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Popmusik und Gnosis. Aus dem "Gesangbuch" einer wiederentdeckten Weltreligion Author(s): Bernd Schwarze Source: Acta Musicologica, Vol. 66, Fasc. 2 (Jul. - Dec., 1994), pp. 113-122 Published by: International Musicological Society Stable URL: http://www.jstor.org/stable/932766 . Accessed: 17/06/2014 05:25 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . International Musicological Society is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Acta Musicologica. http://www.jstor.org This content downloaded from 194.29.185.109 on Tue, 17 Jun 2014 05:25:18 AM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Popmusik und Gnosis. Aus dem "Gesangbuch" einer wiederentdeckten Weltreligion

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Popmusik und Gnosis. Aus dem "Gesangbuch" einer wiederentdeckten WeltreligionAuthor(s): Bernd SchwarzeSource: Acta Musicologica, Vol. 66, Fasc. 2 (Jul. - Dec., 1994), pp. 113-122Published by: International Musicological SocietyStable URL: http://www.jstor.org/stable/932766 .

Accessed: 17/06/2014 05:25

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Popmusik und Gnosis Aus dem "Gesangbuch" einer wiederentdeckten Weltreligion*

BERND SCHWARZE (HAMBURG)

"Ein Klarinettist unbestimmten Alters mit einem Hut, der sein Gesicht vollkommen ver- dunkelte, safi3 mit gekreuzten Beinen wie ein Schlangenbeschwtrer auf dem Gehsteig. Direkt vor ihm standen zwei aufziehbare Affen, der eine mit einem Tamburin, der andere mit einer Trommel. Wiihrend der eine schiittelte und der andere schlug und beide seltsame, priizise Synkopen erzeugten, improvisierte der Mann endlose kleine Variationen auf seinem In- strument, sein Kdrper schaukelte steif vor und zuriick und ahmte nachdrticklich den Rhythmus der Affen nach. Er spielte leicht und mit feinem Gesptir lebhafte, verschlungene Figuren in Moll, so als wiire er gliicklich, mit seinen mechanischen Freunden beisammen zu sein, eingeschlossen in dem Universum, das er geschaffen hatte. Es ging weiter und weiter, letzten Endes immer dasselbe, und dennoch: Je lUnger ich zuhdrte, desto schwererfiel es mir, mich loszureifJen. Innerhalb dieser Musik sein, in den Kreis ihrer Wiederholungen gezogen werden: vielleicht ist das ein Ort, wo man zuletzt verschwinden kdnnte".

In der New York-Trilogie des amerikanischen Autors Paul Auster sind dies die Eindriicke, die dem unfreiwillig zum Detektiv gewordenen Schriftsteller Quinn durch den Kopf gehen, wihrend er auf dem Weg in den Wahnsinn durch Man- hattan lauft. "Innerhalb dieser Musik sein, in den Kreis ihrer Wiederholungen gezogen werden: vielleicht ist das ein Ort, wo man zuletzt verschwinden k6innte." Der Klari- nettist hat sich mit einfachen technischen Apparaten eine Welt geschaffen. Seine Musik wird vom Betrachter als ein Ort erlebt, an dem man sein kann, wenn sonst gar nichts mehr geht. Kann Musik ein Ort sein? Wo sind wir, wenn wir Musik h6ren?

Wo sind wir, wenn wir Musik h6ren? Diese Frage stellt auch der Philosoph Peter Sloterdijk in seinem jiingsten Werk Weltfremdheit2. Um sie zu beantworten, zunachst allgemein und dann speziell in Hinsicht auf die populare Musik, be- darf es einiger Ausftihrungen zu dem geistesgeschichtlichen Hintergrund des philosophischen Gedankengebiudes von Peter Sloterdijk.

1. Gnosis: alte und wiederentdeckte Weltanschauung

Weltfremdheit. Jemanden als "weltfremd" zu bezeichnen, gilt nicht gerade als Kompliment. Weltfremd nennt man den Wissenschaftler, der sich mit spieleri- scher Leichtigkeit in komplizierten Theorien zurechtfindet, aber nicht weift, wie man eine Kaffeemaschine bedient. Weltfremd nennt man Kirchenfunktionire, die mit starrem Festhalten an alten Dogmen anstehende Probleml6sungen ver- hindern. Weltfremd nennt man neuerdings auch Menschen, die nicht nur ihren eigenen Vorteil suchen und mit Entscheidungen z6gern, die schlimme Konse-

Diesem Text liegt ein Vortrag auf der Arbeitstagung des Arbeitskreises Studium populirer Musik (ASPM): "Aktuelle Tendenzen in Rock/Pop/Jazz" (11.-13.Mirz 1994 in der Akademie Remscheid) zugrunde.

