit autokratischen Herrschaftsfor-men aber nicht dauerhaften Wohlstand. Die asiatischeWirtschaftskrise hat sehr deutlich gemacht: Es ist diepolitische, rechtliche und wirtschaftliche Gesamtord-nung, die langfristig über den Wohlstand der Natio-nen entscheidet.

Instabilität als Rahmenbedingung

Lee Kwan Yew, früherer Premier Singapurs, oft un-verblümt, immer aber gut informiert, hat kurz vordem 11. September vor einer beabsichtigten islamisti-schen Destabilisierung Südostasiens gewarnt. Dieskann sich weder Japan noch der Westen wünschen.Außer den islamisch dominierten Staaten Indonesienund Malaysia haben ja noch die Philippinen, Singa-pur und Thailand islamische Minderheiten, die be-sonders auf den Philippinen recht militant sein kön-nen. Bundesaußenminister Fischer hat die Ereignissedes 11. September kürzlich als einen „Weckruf“ fürdie von failed states ausgehenden Gefahren bezeich-net. Einstweilen ist Indonesien natürlich kein failedstate. Der Westen hat aber ein massives Interesse, zu

Lee Kwan Yew, frühe-rer Premier Singapurs, oftunverblümt, immer aber gutinformiert, hat kurz vordem 11. September vor einerbeabsichtigten islamisti-schen DestabilisierungSüdostasiens gewarnt. Dieskann sich weder Japan nochder Westen wünschen.

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verhindern, dass es dazu kommt. Die praktischunkontrollierbaren Küstenlinien eines Archipels, derzusammen mit dem Nachbarn Philippinen weit mehrals 20 000 Inseln umfasst, ein buntes Bevölkerungsge-misch, in dem jedes Gesicht, jeder Akzent unauffälligoder geradezu natürlich wirken, bieten für Unter-schlupf ebenso gute Bedingungen wie die HöhlenAfghanistans. Dementsprechend blühten denn jüngstauch die Gerüchte: Osama bin Laden sei in Indone-sien, das Land sei eines der nächsten Ziele amerikani-scher Angriffe, radikale islamische Organisationen inIndonesien würden von al Qaida finanziert. Einegewisse Plausibilität hat dies alles – vor allem dieBehauptungen über die internationale Finanzierungindonesischer Organisationen – wirklich bewiesen istbisher nichts. Fachleute sind aber doch davon über-zeugt, dass Terrororganisationen, Geldwäscher etc.die durchlässigen Grenzen Indonesiens, sein intrans-parentes Bankenwesen und sein löchriges Systeminnerer Sicherheit schon jetzt nutzen.

Nach den gewalttätigen Angriffen auf die US-Bot-schaft und das indonesische Parlament im Oktober(zu Beginn der Bombardierung Afghanistans) ist inJakarta im Augenblick etwas Ruhe eingekehrt. Wasdie „heiligen Krieger“ dazu bewegt, ist unklar. Ver-nunft eher nicht. Erschöpfung und die Anstrengun-gen des Fastenmonats schon mehr. Die – zu späte, wieviele in- und ausländische Beobachter meinen – festeHaltung der Präsidentin wohl auch. Die militärischenErfolge der Nordallianz in Afghanistan sicher ammeisten. Wer ist schon gern auf Seiten der Verlierer,besonders wenn die Sieger auch „Glaubensbrüder“sind? Nichts ist schöner als zu siegen und gleichzeitigrechtgläubig zu sein.

Indonesien befindet sich trotzdem immer noch ineiner ausgedehnten Phase hochgradiger Instabilität.Schon kleinere Ereignisse oder Ereignisse, die – wieAfghanistan – das Land unmittelbar gar nicht betref-fen, können zu gewalttätigen Ausschreitungen unddamit zu weiterer Destabilisierung führen. Die Präsi-dentin hat soeben vor dem höchsten Parlament (MPR)wieder vor der Gefahr des Auseinanderbrechens undder Balkanisierung des Landes gewarnt, der Vizeprä-sident sprach von einem Schiff, das fast untergegan-gen sei. Beides ist ernst gemeint, keine Rhetorik. Eindem Berichterstatter persönlich gut bekanntes Regie-

Indonesien befindetsich immer noch in einerausgedehnten Phasehochgradiger Instabilität.Schon kleinere Ereignisseoder Ereignisse, die – wieAfghanistan – das Landunmittelbar gar nichtbetreffen, können zugewalttätigen Ausschrei-tungen und damit zuweiterer Destabilisierungführen.

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rungsmitglied drückte im vertraulichen Gesprächsoeben seine allergrößte Besorgnis für das nächsteJahr aus. Das Land ist durch die Folgen der Ereignissedes 11. September vor allem auch wirtschaftlich wie-der tiefer in die Krise hinein geraten, aus der es mit derneuen Präsidentin Megawati und ihrem Kabinettdoch heraus zu kommen hoffte.

Die Absetzung des Präsidenten Abdurrahman Wahid

Die Instabilität des Landes haben zumindest ein Stückweit die indonesischen Politiker selbst zu verantwor-ten. Zwei Jahre Streit und Grabenkämpfe der politi-schen Elite haben wertvolle Zeit ungenutzt verstrei-chen lassen und das Land mehrfach an den Rand desBürgerkriegs gebracht. In einigen Landesteilen ist erauch zur Realität geworden, etwa in Osttimor, denMolukken (10 000 Tote) oder in Kalimantan („nur“500 Tote, aber durch Köpfungen besonders grausamgeführt). Intern vertrieben wurden 1,3 Millionen Men-schen. Die Ursachen der Konflikte sind ethnischer,sozialer, religiöser und politischer Art. Oft werden siebewusst geschürt, interessenpolitisch instrumentali-siert und religiös gerechtfertigt.

Als Ergebnis der Auseinandersetzungen innerhalbder politischen Klasse Indonesiens wurde der 1999demokratisch gewählte Präsident Abdurrahman Wahidim Sommer 2001 abgesetzt und durch seine Vizeprä-sidentin Megawati Sukarnoputri ersetzt. Begründun-gen dafür waren zunächst seine Verwicklung in einen(für indonesische Verhältnisse eher geringfügigen)Finanzskandal und später zunehmend der Vorwurfschlechter Amtsführung. Ob dies berechtigt ist, mö-gen andere beurteilen. Die Kabinette Abdurrahmansagierten jedenfalls glücklos und zum Teil unprofes-sionell. Während eines für die wirtschaftliche undpolitische Stabilisierung möglicherweise entschei-denden Jahres war das Land durch den Machtkampfzwischen Präsident und Parlament dadurch politischgelähmt.

„Würde einer von Ihnen bitte das Land regieren?“fragte denn auch der angesehene Economist im Früh-jahr auf seinem Titelblatt, und zeigte ein Foto desdamaligen indonesischen Präsidenten Abdurrahman„Gus Dur“ Wahid und seiner Stellvertreterin Mega-

Das Land ist durch dieFolgen der Ereignisse des11. September vor allemauch wirtschaftlich wiedertiefer in die Krise hineingeraten, aus der es mit derneuen Präsidentin Mega-wati und ihrem Kabinettdoch heraus zu kommenhoffte.

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wati Sukarnoputri. Jusuf Wanandi, ein angesehenerpolitischer Kommentator, sprach davon, das Landhabe auf „Autopilot“ umgeschaltet. Ob fliegenderHolländer, Titanic, schwerfälliger Öltanker oder wel-che Metapher man auch immer bevorzugt– in der Tattrieb das indonesische Staatsschiff in der Endphaseder Amtszeit Abdurrahman Wahids weitgehend steu-erlos vor sich hin. Die Regierung regierte nicht mehr,das Volk folgte nicht mehr (den Gesetzen), die Wirt-schaft erwirtschaftete nichts mehr, die Gerichterichteten nichts mehr aus und die Bürokratie vervoll-kommnete wie überall die Kunst, das Mögliche un-möglich zu machen. Natürlich stimmt diese Zuspit-zung nicht in allen Fällen immer, aber in zu vielenFällen zu oft.

Der Präsident verhängte praktisch in seiner letztenAmtsminute den Notstand – Militär und Polizeigehorchtem ihrem Oberbefehlshaber aber nicht mehrund vollzogen den Befehl nicht. Der Präsident löstedas Parlament auf – aber dieses tagte weiter und setzteden Mann, den es erst 1999 gegen die populäre Wahl-siegerin Megawati zum Präsidenten gemacht hatte,ab.

