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E xtrem is´ mus(s)!

Powision #3 - Extrem is muss

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Page 1: Powision #3 - Extrem is muss

Extrem is´ mus(s)!

Page 2: Powision #3 - Extrem is muss

Was haben wir im Sommer 2006 nur

getan? Wir haben nach der Zukunft der

Universität gefragt, im Winter darauf nach der

Zukunft der Studierenden und diesesmal be-

schäftigt uns die Zukunft der Gesellschaft.

Extremismus wird immer ein viel dis-

kutiertes Thema sein, nicht zuletzt, weil die

gesellschaftliche Mitte die Landschaft politi-

scher Anschauungen festlegt. Sie setzt Gebiete

ins Zentrum, an den Rand oder außerhalb der

„Normalität“. Je nachdem, wo sich ein Gebiet

befindet, muss es sich rechtfertigen, vertei-

digen oder gegen allzu viel Nähe abgrenzen.

Diese Ausgabe richtet sich an den Fragen aus,

wo finden sich Extremismen, wie wird ihnen

begegnet und auf welche Art zeigen sie sich.

Der erste Artikel bezweifelt, dass die

„permanente Überwachung aller Europäer“

durch die Vorratsdatenspeicherung mit der

privaten Selbstbestimmung des Einzelnen in

Einklang steht. Im (unbeabsichtigten) Dialog

dazu steht der Artikel von Michael Klemm, der

nach einem neuen Verständnis von Freiheit

und Sicherheitsbedürfnis fragt.

Die Lage der „deutschen Nation“ offen-

bart einen „Extremismus der Mitte“. Ob als

Kontrast oder als Ausblick auf die zukünfti-

ge Masse der Gesellschaft, mag der Leser ent-

scheiden, jedenfalls hat Anna von Arnim genau

hingehört, wie die allgemein Verdächtigten

der extremen Rechten Jugendliche aus der

Mitte abholen wollen. Explizit kann dies bei

Christina Kaindl verfolgt werden. Sie zeigt, wie

rassistische Gewalt als Globalisierungskritik

gesehen werden kann.

Bevor die Frage in den Mittelpunkt

rückt, ob es auch jenseits von ideologischer

Fremdenfeindlichkeit zweifelhaften Umgang

mit Ausländern gibt, weist Michael Stephan

auf eine Debatte um den Extremismus ganz

anderer Art hin: die freie Gesellschaft wird

durch „Environmentalism“ torpediert.

Den staatliche Umgang mit Ausländern

- ein klassisch linkes Thema - stellt Markus

Henn in Frage und bringt einen ideell ne-

gierten Nationalstaat gegen faktisch negier-

te Menschen in Stellung. Das darauffolgende

Interview mit einem Exil-Iraner aus Leipzig

öffnet den Blick auf die ganz realen Probleme

dieser, an den Rand gedrückten, Menschen.

Die Artikel von Ken P. Kleemann

und Daniel Mützel erlauben noch ein-

mal eine differenzierte Sichtweise auf das

Extremismusproblem im Allgemeinen sowie

auf dessen islamisch-fundamentalistischen

Variante im Speziellen.

Das Magazin schließt mit einer

Betrachtung des politischen Extremismus

von links. Einerseits erfolgt ein allgemei-

ner Aufruf zu vermehrter Forschung über

das Phänomen, andererseits ein privates

Resümee der Ereignisse um den G8-Gipfel in

Heiligendamm.

Die stark gestiegene Leserzahl des letz-

ten Magazins läßt uns eine (stille) Diskussion

der Artikel vermuten, der wir Raum ge-

ben wollen. Wir nehmen gerne Leserbriefe

an und veröffentlichen sie zeitnah auf un-

serer Homepage. Wir rufen außerdem zur

Mitarbeit in unserer Projektgruppe auf. Es

sind keine speziellen Voraussetzungen nötig,

um Vortragsreihen und Workshops zu orga-

nisieren oder Magazine herauszugeben. Jeder

kann sich beteiligen und seine Ideen einbrin-

gen. Zukünftige Autoren sind ebenso willkom-

men.

Die Redaktion wünscht eine anregende

und kontroverse Lektüre!

Liebe Lesende,

2

Page 3: Powision #3 - Extrem is muss

Autorenverzeichnis

Extremismus und Überwachung von Dirk Weil

Wie bekämpft man jemanden, der sterben will? von Michael Klemm

Zur diskursiven Lage der „deutschen Nation“ von Elena Buck, Stefan Kausch, Gregor Wiedemann

Kinderlein kommet ... von Anna von Arnim

Grenzen lokaler Demokratie von Daniel Schmidt

Die Konstruktion des „Fremden“ von Susanna Karawanskij

Völkischer Antikapitalismus von Christina Kaindl

Ökoextremismus von Michael Stephan

Border, Nation: Deportation von Markus Henn

Die Aufschiebung der Abschiebung Interview mit einem Exil-Iraner

Nationalismus als Konstrukt von Julian-Christopher Marx

Kulturkampf, „Leitkültür“ oder Mekka in Deutschland oder was? von Ali Ertan Toprak

Beim Untergang der Titanic ... von Henryk M. Broder

LaLa-Land von Ken P. Kleemann

Postmoderne Verwirrspiele von Daniel Mützel

„Autonome Bewegungen“ von Michael Klemm

G8 – Großdemonstrationen und ihre Folgen von Richard Oertel

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

3

Page 4: Powision #3 - Extrem is muss

ANNA VON ARNIM hat an der Universität Leipzig Politik- und Kulturwissenschaft studiert.

HENRYK M. BRODER ist Journalist, Publizist und Schriftsteller. Er schreibt unter an-deren für den „Spiegel“ und den „Tagesspiegel“.

Das FORUM FÜR KRITISCHE RECHTSEXTREMISMUSFORSCHUNG (FKR) ist eine Gruppe engagier-ter StudentInnen und NachwuchswissenschaftlerInnen innerhalb des Vereins En-gagierte Wissenschaft e.V.

MARKUS HENN ist Sprecher des Münchner Flüchtlingsrats (MFR) und Student der Politikwissenschaft.

SUSANNA KARAWANSKIJ ist Projektkoordinatorin des DAPHNE-Forschungsprogramms RYPP am Institut für Politikwissenschaften an der Universität Leipzig.

CHRISTINA KAINDL promoviert derzeit in Politologie und arbeitet zu Rechtsextremis-mus, Subjektivierung im High-Tech-Kapitalismus und Kritischen Wissenschaften.

KEN P. KLEEMANN studiert Politikwissenschaft an der Universität Leipzig.

MICHAEL KLEMM studiert Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft an der Universität Leipzig und ist Mitglied im Leipziger Studentischer Arbeitskreis für Si-cherheitspolitik (LeipSich).

JULIAN-CHRISTOPHER MARX studiert Politikwissenschaft an der Universität Leipzig.

DANIEL MÜTZEL studiert Politikwissenschaft an der Universität Leipzig.

RICHARD OERTEL war Teilnehmer an den diesjährigen G8-Gipfelprotesten.

MICHAEL STEPHAN ist Student der Amerikanistik und Politikwissenschaft an der Universität Leipzig und derzeit an der Karlsuniversität in Prag.

DANIEL SCHMIDT ist Dozent im Bereich der Politischen Theorie am Institut für Poli-tikwissenschaft an der Universität Leipzig.

ALI ERTAN TOPRAK ist Generalsekretär der Alevitischen Gemeinde Deutschland e.V.

DIRK WEIL ist Mitarbeiter im Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung und studiert Politikwissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

AutorInnen

Page 5: Powision #3 - Extrem is muss

Wann immer man sich mit Fragen der

Überwachung beschäftigt, gilt es die Frage

zu beantworten, ob - und wenn ja - in wel-

cher Weise Überwachung unseren Alltag be-

einflusst. Schließlich, so die gängige Meinung,

habe man ja nichts zu verbergen. Michel

Foucault beschrieb in „Überwachen und

Strafen – Die Geburt des Gefängnisses“, wie

sich das Wissen um die eigene Überwachung

auf das Verhalten der Überwachten auswirkt:

Die Folge ist eine Selbstkonditionierung auf die

Maßstäbe der Überwacher.

Dass die These von der Selbstkonditi-

onierung greift, kann am eigenen Beispiel im

Alltag beobacht werden: Fährt man an eine

Ampel heran, die gerade auf „gelb“ gesprun-

gen ist, wird man im Regelfall noch beschleu-

nigen und durchfahren. Ist diese Ampel jedoch

mit einer Kamera überwacht, wird man eher

scharf bremsen.1

Akzeptiert man diesen Einfluss der

Überwachung, so lässt sich erwarten, dass

eine bewusste Überwachung bestehen-

de Normen verengt, da die so internalisier-

te Überwachung Verhaltensweisen unterbin-

det, die man unter anderen Umständen als

eventuell grenzwertig, aber noch akzepta-

bel angesehen hätte. Überspitzt ausgedrückt

schafft Überwachung neue „Extreme“ durch

Verengung dessen, was als Norm betrachtet

wird.

Dass es sich hierbei nicht um eine

schlichte Hypothese handelt, wird mit ei-

nem Blick in die Urteilsbegründung zum

Volkszählungsurteil deutlich. Das Bundes-

verfassungsgericht führte aus: „Wer unsi-

cher ist, ob abweichende Verhaltensweisen

jederzeit notiert und als Information dauer-

haft gespeichert, verwendet oder weiterge-

geben werden, wird versuchen, nicht durch

solche Verhaltensweisen aufzufallen. [...]

Dies würde nicht nur die individuellen

Entfaltungschancen des Einzelnen beein-

trächtigen, sondern auch das Gemeinwohl,

weil Selbstbestimmung eine elementare

Funktionsbedingung eines auf Handlungs-

und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger be-

gründeten freiheitlichen demokratischen

Gemeinwesens ist.“2

An dieser Feststellung müssen sich alle

Überwachungsmaßnahmen oder sonstige

Maßnahmen messen lassen, deren anfallende

Daten geeignet sind, zur Überwachung umge-

widmet zu werden.3

Eine Überwachungsmaßnahme, insbe-

sondere dann, wenn Sie in den Kernbereich

der privaten Lebensgestaltung eingreift,

darf nur angewendet werden, wenn ande-

re Maßnahmen nicht Erfolg versprechend

sind. Aufgrund der großen Eingriffstiefe ka-

men Überwachungsmaßnahmen bislang nur

in Ermittlungsverfahren zur Aufklärung

schwerer Kriminalität zur Anwendung. Die

Liste der Straftaten, bei denen beispielswei-

se die Telekommunikation überwacht wer-

den darf, umfasst im Wesentlichen schwe-

re Delikte wie z. B. Bildung einer terroristi-

schen Vereinigung, organisierte Kriminalität,

Rauschgiftdelikte und auch Mord. Weiterhin

sind diese Maßnahmen nur dann zulässig,

wenn ein Richter deren Anwendung im laufen-

den Verfahren genehmigt. Dem Richter fällt es

zu, die Persönlichkeitsrechte in Vertretung für

die verdächtigte Person zu wahren.4

Musste bei allen bislang verabschie-

deten Maßnahmen unabhängig von ihrer

Eingriffstiefe ein begründeter Anfangsverdacht

zur Anwendung vorliegen, so wird mit der

Vorratsdatenspeicherung eine neue Qualität

der Überwachung erreicht: Die permanente

Überwachung gilt für alle Europäer.

Dies kommt de facto einer Abkehr von

der Unschuldsvermutung hin zum perma-

nent erforderlichen „Unschuldsbeleg“ gleich.

Bundesinnenminister Schäuble bestätigte die-

se Annahme im Interview mit dem Stern, in

dem er deutlich machte, „dass der Grundsatz

der Unschuldsvermutung im Kampf gegen ter-

roristische Gefahren nicht gelten könne“.5

Extremismus und ÜberwachungPowision - We know what you did last summer ...

5

Page 6: Powision #3 - Extrem is muss

1 Vgl. http://hosting.zkm.de/ctrlspace/d/intro (letzter Zugriff: 27.06.07)2 BVerfGE 65, S. 433 Anm. d. Autors: Z. B. die Mautdatenerfassung des Toll-Collect-Systems.4 Anm. d. Autors: Leider zeigt die Studie des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht zur TKÜ, dass die Richter eine Prüfung der Anträge im Wesentlichen für überflüssig halten.5 Vgl. http://www.stern.de/politik/deutschland/:Wolfgang-Sch%E4uble-Im-Zweifel-Angeklagten/587226.html (letz-ter Zugriff: 27.06.07)6 Vgl. Michael, Donald N. (1971), Democratic Participation and Technological Planning, in: HarvardStudies in Technology and Society Information, Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, S. 292

Durch die Nutzung von Telefonie- und

Internetdiensten lassen sich auch ohne die

Überwachung des gesprochenen Wortes aus

Rufnummern und Anrufzeiten weitgehen-

de Informationen über Lebensrhythmus,

Kontakte und Interessen gewinnen (z. B.

Hotlines, Datinglines, Telefonseelsorge).

Durch die Verbreitung der Mobiltelefonie

werden diese Daten weiter individuali-

siert, da ein Mobiltelefon – im Gegensatz zu

Festnetzanschlüssen – im Regelfall nur von ei-

ner Person genutzt wird. Zudem ist eine räum-

liche Ortung des Mobilfunknutzers und somit

die Erstellung eines Bewegungsprofils mög-

lich.

Durch die Vorratsdatenspeicherung

ist die Erstellung solcher Profile künftig im

Nachhinein auf sechs Monate möglich, sollten

sich die Bundesländer mit ihren Forderungen

durchsetzen wäre es gar ein Jahr.

Eine Aufzählung der zu speichern-

den Daten würde den Rahmen des Artikels

sprengen, kurz zusammengefasst wird fol-

gendes protokolliert: Die Identität der Nutzer,

Rufnummer bzw. Kennung, Standort, Art der

genutzten Dienste und Geräte sowie Zeitpunkt

und Dauer der Nutzung.

Eine Speicherung der Inhaltsdaten ist

nicht vorgesehen, jedoch ist diese manch-

mal unvermeidlich, da bspw. bei SMS

und MMS keine Trennung von Inhalts-

und Protokolldaten erfolgt. Ebenso ist die

Speicherung der E-Mail Betreffzeilen vorge-

sehen, die häufig Rückschlüsse auf den Inhalt

der Kommunikation zulassen.

Damit einher geht eine direkte

Schwächung der europäischen Presse. Welcher

potentielle Informant wird künftig – die Cicero-

Affäre im Hinterkopf – das Risiko auf sich neh-

men, Pressevertreter auf Missstände aufmerk-

sam zu machen, wenn er damit rechnen muss,

dass ein einfacher Blick in die Protokolldateien

seine Identität offenbart?

Natürlich stellt sich die Frage, ob der

Bürger einem demokratischen Staat nicht so

weit vertrauen sollte, dass die erfassten Daten

nicht missbraucht werden. Das erfordert je-

doch eine Kontrolle der Überwacher, die nach

heutiger Diktion unnötig und hinderlich ist.

Dabei bedarf es keiner Diktatur oder

schlechter Menschen an Schlüsselpositionen,

um die gesammelten Daten und die geschaf-

fene Infrastruktur rechtsstaatswidrig zu nut-

zen. Es ist erstaunlich, welches Eigenleben

Organisationen und Apparate entwickeln kön-

nen. Donald N. Michael legte 1971 dar, dass

die Ausweitung von Befugnissen der eige-

nen Organisation zwar nicht das Ziel, aber

immanente Konsequenz der Existenz einer

Organisation ist.6

In der politischen Debatte entwick-

elte sich zudem eine Spirale rhetorischer

Antiterrorlogik, der zu entrinnen nahezu un-

möglich ist. Wer Fragen nach Vereinbarkeit

bestimmter Maßnahmen mit dem Grundgesetz

stellt, riskiert damit, als Terrorhelfer gebrand-

markt zu werden. Und welcher Politiker mag

schon riskieren, als allgemein bekanntes

Sicherheitsrisiko zu gelten? Es entbehrt nicht

einer gewissen Ironie, dass auf diese Weise

Menschen in die Nähe von Extremisten

gerückt werden, die sich gerade für den Erhalt

einer freiheitlichen Grundordnung einset-

zen…

Dennoch, es geht auch anders: Das kana-

dische Parlament hat im Frühjahr 2007 die

Verlängerung der dortigen Antiterrorgesetze

abgelehnt.

DIRK WEIL

6

Page 7: Powision #3 - Extrem is muss

Seit den versuchten Anschlägen auf

zwei Regionalzüge der Deutschen Bahn mittels

so genannter Kofferbomben im Juli 2006 ist

Deutschland nicht länger nur Rückzugsraum

sondern auch Operationsgebiet islamistischer

Terroristen geworden.1 Soviel nichts Neues.

Schäuble erzählt es uns jeden Tag. An seiner

Hand auch gleich Maßnahmen zur Abwehr der

terroristischen Gefahr: Luftsicherheitsgesetz,

Rasterfahndung, Vorratsdatenspeicherung,

Anti-Terror-Datei, Telekommunikationsü-

berwachung. Doch warum bräuchten wir

Instrumente zur Gefahrenabwehr, die zum

Teil weit im Vorfeld einer konkreten Gefahr

oder Straftat ansetzen?

Terroristen sind nicht geisteskrank

Obwohl uns Selbstmordattentäter ver-

rückt erscheinen, sind sie nicht geistes-

krank. Sie handeln vor dem Hintergrund ih-

rer Informationen und ihrer Normen sehr ra-

tional.2 Terroristen, die den Verlust des eige-

nen Lebens planmäßig in Kauf nehmen, glau-

ben, dass, während sie Recht haben, alle an-

deren im Unrecht sind. Die „Richtigkeit“ ih-

rer Sache berechtigt sie für die Unterstützung

derselben zu töten und zu verletzen. Sich ei-

ner terroristischen Gruppe anzuschließen ist

dabei eine endgültige Entscheidung und die-

jenigen, die sich zu einem solchen Schritt

entschließen, distanzieren sich moralisch

vom Rest der Gesellschaft. Dies engt ihren

Blick ein und macht sie gegenüber eher ra-

tionalen Sichtweisen blind. Das terroristi-

sche Selbstmordattentat schließlich wird zur

Belohnung für die Entbehrungen während

des harten Trainings, die Überwachung durch

die Gruppenmitglieder und die Angst vor

Entdeckung.3

Asymmetrisierung von Leben und Tod

Terroristische Selbstmordanschläge

stellen für uns eine irrationale Bedrohung

dar, weil islamistische Terroristen die ih-

rer Meinung nach fundamentale Schwäche

westlicher Gesellschaften entdeckt haben

und ausnutzen: Kriegerehre und bedingungs-

lose Opferbereitschaft sind uns nach zwei

Weltkriegen fremd.4 Niemand erwartet von

uns, dass wir unser Leben als Waffe einsetzen

und auch von niemand anderen erwarten wir,

derartiges zu tun oder würden Sie ein entführ-

tes, vollbesetztes Passagierflugzeug, das über

einer deutschen Großstadt zum Absturz ge-

bracht werden soll, abschießen lassen? Der is-

lamistische Terrorismus setzt hier an und for-

dert die postheroische Gesellschaft heraus in-

dem er ihr Verhältnis zu Leben und Tod asym-

metrisch gegen sie wendet: „Amerikaner lieben

das Leben, unsere Krieger lieben den Tod“.

Nichtstun ist (k)eine Lösung

Wie bekämpft man jemanden der ster-

ben will? Für Gesellschaften im Krieg fällt

die Antwort leicht: Japanische Kamikaze-

Piloten sollten möglichst abgeschossen wer-

den, bevor sie einen selbst in die Luft ja-

gen konnten. Israel, das unter terroristischen

Attentaten bisher am schlimmsten leidet,

macht es sich zur Sicherheitsdoktrin, potenzi-

elle palästinensische Selbstmordattentäter zu

verhaften oder im Zweifelsfall zu erschießen.

