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Meinung · Wissen · Nachrichten Das Magazin des Bundesverbandes der Vertragspsychotherapeuten e.V. Euro 6,00 · www.bvvp.de Der Streit um Geld und Anerkennung stört oft die Harmonie zwischen Psychiatrie und Psychotherapie. Dabei zeugen Kooperationsformen im Versorgungsalltag vom hohen Synergiepotenzial beider Disziplinen Ist Köhler jetzt unser Mann in Berlin? Nachlese zum Interview mit dem KBV-Vorsitzenden Steuerschrauben im Honorarsystem Die Parameter des Bewertungsausschusses müssen alljährlich neu ausgehandelt werden. Ein Ausblick auf 2011 Projekt Psychotherapie 03/2010 Geschwisterzank

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Meinung · Wissen · Nachrichten

Das Magazin des Bundesverbandes der Vertragspsychotherapeuten e.V.

Euro 6,00 · www.bvvp.de

Der Streit um Geld und Anerkennung stört oft die Harmonie zwischen Psychiatrie und Psychotherapie. Dabei zeugen Kooperationsformen im Versorgungsalltag vom hohen Synergiepotenzial beider Disziplinen

Ist Köhler jetzt unser Mann in Berlin?Nachlese zum Interview mit dem KBV-Vorsitzenden

Steuerschrauben im HonorarsystemDie Parameter des Bewertungsausschusses müssen alljährlich neu ausgehandelt werden. Ein Ausblick auf 2011

ProjektPsychotherapie03/2010

Geschwisterzank

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ProjektPsychotherapie

03

V O R W O R T

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

einmal mehr hat die Änderung der Honorarsystematik zu Verunsicherungen unterden Niedergelassenen geführt. „Qualifikationsgebundene Zusatzvolumen“ (QZV)heißt ein zum ersten Juli neu eingeführter Begriff in der Honorarlandschaft. Die Vor-gaben schaffen jedoch keine größeren finanziellen Spielräume für die Ärzteschaft,sondern sind ein weiterer Versuch, Ungereimtheiten im komplexen System der Ho-norarverteilung durch Nachbesserungen zu lindern. Leider führen diese Bemü-hungen jedoch auch wieder zu neuen Verwerfungen, sodass die Akzeptanz immerweiterer Neuerungen in der Ärzteschaft immer weiter schwindet.

Auch die Entwicklung der Gesamtvergütung schwankt im bundesweiten Vergleichstark. Baden-Württemberg weist im Vergleich zum Vorjahr ein Minus von 0,1 Pro-zent auf, Schleswig-Holstein dagegen ein Plus von 20,23 Prozent.

Die gerade veröffentlichten Eckpunkte zur Gesundheitsreform lassen ebenfallskeine Entspannung erwarten. Nach dem langen Titel „Für ein gerechtes, soziales, sta-biles, wettbewerbliches und transparentes Gesundheitswesen“ kommt wenig bisnichts Konkretes. Die Kassenbeiträge werden steigen – das war schon vorher durch-gesickert –, und an den Ärzten soll gespart werden. Es steht ein Einsparvolumen von350 Millionen Euro bei den Kassenärzten und von 500 Millionen Euro bei den Haus-ärzten zur Debatte. Im Eckpunktepapier findet man weitere Formulierungen wie „eineHonorarreform für den ambulanten Bereich, eine Reform der Selbstverwaltungs-organe, eine Ausweitung der Kostenerstattung“ und „das Vergütungsniveau derhausarztzentrierten Versorgung wird begrenzt“. Vertrauensschutz soll für Verträgegelten, „die bis zum Kabinettsbeschluss rechtsgültig sind“ – was immer das bedeutetund welche Verträge auch immer damit gemeint sind. Ob in diesen Formulierun-gen wirklich Weltbewegendes sorgfältig versteckt ist oder eher die eindrücklich be-kannte Unfähigkeit unserer Regierung zu abgestimmten und klaren Konzepten alsGrundlage von jeder Form von konsistenter Regierungstätigkeit und Gestaltung un-serer Lebensrealität in Deutschland zum Ausdruck kommt? Bisher war es jedenfallsso, dass die im Gesetzgebungsverfahren realisierten Umsteuerungen regelhaft nochmehr Grausamkeiten enthielten, als die vorigen Eckpunkte erahnen ließen.

Eines ist aber jetzt schon sicher: Vertrauensfördernd im Hinblick auf die Tragfähigkeitund Stabilität unserer bundesdeutschen staatlichen und halbstaatlichen Institutio-nen ist das alles nicht. Kein Wunder also, wenn vor diesem Hintergrund das Klimarauer wird, Gruppeninteressen zunehmen und wir Psychotherapeuten einmal mehraufpassen müssen, nicht unter die Räder zu kommen; denn wo gehobelt wird, dafallen bekanntlich Späne.

Aber lassen Sie es sich trotzdem nicht nehmen, die in diesem Magazin abgedruck-ten spannenden Beiträge zum Neben- und Miteinander von Psychiatrie, Psycho-therapie und Psychosomatik zu lesen. Dieses Thema ist ein echter Dauerbrenner,eine Stolperfalle, eine Herausforderung, je nach Betrachtungsweise. Auf jeden Falljedoch dreht es sich um Übergänge zu Nachbardisziplinen. Unsere Absicht, die wirmit diesem Heft verfolgen, ist es, diese Übergänge produktiv und erkenntnisorien-tiert zu gestalten.

Mit kollegialen Grüßen, Ihre Birgit Clever,1. Vorsitzende des bvvp

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ProjektPsychotherapie

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I N H A LT

Wissen

05 Steuerschrauben im HonorarsystemDie Parameter des Bewertungsausschusses müssen alljährlich neu ausgehandelt werden. Ein Ausblick auf 2011

Meinung

07 Ist Köhler jetzt unser Mann in Berlin?Eine kleine Nachlese zum Interview mit dem KBV-Vorsitzenden Andreas Köhler

Schwerpunkt Psychotherapie und Psychiatrie

11 Im SchulterschlussIn den Berufsgruppen Psychiatrie und Psychotherapie steckt jede Menge Synergiepotenzial

14 Das Melchinger-SyndromDie Studienergebnisse und -interpretationen von Heiner Melchinger unter der Lupe

17 „Es geht um Vernetzung“Wie Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie und Psychotherapie funktioniert, erklären Christa Roth-Sackenheim und Frank Bergmannim Interview

22 Raus aus Reduktionismus und BequemlichkeitDer anthropologische Ansatz vermittelt und eröffnet neue Perspektiven

26 Riskante VerzerrungenVorsicht Fehlentscheidung! In der Praxis gibt es häufig Interessenkonflikte mit unbewussten Nebenwirkungen

29 Zur Rolle der Psychotherapie im Fachgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie

Psychische Erkrankungen werden zunehmend störungsspezifisch therapiert. Ein Trend, der hohe Ansprüche an die Behandler stellt

Rubriken

32 Literatur

34 Veranstaltungen, Impressum

34 Ausblick auf Heft 04/2010

35 Marktplatz

ProjektPsychotherapie03/2010Das Magazin des Bundesverbandes der Vertragspsychotherapeuten (bvvp) e.V.

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ProjektPsychotherapie

05

W I S S E N

Steuerschrauben im HonorarsystemEigentlich müsste es eine Steigerung der Honorare geben. Die Parameter des Bewertungsausschusses müssen aber alljährlich neu ausgehandelt werden.Ein Ausblick auf 2011

Von Jürgen Doebert, kooptiertes Vorstandsmitglied bvvp

___ Jedes Jahr zum 31. August muss der Be-wertungsausschuss entsprechend seinemgesetzlichen Auftrag die Vergütung, dasheißt ihre Systematik und die Höhe derArzthonorare, für das kommende Jahr be-schließen. Dies gestaltet sich in diesem Jahrauch deswegen äußerst schwierig, weil na-hezu täglich neue Meldungen darüber zulesen sind, in welcher Weise die Regierungdas Gesundheitssystem reformieren will.Für den Bewertungsausschuss relevant sinddabei insbesondere alle Aussagen dazu, obes eine Steigerung der Arzthonorare gibt.Eigentlich müsste es eine Steigerung derHonorare geben, da die gesetzlich vorge-schriebene Systematik mehrere Stellgrößenenthält, die jedes Jahr neu wirksam wer-den. Hierzu gehört insbesondere die Orien-tierung der Vergütung an der Morbidität.Genau da sieht nun die Regierung Sparpo-tenzial: Wenn man die eigentlich gesetzlichfestgeschriebene alljährliche Erhöhung hal-bieren würde, kann man schon wieder einpaar Millionen vorweisen, die eingespartwurden.

Es gibt aber noch ein paar weitere Stell-größen, die im Gesetz vorgeschrieben sindund die der Bewertungsausschuss zu be-rücksichtigen hat. Hier sind zunächst die so-genannten Verlagerungseffekte zu nennen.Dabei geht es darum, dass durch kürzereVerweildauer in den Krankenhäusern,

durch steigende Zahlen von ambulantemOperieren und durch die Schließung vonKrankenhäusern weniger Geld für die sta-tionäre Krankenhausbehandlung und mehrGeld für die ambulante Behandlung beimArzt gebraucht wird. Obwohl sich jederdiesen Effekt sehr gut vorstellen kann, ister äußerst schwer verlässlich und plausibelzu berechnen.

Der Bewertungsausschuss hat außerdemnach dem Gesetz sogenannte Wirtschaft-lichkeitsreserven in den ärztlichen Praxen zuidentifizieren und zu berücksichtigen. Die-ser Begriff ist äußerst schwammig und lädtin besonderer Weise dazu ein, dass sichKrankenkassen und Kassenärztliche Bun-desvereinigung (KBV) im Ausschuss darü-ber streiten, ob und in welcher Höhe esdiese Wirtschaftlichkeitsreserven dennüberhaupt gibt. Die Kassen sehen hier einGegengewicht zu den anderen Faktoren.

Ein zentrales Thema ist, wie oben schonerwähnt, der Anstieg der Morbidität. DieMorbidität wird gemessen durch die Er-fassung des Behandlungsaufwandes in Ver-bindung mit der Diagnose. Hier hat sichder Gesetzgeber eine Regelung ausgedacht,bei der Ärzte und Krankenkassen ein Inte-resse an einer richtigen Diagnostik habensollen. Die Krankenkassen profitieren übereine richtige Kodierung der Diagnosen undderen Schweregrad über den Gesund-

heitsfonds von einem Ausgleich zwischenden Krankenkassen. Die Ärzte würden übereine gute Diagnostik eine eventuell gestie-gene Morbidität nachweisen und somit ihreHonorare erhöhen können. Somit ist esbeiden Seiten gemeinsam ein Interesse, dieÄrzte und Psychotherapeuten zu einer de-taillierten und korrekten Diagnostik an-zuhalten. Dieses Interesse findet seinenAusfluss in den neuen Kodier-Richtlinien,die im Moment in Bayern getestet werden,aber im nächsten Jahr verpflichtend sind.Spötter sehen aufgrund dieser Dynamikdie Deutschen schon in Kürze als daskränkste Volk auf dem Globus.

Wie schon mehrfach dargestellt, gibt esdie gesetzliche Vorschrift, dass ab 2011 ne-ben der Bedarfsplanung finanzielle Anrei-ze beziehungsweise „Strafen“ die Ärzte undPsychotherapeuten in bisher unterversorgteGebiete locken sollen. Die vom Bewer-tungsausschuss dafür gefundenen Lösun-gen sind aber nicht nur höchst kompliziertund schwer umzusetzen, sondern sie wer-den auch ihre Wirkung verfehlen, da es

Machen uns die Kodier-Richtlinien zum kränksten Volk auf dem Globus?

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W I S S E N

ProjektPsychotherapie

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praktisch keine unterversorgten Gebietegibt, in die jemand vor gesenkten Honora-ren in nominell überversorgten Gebietenfliehen könnte. Alle Hoffnung ruht nun aufder Regierung, diese ganze Regelung ge-setzlich aus dem Verkehr zu ziehen.

Schon lange wurde von der Ärzteschaft ge-fordert, der Kalkulation auf der Basis einesPunktwerts von 5,11 Cent nun auch dieRealisierung dieser Kalkulation folgen zulassen. Schließlich liegt der Punktwert nurbei 3,5 Cent, es gibt also eine Lücke, diesich insbesondere bei der Kalkulation vonPraxisinvestitionen nach Meinung der Ärzteschwer schließen lässt. Schließlich werdeein Röntgengerät nicht in Punkten, sondernin Euro bezahlt. Unter dem etwas unglück-lichen Stichwort Währungsreform möchtedie KBV nun tatsächlich eine entsprechen-de Umstellung des Standard-Bewertungs-systems erreichen. Da die Krankenkassennatürlich die dafür eigentlich notwendigenMilliarden nicht zur Verfügung stellen wol-len und können, soll das Ganze wiederumkostenneutral durchgeführt werden. Washeißt das? Der Punktwert ginge hinaufund die Punktzahl sänke. Also ein Null-summenspiel. Allerdings würde das nurfür bundesweite Summen gelten, im Ein-zelnen wären jedoch die unterschiedlichenArztgruppen sehr wohl in unterschied-licher Weise von dieser Umrechnung be-troffen.

Natürlich spielen bei dieser Umrech-nung die Praxiskosten eine besondereRolle. Die Krankenkassen argwöhnenschon lange, dass manche Kosten bei man-chen Arztgruppen unrealistisch hoch seien.Vor einer solchen Währungsreform mussalso festgestellt werden, ob die Kostenüberhaupt in der richtigen Höhe kalku-liert sind. Man darf gespannt sein, was dasErgebnis dieser Überprüfung der Kostenam Ende bringen wird.

Für uns Psychotherapeuten steht nunerstmals in der neuen Systematik seit 2009

die Frage auf der Tagesordnung, ob diedurch den Bewertungsausschuss damalsfestgelegte Höhe von circa 81 Euro nochimmer angemessen ist. Das Bundessozial-gericht hatte diese Angemessenheit da-durch operationalisiert, dass es einen Ver-gleich mit anderen Arztgruppen vorschrieb.Dieses Urteil gilt immer noch. Trotzdemmuss der Bewertungsausschuss durch dieneue Systematik ab 2009, in der es keineregionale Honorarverteilung ergibt, eineneue Form der Überprüfung der Ange-messenheit definieren. Es ist die Frage zubeantworten, ob die Psychotherapeuten inihrem Honorar die Gewinnsteigerungenwiederfinden, die im ärztlichen Bereichdurch angeblich drei Milliarden zusätzlicheEuro möglich waren.

Angesichts der Tatsache, dass bis zumRedaktionsschluss dieses Heftes die end-gültige Ausgestaltung der Gesundheitsre-

form durch die Bundesregierung nicht vor-hersagbar ist, können hier keine Aussagendazu gemacht werden, wie denn die Kran-kenkassen zu dem Geld kommen sollen,dass sie entsprechend der oben beschrie-benen Mechanismen in die ambulante Ver-sorgung zahlen sollen. Zum gegenwärti-gen Zeitpunkt scheint die Idee, eine Ge-bühr für jeden Arzt-Patienten-Kontakt zuerheben, wieder vom Tisch zu sein. Es istklar, dass eine solche Lösung für Patien-ten, bei denen es zum Behandlungsplangehört, den Psychotherapeuten in regel-mäßigen Abständen aufzusuchen, untrag-bar wäre. Es würden genau die belastet, diefür ihre Psychotherapie oder auch sonstfür eine langwierige Behandlung die psy-chische, organisatorische und für die Wegeauch finanzielle Anstrengung auf sich neh-men, selbstverantwortlich an ihrer Heilungzu arbeiten. ___

Letzte Meldung vor Redaktionsschluss:

Ein Röntgengerät wird nicht in Punkten,sondern in Euro bezahlt

Die Regierung macht die Selbstverwaltung arbeitslosIm Rahmen ihrer Sparbemühungen greiftdie Bundesregierung mit einem Gesetz-entwurf in die Arbeit des Bewertungsaus-schusses ein. Die im vorigen Artikel dar-gestellten Stellschrauben für die Honorare2011 werden außer Kraft gesetzt. So wirdes keine Berechnung der Wirtschaftlich-keitsreserven und der Verlagerungseffektegeben. Auch die sogenannte Währungsre-form findet nicht statt. Trotzdem wird eseinen Zuwachs der Honorare für die Ärz-te geben, da der Faktor Morbidität weiter-hin wirksam bleibt, wenn auch reduziert.Da es bereits bei der letzten Reform sehrviel Ärger über die Verteilung der Gelderzwischen den Kassenärztlichen Vereini-gungen (KV) gab, nimmt auch dies dieRegierung selbst in die Hand und wird imGesetz eine sogenannte asymmetrische Ver-teilung dieses reduzierten Honorarzu-wachses regeln. Insbesondere Baden-Würt-temberg und Bayern, die über die letzt-jährige Verteilung sehr geklagt haben,sollen nun besser bedient werden. Wer hiereinen Zusammenhang zu der Tatsache her-stellt, dass in Baden-Württemberg dienächsten Landtagswahlen stattfinden, ver-fügt über politisches Feingefühl. Auch

die extrabudgetären Leistungen, die bishervon den Krankenkassen in vollem Umfangohne Einschränkung bezahlt werden sollen,werden in ihrem Zuwachs begrenzt. Somitmüssen alle Ärzte, die solche Leistungen, wiezum Beispiel das ambulante Operieren, bis-her in vollem Umfang vergütet bekamen, miteiner Quotierung rechnen. Es wurde immerwieder diskutiert, ob es uns Psychotherapeu-ten nicht besser geht, wenn unsere Leistun-gen außerhalb der Gesamtvergütung alsextrabudgetäre Leistungen vergütet würden.Nun wissen wir, dass uns dies auch nichtgeholfen hätte. Lediglich Prävention wirdweiterhin voll bezahlt.

Die Regelung über Zu- und Abschläge beiUnter- und Überversorgung wird ebenfalls fürzwei Jahre ausgesetzt. Dies ist eine wirklichgute Nachricht, da diese Regelung flächen-deckend zu Honorarverlusten für die Psycho-therapeuten, aber auch für alle anderen ge-führt hätte. Nun müssen sich die KVen unddie Krankenkassen andere Möglichkeiten derSteuerung der Niederlassung insbesondere fürunterversorgte Gebiete einfallen lassen.