Immerhin opponierte also die Opposition nochund die Demonstranten demonstrierten. Mehrere be-fürchtete gewaltsame Konflikte von zum Teil Hun-derttausenden von Anhängern des Präsidenten mitbis zu 40 000 Soldaten und Polizisten in den Straßenvon Jakarta konnten in letzter Minute verhindertwerden.

Ungefähr 50 000 Anhänger des Präsidenten hattensich schriftlich bereit erklärt, für ihn zu sterben, hießes. Sie bereiteten sich in Lagern in geheimen Künstenauf die Erstürmung des Parlamentes vor. Unter ande-rem glaubten sie, sich unsichtbar und unverwundbarmachen zu können. Im Fernsehen wurde diese „Un-verwundbarkeit“ dadurch illustriert, dass sie sichoffenbar ohne Schaden zu nehmen von Kleinlastwa-gen überfahren ließen. Einige islamische Theologensahen die Verteidigung des Präsidenten als „heiligenKrieg“ und stellten den Gefallenen die unmittelbareEinkehr ins Paradies in Aussicht. Eine (ernsthaft!)diskutierte Frage lautete: „Darf man die politischenGegner des Präsidenten – einschließlich gewählterParlamentarier – ermorden?“ Die Antwort hängt da-von ab, ob man in dem Bemühen, den Präsidenten aus

Jusuf Wanandi, einangesehener politischerKommentator, sprachdavon, das Land habe auf„Autopilot“ umgeschaltet.Ob fliegender Holländer,Titanic, schwerfälligerÖltanker oder welcheMetapher man auch immerbevorzugt – in der Tat triebdas indonesische Staats-schiff in der Endphase derAmtszeit AbdurrahmanWahids weitgehend steuer-los vor sich hin.

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dem Amt zu entfernen, eine rechtswidrige Rebellionsieht. Als Rechtsmaßstab dient dabei islamischesRecht, nicht die indonesische Verfassung. Handelt essich um eine Rebellion – Bughot genannt– so sei einheiliger Krieg – Jihad – gegen die Gegner des Präsi-denten gerechtfertigt, wurde argumentiert.

Gepanzerte Fahrzeuge standen bereit, um notfallsdie Mitglieder des Parlamentes zu „evakuieren“. Par-lamentarier äußerten in Telefongesprächen mit demBerichterstatter Angst vor unmittelbarer persönli-cher Bedrohung, besonders prominente Gegner desPräsidenten. Ein neuer unkalkulierbarer Ausbruchvon politischer Gewalt und opportunistischer Tritt-brettfahrerkriminalität (Plünderungen, private Rache-akte, Vergewaltigungen) musste befürchtet werden.„Stadt am Abgrund“ schrieb Tempo, das angeseheneMagazin, und verwies auf die Unruhen von 1998, diemindestens tausend Tote in einer teilweise verwüste-ten Stadt zurückließen.

Glücklicherweise kam es nicht wieder zum äußer-sten. Wichtige Religionsführer mahnten gerade nochrechtzeitig zur Besonnenheit. Schließlich kamen auchweit weniger Anhänger Abdurrahmans nach Jakartaals angekündigt. Ihr Wille, für den Präsidenten zusterben, war schwächer geworden. So blieb Jakartaglücklicherweise und unerwartet ruhig und das Amts-enthebungsverfahren gegen den Präsidenten wurdefriedlich durchgeführt. Zuständig dafür war die Bera-tende Volksversammlung mit ihrem PräsidentenAmien Rais, einem der schärfsten Gegner des Präsi-denten. Das ganze Verfahren war aber wegen der star-ken Stellung des Präsidenten verfassungsrechtlichnicht unproblematisch. Politisch hat es den Nachteil,einen Präzedenzfall zu schaffen, der sich eines Tagesauch gegen Megawati selbst wenden könnte. Zwargilt sie persönlich als unbestechlich, aber ihrem Ehe-mann werden immer wieder geschäftliche und politi-sche Ambitionen nachgesagt, die bei entsprechendempolitischen Willen auch dazu benutzt werden könn-ten, ihr das Leben schwer zu machen.

Die erste Bewährungsprobe für die neue Präsidentin

Megawati ist jetzt also seit gut hundert Tagen derdritte Präsident in gut zwei Jahren (oder der vierte indrei Jahren, wenn man Soeharto noch mitzählt).

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Hamzah Haz ist ihr Vizepräsident. Zunächst wurdenSie und ihr Kabinett mit Vorschusslorbeeren bedacht.Besonders in das wirtschaftspolitische Team wurdenviele Hoffnungen gesetzt. Jetzt nimmt die Kritik zu.Megawati und ihre Minister bestanden nach Ansichtvieler auch indonesischer Beobachter ihre erste großeBewährungsprobe durch ihre Unentschlossenheit undZweideutigkeit nicht, als der Mob Ausländer verbalbedrohte und die US-Botschaft und das Parlamentphysisch angriff.

Bisher waren gewalttätige Auseinandersetzungenja immer innerindonesischer Art. Neuerdings werdenaber auch Ausländer explizit bedroht, ihre Vertrei-bung wird angekündigt. Amerikanische Fahnen wur-den verbrannt, Strohpuppen, die den amerikanischenPräsidenten darstellten, ebenso. Dies ist nach indone-sischen Gesetzen mit bis zu vier Jahren Gefängnisstrafbar. Zunächst wurde niemand verhaftet oder auchnur ernsthaft zur Ordnung gerufen. Der Koordinie-rungsminister für Sicherheit, ein ehemaliger General(!), hatte zuvor auf das Recht der Demonstranten aufMeinungsfreiheit (!) hingewiesen, als Radikale west-lichen Ausländern mit Gewaltakten drohten. Einbizarrer Wandel des Freiheitsverständnisses seit denZeiten Soehartos. Der amerikanische Botschafter undandere protestierten mehrfach gegen die unzulängli-chen Sicherheitsmaßnahmen für ihre Bürger undInteressen.

Zu unmittelbaren Gewalttaten gegen Ausländer istes aber bisher noch nicht gekommen. Gewiss sind beiden Demonstranten auch Wichtigtuerei und Verbal-radikalismus im Spiel. Andererseits ist das Gewaltpo-tenzial in Indonesien so hoch, dass die Gefahren nichtverniedlicht werden dürfen. Mehrere westliche Bot-schaften, internationale Schulen, Firmen, Büros etc.waren geschlossen oder sind es noch. Nach Interna-tional Herald Tribune verließen mehrere tausend Aus-länder das Land. Besonders betroffen waren Ame-rikaner, sogar Fastfood-Ketten mit amerikanischenNamen in indonesischem Besitz wurden bedroht.Niemand verließ unnötig das Haus, besuchte Ein-kaufszentren oder Kinos. Kirchenbesuche wurden zukleinen Mutproben und sind es noch. Immer wiederwerden dort Bomben gezündet. Viele Christen sehenWeihnachten mit einer Mischung aus Angst und trot-zigem Mut entgegen. Während der Weihnachtsgot-

Megawati und ihreMinister bestanden nachAnsicht vieler auch indone-sischer Beobachter ihreerste große Bewährungs-probe durch ihre Unent-schlossenheit und Zweideu-tigkeit nicht, als der MobAusländer verbal bedrohteund die US-Botschaft unddas Parlament physischangriff.

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tesdienste des Jahres 2000 wurden im ganzen Landkoordiniert etwa zwanzig Bombenanschläge auf Kir-chen verübt. Bisher wurde meist das Militär bezich-tigt, Urheber logistisch derartig anspruchsvoller Atten-tate und Unruhestiftungen zu sein, einfach weil mansonst niemandem die Fähigkeit dazu zutraute. Nachdem 11. September muss wohl auch die Frage, ob aus-ländische Kräfte im Spiel sind, neu gestellt werden.

De facto gibt es in Indonesien weder einen echtenRechtsstaat noch ist die innere Sicherheit gewähr-leistet. Die Entflechtung von Polizei und Militär hatzu Kompetenzproblemen geführt, manchmal schie-ßen sie jetzt auch aufeinander. Wer all dies übertrie-ben findet, betrachte nur folgende Beispiele für dengegenwärtigen Zustand des indonesischen Staatswe-sens:

– Beim unerwarteten Tod prominenter General-staatsanwälte, Generäle, Richter oder soeben desPapua-Führers Theys denkt praktisch jederIndonesier (und hier lebende Ausländer) selbst-verständlich sofort und zuerst an Mord. Annatürliche Todesursachen glaubt niemand, nichteinmal, wenn sie bewiesen werden.