Heute aber befinden sich nur wenige westli-

che Gesellschaften im Krieg und trotzdem ist

die Bedrohung durch terroristische Anschläge,

z.B. mit entführten Passagierflugzeugen,

nicht länger Utopie. Wenn Schäuble nun wie-

der an einem neuen „Terrorismusbekämp-

fungsergänzungsgesetz“ schnürt, dann nicht,

weil er seit dem an ihm verübten Attentat

an einer unbehandelten posttraumatischen

Belastungsstörung leidet5, sondern weil er

eine Antwort auf die Frage zu finden sucht,

wie man jemanden bekämpft der sterben will.

Im wissenschaftlichen Diskurs steht er damit

einer zweiten Denkschule allein gegenüber,

die auf diese Frage einfach nur die Antwort

„heroische Gelassenheit“ gibt.6 Terroristen,

die den Verlust des eigenen Lebens planmäßig

in Kauf nehmen, könne man nicht aufhalten,

sondern müsse ihre Anschläge solange aussit-

Wie bekämpft man jemanden, der sterben will?

7

Page 8: Powision #3 - Extrem is muss

zen bis sich die Überlegenheit des demokrati-

schen Rechtsstaats quasi von selbst einstellt.

Natürlich kann der Zeitgeistanalytiker Münkler

keine Anzahl von ausgesessenen Anschlägen

auf einen demokratischen Rechtsstaat nen-

nen, die auch den letzten Terroristen von der

Überlegenheit desselben überzeugen. Muss er

auch nicht. Die Gefahr wird abgewehrt indem

sie ausgesessen wird: Terrorismus ein „Risiko“

wie Arbeitslosigkeit.

Nenn- und Symbolwert der

Sicherheitsgesetzgebung

Tatsache ist, dass jemand der sterben

will, mit den uns derzeit zur Verfügung ste-

henden Mitteln der Gefahrenabwehr un-

erkannt bleibt und die Bombe weit in die

Mitte der Gesellschaft trägt. Soll aber

Gefahrenabwehr effektiv bleiben, können wir

vor der Transnationalisierung solcher, ver-

meintlich „irrationaler“ Bedrohungen nicht

so tun, als könne man diese schadlos aussit-

zen. Um die Menschen in ihrem Vertrauen zu

dem Gemeinwesen, in dem sie leben, und sei-

ne Institutionen zu stärken, ist das Polizei-

und Ordnungsrecht deshalb wieder ver-

stärkt zum Instrument gefahrenabwehren-

der Politik geworden.7 Luftsicherheitsgesetz,

Traumata die Urteilsfähigkeit des Ministers?“, in: Telepolis, 10.04.2007, <http://www.heise.de/tp/r4/artikel/25/25046/1.html>6 Münkler, Herfried: „Psychische und ökonomische Ermattung“, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 145, Seite 13 (27.05.2006)7 Klemm, Michael: Polizeirecht und Verfassung. Einschränkungen der Grundrechte durch das sächsische Polizeigesetz, 2006 (Seminararbeit)8 Preuß, Torsten: Symbolische Politik. Über die Wirksamkeit ausgewählter deutscher Sicherheitsgesetze. Ergänzt um diskurstheoretische Überlegungen, 2007 (Magisterarbeit)

Passgesetzgebung, Vorratsdatenspeicherung,

Videoüberwachung und Anti-Terror-Datei ha-

ben nicht den Sinn, den Sicherheitsbehörden

ihre Arbeit so effizient wie möglich zu ma-

chen, sondern effektive Gefahrenabwehr un-

ter Wahrung der Rechte der Betroffenen und

Dritter zu gewährleisten. Gelegentlich wird

behauptet, dass diese Gesetze nicht dazu ge-

eignet seien, die angestrebten sicherheits-

politischen Ziele zu erreichen und symboli-

sche Politik seien.8 Wenn aber die Antwort

auf die Dekonstruktion von Symbolen durch

den Terrorismus tatsächlich die Konstruktion

weiterer Symbole ist, besitzt auch dies eine

Funktion: Symbole stellen ein Folie dar, politi-

sche Grundorientierungen, Werte und Normen

zu vermitteln und Politik in ihrer Komplexität

erfahrbar zu machen.

Richtig ist, dass Polizei und

Nachrichtendienste den Bürgern in kom-

plexen Gesellschaften mit ihren vielfälti-

gen Bedrohungen keine hundertprozentige

Sicherheit vor Anschlägen garantieren kön-

nen. Aber man kann sie davon überzeugen,

dass sie ihr Bestes tun werden um Anschläge

zu verhindern und dass sie dafür über alle ge-

eigneten, erforderlichen und angemessenen

Möglichkeiten verfügen.

1 Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2006 (Vorabfassung), S. 1932 Elwert, Georg: Weder irrational noch traditionalis-tisch. Charismatische Mobilisierung und Gewaltmärkte als Basis der Attentäter des 11. September, in: Clausen/Geenen/Macamo (Hrsg.), Entsetzliche soziale Prozesse. Theorie und Empirie der Katastrophen, Münster 2003, S. 953 Milton, Rod: The psychology of terrorism, in: Australian Defence Health Services, 7 (2006), S. 624 Böhm, Andrea: „Kein Held, nirgendwo“, in: Die Zeit, 29.06.2006, Nr. 275 Mühlbauer, Peter: „Schäubles Symptome. Trüben

MICHAEL KLEMM

8

Page 9: Powision #3 - Extrem is muss

„Wir haben es […] mit einer gesellschaft-

lichen Entwicklung zu tun, die zwar kei-

ne Wiederholung des Dritten Reiches bedeu-

ten wird, die aber eine Gesellschaft zur Folge

haben könnte, die autoritär, gefährlich und

für viele Menschen bedrohlich ist.“1 Die be-

sorgniserregenden Entwicklungen am ‚extre-

men’ rechten Rand der Gesellschaft in den

letzten Jahren (Wahlerfolge rechter Parteien,

Zunahme rechtsextrem motivierter Straftaten

usw.) dürfen den Blick nicht dafür verstellen,

dass es v.a. die gesellschaftliche „Mitte“ ist, die

diskursiv verhandelt, welche Positionen zur-

zeit als ‚extrem’, und welche als ‚normal’ oder

‚demokratisch’ gelten. Diskurse verstehen wir

dabei als „Flüsse von Wissen durch die Zeit“2,

welche als Träger von aktuell gültigem Wissen

Denk- und Handlungsfelder mitbestimmen3

und somit Macht-Wirkungen ausüben. Diese

Diskurse konstituieren Sagbarkeits- und

Möglichkeitsfelder, in denen individuelle ge-

sellschaftspolitische Einstellungen mitprodu-

ziert werden4. Eine Analyse und Kritik ‚rech-

ter Extreme’ muss so auch immer Diskurse der

‚Mitte’ in den Blick nehmen, um Verbindungen

und Anschlussstellen zwischen beiden, ver-

meintlich klar abgrenzbaren Bereichen auf-

zeigen.

Die Renaissance des Patriotismus

„Wir sind Deutschland. Ja zu Schwarz-

Rot-Gold! Ja zu Deutschland-Fahnen am

Auto! Ja zu deutschem Bier! Ja zur deutschen

Frau, die lächelnd zuschaut!“5 war in der

Bild-Zeitung während der Fußball-WM 2006

in Deutschland zu lesen. Diese und unzähli-

ge weitere mediale Selbstbeweihräucherungen

der wieder entdeckten „Wir“-Gruppe kön-

nen als vorläufiger Höhepunkt eines „Neuen

Patriotismus“ gelten, der seit dem Sommer

2006 endgültig massentauglich gewor-

den zu sein scheint. Nachdem „Wir“ schon

Exportweltmeister, Papst und Oscar sind, kön-

nen wir auch endlich wieder „Wir Deutschen“6

sein. Dabei verwundert es nur auf den ersten

Blick, dass in den Augen der Öffentlichkeit kol-

lektives Glücksgefühl und Normalisierung des

deutschen Selbstbildes sich so überraschend

und unerwartet Bahn brachen. Tatsächlich lau-

fen seit Jahren diskursive Prozesse in Richtung

einer Modernisierung des „Deutschtums“.

Beispielhaft hierfür stehen groß angelegte me-

diale Imagekampagnen wie die 2002 gegrün-

deten Initiativen „Deutschland packt’s an“ und

„Deutschland TM“, letztere mit dem selbst ge-

steckten Ziel der Schaffung und Unterstützung

von zweierlei Identitäten: einer deutschen

„Corporate Identity“ für die Unternehmen und

einer nationalen Identität für jeden Einzelnen.

In vorbildlicher Arbeitsteilung haben die

Kampagnen „Deutschland – Land der Ideen“

und „Du bist Deutschland“ vor der Fußball-WM

diese die Identitätsbildung unterstützenden

Aufgaben übernommen.7 Ein Positionspapier

der Konrad-Adenauer-Stiftung prognostizierte

bereits im Jahre 2004: „Patriotismus ist frei-

lich kein seelischer Dauerzustand, er zeigt sich

dann, wenn er (heraus-)gefordert wird. Hier

ist an vieles an natürlichen [sic!] Emotionen

zurückgedrängt worden“ 8. Es zeige sich dar-

über hinaus „das Bedürfnis, auch kollekti-

ve Emotionen öffentlich artikulieren zu dür-

fen. Es mehren sich die Anzeichen, dass die-

ses Bedürfnis zunimmt“. Inzwischen „darf“

man, und tut es auch nach Kräften. Überaus

positive Bezüge auf den Patriotismus und die

Nation finden sich auf allen Diskursebenen,

vom Alltag über die Medien bis Politik und

Wissenschaft.

Migrationsdebatten

„Zuwanderung muss im ökonomi-

schen und integrationspolitischen Interesse

Deutschlands bewusst und transparent ge-

steuert werden.“9 Für den nationalen

Migrationsdiskurs lassen sich zwei proble-

matische Merkmale festhalten: Erstens wer-

den Einwanderung und Einbürgerung auf po-

litischer Ebene vorwiegend anhand ökono-

mischer Verwertbarkeitskriterien diskutiert.

Hierbei werden verschiedene Anforderungen

an MigrantInnen formuliert, z.B. hinsicht-

Zur diskursiven Lage der „deut-schen Nation“

9

Page 10: Powision #3 - Extrem is muss

lich Sprachbeherrschung, Kenntnissen „deut-

scher Kultur“ und Geschichte und wirtschaft-

licher Selbstständigkeit. Diese Hegemonie er-

langenden Diskurspositionen materialisieren

sich schließlich in behördlichen Praktiken und

der staatlichen Gesetzgebung. Vergab schon

die 2000 von Rot-Grün eingeführte Greencard-

Regelung Aufenthaltsgenehmigungen nur

für hoch bezahlte Tätigkeiten im IT-Sektor,

so sieht auch die aktuelle Reform des

Zuwanderungsrechts Einbürgerungen nur

bei wirtschaftlicher Selbstständigkeit der

EinbürgerungskandidatIn vor. Zweitens wer-

den durch die im Migrationsdiskurs verwen-

dete Sprache Kategorien geschaffen. Man

spricht z.B. von „Ausländern“, „Flüchtlingen“,

„Asylanten“, „Muslimen“ oder „Türken“.

Dabei mitgedacht: Deren Abgrenzung zur

Gruppe der „Deutschen“. Den bezeichneten

Individuen und Gruppen werden wiederum

vermeintliche Eigenschaften und erwartba-

re Verhaltensmuster zugeschrieben, oft mit-

tels stereotyper Bilder und Symboliken (der

„Fremde“, die „Exotin“, das „passive Opfer“ etc.).

Allein ihre Bezeichnung mit solchen Begriffen

markiert sie als „unnormal“. Deutsche hinge-

gen besitzen das Privileg des Unmarkiertseins

und gelten so als implizite Norm. Hiermit ver-

bindet sich einerseits eine indirekte Forderung

nach kultureller Assimilation, andererseits

führt „das Wissen über die anderen […] dazu,

dass die Grenzen zwischen ‚uns’ und ‚ihnen’

im Alltag immer aufs Neue aufgerichtet wer-

den; der Unterschied wird ständig reprodu-

ziert“10.

Orientierungshilfe Leitkultur

Fast ausschließlich in Bezug

auf die türkische oder muslimische

Minderheit in Deutschland findet der

Begriff „Parallelgesellschaft“ vor allem auf

den Diskursebenen Medien, Politik und

Wissenschaft Anwendung. Unabhängig von

seinem empirischen Gehalt11 produziert sei-

ne Verwendung eine mögliche Bedrohung der

deutschen Mehrheitsgesellschaft durch ein

Kollektiv des Fremden. Sicher nicht zufällig er-

fährt der Begriff der „deutschen Leitkultur“ im

Kontrast zur „Parallelgesellschaft“ seit gerau-

mer Zeit eine deutliche Aufwertung. Löste die

Rede von einer „deutschen Leitkultur“ vor eini-

gen Jahren noch heftige Gegenreaktionen aus,

so findet sich der Begriff mittlerweile im neu-

en Entwurf des CDU-Grundsatzprogramms,

definiert als „klares Bekenntnis zu uns selbst

als einer durch Geschichte und Kultur gepräg-

ten Gemeinschaft“12. An weiteren Definitionen

fürs „Deutschsein“ versuchen sich seit etwa ei-

nem Jahr die Einwanderungsfragebögen der

Länder Hessen und Baden-Württemberg. Hier

schlägt der einbürgerungswilligen KandidatIn

anhand von Fragenkatalogen die gesam-

te Klaviatur ‚unserer’ Vorurteile entgegen:

Einbürgerungswillige sind potenziell antide-

mokratisch, TerroristInnen, homophob, unter-

drücken Frauen und neigen zu Polygamie und

Ehrenmord. Die Deutsche dagegen zeichnet

sich durch Toleranz, Demokratie-Begeisterung

und vor allem eine „lebendige Geistes- und

Kulturgeschichte“ aus13: Der Verweis auf

Goethe und Schiller darf selbstverständlich

auch hier nicht fehlen. Neben der permanen-

ten Kennzeichnung von Unterschieden zu ei-

nem vermeintlichen „Deutschsein“ sind es vor

allem exklusiv wirkende Definitionsinhalte

des Leitkulturbegriffes (z.B. Deutschland als

Geschichtsgemeinschaft und „Teil der euro-

päischen Völkerfamilie“12), die nicht nur eine

nachhaltige Integration erschweren, sondern

offensichtlichen Anschluss an rechtsextreme

Positionen bieten.

Extremismus der Mitte?

Effekt dieser drei Diskursstränge ist eine

Verstärkung der Kategorien „Wir Deutsche“ in

Abgrenzung zu „den Anderen“. Der angeblich

harmlose „Neue Patriotismus“ schaufelt neue

und befestigt alte Gräben zwischen den sprach-

lich und symbolisch vermeintlich klar abgrenz-

baren Kollektiven; der Migrationsdiskurs spie-

gelt ‚unser’ Bild von ‚den’ AusländerInnen wi-

der und weist ihnen ihre Rollen zu; die Debatte

Buchveröffentlichung des

Forums für kritische

Rechtsextremismusfor-

schung:

Der Band versammelt

Beiträge zweier Vortrags-

reihen des FKR zu Dif-

fusions- und Austausch-

prozessen zwischen

„Mitte“ und „Extremen“.

Preis: 8,50€

Bezugsmöglichkeit:www.engagiertewissenschaft.de

10

Page 11: Powision #3 - Extrem is muss

um eine Leitkultur letztendlich produziert

verschiedene Ideen vom ‚Deutschsein’ die von

Verfassungsloyalität bis zu „völkischen […]

Ideologien“14 reichen. Sind die beschriebenen

Diskurspositionen schon für sich allein bedenk-

lich, so besteht ihre viel größere Gefahr in der

Verschränkung mit anderen Diskurssträngen.

Solche Verschränkungen können brisan-

te Wirkungen hervorbringen. Bis Anfang der

90er Jahre beispielsweise dominierten in

der Migrationsdebatte Neid provozierende

Kostenargumentationen, die das Pogromklima

für Rostock und Hoyerswerda mit zu produzie-

ren halfen. Nach der faktischen Abschaffung

des Asylrechts 1993 verlagerte sich der

Schwerpunkt auf „eine angebliche Bedrohung

Deutscher durch kriminelle Ausländer“1. Seit

dem 11. September 2001 schließlich wird

Einwanderung vor allem im Zusammenhang

mit innerer Sicherheit und Terrorismus dis-

kutiert. Durch die Migrationsdebatten und

-politiken wird ein Staatsrassismus15 verhan-

delt und exekutiert, der nicht nur deutschland-

weit, sondern EU- und weltweit Menschen

ausschließt: an den Grenzen Deutschlands,

vor allem an den Rändern der sog. „Festung

Europa“ und innerhalb weltweiter Flüchtlings-

und Migrationsregime.

Ein weiteres Beispiel: „Die Deutschen

haben aus der Geschichte gelernt“13 – aber

scheinbar nur, um sie endlich vergessen zu

können: „Hitler und der Holocaust schie-

nen noch immer stärker als die deutsche

Gegenwart. Das ist vorbei. Letzte Zweifel

dürften im Fahnenmeer während der Fußball-

WM im vergangenen Sommer untergegangen

sein“16. Mit dem Patriotismusdiskurs verknüp-

fen sich Debatten um Vergangenheitsbewälti-

gung und Erinnerungskultur. Insgesamt sind

als Trend für die politischen Diskurse jenseits

und in Verbindung mit dem angesprochenen

„Patriotismus“-Thema in der Bundesrepublik

vielfältige Normalisierungstendenzen zu

beobachten, die Bezug nehmend auf die

Intention bestimmter politischer Akteure

als erfolgreiche Salamitaktik zu beschrei-

ben sind. Anschlussstellen nach rechts in

Diskurselementen der Mitte treten hier offen zu

Tage. Rechtsextremismus erscheint aus dieser

Sicht als „Effekt von Diskursverschränkungen

[…] wobei das im engeren Sinne rassistische

Wissen nur als ein Element einer diskursiven

Konstellation anzusehen ist und nur als die-

ses eine Element Wirkung erzielen kann, wenn

es sich mit anderen Diskursen verschränkt“1.

Seine Bekämpfung muss somit mit einer

„Mikropolitik der Kritik“ gesellschaftlicher

Verhältnisse beginnen, die solche Rassismen,

Essentialismen und Naturalisierungen konse-

quent aufdeckt4.

1 Jäger, Siegfried (2001): Soziale Probleme und rechtspo-pulistische Demagogie, in: Heilig / Pau (Hrsg.): Für eine tolerante Gesellschaft – gegen Rechtsextremismus und Rassismus, Berlin.2 Jäger, Siegfried (2004): Kritische Diskursanalyse, Münster.3 Wodak, Ruth et. al. (1998): Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, Frankfurt/Main.4 Vgl. dazu ausführlicher Buck, Elena/Kausch, Stefan/Rodatz, Mathias (2007): „Einleitung“, in: „Diffusionen. Der Kleine Grenzverkehr zwischen Neuer Rechter, Mitte und Extremen, Dresden.5 http://www.bild.t-online.de/BTO/news/aktuell/2006/06/08/kommentar/kommentar.html, 07.06.2007, 17:41.6 Matussek, Matthias (2006): Wir Deutschen. Warum die anderen uns gern haben können, Frankfurt.7 Langenscheidt, Florian (2006): Das Beste an Deutschland. 250 Gründe, unser Land heute zu lieben, Wiesbaden.8 Buchstab / Gauger (2004): Was die Gesellschaft zusam-menhält - Plädoyer für einen modernen Patriotismus.

9 BMI (2007): http://www.zuwanderung.de/3_polit-ziele.html, 08.06.2007, 21:04.10 Terkessidis, Mark (2007): Die Banalität des Rassismus, in: FKR (Hrsg.): Diffusionen, Dresden.11 Gegen eine empirische Relevanz des Begriffs: Janßen / Polat (2006): Soziale Netzwerke türkischer Migrantinnen und Migranten, in: APuZ 1-2/2006.12 CDU (2007): Grundsätze für Deutschland. Beschluss der Grundsatzprogramm-Kommission.13 Hessisches Ministerium des Innern (2006): Leitfaden Wissen & Werte in Deutschland und Europa.14 Hentges, Gudrun (2007): Themen der Rechten – Themen der Mitte. Das Plädoyer für eine deutsche Leitkultur als Lehrstück, in: FKR (Hrsg.): Diffusionen, Dresden.15 Zum Begriff des Staatsrassismus vgl. ausführlicher: Foucault, Michel (2001): In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt/Main; Stingelin, Martin (2003): Biopolitik und Rassismus, Frankfurt/Main.16 Der Spiegel (2007): Die Erfindung der Deutschen. Wie wir wurden was wir sind, Ausgabe 4/2007.