P. AUSTER, Stadt aus Glas, Die New York-Trilogie (Reinbek 1989), S. 132.

Vgl. P. SLOTERDIJK, Weltfremdheit (Frankfurt a.M. 1993), S. 294-325.

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quenzen fir andere haben k6nnten. Es scheint, als sei zum Ende des 20. Jahr- hunderts die Welt so endgiltig zu sich selbst gekommen, da ein verniinftig zu denkendes AuBterhalb nicht mehr zur Diskussion steht. Wer sich in der Welt fremd fuihlt, hat in ihr auch nichts verloren.

Sogar die Theologie hat diese Entwicklung gef6rdert. Friedrich Gogarten und Dietrich Bonhoeffer haben das Ende der Religion vorausgesagt, und zwar aus religionsimmanenten Griinden. Gott, der Mensch wurde und sich ganz auf die Bedingungen des Weltlichen einlieBt, braucht im Jenseits immer weniger ge- sucht zu werden. Konsequent folgten diesem Modell Dorothee S6lle und vor allem Herbert Braun, fuir den "Gott" nur noch eine Chiffre fuir Mitmenschlich- keit war. In einer Fernsehdokumentation uiber die Magier von Turin kommen- tiert das italienische Schriftstellerduo Fruttero und Lucentini als eine Art zyni- scher Chor die gegenwirtige Lage der Kirche: Jahrhundertelang sei sie ffir das Heilige und Jenseitige zustindig gewesen. Heute erinnere sie immer mehr an die Sozialversicherung.

Dag es in den vergangenen Jahrzehnten in unserer Gesellschaft eine starke Gegenwehr gegen ein radikales In-der-Welt-sein-mfissen gibt (Stichworte: eso- terische Bewegung, anhaltend wachsendes Interesse am Buddhismus), ist hin-

linglich bekannt. Interessant ist aber, dag sich neuerdings ausgerechnet Philo- sophen mit einem Phanomen beschaftigen, das zunachst nur fuir Altorientali- sten und die Dogmengeschichtler unter den Theologen von Belang war: mit der Gnosis, einer Weltanschauung, die sich in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung grogen Zuspruchs erfreute.

Fiir die Theologie war sie zunachst nichts anderes als eine hiretische Bewe- gung, ein Stolperstein auf dem Wege der Erfassung der rechten Lehre. Es war nicht schwer, die Gnosis zu diffamieren, denn es lagen bis zur Mitte dieses Jahrhunderts nur wenige authentische Zeugnisse der Bewegung vor. So be- griindete man seine Argumente gegen die antike Weisheitslehre mit den pole- mischen Sentenzen der Kirchenvater, welche die Gnosis bekimpften.

Die Schriftenfunde von Nag Hammadi am Nil (1945-1948) und ihre allmah- liche Edition zwangen die Fachleute, das Bild der Gnosis zu revidieren3. Sie

prisentiert sich nunmehr als eine vielgestaltige Mischreligion, die sich mytho- logischen Materials griechischer, jiidischer, iranischer, christlicher, indischer und fern6stlicher Herkunft bedient. Sie ist individualistisch, nicht institutions- gebunden und kreativ. "Es gibt ... keine gnostische 'Kirche' oder normgebende Theologie, keine gnostischen Glaubensrichtlinien oder ein Dogma von aus- schlieglicher Bedeutung. Der freien Darstellung und theologischen Spekulation sind keine Grenzen gesetzt, soweit sie im Rahmen der gnostischen Weltauffas- sung liegen"•.

Von besonderer Bedeutung in dieser gnostischen Weltauffassung ist nun das Moment der Weltfremdheit. Gnosis bedeutet w6rtlich "Wissen" oder "Erkenntnis". Gemeint ist ein Offenbarungswissen, das den Eingeweihten die

Fund und Edition der Texte von Nag Hammadi referiert ausfiihrlich K. RUDOLPH, Gnosis. Wesen und Geschichte einer spditantiken Religion (G6ttingen 21980), S. 40-58.