– Ein Gericht in Jakarta verurteilte Osttimoresen,die der Mittäterschaft an dem Mord an drei UN-Mitarbeitern in Westtimor im letzten Jahr ange-klagt waren, zu erstaunlich milden Strafen von 16bis 20 Monaten Gefängnis. Fahrraddiebe werdenoft gleich an Ort und Stelle gelyncht. Der UN-Generalsekretär, Dienstherr der Ermordeten,protestierte aufs schärfste.

Zur Zeit sind wiederum etwa 40 000 Soldaten alleinim Raum Jakarta in Bereitschaft, um auf Unruhenreagieren zu können, wenn die Kriegshandlungengegen den Terror in Afghanistan im FastenmonatRamadan (bis Mitte Dezember) weiter gehen sollten.Nur ein weiterer schneller Sieg über das Taliban-Regime kann manche Indonesier davor bewahren,sich zum Schaden ihres eigenen Landes weiterhin mitihren unseligen „Glaubensbrüdern“ zu solidarisieren.Regierungsmitglieder rechnen mit Unruhen, wie sieim vertraulichen Gespräch mitteilen. Sie sind ratlos,wie sie die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit,zwischen nationaler Stabilität und internationalerVerantwortung finden sollen. Verzweiflung findetsich in gut vertrauten, früher optimistischen Gesich-

De facto gibt es inIndonesien weder einenechten Rechtsstaat nochist die innere Sicherheitgewährleistet. Die Ent-flechtung von Polizei undMilitär hat zu Kompetenz-problemen geführt, manch-mal schießen sie jetzt auchaufeinander.

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tern von Spitzenpolitikern. Die Normalität vielerAspekte des Alltagslebens täuscht aber sogar man-chen Beobachter vor Ort über den Ernst der Lagehinweg. Etwas Hoffnung macht allerdings, dass soebenTommy Soeharto, Sohn des ehemaligen Präsidenten,verhaftet werden konnte, nachdem er mehr als einJahr lang Polizei und Staatsanwalt durch seine Fluchtlächerlich und unglaubwürdig gemacht hatte.

Wirtschaft und Entwicklung

Die wirtschaftliche Lage und das Investitionsklimaverschlechterten sich nach Amtsantritt der Präsiden-tin Megawati wegen dieser Sicherheitsrisiken nochweiter. Neue Investoren werden gewiss eine verlässli-che Stabilisierung abwarten. Es ist erschreckend, wievielen auch führenden indonesischen Politikern, „In-tellektuellen“, Kommentatoren etc. die „Solidaritätmit Afghanistan“ so wichtig war, dass sie bereit waren,dafür die wirtschaftliche Erholung, den inneren Frie-den und sogar den Fortbestand ihres eigenen Landeszu riskieren. Hunderte Freiwillige sollen sich gemel-det haben, um in Afghanistan auf Seiten der Talibanzu kämpfen, von denen sie jetzt verraten werden.Rationale Erklärungen hat dafür noch niemand auchnur angeboten. Aus Angst und Opportunismuswagte es hier aber kaum jemand, der relativ kleinen,aber nicht gerade kleinlauten Minderheit des islami-schen Extremismus öffentlich entgegenzutreten.

Nach zweiunddreißig Jahren autoritärer Herr-schaft Soehartos fehlt es Indonesien somit weitge-hend an funktionsfähigen, stabilen Institutionensowie an demokratisch verlässlichen Politikern undBürgern. Es ist ein potenziell reiches Land, das keine„wohlstandsschaffenden Institutionen“ (v. Hayek)hat. Der natürliche Reichtum verschwindet durchIneffizienzen und Korruption. Hier besteht einedeutliche Parallele zur alten Sowjetunion. Auch siebrach zusammen, weil sich auf Dauer auch das roh-stoffreichste Land kein ineffizientes Wirtschaftssys-tem leisten kann. Die Wohlfahrtsdemokratien solltendiese Beispiele sorgfältig studieren.

Der durch die asiatische Wirtschaftskrise ausgelös-te Zusammenbruch Indonesiens ist ja der schnellsteund größte wirtschaftliche Niedergang der bekann-ten Geschichte. Etwa 100 Millionen der über 200 Mil-lionen Indonesier leben von weniger als zwei US-

Es ist erschreckend,wie vielen auch führendenindonesischen Politikern,„Intellektuellen“, Kom-mentatoren etc. die „Soli-darität mit Afghanistan“ sowichtig war, dass sie bereitwaren, dafür die wirtschaft-liche Erholung, den innerenFrieden und sogar denFortbestand ihres eigenenLandes zu riskieren. Hun-derte Freiwillige sollen sichgemeldet haben, um inAfghanistan auf Seiten derTaliban zu kämpfen, vondenen sie jetzt verratenwerden.

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Dollar pro Tag, 50 Millionen unter der Armutsgrenze,40 Millionen sind nach offiziellen Angaben arbeitslos(bei einer arbeitsfähigen Bevölkerung von etwas über100 Millionen). Soeben meldet die Regierung, dass inder Provinz Westjava – das ist die Umgebung Jakar-tas – 16 Millionen der 34 Millionen Einwohner unterder Armutsgrenze leben. Das sind 45 Prozent oderetwa soviel wie die gesamte Bevölkerung Westmalay-sias (also ohne Sabah und Sarawak).

Ohne Milliardenbeträge aus dem Ausland kannIndonesien nicht einmal seinen Haushalt finanzieren.Die Privatisierung der vom Staat zwecks Restruktu-rierung übernommenen Unternehmen kommt nichtvoran. Die Arbeitslosen stellen ein erhebliches Unruhe-und Migrationspotenzial dar. Malaysia weist soebenüber tausend illegale indonesische Einwanderer aus.Auch gewaltbereite Demonstranten für oder gegenalles kann man billig anheuern. Für einen Dollar proTag sind alle zu vielem – und viele zu allem – bereit.

Der Wechselkurs ist vorübergehend wieder aufknapp 11 000 pro US-Dollar gefallen. Vor der Wirt-schaftskrise betrug der Wechselkurs 2500 (!) proDollar. Deutlich jenseits von 12 000 pro Dollar erwar-ten Experten einen völligen Zusammenbruch mitStaatsbankrott. Für den Staatshaushalt wurde miteinem Ölpreis von 22 US-Dollar pro Barrel kalku-liert, jetzt ist er unter 20 US-Dollar. Erlösverluste, mitdenen Indonesien nicht fertig werden kann. DieInflationsrate wurde mit acht Prozent veranschlagt,jetzt ist sie bereits zweistellig. Die Auslandsverschul-dung ist mit etwa 140 Milliarden US-Dollar so großwie das Bruttosozialprodukt.

Auch die geläufigen Indizes1) diagnostizieren Indo-nesiens Schwachpunkte in aller Deutlichkeit. Der„Corruption Perception Index“ von TransparencyInternational stuft es als eines der korruptesten Län-der der Welt zusammen mit Aserbaidschan auf Platz96 ein. Nur Nigeria und Kamerun sind noch schlech-ter (Plätze 98 und 99). Zum Vergleich: Russland Platz82, China 58, Italien 38, Malaysia 32, Deutschland 14.

Als mostly unfree, Platz 110 von 161, stuft der„Index of Economic Freedom“ von Heritage Foun-dation und Wall Street Journal Indonesien ein, nochnach China, Pakistan, Algerien, aber vor der Ukraine,Albanien, Indien, Libyen, Irak und Nordkorea.Besonders die Handelspolitik mit Importhemmnis-

1) Es konnten noch nicht diesoeben erschienen Neuausga-ben einiger dieser Indizes ein-gesehen werden. Selbst wennsich darin Details geänderthaben sollten, bleibt das hiergegebene generelle Bild dochgültig.

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sen, die Geldpolitik, die Regulierungen des Banken-sektors sowie die durchgängige Korruption der Be-hörden und ein riesiger Schwarzmarkt für Arbeits-kräfte (einschließlich Kindern) haben zu dieserEinstufung geführt.