Aber es bleibt eine grundsätzliche Skepsis:Erst wenn das Gesetz erlassen ist, gilt es auch!Bis dahin sind es Absichten.

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___ In Berlin, auf Bundesebene, gab es bisvor Kurzem drei „Köhler“, denen politischeBedeutung zukam und die somit etwas zusagen hatten. Einer hat jetzt aufgegeben, ei-ne hat stattdessen lieber den Namen abge-geben, aber einen gibt es noch. Das ist „un-ser“ Andreas Köhler, der Vorsitzende derKBV, und der gibt nicht auf. Bisher jeden-falls nicht, trotz langjähriger hartnäckigerAngriffe von allen Seiten, aus den eigenenReihen, von den Kassen und von der Politik– und die hatten eine ganz andere Qualitätund Power als die harmlosen Attacken aufden Bundespräsidenten. Na ja, schließlichwar Andreas Köhler mal Ringer – das siehtman ihm eigentlich gar nicht an, oder?

Weil er also voraussichtlich nicht aufgibt,nannten wir dieses Interview auch „pro-grammatisches Interview“. Denn pro-grammatisch kommt von Programm. Undwir werden mit Köhlers Programm wahr-scheinlich noch die nächsten fünf bis zehnJahre zu tun haben. Insofern erlaubt unsdas Interview einen Blick auf unsere Zu-kunft, unsere Aussichten und die kom-menden Probleme.

Wir beginnen zunächst mit den gutenNachrichten. Die erste ist, dass auch wirPsychotherapeuten Vertreter mit ausge-sprochener Steher- und Nehmerqualitäthaben. In den letzten zehn Jahren haben

diese offensichtlich einiges bei Köhler be-wirkt. Durch nachhaltiges Erklären, hart-näckiges Wiederholen und geduldiges Ar-gumentieren haben sie erreicht, dass Köh-ler inzwischen einiges von Psychotherapiein der Gesetzlichen Krankenversicherung(GKV) verstanden hat – und jetzt sogar alsder beste nichtpsychotherapeutische Ken-ner der Probleme unserer Profession in denReihen von Kassenärztlicher Bundesverei-nigung (KBV) und Kassenärztlichen Ver-einigungen (KV) gelten kann.

Dieses Metier war ihm, der frü-her nicht nur Ringer, sondern auchChirurg bei der Bundeswehr war,anfangs völlig fremd. Wie er indem Interview darlegt, hat er in-zwischen nicht nur verstanden,dass Psychotherapeuten „anders ticken“ als Organmediziner, sondern auch,dass es in einer psychotherapeutischen Be-handlung auf ganz andere Dinge ankommtals in der Sprechstundenpraxis des Organ-mediziners. Zwar sagt Köhler selbst, er wissenicht wirklich, was in einer psychothera-peutischen Sitzung vorgehe, und er hat auchzum Beispiel noch keine Fernsehfolge von„In Treatment“ gesehen – was man abernach dem anfänglichen überzeugendenAuftakt dieser Serie nicht bedauern muss,weil dieser sympathische Psychotherapeut

dort leider mit der Zeit doch einige peinli-che Kunstfehler beging.

Aber Köhler hat verstanden, dass es inder psychotherapeutischen Behandlung be-sonders auf die Persönlichkeit des Thera-peuten, die psychotherapeutische Bezie-hung und die Kontinuität und Langwie-rigkeit in der Behandlung ankommt unddass das Gebäude der Psychotherapie ge-tragen wird von den Säulen der Verfahrenund dass somit das Nebeneinander dieser

verschiedenen Verfahren und Methodenunverzichtbar ist. Er glaubt sogar, das Ver-ständnis in der Ärzteschaft dafür zu be-kommen, dass bei uns die kontinuierlichePatientenbindung eine sehr spezielle Rollespielt, und will hier ein Konzept vorlegen,mit dem er den Fachausschuss überraschenwird. Hier sind wir sehr gespannt, weil wirnicht die geringste Ahnung haben, was erdamit meint.

Klar ist jedenfalls, dass Köhler inzwischenauch verstanden und akzeptiert hat, dass

Ist Köhler jetzt unser Mann in Berlin?Eine kleine Nachlese zu unserem Interview mit dem KBV-Vorsitzenden Andreas Köhler in der letzten Ausgabe „Projekt Psychotherapie“

Von Frank Roland Deister, 1. stellvertretender Vorsitzender bvvp

Köhler hat verstanden, dass bei uns Psychotherapeuten die

Behandlungszeit nicht gleich Arbeitszeit ist

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ProjektPsychotherapie

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bei uns Psychotherapeuten die Behand-lungszeit nicht gleich Arbeitszeit ist unddass man zum Beispiel für die schlecht ver-güteten Psychotherapieanträge, wenn mansie lege artis erarbeitet, tatsächlich circa vierStunden zusätzlich am Schreibtisch sitzt.Bei der Entwicklung des jetzigen Einheit-lichen Bewertungsmaßstabs (EBM) hat eruns das noch nicht geglaubt, denn sonsthätte er vielleicht eine höhere Bepunktung,wie wir sie im Fachausschuss damals ge-fordert haben, auch den Kassen gegenübervertreten – und vielleicht durchgesetzt. Aberer wusste natürlich auch damals schon, waser jetzt weiß, nämlich dass nicht alle Psycho-therapeuten so solide und ehrlich selbstschreiben, weil er die einschlägigen Klein-anzeigen kannte. Genau aus diesem Grun-de sind wir nicht nur gegen Fremdautorenbeim Antragsschreiben, sondern auch ge-gen das Werben mit solchen illegalen An-geboten und haben uns bei der Bundes-psychotherapeutenkammer und den Län-derkammern über das Abdrucken solcherAnzeigen in dem von ihnen herausgegebe-nen „Psychotherapeutenjournal“ beschwert.

Sehr erfreulich ist auch, dass Köhler sicheindeutig dafür ausspricht, dass die gleicheAuslastung von ärztlichen oder psychothe-rapeutischen Behandlern den gleichen Er-trag erbringen sollte. Hiermit stellt er sich– deutlich wie nie zuvor – im Grunde hin-ter eine jahrelange Forderung von uns, nichtlediglich dem Urteil des Bundessozialge-richts (BSG) Genüge zu tun, sondern end-lich einmal durchschnittlich ausgelastetePsychotherapeuten mit durchschnittlichausgelasteten Ärzten zu vergleichen undden EBM dann entsprechend anzupassen.Mit dem BSG-Urteil kann sich Köhler of-

fensichtlich sowieso nicht anfreunden, weiler glaubt, dass es hinsichtlich der Kostenauf falschen Voraussetzungen beruhe. Aberer gibt uns einen heißen Tipp: Wir solltenmehr darauf abheben, dass wir nicht anPersonal delegieren können und damitauch nicht gleichzeitig mehrere Leistun-gen zur selben Zeit erbringen können, sowie Organmediziner. Nun ja, gesagt wurdedas schon öfter, ist aber wohl noch nichtangekommen. Immerhin sind wir mit un-seren bisher mühsam erkämpften 81 Europro Sitzung noch weit weg von den vombvvp schon vor einigen Jahren – als not-wendige Voraussetzung für ein wirklichvergleichbares Einkommen mit anderenÄrzten – kalkulierten 125 Euro!

Köhler betont hier auch erstmalig, dasses einen zunehmenden Psychotherapeu-tenmangel gibt und dass der Bedarf anPsychotherapie tatsächlich steigt und dassman dafür natürlich auch weiteres Geldbraucht. Das habe er früher nicht geglaubt.Notwendig sei allerdings eine kleinräumigeBedarfsplanung, die nichts mehr mit derbisherigen Bedarfsplanung zu tun habe,sondern den realen regionalen Bedarf ge-nau widerspiegelt. Im Zusammenhang mitder auf die Ärzte ebenfalls zukommendenMangelsituation, die zu Überlegungen ge-führt hat, ärztliche Tätigkeiten auch anNicht-Ärzte, vor allem Sprechstunden- undPflegepersonal, zu delegieren, denkt ersogar an die Übernahme ärztlicher Tätig-keiten durch Psychotherapeuten. An waser da denkt, außer der Überweisungsbe-fugnis, bleibt allerdings im Dunkeln.Immerhin wäre auch dies ein Schritt –dass Psychologische Psychotherapeutenund Kinder- und Jugendlichen-Psycho-

therapeuten bisher nichtüberweisen dürfen, verstehtnämlich sowieso kein ver-nünftiger Patient.

Hauptpunkt für Köhler istaber offensichtlich, dass er die„richtige“ psychotherapeuti-sche Versorgung weiterent-wickeln möchte und klärenwill, welche Behandlung wel-

che Patienten brauchen und wie psychia-trische, psychosomatische und psychothe-rapeutische Versorgung ambulant und sta-tionär besser ineinandergreifen könnten.Er fragt sich, ob es da Ergänzungen oderKombinationsmöglichkeiten gibt. Auchdass spezielle psychotherapeutische Kom-petenzen, wie zum Beispiel Psycho-Onko-logie, im Rahmen der GKV zum Zugekommen könnten, hält er heute für dis-kussionswürdig, ganz anders als früher. Je-denfalls diagnostiziert Köhler bei unsererGruppe – ganz richtig – ein Identitätspro-blem als „Psychotherapeuten“, weil wir unsnicht als Hüter der gemeinsamen psycho-therapeutischen Versorgung verstünden,sondern eher als Ärztliche oder Psycholo-gische Psychotherapeuten oder gar nur alsAnalytiker oder Verhaltenstherapeuten undso weiter. Hier ist er ganz auf unserer Li-nie – auch der bvvp sieht die Psychothe-rapeuten als eine einheitliche Berufsgrup-pe, deren Interessen er vertritt, egal welchenGrundberuf sie haben oder welches Ver-fahren sie anwenden.

Die Aufsplitterung in viele Verbände mitunterschiedlichen Partialinteressen statt ei-nes Dachverbandes hält Köhler – ebenfallsganz richtig – für hinderlich. Der bvvp istfür ihn zwar ein Beispiel eines integrati-ven Verbandes, der alle Berufsgruppen ver-tritt, leider habe er aber nicht das entspre-chende Profil, diese Positionen nach au-ßen zu vertreten. Köhler meint damit wohl,der bvvp sei leider nicht stark genug – dahat er ebenfalls recht, schließlich wäre derbvvp ja der ideale Dachverband.

Damit kommen wir zu den KV-Wahlen,bei denen Köhler betont, dass es für uns allewichtig sei zu wählen, um Repräsentantenin die entsprechenden Gremien zu be-kommen. Auch hier können wir ihm nurrecht geben und Sie auffordern, den bvvpzu wählen, damit er genau diese integrativepsychotherapeutische Position stärker alsbisher vertreten kann.

Ein Weg, mit der patientengerechtenpsychotherapeutischen Versorgung voran-zukommen, wäre für Köhler, sich endlichmehr Zeit für eine solche Diskussion zu

Köhler stellt sich hinter unsere jahrelange Forderung,durchschnittlich ausgelastete Psychotherapeuten mit durchschnittlich ausgelasteten Ärzten zu vergleichen

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ProjektPsychotherapie

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nehmen. Auch die Einsetzung eines soge-nannten „Vorstandsbeauftragten“, der selbstPsychotherapeut ist und mit den KBV- undKV-Strukturen Erfahrung hat und damitfür Kontinuität bürgt, wäre für ihn denk-bar und wohl auch wünschenswert. Hierkönnten wir Herrn Dr. Köhler einen gutenMann empfehlen. Bedauerlich ist nur, dasser sich für diese Aufgabe keinen dritten Vor-standsvorsitzenden vorstellen kann.

Auch Versorgungsforschung findet Köh-ler wichtig, um zu einer besseren patienten-gerechten Versorgung zu kommen. Die KBVhabe jetzt Möglichkeiten erarbeitet, end-lich ihre umfangreichen KV-Daten zu ana-lysieren und so zum Beispiel bei schwerenpsychischen Erkrankungen den Erfolg vonmedikamentösen Behandlungen mit undohne gleichzeitige Psychotherapie zu ver-gleichen. Wir begrüßen das sehr! Versor-gungsforschung ist eine alte Forderung vonuns – leider hat sich nie ein Kostenträger ge-funden für diese vergleichsweise teure,schwierige und dennoch notwendige For-schung, weil, anders als in der Organmedi-zin, potente Pharmafirmen nicht das ge-ringste Interesse daran haben. Und dassKVen und Kassen im Grunde aber einenriesigen Schatz von bereits vorliegendenDaten haben, mit dem sie bisher kaum et-was angefangen haben, ist uns bekannt.

So weit klingt das alles schon mal sehrgut. Ist also Köhler vom Saulus zum Pau-lus geworden und damit unser Mann in derKBV, bei dem unsere Interessen bestens auf-gehoben sind? Das wäre vielleicht etwasüberinterpretiert und auch zu viel von ihmverlangt. Auch bleibt abzuwarten, welcheTaten den programmatischen Aussagen tat-sächlich folgen.

Und außerdem ist er auch nicht in allemvoll auf unserer Linie. Damit kämen wirzur schlechten Nachricht.

Köhler steht nämlich offensichtlich demGutachterverfahren sehr kritisch gegenüber.Er fragt sich, ob es als Qualitätssicherungs-verfahren noch taugt oder nicht längst über-holt ist. Auch fragt er sich, ob die bewillig-ten Stundenzahlen heute noch erklärbarsind und ob es nicht Obergrenzen geben

sollte, die nur in Härtefällen über-schritten werden können. Hier istnicht ganz klar, ob er vielleicht garnicht weiß, dass es heute schonObergrenzen gibt, die nur in Här-tefällen ausnahmsweise über-schritten werden können – so ver-stehen die Psychotherapie-Richtlinien imGrunde nämlich den letzten Bewilligungs-schritt –, oder ob er meint, dass die Stun-denkontingente zu üppig seien. Hier müs-sen wir natürlich widersprechen und da-rauf hinweisen, dass gerade die von ihmerwähnte notwendige Kontinuität undDauer die zum Beispiel für analytischeLangzeittherapie beantragbaren Stunden-kontingente bei schwer kranken Patientenunverzichtbar machen und dass es eher umErhöhung bei der Verhaltenstherapie ge-hen sollte, als über engere Begrenzungennachzudenken, wenn man wirklich an derbesseren Versorgung psychisch krankerMenschen interessiert ist. Das Gutachter-verfahren ist unseres Erachtens in der vor-liegenden Form bewährt und nicht ersetz-bar, es könnte aber durchaus weiterent-wickelt werden. Zwar klagen auch vieleKollegen über den schlecht bezahlten Auf-wand und wären es daher gern los – einehöhere, dem Aufwand von circa vier Stun-den angemessene Bepunktung würde sieaber sicher versöhnen.

Köhler stellt in diesem Zusammenhangaber auch Fragen, über die man unsererMeinung nach durchaus diskutieren kann.Zum Beispiel, ob das Gutachterverfahrennicht methodenunabhängiger gemachtwerde könnte und ob es nicht zu spät ein-setzt. Mit Letzterem denkt er wohl an dieweitgehend gutachterfreien Kurzzeitthera-pien, die inzwischen in nennenswertemUmfang durchgeführt werden und so er-hebliche Beträge kosten. Man kann tat-sächlich darüber nachdenken, ob das sobleiben soll, da hier durchaus ein Einfalls-tor für weniger qualitätsgesicherte Arbeitbestehen könnte und es wohl auch The-rapeuten gibt, die sich damit schwertun,einen überzeugenden Antrag selbst zuschreiben, und daher nur kurze Therapien

durchführen. Allerdings sollte man derar-tige Veränderungen der Richtlinien nur imgrößeren Zusammenhang vornehmen undzum Beispiel gleichzeitig auch über verän-derte Bewilligungsschritte nachdenken.Und man sollte, wie von Doebert im Inter-view erwähnt, über die Genehmigungs-und Gutachterpflicht nicht nur bei unsnachdenken – dann könnte nämlich nochmehr Geld versorgungsadäqater eingesetztwerden.

Zum Schluss des Interviews nimmt Köh-ler noch einmal Stellung zur Integrationder Psychologischen Psychotherapeutenund Kinder- und Jugendlichen-Psycho-therapeuten in die KV-Strukturen. Erspricht hier von einer „Erfolgskurve“ un-serer Gruppe, die andere sich zum Vorbildnehmen könnten, hält die Integration ins-gesamt für gelungen und sieht sie auch alsden viel besseren Weg an, als wenn maneine neue, von der Organmedizin abge-trennte Struktur nur für Psychotherapeu-ten aufgebaut hätte, mit allen bekanntenProblemen der Sektionierung und Ab-grenzung.

Wir können ihm nur zustimmen – ge-rade der bvvp hat für die Integration sehrgekämpft, weil er keinen anderen ver-nünftigen Weg gesehen hat, die ÄrztlichePsychotherapie und die Psychologische undKinder- und Jugendlichen-Psychotherapiezusammenzuhalten. Man könnte sogar sa-gen, gerade auch Köhlers Aussagen undPositionen, wie er sie in diesem Interviewdargelegt hat, sind ein Beweis für die weit-gehend gelungene Integration. Wir sindfür den KBV-Vorsitzenden kein Fremd-körper mehr, er versteht unsere Problemewie kein anderer in der KBV und betont,sich dafür einzusetzen, dass wir die gleichenRechte wie die anderen haben sollen. Dasist doch schön. ___

Es bleibt abzuwarten,welche Taten den

programmatischen Aussagen tatsächlich folgen

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P S YC H O T H E R A P I E U N D P S YC H I AT R I E

Der Zank unter den Geschwistern Psychiatrie und Psychotherapie bekommt immer wieder neues Futter: durch fragwürdige Studien oder überflüssige Neidgefühle. Der Patient gerät dabei ins Abseits.Kooperationsformen im Versorgungsalltag leisten aber bereits einen Beitrag zum harmonischen Miteinander – in der Substanz und in der Beziehung. Weiterentwicklungen sind erwünscht

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G E G E N E I N A N D E R ? M I T E I N A N D E R !