ELENA BUCK, STEFAN KAUSCH

UND GREGOR WIEDEMANN

FORUM FÜR KRITISCHE RECHTSEXTREMISMUSFORSCHUNG

11

Page 12: Powision #3 - Extrem is muss

„Fressen, saufen, vor der Glotze

Videos schauen, ‚Bravo’ und ‚Bild’ lesen,

(...) das schnelle Auto und der Joint mal so

eben zwischendurch“1 - so skizziert der JN

Bundesvorstand sein Bild von der heutigen

Jugend und ruft dazu auf, durch den Eintritt zu

den „Jungen Nationaldemokraten“ dem Leben

wieder einen Sinn und der Freizeit wieder ei-

nen Inhalt zu geben. Die Perspektivlosigkeit

und Zukunftsängste der jugendlichen

„Weltveränderer“ gelte es bei der JN in einen

„bewussten Widerstand“ umzuformen.

Nichts leichter als das. Man müs-

se die jungen Menschen nur in ihrer ei-

genen „Lebenswelt“ abholen und bei ih-

ren „konkreten Problemfeldern“ ansetzen.

Der JN-Bundesvorsitzende Stefan Rochow

zählt einige der „richtigen“ Themen auf:

Jugendarbeitslosigkeit, Ausbildungsmangel,

Drogen, „Veramerikanisierung (...) unse-

rer Kultur“, Schulprobleme, mangelnde

Wertvermittlung durch die Regierung. Den

Jugendlichen soll ein „geschützter Raum“ gebo-

ten werden, für Differenzen mit LehrerInnen,

Eltern und ihre sexuellen Erfahrungen fin-

den sie beim NPD-Bürgerbüro in Dresden

Gesprächspartner.

Die NPD und ihre Jugendorganisation

JN wollen breitgefächert aufstellen und jedem

Jugendlichen Perspektiven eröffnen. Die Jugend

kann wählen zwischen Musikveranstaltungen,

Demonstrationen, Wanderungen und

Singekreisen, Museumsbesuchen, Schulungs-

veranstaltungen, Vorträgen, politischen

Kampagnen und Mahnwachen. Die rechts-

extremen Parteien vereinnahmen (Sport-)

Vereine, dominieren öffentliche Jugendklubs

und Diskos, sind in Kreisschulelternräten prä-

sent, zeigen sich als Sprachrohr der Sorgen der

jungen Menschen und als Schutzschild vor der

Staatsregierung- harsche Kritik am deutschen

Staat? Nach der neuen Strategie bemühen sich

integre Persönlichkeiten vor Ort um ein mög-

lichst bürgerliches Image und moderat formu-

lierte Programmatiken. Die rechte Ideologie

transportieren sie über tages- und sozialpoli-

tische sowie regionale Sujets.

Stefan Rochow akzentuiert die

Jugendpflege der JN in Sachsen als primä-

res Handlungsfeld. Aufgrund des Eintritts

der NPD in den sächsischen Landtag 2004

distanziere man sich von Aktionismus

und Demonstrationen. Neben Pfingstlager

und Naturpfadwanderungen betont er die

Bedeutung von Schulungen um eine „kla-

re Weltanschauung zu vermitteln“ Der

Kreisverband in der Sächsischen Schweiz

wurde im Mai 2005 mit der Absicht gegründet,

„im Frontgebiet“ eine „Kaderschmiede“ zu eta-

blieren, die als „Schulungsplattform“ den jun-

gen Menschen diene und „für [den] Wahlantritt

2009“ vorbereite.2 Die „Schulungsblöcke“

Rhetorik, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

und Versammlungsrecht werden mit jeweils

einem „Wissenstest“ abgeschlossen; so würden

sich die Jugendlichen bewusst mit der Politik

der JN auseinandersetzen.

Bei der vergangenen „U18-Wahl“ vo-

tierten 16,3% der unter Achtzehnjährigen für

die NPD und kürten sie so zur drittstärksten

Partei.3 Auch bei der Bundestagswahl 2005

stimmten 15% der männlichen Jungwähler

in Ostdeutschland für die rechte Partei.4

Der Mobilisierungserfolg ist laut Jens

Steinbach und Thomas Rackow auf das brei-

te Freizeitangebot der NPD und JN zurück-

zuführen. Die Jugendpflege positioniere sich

bewusst im vorpolitischen Raum, von dem

aus der Nationalismus und die Idee einer

„Volksgemeinschaft“ mehr Anziehungskraft

auf den Jugendlichen entfalten könne. In

der Sächsischen Schweiz nehmen die jungen

Menschen die Angebote der Arbeitsgemein-

schaften „Familie“, „Brauchtum“, „Soldaten

erzählen“ und „Malen und Basteln“ wahr.

Hinter den historisch- kulturellem Programm

verbirgt sich meist eine Thematisierung des

Nationalsozialismus und des Mittelalters

(Besuch von Soldatengräbern und ehema-

ligen NS-Bauten, Zeitzeugengespräche).

Kinderlein kommet ...Im Gespräch mit NPD und JN-Politikern über die Ju-

gendpolitik in Sachsen

12

Page 13: Powision #3 - Extrem is muss

Am Ostersonnabend 2006 lud die NPD

zum „Wandern auf germanischem Boden“

ein.5 Thomas Rackow erläutert, dass den

Jugendlichen hierbei der Gemeinschaftsgeist,

die Heimatverbundenheit und die Geborgenheit

innerhalb der rechten Gemeinschaft wichtig

sei. Auch die Musikveranstaltungen als sub-

kulturelles Angebot locken die Jugendlichen

zur JN und NPD: „Musik ist ein hervorragen-

des Mittel politische Inhalte zu vermitteln“

konkretisiert Stefan Rochow. Im Anschluss

an Schulungstage und historische Vorträge

bietet er daher stets Musikgruppen und

Liedermacher.

Bleibt die Frage, wie die Metamorphose

von der Sympathie der jungen Menschen

für die Freizeitangebote in eine Empathie

für die politische Ideologie der rechten

Organisationen verläuft. Uwe Leichsenring ist

der Überzeugung, dass ein „Grundkonsens mit

der Politik“ bei jedem von Anfang an vorhan-

den sei und sich dieser nur unterschiedlich in-

tensiv ausgestalte.

Ihm widersprechen Jens Steinbach

und Thomas Rackow: Die Jugend interessie-

re sich nur für das Feiern und den Spaß im

Freundeskreis. Stefan Rochow entwirft ein

anderes, differenzierteres Bild. Demnach kä-

men die Achtzehnjährigen „ganz klar aus

politischen Erwägungen“ und „ganz be-

wusst“ zur JN. Hingegen würden sich die

Vierzehnjährigen noch nicht für Politik in-

teressieren und „natürlich erst mal durch

den Gemeinschaftsaspekt“ zur JN finden.

Bis zu ihrem 21. Lebensjahr, dem Ende ihrer

„Entwicklungsphase“, wolle die JN ihnen „ein

Weltbild (...) vermitteln, das sie ebend auch sel-

ber festigt“. Dieser Schritt von der Freizeit zur

Politik ist laut dem JN-Bundesvorsitzenden

ein „sehr sehr fließender Übergang“. Zudem

stehe auch der Kameradschaftsaspekt in einer

engen Verbindung zur Politik, so dass sich dar-

aus „natürlich auch (...) Politik“ ergebe.

Seit den Ankündigungen Udo Voigts6 und

Holger Apfels7 der neunziger Jahre, durch eine

kreative und kontinuierliche Jugendarbeit ei-

nen „harten Kern“ politischer Aktivisten zu

formen, hat sich der NPD-Landesverband in

Sachsen als weitaus größter etabliert und

die JN seit ihrer angekündigten Profilbildung

2005 über zehn weitere Stützpunkte einge-

richtet. Von den Jugendlichen werden sie

als einzige mit einem jugendspezifischen

Angebot wahrgenommen, sie bieten beispiel-

lose Lösungsskizzen, offerieren ein geschlos-

senes Weltbild und dominieren ungehindert

öffentliche Räume. So gestalten sie eine al-

ternativlose rechte Erlebniswelt, entwickeln

sich aus ihrer gesellschaftlichen Isolation her-

aus und werden salonfähig. Der Kampf um

die „kulturelle Hegemonie“ reüssiert insofern,

als dass die Rechten für die jungen Menschen

zur Selbstverständlichkeit werden und der

rechtsextremistische Ideologierahmen der

Jugendlichen erweitert wird. So viel zur plu-

ralistischen Gesellschaft..?

Alle Aussagen beziehen sich auf meine Interviews mit dem JN- Bundesvorsitzendem Stefan Rochow und dem ehe-maligen Parlamentarischen Geschäftsführer und NPD- Kreisgeschäftsführer Sächsische Schweiz Uwe Leichsenring (17.5.06 Dresden), dem JN- Kreisgeschäftsführer Sächsische Schweiz und ehemaligem Kader der „Skinheads Sächsische Schweiz” Thomas Rackow (12.6.06 Pirna), dem JN- Landesvorsitzenden Sachsen Jens Steinbach (Fragebogen 28.6.06) und dem Landespressesprecher Sachsen, MdL Matthias Paul (Fragebogen 26.6.06)1 NPD- Bremerhaven 2006: „Eine andere Jugend. Vom deutschen Elend“, http://www.npd- bremerhaven.de/jungenationaldemokraten/eineanderejugend/eineanderejugend.html (Stand: 17.01.06).2 JN- Sächsische Schweiz 2006: „Herzlich Willkommen auf den Seiten der Jungen Nationaldemokraten (JN) Sächsische Schweiz!“, http://www.npd-saechsische-schweiz.de/jn (Stand: 19.04.2006).3 Gangway e.V.- Verein für Straßensozialarbeit 2006: http://www.u18.org (Stand: 03.07.2006).4 Kobylinska, Alexander/Walter, Caroline 2005: Stabil ‚Rechts’: Das Touristenziel Sächsische Schweiz wird zur Hochburg der NPD, Sendung vom 22.09.2005 in „Kontraste“.5 NPD- Parteivorstand (Hg.): Deutsche Stimme 2006: Riesa Jg.31, Nr. 04; NPD- Sächsische Schweiz 2006: „Die Jugend ist bei uns!“, www.npd-saechsische-schweiz.de (Stand: 18.04.2006).6 Sendbühler, Karl- H. 1996: „Udo Voigt ist neuer NPD Parteivorsitzender!“, NPD- Parteivorstand (Hg.): Deutsche Stimme, Riesa Jg.20, Nr.3/4.7 Rabe, Stefan 1998: „NPD- Parteitag bestätigt Udo Voigt im Amt“, NPD- Parteivorstand (Hg.): Deutsche Stimme, Riesa Jg. 23, Nr.2.

ANNA VON ARNIM

13

Page 14: Powision #3 - Extrem is muss

Nach einer Serie ausländerfeindlicher

und antisemitischer Straftaten machte 2000

der damalige Bundestagspräsident Thierse

eine Entdeckung:

„Jetzt begreifen wir, dass der Rechtsextre-mis-

mus nicht nur am Rand der Gesellschaft an-

gesiedelt ist, nicht isolierbar ist, sondern dass

ausländerfeindliche Einstellungen, Intole-

ranz, zunehmende Gewaltbereitschaft bis weit

in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen.“

Diese Feststellung zieht einige Fragen nach

sich. Nämlich:

• Was heißt eigentlich „in der Mitte der

Gesellschaft”? Sind nicht politische Rhetorik,

Wahlentscheidungen, Alltagsgespräche

am Stammtisch, im Verein oder sonstwo

Phänomene, die sich nicht einfach schema-

tisch ins sogenannte „politische Spektrum”

einordnen lassen?

• Findet sich diese intolerante, rassistische,

vielleicht sogar gewaltbereite „Mitte der

Gesellschaft“ möglicherweise auch bei kom-

munalen Amtsträgern, in Polizeibehörden, im

Fußballverein?

• Und wenn ja, was bedeutet das für die Arbeit

zivilgesellschaftlicher Initiativen, die sich ge-

gen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit

und Rassismus engagieren? Wie werden sie in

kommunale Strukturen eingebunden?

Dies sind die Ausgangsfragen einer

Studie, die am Institut für Politikwissenschaft

der Universität Leipzig angefertigt wurde.1 Die

AutorInnen haben soziale Mikrostrukturen in

ländlichen Räumen untersucht und rekons-

truiert. Dazu wurden modellhaft zwei klei-

nere Kreisstädte in Sachsen und Bayern aus-

gewählt, die eminente Probleme mit rechts-

extremen Gruppen haben und in denen aber

auch Bündnisse gegen Rechtsextremismus

beziehungsweise für Demokratie geschmie-

det worden sind. In beiden Regionen sind die

Wahlergebnisse rechter Parteien überdurch-

schnittlich hoch, ebenso die Zustimmung zu

als rechtsextrem eingestuften Aussagen in

quantitativen Einstellungstudien.

Die Ergebnisse können kurz so zusammenge-

fasst werden:

1. Rassismus, Antisemitismus und an-

dere, vielleicht allophobe Erscheinungen exis-

tieren in der Mitte der Gesellschaft. Deshalb

macht es genau genommen gar nicht viel

Sinn, in diesem Zusammenhang von „links“,

„Mitte“ und „rechts“ zu sprechen. Vielmehr

verstärkt diese schematische Verortung die

Tendenz, dass sich zum Beispiel das lokale

Establishment von offen „rechts“ auftreten-

den Gruppierungen abgrenzt, ohne die eige-

nen Einstellungen und Beiträge zum lokalen

Diskurs zu reflektieren.

2. Für die Existenzbedingungen einer

Naziszene im ländlichen Raum ist das in-

stitutionelle Gefüge der Gemeinden von ent-

scheidender Bedeutung. Die Besonderheit von

Kleinstädten und Dörfern besteht darin, dass

der öffentliche Raum in diesen Kommunen

schneller und nachhaltiger durch bestimm-

te Gruppen und Einstellungen dominiert wer-

den kann. Manche Dinge werden eher denk-

bar und sagbar, ohne dass eine nennenswerte

Opposition dagegen steht. Dazu kommt oft ein

hoher Konformitätsdruck durch soziale und

persönliche Abhängigkeiten.

3. Das Problem im ländlichen Raum

ist nicht in erster Linie ein Mangel an zivil-

gesellschaftlichem Engagement (zumindest

in den beobachteten Fällen). Woran es ha-

pert, das ist die Offenheit der bestehenden

Strukturen für Alternativen. In beiden Städten

werden die Bürgerinitiativen von der jeweili-

gen Rathausspitze dominiert. Dabei versuch-

te man, möglichst viele lokale Gruppen und

Vereine, Schulen und Kirche einzubinden so-

wie gleichzeitig andere Gruppen, die nicht „na-

türlicherweise“ dazugehören, draußen zu hal-

ten.

Diese Erkenntnisse haben eine Relevanz

für die geplante Umstellung der bisheri-

gen Bundesprogramme zur finanziellen

Unterstützung solcher Initiativen. Nach den

Grenzen lokaler Demokratie

14

Page 15: Powision #3 - Extrem is muss

Plänen der Großen Koalition sollen diese

Gelder in Zukunft von den Kommunen selbst

verteilt werden. In der Konsequenz dürfte das

bedeuten, dass die Förderung fast ausschließ-

lich an sogenannte Quasi-Nichtregierungsor-

ganisationen geht und staatlich unabhängige

Vereine außen vor bleiben.

1 Doris Liebscher, Christian Schmidt: Grenzen lokaler Demokratie. Zivilgesellschaftliche Strukturen gegen Nazis im ländlichen Raum. Die Studie steht zur Verfügung unter: http://www.gruene-bundestag.de/cms/rechtsextremismus/dokbin/187/187846.pdf. (Im Auftrag der Bundestagsfraktion von Bündnis 90 / Die Grünen; Projektleitung: Rebecca Pates und Daniel Schmidt.)

Rechtsradikalismus und Rechtsextrem-

ismus sind schon seit geraumer Zeit Gegenstand

wissenschaftlicher Untersuchungen und eben-

so medialer Berichterstattung. In diesem

Themenfeld rückt insbesondere die „Gruppe“

der Jugendlichen ins Zentrum des Interesses;

als Opfer oder Täter rassistisch motivierter

Gewalt.

Ginge man von der Existenz eines

„Rechtsradikalismus-Gens“ aus, so könnten

die Sozialforscher den Stift beiseite legen und

die Arbeit Genforscherinnen und anderen N

aturwissenschaftlerinnen überlassen. Nun,

da dem (bisher zumindest) nicht so ist, muß

man nach anderen Ursachen suchen, die of-

fensichtlich im Bereich der Sozialisation zu

finden sind. Da Einstellungen weder ange-

boren sind, noch zwangsläufig aus unmittel-

baren Erfahrungen heraus gebildet werden,

sondern Sozialisationsergebnisse sind, gilt es

jene Instanzen zu untersuchen, wobei neben

Familie und sog. Peergroups für den Staat nur

Schule als Zugriffsmöglichkeit bleibt.

Das im Rahmen des DAPHNE II-

Programms von der Europäischen Kommission

geförderte Forschungsprojekt RYPP („right-

wing youth violence prevention program-

mes“) evaluiert die Methoden verschiede-

ner Präventions- und Sensibilisierungsprojek

te für Jugendliche und untersucht in diesem

Sinne den Zugriff des Staates auf rechtsradika-

le Einstellungen.

Das auf zwei Jahre angelegte Projekt

untersucht zum Einen die Sozialisation „Das

Fremde“ und will zum Anderen demokrati-

sche Bildungsarbeit in die Lehrerausbildung

einbinden. Zusammen mit den Partnern vom

IMER Institut der Universität Malmö und

dem Antidiskriminierungsbüro Sachsen wer-

den die Forschungsergebnisse einem inter-

nationalen Vergleich unterzogen. In Folge

werden die Ergebnisse mittels Seminare für

Lehramtsstudierende und Workshops für

Lehrende in Ostdeutschland und Südschweden

in den Unterricht implementiert.

Eine hochkarätige internationale

Konferenz zu diesem Thema findet im März

2008 in Leipzig statt.

DANIEL SCHMIDT

SUSANNA KARAWANSKIJ

Die Konstruktion des „Fremden“Das Forschungsprogramm RYPP

15

Page 16: Powision #3 - Extrem is muss

Noch in den 80er Jahren traten die

Parteien der extremen Rechten überwiegend

als Vertreter neoliberaler Positionen auf. In den

90er Jahren wandelten sich die Programme

der extremen Rechten und nahmen – in un-

terschiedlichem Ausmaß – Globalisierungs-

und Kapitalismuskritik auf. Der folgende

Artikel beleuchtet, wie es Teilen der extremen

Rechten gelingt, Erfahrungen der Einzelnen

mit der neuen Produktionsweise zu artikulie-

ren und in rechte Erklärungsmuster einzubet-

ten. Dabei zeigt sich ein Wandel der Inhalte

und der (ästhetischen) Form extrem rechter

Politik.

Anknüpfungspunkt Antiimperialismus

Zentrales Thema der JN/NPD ist der

völkische Nationalismus, dem etwa rassisti-

sche Argumente nachgeordnet sind, bzw. die-

se werden vom Nationalismus abgeleitet.

Grundlage ist ein Verständnis von Nation,

die auf einem einheitlichen Volk basiert, das

eine gemeinsame Abstammungsgeschichte

hat. Die Selbstbestimmung des »Volkes« wer-

de untergraben durch Fremdeinflüsse. ge-

nannt Imperialismus, der auf politischen, öko-

nomischen und kulturellen Ebenen agiere und

dort zu bekämpfen sei. Die »Fremdeinflüsse«

sind äußere und innere Feinde: wie etwa mul-

tinationale Konzerne und supranationale

Organisationsformen (EU, NATO), die nicht auf

Grundlage des Ethnopluralismus1 existierten.