Im Human Development Index 2000 von UNDPfindet sich Indonesien auf Platz 109, in der Gesell-schaft von Usbekistan, Algerien, Vietnam, Tadschiki-stan, Syrien, etc. Malaysia liegt auf Platz 61, mitRussland, Lettland, Bulgarien und Panama. Die Le-benserwartung zum Zeitpunkt der Geburt betrug1998 65,6 Jahre. Im ethnisch, klimatisch, kulturell(Ernährungsgewohnheiten) etc. sehr ähnlichen Nach-barland Malaysia betrug sie 72,2 Jahre. Das Bruttoin-landsprodukt pro Kopf betrug 1998 US-Dollar 2651,in Malaysia US-Dollar 8137 (Kaufkraftparität). DieLuft Jakartas ist eine der drei schmutzigsten der Welt.

Mit der Erziehung steht es nicht besser, Indonesi-ens Universitäten erscheinen im Ranking von AsiaWeek für asiatische Universitäten erst auf Platz 61von 77 bewerteten, unter den technischen Hochschu-len und Universitäten erscheint es immerhin schonauf Platz 21 von 39. Die beste malaysische Universitätliegt immerhin auf Platz 47. Ein internationaler Ver-gleich des Ausbildungsstandes von Schülern in Mathe-matik und Naturwissenschaften sah kürzlich die jun-gen Indonesier ebenfalls ganz hinten. Humankapitalist aber für die wirtschaftliche Entwicklung des Lan-des besonders wichtig, mit billigen Arbeitskräftenund Rohstoffen allein ist nachhaltige Entwicklungunmöglich.

Die Regierung gab aber kürzlich bekannt, ca. sie-ben Millionen indonesische Kinder seien so kritischunterernährt, dass dies ihrer körperlichen und geisti-gen Entwicklung dauerhaft schade. Die Weltbankzahlte einen vorgesehenen Kredit von 300 MillionenDollar zur Armutsbekämpfung trotzdem nicht aus,weil Indonesien mehrere Bedingungen nicht erfüllthabe und besonders nicht auszuschließen sei, dass derBetrag zum Teil nicht den designierten Empfängern,sondern korrupten Beamten zugute käme. Immerwieder werden Fälle berichtet, dass Kinder verhun-gern, weil Beamte die den Kindern zugedachte Nah-rungsmittelhilfe unterschlagen und verhökern.

Im Human Develop-ment Index 2000 von UNDPfindet sich Indonesien aufPlatz 109, in der Gesell-schaft von Usbekistan,Algerien, Vietnam, Tadschi-kistan, Syrien, etc. Malay-sia liegt auf Platz 61, mitRussland, Lettland, Bulga-rien und Panama.

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Islam als Alternative?

Indonesien ist eine säkulare Präsidialdemokratie miteiner sehr starken Stellung des Präsidenten und einervergleichsweise skizzenhaften Verfassung. Staatsmottoist „Einheit in Vielfalt“. Neben dieser pluralistisch-westlichen Orientierung findet aber auch die islami-sche Schariah Anhänger, die sie als zumindest für dieMoslems verbindlich in der Verfassung verankernwollen (sogenannte Jakarta-Charter).

Seit den achtziger Jahren gibt es ja auch in Südost-asien ein Wiedererstarken des Islam, das erst jetzt indas Bewusstsein weiter Teile der westlichen Öffent-lichkeit zu dringen beginnt. Natürlich ist Indonesiengenausowenig ein islamischer Staat im fundamenta-listischen Sinne wie ein failed state, und vermutlichwird es zu beidem auch nicht kommen. Garantiendafür oder Entwicklungsgesetze, die dies verbürgen,gibt es aber nicht. Wegen der Aktualität des Themasund der großen Bedeutung Indonesiens für diesenTeil der Welt sei dem Islam in Indonesien im Folgen-den besondere Aufmerksamkeit gewidmet.

Der gelegentliche Besucher Indonesiens merkt oftgar nicht sofort, dass er im größten islamischen Landder Welt ist. Natürlich ruft der Muezzin mehrmalstäglich (und nächtlich!) vernehmlich zum Gebet,natürlich finden sich auch überall Moscheen undnatürlich tragen manche Frauen und Mädchen einTuch über dem Haar – dazu meist T-Shirts und Jeans.Sehr selten hingegen sieht man den Gesichtsschleier,der nur die Augen unbedeckt lässt, und dann lassendie Gesichtszüge des männlichen Begleiters meist aufeine Besucherin aus dem Mittleren Osten schließen.

So wenig islamisch sieht Indonesien auf den erstenBlick aus, dass auch kundige westliche Beobachter esoft als „Sonderfall“ betrachten, als nicht „wirklichislamisch“. Nicht Java sei islamisiert, sondern derIslam sei javanisiert worden, könnte man diese Thesezuspitzen: Synkretistisch sei der indonesische Islam,nicht „pur“, nicht wirklich „echt“.

Von frühen Einflüssen abgesehen, erreichte derIslam im Wesentlichen erst ab dem 14. Jahrhundertlangsam das damals hindu-buddhistische Indonesien,also nach der eigentlichen Hochblüte des Islam (1258Eroberung Bagdads durch die Mongolen). Kaufleuteund Händler brachten ihn u.a. aus Südindien mit undverbreiteten ihn nach vorherrschender Meinung ge-

So wenig islamischsieht Indonesien auf denersten Blick aus, dass auchkundige westliche Beob-achter es oft als „Sonder-fall“ betrachten, als nicht„wirklich islamisch“. NichtJava sei islamisiert, son-dern der Islam sei javani-siert worden, könnte mandiese These zuspitzen:Synkretistisch sei derindonesische Islam, nicht„pur“, nicht wirklich„echt“.

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waltlos und friedlich. Fürsten einerseits, die ihreHerrschaft auch religiös legitimierten, und Händlerandererseits waren die ersten, die sich zum Islambekehrten. Diese Form des Islam war von al-Ghazalibeeinflusst und hatte somit eine starke mystischeTendenz, die ihren Ausdruck etwa in folgendem Zitatfindet: „Askese [...] bedeutet, das weltliche Leben zuhassen. Wenn jemand die Welt hasst, wird er notwen-dig das Jenseits lieben. Und wenn er das Jenseits liebt,wird Gott ihn lieben.“

Der bedeutende islamische Intellektuelle Nurcho-lis Madjid hält diese relativ späte Islamisierung füreinen der Gründe, warum der Islam in Indonesiensich stärker an die lokale Kultur angepasst habe alsandernorts. Er kommt zu dem Schluss, dass der Islamin Indonesien sich insofern von dem Islam in arabi-schen Länder unterscheide, dies aber nicht seinen„Wesensgehalt“ betreffe.

Auch wenn Indonesien also weniger arabisiert seials viele andere muslimische Länder, tue man gutdaran, das Land als genuinen Teil der islamischenWelt zu begreifen und nicht als eine „exotische Son-derform“: Islamisierung bedeute nicht Arabisierung.

Die meisten Indonesier, Moslems oder nicht, sindtrotz der Neigungen zum Mystizismus so diesseits-froh wie nur irgendwer, und das angesichts ihrer nichtgerade beneidenswerten politischen, ökonomischenund sozialen Lage.

Religion dient ja nicht nur der Befassung mit demJenseits, sondern auch der Bewältigung des Diesseits.Sie ist ein normatives Orientierungs- und Steue-rungssystem und hilft, die komplexe und oft be-ängstigende Wirklichkeit deutend zu verstehen, gibtnormative Handlungsanweisungen und Verhaltens-empfehlungen und stellt natürlich auch ein wichtigesidentitätsstiftendes Element dar. Ebenso wie vieleChristen haben auch viele Moslems das Problem, ihrereligiöse Identität in Integrität zu leben, die Geboteund Verbote ihrer Religion mit den Gegebenheiteneiner sich rasch wandelnden Welt mit immer neuenHerausforderungen in Einklang zu bringen. DasTempo dieses Wandels ist für viele Moslems aber ver-mutlich weitaus höher als für viele Menschen in west-lichen Ländern. Dadurch entstehen massiver Moder-nisierungsstress, kognitiv-normative Dissonanzen,Bedrohung von Identität, Gefährdung von Integrität.

Die meisten Indone-sier, Moslems oder nicht,sind trotz der Neigungenzum Mystizismus so dies-seitsfroh wie nur irgend-wer, und das angesichtsihrer nicht gerade benei-denswerten politischen,ökonomischen und sozialenLage.