___ Der Schwerpunkt dieses Magazins be-fasst sich mit dem mitunter schwierigenVerhältnis, wie man es unter Geschwisternnicht selten antrifft. Die Psychiatrie unddie Psychotherapie sind Teil der großen Fa-milie der P-Fächer, zu denen auch noch diePsychosomatik, die Psychologie, aber auchdie Nervenheilkunde und sogar die Neu-rologie zu zählen sind. Bei Geschwistern istmeist die Rangfolge, also der chronologi-sche Zeitpunkt der Geburt oder in diesemFall der historische Moment der Entste-hung eines Faches entscheidend. Vor diesemHintergrund sind Psychotherapie und Psy-chiatrie schon fast wie Zwillinge zu sehen.Und da zählt erst recht, wer der ältere istund damit die höherwertigen Rechte fürsich reklamiert.

Aber wer sind, um im Bild zu bleiben, dieEltern? Ist es die Gesellschaft, der Staat, dieMedizin, das Gesundheitswesen oder gar dieKrankenkassen? Vielleicht ist es aber auch dieAchtung und Reputation bei den Patienten.Unter ökonomischen Gesichtspunkten hießedas dann Nachfrage. Jedenfalls ringen beideDisziplinen seit Langem um Anerkennungund eng damit verbunden um die Sicherungihrer Zukunft und nicht zuletzt um die öko-nomischen Mittel dafür. Die etwas ältere

Schwester Neurologie als schon fast klassi-sches Medizinfach mit hohem Technikbe-reich, größerem Laboranteil und operati-vem Teilgebiet scheint es da etwas leichterzu haben. Aber in Psychotherapie und Psy-chiatrie spielen die klassischen Medizin-techniken und Prozeduren nicht die ent-scheidende Rolle. Die Seele kann manschlecht operieren, das Gehirn schon eher.Aber ist das Gehirn wirklich gleichzusetzenmit der Seele? Wohnt die nicht gar im Kör-per – genauer gesagt im Herzen? Aber daskann man ja auch operieren.

Die ökonomische Absicherung der Psychotherapeuten erwecktbei den psychiatrischen KollegenNeidgefühle. Zu Unrecht!

Zurück zum Geschwisterstreit, der durcheine erneut von Herrn Melchinger durch-geführte Studie, im letzten Jahr veröffent-licht, Nahrung erhalten hat. Mit einer aus-führlichen Besprechung der methodischfraglichen Datenaufbereitungen und an-greifbaren Interpretationen eröffnet Nor-bert Bowe den Themenschwerpunkt diesesHeftes. Interessengeleitet verzerrt erschei-nen die Datenauswahl und Deutungen von

Gesprächszeit und durchschnittlichen Kos-ten pro Patient und Quartal, die bei Psy-chotherapie-Patienten nun einmal für be-grenzte Zeit höher anfallen, bei Psychia-trie-Patienten dafür oft lebenslang. Auchwerden Medikamentenkosten in der Mel-chinger-Studie bei den Behandlungskostenvon psychiatrischen Patienten erst gar nichteinbezogen. Fazit der Rezension zu Mel-chinger: Durch die unbedachte Etikettie-rung von Psychotherapie-Patienten alsmehr ansprüchlich denn behandlungsbe-dürftig wird dem ganzen Gebiet der P-Fä-cher ein Bärendienst erwiesen. Ohne esvermutlich selbst zu wollen, diskreditiertMelchinger notleidende Patienten, die vonPsychotherapeuten und Psychiatern be-handelt werden. Er schadet der gesell-schaftlichen Akzeptanz von psychischKranken, was für Psychiatrie und Psycho-therapie gleichermaßen problematisch ist.

Nahtlos an diesen Auftakt über ein un-glückliches Beispiel interessengeleiteter„Forschungsauslegung“ schließt der Arti-kel von Klaus Lieb an, der das schwierigeGebiet der Interessenkonflikte in der Psy-chiatrie, Psychopharmakologie und nichtzuletzt in der Psychotherapie thematisiert.Sehr schön arbeitet er auch die intrinsi-

Im SchulterschlussDer Schwerpunkt „Psychotherapie und Psychiatrie – Gegeneinander? Miteinander!“ zeigt, welches Synergiepotenzial in beiden Berufsgruppen stecktVon Benedikt Waldherr

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P S YC H O T H E R A P I E U N D P S YC H I AT R I E

schen Aspekte von Interessenkollisionenwie den „wish bias“ oder den „confirmationbias“ heraus, die man mit etwas kognitiverTransferleistung auch in den Bereich derPsychotherapie übertragen kann.

Ein ausführliches Interview mit HerrnBergmann, dem Vorsitzenden des Berufs-verbandes Deutscher Nervenärzte (BVDN),und Frau Roth-Sackenheim, der Vorsitzen-den des Berufsverbandes Deutscher Psychia-ter (BVDP), umreißt noch einmal die Posi-tion der berufspolitischen Perspektive vonNervenärzten und Psychiatern. Erfreulichgroß erscheint darin die Schnittmenge ge-teilter Sichtweisen. Hier zeigt sich, dass dasVerhältnis zwischen den beiden Geschwis-tern im ambulanten Versorgungsalltag vielentspannter ist, als es manchmal erscheinenmag. Wenn man allerdings die mangelndeTeilnahme von Psychotherapeuten an Ver-trägen zur Integrierten Versorgung nach§140a Sozialgesetzbuch (SGB) bemängelt,in denen Psychiatern per Vertrag die Beset-zung der Schaltstellen vorbehalten ist, dannsollte man einmal die eigenen Spiegelneu-rone zur Klärung benutzen: Ein Vertrag mitvon Psychotherapeuten besetzten Schalt-stellen dürfte umgekehrt auch Psychiaternnicht sonderlich attraktiv erscheinen.

Niemandem gehören die schweren oder leichten Fälle

Andererseits lässt sich allerdings auch nach-vollziehen, dass psychiatrische Kollegen beider seit dem Psychotherapeutengesetz gro-ßen Zahl von annähernd 20.000 Psycholo-gischen Psychotherapeuten, ÄrztlichenPsychotherapeuten und Kinder- und Ju-gendlichen-Psychotherapeuten im Systemder Gesetzlichen Krankenversicherung(GKV) Sorgen beschleichen, allein von derMasse in den Hintergrund gedrängt zu wer-den. Darüber hinaus erweckt die von denPsychotherapeuten in langwierigen juristi-schen Auseinandersetzungen gelungeneökonomische Absicherung immer wiedergewisse Neidgefühle. Jedoch zu Unrecht.Denn zum einen profitieren davon auchdie Psychiater und Nervenärzte, soweit sieRichtlinientherapie erbringen, zum ande-

ren sichern die Erfolge der Psychothera-peuten keinesfalls höhere Verdienstchancenab, als Psychiater und Nervenärzte durch-schnittlich realisieren.

Auch das in der Melchinger-Studie an-geprangerte Rosinenpicken im Bereich derPsychotherapie und die daraus abgeleitetevermeintliche Fehlallokation von Finanz-mitteln, die auch Bergmann und Roth-Sa-ckenheim indirekt ansprechen, ist mehrAusdruck der immer noch bestehendenUnterversorgung im Bereich Psychothera-pie als Therapeutenwillkür. Psychothe-rapeuten sind auch gehalten, vor allemPatienten mit guten Veränderungspoten-zialen durch eine Psychotherapie zu be-handeln. Im Übrigen gibt es in jedem Fach-gebiet ungeliebte und damit weniger gutversorgte Patienten. Man denke nur an dieGruppe der Substitutionspatienten oderder Alkoholabhängigen, diese bevölkernauch nicht gerade die Praxen von Psychia-tern und Nervenärzten.

In eine ähnliche Richtung zielt die Inter-view-Bemerkung, dass von Richtlinien-Psychotherapie Menschen profitierten,„dieihr Gehirn gut gebrauchen können, diealso so gut strukturiert sind, dass sie diesehoch spezialisierte, hoch ritualisierte Be-handlung, die zudem hohe Ansprüche andie intellektuellen Fähigkeiten und an dasHilfesuchverhalten stellt, für sich nutzenkönnen“.

Dieses Bild erscheint einseitig gezeichnet:Sowohl von tiefenpsychologisch fundiert/psychoanalytisch Arbeitenden als auch vonVerhaltenstherapeuten werden nicht nurgut strukturierte Patienten, sondern in ho-hem und zunehmendem Maß auch Pa-tienten mit schweren Strukturproblemen,Persönlichkeitsstörungen oder Psychosenin der Vorgeschichte behandelt. Auch Psy-chotherapeuten lehnen ungern kranke, lei-dende Menschen am Telefon ab oder set-zen sie auf die Warteliste. Natürlich kannnicht geleugnet werden, dass Therapeutenauch Patienten auswählen, wie in anderenFachgruppen auch. Aber nicht einfach nachder Intellektualität. Das hat auch etwas mitder notwendigen Passung von Therapeutund Patient zu tun. Psychotherapeuten be-

handeln erfolgreich auch Patienten mit ge-ringer Sprachgewandtheit, eingeschränk-ten Sprachcodes oder mit kognitiven De-fiziten. Viel wichtiger als Intellektualität istdie Fähigkeit und Bereitschaft, ehrlich mitsich umzugehen und selbstkritisch an sichzu arbeiten: Dann kann jemand auch jenseits der Grenze zur Behinderung mit Richtlinien-Psychotherapie behandelt werden.

Was die hohe Ritualisierung anbelangt,so sind damit vermutlich Fragen des Set-tings gemeint. Diese werden in der Ver-haltenstherapie (VT) ohnehin individuellangepasst vereinbart, aber auch in der tie-fenpsychologisch fundierten Psychothera-pie und analytischen Psychotherapie häu-fig modifiziert eingesetzt. Behandlungenim Sitzen oder Liegen, Behandlungen, beidenen es um neurotische Konflikte oderum Aufarbeiten einer problematischen Fa-miliengeschichte geht, werden variiert undaufeinander abgestimmt, weil es die Pa-tienten so benötigen.

Dass Psychotherapie und Psychiatrie,gleich ob stationär oder ambulant, zu-sammenwirken und zusammengehören,kommt in dem Artikel von Mathias Bergerüber die Rolle der „Psychotherapie in derPsychiatrie“ sehr schön zum Ausdruck. Esist ein großer Gewinn, dass Psychothera-pie in der Psychiatrie einen zunehmendwichtigeren Stellenwert einnimmt. Aller-dings werden in den Ausführungen auchdie verschiedenen Sichtweisen des Gegen-stands Psychotherapie deutlich. Es sindnicht nur die Unterschiedlichkeiten vonstationär zu ambulant. Es ist auch die Dif-ferenz zwischen meist universitärer Wirk-samkeitsforschung in den Kliniken unddem Nutzen, der Anwendbarkeit und Be-währung in der Praxis.

Dass hier eine Lanze für die störungs-spezifische Psychotherapie gebrochen wird,versteht sich aus der Klinikperspektive:Kurztherapien (KZT) sind während einesbegrenzten Klinikaufenthalts das Mittel derWahl. Zur Klinikaufnahme führen oft kri-senhafte Zuspitzungen im Leben der Pa-tienten. Daraus ergeben sich meist ein-deutiger prioritär zu behandelnde Symp-

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G E G E N E I N A N D E R ? M I T E I N A N D E R !

tomatiken. Die Anwendung einer KZT, zumBeispiel des Cognitive Behavioral AnalysisSystem of Psychotherapy (CBASP), wirdstationär regelhaft ergänzt durch basaleTherapiemodule – Sport und Ergotherapie– und nicht zuletzt durch die Halt gebendeFunktion des Pflegepersonals.

Die Situation im ambulanten Settingstellt sich völlig anders dar: Der Psycho-therapeut übt die verschiedenen Funktio-nen des Klinikteams alleine aus, auch dieHaltefunktion des Personals. Er kann auf-grund der meist hochindividuellen, lang-jährigen Störungsgeschichte und der regel-haften Komorbiditäten seiner Patienten stö-rungsspezifische Therapien in der Regelnicht einfach anwenden – abgesehen da-von, dass für die meisten psychischen Er-krankungen solche nicht entwickelt wor-den sind. Er ist darauf angewiesen, mithilfeder in seinem Verfahren gelernten psycho-therapeutischen Sprache aus dem Fach-wissen des Verfahrens und dem differen-zierten, durchaus störungsspezifischen Be-handlungswissen Elemente entsprechendden Erfordernissen des Einzelfalls heraus-zulösen, zu kombinieren und zu integrie-ren. Dabei haben die etwas geringschätzigals „Schulen“ bezeichneten Psychothera-pieverfahren wichtige Ausbildungs- undVermittlungsfunktionen. Sie liefern den Bo-den und die sichere Basis, der das indivi-duelle Handlungs- und Erfahrungswissendes Therapeuten entspringt.

Jeder, der ein Primat seiner Teilwissenschaft fordert,scheitert

Es ist in vieler Hinsicht noch offen, inwie-weit sich eine in der Klinik wirksame, um-rissene Methode in der täglichen Praxis be-währt. Die Versorgungsrelevanz einer neuenklinischen Methode im ambulanten Rah-men muss sich bei den vielen Komorbidi-täten durch anhaltenden Nutzen erweisen.Inwieweit sie sich hinsichtlich der Vielzahlder Störungsformen und deren Subgruppensowie bezüglich der Varianz der durch dieseMethode (nicht) behandelbaren Patien-tengruppen als „in praxi“ überlegen he-

rausstellt, wird sich erst im Laufe der Zeiterweisen. Die Reihe der bereits vergange-nen Moden in der Psychotherapie ist rela-tiv lang. Da ist Vorsicht geboten gegenüberzu schnellen und zu weit reichendenSchlüssen, zum Beispiel die Ausbildungoder die ambulante Versorgung betreffend.Gut zu Erforschendes und damit auch gutfür die wissenschaftliche Karriere Ver-wendbares sagt noch nichts dauerhaft Gül-tiges über den verallgemeinerbaren Nut-zen in der differenzierten Patientenversor-gung aus.

Jeder, der ein Primat seiner Teilwissen-schaft fordert, muss notgedrungen schei-tern. Die erfolgreiche Behandelbarkeit auchschwerer Persönlichkeitsstörungen meist ineiner gut gelungenen Kombination auspsychotherapeutischen und medikamen-tösen Behandlungsstrategien im Wechselvon ambulanten und stationären Settingszeigt eindringlich, dass Zusammenarbeit,gleichberechtigte Kooperation und Inte-gration der verschiedenen Ansätze im Sin-ne unserer gemeinsamen Patienten amfruchtbarsten sind. Niemandem gehörendie schweren oder leichten Fälle. Jeder Psy-chiater, Nervenarzt oder Psychotherapeutwird sich anhand seiner eigenen Kompe-tenzen und Belastungsgrenzen ein indivi-duelles Portfolio verschiedener Schwere-grade menschlichen Leidens auferlegen. Esgibt Kollegen, die mit Borderline-Störungen„nicht können“, andere haben sich daraufspezialisiert. Ähnlich ist es bei den Be-handlungen psychotischer Syndrome, geis-tiger Behinderung, delinquenten Verhaltensdissozialer Persönlichkeiten oder von An-fallsleiden mit oder ohne gesicherte hirn-organische Befunde. Die Organisation derärztlich-psychotherapeutischen Berufe imRahmen der Freiberuflichkeit beinhaltetauch die Wahl der Arbeitsdichte, der Me-thode, der bevorzugten Techniken und The-rapieabsprachen. Mit zeitlich kurz getakte-ten Gesprächen zur Medikamentenverord-nung lassen sich andere Patienten erreichenals mit beziehungsintensiven Sitzungenunterschiedlicher Frequenzdichte. Wer langegenug in der Praxis – ob ambulant oder sta-tionär – tätig ist, wird anerkennen können,

dass die psychischen Erkrankungen auchdiese unterschiedlichen Herangehenswei-sen benötigen.

Bevor also weiterhin der Schwarze Peterzwischen den beiden benachbarten Be-rufsgruppen hin und her geschoben wird,sollten die konkurrierenden Geschwisterden Kopf erheben und sich umblicken. EinGeschwisterstreit ist in aller Regel ein un-nötiger Kräfteverschleiß. Die Achtung undAnerkennung der P-Fächer im Kanon dermedizinischen Fachgebiete sinkt in demMaße, in dem man im Gegeneinander Ma-terial für die gegenseitige Abwertung liefert.Der wechselseitige Schulterschluss ver-spricht dagegen mehr Synergieeffekte. Al-lein die inzwischen gemeinsam erreichteGröße der P-Fächer beeindruckt den übri-gen Medizinbereich. Darin steckt ein ge-meinsames Potenzial, wenn es gelingt, ge-meinsam voranzuschreiten. ___

Benedikt Waldherr ist PsychologischerPsychotherapeut und seit 1996 Mitgliedim Vorstand des bvvp-Bayern. Seit 2002ist er dessen 1. Vorsitzender. Von 2001bis 2004 war er Mitglied im Vorstandder KVB. Seit 2005 ist er regionaler Vor-standsbeauftragter in der KVB für dieBezirksstelle Niederbayern. 2007 wurdeer in den Vorstand der bayerischenKammer für PP und KJP gewählt.

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___ Unbestritten: Es ist wichtig und ver-dienstvoll, auf die prekäre Situation der psy-chiatrischen Versorgung aufmerksam zumachen, die unzureichende Vergütung be-sonders der psychiatrischen Gesprächsleis-tungen zu thematisieren, den enormen Ver-sorgungsdruck darzulegen und die hoheVersorgungsleistung herauszustreichen, diedie niedergelassenen Nervenärzte und Psy-chiater erbringen. Zumal, wie er anhand desZahlenmaterials aufweisen kann, in den ver-gangenen 20 bis 30 Jahren die psychiatrischeVersorgung zunehmend von stationär nachambulant verlagert wurde. So weit möchtenwir Herrn Melchinger rundum zustimmenund für seine Recherchen danken.