Der Kampf gegen den »Imperialismus

der Multis und der USA« nimmt einen zen-

tralen Stellenwert ein.2 Als innere Feinde gel-

ten etwa ausländische Wohnbevölkerung

und Flüchtlinge. Kulturelle Vielfalt wird

als »Vernichtung der Kultur« und da-

mit als »Vernichtung des Volkes« gesehen.

Entsprechend sind die Anwesenheit von

»Volksfremden« in der Gesellschaft3 und die

gesellschaftlichen Prozesse Globalisierung,

Verbreitung transnationaler Unternehmen

und supranationale Organisierung Aspekte

des gleichen, existenziell bedrohlichen

Vorgangs: der imperialistische Kampf ge-

gen das Volk, dem der Nationalismus als

»Befreiungsbewegung« gegenübergestellt

wird. Gegen die Fremdeinflüsse wird die

Einheit und Gleichheit des Volkes gestellt.

Die Volksgemeinschaft verspricht soziale

Absicherung: »Der Nationalismus erstrebt so-

ziale Gerechtigkeit und nationale Solidarität.«4

In Querfrontstrategien versucht die extreme

Rechte sich an die sich allgemein links verste-

hende Globalisierungsbewegung anzubiedern

oder - wo es möglich ist - sie zu integrieren

und stellt gemeinsame Politikmöglichkeiten

heraus.

Indem multinationale Konzerne und die

Anwesenheit von Flüchtlingen, von auslän-

dischen Mitbürgern etc. in Deutschland vom

rechten Standpunkt aus als zwei Seiten der

gleichen Medaille gedacht werden, kann das

eine unmittelbar im anderen bekämpft wer-

den. Rassistische Gewalt ist dann unmittelbar

Antiglobalisierungspolitik. Die Komplexität

der realen Zusammenhänge muss nicht ge-

dacht werden, die Erfahrung von politischer

Hilflosigkeit angesichts globaler Prozesse kann

in Handlungen umgesetzt werden. Aktuell

starten die JN in Kooperation mit verschie-

denen Kameradschaften eine »antikapitalisti-

sche und antiglobalistische Kampagne Zukunft

statt Globalisierung«.5 In ihr wird zusammen-

geführt und systematisiert, was sich in den

letzten Jahren verstärkt als Bezugspunkte

rechtsextremer Mobilisierungen gezeigt

hat: Arbeitslosigkeit, Niedriglohn und »pre-

käre Beschäftigungsverhältnisse« werden

als Krisenerscheinungen des Kapitalismus

gefasst. In der Schulungsbroschüre

»Privatisierung«6 wird das »Volkseigentum«

gegen die »Ausplünderung« verteidigt. Die

Sachzwanglogik herrschender Politik wird an-

gegriffen und eine »mögliche Alternative zum

bestehenden System« entgegengestellt. In völ-

kischer Reartikulation der zapatistischen

Losung »Eine Welt, in der viele Welten Platz

Völkischer Antikapitalismus als Er-folgskonzept der extremen Rechten?

16

Page 17: Powision #3 - Extrem is muss

haben« rufen sie zur Ablösung der »einen Welt

des Kapitals« durch eine »Welt der Tausend

Völker« auf.

Anknüpfungspunkt Gerechtigkeit

An welche alltäglichen Erfahrungen der

Menschen mit veränderten Anforderungen in

Arbeit und Gesellschaft können rechtsextreme

Denkangebote anknüpfen?

Die Siren-Untersuchung7 konn-

te das Ineinandergreifen von subjektiven

Erfahrungen neoliberaler Umstrukturierungen

und dem Hinwenden zu rechtsextremen

Argumentationen zeigen. Zentral scheint die

Erfahrung, dass die Einzelnen ihre Position

in der sozialen Welt aufgrund der veränderten

gesellschaftlichen Anforderungen überdenken

müssen.8

Es entstehen Gefühle von Ungerech-

tigkeit und Frustration, weil die Menschen

trotz schwerer Arbeit und schmerzlicher

Unterordnung nicht in der Lage sind, die ange-

strebte Position zu erreichen. Das Gefühl des

»aufgekündigten Gesellschaftsvertrages« be-

zieht sich auf die implizite Vorstellung, dass

»harte Arbeit« gesellschaftliche Absicherung,

Lebensstandard und Anerkennung ein-

bringe. Die Enttäuschten äußern durchaus

Bereitschaft, härter zu arbeiten und mehr zu

leisten, müssen aber feststellen, dass ihre le-

gitime Erwartung an verschiedene Aspekte

von Arbeit, Beschäftigung, sozialen Status

oder Lebensstandard dauerhaft frustriert wer-

den: Der Vertrag ist einseitig gekündigt wor-

den. Dies führt zu Ungerechtigkeitsgefühlen

und Ressentiments in Bezug auf andere sozia-

le Gruppen, die sich den Mühen der Arbeit an-

scheinend nicht in gleichem Maße unterziehen

und für die besser gesorgt werde oder die ihre

Sachen (illegal) selbst arrangierten: einerseits

Manager, Politiker mit hohem Einkommen, die

sich großzügige Pensionen zusprächen, ande-

rerseits Menschen, die von der Wohlfahrt leb-

ten, statt zu arbeiten, oder Flüchtlinge, die

vom Staat unterstützt würden. »Diese ge-

störte Balance in ihrem Bezug zur Arbeit

bei gleichzeitigem Mangel an legitimen

Ausdrucksformen für das Leiden scheint in

vielen Fällen der Schlüssel für das Verständnis

des Zusammenhanges zwischen sozioökonomi-

schem Wandel und politischen Reaktionen zu

sein.«9 Politische Botschaften und Ideologien

des Rechtspopulismus, die die zweifache

Abgrenzung »des Volkes« von Eliten oben und

Ausgestoßenen unten in Anschlag bringen, fin-

den hier Resonanz. Die Abgrenzung von angeb-

lichen untätigen Leistungsempfängern, also

Flüchtlingen, Sozialhilfeempfängern, Kranken

und Behinderten, findet sich dabei bis in die

höchsten Hierarchieebenen der Beschäftigten

(oft auch als Wohlstandschauvinismus be-

zeichnet) und ist auch in gewerkschaftlichen

Kreisen verbreitet.

Anknüpfungspunkt soziale Sicherheit

Zentral sind weiter die Angst vor Deklas-

sierung, Unsicherheit und Ohnmachtgefühle,

die mit industriellem Niedergang, prekä-

rer Beschäftigung und Entwertung von

Fähigkeiten und Qualifikationen verbun-

den sind. Die Erfahrung, Spielball der öko-

nomischen Entwicklung oder scheinbar an-

onymer Mächte zu sein, wird verbunden

mit rechtspopulistischen Mobilisierungen,

die die Bevölkerung als passives Opfer von

übermächtigen Gegenspielern ansprechen.

Ähnlich »funktioniert« die nostalgische

Wertschätzung der guten alten (Arbeiter-)

Zeiten und die populistische Glorifizierung

von traditionellen Gemeinschaften. Die öf-

fentliche Anerkennung der Probleme von

Prekarisierung und sozialem Abstieg ist hier

ein Vorteil für die extreme Rechte. Ebenso

vermag ihre Thematisierung von nationalen

oder subnationalen Einheiten als Träger kol-

lektiver Interessen die Ohnmachtgefühle an-

zusprechen, die sich nicht nur auf die indivi-

duelle Ebene beziehen, sondern auch kollekti-

ve Einheiten wie Regionen, die Arbeiterklasse,

die Nation. Die extreme Rechte thematisiert die

Alltagserfahrung der Einzelnen mit der neuen

Produktionsweise und löst sie in Richtung der

Volksgemeinschaft. Die »völkische Identität«

birgt das Versprechen von sozialer Sicherheit

und Gleichheit, Solidarität und Zugehörigkeit.

Die Aufwertung entlastet von der Sorge, ob

man selbst dazugehören wird, ob die im neu-

en Sozialstaat geforderte eigene »Aktivierung«

ausreichen wird. Gleichzeitig wird das Prinzip

der Konkurrenz für den verschärften Kampf

um gesellschaftliche Ressourcen gegen »un-

deutsche« Elemente genutzt.

17

Page 18: Powision #3 - Extrem is muss

Rechtsextremes Denken ermöglicht

also ein widersprüchliches Bewegen in den

Zumutungen, die neoliberale Politik den

Subjekten auferlegt: Einerseits werden die-

se zurückgewiesen und im rechtsextre-

men Modell von volksgemeinschaftlichem

Sozialstaat aufgelöst, andererseits werden

ihre Formen der Ausgrenzung, Brutalisierung,

Mobilisierung des Subjekts aufgegriffen und

gegen die gesellschaftlich Marginalisierten ge-

wendet. Es ermöglicht damit ein »Denken in

den Formen«, das sich inhaltlich dennoch als

Opposition geriert, mithin die Grundlagen ge-

sellschaftlicher Konkurrenz und Verwertung

affirmiert.

Dabei hilft es wenig, von »Demagogie«

oder »Instrumentalisierung« der sozialen Frage

durch die extreme Rechte zu sprechen, weil

so nicht verstanden werden kann, welchen

Stellenwert und auch inhaltliche - problemati-

sche - Konsistenz die rechten Argumentationen

zur Sozialpolitik haben und warum sie für vie-

le Menschen attraktiv erscheinen. Der aktu-

elle Rechtsextremismus »beschwindelt« die

Menschen nicht einfach, sondern er greift

subjektive Erfahrungen mit gesellschaftli-

chen Umbrüchen auf, bietet ein Modell für

ihr Verständnis und ihre Veränderung und

muss dabei nicht mit den eigenen Grundlagen

- völkischer Nationalismus, Rassismus und

Ungleichheitsideologien und Ablehnung von

Demokratie zugunsten von Volksentscheiden

und strafferen Führungskonzepten - brechen.

Indem die extreme Rechte Kritik

an Produktionsweise, Globalisierung,

Kapitalismus und politischer Passivierung »re-

volutionär« artikuliert, ist sie zwar für aktuel-

le Einbindung in den Block an der Macht un-

brauchbar. Dennoch leistet sie eine passive

Hilfe, indem sie diese Kritik absorbiert und ka-

nalisiert und emanzipatorische Perspektiven

schwächt. Der Erfolg der Linkspartei bei

der letzten Wahl zeigt, dass die Kritik von

Sozialstaatsreformen, Globalisierung und

Kapitalismus nicht per se rechts kodiert ist.

Daraus ergibt sich die Anforderung an lin-

ke Politik, die Entwicklung popular-demo-

kratischer Positionen voranzubringen, in de-

nen die alltäglichen Erfahrungen, das Leiden

und die Widersprüche der Produktionsweise

repräsentiert sind und Perspektiven auf

eine nach-kapitalistische Gesellschaft eröff-

net werden. Eine abstrakte und ausschließli-

che Fundamentalkritik oder eine Orientierung

auf realpolitisch mögliche, kleine Schritte,

die notwendig im Rahmen des Bestehenden

argumentieren, werden es nicht vermögen,

Perspektiven auf eine veränderte Gesellschaft

mit den Erfahrungen der Umarbeitung von

Lebensweisen bei den Menschen zu verbinden

und werden ihnen so auch keinen Grund ge-

ben, dieses politische Projekt als ihr eigenes zu

übernehmen.

1 Ethnopluralismus kann als »Rassismus ohne Rassen« bezeichnet werden; er stellt eine völkische Konstruktion dar, die vor allem auf die »Reinheit« von Völkern zum Erhalt ihrer Identität und Lebensfähigkeit abzielt. Vermischung von »Völkern« wird hier als Existenzgefährdung gedacht.2 Das Andocken an Kapitalismuskritik und ihre Umdeutung ins Völkische ist eine Strategie, derer sich auch der historische Faschismus bedient hat.3 Hier vor allem Ausländer, aber die Argumentation ist of-fensichtlich anschlussfähig, um auch gegen andere, inne-re »Volksschädlinge« gerichtet zu werden.4http://www.jnbuvo.de/index.php?option=com_content&task=view&id=108&Itemid=335 www.antikap.de6 http://snbp.info/files/Privatisierung.pdf7 Eine europaweite qualitative Untersuchung zu Veränderung der Anforderungen in der Arbeit und re-chtspopulistischen Denkweisen, vgl. www.siren.at und Jörg Flecker/Gudrun Hentges: »Rechtspopulistische Konjunkturen in Europa «. In: Joachim Bischoff u. a. (Hg.), Moderner Rechtspopulismus, Hamburg 2004, S. 119-1498 Dabei konnten unterschiedliche Typologien heraus-gearbeitet werden, die die jeweils sehr unterschiedli-chen Erfahrungen von prekarisierten Putzfrauen bis hoch qualifizierten IT-Arbeitern formulieren.9 In: Joachim Bischoff u. a. (Hg.), a. a. O. , S. 142

CHRISTINA KAINDL

Literatur:Christina Kaindl (Hg.): Kritische Wissenschaften im Neoliberalismus. Marburg 2005. Und: dies. (Hg.): Neoliberalismus und Subjekt. Marburg, i.Ersch.

18

Page 19: Powision #3 - Extrem is muss

Ökoextremismus? Das hört sich doch ir-

gendwie verdächtig nach längst vergangenen

Zeiten an, als Greenpeace und Co. noch eher

als versprengte Radikale und unverbesserli-

che Idealisten angesehen werden konnten, die

meist ideologisch verdächtig nahe beim linken

Klassenfeind zu finden waren. Doch weit ge-

fehlt, besagter Vorwurf ist aktuell, aktuel-

ler als je zuvor – das zumindest, wenn man

dem tschechischen Staatspräsidenten Václav

Klaus folgt. Wobei, wieder Klaus zufolge, die

Verbindung zum Kommunismus ebenso aktu-

ell ist wie damals.

Für seine Aussagen wird Klaus derzeit

häufig verspottet und angefeindet, dies mei-

nes Erachtens jedoch oft aufgrund einer ver-

kürzten Darstellung seiner Argumentation. In

diesem Artikel möchte ich zuerst seine wich-

tigsten Argumente zusammenfassen, dann ei-

nen kleinen Überblick über internationale

Reaktionen bieten, und schließlich versuchen,

ein Fazit zu ziehen.

„The – so called – climate change and

especially man-made climate change has be-

come one of the most dangerous arguments

aimed at distorting human efforts and public

policies in the whole world.”1

Dieser Satz, die Einleitung in ei-

nem Artikel von Klaus an das U.S.-

Repräsentantenhaus, ist bereits der Kern des-

sen, worauf der tschechische Präsident hinaus

möchte. Dieses Thema ist gewissermaßen sei-

ne Mission, dafür kämpft er bereits seit länge-

rem – jüngst auch mit der Veröffentlichung ei-

nes Buches ,Modrá, nikoli zelená planeta. Co

je ohroženo - klima nebo svoboda? (Der blaue,

nicht der grüne Planet. Was ist bedroht - das

Klima oder die Freiheit?), für welches der-

zeit in ganz Tschechien großflächig geworben

wird.

Ausgehend von seiner Überzeugung,

dass die wissenschaftliche Debatte über die

globale Erwärmung nicht tief genug sei, um

daraus politische Entscheidungen abzulei-

ten, sieht Klaus die aktuelle Bewegung der

Bekämpfung der Erderwärmung in erster

Linie als ein groß angelegtes Unternehmen po-

litischer Interessengruppen, das die Freiheit

bedroht. „What I am really concerned about is

the way the environmental topics have been

misused by certain political pressure groups

to attack fundamental principles underlying

free society.“2 Der Environmentalism3 habe im

21. Jahrhundert den Kommunismus als größ-

te Bedrohung der Freiheit abgelöst. Ähnlich

wie früher im Kommunismus, solle heute die

freie Entwicklung der Menschheit durch eine

zentrale und globale Steuerung abgelöst wer-

den, heute eben mit dem Ziel des Schutzes von

Erde und Natur. Im Detail sehe das so aus,

dass die Environmentalists, die ihre Ansichten

als unwiderlegbare Wahrheiten ansähen, im

Kern vor allem Angst vor der Zerstörung der

Erde verbreiteten. Der Erfolg dessen wie-

derum dränge Entscheidungsträger, illi-

berale Maßnahmen zu ergreifen, arbiträre

Grenzwerte, Regulationen und Restriktionen

einzuführen und den Einfluss von bürokrati-

schen Entscheidungsprozessen auf die Bürger

auszubauen.

Den Klimawandel beschreibt Klaus

hauptsächlich als ein natürliches Phänomen,

gegen den die Menschheit prinzipiell machtlos

sei. Stattdessen sollten Entscheidungsträger

unter allen Umständen den Prinzipien der li-

beralen Gesellschaft weiterhin folgen, und das

Recht zu wählen und zu entscheiden nicht

vom Volk auf eine Interessengruppe übertra-

gen, die behaupte, die Welt besser zu kennen

als der Rest der Menschheit. Im Umgang mit

einem sich verändernden Klima sollte man

die Möglichkeiten der Menschheit gegenüber

der Natur realistisch einschätzen. Klaus vo-

tiert deshalb auch gegen den Kyoto-Vertrag,

welcher willkürliche Ziele setze, viel kos-

te, aber keine realistischen Erfolgsaussichten

habe. Wenn Klimawandel existiere, solle man

ÖkoextremismusVáclav Klaus und der Kampf gegen den Kampf der

globalen Erwärmung

19

Page 20: Powision #3 - Extrem is muss

diesen nicht hoffnungslos bekämpfen, son-

dern sich vielmehr auf die Folgen vorbereiten.

Kosten-Nutzen-Analysen seien hierbei dem

Vorbeugeprinzip der Environmentalists vor-

zuziehen. Diesen Punkt unterstützt Klaus mit

der Argumentation, dass nicht alle Folgen ei-

ner globalen Erwärmung negativ sein müssen,

und zum Beispiel weite Teile bisher zu kalter

Gebiete bewohnbar werden könnten.

An dieser Stelle bietet sich ein

Sprung von Klaus’ Argumentation zu de-

ren Wahrnehmung in der Welt an. Ein gro-

ßes Problem Klaus’ ist, dass er vor allem

mündlich oftmals eher polemisch argumen-

tiert. Sein eben letztgenanntes Argument der

Erschließung neuer Lebensräume wurde zu-

letzt eher dergestalt wahrgenommen, dass

der Verlust von Küstenregionen durch den

Gemüseanbau in Sibirien ausgeglichen wer-

den könne4, wie er darüber hinaus oft auf-

grund persönlicher Erfahrungen argumen-

tiert. Spott und Unverständnis fordert Klaus

auf seine polterige Art geradezu heraus. Im

Gegensatz zu den eher wohlformulierten

Thesen des Papiers, das dem ersten Teil die-

ses Artikels zu Grunde lag, zielt Klaus in freier

Rede deutlich höher. Da spricht er dann schon

davon, dass die globale Erwärmung „Unsinn“

sei, und entsprechende Warnungen „überaus

gefährlich“5. Schließlich, so stellt Klaus fest,

seien auch die Warnungen vor dem Ozonloch

oder der Bevölkerungsexplosion falsch gewe-

sen.6 Tschechische Umweltschützer verglichen

ihr Land gar schon mit den Galliern bei Aste-

rix und Obelix – uneinnehmbar!7 Im März die-

sen Jahres machte sich auch Tony Blair im

britischen Unterhaus über Václav Klaus’ um-

weltpolitische Ansichten lustig8 und bei einer

Reise in die USA, verbunden mit einem Vortrag

beim Cato Institute, erntete Klaus vernichten-

de Kritik amerikanischer Medien.9 Was in der

öffentlichen Wahrnehmung allerdings eher

unterzugehen scheint, ist die Tatsache, dass

Klaus gern generell als Kämpfer für einen ra-

dikalen Liberalismus auftritt. In der eben ge-

nannten Rede beim Cato Institute wandte

sich Klaus nicht nur gegen die Umweltlobby,

er sprach vielmehr von einer allgemeinen

Bedrohung der freien Welt durch eine Vielzahl

von „Ismen“, darunter übliche Verdächtige wie

Kommunismus und Islamismus, aber auch

Feminismus, Europäismus und „human-righ-

tism.“10

Václav Klaus’ Thesen zur globa-

len Erwärmung grenzen teilweise an eine

Verschwörungstheorie. Wenn dann sogar von

Environmentalism als „Religion“ die Rede ist11,

dann hat er diese Grenze meines Erachtens be-

reits überschritten. Klaus wirkt wie ein von

einer Verschwörung der Klimaschützer getrie-

bener Altliberaler inmitten einer immer un-

freier werdenden Welt. Der einsame Kämpfer

für die Freiheit ist ihm allerdings auch auf-

grund seiner Vergangenheit als tschechischer

Staatsmann nicht unbedingt abzunehmen,

Korruption und Misswirtschaft gehörten auch

im Tschechien unter Klaus als Premier trotz

des sonst radikalen Liberalisierungsprogramm

s dazu, es kam sogar 1997 zu einem der größ-

ten Skandale seit der Wende.12 Blendet man

diese Tatsachen hingegen aus, so bleibt das

Bild eines großen libertären Ökonomen, für

den jeder Eingriff in das freie Spiel der Kräfte

des Marktes einem fundamentalistischen und

extremistischen Angriff gleich kommt.