RUDOLPH, Gnosis, S. 60.

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Wahrheit uber Gott und die Welt vermittelt. Durchgingig ist eine gewisse Re- serve gegeniiber allem Welthaften. Ganz anders als in den orthodoxen jiidisch- christlichen Traditionen ist die Entstehung der Welt hier nicht als eine positive Setzung Gottes gedacht, sondern als eine Art Unfall innerhalb des g6ttlichen Prinzips. "Die Welt ist das Produkt einer g6ttlichen Tragik, einer Disharmonie im Gottesreich, eines schuldhaften Verhangnisses, in das der Mensch verwik- kelt ist und aus dem er befreit werden mu"g . Die Erschaffung der Welt geht auf eine gegeng6ttliche Gestalt, den Demiurgen zuriick. Sein Reich ist die Fin- sternis, wihrend der unbekannte eigentliche Gott in einer lichtdurchfluteten Vollkommenheit residiert. Der Mensch ist nur durch einen kleinen Teil seines Wesens an den Gott des Lichts gebunden. Es ist sein pneuma, sein Geist, der ihm als g6ttlicher Funke eingepflanzt ist.

Ein zentrales Motiv gnostischen Denkens ist die Erl6sung aus der unheilvol- len Verstrickung im Weltlichen. Den Kern der Erl6sung bildet die Erkenntnis (Gnosis) der wahren Verhaltnisse. Wer erleuchtet ist, weift um seine eigentliche Heimat in der g6ttlichen Lichtwelt und kann zur vorfindlichen Welt mit ihren Liusten und ihrem Leiden ein entspannt distanziertes Verhaltnis kultivieren. So kommt es zu zwei scheinbar grundverschiedenen gnostischen Lebensformen: die radikale Askese und die radikale Ekstase. Die erste Form ist hervorragend exemplifiziert in den sogenannten Anachoreten, den Wiistenheiligen, die welt- abgewandt als quasi personifizierte Antennen fuir g6ttlichen Empfang ihr Da- sein auf einer Siule stehend fristeten. Von der anderen Form berichtet Paulus im 1.Korintherbrief: Menschen, die sich der Erkenntnis des G6ttlichen riihmen und mit ihrem wolliistigen Treiben die Moral der christlichen Gemeinde ver- derben.

Weniger das klassische Gesamtbild des mythologischen Bestandes, als viel- mehr das Strukturprinzip gnostischer Weltzuriuckhaltung war es, was in der zweiten Hilfte unseres Jahrhunderts Denker wie Theodor W. Adorno, Hans Blumenberg, Odo Marquard und Peter Koslowski beschiftigte.

Peter Sloterdijk wies der Gnosis einen ganz besonderen Ort in der Kulturge- schichte zu, als er zusammen mit Thomas Macho 1991 unter dem Titel Weltrevo- lution der Seele eine zweibandige Textsammlung mit gnostischer Literatur

ver6ffentlichte. Gnosis ist fuir Sloterdijk etwas ganz anderes als eine Marginalie der Theologiegeschichte. Gnosis ist hier eine hochaktuelle Weltreligion und ein Grunddatum abendlindischen Denkens. Bewutt oder unbewuft ist Gnosis in den Gedanken von Martin Heidegger und C. G. Jung, in Texten von Rainer Maria Rilke und Hermann Hesse, von Emile Cioran und Simone Weil vorhanden, iiberall da, wo von Gegenwelten die Rede ist, wo die Erfuillung menschlicher Sehnsiichte im Welthaften nicht aufgeht. Wer Gnosis sucht, mugt nicht nach Agypten reisen. "Gefunden werden kann sie nur, wenn sie an ihrem 'Ort' gesucht wurde: bei den zerbrochenen Gefaiten der Subjektivitit mit ihrem Leiden 'an der Welt' und ihren unvergessenen Paradiesen. Dort liegt Nag

RUDOLPH, Gnosis, S. 75.

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Hammadi wirklich. ... Gnosis wird nur aus den heiBten Zentren aktueller

Selbsthaftigkeit heraus verstanden"6.