Doch leider hat er es sich zum Stecken-pferd gemacht, dabei die psychotherapeu-tische Versorgung anzugreifen und als über-

teuert, zum Teil unnötig und der Psychia-trie die Butter vom Brot wegnehmend er-scheinen zu lassen. Dabei benutzt er seineZahlen in völlig unnötiger und unsach-licher Weise gegen die Richtlinien-Psycho-therapie. Die Daten, auf die Herr Mel-chinger seine fragwürdigen Interpretatio-nen stützt, sind schnell wiedergegeben:

Als „Disparitäten“ in der vertragsärzt-lichen Versorgung prangert er an: „Für dieBehandlung von 72 Prozent aller Fälle er-halten die Nervenärzte/Psychiater 26 Pro-zent der Gesamtvergütung. Ärztliche undPsychologische Psychotherapeuten behan-deln 28 Prozent aller Fälle und erhaltendafür 74 Prozent des Honorarkuchens.“Und am Beispiel Hessen: „Entsprechenddisparat sind die … Fallwerte/Quartal …:Nervenärzte/Psychiater 46 Euro, PIAs (Psy-

chiatrische Institutsambulanzen) 227 Euro,Psychotherapeuten 365 Euro.“

Sein Resümee: „In der ambulanten Ver-sorgung fließt der Löwenanteil der Res-sourcen in die Richtlinien-Psychotherapievon leichter Erkrankten, für die Behand-lung von schwerer Erkrankten bleibt wenigübrig.

Irrationale Strukturen (… Verteilung derRessourcen im kassenärztlichen System,Schaffung des eigenständigen Fachs Psy-chosomatische Medizin, Folgen des Psycho-therapeutengesetzes) und die Verteidigungvon Partikularinteressen stehen einer ander Morbidität orientierten Verteilung derRessourcen entgegen.“

Den Disparitäten, zu Deutsch Unge-rechtigkeiten durch Ungleichheiten, sindnach Artikel III Grundgesetz Grenzen ge-

Das Melchinger-SyndromWie die Menschheit mit den Grippeviren wird die gesundheits-politische Öffentlichkeit seit mindestens 2003 Jahr für Jahr mit den aufrüttelnd erscheinenden Studienergebnissen und -interpretationen von Heiner Melchinger zur psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgungssituation konfrontiert.Und inzwischen werden diese Zahlen und Interpretationen durch ein jährlich sich mehrendes Echo wiederholt und medial verstärkt. In diesem Frühjahr wurden seine Ausführungen aufeiner Tagung, in einer Presseerklärung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und ihrer Wiedergabe im „Deutschen Ärzteblatt“ (DÄB) sowie in einem Interview und einem zweiteiligen Artikel in der Verbandszeitung des Berufsverbands Deutscher Nervenärzte (BVDN)„Neurotransmitter“ rezipiert Von Norbert Bowe, Vorstandsreferent bvvp

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setzt: Gleiches ist gleich, Ungleiches aberauch ungleich zu behandeln. Leider setztHerr Melchinger in seinen Ausdeutungendes Zahlenmaterials Ungleiches gleich undvernachlässigt so den differenzierendenBlick auf die Versorgung:

Richtlinien-Psychotherapie unterschei-det sich nach Definition und Indikationganz wesentlich von psychiatrisch-psycho-therapeutischen Gesprächen. Definitions-gemäß geht es bei Richtlinien-Psychothe-rapie um eine kausale Therapie, die bei psy-chischen Leidens-/Krankheitszuständenursächlich an den Fehlregulationen undWirkzusammenhängen bei gestörten see-lischen Funktionen ansetzt, eine aktive undmotivierte Mitarbeit des Patienten voraus-setzt und auf ein Beheben der Störungenund Krankheitszustände abzielt. Im Gut-achterverfahren müssen Störungsverständ-nis, Behandlungsziel und die Aussicht aufBehandlungserfolg nachvollziehbar darge-stellt werden. Bei dieser Behandlungsformwird mit hohem Einsatz von Therapeut,Patient und Ressourcen eine Heilung an-gestrebt.

Nach Melchinger nehmen irrationale Strukturen der Psychiatrie die Butter vom Brot

Erfahrenen Psychotherapeuten und erfah-renen Psychiatern fällt es nicht schwer,schon im Erstgespräch eine Differenzial-indikation zwischen Richtlinien-Psycho-therapie einerseits und kürzeren psychia-trisch-psychotherapeutischen Gesprächenin Kombination mit Pharmakotherapie an-dererseits zu stellen. Gerade letztere Kom-bination kommt häufig bei psychotischenPatienten, Patienten mit schweren Depres-sionen und schweren Charakterstörungenzur Anwendung. Verlaufsstruktur vonKrankheit und Behandlung, notwendigeInterventionen und Kostenanfall unter-scheiden sich dann deutlich von Verhält-nissen bei Indikation zur Richtlinien-Psychotherapie: Es geht dabei meist umchronische und oft lebenslange Verläufe,Kosten verteilen sich auf beide Arme derBehandlung: Gespräche und Medikamente.Begleitende Gespräche werden – außer inKrisenzeiten – nicht zeitlich dicht, sondern

über lange Zeitstrecken in größeren Ab-ständen angeboten. Der Aufwand für diesepsychiatrisch-psychotherapeutisch undmedikamentös behandelten Patienten istalso anders verteilt, in der Summe sicher –entsprechend der Schwere der Erkrankung– auch höher als bei Richtlinien-Psycho-therapie, selbst wenn man von den Kostender häufig erforderlichen stationären Be-handlungen einmal absieht. Das sind Rea-litäten der Alltagsroutine, die Herr Mel-chinger aber erst gar nicht in seine Inter-pretationen einbezieht. Deshalb merkt erauch nicht, dass sich bei Betrachtungennur der Gesprächsvergütungen über dieSpanne eines Quartals oder Jahres wederdie Krankheitskosten noch die Verteilungvon Ressourcen adäquat beurteilen lassen.Ähnliches gilt für seine Vergleiche die sta-tionären psychosomatischen Behandlun-gen betreffend. Seine Schlüsse sind ent-sprechend irreführend.

Seit Neuestem versucht Herr Melchingerseine Fehlinterpretationen auch nochdurch verdeutlichende Beispiele beim Le-ser unterzubringen, um die Disparität nochaugenscheinlicher zu machen. Auf der ei-nen Seite: Ein Psychotiker im Osten be-kommt nicht einmal eine ambulante So-ziotherapie von der Krankenkasse bewilligt,wird nur vom Hausarzt betreut und mitDepotspritze versorgt; nach dessen alters-bedingter Praxisaufgabe landet der Patientohne Behandlung wieder in der Krise undin der Klinik. Auf der anderen Seite: eineFrau, höheres Bildungsniveau, zwei Kin-der, gut situiert, mit Krise nach der Schei-dung und erfolgloser antidepressiver The-rapie, die meint, eine analytische Psycho-therapie zu brauchen, und tatsächlich 180Sitzungen genehmigt bekommt. Melchin-gers Kommentierung seiner absichtsvollgewählten Beispiele: „Dass in diesen beidenFällen Ressourcen richtig eingesetzt wur-den und dass der Ressourcenverbrauchdem Wirtschaftlichkeitsgebot des Sozial-gesetzbuches V (SGB) gerecht wurde, wo-nach die Behandlung ausreichend, zweck-mäßig und wirtschaftlich zu erfolgen hat,wird niemand behaupten.“ Und weiter: „Inder Gegenüberstellung der beiden Fällespringt die soziale Ungerechtigkeit insAuge. Für die sozial integrierte Frau, bei

der es noch nie psychische Auffälligkeitengab, bezahlte die Krankenkasse, die Soli-dargemeinschaft der Versicherten, 15.000Euro. Bei dem sozial benachteiligten, iso-liert lebenden psychisch Kranken war dieKasse noch nicht einmal bereit, ein paarHundert Euro für … Soziotherapie zu be-zahlen.“

Sicher werden – wie in allen Bereichen– auch hin und wieder Leistungsumfängeerbracht, die man hinterfragen kann. Nuran dem von Herrn Melchinger geliefertenkurzen Steckbrief lässt sich keineswegs einenicht medizinisch erforderliche Behand-lung ablesen. Es ist ein Allgemeinplatz, dassweder Bildung noch Wohlstand vor schwe-rem psychischen Leiden schützt, auch dassmit einer Scheidung eine bisher kompen-sierte erhebliche seelische Störung de-kompensieren kann. Und Psychothera-peuten wissen, dass schwere Störungen bei– rein äußerlich betrachtet – guter sozia-ler Einbindung auch nach 50 Jahren derLatenz ausbrechen können. Die Art derPräsentation seiner Beispiele bedient sichsomit fachfremder moralischer Kategorien,im Sinne einer sozialen Ungerechtigkeit,Arm gegen Reich, um gegen die Richtli-nien-Psychotherapie einzunehmen.

Leider scheint es so, dass eine nichtharmlose politische Absicht die Art derInterpretation bestimmt: Die Bedeutungder Psychiatrie soll auf Kosten der Nach-barbereiche Richtlinien-Psychotherapieund Psychosomatische Medizin in Stellunggebracht werden und letztere Bereiche derPsychiatrie untergeordnet werden. Daskommt auch darin zum Ausdruck, dassMelchinger „die Schaffung des eigenstän-digen Fachs Psychosomatische Medizin,Folge des Psychotherapeutengesetzes“schlicht und ergreifend als Paradebeispielfür „irrationale Strukturen“ aufzählt.

In Verfolgung derartiger Absicht unter-laufen ihm eine Menge Voreingenommen-heiten und berufspolitische Sünden:

Er bringt psychisch Kranke, die einerRichtlinien-Therapie bedürfen, in die Nähevon Versicherten, die sich aufgrund ihresBildungsniveaus geschickt Gesundheitsleis-tungen an Land ziehen. Damit leistet erlängst überwunden geglaubten Vorurtei-len Vorschub, psychische Krankheiten seien

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eingebildet, eigentlich nicht krank. Es istnachgewiesen, dass Richtlinien-Therapie-Patienten, bevor sie zum Psychothera-peuten finden, in der Regel jahrelang ver-mehrt andere Ärzte aufgesucht haben, seies aufgrund belastender psychosomatischerSymptome, sei es aus quälenden Krank-heitsängsten heraus oder aufgrund erhöh-ter somatischer Komorbidität – bei Psycho-therapie-Patienten statistisch nachgewie-sen. Diese verlässlichen Indikatoren für dieSchwere der Erkrankung von Psychothera-pie-Patienten werden nun bei Melchingerzu einer höheren Anspruchshaltung um-interpretiert.

Wenn man in der gesundheitspolitischenAuseinandersetzung seine Nachbarberei-che öffentlich mit Vorurteilen belegt, bringtman in einer weniger differenzierenden öf-fentlichen Wahrnehmung alle psychischKranken in Misskredit und stellt deren Ver-sorgungsansprüche infrage. Das gilt auchfür die innerärztliche Öffentlichkeit.

Priorisierung impliziert,dass nicht für alle Erkrankungen Mittel bereitgestellt werden müssten

Berufspolitischen Schaden richtet man erstrecht an, wenn man – wie an zentralen Stel-len seiner Veröffentlichungen geschehen –mit einer inadäquaten Fokussierung auf ei-nen konkurrierend vorgestellten Ressour-cenverbrauch für eine Priorisierung vonGesundheitsleistungen ausgerechnet im Be-reich psychisch Kranker eintritt:

„Die Verteidigung von Partikularinte-ressen steht einer an der Morbidität orien-tierten Verteilung der Ressourcen entge-gen.“ Wenn man der Logik dieser Formu-lierung nachgeht, heißt das nichts anderes,als dass man einer Selektion bei psychischKranken das Wort redet: begrenzte Mittel,deshalb zuerst die schwerer psychisch Kran-ken, dann – wenn was übrig bleibt – fürdie nicht ganz so schwer psychisch Kranken.Es ist fahrlässig, solche Denkfiguren ausge-rechnet aus den eigenen Reihen heraus zuverbreiten. Kein Vertreter eines anderen so-matischen Facharztgebiets würde eine sowichtige Sparte des eigenen Versorgungs-

spektrums derart zur Disposition stellen.Der Aufruf, Mittel für schwerer Erkranktesollten durch Priorisierungen, durch Ein-sparungen in anderen Segmenten desPsychobereichs generiert werden, geht im-plizit davon aus, dass bei psychisch Er-krankten nicht für alle Erkrankungsfor-men Finanzmittel zur Verfügung gestelltwerden müssten. Das schadet Behandlernund betroffenen Kranken gleichermaßen.

Das Melchinger-Syndrom könnte dannzur gefährlichen Krankheit werden, wennes sich in den Köpfen von Psychiatern,Krankenkassenvertretern und Gesund-heitspolitikern festsetzen sollte. Derzeitwird dafür einiges getan. Die Krankheits-folgen wären absehbar. Statt gemeinsamfür hinreichende Ressourcen für den ge-samten Psychobereich zu kämpfen, würde

ein Konkurrenzkampf auf Kosten des je-weils anderen initiiert. Es würden nichtnur Spaltungen zwischen Psychiatern undRichtlinien-Psychotherapeuten provoziert,sondern auch unter den Psychiatern selbst:Ein nicht unerheblicher Teil der Psychia-ter hat Richtlinien-Psychotherapie in seinPraxisspektrum integriert und muss der-artig plakative Gegeneinanderstellungenals Bedrohung der eigenen Behandlungs-tätigkeit auffassen. Schließlich zeigt dasSyndrom, wie rational, wie unverzichtbarder Facharzt für Psychosomatische Medi-zin und Psychotherapie ist: Solange Mel-chingers Ausführungen so begierig aufge-griffen werden, ist die Psychotherapie nurunter dem Schutz eines eigenständigenFacharztes als Ärztliche Psychotherapie zu-kunftssicher. ___

Melchingers wiederholte Ausführungenzum Ressourcenverbrauch und zur besse-ren Ressourcenverteilung gehen völlig anden Realitäten der Honorarverteilung imambulanten Bereich vorbei. Die vorge-schlagenen Einsparungen bei den Richt-linien-Psychotherapien würden im kol-lektivvertraglichen System nur zu einerminimalen Erhöhung der Gesamtvergü-tung führen, die sich dann auf alle Ärzteverteilte. Davon käme bei den Psychia-tern also praktisch nichts an. Umgekehrthaben die stattgehabten mäßigen Hono-rarverbesserungen der Psychotherapeutenkeine nennenswerten negativen Auswir-kungen auf die Honorare der nicht Richt-linien-Psychotherapie anbietenden Psy-chiater gehabt.

Die Psychiater waren vor 2009 mit denNervenärzten und Neurologen in einemFacharzttopf, der aus der Gesamtvergü-tung abgezweigt wurde. Unter den da-maligen Bedingungen hätte eine Besser-honorierung psychiatrischer Gesprächs-leistungen im gemeinsamen Topf zu einerrelativ schlechteren Bewertung anderer,zum Beispiel neurologischer Leistungengeführt. Die Psychiater, die Richtlinien-Psychotherapie anbieten, haben von den

Honorarverbesserungen bei der Richtlinien-Psychotherapie ab 3/2004 profitiert.

Eine weitere Fehleinschätzung wird demLeser nahegelegt: Es wird der Eindruck er-weckt, Psychotherapeuten könnten mit we-niger belastender Arbeit gutes Geld machen.Abgesehen davon, dass psychotherapeutischeArbeit sehr aufreibend, weil die ganze Per-son beanspruchend, sein kann, beweisensämtliche Statistiken deren bescheidene Ein-künfte: Der Durchschnittsumsatz der Psycho-therapeuten ist trotz der Vergütungsverbes-serungen 2009 nicht wesentlich über 18.000Euro pro Quartal hinausgekommen, der Durch-schnittsumsatz der Psychiater und Nerven-ärzte liegt bei über 33.000 Euro, das heißthöher, als die maximal ausgelastete Psycho-therapeutenpraxis erwirtschaften kann. Auchwenn höhere Kosten der Psychiater in Rech-nung gestellt werden, bleibt immer noch einehöhere durchschnittliche Verdienstspannebestehen. Verlierer und schlecht gestellt wiedie Psychotherapeuten sind lediglich die Psy-chiater, die mit regelmäßigen Gesprächsan-geboten chronisch Kranke mit hohem Be-treuungsaufwand versorgen. Und nur fürdiese bietet ein Wechsel in die Richtlinien-Psychotherapie eine wirtschaftlich sich rech-nende Alternative.

Die Honorarverteilung in der Realität

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G E G E N E I N A N D E R ? M I T E I N A N D E R !

Was können, was sollten Psychiater* vonPsychotherapeuten, was Psychotherapeu-ten von Psychiatern lernen? Diese Frage ist aus unserer Sicht nur zu be-antworten, wenn man sich die Entwick-lungshistorie beider Fächer anschaut. Schondie Medizinlehrbücher um 1800, das heißtnoch vor der Etablierung der Psychiatrieals Fach, weisen auf die Dualität der Be-handlung psychischer Erkrankungen hin:Empfohlen wurden somatische und „mo-ralische“ Behandlungen. Vieles spricht da-für, das psychiatrische Fachgebiet als Kindvon Medizin und Aufklärungspsychologieund -pädagogik zu sehen, mithin als eineArt erste Assimilation von psychothera-peutischem Denken in der Medizin.

1784 war in Wien der Narrenturm entstan-den, die erste stationäre Psychiatrie auf demGelände der Universitätsklinik, heute einwunderbares Museum. Überwiegend be-stand die Behandlung psychischer Störun-gen in Verwahrung und Bestrafung. Erst diedeutsche Universitätspsychiatrie Ende des19. und Anfang des 20. Jahrhunderts hatpsychische Krankheit als medizinisch be-handelbar definiert und das Fach Psychia-trie entscheidend vorangebracht.

Diagnostisch: Emil Kraepelin entwickeltedie ersten systematischen Klassifikations-systeme psychischer Störungen.