1 Klaus, Václav: „Answers to questions from the House of Representatives of the U.S. Congress, Committee on Energy and Commerce, on the issue of mankind’s contri-bution to global warming and climate change”. Online: http://www.klaus.cz/klaus2/asp/clanek.asp?id=IgDUIjFzEXAz (letzter Zugriff: 25.06.07)2 ebd.3 Für die hier von Klaus intendierte eher negative Bedeutung als „-ismus“, also im Sinne von in etwa „Umweltismus“, existiert keine deutsche Entsprechung, daher verwende ich das englische Wort unübersetzt.10Kirchgessner, Kilian: „...Tschechien“. Online: http://www.tagesspiegel.de/meinung/Kommentare;art141,2142661 (letzter Zugriff: 25.06.07)5 Schmidt, Hans-Jörg: „Tschechien: ‚Gerede vom Klima-wandel Unsinn’“. Online: http://www.diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/290526/index.do?direct=290572&_vl_backlink=/home/index.do&selChannel=330 (letzter Zugriff: 25.06.07)6 ebd.7 Kirchgessner, Kilian: „...Tschechien“. Online: http://www.tagesspiegel.de/meinung/Kommentare;art141,21426618 Tschechien Online: „Václav Klaus: Klimawandel ist ein Mythos“. Online: http://www.tschechien-online.org/news/7655-vaclav-klaus-klimawandel-ein-mythos/ (letzter Zugriff: 25.06.07)9 ebd.10 Klaus, Václav: „Challenges of the Current Era.“ Online: http://www.vaclavklaus.cz/klaus2/asp/clanek.asp?id=3eLwSP6fD2kj (letzter Zugriff: 25.06.07)11 ebd.12 Im Zuge einer Spendenaffäre zerbrach 1997 die Regierungskoalition unter Führung der konservativen ODS, Klaus musste als Premier zurücktreten.

MICHAEL STEPHAN

20

Page 21: Powision #3 - Extrem is muss

Jede politische Haltung und Handlung

bewegt sich in einem Kontinuum zwischen

zwei gegensätzlichen Extremen; soweit sie

sich nicht einem der Extreme zuordnen lässt,

unterscheidet sie sich von diesen nur gradu-

ell. Politik ist entweder der Kampf zwischen

Extremen oder eine Auseinandersetzung

über graduelle Unterschiede innerhalb des

Kontinuums.

Extreme:

Universalismus gegen Nationalismus

Was das Verhältnis von Mensch und

Nationalstaat angeht, sind die gegensätzli-

chen Extreme die Negation des Nationalstaats

und die Negation des Menschen. Die Negation

des Nationalstaats ist der Universalismus der

Menschenrechte. Er leugnet nationale, rassi-

sche, kulturelle und sonstige Unterschiede und

behandelt jeden Menschen völlig gleich. Seine

Hauptvertreter sind: Ultraliberale, die den

Staat an sich ablehnen, und internationalisti-

sche Sozialisten, die den Nationalstaat ableh-

nen und einen sozialistischen Weltstaat errich-

ten wollen. Ein konkretes Beispiel ist die linke

Bewegung „Kein Mensch ist illegal“ mit der

Parole „no border, no nation, stop deportation“.

Der Gegensatz, die Negation des Menschen, ist

der Nationalismus. Er ordnet die Menschen

völlig ihrer nationalen Zugehörigkeit un-

ter, und diese unterwerfen sich selbst völlig

dieser Zugehörigkeit. Der reinste Ausdruck

des Nationalismus in der Geschichte war

der deutsche Nationalsozialismus mit seiner

Rassenlehre: „Du bist nichts, Dein Volk ist al-

les.“

Extreme bekämpfen sich nicht nur ge-

genseitig. Aus ihrer Sicht gehört alles, was

nicht dem eigenen Extrem entspricht, zum ge-

gensätzlichen Extrem. Der Universalist leug-

net den Unterschied zwischen Abschiebung

und Gaskammer: „Nazis morden, der Staat

schiebt ab, das ist das gleiche Rassistenpack“.

Für die Kommunistische Internationale

war die Sozialdemokratie Sozialfaschismus;

wer nicht für die Revolution kämpfte, be-

trieb Konterrevolution. Genauso hielt es der

Nationalsozialismus.

Die Mitte: Demokratie

Die Demokratie tendiert zur Mitte zwi-

schen Extremen: zwischen Universalismus

und Nationalismus; Sozialismus und

Kapitalismus; Gleichheit und Freiheit. Damit

tritt der Kampf zwischen den Extremen zurück

hinter die Auseinandersetzung über graduel-

le Unterschiede innerhalb einer gesellschaft-

lich akzeptierten Normalität um die Mitte he-

rum. Diese Normalität ist voller Widersprüche

und Inkonsequenzen; ihre Grenzen sind

unscharf und ebenfalls Gegenstand der

Auseinandersetzung. Eine Haltung, die zu ei-

ner Zeit nicht gesellschaftsfähig ist, kann es im

Laufe der Zeit werden.

Zum Teil erkennt die Demokratie ihre

Tendenz zur Mitte an, zum Teil täuscht sie

sich darüber. Schon im Grundgesetz ist die-

se Selbsttäuschung zu sehen: Es stellt mit

Absicht die Rechte des einzelnen Menschen,

die Grundrechte, an den Anfang, und bei

den Grundrechten sind es die universalisti-

schen Menschenrechte, die an erster Stelle

stehen: Die Würde des Menschen ist unan-

tastbar; jeder hat das Recht. Von besonde-

rer Bedeutung ist Artikel 3: Niemand darf

wegen seiner Heimat und Herkunft benach-

teiligt werden. Dieser Artikel wird schon im

Grundrechteteil selbst gebrochen – wenn die

Bürgerrechte beginnen: Alle Deutschen haben

das Recht. Der Bruch ist klar und nie aufzuhe-

ben. Eine Ausländerin ist keine Deutsche, ein

Deutscher kein Ausländer. Der Bruch wird nur

dadurch gemildert, dass die Bürgerrechte ein-

geschränkt auch für AusländerInnen gelten

und diese eingebürgert werden können.

Jeder Staat, mag er sich noch so universal

und liberal verstehen, ist im Kern nationalis-

tisch und knüpft an die Staatsbürgerschaft we-

sentliche Rechte, die Bürgerrechte. Ein wichti-

ges Bürgerrecht findet sich im Grundgesetz

nicht ausdrücklich: das Aufenthaltsrecht.

Border, Nation: Deportation

21

Page 22: Powision #3 - Extrem is muss

(Zum Teil steckt es im Recht auf Freizügigkeit.)

Wer keinen deutschen Pass hat, fällt unter

Sondergesetze wie das Aufenthaltsgesetz und

muss sich seinen Grenzübertritt und seinen

Aufenthalt genehmigen lassen. Zwar ist dies

nicht der Nationalismus der Nazis; aber es

wird unbestreitbar an die Zugehörigkeit zur

Nation angeknüpft. Und diese Zugehörigkeit

wird auch in der liberalen, rechtsstaatlichen

Demokratie gegen Nicht-Zugehörige, gegen

AusländerInnen mit aller Gewalt durchge-

setzt. Die Grenzkontrolle und die Abschiebung

sichern dort den Schutz der Nation. Border,

Nation: Deportation.

Normalität der Extreme

Da sich die Normalität nur gradu-

ell von den Extremen unterscheidet, nimmt

sie Teile von beiden Extremen in sich auf.

Diese Teile sind es, die aus der Sicht beider

Extreme Verrat bedeuten und die Zuordnung

der Normalität zum gegensätzlichen Extrem

zulassen. Denn was sei der Unterschied zwi-

schen der Forderung der NPD nach „schritt-

weiser Rückführung hier lebender Fremder

in ihre Heimat“ und Otto Schilys „Das Boot

ist voll“? Was der Unterschied zwischen

der Forderung des NPDlers Jürgen Rieger

„Asylanten auszuhungern“ und der tatsächlich

praktizierten Entrechtung von Flüchtlingen

in Ausreiselagern? Der Unterschied ist: Schily

fordert keine massenhafte Rückführung von

AusländerInnen; und in den Ausreiselagern

werden Flüchtlinge – noch – nicht ausgehun-

gert. Der Unterschied ist graduell – aber es ist

ein Unterschied. Die Kritik, mit welcher der

Demokrat von den Extremen (und von sich

selbst) konfrontiert wird, ist die Kritik am

Wert des graduellen Unterschieds.

Das Herz freilich neigt zum

Universalismus, es empört sich auch über

Ausreiselager und Abschiebungen, nicht

nur über Aushungern und Gaskammern.

Der Verstand sucht nach einem absoluten

Unterschied zwischen der dürftigen demokra-

tischen Normalität und dem Nationalismus,

welchen er nicht findet. Jeder prüfe sich je-

doch ernsthaft, wie viel Universalismus er vor

seiner politischen Vernunft vertreten kann.

Er sollte dabei nicht vergessen, dass der of-

fizielle Internationalismus der ehemals kom-

munistischen Staaten äußerlich geblieben ist:

der Ostblock zerbrach in Nationalstaaten;

die östlichen Bundesländer kämpfen heu-

te besonders mit Ausländerfeindlichkeit.

Und wer anerkennt, dass jedes Recht auch

der Macht bedarf, um wirksam sein und ge-

schützt werden zu können, der wird sich ei-

nem reinen Universalismus verschließen

müssen. Zumindest, solange wir noch kei-

nen Weltstaat haben, in dem alle Menschen

Bürger eines einzigen Staates sind und glei-

che Rechte haben, bleibt politische Vernunft

auf die Macht des Nationalstaats ange-

wiesen. Dennoch kann man sich einset-

zen gegen viele einzelne Abschiebungen,

gegen das Asylbewerberleistungsgesetz,

gegen den Entzug des Flüchtlingsstatus’ von

Flüchtlingen aus Irak oder Afghanistan, ge-

gen persönlichen Rassismus – und für groß-

zügigen Flüchtlingsschutz, für erleichterte

Einbürgerungen, für einen Weltstaat.

MARKUS HENN

22

Page 23: Powision #3 - Extrem is muss

Powision: Hiva*, du bist gebürtiger Iraner

und lebst seit 2001 in Deutschland. Was wa-

ren die Beweggründe dein Heimatland Iran zu

verlassen und nach Europa zu kommen?

Hiva: Die iranische Gesellschaft ist ein

Gefängnis. Das Regime, die Religion und viele

gesellschaftliche Institutionen wie beispiels-

weise die Familie nehmen den Menschen die

Freiheit zu sagen, was sie wollen und zu le-

ben, wie sie wollen. Außerdem wollte ich ein

geisteswissenschaftliches Fach studieren, viel-

leicht Soziologie, aber das ist in Iran nicht an-

erkannt. Außerdem ist die universitäre Lehre,

überhaupt das ganze Bildungswesen sehr is-

lamisch geprägt und klammert potentiell kri-

tische Strömungen aus oder stempelt sie als

überkommene und falsche Ideologien ab. Ich

wollte mich damit nie abfinden und so habe

an regimekritischen Demonstrationen und

Kampagnen teilgenommen. Meine Eltern hat-

ten Angst um mich und ich war mir natürlich

im Klaren darüber, dass das nicht lange gut ge-

hen konnte. So habe ich 1999 meine Sachen ge-

packt und bin in die Ukraine geflohen, um dort

zu studieren. Die Studiengebühren konnte ich

jedoch nach zwei Jahren nicht mehr aufbrin-

gen und so bin ich über Ungarn, die Slowakei

und Tschechien nach Deutschland gekommen.

Powision: Wie hast du es geschafft, ohne Geld

so weit zu reisen?

Hiva:‚Reisen’ ist wohl nicht das richtige Wort.

Die Grenzüberfahrten organisierten meistens

Menschenschmuggler- oder Mafiabanden.

In Flüchtlingslagern bekommt man solche

Kontakte schnell. Ursprünglich wollte ich nach

Frankreich. Ich habe also mein letztes Geld zu-

sammengekratzt und mich denen sozusagen

ausgehändigt. Ich habe wochenlang in Kellern

gehaust und wurde in Containern hunderte

Kilometer durch Osteuropa transportiert. Als

ich dann im Jahre 2001 die tschechisch-deut-

sche Grenze durch ein Waldgebiet überquerte,

hatte ich Infektionen, aufgeplatzte Füße und

tagelang nichts gegessen.

Powision: Und in Deutschland war dann vor-

erst Endstation. Was ist passiert?

Hiva: Ich machte den Fehler ein deut-

sches Dorf zu passieren. Die Polizei nahm

mich fest und sperrte mich in eine Zelle. Für

mich war das ein unvergessliches Schock-

Erlebnis: Deutschland und andere europäi-

sche Staaten wecken in Menschen aus armen

Ländern Glücksfantasien. Diese hoffnungsvol-

le Erwartung wurde jedoch gleich nach mei-

ner Festnahme zerstört. Die Polizisten ver-

wehrten mir – obwohl ich offensichtlich abge-

magert und krank aussah – Nahrung und sogar

Wasser, während sie gemütlich zu Abend aßen.

Ich musste mich ausziehen und sogar eine rek-

tale Inspektion über mich ergehen lassen. Das

und ihre spöttischen Kommentare waren für

mich sehr demütigend.

Powision: Was glaubst du, warum sie dich so

behandelt haben?

Hiva: Ich weiß es nicht. Vielleicht wa-

ren sie sauer, weil ich für sie ein neuer

Bearbeitungsfall war, der Arbeitszeit kostete.

Sie telefonierten jedenfalls wie wild herum,

bis sie schließlich merkten, dass sie mich nicht

sofort wieder abschieben können, da ich kei-

nen Pass besaß. Am nächsten Tag transportier-

ten sie mich zum Bahnhof und sagten, ich solle

nach Chemnitz in ein Asylamt gehen – wieder

ohne mir etwas zu essen oder Geld zu geben.

In Chemnitz wohnte ich für einen Monat in ei-

nem Flüchtlingsheim und stellte einen Antrag

auf Asyl. Das Frankreich-Vorhaben wurde erst-

mal für längere Zeit auf Eis gelegt.

Powision: Wurde dein Antrag gebilligt?

Hiva: Nach einem Monat wurde mein

Asylantrag abgelehnt und ich wurde nach

Leipzig in ein anderes Wohnheim geschickt.

Ich nahm ein paar Gelegenheitsjobs an und

konnte mir so einen Anwalt leisten, um gegen

die Ablehnung zu klagen. Zweieinhalb Jahre

später wiesen mir die Behörden den Status

„Geduldeter" zu. Ich war fortan einer von

Die Aufschiebung der AbschiebungGlücksphantasien im Spätkapitalismus

23

Page 24: Powision #3 - Extrem is muss

knapp 200.000 Menschen in Deutschland, de-

ren Abschiebung in die unsichere Zukunft ver-

schoben wurde.

Powision: Was glaubst du, was geschehen

würde, wenn du zurück in den Iran geschickt

würdest?

Hiva: Meine Familie hatte schon damals Angst

um mich, da ich politischer Aktivist war und

an vielen regimekritischen Demos teilge-

nommen hatte. Eine Abschiebung würde ei-

nen offiziellen Weg nehmen, d.h. ich würde

ins Fadenkreuz der iranischen Behörden al-

lein schon deswegen geraten, weil ich hier

politisches Asyl beantragt habe. Seitdem die

Reformisten abgehauen sind und sich der fun-

damentalistische Flügel des Regimes in der

Atom-Frage mit den USA und ihren europäi-

schen Verbündeten anlegte, werden die staat-

lichen Repressionen gegen Abweichler und

Regimekritiker immer schärfer. Gerade im

Moment leben politisch Engagierte jeglicher

Couleur in Iran sehr gefährlich: Menschen ver-

schwinden einfach, werden eingekerkert, ge-

foltert oder auf offener Straße erhängt. Selbst

angesehene Wissenschaftler und Journalisten,

die im Ausland politisch tätig waren, kamen

nach ihrer Rückkehr in die Fänge der irani-

schen Sittenwächter. Ich könnte also bei einer

Abschiebung mit einer langen Haftstrafe oder

Schlimmerem rechnen.

Powision: Wie würdest du deine

Lebensbedingungen in Leipzig beschrei-

ben, vor allem in Bezug auf deinen Status als

„Geduldeter"?

Hiva: Ich unterliege einer so genannten

Residenzpflicht, das bedeutet, dass ich mich

innerhalb der Zone 1 in Leipzig aufhalten

muss. Ich kann also mit der Tram nicht ein-

mal bis zur Endstation fahren, wenn diese

außerhalb des Stadtgebietes liegt. Neben der

Übernachtung stellt mir das Wohnheim kos-

tenfreie Essensversorgung. Darüber hinaus

bekomme ich 48 Euro im Monat zur freien

Verfügung. Das muss dann für alles reichen,

auch für Kleidung.

Powision: Wie ist die Arbeitssituation als

„Geduldeter"? Bietet Arbeit eine Chance, die-

sen Status zu überwinden?

Hiva: Ich besitze als Geduldeter keine

Arbeitserlaubnis. Die einzige Möglichkeit,

die ich habe, sind so genannte nachrangi-

ge Arbeiten. Das sind schlecht bezahlte Jobs,

die sonst wohl niemand übernehmen wür-

de, sodass keine Konkurrenz auf dem „echten"

Arbeitsmarkt entsteht. Auch sind die Angebote

gering, gerade wenn man die Stadt nicht ver-

lassen darf.

Schwarzarbeit scheint für Leute in

meiner Lage die einzige Möglichkeit zum

Gelderwerb. Doch die Bezahlung ist noch

schlechter, verhandeln ist hier kaum mög-

lich. Ein Stundenlohn liegt bei 2 Euro. Zudem

ist man extremer Willkür ausgesetzt, da die

Situation von vielen „Arbeitgebern" ausge-

nutzt wird. Manche glauben in einem perma-

nenten Arbeitsverhältnis eine Chance zu se-

hen, irgendwann als vollwertiger Bürger an-

erkannt zu werden. Sie nehmen hohe Risiken

auf sich und arbeiten für Hungerlöhne. Das

große Problem bei der Duldung ist die enor-

me Unsicherheit: Es gibt Menschen, die le-

ben schon seit zehn Jahren als „Geduldete" in

Deutschland. Sie leben ständig in der Gefahr

abgeschoben zu werden.

Powision: Was wären denn potentielle

Arbeiten, die du auf legalem Wege annehmen

dürftest?

Hiva: Beispielsweise die Arbeit auf einem

Hühnerschlachthof. Hier kann man im re-

gulären Betrieb jedoch nur befristet arbei-

ten. Der einzige Job, der nach 6 Monaten

eine Aufstiegschance zulässt, ist derart ge-

sundheitsschädlich, dass ihn niemand so lan-

ge durchhält: Die noch lebenden Hühner müs-

sen draußen in ein Fließband gehangen wer-

den, was zum einen eine starke Belastung

für den Rücken bedeutet, da man die gleiche

Bewegung den ganzen Tag ausführt. Zum ande-

ren erhält kein Arbeiter schützende Kleidung,

was bei den auftretenden Gasen zu erhöhtem

Asthmarisiko oder Lungenkrankheiten führen

kann. Überstunden sind an der Tagesordnung

und werden grundsätzlich nicht ausgezahlt.