2. Wo sind wir, wenn wir Musik hdren?

An das Ende von Band I der Textsammlung haben Sloterdijk und Macho einige Noten plaziert: einen gregorianischen Choral, einen Ausschnitt aus den Gold-

berg-Variationen von Bach, die letzten Takte aus dem Schubert-Lied "Nacht und Triiume" und den Schlujt einer Komposition von Anton Webern'.

Bei Sloterdijk ist auch die Musik ein Phanomen, das Anteil am Weltlichen hat und doch nicht in der Welt aufgeht. In stiller Aufnahme der akustikologi- schen Popularmetaphysik Joachim-Ernst Berendts8 umreiftt der Autor von

Weltfremdheit zunichst die Besonderheit des H6rens in Unterscheidung zum

abendlindisch kulturprigenden Sinn des Sehens9. Wer schaut, geht zu einem

Objekt auf Distanz, H6ren ist dagegen nur als In-Sein denkbar. In-der-Musik- Sein ist aber noch nicht mit In-der-Welt-Sein identisch. Der F6tus im Mutterleib erlebt als Noch-nicht-zur-Welt-Gekommener eine Klangwelt. Die Erfahrung von Klang liegt entwicklungspsychologisch vor der Erfahrung von Welt. Das fotale Geh6r antizipiert nun die noch euphonisch gefilterte Aujtenwelt als eine kommende. Nach der Ankunft in der Totalitat des Lirms gibt es immer wieder das Bestreben, in die pranatale Harmonie zuriickzukehren. "Musik ware dem- nach immer schon die Verbindung zweier Strebungen, die sich wie dialektisch aufeinander bezogene Gebarden gegenseitig erzeugen. Die eine fuihrt aus einem

positiven Nichts, aus dem Weltlosen, Innerlichen, Schojthaften weltwirts in die Manifestation, die offene Szene, die Weltarena - die andere aus der Fiille, der Dissonanz, der Uberlastung zuriick ins Weltlose, Befreite, Verinnerlichte. Die Musik des Zur-Welt-Kommens ist ein Wille zur Macht als Klang, der sich auf der Linie eines von innen kommenden Kontinuums hervorbringt und der sich selbst will wie eine nichtunterlaitbare Lebensgebirde; die Musik des Rfickzugs hingegen strebt, nach dem Zerbrechen des Kontinuums, in den akosmischen Schwebezustand zuriick, in dem sich das verletzte Leben, als Unwille zur Macht, sammelt und heilt. Darum gibt es in der Primirgestik aller Musik einen Dualismus von Ausfahrt und Heimkehr. Dem ersten Pol entspricht ein adventi- sches Motiv, das ganz auf Exodus, Ert6nenwollen und Vortreten an die Rampe ausgelegt ist, dem zweiten ist ein nirvanischer Zug eigentiimlich, der auf Ein- kehr und Zuendekommen, auf Erl6schen und Ruhen zielt".

Zwei Strebungen gibt es nach Sloterdijk also in der Musik: eine, die zur Welt kommen will und eine, die die Welt flieht. Jeder der beiden Strebungen werden nun zwei Musikrichtungen zugeordnet. Dem adventischen Typus rechnet Slo-

P. SLOTERDIJK, Die wahre Irrlehre. Ober die Weltreligion der Weltlosigkeit, in: P. SLOTERDIJK - T. MACHO (Hg.), Weltrevolution der Seele. Ein Lese- und Arbeitsbuch der Gnosis von der Spiitantike bis zur Gegenwart, 2 Bde., (Miinchen/Ziirich 1991), Bd. 1, S. 17-54, 22.

Vgl. SLOTERDIJK - MACHO, Weltrevolution der Seele I, S. 473-478.

9 Vgl. J.-E. BERENDT, Nada Brahma. Die Welt ist Klang (Frankfurt a. Main 1983).

Vgl. SLOTERDIJK, Weltfremdheit, S. 294-307.

SLOTERDIJK, Weltfremdheit, S. 301f.