Methodologisch: Karl Jaspers gründeteeine phänomenologische Psychopatholo-gie. Psychotherapeutisch: Eugen Bleuler

„Es geht um Vernetzung“Jenseits der Klischees haben die BVDP-Vorsitzende Christa Roth-Sackenheim und Frank Bergmann,1. Vorsitzender des BVDN, eine Vision, die funktioniert. Im Interview treten beide für eine verstärkte Zusammenarbeit von Psychiatrie und Psychotherapie einDas Interview führte Norbert Bowe

„Die Psychiatrie muss sich noch immer

vor einseitiger Fremdwahrnehmung

als Pharmakon-fixiertwehren“

war der erste namhafte europäische Psy-chiater, der sich die psychoanalytischenKonzepte Freuds aneignete. Freud seiner-seits war in Kontakt mit den führendenNeurologen seiner Zeit. Durch LudwigBinswanger, Viktor Emil Frankl und an-

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P S YC H O T H E R A P I E U N D P S YC H I AT R I E

dere gab es weitere Impulse, modernepsychotherapeutische Ansätze in die Psy-chiatrie zu integrieren.

Dass es damals zu einer Art zweiten As-similation psychotherapeutischen Denkenskam, lag auch an den engen Grenzen dersomatischen Behandlungsmöglichkeiten:Bis zur Entdeckung der modernen Psycho-pharmaka in den 1950er-Jahren waren diesomatischen Behandlungen bei psychi-schen Störungen wenig effektiv.

Die stationäre Behandlung bis Anfangder 70er-Jahre erfolgte überwiegend in gro-ßen, gemeindefernen Kliniken hinter ho-hen Mauern und mit Verweildauern vondurchschnittlich 200 Tagen. Zwar gab esdamals ein knappes Dutzend „moderner“Medikamente zur Behandlung psychischerStörungen, deren Anwendung konnte aberdie Verweildauern nicht entscheidend ver-kürzen. Behandelt wurden fast überwie-gend schizophrene, depressive bezie-hungsweise bipolare und hirnorganisch be-dingte Krankheitsbilder.

Die international präsente Antipsychia-trie und die gesellschaftliche Protestbewe-gung der 68er führte zu vielfältiger Kritikan der Anstaltspsychiatrie und schließlichzur Psychiatrie-Enquete im Jahr 1975. Indieser Zeit aber gab es in der Psychiatrieauch von eo ipso eine Aufbruchstimmung.Die große Zeit der Sozialpsychiatrie be-gann. Namen wie Klaus Dörner oder As-mus Finzen sind untrennbar mit dieserPhase verbunden. Die Forderung nach ei-ner gemeindenahen Psychiatrie stellte imWesentlichen die Integration sozialthera-peutischer Ideen dar. Es ging den Sozial-psychiatern um die Verbesserung der Le-benssituation schizophren Erkrankter undum die Stigmaproblematik. Aber es be-standen auch hier fließende Übergänge zupsychotherapeutischen Behandlungsan-sätzen: die Soteria-Projekte deutscher Psy-chiater in der Schweiz, psychotherapeuti-sche Psychosebehandlungen in den USA,häufig ebenfalls durch deutschsprachigePsychiater.

Manche psychotherapeutischen Kon-zepte zur Behandlung schwerer psychischerStörungen stellten sich aber auch als tra-gischer Irrweg heraus, zum Beispiel das

Konzept der „schizophrenogenen Mutter“.Etwa zeitgleich etablierte sich die Psy-choanalyse im Gesundheitssystem: Diepsychotherapeutische Behandlung warzwar seit 1967 erstmals Bestandteil des Leis-tungskatalogs der gesetzlichen Kranken-kassen, der Ausgabenanteil lag aber überJahre bei unter einem halben Prozent derGesamtausgaben. Viele der nichtpsychia-trischen Ärztlichen Psychotherapeutenstanden der Psychosomatik nahe, die sichin der Folge als eigenes Fach im Kanon derMedizinfächer etablieren wollte.

An der damit einhergehenden Mehr-fachbesetzung der Psychotherapie – Psy-chiatrie – Psychosomatik – Richtlinien-Psychotherapie – leidet die Psychiatrie bisheute, da deren Identität als integrativebiopsychosoziale Seelenheilkunde deutlichschwieriger zu vermitteln ist. Trotz allerGanzheitlichkeit und trotz der Integrationder Richtlinien-Psychotherapie in die Fach-arztausbildung seit 1992 muss sich die Psy-chiatrie noch immer vor einseitiger Fremd-wahrnehmung als Pharmakon-fixiert weh-ren. Dabei ist die moderne Psychiatrie inihrem Selbstverständnis stets auch psycho-therapeutisch wirksam, jedoch immer un-ter integrierender Berücksichtigung des so-zialen und biologischen Kontextes der Er-krankung.

Die heutigen Psychiater wollen eine sol-che Integration aber nicht nur bei sichselbst, sondern auch zwischen sich und an-deren Psychiatern und Therapeuten: Diemodernen Themen der Vernetzung, Inte-gration und Kooperation über Sektorenund Fachgrenzen hinaus sind schon im-mer Belange der Psychiatrie gewesen.

Wie kann eine gut vernetzte ambulantepsychiatrische und psychotherapeutischeVersorgung aussehen? Welche Koopera-tionsformen funktionieren? Die Antwort ist in der Frage schon vor-formuliert. Es geht um Zusammenarbeitund Vernetzung ambulant tätiger Ärzte fürPsychiatrie und Psychotherapie mit Ärzt-lichen und Psychologischen Psychothera-peuten. In den meisten Regionen funktio-niert diese Zusammenarbeit bereits seitJahren problemlos.

Christa Roth-Sackenheim ist alsniedergelassene Fachärztin für Psychia-trie und Psychotherapie und für Nerven-heilkunde in Praxisgemeinschaft mit ih-rem Ehemann und einem psychologi-schen Verhaltenstherapeuten tätig. Sie istMitglied im Beratenden FachausschussPsychotherapie der KV Rheinland-Pfalzund der KBV sowie Mitglied des Unter-ausschusses Psychotherapie des G-BA.Sie ist Gründungsmitglied und 1. Vorsit-zende des BVDP, Vorstandsmitglied imBVDN Bund und in der DGPPN.

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„Von Richtlinien-Psychotherapie

profitieren Menschen,die ihr Gehirn gut

gebrauchen können“

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Darüber hinaus haben der BerufsverbandDeutscher Nervenärzte (BVDN) und derBerufsverband Deutscher Psychiater (BVDP)eine Reihe von strukturierten Versorgungs-konzepten vorgelegt, auch in Zusammen-arbeit mit der Deutschen Gesellschaft fürPsychiatrie, Psychotherapie und Nerven-heilkunde (DGPPN), in denen in klini-schen Behandlungspfaden eine strukturierteVersorgung in einem Netz von Fachärztenfür Psychiatrie, Psychotherapie, Nerven-ärzten, aber auch Ärztlichen und Psycho-logischen Psychotherapeuten beschriebenwurde. Dabei handelt es sich bisher in derRegel um Verträge nach §140a Sozialge-setzbuch (SGB).

Darüber hinaus wurde zuletzt in einem§73c-SGB-Rahmenvertrag zusammen mitder Vertragswerkstatt der KassenärztlichenBundesvereinigung (KBV) die Idee einerinterdisziplinären Zusammenarbeit vonPsychiatern, Nervenärzten, Neurologen undHausärzten sowie Ärztlichen und Psycho-logischen Psychotherapeuten in regionalenNetzen eingehend dargelegt. Bislang rea-gieren insbesondere Psychologische Psycho-therapeuten in der Regel nahezu reflexhaftabwehrend auf jegliche Form von Struktu-rierung der Behandlungspfade. Dies ist insofern bedauerlich, da augenscheinlichantizipierte Kränkungen und Zurückwei-sungen im Zusammenhang mit Hierarchi-sierung in den Konzepten gar nicht vor-kommen. Man könnte spekulieren, ob dieseProblematik zurückgeht auf viele Missver-ständnisse im Zusammenhang mit dem frü-heren Delegationsverfahren.

Es wird höchste Zeit, dass die in den Re-gionen gelebte gute Kooperation zwischenNervenärzten und Psychiatern und Psycho-therapeuten sowie Ärztlichen und Psycho-logischen Psychotherapeuten auch zu Ver-änderungen in der Haltung der Interaktionund Kommunikation der berufspolitischagierenden Funktionäre führt.

Die DGPPN hat wiederholt die Priorisie-rungsdebatte aufgegriffen – bestehen dakeine Bedenken, ausgerechnet im Bereichpsychischer Erkrankungen den Boden fürPriorisierungen vorzubereiten?Überhaupt nicht. Es wird höchste Zeit, dass

psychischen Erkrankungen im Vergleichzur somatischen Medizin höhere Auf-merksamkeit zukommt und höhere Be-deutung beigemessen wird. Dabei geht esnicht nur um abstrakte Wertschätzung,sondern auch um eine angemessene Fi-nanzierung. Im Übrigen hat die DGPPNdiese Debatte nicht angestoßen. Aber alsdie Ethikkommission der Deutschen Ärz-teschaft bereits im September 2007 im„Deutschen Ärzteblatt“ ihre Stellungnah-me dazu veröffentlicht hat, haben dieDGPPN und die Berufsverbände gemein-sam sofort gesehen, dass psychische Stö-rungen in der Stellungnahme nicht ange-messen berücksichtigt, wenn nicht sogarvöllig ausgeblendet worden waren. Zu-mindest ließen sich psychische Störungennicht ohne weiteres in dem vierstufigenModell der zulässigen Priorisierungskrite-rien, die die Ethikkommission vorgeschla-gen hat, wiederfinden: 1. Lebensschutz undSchutz vor schwerem Leid und Schmer-zen; 2. Schutz vor dem Ausfall oder der Be-einträchtigung wesentlicher Organe undKörperfunktionen; 3. Schutz vor wenigerschwerwiegenden oder nur vorübergehen-den Beeinträchtigungen des Wohlbefin-dens; 4. Verbesserung und Stärkung vonKörperfunktionen.

DGPPN und die Berufsverbände argu-mentieren, dass sich psychische Störungenim Wesentlichen im Bereich der Stufen 1bis 2, eher selten im Bereich der Stufe 3ansiedeln lassen, da psychische Erkran-kungen in der Regel chronische und po-tenziell tödliche Erkrankungen sind.

Lädt der in diesem Zusammenhang ge-brauchte Begriff der „Fehlallokation“ von Ressourcen in Bereichen psychothe-rapeutischer Versorgung nicht geradezudie Gesundheitspolitik dazu ein, nachRation(alis)ierungsmaßnahmen im Feldpsychischer Krankheiten zu suchen? Dieser Zusammenhang erschließt sich unsnicht direkt. Kann es sein, dass dahinterdie Sorge der Psychotherapeuten steckt,die zum Beispiel von Fritz Beske vertre-tene Forderung, Psychotherapie aus demLeistungskatalog der Gesetzlichen Kran-kenversicherung (GKV) zu streichen, wür-

Frank Bergmann ist Facharzt für Neu-rologie, Psychiatrie und Psychotherapie,Forensische Psychiatrie. Als Vertragsarztist er seit 1989 in neurologisch/psychia-trisch/psychotherapeutischer Gemein-schaftspraxis tätig. Er ist 1. Vorsitzenderdes Berufsverbandes Deutscher Nerven-ärzte (BVDN), Vorstandsmitglied in derDeutschen Gesellschaft für Psychiatrie,Psychotherapie und Nervenheilkunde(DGPPN), Vorstandsmitglied im Berufs-verband Deutscher Psychiater (BVDP)sowie Mitglied in zahlreichen weiteren(Berufs-)Verbänden.

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„Bislang reagieren insbesondere Psychologische Psychotherapeuten inder Regel nahezu reflexhaft abwehrendauf jegliche Form vonStrukturierung derBehandlungspfade“

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P S YC H O T H E R A P I E U N D P S YC H I AT R I E

de hier unterstützt? Dem würden wir auchentschieden entgegentreten. Richtlinien-Psychotherapie ist eine wirksame Thera-piemethode und richtig angewendet einunverzichtbarer Bestandteil des Leistungs-katalogs.

Immer wieder wird von berufspolitischenVertretern der Psychiater vorgebracht,nervenärztlich/psychiatrisch würden dieschwer und chronisch Kranken versorgt,während die psychotherapeutisch ver-sorgte Klientel weniger behandlungsbe-dürftig sei, zum Teil zu viele Ressourcenbeanspruche. Wie ist Ihre Meinung? Nervenärzte und Psychiater versorgen Pa-tienten mit schweren neurologischen undpsychiatrischen Erkrankungen. Das sind Er-krankungen wie Demenz, geistige Behinde-rung, Epilepsie, Schlaganfälle, aber auchchronische Psychosen. Diese Patienten kön-nen häufig allein von einer Richtlinien-Psychotherapie nicht profitieren. Neben ei-nem somatisch orientierten Krankheitsmo-dell profitieren diese Patienten von derengmaschigen psychiatrischen Therapie.

Richtlinien-Psychotherapie ist per defi-nitionem eine hoch spezialisierte, zeitlicheng begrenzte Maßnahme, für die die In-dikation, die Wahl des Verfahrens und dieDauer im Verhältnis zur Morbidität des Pa-tienten sehr genau überprüft werden muss.Sie ist keine Maßnahme der lebenslangenBegleitung. Von Richtlinien-Psychothera-pie profitieren Menschen, die ihr Gehirngut gebrauchen können, die also so gutstrukturiert sind, dass sie diese hoch spe-zialisierte, hoch ritualisierte Behandlung,

die zudem hohe Ansprüche an die intellek-tuellen Fähigkeiten und an das Hilfesuch-verhalten stellt, für sich nutzen können.

Seit geraumer Zeit kursiert vermehrt derBegriff „neuropsychiatrische Versorgung“.Dient dieser Begriff zur Abgrenzung undPositionierung gegenüber der psycholo-gisch-psychotherapeutischen Versorgung? Nein, daran haben wir überhaupt nicht ge-dacht.

Ist der Begriff „neuropsychiatrische Ver-sorgung“ sozusagen Programm im Sinneeiner somatischen Ausrichtung der Psy-chiatrie, eines Verständnisses von Seelen-vorgängen als primär hirnorganischenpathologischen Prozessen?Nein. Psychiatrie umfasst Veränderung derSeele durch primär hirnorganische patho-logische Prozesse bis hin zu reaktiven, per-sönlichkeitsbedingten, suchtmittelverur-sachten und anderen Seelenvorgängen. DieErkenntnisse der neurobiologischen For-schung belegen, dass unsere Emotionen,Affekte und die Steuerung unseres Verhal-tens Ausdruck und Folge biochemischerund hirnphysiologischer Vorgänge sind,andererseits sowohl pharmakologische alsauch nichtmedikamentöse Einflüsse zuVeränderungen der Biochemie des Hirnsführen. Dies ist die wissenschaftlicheGrundlage dafür, dass die Versorgung so-matisch und psychiatrisch/psychologischsein muss. Dabei ist der Neuroradiologeals Spezialist auf der einen Seite genausonotwendig und wichtig wie der Psycholo-gische Psychotherapeut auf der anderen.

Der Behandlung in nervenärztlichen undpsychiatrisch/psychotherapeutischen Pra-xen liegt das biopsychosoziale Krankheits-modell zugrunde.

Umgekehrt haben wir allerdings in derphilosophischen Debatte den Eindruck ei-nes kollektiven Neglect, in dem die Tatsa-che, dass das „Ich“ beschädigt werden kann,wenn das Gehirn beschädigt wird, einfachausgeblendet wird. Die Debatten in „ZEIT“,„Gehirn und Geist“ sowie „Psychologieheute“ um den freien Willen, um nur ei-nige zu nennen, gehen in der Regel vonpsychisch Gesunden aus.

Übt Ihrer Meinung nach das finanzielleSponsoring psychiatrischer Publikations-organe und Kongresse und die „fürsorgli-che Dauerberatung“ der Niedergelassenenseitens der Pharmafirmen einen Einflussauf Einschätzung und Gewichtung vonmedikamentösen gegenüber psychothera-peutischen Behandlungsstrategien aus? Die Möglichkeiten der Pharmakotherapiemit Antidepressiva und Antipsychotika ha-ben die Erfolge der Psychiatrie mit demhistorischen Bettenabbau vor allem in psy-chiatrischen Langzeitkrankenhäusern erstmöglich gemacht und die Patienten auscustodialer Ausgrenzung aus der Gesell-schaft herausgeführt. In der aktuellen psychiatrischen Fachdiskussion korrespon-diert ein multimodales Behandlungskon-zept mit einem differenzierten biopsycho-sozialen Krankheitskonzept. Häufig sindes gerade mehrgleisige Therapiekonzepte,die eine Gesundung der Patienten er-möglichen. Die ausschließliche und ein-seitig ausgerichtete Pharmakotherapie birgtebenso wie eine ausschließlich psychothe-rapeutische Behandlung jeweils spezifischeRisiken.

Patienten wie Ärzte und Psychologenmüssen sich vor Manipulationen jeglicherArt bezüglich geeigneter Therapieformenschützen.

Seit Jahren wird in Publikationsorganenständig wiederholt, dass die niedergelas-senen Psychiater 72 Prozent aller Fällebehandeln und nur ein Viertel der Ge-samtausgaben – Honorar der ärztlichenLeistungen – erhalten, während Ärztlicheund Psychologische Psychotherapeutenzusammen nur 28 Prozent der Fälleversorgen und dafür mehr als 74 Prozentder Ausgabenanteile erhalten. Worumgeht es bei der Publizierung dieses Dauerthemas? Geht es dabei auch um einen Ressourcen-Verteilungskampfzwischen diesen Berufsgruppen? Machen wir uns nichts vor: In einem bud-getierten System geht es immer auch umRessourcenverteilung. Die Frage ist aberinsofern absurd, als Psychiater an dem Astsägen würden, auf dem sie selber sitzen,wenn sie sich für eine Verschlechterung in

„Psychiater würdenam eigenen Ast sägen,wenn sie sich für eine

Verschlechterung inder Vergütung

psychotherapeutischerLeistungen einsetzen

würden“

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der Vergütung psychotherapeutischer Leis-tungen einsetzen würden.

Bei der Publizierung dieses Themas gehtes vor allem um Entstigmatisierung. Wirmüssen als Berufspolitiker auf ein empiri-sches Gesetz aufmerksam machen, das sich„Inverse Care Law“ nennt und in den 70er-Jahren von einem britischen Gesundheits-ökonomen beschrieben wurde. Es besagt,dass je kränker ein Individuum ist, umsoweniger Ressourcen für ihn aufgewendetwerden. Am Beispiel chronisch psychischkranker Menschen wird das besondersdeutlich, da diese krankheitsbedingt einvöllig anderes Hilfesuchverhalten haben alszum Beispiel somatisch Kranke.