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Dies sind einige Komponenten der komplexen Situa-tion, in der sich Indonesien befindet.

Ethnizität, Religionszugehörigkeit, Solidarisierung und Konflikt

Über 180 Mio. Indonesier bekennen sich wie erwähntzum Islam. Der Rest sind katholische und protestan-tische Christen, Buddhisten, Hindus oder auch Ani-misten. In Teilen Sumatras z. B. wurde von demDeutschen Nommensen protestantisch missioniert,der Osten Indonesiens, vor allem die Inseln Flores,West- und Osttimor, Papua (früher Irian Jaya, derindonesische Teil Neuguineas), die Molukken undTeile Sulawesis (Celebes) galten traditionell als über-wiegend katholisch. Java, weite Teile Sumatras undSulawesis, Lombok z. B. sind dagegen islamisch do-miniert, während Bali die einzige stark hinduistischgeprägte Insel des Archipels ist. Animismus ist vorallem auf Borneo und in Papua verbreitet, oft aberauch fester Bestandteil der „Alltagsreligion“ allerKonfessionen.

Ethnische Zugehörigkeit ist in diesem sehr hetero-genen und von der gemeinsamen holländischen Kolo-nialgeschichte abgesehen an verbindenden Elementeneher armen Land neben der Religionszugehörigkeitdas zweite wichtige Element, das die Identität derMenschen prägt. Die traditionellen Verhaltenskodi-zes (Adat genannt) dieser Gruppen schreiben ihrenMitgliedern vor, was richtig und was falsch ist. Sieergänzen religiöse und staatliche Vorschriften, stehenhier und da wohl mit ihnen auch in Konflikt.

Ethnische Zugehörigkeit und Religionszugehörig-keit deckten sich in vielen Fällen und stimmtenweitgehend auch mit Siedlungsräumen überein. Dieimmer stärkere Übervölkerung Javas veranlasste dieRegierung Soeharto dann zu einer aktiven Umsied-lungspolitik aus Java auf die dünner besiedelten Inseln.Dies führte zu einer Veränderung der traditionellenGleichgewichte der Strukturen: Weite Gebiete wur-den gleichzeitig stärker javanisiert und islamisiert.Der indonesische Multikulturalismus, der zunächstvon einer großen Vielfalt relativ homogener, aber voneinander getrennt lebender ethnischer Gruppen inner-halb des Gesamtstaates geprägt war, erforderte immermehr ein Zusammenleben verschiedener, einander inmehrfacher Hinsicht fremder Ethnien mit verschie-

Ethnische Zugehörig-keit ist in dem sehr hetero-genen und von der gemein-samen holländischenKolonialgeschichte abge-sehen an verbindendenElementen eher armen Landneben der Religionszu-gehörigkeit das zweitewichtige Element, das dieIdentität der Menschenprägt.

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denen religiösen, kulturellen und oft auch sprach-lichen Bindungen sowie unterschiedlicher wirtschaft-licher Leistungsfähigkeit und -willigkeit innerhalbrelativ kleiner Räume. Ihre Integration ist in vielenFällen nicht geglückt, die gemeinsame Kolonialge-schichte und die Zugehörigkeit zu einer jungenNation reichten nicht aus, die massiven Gegensätze infruchtbarer Form in konstruktive Bahnen zu lenken.Die zum Teil unglaublich grausam ausgetragenenlokalen Konflikte etwa auf Borneo oder den Moluk-ken sind daher auch meist mehrdimensional und las-sen sich nicht so einfach als rein religiöse Konflikteverstehen, obwohl die Solidarisierung und Gruppen-bildung oft entlang religiöser Grenzen verläuft.

Religionszugehörigkeit eignet sich aufgrund dieserKonstellation sehr gut als Mittel, politisch, sozialoder ethnisch motivierten Abneigungen eine schein-bar höhere Weihe zu verleihen, sie zu radikalisierenund zu fundamentalisieren und auch eigentlich lieberneutral bleiben Wollende zwangsweise in die Ausein-andersetzungen hineinzuziehen. Ein Hauptkrisen-herd, die Molukken, wird im Westen – verglichen mitOsttimor oder Aceh im Norden Sumatras – wenigerstark wahrgenommen.

Erscheinungsformen und Organisationen des Islam in Indonesien

Der Islam wird für gewöhnlich in die RichtungenSunna und Schia (und Schismatiker) eingeteilt, inIndonesien gehört er praktisch ausschließlich zurSunna. Seine Anhänger auf Java werden wiederummeist grob einer von zwei Hauptströmungen zuge-rechnet. Die erste große Gruppe wird gewöhnlich alsAbangan („die Roten“) bezeichnet. Dies sind vorallem die oben erwähnten „Synkretisten“, die ihrelokalen Traditionen in ihr Religionsverständnis ein-gebracht haben. In der Praxis sind sie meist sehr tole-rant gegenüber anderen, aber auch sich selbst gegenü-ber. So befolgen sie nicht immer pünktlich die fünfPfeiler des Islam (Glaubensbekenntnis, fünf täglicheGebete, Almosengeben, den Fastenmonat oder dasGebot der Pilgerfahrt nach Mekka).

Im Unterschied zu ihnen sind die Santri („Schü-ler“) stärker arabisiert, befolgen die religiösen Gebotestrikter und sind häufig auch im Islam besser unter-

Der Islam wird fürgewöhnlich in die Richtun-gen Sunna und Schia (undSchismatiker) eingeteilt, inIndonesien gehört erpraktisch ausschließlichzur Sunna.

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richtet. Oft mögen die Santri wohl auf die Abanganetwas herabschauen, verstehen sich als „heiliger“.Beide Gruppen sind jedoch in ihrem Grundcharakternicht im negativen Sinne fundamentalistisch.

Organisiert sind die indonesischen Muslims vorallem in zwei großen Massenorganisationen. DieMuhammadiyah wurde 1912 in Yogyakarta gegrün-det, um gegenüber den Abangan eine reinere Formdes Islam zu vertreten und den Koran wieder stärkerin den Vordergrund zu rücken. Mit etwa 30 Millionen(!) Mitgliedern ist sie heute die zweitgrößte Mus-limorganisation Indonesiens, hinter der NahdlatulUlama (NU), die 1926 gegründet wurde und nacheigenen Angaben bis zu 40 Millionen (!) Mitgliederhaben soll. NU hat ihre Wurzeln vor allem bei dereinfachen ländlichen Bevölkerung, besonders in Mit-tel- und Ostjava. NU ist stärker synkretistisch undtraditionalistisch orientiert als Muhammadiyah.

Auch wenn die genannten Zahlen etwas hoch er-scheinen mögen, dürfte NU wohl die größte Mus-limorganisation der Welt sein. Beide Organisationenunterhalten Koranschulen (Pesantren), Schulen undsogar Universitäten, Krankenhäuser und andere so-ziale Einrichtungen. Daneben mischen sie sich malstärker oder mal schwächer in die Politik ein undbringen in jüngster Zeit auch Spitzenpolitiker hervor.Der ehemalige Staatspräsident Abdurrahman Wahid(„Gus Dur“) war zuvor Führer der NU und trägt denjavanischen Titel Kyai, was etwa Maulana oder Mul-lah entspricht. Er war und ist ein Mahner religiöserToleranz, um Ausgleich zwischen den Religionenbemüht und zum Kontakt (aus islamischer Sicht: sogar)mit Israel bereit.

Der Professor der Politikwissenschaft Amien Rais,jetzt Präsident der wichtigen „Beratenden Volksver-sammlung“ (MPR, „Oberhaus“), war früher Vorsit-zender der Muhammadiyah. Er zeigte während derEndphase der Herrschaft Soehartos beträchtlichenMut, neigt aber zu strengeren Positionen als etwa GusDur.

Daneben gibt es zahlreiche andere islamische Or-ganisationen. Einige sind radikal (z. B. Laskar Jihadund Defenders of Islam). Manche unterhalten prak-tisch eigene Armeen. Nahdlatul Ulama (NU) verfügtnach Schätzungen über 400 000 bis 500 000 Kämpfer.Laskar Jihad (Truppe für den Heiligen Krieg) ist viel

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kleiner (einige tausend Kämpfer). „Heilige Krieger“sind keineswegs Schreckgespenster in Indonesien, zuTausenden haben sie sich Anfang letzten Jahres ganzreal in der Umgebung von Jakarta versammelt, habenexerziert und sind dann nach den Molukken aufge-brochen, um sich am Bürgerkrieg zwischen Christenund Moslems zu beteiligen. Die Zahl der Toten in denMolukken wird auf bis zu zehntausend geschätzt. DieOrdnungskräfte sahen all dem mehr oder wenigerhilf- und tatenlos zu.