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terdijk die authentische Neue Musik und die Performance-Musik zu. In der Neuen Musik ist der kreative, also weltschaffende Akt des Komponierens von Bedeutung. Die musikalische Performance hingegen setzt auf ein aggressives, die H6rerwartungen stindig iiberschreitendes Sich-in-die-Welt-Drangen. Als Beispiele werden der Free Jazz und der "vulgdire Pop-Vitalismus" von Prince genannt. Zum nirvanischen Typus geh6ren die sogenannte Unterhaltungsmusik und die funktionelle Musik. In der Unterhaltungsmusik geht es um Zer- streuung, um Wiederholung und Harmonie. Ihre H6rer erwarten

"fiberraschungsfreie Tonwelten". Ahnlich wie in der H6rertypologie Adornos kommen bei Sloterdijk Klassik-Liebhaber nicht viel besser davon als Schlager- Fans. In der musikalischen "Psychotechnik" der funktionellen Musik schlieglich liegen weltfliuchtige Entspannung und "lichelnder Totalitarismus" eng beiein- ander".

Zusammenfassend zu Sloterdijk: Wer Musik h6rt, kann nie ganz in der Welt sein; entweder man geht auf die Welt zu oder man zieht sich aus ihr zuriick.

3. Wo sind wir, wenn wir Popmusik hdYren?

Auf der ASPM-Tagung "Zwischen 'Jesus Christ Superstar' und 'Sympathy for the Devil'. Rock/Pop/Jazz und christliche Religion" im Jahr 1990 gab es zwei Versuche der systematisierenden Wahrnehmung des Religi6sen in der populi- ren Musik. Rolf Tischers religionssoziologisch orientierte Anniherung fiber den Begriff des "postmodernen Synkretismus"12 konnte eine Reihe von Beobachtun- gen des gegenwartigen populiren Musikschaffens sortieren helfen. Die Schwi- che seines Ansatzes liegt m.E. aber darin, daBt der Oberbegriff dem theologisch versierten Beobachter geniigend M6glichkeiten gibt, sich orthodox aus der Af- fire zu ziehen und die Popkultur als ein hilfloses Collagewerk zur Verwertung unauthentischer, beliebiger religi6ser Traditionsreste zu beurteilen. Mein eige- ner Versuch auf jener Tagung, Rock- und Popmusik mit Hilfe eines von Paul Tillich geprigten, offen kulturtheologisch angelegten Instrumentariums zu be- urteilenl3, konnte sich des Einspruchs nicht erwehren, hier werde auch Gegen- liufiges christlich-theologisch vereinnahmt. Der Sinn meiner Ausfiihrungen fiber die Gnosis liegt in der Aussicht, in diesem weltanschaulichen Struktur- prinzip einen neuen Schlfissel zum Verstindnis der religi6sen Dimension der popularen Musik zu finden.

Wenn ich zunachst versuche, Sloterdijks musikalische Kategorien fuir den engeren Bereich der Rock- und Popmusik zu fibernehmen, so ergibt sich fuir

Vgl. SLOTERDIJK, Weltfremdheit, S. 303-305.

Vgl. R. TISCHER, Postmoderner Synkretismus am Beispiel von Prince und Madonna, in: H. ROSING (Hg.), Zwischen "Jesus Christ Superstar" und "Sympathy for the Devil". Rock/Pop/Jazz und christliche Religion (= Beitraige zur Popularmusikforschung 9/10), (Hamburg 1990), S. 17-31. Vgl. auch vom selben Autor die Aufs~itze Postmoderner Synkretismus im Bereich der Rock- und Popmusik und Postmoderner Synkretismus als Ankniipfungspunkt christlichen Glaubens? Uberlegungen zum Umgang mit der Pop-Religiositdt, in: P. BUBMANN - R. TISCHER (Hg.), Pop & Religion. Auf dem Wege zu einer neuen Volksfrbmmigkeit (Stuttgart 1992), S. 29-57; 174-186.

Vgl. B. SCHWARZE, Rockmusik als Thema der Theologie, in: H. ROSING (Hg.), Zwischen "Jesus Christ Superstar" und "Sympathy for the Devil", S. 5-16, sowie meinen Aufsatz "Everybody's Got A Hungry Heart ..." - Rockmusik und Theologie, in: BUBMANN - TISCHER (Hg.), Pop & Religion, S. 187-201.