Ist die häufig beklagte geringe Zuwen-dungszeit für psychiatrische Patientennicht auch eine Folge der Ausrichtung derHonorarpolitik der Psychiaterverbände,die mehr auf die Interessen der Praxenmit hohen Fallzahlen ausgerichtet ist, wiezum Beispiel im Fall der eingeführtenBetreuungspauschalen, die so richtig lu-krativ nur für Praxen mit hohem Patien-tendurchlauf sind? Die Honorarpolitik des BVDN und desBVDP ist stets darauf ausgerichtet gewesen,sowohl Praxen mit größerem Versorgungs-auftrag wie auch Praxen mit geringerenFallzahlen eine adäquate Finanzierung ih-res Leistungsspektrums zu ermöglichen.Unsere Fachgruppe ist die heterogenste imKanon der fachärztlichen Versorger. Es istaber ein wichtiges Strukturmerkmal derpsychiatrischen und nervenärztlichen Ver-sorgung, dass es sowohl Praxen mit 150 Fäl-len als auch welche mit 1.000 Fällen undmehr gibt. Demgegenüber vertreten die aus-schließlich psychotherapeutischen Verbän-de in der Regel eine sehr homogen arbei-tende Klientel.

Dass Betreuungspauschalen „so richtiglukrativ“ nur für Praxen mit hohem Pa-tientendurchlauf sind, ist völlig falsch, denndiese Praxen können in der Regel Betreu-ungspauschalen nur in sehr geringem Um-fang abrechnen, da sie ansonsten mit ihrenPlausibilitätszeiten auffällig werden.

Wir treten insofern der Auffassung ent-schieden entgegen, dass unsere Honorar-

politik mehr auf die Interessen der Praxenmit hohen Fallzahlen ausgerichtet ist.

Ob ein Nervenarzt/Psychiater 150 oder1.500 Fälle hat, hängt im Wesentlichen vonseinem Zulassungsstandort ab. Die Psy-chiater mit den geringen Fallzahlen befin-den sich in der Regel in den Stadtstaaten,in Großstädten und in psychiatrisch-psychotherapeutisch eher gut versorgtenGegenden. Sie decken hier ein wichtigesVersorgungssegment ab.

Den Fachärzten für Psychiatrie undPsychotherapie, die sich in den östlichenBundesländern und in Flächen-Bundeslän-dern niedergelassen haben, bleibt oft keineandere Wahl, als vielen Patienten eine Ver-sorgung anzubieten, wenn sie dem Sicher-stellungsauftrag gerecht werden wollen.

Die angesprochenen Betreuungspauscha-len kommen in der Regel eher den kleinenPraxen zugute, da die Nervenärzte/Psychk-ater in den großen Praxen die Patienten häu-fig nur einmal im Quartal sehen können.

Was halten Sie von der Forderung nacheinem Zeitkontingent auch für die ge-sprächsintensiv mit chronisch psychischKranken arbeitenden Psychiater, die beiVollauslastung nur auf Fallzahlen unteroder um 300 pro Quartal kommen?Nur theoretisch wäre ein Zeitkontingentdenkbar für Psychiater, die hauptsächlichGesprächsleistungen erbringen. Das Tätig-keitsfeld der Fachärzte für Psychiatrie undPsychotherapie umfasst jedoch auch eineReihe an somatisch-medizinisch-appara-tiven Leistungen sowie die Betreuungsleis-tungen, die hier nicht abgebildet werdenwürden. Wir sehen deshalb die Gefahr, dasssich diese Psychiater von ihrem ärztlichenTun verabschieden würden. Eine weitereSorge, die uns als Berufspolitiker für einesehr inhomogene Arztgruppe hierbei be-wegt, wäre die, dass hier einer Spaltung derBerufsgruppe Vorschub geleistet werdenwürde.

Sind in Ihren Augen Richtlinien-Psycho-therapien, insbesondere die Durchfüh-rungen von Langzeittherapien, für die Sicherstellung der Versorgung verzichtbar?Nein, wenn die Indikation stimmt.

„Unsere Vision ist,dass es dreimal so viele Fachärzte für Psychiatrie undPsychotherapie in Deutschland gibt wie jetzt“

Wie schätzen Sie die derzeitige Qualitätder gemeinsam von Psychiatern undPsychotherapeuten getragenen Versor-gung von psychisch Kranken ein?Gemessen im europäischen Vergleich sehrgut. Wir glauben aber, dass die gemeinsa-me Vernetzung hier noch Verbesserungs-potenzial birgt.

Wie lautet Ihr dringlichster Änderungs-wunsch an die Adresse der Psychothera-peuten bezüglich der gemeinsam getrage-nen Versorgung?Kürzere Wartezeiten und Behandlungska-pazitäten für Patienten mit schweren Stö-rungen, zum Beispiel forensische Patienten.

Was ist Ihre Vision vom zukünftigen Zu-sammenspiel von Psychiatrie undPsychotherapie in der ambulanten undstationären Versorgung? Unsere Vision ist: Es gibt dreimal so vieleFachärzte für Psychiatrie und Psychothe-rapie in Deutschland wie jetzt. Die Zu-sammenarbeit mit Hausärzten und Ärzt-lichen und Psychologischen Psychothera-peuten ist strukturiert in regionalen Netzenmit gemeinsamen Fallkonferenzen. DieDiagnostik und Fallsteuerung läuft leitli-niengerecht. Stationäre Einweisungen sinddie Ausnahme. Der behandelnde Facharztoder Psychotherapeut kann den Patientenauch stationär weiterbehandeln.

*Soweit hier von psychiatrischer Versorgung und Psychiatern gesprochenwird, sind damit alle psychiatrisch Tätigen, auch Kinder- und Jugendlichen-Psychiater und Nervenärzte, gemeint.

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___ Wenn Psychiatrie und Psychotherapiegegensätzliche Paradigmen vertreten, soist das Ausdruck historisch bedingterFehlentwicklungen, mangelhafter Versor-gungsstrukturen und berufsständischerEgoismen. Dem Bedarf oder gar den Be-dürfnissen psychisch erkrankter Men-schen und ihrer Familien entspricht die-ses Gegeneinander nicht. Reduktionis-mus, also die allzu simple Erklärungkomplexer Zusammenhänge, gibt es aufbeiden Seiten, bei Psychiatern und Psy-chotherapeuten.

Doch eine weite Brücke braucht starke Pfei-ler: Anthropologische Verstehensansätzebauen eine Brücke zwischen Sozialpsy-chiatrie und Psychotherapie. Auch in derPraxis gibt es Modelle von Kooperationund Vernetzung. Das gewachsene Selbst-bewusstsein der Patienten als Psychiatrie-Erfahrene und ihrer Angehörigen bestärktdie Notwendigkeit von Dialog beziehungs-weise Trialog. Die therapeutische Notwen-digkeit, auf Augenhöhe zu verhandeln, ver-langt nach entsprechenden Kompetenzen.Neue integrierte Versorgungskonzepte ge-

Raus aus Reduktionismus und BequemlichkeitEine allzu simple Sicht drängt den Patienten ins Abseits. Um ihn als Individuumzu würdigen, müssen Psychiatrie und Psychotherapie zusammenwirken.Die anthropologische Perspektive sowie Respekt gegenüber der subjektiven Perspektive von Patienten und Angehörigen(Trialog) bilden eine Brücke

Von Prof. Dr. Thomas Bock

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ben nun auch ökonomische Anreize, in-tensiver zusammenzuarbeiten. Je mobilerund flexibler die Psychiatrie, desto größerist ihre Möglichkeit, aber auch ihre Not-wendigkeit, psychotherapeutischer zu wer-den. Die Hirnforschung ist längst keinGegenargument mehr.

Reduktionismus, also die Erklärungkomplexer, individuell verschiedener, sozi-al gebundener und subjektiv beeinflussterZusammenhänge mit simplen Modellen,findet sich in Psychiatrie und Psychothera-pie – mit unterschiedlichen Konsequenzen:

Schizophrene beziehungsweise kogni-tive Psychosen ausschließlich als Trans-mitter-Mangelerscheinung zu betrachtenund zu behandeln, trägt zu der Spaltungbei, die es zu überwinden gilt, behindertdas Person-Erleben des Patienten, obwohlgenau das wesentliches Behandlungszielist, ignoriert den sozialen Zusammenhang,obwohl hier wichtige Ressourcen undmanchmal auch Störungsquellen liegen,belastet das subjektive Erleben und be-hindert die Mitverantwortlichkeit des Pa-tienten. Diese psychologische Nebenwir-kung reduktionistischer medizinischer Be-handlung ist weit schlimmer noch als diesomatischen Nebenwirkungen der verab-reichten Medikation.

Die anthropologische Sicht fördert eine faire Gestaltung vonBeziehung und Verantwortung

Einen Patienten je nach psychotherapeuti-scher Schule als verhaltensgestört (VT) oderemotional unterentwickelt (GT) oder ent-wicklungsbedingt (PA) oder systembehin-dert zu betrachten und zu behandeln, kannzur Beschränkung der eigenen Wahrneh-mung und Verengung der eigenen Metho-dik führen. Patienten, bei denen genau dieVerknüpfung der verschiedenen Problem-ebenen entscheidend für Verstehen undHeilung ist, bleiben dabei leicht im Abseits

stehen. Insofern ist die Ausgrenzung kom-plexer psychischer Erkrankungen nicht nurstrukturell/ökonomisch, sondern auch in-haltlich/theoretisch begründet.

Gerade komplexe psychische Erkran-kungen haben eine Eigendynamik aufmehreren Ebenen – psychisch, sozial, fa-miliär und somatisch. Gerade Psychose-Patienten haben einen berechtigten An-spruch auf ganzheitliche Wahrnehmungund Behandlung. Gerade sie haben sehrsensible Antennen dafür, ob sie als Personoder Fall wahrgenommen werden und obihnen die Behandlungskultur – dialogischbeziehungsweise unter Einschluss der An-gehörigen trialogisch oder autoritär – pas-send erscheint. Ist das nicht der Fall,kommt es zu Enttäuschung und Behand-lungsabbruch. Wenn dieser Eigensinn dannvon Psychiater oder Psychotherapeut alsNoncompliance deklariert und der Symp-tomatik zugeschrieben wird, zeugt auchdas von Reduktionismus und mangelnderSelbstkritik.

Die deutsche Psychotherapie-Szene hatlange gebraucht, sich von der Ermordungund dem Exodus jüdischer und eman-zipatorischer Psychotherapeuten im Na-tionalsozialismus zu erholen. Spätere psy-chotherapeutische Verfahren wetteifertenlange Zeit mehr darum, dem medizini-schen Paradigma zu genügen, als denEntwicklungsbedürfnissen schwer psy-chisch kranker Menschen. Statt Verstehenund Begleiten dominierten Screening undSymptombeseitigung.

Die Struktur der Einzelpraxen hat we-sentlich dazu beigetragen, dass immer mehrfinanzielle Ressourcen in der Arbeit mit fastgesunden Menschen gebunden sind und beieher schwer psychisch kranken fehlen. Ent-sprechende Untersuchungen zeigen, dassMenschen mit Psychosen oder bipolarenStörungen (F 1, 2, 3) hier fast ausgeschlos-sen sind (Melchinger, 2009). Ähnliche Kon-sequenzen hat die unsinnige kostentrei-

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bende und in Europa einmalige Trennungbeziehungsweise Doppelung psychiatrischerund psychosomatischer Strukturen.

Die Sozialpsychiatrie hat mit einem ge-wissen Recht die Abgehobenheit psycho-therapeutischer Strukturen beklagt und zu-gleich mit Fortbildungsoffensiven die brei-te auch psychotherapeutische Qualifikationder Psychiatrie-Mitarbeiter gefördert. Einegut qualifizierte Beziehungsarbeit ist ihr einwesentliches Anliegen, doch zugleich gehtes um deren Kontext, um die Überwindungsozialer Gettos und die Öffnung bezie-hungsweise Einbindung des Sozialraums.

Das Finanzierungssystem der Psychiatrieerschwert bis heute eine kontinuierliche Be-handlung mit entsprechend integriertenKonzepten. Es bindet erhebliche finanzielleRessourcen im stationären Bereich und ver-hindert deren bedürfnisorientierte Um-widmung in Hometreatment.

Die medizinische Diagnoseverschlüsse-lung (ICD 10) hat die Psychiatrie differen-zierter gemacht, aber tendenziell jeglichembiografischen und beziehungsorientiertenDenken entfremdet. Das kann dann etwaszugespitzt in Dialogen wie diesen enden:(a) „Warum ist Herr A. psychotisch ge-worden?“ – „Er hat eine Psychose!“; als bö-te die Zuordnung einer Diagnose nicht nureine Benennung, sondern zugleich aucheine Erklärung. (b) „Warum nimmt Frau B.ihre Medikamente nicht?“ – „Sie ist non-compliant“; als handele es sich hier um eineEigenschaft oder gar ein Krankheitsmerk-mal, das mit dem Gelingen oder Misslingeneiner therapeutischen Beziehung nichts zutun hätte.

Psychose-Patienten suchen nach einem persönlichen Zugangzu den Symptomen

Der Trialog hat neben die pathologischedie anthropologische Betrachtung gestellt:„Psychisch erkranken zu können gehörtzum Wesen des Menschen. Wir sind We-sen, die an sich zweifeln und dabei auchverzweifeln können. Wir können über unshinausdenken und laufen dabei auch Ge-

fahr, uns und unsere Grenzen zu verlieren.Wenn wir das sehr ausdauernd machen,kommen wir in die Nähe der kogniti-ven/schizophrenen oder der affektivenPsychose. Wer also psychotisch wird, istkein Wesen vom anderen Stern, sondernzutiefst menschlich.“ (Aus der „Blauen Bro-schüre“, trialogisch verfasst von der AG derPsychose-Seminare 2007.) Diese Besinnungauf das Wesen des Menschen mahnt nichtnur zur therapeutischen Bescheidenheit,sondern auch zu einer fairen Gestaltungvon Beziehung und Verantwortung. Dieinzwischen vielfach geforderte veränderteGewichtung von Erkrankung und Gene-sung (Recovery-Orientierung), also die Be-sinnung auf das, was auch mit Sympto-men gesundes Leben fördert, wird dadurchmaßgeblich unterstützt.

„Trialog“ meint die gleichberechtigte Be-gegnung von Erfahrenen, Angehörigen undprofessionell Tätigen in Behandlung, Öf-fentlichkeitsarbeit, Antistigma-Arbeit, Leh-re, Forschung, Qualitätssicherung, Psychia-trieplanung und so weiter. Er findet mit-nichten nur in Seminaren statt. Diese sindlediglich das Übungsfeld, denn die Idee destrialogischen Diskurses bedeutet eine He-rausforderung für alle drei Gruppen. Siesetzt damit Maßstäbe für die künftige Ent-wicklung und kann die Psychiatrie grund-legend verändern. Der Trialog fördert dieSubjekt- und Bedürfnisorientierung vonPraxis, Lehre und Forschung. Auf diesemWeg kann der immer noch vorherrschendeReduktionismus von Krankheitskonzep-ten und Hilfesystemen überwunden wer-den. Dafür gibt es bereits an vielen Stellensichtbare Zeichen. Die im PsychoseseminarBielefeld entwickelte Behandlungs-Verein-barung ist ein Versuch, mit Unterstützungvon Peers oder Angehörigen in stabilenZeiten Einfluss zu nehmen auf die Moda-litäten der Behandlung in Krisen. Die so-genannte initiale Behandlungskonferenzaus dem skandinavischen Need-adapted-treatment ist ein Beispiel gelebten Trialogsin akuten Krisen. Hier tritt an die Stellevon Unterwerfungsritualen mit einseitigdefinierten Voraussetzungen von Behand-

lung, Krankheitseinsicht und Complianceein Ringen um Kooperation und gemein-sames Handeln und um anschlussfähigeVerstehenskonzepte, die der subjektivenSicht mit Respekt begegnen und genügendRaum lassen. Behandlung dort, wo sie amwenigsten Angst macht, in ruhiger wohn-licher Atmosphäre (Soteria-Station) odergleich zu Hause: Hometreatment als am-bulante Soteria, Soteria als stationäresHometreatment. Die trialogischen Forde-rungen von den Verbänden der Erfahre-nen, der Angehörigen und der Sozialpsy-chiatrie stimmen hier inzwischen weitge-hend überein. In beiden Kontexten wirdes sich nach den positiven Erfahrungen mitdem EXperienced-INvolvement-Programmkünftig lohnen, Peer-Beratung zu inte-grieren.

Gerade im Umgang mit Psychose-Patienten sind Psychotherapeuten allerpsychotherapeutischen Schulen jenseitsallzu enger Methodik gezwungen, bezie-hungsorientiert zu arbeiten, um bezie-hungsfähig zu werden. Wahn lässt sichnicht wegkonditionieren, ist jedoch meta-kognitiven Verfahren in Grenzen zugäng-lich, zumal wenn sich zugleich neue so-ziale Bedeutungsräume erschließen.

Das klassische psychoanalytische Couch-Setting ohne Blickkontakt kann paranoideAnteile verstärken, doch ein persönlichpräsenter analytischer Therapeut kannwertvolle Erkenntnisse vermitteln undEntwicklungsimpulse geben. Ein extrementhaltsamer Gesprächstherapeut wirdpsychotische oder bipolare Patienten we-nig wachsen lassen; doch emotionale Zu-wendung und nondirektives Zutrauendürften in einer spürbaren therapeutischenBeziehung unerlässlich und wertvoll sein.Ein kaltschnäuziger Systemiker wird in ei-ner mit psychotischen Verirrungen kämp-fenden Familie wenig ausrichten, doch we-niger distanziert und emotional zugewandtwichtige Anregungen geben.