Eine Chance dagegen zu protestieren habe ich

nicht, da ich keinerlei Arbeitnehmerrechte ge-

nieße und der Versuch, sich gewerkschaftlich

zu organisieren, die Entlassung bedeuten wür-

de. Zwar ist die Bezahlung mit 5,80 Euro nicht

24

Page 25: Powision #3 - Extrem is muss

so schlecht, doch entfällt in diesem Fall jegli-

che Unterstützung durch das Sozialamt. Kein

Geld, kein Essen und keine Sozialwohnung

mehr. Dazu kommen natürlich noch die täg-

lichen Fahrtkosten, so dass auch hier letzten

Endes nicht viel übrig bleibt.

Powision: Wie wurdest du von der hiesi-

gen Gesellschaft aufgenommen? Fühlst du

dich als Mensch respektiert oder hast du mit

Vorurteilen und Diskriminierung zu kämp-

fen?

Hiva: Ich habe viele nette Menschen hier ken-

nen gelernt und einige davon sind auch mei-

ne Freunde geworden. Dennoch gilt, dass man

als Mensch, dem augenscheinlich nicht deut-

sches Blut durch die Adern fließt, mit dis-

kriminierender, teilweise herabwürdigender

Behandlung rechnen muss. Die Gängelung und

massive Einschränkung meiner Freiheit durch

staatliche Behörden, die Demütigung durch die

Grenzpolizisten und bei vielen Arbeitsstellen

im nachrangigen Arbeitsmarkt sind klare

Indizien dafür, dass es offizielle und gesell-

schaftliche Maßstäbe gibt, an denen der Wert

eines Menschen abgelesen wird. Es gibt aber

auch die andere Form von Rassismus, den po-

sitiven Rassismus. Natürlich scheint das auf

den ersten Blick weniger bedrohlich zu sein als

der negative. Dennoch wird auch hier eine kla-

re Trennlinie zwischen Menschen gezogen und

‚Menschentypen’ generiert, die ganz bestimm-

te Eigenschaften aufweisen – ob diese nun po-

sitiv oder negativ zu bewerten sind liegt dann

im Auge des Betrachters. Die Nähe zum negati-

ven Rassismus ist also offentsichtlich.

Powision: Wie sind deine weiteren Pläne?

Wirst du Deutschland den Rücken kehren?

Hiva: Ich möchte vorerst in Leipzig bleiben.

Mein Wunsch wäre es an der Universität eine

Geisteswissenschaft zu studieren und darüber

hinaus meine verschiedenen Sprachkenntnisse

zu vertiefen. Eine handwerkliche Ausbildung

könnte ich mir auch gut vorstellen. Mit einem

Status als „Geduldeter" bleibt das aber bloß

Wunschdenken. Ich kann so gut wie nichts

machen.

DIE FRAGEN STELLTEN:

DANIEL MÜTZEL UND FLORIAN BARTH

25

Page 26: Powision #3 - Extrem is muss

In die folgende Darstellung wird das Leipziger

„Sonntagsgespräch“ vom 29. April 2007 zum

Thema „Der Völkermord an den Armeniern“ mit-

einbezogen. Den Vortag hielt Prof. Dr. Mihran

Dabag von der Ruhr-Universität Bochum, die

Moderation übernahm Prof. Dr. Georg Meggle

von der Universität Leipzig.

Die Bezeichnung des Genozids an den

Armeniern als eben solchen gilt in bestimmten

Diskursen immer noch als ‚extreme’ Position.

Die Vernichtung des westarmenischen Lebens

in den Jahren 1915/16 war keineswegs, wie

oft behauptet, etwa Ergebnis einer mehr

oder weniger zufälligen Affekthandlung, son-

dern Ergebnis einer genauen Planung. Die

Opferzahlen sprechen für sich: nach unter-

schiedlichen Angaben bis zu 1,5 Millionen

Toten. Nach Aufständen, hervorgerufen durch

das Unabhängigkeitsstreben der Westarmenier,

wurde mit einer „Gegenoffensive“ der Türkei

ein Völkermord verübt, der bis heute nicht

verarbeitet ist. So war der Genozid nach Dabag

der Versuch, die neue türkische Identität

des Turanismus durch islamisch-orientali-

sche Imperialismus-Aspekte und einen „neu-

en Nationalismus“ möglichst konsequent zu

kreieren. Das aktive politische Gestalten des

Panturkismus, einer „Integrationsideologie“,

wurde seitens der Jungtürken konse-

quent betrieben: Ein Volk sollte entstehen,

durch eine gemeinsame Sprache, Kultur,

Wissenschaft und Wirtschaft. Auch durch

das gezielte Ausschalten von vielen Eliten

und der Opposition hat es das Regime ge-

schafft, die türkische Identität in Form ei-

ner nationalen Großreichs zu verwirklichen.

Der Islam diente hierbei als Mittel, die Einheit

der Türkei herzustellen, „Turkistan“ zu schaf-

fen. So wurde die islamische Kultur des os-

manischen Reiches in die neue Nation aufge-

nommen, obschon der Abgrenzung willen be-

wusst offensichtliche Aspekte des arabischen

Kulturlebens negiert wurden (Schrift, Sprache

etc.). Als Begründung des Genozids gaben die

Verantwortlichen eine Handlung für die na-

türliche Identität an; eine Transformation

in Kürze (also quasi in der Biographie eines

Einzelnen) wurde verlangt und schließlich

auch erreicht. Dass damit der gänzliche Verlust

der armenischen Identität und Geschichte be-

siegelt wurde, kommt in den seltensten Fällen

zur Sprache. Es soll hier auch nicht verschwie-

gen werden, dass die Armenier stolz darauf

sind, dass das Land um 301 als erstes der Welt

das Christentum zur Staatsreligion erhoben

hatte. Die Kriege indessen gegen Christen sei-

tens der Muslime begannen schon vor beinahe

1000 Jahren. Bei Kettermann liest man: „1071

vernichtet Alp Arslan die byzantinische Armee

bei Mantzikert; dadurch ist Anatolien für die

türkische Landnahme frei.“1

Identitätsmuster einer Gemeinschaft

werden, so Mihran Dabag weiter, immer wie-

der reformiert; der Referenzrahmen für eine

kollektive Identitätsbildung Armeniens ist also

seit dem Völkermord im Wandel. Folglich wird

die heutige armenische Identität aufgrund

(und nicht etwa trotz!) des Genozids gelebt.

Die rigorose Leugnung des Völkermords

an den Armeniern ist lediglich ein

Definitionsversuch, aber eine klare Rekon-

struktionsverhinderung der Tatsachen.

Demgemäß ist Dabags Hauptthese, dass die

Leugnung des Genozids dessen tatsächliche

Fortsetzung bedeutet. Heute steht folglich die

armenische Diasporagemeinschaft der „neuen

türkischen Nation“ nach wie vor unversöhn-

lich gegenüber.

Im März 2005 gab es auf Antrag der

CDU/CSU-Bundestagsfraktion2 eine Debatte im

Deutschen Bundestag anlässlich der neunzigs-

ten Jährung des Beginns des Völkermords. Die

damalige Bundesregierung wurde dazu aufge-

rufen, die Versöhnung zwischen Türken und

Armeniern aus historischer Verantwortung

voranzutreiben. Die Worte ‚Völkermord’ oder

‚Genozid’ wurden in der Debatte möglichst pa-

raphrasiert. Diese Art der Sprachpolitik, in wel-

Nationalismus als KonstruktEine kurze Skizze zur Debatte um den Völkermord

an den Armeniern

26

Page 27: Powision #3 - Extrem is muss

cher sich vor allem Vorsicht und Unsicherheit

zeigen, verdeutlicht den Begriff „Völkermord“

als eine Rechtskategorie. Denn damit ergeben

sich Konsequenzen, die der Türkei einiges ab-

verlangen würden. Die Türkei, als eigentlich

laizistischer Staat, hat durch die Konstruktion

von Nationalismen erst eine relative Einheit

herstellen können - über den Islam und

mit ihm. Die türkische Anerkennung des

Völkermords an den Armeniern würde wohl

die Identität des Staates verändern, weil kei-

ne Konformität mit der Verfassung herge-

stellt werden kann. Die Präambel der tür-

kischen Verfassung3 konstatiert indirekt

die Nichtexistenz von Minderheiten, folg-

lich werden diese auch nicht geschützt.

Andersdenkende und Andersgläubige pas-

sen nicht in die neue Norm. Dennoch hat

sich die Türkei vor nunmehr 80 Jahren in

den Lausanner Verträgen verpflichtet, dass

„All inhabitants of Turkey shall be entitled to

free exercise, whether in public or private, of

any creed, religion or belief, the observance of

which shall not be incompatible with public

order and good morals” (Art. 38).4

Und um den fragwürdigen Beitritt der

Türkei zur Europäischen Union in den Diskurs

mit einfließen zu lassen, vertritt Dabag

die Auffassung, dass die Anerkennung des

Völkermordes seitens der Türkei zu einer der

Vorbedingungen des Beitrittsvorgangs gemacht

werden sollte. Ist die Europäische Union als

Ganzes bereit, den Westarmeniern, als Opfer

dieser Katastrophe, deren Recht auf Geschichte

zuzugestehen, und sie als Genozidopfer anzu-

erkennen? Man könnte die EU als Familie be-

titeln und nach der Familientauglichkeit po-

tentieller Mitglieder fragen, statt Wesentliches

wissentlich auszublenden. Ist es verständlich,

dass beschwichtigende, als „Appeasement“ be-

zeichnete Politik, angewandt wird, um die tür-

kische Staatsführung nicht zu kränken? Zwar

wurden durch das Europäische Parlament ent-

sprechende Beschlüsse5 gefasst, doch mehr

ist nicht geschehen. Außer vielleicht, dass

Bundeskanzler Gerhard Schröder dem türki-

schen Ministerpräsidenten Erdogan am Tag

der deutschen Einheit 2004 in Berlin eine

„Quadriga“ in Kleinformat überreichte. Ein

höchst beachtenswerter Vorgang.

Anstelle einer selbstkritischen Demut,

wie sie spätestens seit Bonifatius abendlän-

dische Tradition ist, wird dieses Massaker ge-

leugnet, und zwar rigoros.

Sollte ein übersteigerter Stolz- und

Ehrbegriff hinreichend sein als Legitimation

für das Stillschweigen vieler Europäer? Wie

lange kann ein beständiger Nationalismus

noch auf so viel Offenheit und Toleranz bau-

en?

Bleibt der Verweis auf den Theologen

Johannes Lepsius6, der mit seinem Lebenswerk,

dem Armenische Hilfswerk, einen wesentli-

chen Beitrag zu andauernder Wahrnehmung

und letztlich auch Verständnis der christli-

chen Armenier geleistet hat. Vielleicht kann

es gelingen, die Wichtigkeit von Diskurs über

Dissens zumindest doch zu akzeptieren, besser

noch Farbe zu bekennen. In Leipzig hat man

beim „Sonntagsgespräch“ wenigstens den nö-

tigen Mut dazu bewiesen, was nicht zuletzt

die obligatorische Polizeipräsenz während der

Veranstaltung indizierte.

1 Kettermann, Günter: Atlas zur Geschichte des Islam. Darmstadt, 20012 Deutscher Bundestag, Drucksache 15/49333 http://www.tuerkei-recht.de/Verfassung2005.pdf 21.6.20074 http://net.lib.byu.edu/~rdh7/wwi/1918p/lausanne.html 21.6.20075 http://www.europarl.europa.eu/intcoop/euro/jpc/turk/history2004_turkey_de.pdf 21.6.20076 Lepsius, Johannes: Deutschland und Armenien 1914-1918: Sammlung diplomatischer Aktenstücke. Potsdam 1919

JULIAN-CHRISTOPHER MARX

27

Page 28: Powision #3 - Extrem is muss

Es ist paradox: Auf der einen Seite for-

dert die Mehrheitsgesellschaft von Migranten

mehr Integrationswillen – gleichzeitig sinkt

aber die Bereitschaft der Mehrheit, sie als

Gleiche unter Gleichen zu akzeptieren. Wenn

sich etwa Muslime weder politisch noch be-

ruflich integrieren können, bleibt als letz-

tes Kapital, über das sie verfügen können, die

Religion. Dann aber darf die Religion niemand

kritisieren, weil sie ja die letzte Ressource

ist, die deshalb unbedingt verteidigt wer-

den muss. Dies erzeugt Abschottung und ver-

hindert selbstkritische Entwicklungen. Die

Mehrheitsgesellschaft ist an diesem Prozess

also durchaus beteiligt.

Wir wissen aus wissenschaftlichen

Untersuchungen der letzten Jahre: je größer

die Integrationschancen, desto geringer die

Anfälligkeit für autoritäre Muster und islami-

sche Ideologien.

Kaum jemand spricht aber ernsthaft

darüber, wie wenig Migrantenjugendliche

gerade mit muslimisch gepräg-

tem Hintergrund einen Abschluss

oder einen Ausbildungsplatz erhalten.

Die Bildung von Identitäten und

Identifikationen vollzieht sich oft als kom-

plexer und von Schwierigkeiten beglei-

teter Prozess mit vielfältigen Brüchen

und Umkehrmöglichkeiten. Vielfältige

Integrationsprobleme, ob in Arbeitsmarkt,

Schule oder öffentlichem Leben, deuten gar

auf eine Abkehr vom Integrationsprozess

hin. Soziale und kulturelle Konflikte im

Zusammenleben scheinen sich zu häufen.

Der Religion (Islam) kommt da-

bei offenkundig große Bedeutung zu.

Die Integration muslimisch geprägter

Zuwanderer und somit auch ihrer Religion

ist für Deutschland, anders als für manch

anderes europäisches Land mit koloni-

aler Vergangenheit, eine vergleichswei-

se neue Entwicklung und Herausforderung.

Wir haben es heute in der deutschen Gesellschaft

mit einer Wertepluralisierung zu tun. Also

nicht mit einem Wertezerfall, sondern mit ei-

ner Konkurrenz von alten Werten mit neuen.

Diese Wertepluralisierung schafft mehr

Freiheiten. Aber dieser Freiheitsgewinn

ist nicht kostenlos. Das wird oft unter-

schätzt, gerade bei Jugendlichen, die mit

der Frage konfrontiert sind, welche Werte

und Normen gelten, etwa bei Gewalt.

Werte müssen in Konflikten miteinander aus-

gehandelt werden. Denn sie verstehen sich

nicht mehr von selbst.

Genau an diesem Punkt sind wir

jetzt in Deutschland angelangt. In den

deutschen Medien und Politik missdeu-

ten aber manche diesen Prozess völlig.

Angeblich tobt jetzt wieder ein Kulturkampf.

Aber zwischen wem eigentlich?

Es ist allein ein Kampf der Ewiggestrigen. Sie

führen diesen Kampf nicht gegeneinander,

sondern gemeinsam – zum Schaden der offe-

nen Gesellschaft.

Fundamentalist wird man nicht durch

einen Glauben, sondern durch eine bestimm-

te Art zu denken oder auch nicht zu denken.

Die Fundamentalisten des Islam füh-

len sich sehr wohl in einer Gegenwart,

in der nicht mehr die Aufklärung und die

Säkularisierung den Diskurs bestimmen sol-

len, sondern das christliche Erbe und die re-

aktionären Denkmuster des 19. Jahrhunderts,

die zur großen europäischen Katastrophe

des 20. Jahrhunderts geführt haben.

Die sakralen Quellen – und zwar – aller mo-

notheistischen Religionen legitimieren nicht

mehr oder weniger Gewalt als die einer ande-

ren monotheistischen Religion. Die Geschichte

kennt genug Gewalt und Unrecht im Namen

Gottes aller monotheistischen Religionen.

Ohne die Aufklärung und Säkularisierung die

in Europa bereits stattgefunden hat, würde die

CDU heute in der gegenwärtigen Diskussion

um die richtige Migrationspolitik sicher-

lich nicht von einer vom „christlichem Erbe“

geprägten „Leitkultur“ sprechen können.

In einer Wirklichkeit, die von einer Vielzahl

an Kulturen, Religionen, Ethnien und

Philosophien geprägt ist, bildet aber eben nur

Kulturkampf, „Leitkültür“ oder Mekka in Deutschland oder was?

28

Page 29: Powision #3 - Extrem is muss

die Säkularität des Staates Gewähr für ein ge-

deihliches Miteinander.

„Wenn ich mich zu meinem Gastland

bekenne, wenn ich es als das meine betrach-

te, wenn ich der Ansicht bin, dass es fortan

ein Teil von mir ist wie ich ein Teil von ihm,

und wenn ich mich entsprechend verhalte,

dann habe ich das Recht, jeden seiner Aspekte

zu kritisieren; umgekehrt, wenn dieses Land

mich respektiert, wenn es meinen Beitrag an-

erkennt, wenn es mich in meiner Eigenart

fortan als Teil von sich betrachtet, dann hat es

das Recht, bestimmte Aspekte meiner Kultur

abzulehnen, die mit seiner Lebensweise oder

dem Geist seiner Institutionen unvereinbar

sein könnten.“

Mit diesen Worten Umschreibt der in

Frankreich lebende libanesische Schriftsteller

Amin Maalouf „die Integration“ aus der Sicht

eines muslimisch geprägten Migranten.

Integration verändert demnach bei-

de Seiten, die Mehrheitsgesellschaft

wie auch die Zuwanderer.

Amin Maaloufs Umschreibung von Integration

charakterisiert diesen Prozess auf grund-

legende Weise, hat Gültigkeit für alle

Integrationsprozesse im Zusammenhang mit

der Zuwanderung von Menschen, gleichgül-

tig aus welchem Kulturkreis sie kommen und

welches Gastland die Zuwanderer aufnimmt.

Sie zeigt, dass ein Bekenntnis zu einem Land,

dass die Identifizierung mit seinen Werten

und Konventionen einschließlich konstrukti-

ver Kritik an diesen ebenso Bestandteile des

Prozesses der Integration sind wie das Recht

des aufnehmenden Landes, Aspekte der Kultur

der Zuwanderer dann abzulehnen, wenn sie

mit der Lebensweise oder den Institutionen

des aufnehmenden Landes in Konflikt stehen.

Genau für diesen Fall haben wir ein

Grundgesetz. Darin sind die Kernwerte unse-

rer Gesellschaft dokumentiert, die uns zusam-

menhalten.

- Alevitische Gemeinschaft als Teil der de-

mokratischen Gesellschaft -

In der bundesrepublikanischen

Gesellschaft gibt es einen Konsens darü-

ber, dass die absolute Untastbarkeit des

Menschenlebens, die Gleichberechtigung von

Mann und Frau, die Trennung von Staat und

Religion, die gegenseitige Anerkennung der

Religionsgemeinschaften oder Meinungs- und

Glaubensfreiheit unveränderbar und zu ver-

teidigen sind. Von dieser Gesellschaft und

dem Staat können wir nur dann uneinge-

schränkt akzeptiert werden, wenn wir den

im GG festgeschriebenen verfassungsrecht-

lichen Konsens auch für uns akzeptieren. In

diesem Sinne betrachten die in Deutschland

lebenden Aleviten das Grundgesetz

als „gültigen Gesellschaftsvertrag“.

Man muss die liberalen Kreise der Migranten

aus muslimisch geprägten Ländern stärken.

Dazu muss Öffentlichkeit hergestellt werden.

Daran fehlt es. Vor allem darf man nicht ein-

fach Leistungen von Migranten erwarten –

und wenn sie diese erfüllen, gegen die Wand

laufen oder alleine lassen. Das kann erst recht

ein Einfallstor für islamistische Ideologien in

die Community sein.

Unsere „Leitkültür“ ist der Humanismus,

der im Grundgesetz der Bundesrepublik

im Art. 1 zum Ausdruck kommt:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Das Alevitentum ist keine missiona-

rische Religion oder Glaube. Die alevitische

Gemeinde Deutschland ist bereit ihrer gesell-

schaftlichen Verantwortung gerecht zu wer-

den. Wir stehen mehr denn je für einen inter-

religiösen und politischen Dialog mit allen ge-

sellschaftlichen Gruppierungen zur Verfügung.