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mich eine Spannung zwischen der Performance-Musik als adventischer Str6-

mung und der Unterhaltungsmusik als nirvanischem Gegenstiick. Meinen Be-

obachtungen zufolge gibt es kaum das eine oder das andere Modell in Reinkul- tuir. Der von Sloterdijk ins Feld geffihrte Prince demonstriert auf der Biihne zwar in der Tat eine Inszenierung des radikal-vitalistischen Zur-Welt-Kom- mens, doch weisen Songs wie "The Ladder""14 oder "Graffiti Bridge"15 sowohl im Text als auch in der musikalischen Gestaltung weltabgewandte Sehnsiichte auf. Das augen- und ohrenfalligste Beispiel fur die Spannung der Tendenzen finde ich bei einer Band aus Seattle, die ich beinahe verdachtigen m6chte, sie habe

Sloterdijk gelesen. Die Band heigt Nirvana, gleich dem Namen des Bereichs der vollkommenen

Seligkeit der buddhistischen Tradition. Der Name der 1993er Ver6ffentlichung "In Utero" fiigt sich in das Vokabular neo-gnostischer Prinatalmetaphorik ein. Das Cover ziert eine den Blick auf das Innenleben freigebende weibliche En-

gelsgestalt (s. Abb. S. 122). In der gnostischen Mythologie gibt es eine Fiille von

halbg6ttlichen Mittlergestalten, die im Rahmen einer Hierarchie besondere

Aufgaben erfuillen. In der Musik dieses Albums findet sich nun aber gar nichts Nirvanisches, sondern Performance-Musik in Reinkultur: laut, ekstatisch, schmutzig. Eben: Grunge. Besonders ergiebig ist der Text des Songs "Scentless Apprentice":

Like most babies smell like butter His smell smelled like no other He was born scentless and senseless He was born a scentless apprentice

Go away - get away, get away, get a-way

Every wet nurse refused to feed him Electrolytes smell like semen I promise not to sell your perfumed secrets There are countless formulas for pressing flowers

Go away - get away, get away, get a- way

I lie in the soil and fertilize mushrooms Leaking out gas fumes are made into perfume You can'tfire me because I quit Throw me in the fire and I won't throw a fit

Go away - get away, get away, get a-way

Am Anfang des Textes geht es um das Moment des Zur-Welt-Kommens. Dieser Geburt haftet aber etwas Merkwiirdiges an. Der Neugeborene kommt ge- ruchslos und besinnungslos zur Welt. Die Wortwahl latit auch die Deutung zu,

CD/LP/MC "Around The World In A Day", 1983.

CD/LP/MC "Graffiti Bridge", 1990.

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daBt seine Geburt sinnlos ist. Das Geborenwerden steht unter einem gewissen Vorbehaltl6.

Am Ende sieht sich das lyrische Ich im Mutterboden als Diinger ffir Pilze und als Produzent ffir Gase, die zu Parfum werden. Fluchtvorstellungen und Todessehnsucht kommen zusammen, bekrdiftigt durch die hinausgeschriene Re- frainzeile "Geh weg, hau ab, hau ab." ZerreiBtend ist bei Nirvana die Spannung zwischen aggressiv-kakophonischer Aufnahme der weltlichen Ldirmtotalitdit und der Sehnsucht nach weltferner Andersheit.

Wdihrend in den Songs von Nirvana das performative Moment dominiert, liegt der Schwerpunkt in vielen Beispielen aus dem Popbereich auf dem sedati- ven, weltfliichtigen Moment. Wohlklang und Wiederholung tr6sten und ver-

tr6sten die H6rerinnen und H6rer angesichts der oft unertriglichen Hdirte des Lebens. In den Texten spiegelt sich das beruhigende Moment hiufig in der

Idyllik romantischer Liebeleien. Spuren gnostischen Bewugtseins sind aber vor allem auch in Texten zu fin-

den, die ausdriicklich religi6se Fragen aufgreifen. Es gibt eine beachtliche An- zahl von Beispielen in der Pop-Lyrik, die die Suche nach erl6sender Erkenntnis von Wahrheit zum Thema haben. Vorgefertigte Antworten werden dabei abge- lehnt.