Immer wieder kommt es in ganz Indonesien zuAndrohungen und Ausübung religiös verbrämterGewaltakte. Der Berichterstatter hat kürzlich einmehr als dreistündiges, hochinteressantes Gesprächmit dem obersten Führer der Defenders of Islam ge-führt, das hier nicht wiedergegeben werden kann. Eshandelt sich dabei um eine der aggressivsten extre-mistischen Organisationen Indonesiens, die u. a. ver-sucht hat, die US-Botschaft in Jakarta und das indo-nesische Parlament zu stürmen. Auch hat sie dieVertreibung von Ausländern angekündigt und über-fällt aus „religiösen Gründen“ z. B. Diskotheken imFastenmonat und vernichtet dort Soundsysteme undAlkohol. Es scheint dem Berichterstatter absolutnötig und auch nicht unmöglich, in derartigen Ge-sprächen die Gesprächspartner wenigstens partiell zuderadikalisieren.

Nationalisten und Islamisten in der indonesischen Politik

In der indonesischen Politik kann man ebenfalls zweiHauptströmungen gegeneinander abgrenzen, die Na-tionalisten und die Islamisten. Die Nationalistenhaben weniger die positive Abhebung Indonesiensvon anderen Ländern im Sinn, sondern sind primärum die Erhaltung der Einheit der indonesischenNation bemüht. Sie erkennen seit dem StaatsgründerSukarno die Realität der ethnischen, religiösen etc.Vielfalt des Landes an. Sie befürworten die säkulari-stische Staatsphilosophie Pancasila, die zwar denGlauben an einen Gott beinhaltet, es aber den einzel-nen Religionen überlässt, wie sie diesen verehrenwollen. Sukarnos Tochter Megawati Sukarnoputri,die gegenwärtige Präsidentin, gehört wie auch ihrVater in dieses Lager. Der Erhalt der Nation hat fürsie Priorität gegenüber religiösen Themen. So war sie

„Heilige Krieger“ sindkeineswegs Schreckge-spenster in Indonesien, zuTausenden haben sie sichAnfang letzten Jahres ganzreal in der Umgebung vonJakarta versammelt, habenexerziert und sind dannnach den Molukken aufge-brochen, um sich am Bür-gerkrieg zwischen Christenund Moslems zu beteiligen.

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z. B. entschieden gegen die von Präsident Habibiedurchgeführte Abstimmung über Unabhängigkeit inOsttimor.

Dreizehn der 48 zur letzten Wahl zugelassenenParteien haben dagegen eine islamische Agenda. Siesind auch zusammen nicht annähernd mehrheitsfähigund waren alle vom Wahlausgang mehr oder wenigerenttäuscht. Vor allem wollen sie die erwähnte „Jakarta-Charta“ in die Verfassung aufnehmen, die Moslems inIndonesien zwänge, den Gesetzen der Schariah zugehorchen. Schariah ist dabei aber nicht nur Straf-recht, sondern eher eine integrale Lebensform, dieden Islam in den Mittelpunkt der gesamten Lebens-führung stellt. Die Jakarta-Charta wird aber nicht nurvon Nicht-Moslems scharf abgelehnt: Indonesienkönnte dadurch von einem säkularen zu einem isla-mischen Staat werden. Dies wollen auch die meistenMoslems wohl kaum. Da der gegenwärtige Vizeprä-sident Hamzah Haz aus diesem Lager stammt, re-präsentiert die gegenwärtige Präsidentschaft „Na-tionalismus“ wie „Islamismus“ in der Hoffnung, dieswerde nicht zum Konflikt, sondern zum Gleichge-wicht führen.

Der frühere Präsident Soeharto begann seine Amts-zeit als Nationalist, um in seiner Spätphase stärkerbeim Islam Rückhalt und Stärkung seiner schwinden-den Legitimation zu suchen. Dazu gehörten eine Pil-gerfahrt nach Mekka und die Gründung der islami-schen Intellektuellenorganisation ICMI, die u. a. denThink Tank CIDES hervorbrachte. Sein NachfolgerHabibie leitete ICMI, und viele seiner engsten Bera-ter stammten aus CIDES. Nach Habibies Ausschei-den aus der Politik haben beide Organisationen anBedeutung verloren.

Politische Rolle des Islam

Das bedeutet jedoch nicht, dass damit auch der Islamals politischer Faktor ausgeschieden wäre. Dies zeigtesich 1999 bei der überraschenden Wahl AbdurrahmanWahids zum Präsidenten. Allgemein war Megawatimit ca. 33 Prozent der Stimmen für ihre Partei PDI-Pals Siegerin der ersten freien Wahlen in Indonesienseit 50 Jahren angesehen worden. Dies ist zwar miteinem Drittel aller Stimmen nur bedingt richtig, aberPDI-P war mit Abstand die relativ stärkste Kraft vorder ebenfalls säkularistisch-nationalistischen Golkar

Der frühere PräsidentSoeharto begann seineAmtszeit als Nationalist,um in seiner Spätphasestärker beim Islam Rück-halt und Stärkung seinerschwindenden Legitimationzu suchen. Dazu gehörteneine Pilgerfahrt nachMekka und die Gründungder islamischen Intellektu-ellenorganisation ICMI, dieu. a. den Think Tank CIDEShervorbrachte.

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mit etwas über 20 Prozent und jedenfalls stärker alsdie drei stärksten islamischen Parteien (PPP, PKB,PAN) zusammen.

Trotzdem gelang es den Führern der islamischenParteien – zu denen Amien Rais (PAN) und der heu-tige Vizepräsident Hamzah Haz (PPP) gehören –,Megawatis Wahl zur Präsidentin zu verhindern undstatt dessen den angesehenen Religionsführer Abdur-rahman Wahid (PKB) zu wählen. Sie benutzten dazuu. a. das Argument, der Islam lasse keine weiblichePräsidentin zu. Auch Megawatis Religiosität undTreue zum Islam wurden in Zweifel gezogen. Wie-weit diese Argumente vorgeschoben waren, brauchthier nicht diskutiert zu werden. Immerhin habendiese Politiker in weniger als zwei Jahren ihre Mei-nung geändert und betreiben nun eine Koalitionsre-gierung mit Megawati. Ob dies einen genuinen Lern-prozess widerspiegelt, oder ob ihnen diese Lösungnur als günstiger erschien, könnte sich bald zeigen,denn wie oben skizziert, ist die Regierung Megawatiüber die ohnehin nur schwer lösbaren Probleme desLandes hinaus mit einer weiteren Bewährungsprobekonfrontiert, die sie überhaupt nicht erwartet hatte,den amerikanischen Einsätzen gegen die sich selbstals islamisch bezeichnende Terrororganisation AlQaida und die sie schützenden Taliban. Sollte sich dieBekämpfung des Terrorismus auf den Irak oderandere islamische Länder ausweiten, dürfte die Regie-rung sich vor noch schwierigere Probleme gestelltsehen.

Diese Entwicklung könnte der Wiedererstarkungdes Islam eine neue Richtung geben. Eine kleine, aberzunehmend lautstarke Minderheit sieht hier dieChance, dem arg gebeutelten Land ihre Agenda auf-zuzwingen. Dass ihre jüngsten Ankündigungen, „dieAmerikaner und ihre Alliierten“ aus dem Lande zujagen, einen Rückgang der ausländischen Direkt-investitionen zur Folge hat, könnte ihnen sogar einwillkommener Nebeneffekt sein. WirtschaftlicheProsperität ist ja gar nicht Teil ihres gesellschaftspoli-tischen Leitbildes. Die indonesische Regierung hatversucht, den von den USA nicht akzeptierten Mit-telweg zwischen „Freund oder Feind“ zu gehen: Ver-bal ist sie gegen Terror, hat die amerikanischenAngriffe auf die Terroristen aber nicht gebilligt. DerVizepräsident hat in ersten Stellungnahmen zu den

Die indonesischeRegierung hat versucht,den von den USA nichtakzeptierten Mittelwegzwischen „Freund oderFeind“ zu gehen: Verbal istsie gegen Terror, hat dieamerikanischen Angriffeauf die Terroristen abernicht gebilligt.