„Der Weg ist das Ziel.“

ALI ERTAN TOPRAK

29

Page 30: Powision #3 - Extrem is muss

Robert Misik [österreichischer Journa-

list, Anm. d. Red.], der schon als Marxist auf

die Welt gekommen und es bis heute geblie-

ben ist, brachte eine neue Allzweckwaffe aus

dem Arsenal des dialektischen Materialismus

in Stellung: den Begriff „Islamophobie“: „Wer

den Islamismus bekämpfen will, darf sich dar-

um auch nicht ‚weigern’, von der Islamophobie

zu sprechen – schließlich treibt diese ja die

Moderaten in die Hände der Radikalen.“

Unklar blieb, warum es immer die Moderaten

sind, die in die Hände der Radikalen „getrie-

ben“ werden - und nie umgekehrt.

Warum die Riege der Gutmenschen

aus Politik, Medien und Wissenschaft nie

um eine kommode Ausrede verlegen und all-

zeit bereit ist, beide Augen zuzudrücken, ist

einfach zu erklären. Erstens macht es viel

mehr Spaß, sich für die Befreiung Palästinas

und der Gefangenen von Guantanamo ein-

zusetzen, weil man dafür nichts anderes tun

muss, als auf die Straße zu gehen und ein

Poster in die Luft zu halten. Hinzu kommt,

dass solche Aktionen garantiert folgenlos

sind. Kein Demonstrant wäre gehalten, einen

der Gefangenen von Guantanamo bei sich zu

Hause aufzunehmen, mit ihm Tisch, Bad und

Küche zu teilen, um ihm bei der Rückkehr

ins normale Leben zu helfen. Würde er sich

aber mit derselben Intensität um die verletz-

te Menschenwürde der »Importbräute« sor-

gen, hätte er bald deren Männer, Brüder und

Väter am Hals. Ein letzter Rest seiner längst

erloschenen Wirklichkeitswahrnehmung sig-

nalisiert ihm, dass ihm das nicht gut bekäme.

Da unterschreibt er lieber eine Resolution ge-

gen Zwangsprostitution und genießt zwischen

zwei Margaritas das Gefühl, sich ganz toll en-

gagiert zu haben. Es geht also nicht darum, et-

was zu tun, sondern darum, so zu tun, als ob

man etwas täte.

Die „aktive Verweigerungshaltung“,

die Schneider [Peter Schneider, deut-

scher Schriftsteller, Anm. d. Red.] in einem

Teil der moslemischen Gemeinschaft aus-

gemacht hat, findet sich also auch in der

„Mehrheitsgesellschaft“. Wissend, dass es

ein Problem gibt, dem man nicht gewach-

sen ist, entscheidet man sich für aktive

Ignoranz, organisiert Straßenfeste, gemeinsa-

me Gottesdienste zu Mohammeds Geburtstag,

Konferenzen zum Dialog der Kulturen, kurz-

um, man agiert wie der Kapitän der „Titanic“,

der das Bordorchester aufspielen lässt, um den

Passagieren den Untergang so angenehm wie

möglich zu gestalten.

Man könnte natürlich den kleinen

Spielraum, der übrig geblieben ist, auch anders

nutzen. Wenn man kaum noch etwas zu verlie-

ren hat, kann man sich mehr Mut erlauben. Der

Börsenverein des Deutschen Buchhandels hät-

te vor Jahren den Friedenspreis des Deutschen

Buchhandels statt an die „Islamkennerin“

Annemarie Schimmel an den von Islamisten be-

drohten Salman Rushdie verleihen und damit

demonstrieren können, was der Börsenverein

von der Todesfatwa gegen Rushdie hält, die

von Frau Schimmel mit großem Verständnis

kommentiert wurde. Die deutschen Zeitungen

hätten, statt „Jyllands-Posten“ allein zu las-

sen, die Mohammed-Karikaturen nachdru-

cken sollen, nicht nur als eine Kundgebung der

Solidarität, sondern auch als Warnung an den

islamistischen Volkssturm: Ihr könnt toben, so

viel Ihr wollt, wir lassen uns nicht beeindru-

cken und nicht erpressen. Jede Konzession, je-

der Artikel, in dem davor gewarnt wurde, Öl

ins Feuer zu gießen, jede Entschuldigung eines

Politikers oder Firmenmanagers, die sich um

einbrechende Umsätze und Gewinne sorgten,

war eine Aufforderung an den rasenden Mob,

weiter zu machen.

Wie der Genosse Zufall es woll-

te, kamen im Frühjahr 2006 drei mediale

Großevents zusammen: der Karikaturenstreit,

die Diskussion um Ehrenmorde und andere

Familienverbrechen in „Migrantenfamilien“

und die Entdeckung, dass es an vielen deut-

schen Schulen zugeht wie in einem Piranha-

Becken. Allen gemeinsam war, dass sie erstens

um das Thema „Gewalt“ kreisten und zweitens

nichts als Ratlosigkeit evozierten.

Beim Untergang der Titanic ...*

30

Page 31: Powision #3 - Extrem is muss

Ende März wurde bekannt, dass die

Rektorin der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln

im Auftrag der Lehrerkonferenz einen Brief

an den Schulsenator geschrieben und ihn ge-

beten hatte, die Schule aufzulösen. In dem

Brief hieß es, ein geordneter Unterricht fin-

de nicht mehr statt, die Stimmung sei geprägt

von Zerstörung, Gewalt und menschenverach-

tendem Verhalten, Lehrer würden ignoriert

und oft auch attackiert, in bestimmte Klassen

gingen sie nur noch mit Handys, um im Notfall

Hilfe holen zu können. Die Belastung sei un-

erträglich geworden, die Schule am Ende der

Sackgasse angekommen, die Lehrer am Rande

ihrer Kräfte.

Der Anteil der Kinder deutscher

Herkunft an der Rütli-Schule, also ohne

Migrationshintergrund“, liegt knapp unter

20 Prozent, der Anteil der Kinder „arabischer

Herkunft“ dagegen bei 35 Prozent, der „türki-

scher Herkunft“ bei 26 Prozent. Wer unter sol-

chen Umständen den Ton auf dem Schulhof

angibt und wer ein „Integrationsproblem“

hat, liegt auf der Hand. Die Schüler deutscher

Herkunft werden als „Schweinefleischfresser“

beschimpft; sie versuchen, sich der Mehrheit

anzupassen, indem sie bewusst gebrochen

Deutsch sprechen, um weniger aufzufallen.

„Das hat es selbst in Berlin noch nicht

gegeben: Verzweifelte Lehrer fordern die Be-

hörden auf, ihre völlig in Gewaltexzessen ver-

sinkende Schule komplett aufzulösen“, staunte

ein Kommentator des Berliner „Tagesspiegel“.

Der „Notruf aus Neukölln“ löste eine

Diskussion über die Zustände an deutschen

Schulen mit einem hohen Anteil an „Mi-

grantenkindern“ aus. […] Selbst der Berliner

Schulsenator war oder tat überrascht. Er habe,

erklärte er, von den Vorgängen erst aus der

Zeitung erfahren. Alle fragten: Wie konnte es

so weit kommen? Was ist nur schief gelaufen?

Und was muss jetzt unternommen werden, da-

mit es nicht noch schlimmer wird.

Es war eine jener redundanten

Debatten, wie sie immer wieder in unregel-

mäßigen Abständen ausbrechen, mal über die

Leitkultur, mal über den Patriotismus und mal

eben über die Gewalt an den Schulen. Aber

diesmal war ein Detail anders. Man sprach

nicht nur über den „Migrationshintergrund“,

es wurden auch die beteiligten Ethnien beim

Namen genannt. „Früher haben die Türken die

Afrikaner gejagt“, erzählte ein Anwohner einer

Berliner Zeitung, „jetzt jagen die Araber die

Türken“. […]

Ein anderer Fall machte die Grenzen

der Polizeigewalt deutlich. Ein 15-jähriger

deutscher Schüler wurde eine Woche lang

von der Polizei zur Schule begleitet, nach-

dem er von einem 13-jährigen arabischen

Mitschüler bedroht und von dessen Clique

verprügelt worden war. Die Täter, berichte-

te der „Tagesspiegel“, gehörten einer bekann-

ten arabischen Gang an, „die seit Jahren den

Kiez terrorisierte“. Warum die Polizei den

deutschen Schüler auf dem Schulweg schütz-

te, statt die seit Jahren ihr Unwesen treiben-

de Gang von der Straße zu holen, blieb un-

geklärt. In Kreuzberg kann es vorkommen,

dass Polizisten, die einen Jugendlichen mit

„Migrationshintergrund“ festnehmen wollen,

sich zuallererst mit seiner Gang rumschlagen

müssen, die die Festnahme verhindern will.

Alles in allem wurden im Jahre 2005 ge-

nau 849 Fälle von Gewalt an Berliner Schulen

gemeldet, wobei nicht alle so spektakulär wie

die in Neukölln und Charlottenburg waren.

2006 dürften es nicht weniger werden. […]

*Auszug aus: „Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken“ von Henryk M. Broder. Erschienen 2006 im wjs-Verlag, Berlin. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

HENRYK M. BRODER

31

Page 32: Powision #3 - Extrem is muss

Wir machen ein Gedankenexperiment:

Stellen wir uns vor, wir leben in einem schö-

nen fernen Land nach althergebrachter vä-

terlicher Tradition. Unsere Moral, unsere

Wertsphären und unsere Institutionen sind

über viele Generationen erarbeitet und funk-

tionieren. Doch etwas ist anders, ist neu, ist

verändert. Unsere Interaktionen mit ande-

ren althergebrachten Welten haben sich in-

tensiviert; leider mehr forciert als gewollt.

Nun gibt es unter diesen anderen entwickel-

ten Welten eine dominante. Diese sieht das ge-

nauso wie wir: Alles funktioniert und ist ent-

standen durch harte, jahrhundertelange, gene-

rationsübergreifende Arbeit. Nur leider denkt

sie, dass sie – eben weil sie die dominante ist –

auch die richtige ist. Dies versucht sie mit ein-

deutigen Mitteln allen anderen Welten eben-

so klar zu machen. Die Mittel, derer sie sich

bedient, sind ein Militäretat, der zwei Drittel

der Militärausgaben des gesamten Planeten

entspricht. Davon wird der Großteil in zu-

kunftsträchtige militärische Forschung in-

vestiert. Sie verfügt über ein Heer von meh-

reren Millionen „Kriegern“, welche mit der

modernsten Ausrüstung ausgestattet sind:

Nachtsichtgerät, Infrarotsichtgerät, mobile

Dronen, fast rückstoßfreie Maschinengewehre,

die neusten atmungsaktiven Stoffe, allgelände-

taugliche und sichere Fahrzeuge mit moderns-

ten Zielerfassungsgeräten und punktuell tref-

fenden, automatischen Waffen. Des Weiteren

erfreuen sich diese „Krieger“ der schnells-

ten und effizientesten Logistik der Welt, die

es ihnen ermöglicht auch über 10 000 km

Entfernung den Ort, an dem sie sich befinden,

in ihre althergebrachte, hart erarbeitete Welt

zu transformieren.

Sie sind von der Richtigkeit ihrer

Moralvorstellungen so überzeugt, dass die

Motivation dieser „Krieger“ keinen Vergleich

findet. Diese Motivation spiegelt sich wieder

in der blinden Befolgung der Befehle, die in

Echtzeit aus ihrer Welt in alle anderen Welten

exportiert werden können. Ein System, so ef-

fizient, dass innerhalb von 100 Stunden die

drittstärkste Armee auf diesem Planeten be-

zwungen werden konnte. Nicht nur auf dem

Land sondern auch zu Luft und zu Wasser ha-

ben sie diese Vorherrschaft.

Was tun wir nun? Wir wollen unsere

Lebensweisen, unsere hart erarbeitete Welt

erhalten. Mit konventionellen militärischen

Mitteln können wir nichts erreichen. Was

bleibt uns noch? Welcher Weg kann uns erhal-

ten? Welcher Weg kann uns retten?

Interessantes Experiment?!

Offen gesprochen, wir leben in einer

Zeit, in der in unserer Welt Publikationen zir-

kulieren, die vor unserer Kapitulation warnen.

Befinden wir uns denn im Krieg? Wir kämp-

fen gegen vermeintliche Extremisten, wes-

halb wir mit ihnen nicht verhandeln können

und dürfen. Nur leider sehen sich Extremisten

nicht als solche. Ob RAF, ETA, PLO, IRA oder

Al Quaida, alle sehen sich als Krieger und da-

mit als Soldaten. Soldaten einer Welt, die der-

selben Funktion unterliegt wie unsere. Zwar

mögen der Schein und die Anwendung von

Mitteln für uns befremdlich oder gar erschre-

ckend wirken. Dennoch ändert dies nie etwas

an der jeweiligen Funktion und an dem jewei-

ligen Zielmechanismus, der dahinter steckt.

Vielleicht sollten wir nicht kapitulieren, aber

vielleicht sollten wir unseren Standpunkt nicht

als Absolutum oder als Endgültigkeit empfin-

den, schon gar nicht als richtig. Wir kapitu-

lieren nicht, sondern verhandeln. Verhandeln

von Angesicht zu Angesicht, als unterschied-

liche aber gleichwertige Partner, um zu einer

Lösung zu kommen. Wenn wir uns schon auf

Grund harter, jahrhundertelanger, generati-

onsübergreifender Arbeit die Klügeren schimp-

fen, dann muss für uns die Devise sprichwört-

lich lauten: Der Klügere gibt nach.

KEN P. KLEEMANN

LaLa-Land

32

Page 33: Powision #3 - Extrem is muss

Ein Gespenst geht um in der west-

lichen Hemisphäre – das Gespenst des

Kulturrelativismus. Es durchwaltet die

Seelen von Globalisierungsgegnern, linken

Gewerkschaftern, Friedensbewegten, Anti-

Imps und gutmenschelnden Sozialdemokraten.

Sie alle haben sich unter die gemeinsame Fahne

des Anti-Bellizismus vereinigt und kämpfen

spätestens seit Afghanistan 2001 in trauter

Einigkeit gegen „Kriegstreiberei" und „impe-

rialistische Weltpolizisten". Die dort zirkulie-

renden Meinungen reichen von einem intuitiv

hergeleiteten Pazifismus, über einem sich an-

tifaschistisch dünkenden Anti-Imperialismus

bis hin zum postmodernistisch gestützten, ra-

dikalen Kulturrelativismus. Ihnen allen ge-

mein ist die Aversion gegen die dominan-

te Position der USA auf dem weltpolitischen

Parkett, die – so die Unterstellung – mit mis-

sionarischem Aufklärungseifer und zivilisa-

torischer ‚Arroganz’ ein kulturexpansionisti-

sches Infiltrationsprogramm verfolgen, dass

sich mal in Kriegen, mal in der Schaffung neu-

er Freihandelszonen und Absatzmärkte mate-

rialisiert. In welche argumentationslogische

Aporien, analytische Schwächen und mora-

lische Fallstricke sie sich hierbei verfangen,

wird dabei – häufig aus impulsiven antiameri-

kanischen Ressentiments heraus – leider über-

sehen.

Die Skizzierung eines Weltzusammen-

hangs, der sich aus hochgradig differenzier-

ten Ideenclustern, kulturellen Netzwerken,

Identitäten und Ethnien speist, endet in sei-

ner postmodernen Ausformung in einer

Konstellation von grundsätzlich äquivalen-

ten Werten. Die relativistische Zurückhaltung

bei der Einführung von Beurteilungskriterien

erfordert eine dementsprechende Toleranz

gegenüber allen Identitäten und kulturel-

len Äußerungen. Eine durchaus wohl klin-

gende Idee, gewährt sie doch allen Denk-

und Organisationsformen die Freiheit, sich

nach ihrem Gusto zu entfalten, indem sie

eine universalistisch agierende, ‚arrogan-

te’ Missionierungsagentur theoretisch gar

nicht erst vorsieht. Problematisch jedoch

wird der heimelige Multikulturalismus,

wenn der Wert der Wertfreiheit selbst, wel-

cher erst die Freiheit der Gleichbehandlung

verbürgt, ins Fadenkreuz spezifischer

Entfaltungsprogrammierer kommt. Die res-

sentimentgeladene Fixierung auf eine angeb-

lich neokolonialistische Hegemonialkultur

aus dem reichen Westen trübt dabei den auf-

merksamen Blick auf die Bedrohung aus dem

Nahen Osten. Bin Laden bringt in einem Brief1

an die Vereinigten Staaten das Selbstbild der

Islamisten auf den erschreckenden Punkt:

"You [die USA, D.M.] are the nation who,

rather than ruling by the Shariah of Allah in

its Constitution and Laws, choose to invent

your own laws as you will and desire.”

Spätestens hier wird klar, dass der to-

talitäre Dominanzanspruch islamistischer

Denkmuster nicht mit Opferstilisierungen

und Widerstandsrhetorik erklärt werden

kann. Nicht Reaktion, sondern Aktion ist der

Handlungsmovens der Fundamentalisten.

Nicht der Verzweiflungsakt, sondern ideolo-

gisch infizierte Tötungsabsicht kennzeichnet

in den allermeisten Fällen das islamistische

Attentat.

„Der Islamist zwingt mich, in seiner Welt

als Antagonist aufzutreten und dementspre-

chend auf sein Handeln zu reagieren. Weil

er mich als seinen Feind ansieht, zwingt er

mich, ihn als meinen Feind anzusehen und

erneut in Begriffen zu denken, die ich, als

moderner Europäer, hatte vergessen wollen

[…]."2 Leon de Winter macht deutlich, dass

das Ideal der Gleichwertigkeit aller kulturel-

len Ausprägungen spätestens dann aufgege-

ben werden muss, wenn dieses Ideal und –

in der zwingenden Konsequenz – die Existenz

seiner Träger offensichtlich bedroht werden.

Denn die politische Zielgerade – das zeigt der

oben zitierte Brief islamistischer Gruppen

– ist nach islamisch-fundamentalistischer

Vernichtungslogik binär kodiert: Tod den

Ungläubigen oder totale Unterwerfung unter

das Gesetz der Scharia. Die ehrlichen Makler,

die ihr Heil am Verhandlungstisch suchen, im

Postmoderne Verwirrspiele

33

Page 34: Powision #3 - Extrem is muss

und ökonomistisch gedachten Ausprägung je-

dem Unterdrückungs- und physischen

Gewaltverhältnis vorzuziehen sind.

Nun lassen sich zwar ideologisch mo-

tivierte Handlungen wie die Unterjochung

der Frau oder die Liquidierung von

Andersdenkenden zu kulturellen Eigenheiten

verklären und mit (ebenso ideologisch moti-

vierter) demokratischer oder andersgearte-

ter Selbstbestimmung philosophisch auf ei-

nen Nenner bringen. Beides sind konstruierte

Wahrheiten, wie der Wertepluralismus selbst

auch. Die Frage ist aber vielmehr eine prag-

matische: Welche Wertvorstellungen sollen

wie viel Platz innerhalb einer Gesellschaft ein-

nehmen, um welchen sozialen Funktionen ge-

recht werden zu können. Reibungsflächen ent-

stehen erst bei universalistisch angelegten

Wertkonstellationen, was Hierarchisierungsalg

orithmen erfordert, um die Selektion der Werte

zu regulieren. Der humanistisch motivierte

Kulturrelativismus muss sich also fragen, ob

es nicht Werte gibt, die über anderen Werten

gelten sollten, ob nicht Gleichberechtigung

von Mann und Frau, Meinungs- und

Entfaltungsfreiheit, Abwesenheit von institu-

tionalisierten physischen Zwangsverhältnissen

über Werten wie Gleichwertigkeit kultureller

Äußerungsformen stehen sollten. Eine sinn-

volle Strategie der Bekämpfung des aggressi-

ven Totalitarismus islamistischer Provenienz

erfordert also Zweigleisigkeit: Zum einen das

Abschürfen moderater Kräfte, machthungri-

ger Opportunisten und der vielen Fähnchen im

Wind, bei denen klassische Erklärungsmuster

wie Hunger und Verzweiflung durchaus

ihre Berechtigung haben. Zum anderen die

Sich-Vergegenwärtigung der konfrontati-

ven totalitären Gewaltideologie, der nichts

Abschürfbares oder Verhandelbares anhängt

und auf die mit dementsprechenden Mitteln

reagiert werden muss.

kommunikativen Austausch der Lebenswelten

unter gleichberechtigten Diskussionspartnern,

vergessen dabei leicht, dass viele Islamisten

gar nicht an Verhandlungen interessiert sind.