Der Katholik Sting ist immer wieder auf der Suche nach dem tieferen Sinn der Existenz. Der wertevermittelnden Institution steht er aber skeptisch gegen- iiber - "you could say I lost my belief in the holy church"17. Auch Peter Gabriel folgt nicht den Richtlinien organisierter Religion. Er prdisentiert sich als ein spirituell orientierter Mensch, ffir den die jiidisch-christliche Uberlieferung eine inspirie- rende Tradition unter vielen ist. Auf seinem letzten Album verleiht er in einem Song der Adam-und-Eva-Motivik eine besondere Bedeutung, indem er seine

pers6nlichen Beziehungserfahrungen in der biblischen Symbolik verdichtetl8. Als ein Suchender nach Erkenntnis erweist sich Van Morrison im Song

"Enlightenment"19. Bis zum Schlug bleibt die kritische Reserve, ob ihm die Er- leuchtung jemals zuteil wird. Fiir die irische Band U2 ist in "I Still Haven't Found What I'm Looking For"'20 trotz der christlichen Bekenntnisstrophe die Suche nach erfiillender Wahrheit noch nicht vollendet.

Manche Texter erweisen sich als Gnostiker, wenn sie religi6se Motive unter- schiedlichster Provenienzen aufnehmen und als Material zur Entfaltung eigener Vorstellungen verwenden. In dem "Gesangbuch der wiederentdeckten Weltre- ligion" hat die augenzwinkernde, wolliistige Verspieltheit eines Prince Rogers Nelson ebensoviel Platz wie der blasphemische Sarkasmus eines Heinz Rudolf Kunze:

Das Motiv des geruchlosen Siuglings und die gesamte Duftmotivik des Textes sind nach Auskunft eines Musikjournalisten offenbar PATRICK SUSKINDs Roman Das Parfum (Ziirich 1985) entnommen.

Textzeile aus "Prologue (If I Ever Lose My Faith In You)", auf CD/LP/MC "Ten Summoner's Tales", 1993.

Vgl. PETER GABRIEL, "Blood Of Eden", CD/LP/MC "Us", 1992.

CD/LP/MC "Enlightenment", 1990.

CD/LP/MC "The Joshua Tree", 1987.

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Ich hing am Kreuze im tiefen Schnee Mein Vaterfragte: Tut es sehr weh? Ach, halb so schlimm, Pa, sagte ich Nur wenn ich lache, sticht's21.

Wo sind wir, wenn wir Popmusik h6ren? An einem Ort in der Schwebe zwi- schen Welt und Weltlosigkeit, in einem kleinen Universum individualisierter und doch 6ffentlicher, mythen- und klngeproduzierender Kreativitdit. Es gibt aber auch einen ganz konkreten Ort des Popmusikh6rens, wo in einer besonde- ren Inszenierung die Gnosis abermals und in einer weiteren Dimension eine Rolle spielt: das Popkonzert. Von eindriicklicher Deutlichkeit sind hier Michael Jacksons Auftritte auf seiner letzten Tournee, der "Dangerous Tour".

Die enge Verwandtschaft von Popkonzerten und gottesdienstlichen Hand-

lungen ist bereits an anderer Stelle er6rtert worden22. Die Sakularisierung der afro-amerikanischen geistlichen Musik im Soul stellt die entscheidende Brucke zwischen kultischer Handlung des traditionellen Typs und dem Rock-Act dar. Im Jackson-Konzert wird der gottesdienstliche Ritus nun mit gnostischen Inhal- ten angereichert.

In der Gestalt Michael Jacksons betritt eine skurrile Variante einer gnosti- schen Erl6sergestalt die Biihne. Hier wird die Erscheinung eines g6ttlichen We- sens inszeniert und zelebriert23. Fiir die antike Gnosis ist ein schroffer Dualis- mus von Licht und Finsternis konstitutiv. Das G6ttliche ist im himmlischen Licht zu Hause, in der Welt herrscht Finsternis. Der g6ttliche Abgesandte im

Popkonzert steht mitten im gleiBtenden Licht, nur ein matter Abglanz fallt auf die Gemeinschaft der verziickt Anbetenden.

Anders als im christlichen Dogma ist der Erl6ser in der Gnosis kein wahrer Mensch. Die Menschwerdung geschieht nur scheinbar. Der Gesandte aus dem Licht kann nicht wirklich in die Bedingungen der finsteren Existenz eingehen. Mit dem Namen Michael Jacksons verbindet sich in der Popkultur ein so schrilles Profil der Weltfremdheit, daBt eine kultische Selbstinszenierung zum gnostischen Erl6ser nur allzu sinnfillig wird. Man denke an sein privates Neverland, an seine Scheu vor Beriuhrungen, an seine - zumindest unterstellte -

Unfahigkeit, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen, an seine mal kindliche, mal androgyne Ausstrahlung, an seinen irreal wirkenden Moonwalk, an seine quasi-posthumane Umgestaltung durch kosmetische Operationen. Wer nicht zur Welt kommen kann, muB wohl eine Gestalt aus der Lichtwelt sein. Am Ende des Konzerts verschwindet er, wie es sich fuir einen Gott des 20. Jahr- hunderts geh6rt: diisengetrieben, himmelwdirts24.