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Attentaten in New York und Washington sogar gesagt,dies sei „die Strafe“ für die Amerikaner, während diePräsidentin die Attentate verurteilt hat. Hier wird dietiefe Kluft zwischen „Nationalisten“ und „Islami-sten“, die übrigens auch in den Streitkräften ihrGegenstück findet, sichtbar.

Geistige Orientierungslosigkeit als Folge der asiatischen Wirtschaftskrise

Die große Mehrheit der Indonesier, welcher Religionsie auch immer angehört, ist grundsätzlich eher tole-rant und friedliebend. Das Land ist aber in einer der-artig tiefen und multidimensionalen Krise, dass diepsychologischen Reserven vieler Menschen für Aus-gleich und Verständigung allmählich zu Ende gehen.Der Fehlschlag der alten, säkularen, auf wirtschaftli-ches Wachstum fokussierten Staats- und Entwick-lungsphilosophie hat auch ein geistig ideologischesVakuum hinterlassen, in das nun extremeres Gedan-kengut einzudringen versucht.

Vor der asiatischen Wirtschaftskrise hatten dieMenschen die nicht unberechtigte Hoffnung, in ab-sehbarer Zukunft wenigstens bescheidenen Wohl-stand zu erwirtschaften. Der Zusammenbruch desRegimes Soeharto offenbarte die oben skizziertenAbgründe an Verschuldung und Misswirtschaft. DieGlaubwürdigkeit des für westlich gehaltenen Ent-wicklungs- und Gesellschaftsmodells ist nachhaltig inFrage gestellt worden: Die Menschen sehen nun, wiesie von ihren Eliten betrogen worden sind. Sie habenAngst davor, von klugen Argumenten, denen sieintellektuell nicht gewachsen sind, wieder übervor-teilt zu werden. Sie brauchen in diesen schwierigenZeiten aber Orientierung. Daher suchen sie Zufluchtbei vertraut und damit vertrauenswürdig erscheinen-den Überzeugungssystemen. Hier ist der geistigeAnsatzpunkt für die Extremisten, die nach Ansichtdes Berichterstatters die Religion des Islam und diehohe, oft unreflektierte Solidarisierungsbereitschaftgutgläubiger Moslems für ihre Zwecke ausnutzen.

Kann nämlich die neue Präsidentin nicht baldsichtbare Erfolge vorweisen, hätte der „westliche An-satz“ von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirt-schaft in den Augen vieler Indonesier möglicherweiseseine Chance endgültig verspielt, könnte eine stärkere

Die große Mehrheitder Indonesier, welcherReligion sie auch immerangehört, ist grundsätzlicheher tolerant und fried-liebend. Das Land ist aberin einer derartig tiefen undmultidimensionalen Krise,dass die psychologischenReserven vieler Menschenfür Ausgleich und Verstän-digung allmählich zu Endegehen.

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Islamisierung oder eine Machtübernahme durch dasMilitär nicht mehr ausgeschlossen werden. Das jetztnoch akzeptierte und angestrebte normative Ord-nungsparadigma könnte durch ein ganz anderes er-setzt werden. Die möglichen internationalen Folgenbesonders einer fundamentalistischen Islamisierungdes unkontrollierbaren Archipels wurden oben schonangedeutet. Diejenigen Beobachter, die solche Ent-wicklungen a priori ausschließen wollen, seien an denSturz des Schah und die jüngere Geschichte des Iranerinnert. All die abstrakten Thesen von der Unum-kehrbarkeit von Entwicklungen oder vom Ende derGeschichte sind ja umgekehrt jetzt selbst am Ende.

Der geistige Dialog mit dem Islam und den islami-schen Ländern gewinnt dadurch eine neue Dringlich-keit, die auch im Interesse des Westens liegt. Es gehtdabei nicht um „Christentum versus Islam“, sondernum „offene Gesellschaft“ gegen „geschlossene Stam-mesgesellschaft“ (Popper), d. h., der Dialog hat nichtprimär theologisch zu sein, sondern ordnungs- undgesellschaftspolitisch. Dies zu vermitteln ist einer der wichtigen Beiträge, die Europa und besondersDeutschland jetzt leisten müssen, denn westliche Be-mühungen, etwa im Fernsehen deutlich zu machen,dass es sich nicht um einen Krieg gegen den Islamhandelt, kommen hier vor Ort, jedenfalls bei denMassen, gar nicht erst an oder werden nicht geglaubt.Der Umstand allerdings, dass in Afghanistan Mos-lems auf Moslems schießen, und das sogar im Fasten-monat Ramadan, gibt hier doch manchem etwas zudenken und relativiert die Solidarisierungsbereitschaftentlang religiöser Klischees.

Gelingt es, eine weitere Verschärfung der politi-schen und wirtschaftlichen Probleme des Landes zuvermeiden – insbesondere eine Sezession von Acehoder Irian Jaya, weitere bürgerkriegsähnliche Unru-hen in den Molukken oder Kalimantan sowie denStaatsbankrott –, kann das Land auf die nächstenWahlen im Jahr 2004 hoffen. Gelingt dies nicht undverschlechtert sich insbesondere die Sicherheitslagedramatisch, könnte es auch zu einem – harten oderweichen – Militärputsch kommen. Nicht wenigeIndonesier vergleichen ihre Situation unter Soehartomit der gegenwärtigen und halten dies bereits jetzt fürdie beste Lösung ihrer Probleme: Führende Journa-listen sollen den Streitkräften in der Endphase der

Der geistige Dialogmit dem Islam und denislamischen Länderngewinnt eine neue Dring-lichkeit, die auch im Inter-esse des Westens liegt.Es geht dabei nicht um„Christentum versusIslam“, sondern um „offeneGesellschaft“ gegen„geschlossene Stammes-gesellschaft“ (Popper),d. h., der Dialog hat nichtprimär theologisch zu sein,sondern ordnungs- undgesellschaftspolitisch.

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Regierung Abdurrahman Wahid die Machtübernah-me empfohlen haben, die dazu aber – noch nicht? –bereit waren.

Es ist dem Land zu wünschen, dass ihm das fort-gesetzte Chaos ebenso wie eine Neuauflage des Auto-ritarismus oder gar eine Variante des „Steinzeit-Tali-banismus“ erspart bleibt. Es braucht dazu Stabilitätund politische Führung (leadership), aber in einerfreiheitlichen, rechtsstaatlichen und demokratischenGesamtordnung. Dass es die nicht hat, ist am gering-sten wohl die Schuld der vor allem leidtragenden brei-ten Bevölkerung. Sie wurde Jahrhunderte lang kolo-nialisiert, ohne dass ihre Kolonialherren viel inbrauchbare politische, rechtliche und administrativeStrukturen oder in Bildung investiert hätten. In dergeostrategisch gefährlichen Konfrontation mit demKommunismus in Südostasien (Vietnamkrieg) wurdedas Regime Soeharto dann als Verbündeter gebraucht.Demokratisierung und rechtsstaatliche Entwicklunghatten keine Priorität. Dann wurde wiederum inKenntnis z.B. der Korruption mit zum Teil leichtfer-tig vergebenen Krediten eine wirtschaftliche Schein-blüte finanziert, ohne eine entsprechende Entwick-lung zumindest elementarer rechtsstaatlicher odergenuin marktwirtschaftlicher Institutionen durchzu-setzen. Diese Fehler sollten nicht nur in Indonesien,sondern auch andernorts nicht wiederholt werden.

Dies ist es daher, was das Land jetzt vor allenSchuldenmoratorien und makroökonomischen Sta-bilisierungsversuchen am dringendsten braucht: Einestabile, tragfähige, gerechte und effiziente politischeNeuordnung. Die wirtschaftliche Erholung wirddann folgen, nicht sofort, aber nachhaltig. Radikali-sierung wird ausbleiben. Auf deutsche Nachkriegs-verhältnisse übertragen: Indonesien braucht seinGrundgesetz, seinen Konrad Adenauer und seinenMarshall-Plan (in dieser Reihenfolge). Der Westensollte im eigenen Interesse daran mitwirken. EinLand dieser Größenordnung hat im Zeitalter derGlobalisierung im Guten wie im Bösen einigen Ein-fluss auf die Weltgeschichte. Man stelle sich zum Bei-spiel vor, Deutschland hätte 1933 das Grundgesetzgehabt und Konrad Adenauer zum Reichskanzlergewählt, nicht Adolf Hitler. Die wirtschaftlicheSituation Indonesiens 2001 ist ja nicht besser als diedeutsche 1933.