Sie sind nicht durch Wutmanagement und

round-table-Diskussionen zur ‚Vernunft’ zu

bringen. Beinahe paradigmatisch ist der Mord

an den dänischen Regisseur Theo van Gogh im

Jahr 2005, der Augenzeugen zufolge bis zuletzt

versuchte, mit seinem Mörder, Mohammed

Bouyeri, zu diskutieren. „Natürlich können

wir darüber diskutieren", sagte dieser, wäh-

rend er unablässig Kugeln in van Goghs Körper

feuerte. „Wir reden doch darüber!"3

Wer sich den offenkundig totalitären

Zielsetzungen des politischen Islams analy-

tisch verschließt, gerät zwangsläufig auch in

logische Aporien. Ein Relativismus politischer

Ideen, radikal und konsequent an sein Ende

gedacht, mündet in eine Art darwinistischen

Existenzkampf, eine natürliche Auslese von

Ideen, in deren Verlauf die tüchtigen (totalitär-

expansionistischen) Ideen die untüchtigen (to-

lerant-passiven) ausmerzen. Er trägt also inso-

fern einen inneren Selbstwiderspruch in sich,

als dass er zwangsläufig zu seinem eigenen

Totengräber wird. Die Verharmlosung der isla-

misch-fundamentalistischen Subalternität zur

bloßen „Differenz" und „Kulturspezifik", wo sie

doch offenkundig expansionistisch und totali-

tär agiert und unverhohlen agitiert, ist analy-

tisch unbrauchbar, realpolitisch brandgefähr-

lich und darüber hinaus moralisch höchst be-

denklich.

War die Agenda der Aufklärung

und der Moderne die „Entzauberung der

Welt" (Horkheimer/Adorno), so exeku-

tiert die Postmoderne programmatisch die

„Entzauberung der Entzauberung" (Schmidt-

Salomon), welche an die Stelle eines objekti-

vierten Wertekatalogs das Dogma der morali-

schen Beliebigkeit setzt. Wer einem verabso-

lutierten Relativismus frönt, nimmt sich die

Freiheit für die Gleichsetzung von bürgerlich-

kapitalistischen Gesellschaften mit faschisto-

iden Unterdrückungsregimen. Man braucht

kein Apologet bürgerlicher Verhältnisse und

Ideale zu sein, um zu erkennen, dass Freiheit

und Gleichheit – so verzerrt, beliebig und

nichtssagend die Begriffe auch sein mögen –

selbst in ihrer bürgerlichen, formaljuristischen

1 http://observer.guardian.co.uk/worldview/story/0,,845725,00.html (letzter Zugriff 28.06.07)2 http://www.cicero.de/97.php?ress_id=1&item=230&aktion=blaettern&teil_num=1&teil_gesamt=12 (letzter Zugriff 28.06.07)3 http://www.benadorassociates.com/article/16672 (letz-ter Zugriff 28.06.07)

DANIEL MÜTZEL

34

Page 35: Powision #3 - Extrem is muss

In der Vorabfassung des kürzlich

veröffentlichten Verfassungsschutzbe-

richts 2006 wird man unter dem Stichwort

„Leipzig“ an acht Stellen fündig. Im Kapitel

„Rechtsextremistische Bestrebungen

und Verdachtsfälle“ wird Leipzig ein-

mal im Zusammenhang mit den neonazis-

tischen Demonstrationen des Hamburgers

Christian WORCH erwähnt und zweimal im

Zusammenhang mit der Polemisierung Michel

Friedmans durch das NPD-Mitglied Jürgen

GANSEL anlässlich des Fußball-WM Spiels

Iran-Angola. Die meisten Treffer aber fin-

den sich in der Rubrik „Linksextremistische

Bestrebungen und Verdachtsfälle“.

Deutschlands vergiftete Geister treffen

sich in Leipzig

So gibt es in Leipzig eine – z.T. konspira-

tiv hergestellte und verbreitete – Publikation

aus der autonomen Szene („incipito“), in der

u.a. Taterklärungen, Positionspapiere, Aufrufe

zu Demonstrationen, „Bastelanleitungen“

(Anleitungen zur Herstellung u. a. von Brand-

und Sprengsätzen) und andere für die linksex-

tremistische Diskussion und Praxis relevante

Beiträge veröffentlicht werden (S. 138).1 In der

Region Dresden/Leipzig existieren Gruppen ge-

waltbereiter Linksextremisten (S. 140). Am 1.

Mai waren bis zu 1.500 „Gewaltbereite“ un-

ter den insgesamt 5.000 Personen, die gegen

angemeldete Aufzüge der Rechtsextremisten

Christian WORCH und Steffen HUPKA de-

monstrierten (S. 145). Die „Leipziger Antifa“

(LeA) erklärt im ideologischen Streit zwischen

antideutschen und „traditionalistischen“/

pro-palästinensischen Positionen die

Unvereinbarkeit antizionistischer/antisemi-

tischer Positionen mit antifaschistischen

Positionen (S. 153). Schließlich beteiligten

sich in Leipzig am 3. Oktober mehrere hun-

dert Autonome an einer Demonstration von

insgesamt etwa 3.000 Personen gegen ei-

nen von dem Rechtsextremisten WORCH or-

ganisierten Aufzug (S. 184). Für gewalttäti-

ge Linksextremisten ist Leipzig Aktions- und

Ruheraum zugleich. Das weiß auch WORCH

und kommt deswegen immer wieder nach

Leipzig. Provokation und Reaktion wechseln

sich ab – Leipzig in den Schlagzeilen.

Politisch motivierte Kriminalität

Dabei sind Straßenkrawalle, die im

Rahmen von Demonstrationen oder im

Anschluss daran provoziert werden, eine ty-

pische Form autonomer Gewalt. Wenn von

1.500 „Gewaltbereiten“ die Rede ist, schlägt

sich das oft auch in einer hohen Zahl von

Gewalttaten nieder. Das Bundeskriminalamt

(BKA) registriert diese Gewalttaten mit extre-

mistischen Hintergrund im Definitionssystem

„Politische motivierte Kriminalität – links“. Als

politisch motiviert gilt eine Tat insbesonde-

re dann, wenn die Umstände der Tat oder die

Einstellung des Täters darauf schließen las-

sen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund

ihrer politischen Einstellung, Nationalität,

Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Reli-

gion, Weltanschauung, Herkunft, sexuel-

len Orientierung, Behinderung oder ihres äu-

ßeren Erscheinungsbildes bzw. ihres gesell-

schaftlichen Status richtet. Die Mittel zur

Durchsetzung politischer Ziele gewaltbe-

reiter Linksextremisten reichen dabei von

Gesetzesverletzungen über Gewalt gegen po-

litische Gegner bis hin zu vielfältigen militan-

ten Aktionsformen. Für das Land Sachsen re-

gistrierte das BKA zwar einen Rückgang von

Gewalttaten mit extremistischen Hintergrund

aus dem Bereich „Politische motivierte

Kriminalität – links“ (2006: 93, 2005: 108), al-

lerdings reicht es für den Freistaat nach Berlin

und Hessen immer noch für die dritte Stelle

in der Statistik (fünfte Stelle bezogen auf

Einwohnerzahl).

Anti, Anti, Anti…

Unter den gewaltbereiten Linksextre-

misten stellen jene, die sich selbst als Autonome

bezeichnen, den weitaus größten Anteil.

Obwohl die Bewegung der Autonomen nicht

„Autonome Bewegungen“:Politischer Extremismus von links

35

Page 36: Powision #3 - Extrem is muss

homogen ist, propagieren sie doch gemeinsame

Vorstellungen eines freien, selbstbestimmten

Lebens in „herrschaftsfreien Räumen”, die sich

durch die Abwesenheit „struktureller Gewalt”

(= staatliches Gewaltmonopol) auszeichnen.

Einen Staat lehnen sie daher als „repressiv” ab

und behalten sich das Recht vor, ihn durch die

Anwendung von Gewalt zu überwinden.

Dringender Forschungsbedarf

Zur Psychologie der Autonomen ist

auch 25 Jahre nach ihrer Formierung we-

nig bekannt. Was treibt Menschen in autono-

me Bewegungen? Welche Rolle spielt (kollek-

tive) Gewalt? Unter welchen Bedingungen lö-

sen sich Menschen aus der autonomen Szene?

In der Tat hat sich die Forschung mit diesem

Phänomen bislang kaum beschäftigt. Dabei

ist das Verständnis dieser Fragen wichtig, um

Kriminalität durch vorbeugende Maßnahmen

einzudämmen, das Sicherheitsgefühl

der Bürger zu verstärken und die durch

Kriminalität entstandenen Schäden zu verrin-

gern. Es besteht ein dringender empirischer

Forschungsbedarf.

Mehr aber als durch diffuse anarchisti-

sche und kommunistische Ideologiefragmente

ist das Selbstverständnis von Autonomen

durch Anti-Einstellungen geprägt („antikapita-

listisch”, „antifaschistisch”, „antipatriarchal”,

„antirassistisch”). Interessanterweise spielt

kollektive Gewalt eine in großem Maße iden-

titätsstiftende Rolle in der Szene obgleich es in

der Tat unzureichend wäre, die Autonomen auf

ihre Gewaltbereitschaft zu reduzieren. Denn

erst die Verbindung von Gewaltbereitschaft

mit der Kultivierung konsequenter Feindbilder

machen Autonome zu Extremisten. Über die

gewaltsame Überwindung des Systems hin-

aus, bieten sie keine weitere „Orientierung”.

Zweck und Mittel verschwimmen in diffusen

Räumen.

1 Die Redaktion erklärt ihre Auflösung am 16.10.2006 (Anm. d. Autors)

MICHAEL KLEMM

„Antirepressionsarbeit und Rote Hilfe [sind] not-wendig, ... um z. B. Revolution zu machen, ‚Antifa heißt Angriff‘ tatsächlich in der Praxis umzusetzen oder ‚Krieg dem imperialistischen Krieg‘ entgegenzusetzen.“ („DIE ROTE HILFE“ 3.2006, S. 19)

36

Page 37: Powision #3 - Extrem is muss

„Eine andere Welt ist möglich, hieß das

Motto der Demo. Eine Welt ohne Randale

und Gewalt ist es offenbar nicht.“1 Das wa-

ren die letzten Worte des Artikels über die

Großdemonstration der Globalisierungskritiker

und G8 Gegner aus der Leipziger Volkszeitung.

In der Frankfurter Allgemeinen war zu lesen,

dass „die Ausschreitungen von 2000 bis 3000

schwarz vermummten Gewalttätern begon-

nen wurden, die Steine und Brandtflaschen

auf Polizisten und Fahrzeuge warfen und mit

Latten und Knüppeln prügelten.“2

In den meisten öffentlichen Medien,

vor allem des deutschsprachigen Raumes,

sah die Berichterstattung ähnlich aus.

„Die Polizei hat sich an ihren deeskalieren-

den Kurs gehalten“3, die Gewaltakte wur-

den von den linken Steinewerfern angezet-

telt, die aus ganz Europa angereist sind, um

sich eine Schlacht mit der Polizei zu liefern.

Attac, die grüne Partei, auch der Großteil der

Demonstrationsleitung distanzierte sich von

den Gewaltakten, ja verurteilte sie. Bilder

von brennenden Autos, von eingekesselten

Polizisten, von zerstörten Einkaufspassagen

erreichten die Bildschirme der gesamten

Republik. Die größten Ausschreitungen die das

Nachkriegsdeutschland jemals erlebt hatte.

Doch wo liegt der Ursprung der Eskalation?

Zwei riesige Demonstrationszüge,

deren Teilnehmerzahlen für die meisten

Menschen noch immer um die dreißigtau-

send liegen dürften, marschierten durch die

Stadt, mit dem Ziel sich im Hafengelände

zur Abschlusskundgebung zu vereinen. Am

Hafen angekommen füllte, sich der Platz un-

aufhörlich mit Menschenmassen. Bei genau-

erem Hinsehen fiel ein Polizeiwagen auf, der

zentral auf dem Versammlungsplatz hielt

– eine Provokation? Die Verwirrung wur-

de größer, als man sah, wie zwei vermumm-

te Menschen den Wagen mit Steinen beschos-

sen. Immer mehr Menschen versammelten

sich um den Polizeiwagen, Steine schlugen un-

unterbrochen in das Auto ein, bis der Fahrer

des Wagens entschied die Flucht anzutreten,

indem er den Platz in Schrittgeschwindigkeit

verließ. Der Startschuss für den Straßenkampf

war nun gegeben. Ein ständiges Geben und

Nehmen auf beiden Seiten ließ die eigentli-

che Demonstration mehr und mehr in den

Hintergrund rücken. Demonstranten kesselten

die Polizei ein, warfen riesige Steine und hetz-

ten die Polizisten. Nach kurzen Ruhephasen, in

denen sich die Polizei zurückzog, eskalierte die

Situation immer dann, wenn die Polizisten den

nächsten Vorstoß ausführten. Mit Knüppeln

in der Hand schlugen sie wahllos auf die

Demonstranten ein, die dadurch in immer grö-

ßere Aufruhr gebracht wurden.

Ein surreales Bild zweier Welten über-

schattete das Hafengelände. Auf der einen

Seite versammelten sich friedliche, auch

verängstigte Menschen, die den Reden der

Globalisierungskritiker und der Musik lau-

schen wollten. Menschen tanzten, lachten,

regten sich ab und an über den überwachen-

den Hubschrauber auf, der dem Platz seine

ständige Aufmerksamkeit schenkte. Nur durch

die Redner und den aufsteigenden Rauch wur-

den sie über die Geschehnisse der anderen

Seite informiert. Hier fand ein nicht zu bändi-

gender Kampf zwischen zwei Lagern statt, die

sich gegenseitig ihre Stärke beweisen wollten.

Die Polizei sah sich gezwungen, mit einem ra-

dikalen Schlag in das Herz der Demonstration

die Gewalt zu unterbinden. Mit einem Mal

wurden die beiden Welten mithilfe der Polizei

vereinigt. Mit Wasserwerfern, knüppelnden

Hundertschaften und schwerem Gerät dräng-

ten sie in die friedliche Demonstration vor.

Sogar ein Rollstuhlfahrer, der sich waghal-

sig dazwischen werfen wollte, um das vor-

dringen der Polizei zu verhindern, wurde von

Stockhieben aus seiner Fortbewegungshilfe

gerissen und fiel auf den Boden. Die Polizei

stürmte in die friedliche Menge, hinter-

ließ Spuren der Angst in den Herzen der

Menschen, auch in jenen, die die Gewalt ab-

lehnen. In mir selbst ist ein Stück Seele zerbro-

chen, als mir das Ausmaß der Diskriminierung

G8 – Großdemonstration und ihre Folgen

37

Page 38: Powision #3 - Extrem is muss

und der Menschenrechtsverletzung bewusst

wurde. Nun hatten die Polizisten es tatsäch-

lich geschafft, alle friedlichen Demonstranten

zwischen dem Hafenbecken und der

Polizeisperre einzukesseln. Die Gewalt su-

chenden Demonstranten haben sich zu diesem

Zeitpunkt überall in der Stadt befunden - aber

nicht an diesem Ort. Was wollte die Polizei

also erreichen mit ihrem Vorstoß?

Vor uns standen aufgereihte Polizisten,

von denen einer sagte, nachdem er gefragt

worden ist, was er hier mache: „Ich bin hier,

weil ich Lust daran verspüre, solchen Leuten

wie euch mal richtig die Fresse zu polieren.“

Und wieder ein Tritt auf die schon verletz-

te Seele. Das Bedrohungsszenario verschärfte

sich, Wasserwerfer fuhren auf, die Leute beka-

men Panik, niemand wusste, was jetzt passie-

ren sollte. Rauch über der Stadt. Doch endlich,

nach einer unendlich erscheinenden Zeit, zo-

gen sie ab. Man fühlte sich wie ein Zebra, das

im letzten Moment das Erbarmen des Löwen

erfahren durfte und verschont blieb, obwohl

man doch nur friedlich seinen Protest ausdrü-

cken wollte.

Nach diesen unglaublichen Ereignissen

fühlte man sich in den Ketten der

Scheindemokratie gefangen, der Willkür der

Staatsgewalt ausgesetzt, nur weil man auf der

Seite von Steine werfenden Autonomen ge-

standen hat? Kurze Zeit habe ich gezweifelt, ob

ich denn überhaupt an den Blockaden teilneh-

me, die für die nächste Woche geplant waren.

Doch als man wieder im Camp ein-

traf und viele die gleiche Sicht auf die

Dinge hatten, fand man wieder zur Ruhe

und mit der Ruhe kam die Energie. Lange

Gespräche, anregende Unterhaltungen mit

Globalisierungskritikern aus ganz Europa,

Musik und Tanz haben zu einer harmonischen

Atmosphäre beigetragen, in der man keinen

Funken aggressiven Umgangs spüren konn-

te. Das Lagerkonzept überraschte mit basis-

demokratischen Organisationsmustern, in der

jeder in die Verpflichtung genommen wurde,

seinen Teil zum großen Ganzen beizutragen.

Für mich war diese Lebensorganisation in den

Camps die Alternative zur kapitalorientierten

Globalisierung.

Die Zeit in der Umgebung

Heiligendamms ist dennoch gezeichnet

von tiefer Erschütterung, hervorgerufen

durch das Vorgehen der Polizei. Nicht nur

die Gewaltausbrüche, auch die Hilflosigkeit

im Umgang mit friedlichen, kreativen

Protesten haben immer wieder gezeigt, dass

die Reformdringlichkeit auch nicht vor den

Ausbildungsbedingungen der Polizisten Halt

machen kann.

Insgesamt muss man die Gewalt ver-

urteilen, sie stärkt nur die Position der

Herrschenden, lässt die positive Botschaft ver-

sickern und hindert viele Menschen, die Kritik

hegen, aufzustehen, um ihren Protest zu ver-

künden. Mit der Gewalt wurde der immen-

se finanzielle Aufwand der Staatsmacht nur

legitimiert statt angeprangert. Findet ande-

re Wege eurer Verärgerung über die globalen

Vorgänge Ausdruck zu verleihen.

1 Leipziger Volkszeitung, Montag den 04.06.2007, Artikel auf Seite 32 Frankfurter Allgemeine, Montag den 04.06.2007, Artikel auf Titelseite3 Leipziger Volkszeitung, Artikel Titelseite

RICHARD OERTEL

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Page 39: Powision #3 - Extrem is muss

Herausgegeben vonder Projektgruppe „Powision“ am Fachschaftsrat

des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Leipzig3. Ausgabe

Erscheinungstermin: 07.2007

Preis: 1,00€

Anschrift (Leserbriefe erwünscht):Powision, c/o FSR PoWi, Beethovenstraße 15, 04107 Leipzig

E-Mail: [email protected]

Redaktion:Florian Fritsch, Karsten Schubert, Julian-Christopher Marx,

Daniel Mützel, Ken P. Kleemann, Florian Barth und Micha Fiedlschuster

Künstlerische Gestaltung: M. E. ([email protected])Layout: Micha Fiedlschuster, Daniel Mützel

Druck:Merkur Druck- & Kopierzentrum GmbH

Hauptmannstraße 404109 Leipzig

Verantwortlich für den Inhalt sind die jeweilig aufgeführten AutorInnen der Beiträge.Die Entscheidung hinsichtlich der Rechtschreibregeln unterliegt dem Ermessen der AutorInnen.

Das nächste Magazin erscheint voraussichtlich im Wintersemester 2007/2008. Mitarbeit und Artikel werden gewünscht.

Dank gilt den Förderern dieser Ausgabe:

ISSN 1864-9777

Page 40: Powision #3 - Extrem is muss

ISSN 1864-9777