H.-R. KUNZE, "Fiir nichts und wieder nichts", CD/ LP/MC "Reine Nervensache", 1981.

Vgl. TISCHER, Postmoderner Synkretismus in der Rock- und Popmusik, a.a.O., S. 37ff.; B. SCHWARZE, "In der Flut des goldnen Lichts..." - Popstars als G6tter der Postmoderne, in: H.-W. DANNOWSKI ET AL. (Hg.), GBtter auf der Durchreise. Knotenpunkte des religiasen Verkehrs (= Kirche in der Stadt Bd.4) (Hamburg 1993), S. 13-39; zum Michael Jackson- Konzert vgl. B. SCHWARZE, "Close Encounters of Another Kind" - Rock- und Popmusik diesseits und jenseits des

Alltfiglichen, in: P. BUBMANN (Hg.), Menschenfreundliche Musik. Politische, therapeutische und religidse Aspekte des Musikerlebens (Giitersloh 1993), S. 114-127.

Vgl. SCHWARZE, "Close Encounters of Another Kind", a.a.O., S. 119.

Vgl. SCHWARZE, "In der Flut des goldnen Lichts... ", a.a.O., S. 22-28, 38f.

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Bernd Schwarze: Popmusik und Gnosis 121

4. Gnosis im Zeitalter digitaler Kommunikation

Paul Austers Klarinettist bendtigte zwei mechanische Affen, um sich sein klei- nes musikalisches Universum zu schaffen, das Erl6sungsdrama des Popkon- zerts braucht High-Tech-Apparaturen, um fiberzeugend zu wirken. H6rfunk, Fernsehen, Video und Compact Disc heijten die Medien, die die religi6sen Botschaften der Popmusik iibermitteln. Seit Marshall McLuhan wissen wir, dag sie nicht nur Ubermittler, sondern auch selbst Botschaften sind25. Die Medien sind Garanten einer jederzeit reproduzierbaren Prasenz des Anderen in unserer Wirklichkeit.

Vielleicht ist Gnosis die eigentliche Religion unseres Medienzeitalters. Bild- schirme, Lautsprecher und Rockbiihnen garantieren den Abstand der jenseiti- gen Welt von der diesseitigen. Auch wenn der Fernsehapparat mitten im Wohnzimmer steht, findet doch eine communio nicht statt. Man kann seine Phantasien in das prdisentierte Geschehen hineinlegen, man kann sein Leben durch das Erlebte verindern lassen. Wirklich beriuhren oder beeinflussen kann man das mediale Gegenuiber nicht - zumindest vorerst noch nicht.

Die Gnosis in den Kommunikationsstrukturen und in den kommunizierten Inhalten der Medienkultur entspricht dem manchmal verfluchten und doch immer wieder angestrebten Bediirfnis nach Individualitat und f6rdert es. Die mit Hilfe traditioneller Materialien selbsterdachten Erl6sungspoeme der Pop- musiker korrelieren mit der Unlust ihrer H6rerinnen und H6rer, sich Glaubens- iiberzeugungen institutionell verbindlich vermitteln zu lassen.

Die Hoffnung, dagt der technische Fortschritt die L6sung aller Probleme un- serer Welt bringen wird, wird heutzutage kaum noch ausgesprochen. Wdih- renddessen vollzieht sich der Wandel in den Kommmunikationstechnologien in atemberaubender Geschwindigkeit. Die optischen und akustischen Gegenwel- ten werden immer perfekter. Das Gesangbuch der wiederentdeckten Weltreli- gion ist in Wahrheit eine Online-Dokumentation.

25 Vgl. M. McLUHAN, Die magischen Kandile. Understanding Media (Frankfurt a.M. 1970).

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122 Bernd Schwarze: Popmusik und Gnosis

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