Es ist dem Land zuwünschen, dass ihm dasfortgesetzte Chaos ebensowie eine Neuauflage desAutoritarismus oder gareine Variante des „Stein-zeit-Talibanismus“ erspartbleibt. Es braucht dazuStabilität und politischeFührung (leadership), aberin einer freiheitlichen,rechtsstaatlichen unddemokratischen Gesamt-ordnung.

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Indonesien jenseits von Nationalismus und Islamismus

Wir Deutschen wissen also aus leidvoller Erfahrung,dass man stabile Rahmenbedingungen nicht dekretie-ren oder oktroyieren kann. Die Entwicklung einertragfähigen politischen und gesellschaftlichen Ord-nung ist auch ein institutioneller und kollektiverLernprozess und braucht daher Zeit. Die Weltbankhat Indonesien soeben eine Frist von sechs Monatenzur Verbesserung seiner Rahmenbedingungen ge-setzt. Hier liegt aber gerade das eigentliche Problem:Wie soll Indonesien in so kurzer Zeit die dazu nöti-gen Strukturen aufbauen? Wo sollen z. B. lauterePolitiker, kompetente, aber nicht korrupte Richter,unbestechliche Beamte, ehrliche Polizisten etc. her-kommen? Wie kann die Vergangenheit mit ihren Ver-brechen „bewältigt“ statt nur verdrängt werden?Auch ein geistig-moralischer Transformationspro-zess ist hier nötig. Wir kennen eine ähnliche Proble-matik zum Beispiel auch aus der Nachkriegszeit undunseren neuen Ländern.

Die Transformation der ehemaligen Ostblocklän-der hat viele praktische und theoretische Fragen auf-geworfen, viel Geld gekostet und ist noch längst nichtüberall abgeschlossen. „Aus einem Aquarium eineFischsuppe zu machen, ist einfach“ sagte VaclavKlaus, „aus einer Fischsuppe ein Aquarium, schonschwerer.“ In einigen früheren Ostblockländern sinddie Erfolge erfreulich. Hier war aber klar, was zutransformieren war: Polen, Ungarn waren eigenstän-dige Staaten, aus der Tschechoslowakei wurden zweiStaaten, während die künstliche Sowjetunion in ihreBestandteile zerfiel. Das westliche Ordnungsideal„passte“ im Prinzip zur Geschichte, Kultur, Religion,Tradition dieser Länder. Es musste „nur“ wiederbe-lebt und neu verankert werden. Dies ist in Indonesiennicht annähernd so einfach.

Die multidimensionale Krise Indonesiens kann ver-mutlich kaum monokausal erklärt werden. Zu komplexscheint die gegenseitige Beeinflussung nationaler wieinternationaler Faktoren: Kolonialgeschichte, Res-sourcenausstattung, ethnische Heterogenität, Klima,Religionen, Traditionen, Ost-West-Konflikt, Globa-lisierung etc. Der wichtigste Einzelfaktor zur Erklä-rung der gegenwärtigen Situation des Landes ist aberwohl wie auch im früheren Ostblock die bisherige

Die multidimensionaleKrise Indonesiens kann ver-mutlich kaum monokausalerklärt werden. Zu komplexscheint die gegenseitigeBeeinflussung nationalerwie internationaler Fakto-ren: Kolonialgeschichte,Ressourcenausstattung,ethnische Heterogenität,Klima, Religionen, Traditio-nen, Ost-West-Konflikt,Globalisierung etc.

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politische und wirtschaftliche Ordnung („Autorita-rismus“ und „Günstlingskapitalismus“). Die alte Ord-nung hatte aber immerhin innere und äußere Stabilitätgarantiert und das Land für Investoren berechenbarund damit attraktiv gemacht. Ihr Zusammenbruchillustriert die These von der „Interdependenz derOrdnungen“. Indonesien muss die alte Ordnungdurch eine adäquatere ersetzen und befindet sichdementsprechend in einem voraussichtlich langwieri-gen und mühsamen Transformations- und Moderni-sierungsprozess. Wohin er führen wird, scheint nochungewiss.

Gibt es eine Hoffnung, eine Vision für Indonesien?Betrachtet man Indonesien als einen STAAT, über-wiegen die Defizite, ist der Eindruck weitgehendenStaatsversagens unvermeidlich. Nimmt man aber ein-mal an, Indonesien könne alle seine gegenwärtigenProbleme lösen, was ergibt sich dann als Resultat sei-ner Entwicklung? Ein geeinter KONTINENT. Er-weitert man also den Blickwinkel über die Not desAugenblicks hinaus und betrachtet Indonesien weni-ger als einen Staat denn als einen Kontinent im Pro-zess des Zusammenwachsens, ergibt sich im Vergleichz. B. mit Europa ein ganz anderes Bild: Man kann vonLondon (sprich Bandar Aceh, Sumatra) über Istanbul(sprich Jakarta, Java) nach Teheran (sprich Jayapura,Neuguinea) reisen, ohne auch nur einmal seinen Passvorzuzeigen. Man kann seinen Tee in London mitdemselben Geld bezahlen wie in Istanbul oder Tehe-ran, ja man kann ihn sogar in derselben Sprachebestellen, die alle Kinder in der Schule lernen. Auchgelten überall weitgehend dieselben Gesetze. Natür-lich fliegt man wie auch in Europa über Bürger-kriegsgebiete, natürlich ist das Wohlstandsgefälle soenorm wie die Mentalitäten verschieden, natürlichgibt es große Probleme bei der Durchsetzung vonRecht und Verwaltung. Aber trotzdem sind wichtigeTeile des großen Zieles „Einheit in Vielfalt“ erreicht.

Für Indonesien kommt es jetzt darauf an, den ein-geschlagenen Weg trotz aller Schwierigkeiten, die jaauch der europäischen Geschichte nicht unbekanntsind, erfolgreich weiterzugehen. Vielleicht ist dienach zahllosen politischen Katastrophen im zwanzig-sten Jahrhundert begonnene europäische Einigungfür Indonesien ein besseres Paradigma für „Conti-nentbuilding“ als die Geschichte des europäischen

Gibt es eine Hoffnung,eine Vision für Indonesien?Betrachtet man Indonesienals einen STAAT, überwie-gen die Defizite, ist derEindruck weitgehendenStaatsversagens unver-meidlich. Nimmt man abereinmal an, Indonesienkönne alle seine gegenwär-tigen Probleme lösen, wasergibt sich dann als Resul-tat seiner Entwicklung? Eingeeinter KONTINENT.

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Nationalismus ein Vorbild für „Nationbuilding“. DieBetrachtung Indonesiens als Kontinent ist ja nichtwillkürlich. Der Melayu in Aceh unterscheidet sichvon dem Dani in Papua mindestens so sehr wie derSpanier vom Sachsen, der Bugis in Sulawesi vomTimoresen in Kupang sosehr wie ein Norweger vomSizilianer.

Die Entwicklungsprozesse vollziehen sich umge-kehrt. In Europa schließen sich funktionsfähige,hochentwickelte Nationalstaaten langsam zu einemfunktionierenden Kontinentalstaatswesen zusammen.In Indonesien gibt es den Kontinentalstaat schon,aber er muss seine Funktionsfähigkeit vor allem aufden unteren Ebenen verbessern. So wenig entwickeltIndonesien als Staat erscheint, so weit entwickelt istes als Kontinent: Binnenmarkt, Einheitliche Währung,eine Sprache als lingua franca, einheitliches Rechts-system etc. Sieht man die Aufgabe, inneren und äuße-ren Frieden zu stiften, als eine der Hauptfunktionendes Staates an und berechnet etwa die Zahl der durchpolitische Gewalt umgekommenen Bürger pro De-kade, erscheint die indonesische Einigungs- und Ent-wicklungsgeschichte verglichen mit der europäischenplötzlich sogar als gewaltarm.

Indonesien, failed state – successful continent? Einfailed state ist Indonesien nicht, ein rundum erfolg-reicher Kontinent aber natürlich auch nicht. Aber dasPotenzial für beides ist vorhanden. Es wird auch aufwestliche Politik ankommen, welchen Weg Indone-sien nehmen wird.