Das im Zusammenhang mit der Selbst-organisation der Patienten und der Trialog-Bewegung gewachsene Selbstbewusstseinvon Psychiatrie-Erfahrenen und Angehö-

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rigen zwingt Psychiatrie-Tätige, Subjek-tivität und Selbstmanagement ernster zunehmen, um sich dann im Rahmen des„shared decision making“ psychothera-peutischen Denk- und Handlungsstruktu-ren anzunähern.

Gruppentherapie ist zu Unrecht in denHintergrund gerückt und hat gerade beikomplexen psychischen Störungen großeVorteile – nicht nur ökonomisch, sondernauch inhaltlich. Die Stimmungsschwan-kungen bipolarer Patienten sind auch des-halb so dramatisch, weil ihnen die Zeit-wahrnehmung, also das Bewusstsein fürvorher und nachher, für Vergangenheit,Gegenwart und Zukunft fehlt. Die Depres-sion erscheint ewig, mit entsprechenderVerzweiflung, die manischen Kräfte un-endlich, mit folgendem Leichtsinn. In derGruppensituation begegnen sich Patientenin verschiedenen Phasen, und im Gegen-über kann und muss das wahrgenommenwerden, was sonst verdrängt wird; mitChancen für eine vollständige Selbstwahr-nehmung und eine gewisse Tendenz zurMitte. Außerdem bietet das Gruppenset-ting gerade für Patienten mit gekränktemSelbstwertgefühl eine größere Rollenviel-falt und Möglichkeiten der Aufwertung. BeiPsychosepatienten wirkt die Gruppe demkrankheitsimmanenten Autismus entgegenund kann die Eigendynamik von Halluzina-tion und Wahn durch sozialen Rückzugund innere Isolation bremsen. Außerdemgibt Gruppentherapie den Patienten unter-einander Bedeutung.

Für viele Patienten haben ihre Sympto-me eine eigene Bedeutung, einen subjek-tiven Sinn. Das gilt für schwere somatische,aber eben auch für psychische Erkrankun-gen. Das Hamburger SuSi-Projekt un-tersuchte erst 90, dann noch einmal über400 Patienten – unter Kontrolle der Schwereder Erkrankung und Berücksichtigung vonLebensqualität und sozialer Anpassung. Inbeiden Studien ist das Sinn-Bedürfnis rie-sig: 70 bis 80 Prozent der befragten Psy-chosepatienten sind überzeugt, dass ihreSymptome mit Lebenserfahrungen zu-sammenhängen, eine Sprache sprechen und

nicht nur beeinträchtigend, sondern auchlehrreich sein können. Etwa die Hälfte er-lebt die eigene Symptomatik nicht nur ne-gativ, und fast 60 Prozent ordnen derPsychose auch konstruktive Auswirkungenzu. Vor allem aber: Je eher Menschen dieeigene Psychose-Symptomatik mit derLebenserfahrung in Verbindung bringen,umso selbstbewusster betrachten sie auchihre Symptomatik und umso hoffnungs-voller ihre Zukunft (Bock u.a., 2009). EinBeleg, dass die Theorie der Salutogenesemit ihrer Wertschätzung für Kohärenz auchfür Psychosen gilt – und ein Auftrag füreine an Beziehung und Biografie orien-tierte Psychotherapie.

Stigmatisierung und Etikettierung stellen jeden Behandlungserfolg infrage

Gerade bei der Erstbehandlung muss derübliche Slogan „Je früher – desto besser“ er-gänzt und gebrochen werden durch einkräftiges: „Je früher – desto vorsichtiger“.Sonst drohen nicht nur falsch positive –Diagnosen, sondern auch unnötig nega-tive Bahnungen von Selbstverständnis undFremdbehandlung. Auf dem Weg nachdraußen muss sich die Psychiatrie verän-dern, um nicht die alten engen Konzeptein die Wohnzimmer zu tragen. Mit demOrt muss auch die Intervention normaler,eher ressourcenorientiert und psychothe-rapeutisch werden. Erst in letzter Zeitkonnte die kollektive Abwehr, Beschuldi-gung und Diskriminierung von Angehöri-gen ansatzweise überwunden werden – zu-gunsten einer größeren Offenheit für the-rapeutische Settings, die Angehörige miteinschließen. Hometreatment und Needadapted treatment könnten in Deutsch-land unter anderem im Rahmen neuer Se-lektivverträge (integrierte Versorgung undVerträge nach §73c u.a. nach dem Ham-burger Modell einer Jahrespauschale) um-gesetzt werden. Doch ein erster Anfangwäre es schon, wenn Institutsambulanzenund Psychotherapeuten regionale Netz-werke bilden. ___

Literatur kann beim Verfasser angefragt werden

Prof. Dr. Thomas Bock ist Psychologi-scher Psychotherapeut und leitet die So-zialpsychiatrische Psychosen-Ambulanzam Universitätskrankenhaus Eppendorfin Hamburg. Er ist Mitbegründer derPsychose-Seminare und des Vereins „Irremenschlich Hamburg e.V.“ für trialogi-sche Information, Prävention und Fort-bildung. Er ist Autor zahlreicher wissen-schaftlicher Beiträge und mehrerer Fach-bücher unter anderem zum Trialog undzur anthropologischen Sicht, zu unbehan-delten Psychosen, zu Bipolaren Störungenund zu aktuellen Problemen wie Compli-ance (u.a. „Stimmenreich“, „Achterbahnder Gefühle“, „Lichtjahre“) sowie zweierKinderbücher („Bettelkönigin“, „Pias lebt... gefährlich“). Zu seinen Auszeichnun-gen gehören der Fischer-Appelt-Preis1994 für besondere Verdienste in derLehre, der Schizophrenia ReintegrationAward 1998, der Antistigma-Preis derDGPPN 2008 (für „Irre menschlichHamburg e.V.“) und der Diotima-Preisder Psychotherapeutenkammer 2010.

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stehen keinesfalls nur im Rahmen der Ak-tivitäten der Pharmaindustrie.

Interessenkonflikte sind zunächst einmalnichts Schlechtes. Denn erstens ist niemandohne Interessen, und zweitens führt ein Inte-ressenkonflikt nicht zwangsläufig zu Bias.Er schafft nur ein Risiko dafür, dass Bias ent-steht. Mit anderen Worten geht es bei derIdentifikation und Offenlegung von Interes-senkonflikten zunächst einmal nicht darum,ob Bias entstanden ist, sondern darum, eineBeziehung, die ein Risiko für einen Interes-senkonflikt schafft, zu identifizieren und zurKenntnis zu bringen. Dies ist wichtig, davon vielen Therapeuten und Wissenschaft-lern häufig Interessenkonflikte mit demArgument nicht benannt werden, dass dieinfrage stehende Beziehung zum Beispiel zueinem Industrieunternehmen oder einerTherapieschule ihrer Meinung nach in einerkonkreten Situation (beispielsweise bei derAbgabe einer Therapieempfehlung) nichtzu einem Bias geführt hat und daher nichtzu deklarieren sei. Im Einzelfall mag dasdurchaus richtig sein. Das Problem ist, dassder Betroffene selbst beurteilt, ob ein Inte-ressenkonflikt zu Bias geführt hat. Dieses

Urteil ist aber aufgrund der einem Interes-senkonflikt zugrunde liegenden unbewuss-ten psychologischen Mechanismen schwie-rig bis unmöglich.

Diese psychologischen Mechanismen (sie-he auch Klemperer et al., 2008) bestehendarin, dass wir in einer Situation, in der wireine von mehreren möglichen Entschei-dungen oder Schlussfolgerungen materiell,sozial oder psychologisch als vorteilhaftempfinden, Informationen, die zu vorteil-haften Entscheidungen oder Schlussfolge-rungen führen, weniger streng prüfen, sieschneller akzeptieren und ihnen mehr Ge-wicht geben. Informationen dagegen, dieder vorteilhaften Entscheidung oder Schluss-folgerung widersprechen, behandeln wir imumgekehrten Sinne – wir prüfen sie stren-ger, akzeptieren sie weniger leicht, nehmensie weniger stark wahr und geben ihnen we-niger Gewicht (Gilovich, 1991). Charakte-ristisch für dieses Phänomen der motivier-ten Evaluation von Evidenz (Dana, 2009)ist, dass der Betroffene sich selbst als objek-tiv in seinen Entscheidungen wahrnimmt. Ermeint, sich selbst nicht in einem Bias-wirk-samen Interessenkonflikt zu befinden, was

Riskante VerzerrungenViele Ärzte behaupten, Geld und Anerkennung von Pharmaunternehmen beeinflussten sie keineswegs.In der Praxis aber gibt es häufig Interessenkonflikte mit unbewusstenNebenwirkungen

Von Klaus Lieb

___ Interessenkonflikte sind in der Medizinund Psychologie allgegenwärtig. „Interes-senkonflikte sind definiert als Situationen,die ein Risiko dafür schaffen, dass professio-nelles Urteilsvermögen oder Handeln, wel-ches sich auf ein primäres Interesse bezieht,durch ein sekundäres Interesse unangemes-sen beeinflusst wird.“ (Vorschlag des Insti-tute of Medicine [Lo 2009], der sich anThompson [1993 und 2009] orientiert).

Unter dem primären Interesse des Arztesoder Psychotherapeuten versteht man da-bei das Interesse an einer optimalen ge-sundheitlichen Versorgung der Patientendurch Anbieten der bestmöglichen Therapieauf der Basis neuester Erkenntnisse, der evi-dence-based-medicine.

Sekundäre Interessen können diese pri-mären Interessen beeinflussen und zu Ver-zerrungen, sogenannten „Bias“, in Thera-pieentscheidungen beziehungsweise Emp-fehlungen führen. Sie können materieller,sozialer oder psychologischer Natur sein.Materielle Interessenkonflikte entstehenbeispielsweise dadurch, dass Ärzte Ge-schenke von pharmazeutischen Unterneh-men annehmen und dadurch vermehrt einMedikament verschreiben, das sie ansons-ten nicht verschrieben hätten. Ein anderesBeispiel sind Interessenkonflikte, die da-durch entstehen, dass ein Arzt Honorareder Industrie für Vorträge annimmt, aufdenen er sich für ein entsprechendes Me-dikament stark macht. Interessenkonfliktekönnen aber auch psychologischer odersozialer Natur sein.

Der Arzt kann sein Fehlurteilnicht selbst beurteilen

So kann auch die Zugehörigkeit zu einer be-stimmten Therapieschule, zum Beispiel Ver-haltenstherapie oder Psychoanalyse, oder dieFunktion der Leitung eines Psychotherapie-Ausbildungsinstituts zu Interessenkonfliktenführen, die wiederum materielle Konse-quenzen haben können, etwa wenn Inte-ressenkonflikte für Entscheidungen zur Er-stattung von Psychotherapieleistungen re-levant sind. Ähnliche Interessenkonfliktekann die Präsidentschaft einer Fachgesell-schaft, eines Berufsverbandes oder ganzgenerell auch das Verfolgen der eigenenKarriere mit sich bringen. Interessenkon-flikte sind also vielseitig bedingt und ent-

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Klaus Lieb studierte Medizin und Philosophie. Von 2001 bis 2007 war eran der Abteilung Psychiatrie undPsychotherapie des Universitätsklini-kums Freiburg Leitender Oberarzt undStellvertreter des Ärztlichen Direktors.Seit 2007 ist er Direktor der Klinik fürPsychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz. Seit 2006 ister Editor der Cochrane Collaborationund seit 2009 Mitglied des Wissenschaft-lichen Beirats Psychotherapie derBundesärztekammer und Bundespsycho-therapeutenkammer, der Deutschen Ärzteschaft sowie bei MEZIS e.V. K.Er nimmt keinerlei Gelder oder Honorareder pharmazeutischen Industrie persön-lich an. Als Klinikdirektor trägt er dieLetztverantwortung für die Annahmevon Honoraren auf Drittmittelkontenfür die Durchführung klinischer Studienim Studienzentrum der Klinik, die inKooperation mit der pharmazeutischenIndustrie durchgeführt werden.

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auch als „bias blind spot“ (Pronin et al., 2002)bezeichnet wird. Bei anderen Personen da-gegen wird aufgrund der Fakten entschie-den und möglicher Bias aus Interessen-konflikten bewusst wahrgenommen. Dies er-klärt zum Beispiel, warum sich Ärzte selbstviel häufiger als immun gegenüber den Be-einflussungsversuchen der Pharmaindustrieansehen, als sie glauben, dass dies bei ihrenKollegen der Fall ist (zum Beispiel Lieb undBrandtönies, 2010), und macht die Bedeu-tung der konsequenten Offenlegung vonInteressenkonflikten deutlich.

Interessenkonflikte können das Urteilsvermögen beeinträchtigen

Bias durch Interessenkonflikte kann ohneFrage zu Schäden führen. Diese geschehen oftunerkannt jeden Tag, wenn zum BeispielÄrzte aufgrund von Pharma-Marketing nichtein bewährtes, sondern ein alternatives Me-dikament verordnen, das dem Patientenmehr schadet als nutzt. Ebenso, wennPsychotherapeuten ein bestimmtes Thera-pieverfahren anbieten, das sie entwickelt ha-

ben oder in dem sie ausgebildet wurden, ob-wohl die Evidenz für dessen Wirksamkeitnicht gegeben oder ein anderes Verfahrenwirksamer ist. Wiederholt hatten Schädendurch Interessenkonflikte aber so starke Aus-wirkungen, dass diese auch die Öffentlich-keit erreichten. Beispiele sind der sogenanntePublikations-Bias, also das bevorzugte Pu-blizieren positiver Therapiestudien beigleichzeitiger Zurückhaltung negativer The-rapieergebnisse, oder das Zurückhalten vonInformationen über gefährliche Nebenwir-kungen, wie zum Beispiel der Vioxx®-Skan-dal (Übersicht in Schott et al., 2010a und b).In der Regel hängt das Ausmaß des Scha-dens davon ab, wie eng die einem Interes-senkonflikt zugrunde liegende Beziehungist, zum Beispiel durch hohe und regelmä-ßige Vortragshonorare der pharmazeuti-schen Industrie für einen Meinungsbildner,wie groß die Entscheidungsbefugnis einerPerson ist, beispielsweise die eines Präsi-denten und Organisators des Kongresses ei-nes Berufsverbandes, und wie weitreichenddie Konsequenzen sind, die eine Entschei-dung haben kann, wie zum Beispiel eineLeitlinien-Empfehlung durch einen Autor

mit Interessenkonflikt. Da in letzter Konse-quenz durch Bias immer der Patient Scha-den nimmt, kann die Vermeidung von Biasinfolge von Interessenkonflikten als ein Ge-bot ärztlicher und psychotherapeutischerEthik angesehen werden.

Damit wird deutlich, dass es neben einerkonsequenten Offenlegung von Interessen-konflikten noch viel wichtiger ist, Maßnah-men zu ergreifen, Interessenkonflikte undderen Schadenspotenzial zu minimieren.Auch wenn es sicher unmöglich ist, Interes-senkonflikte auf null zu reduzieren, darf diesnicht als Entschuldigung dafür dienen, nichtan der weitestgehenden Reduktion von In-teressenkonflikten zu arbeiten. Auch ist diehäufig gehörte Ansicht abwegig, Interessen-konflikte könnten sich dadurch aufheben,dass man für fast alle Pharmaunternehmentätig ist und daher eine gezielte einseitigeBeeinflussung gar nicht möglich sei. Kon-krete Vorschläge zur Reduktion der Auswir-kungen von Interessenkonflikten wurdenvom Institute of Medicine für die BereicheForschung, Lehre und Krankenversorgungvorgeschlagen (Lo et al., 2009). Vorschlägeim deutschsprachigen Raum existieren un-ter anderem vom Autor* oder von der Ärzte-initiative MEZIS e.V., was für „Mein Essenzahl ich selbst“ steht (www.mezis.de). Ohnegrößeren Aufwand können Ärzte zum Bei-spiel ihre Interessenkonflikte dadurch re-duzieren, dass sie keine finanzielle Unter-stützung für Fortbildungsveranstaltungenvon Industrieunternehmen mehr annehmen,nur noch unabhängige Fortbildungsveran-staltungen besuchen, keine Pharmavertre-ter mehr empfangen und keine Arznei-mittelmuster und Geschenke mehr anneh-men (vergleiche MEZIS e.V.). Allerdingsmuss dieser Haltung eine eigene kritischereEinstellung vorausgehen. Parallel zu dieserVerhaltensänderung müssten allerdings auchmehr unabhängige Fortbildungsveranstal-tungen angeboten werden, und die Ärztemüssten bereit sein, finanzierte Fortbildungnicht mehr als Selbstverständlichkeit anzu-sehen. Bei den Psychologen sind selbst be-zahlte Fortbildungen die Regel, und diesehaben häufig eine höhere Qualität. Warumsollte dies nicht auch für die Ärzteschaft gel-ten können? ___

*Literatur kann beim Verfasser angefragtwerden

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Umgang mit der Pharmaindustrie

Die Klinik für Psychiatrie und Psycho-therapie der Universitätsmedizin Mainzhat sich für transparente Richtlinien zumUmgang mit der pharmazeutischen In-dustrie entschieden*. Sie tragen der Tat-sache Rechnung, dass die Klinik für Psy-chiatrie und Psychotherapie als Teil derUniversitätsmedizin Mainz einerseits aneiner engen wissenschaftlichen Koopera-tion mit der pharmazeutischen Industriein der Erforschung neuer Arzneimittelinteressiert ist, andererseits aber als klini-sche Einrichtung in der Frage der Ver-ordnung von Arzneimitteln weitestge-hende Unabhängigkeit von der pharma-zeutischen Industrie erreichen will. Diesbasiert auf dem Wunsch der Ärzteschaft,sich bei der Arzneimittelverordnung al-lein der evidenzbasierten Medizin und denPatienteninteressen zu verpflichten undaus dieser Verpflichtung heraus rationaleund unabhängige Empfehlungen zurPharmakotherapie abzugeben.

Die hier formulierten Richtlinien inte-grieren Vorschläge anderer, auch interna-tionaler Gruppen und gehen über das hi-naus, was der Verein der forschenden Arz-neimittelhersteller (VfA) in seinem Kodexformuliert hat. Die Zusammenarbeit mitder pharmazeutischen Industrie in klini-schen Studien wird im Studienzentrum„Psychische Erkrankungen“ realisiert, daszusammen mit dem vom Bundesministe-rium für Bildung und Forschung (BMBF)geförderten Interdisziplinären ZentrumKlinische Studien (IZKS) und den Klini-ken für Psychosomatische Medizin undPsychotherapie sowie Kinder- und Ju-gendlichen-Psychiatrie und -Psychothe-rapie betrieben wird.

Im Folgenden werden die konkretenRichtlinien für die Klinik für Psychiatrieund Psychotherapie der Universitätsme-dizin Mainz beschrieben:

Richtlinien zu Vertreterbesuchen

Vertreter der pharmazeutischenIndustrie erhalten keinen direktenZugang zu den Ärztinnen auf denStationen oder in den Ambulanzen.

Sie haben nur Zugang zum Chefarztoder Oberärzten der Klinik, wenn siemit diesen über neue klinische Stu-dien diskutieren oder wenn sie überNeueinführungen/Indikationserwei-terungen oder relevante Neuigkeitenbei Substanzen berichten wollen.Bei solchen Neuigkeiten oder Neuein-führungen berichtet die Vertreterinder pharmazeutischen Industrie inder Ärztefrühkonferenz über die neueSubstanz oder Indikationserweite-rung. Damit werden zum einen in ef-fektiver und Arbeitszeit schonenderWeise alle Ärzte auf einmal erreicht,zum anderen kann durch eine kriti-sche Diskussion der präsentierten In-halte sichergestellt werden, dass sichdie Informationen an den Kriteriender evidenzbasierten Medizin orien-tieren und in den gesamtklinischenund ökonomischen Kontext einge-bunden werden.Geschenke, auch noch so kleiner Art,wie zum Beispiel Kugelschreiber,Notizblöcke oder Kalender, werdennicht angenommen.Reisekostenerstattungen zur Teilnah-me an Fortbildungsveranstaltungenoder Kongressen werden nicht ange-nommen, sondern aus dem Fortbil-dungsetat der Klinik oder aus Dritt-mitteln bezahlt.Arzneimittelmuster werden nicht an-genommen.

Richtlinien zur Finanzierung vonFortbildungsveranstaltungen in derKlinik

Fortbildungsveranstaltungen in derKlinik finden ohne finanzielle Unter-stützung von Pharmafirmen statt.Bei der Auswahl der Referentinnenwird darauf geachtet, dass diesedurch kritische und ausgewogene Re-ferate bekannt geworden sind.

Alle Referenten müssen zu Beginn ih-res Vortrags mögliche Interessenkon-flikte offenlegen.Reisekosten, Übernachtung und einangemessenes Honorar für den Refe-renten werden aus dem Fort- undWeiterbildungsetat bezahlt.

Richtlinien zu Arzneimittelstudien

Sämtliche Arzneimittelstudien derKlinik werden im Studienzentrum„Psychische Erkrankungen“ (SPE)durchgeführt.Die Klinik nimmt nur an Studien mitSubstanzen teil, die einen erkennba-ren Fortschritt gegenüber bereits aufdem Markt befindlichen Substanzenerwarten lassen.Die Klinik nimmt nicht an Anwen-dungsbeobachtungen teil. Ausnahmekönnen groß angelegte Phase-IV-Stu-dien sein, denen ein multizentrischesund protokollgebundenes Design zu-grunde liegt.Die Kooperation mit der pharmazeu-tischen Industrie ist klar und trans-parent mit Ausweisung von Leistungund Gegenleistung geregelt. Die ver-tragliche Prüfung erfolgt durch Juris-ten des Ressorts Forschung und Lehreder Universitätsmedizin.Die Annahme von Honoraren für dieStudiendurchführung erfolgt auf se-parat eingerichtete Drittmittelkonten,die durch unabhängige Personen derVerwaltung der Universitätsmedizinverwaltet werden.Die Klinik strebt insbesondere dieverstärkte Durchführung öffentlich fi-nanzierter Studien an, sogenannter„Investigator-initiated Trials“ (IITs).Beispiele finden sich auf der Home-page des Studienzentrums.*

*www.klinik.uni-mainz.de/Psychiatrie

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___ In der Therapie psychischer Erkran-kungen durch Fachärzte für Psychiatrie undPsychotherapie mittels der sogenanntendrei Säulen, das heißt Pharmakotherapie,Soziotherapie und Psychotherapie, gewinntletztere zunehmend an Bedeutung.

Da einerseits das Bio-Psycho-Soziale Mo-dell bei nahezu allen psychischen Störun-gen von therapeutischer Relevanz ist undandererseits in den letzten Jahrzehnten dieSuche nach effektiveren Psychopharmakanur von begrenztem Erfolg war, rückenpsychotherapeutische Verfahren immermehr in das Zentrum unseres Faches.

Dabei zeigt sich insbesondere im statio-nären Bereich die Tendenz, dass die kon-ventionellen Psychotherapieschulen, alsoTiefenpsychologie, Psychoanalyse und Ver-haltenstherapie, zugunsten von störungs-spezifisch entwickelten Therapien in denHintergrund treten. Das heißt eine Analyseder einzelnen Störungsbilder bezüglich derpsychopathologischen Auffälligkeiten, ih-rer charakteristischen innerpsychischen Pa-thogenese und interpersonellen Konfliktebestimmen weitgehend die auf die Störun-gen zugeschnittenen Psychotherapien. Da-bei werden Module aus dem Gesamtbe-

reich psychotherapeutischer Verfahren überdie Schulengrenzen hinaus einbezogen(Bohus, 2009). Diese Entwicklung stellthohe Ansprüche an Fachärzte und Weiter-bildungsassistenten. Zunehmend bedarf esvorab einer differenzierten Konzeptuali-sierung, welche Kompetenzen und Anfor-derungen für ein individuelles psychothe-rapeutisches Vorgehen im oben genann-ten Sinne erforderlich sind. Dabei kannman sich an der Schematik des US-ameri-kanischen Psychiaters Humphrey Osmond,die er im „New England Journal of Medi-cine“ zu den notwendigen Facetten ärzt-lichen Handelns aufgestellt hat, orientierenund sie auf die gegenwärtige Situation derPsychotherapie übertragen (Osmond, 1980).Er unterscheidet dabei zwischen der wis-senschaftlichen, der fürsorglichen und derkreativen Dimension.

In den gängigen Definitionen von Psy-chotherapie, etwa von Hans Strotzka, istein wichtiger Aspekt, dass Psychotherapieauf der Basis einer Theorie des normalenund pathologischen Verhaltens basierensolle (Strotzka, 1975). Dieser Vorstellungentsprechen die meisten psychotherapeu-tischen Schulen, die nicht nur psychothe-

rapeutische Handlungsempfehlungen, son-dern auch eine entsprechende Theorie zurEntstehung psychischer Störungen vorge-ben. Häufig erscheinen diese Modelle dereinzelnen Psychotherapieschulen ihren Ver-tretern so plausibel, dass ihnen ein Nach-weis der Behandlungseffektivität gemessenan klinisch relevanten Outcome-Variablenwie Morbidität und Lebensqualität nichtnotwendig erscheint. Nach den Grund-prinzipien der evidenzbasierten Medizinist eine plausibel erscheinende Theorie je-doch keine Rechtfertigung zur Herleitungund unüberprüften Anwendung einer The-rapie, da damit die Gefahr von Surrogat-Trugschlüssen verbunden ist.

Neben fachlicher Autorität suchen Patienten im Therapeuteneine moralische Stütze

Ein typisches Beispiel aus dem Gebiet psy-chischer Störungen ist das Debriefing nachtraumatischen Ereignissen. Unmittelbarnach der Debriefing-Sitzung fühlen sichdie Teilnehmer in der Regel entlastet, ent-wickeln aber ein Jahr später häufiger eineposttraumatische Belastungsstörung, als

Zur Rolle der Psychotherapie im Fachgebiet der Psychiatrie und PsychotherapiePsychische Erkrankungen werden stationär zunehmend störungsspezifisch therapiert. Ein Trend, der hohe Ansprüche an die Behandler stellt und auch Auswirkungen auf die ambulante Behandlung haben wird

Von Mathias Berger

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ob ein Debriefing nicht stattgefunden hat(Bisson et al., 1997; Rose et al., 2005). Dasheißt, auch in der Psychotherapie wird zu-nehmend die Bedeutung randomisiert-kon-trollierter Studien, möglichst mit langenKatamnesen, zur Beurteilung der Effekti-vität von Behandlungen erkannt. DieserEntwicklung tragen die ForschungsfördererRechnung, indem mit deutlich steigenderTendenz Psychotherapie-Forschungspro-jekte gefördert werden. Dabei geht es ei-nerseits um die Prüfung der Wirksamkeittradierter Verfahren, andererseits aber auchund in zunehmendem Maße um die Ent-wicklung innovativer störungsspezifischerPsychotherapien.

Auch Charisma und Kreativität sind gefragt

Die Methodik und die kritische Beurtei-lung sowohl von randomisiert-kontrollier-ten Studien als auch von Metaanalysenmuss inzwischen psychiatrisch und psy-chotherapeutisch Tätigen vertraut sein, umso das eigene Handeln am gegenwärtigen„State of the Art“ orientieren zu können.Zusätzlich benötigen sie aber praktischeKompetenzen in den schulenübergreifen-den relevanten Modulen psychotherapeuti-schen Handelns, um auch innovative, evi-denzbasierte Therapieverfahren für einzelneStörungsbilder in einem akzeptablen Zeit-rahmen erlernen und anwenden zu können.

Ein besonders eindrucksvolles Beispielist die sogenannte Cognitive-BehavioralAnalysis System Psychotherapy (CBASP)zur Behandlung chronischer Depressionen(Schramm et al., 2006). Es handelt sich umein schulenübergreifendes Behandlungs-verfahren, das zum ersten Mal gezielt auf dieBehandlung chronischer, das heißt längerals zwei Jahre bestehender Depressionenund Dysthymien abgestellt ist. Seine Wirk-samkeit konnte in einer der größten Psycho-therapiestudien mit insgesamt 681 in zwölfZentren behandelten chronisch Depressivengezeigt werden (Keller et al., 2000). Bei derUnterform chronischer Depressionen, dievor dem 20. Lebensjahr beginnen (early on-

set), kann fast regelhaft eine Traumatisie-rung der Patienten in der frühen Kindheitnachgewiesen werden. Deswegen spielendie genaue Kenntnis und Analyse der denPatienten in der Kindheit prägenden wich-tigsten Bezugspersonen eine größere Rolleals in der kognitiven Verhaltenstherapieüblich. Bezüglich der prägenden interper-sonellen Beziehungen wird mit dem Patienten eine sogenannte proaktive Über-tragungshypothese formuliert, in der er-arbeitet wird, dass der Patient in be-stimmten Situationen vermutlich davonausgeht, dass sein Therapeut sich ihmgegenüber wie zuvor seine ihn geprägthabenden Bezugspersonen verhalten wird.Mit Auftreten entsprechender Konstella-tionen wird eine sorgfältige Diskriminie-rung zwischen dem Verhalten früherer Bezugspersonen und dem des jetzigen The-rapeuten erarbeitet.

Diese beiden Therapiebausteine habenihre Wurzeln in psychodynamischen Ver-fahren, während die weiteren Bausteine,die auf einen interpersonellen Kompe-tenzerwerb zielen, das heißt sich in schwie-rigen Situationen adäquat durchzusetzen,ein typisches Vorgehen der KognitivenVerhaltenstherapie darstellen. Die bishererbrachten Wirksamkeitsnachweise desCBASP-Verfahrens zeigen, dass, wenn mandem häufig als therapieresistent sich dar-stellenden Krankheitsbild der chronischenDepression entsprechend den vorliegen-den Evidenzen besser gerecht werden will,man nicht an den Grenzen einer Psycho-therapieschule Halt machen kann.

Neben dem Aspekt empirisch begründ-baren Vorgehens ist nach Humphrey Os-mond auch eine, wie er es nennt, „pa-ternalistische“ Begleitung vieler Patientenunumgänglich. Der Psychiater Osmondwurde von Franz Ingelfinger, dem Heraus-geber des „New England Journal of Me-dicine“, zum Verfassen seiner Arbeitaufgefordert, nachdem er selber als Gas-troenterologe an einem Ösophagus-Karzi-nom erkrankt war (Berger, 2002). Ingel-finger war deutlich geworden, dass ihmseine Kenntnis der empirischen Studienlage

zu seinem Krankheitsbild als Patient keinenausreichenden Halt gab; erst in seinem Haus-arzt fand er eine moralische Autorität, dieihn entlastete und ihn die Rolle des Krankenakzeptieren ließ. Auch bei psychisch Er-krankten ist eine solche vertrauenswürdige,quasi elterliche Autorität, die einem bei Ent-scheidungsfindungen zur Seite steht, häufignotwendig. Dies lässt sich sehr gut daranverdeutlichen, wie schwer es für einen De-pressiven ist, sich bei der kaum mehr über-schaubaren Zahl unterschiedlicher Psycho-therapieverfahren, pharmakotherapeutischerMaßnahmen, ihrer Kombinationen und an-deren somatischen Behandlungen für einezu entscheiden. Letztlich möchten die meis-ten Patienten nicht nur einen Experten als In-formanten über den für sie relevanten Standder Wissenschaft, sondern auch Halt undunterstützende Begleitung. Heute würde mandies wohl nicht mehr als paternalistisch, son-dern als elterlich-fürsorglich bezeichnen.

Den dritten Aspekt bezeichnete Osmondals die empathische Dimension, die mitärztlichem Charisma und Kreativität beimtherapeutischen Handeln verbunden ist.Zur Verdeutlichung dieser Dimension wur-de von ihm das Beispiel der Behandlungdes Reichskanzlers Bismarck herangezogen.Der 68-jährige Bismarck war durch einekalorien- und alkoholreiche Ernährungmassiv übergewichtig, er pflegte einen äu-ßerst gesundheitsschädlichen Lebensstil.Dem von seinem Umfeld herbeigezogenenArzt teilte Bismarck mit, dass er strikt dasBeantworten von Fragen ablehne. Darauf-hin schlug der Arzt ihm vor, sich in diesemFalle besser von einem Tierarzt behandelnzu lassen. Das „Gefecht“ war unmittelbargewonnen. Bismarck folgte den ärztlichenAnweisungen und lebte weitere 15 gesund-heitlich stabile Jahre. In der modernen Ter-minologie wird ein solches Vorgehen alsdie Kunst der komplementären Bezie-hungsgestaltung, der Irritation der Erwar-tungshaltung oder der wertschätzendenKonfrontation bezeichnet (Bohus, 2009).Neben dem nomothetischen Aspekt stö-rungsorientierter Psychotherapien ist alsojeweils auch eine idiografische, auf den ein-

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G E G E N E I N A N D E R ? M I T E I N A N D E R !

zelnen Patienten zugeschnittene Vorge-hensweise von hoher Relevanz.

Psychotherapie wird sich in Zukunft zu-nehmend sowohl im internen Vergleich alsauch im Vergleich mit anderen, etwa phar-makologischen Therapieverfahren an denErgebnissen empirischer Ergebnisforschungorientieren müssen, wobei die Charakteris-tika der Störungen selber gegenüber denCharakteristika der Therapieschulen in denVordergrund rücken werden. Im Zuge die-ser Entwicklung werden Therapiemanualeweiter an Bedeutung gewinnen, die es ins-besondere weniger erfahrenen Therapeu-ten ermöglichen, schwerwiegende Krank-heitsbilder, wie etwa Zwangsstörungen oderBorderline-Störungen, bereits während ih-rer Weiterbildung in den Kliniken erfolg-reich zu behandeln. Dabei müssen sich The-rapeuten weiterhin bewusst sein, dass sieihren Beruf nicht als „Technokraten“ aus-üben können. Neben den therapeutischen,störungsspezifischen Techniken wird esauch von großer Relevanz sein – wenn not-wendig –, den Fertigkeiten der Patienten-führung, aber auch der kreativen, indivi-duellen Gestaltung der Therapeut-Patient-Beziehung adäquaten Raum zu geben.

Das Feld der Psychotherapien befindet sich in einem beeindruckenden Entwicklungsprozess

Welche Konsequenzen haben die darge-stellten Aspekte psychotherapeutischenHandelns für das Fach?

Während die ambulante Psychotherapiesehr stark durch die Vorgaben der Richtli-nienverfahren bestimmt ist, setzt sich imstationären psychiatrisch-psychotherapeu-tischen Handeln zunehmend ein evidenz-basiertes störungsorientiertes Vorgehendurch. Deswegen wurde die Musterweiter-bildungsordnung nicht mehr an den Richt-linienverfahren, sondern an den wissen-schaftlichen Evidenzen ausgerichtet. Vonder Fachgesellschaft werden im Rahmendes jährlichen Kongresses der DeutschenGesellschaft für Psychiatrie, Psychothera-

pie und Nervenheilkunde (DGPPN) großeAnstrengungen unternommen, mittelsFort- und Weiterbildung den Erwerb vonKenntnissen und Fertigkeiten in neuen stö-rungsorientierten, evidenzbasierten Psy-chotherapieverfahren wie InterpersonellePsychotherapie (IPT), Dialektisch Beha-viorale Therapie (DBT), CBASP, Schema-therapie oder Eye Movement Desensitiza-tion and Reprocessing (EMDR) zu ermög-lichen.

Während bisher in der Weiterbildungzum Psychiater und Psychotherapeuten dieexterne Selbsterfahrung stundenmäßiggegenüber der strukturierten Supervisiondeutlich dominierte, das heißt 70 StundenSupervision gegenüber 150 Stunden Selbst-erfahrung, wird unter den genannten dreiAspekten therapeutischen Handelns zur-zeit diskutiert, das Ausmaß der Supervi-sionen auch mittels Ton- und Videomit-schnitten der Behandlungsstunden deut-lich zu intensivieren und sie mit einerumfangreicheren therapiebezogenen Selbst-erfahrung zu ergänzen.

Von Seiten des Faches wird die Einfüh-rung von sogenannten Methoden nebenden Verfahren als Richtlinien-Psychothe-rapien durch den Gemeinsamen Bundes-ausschuss (GBA) begrüßt. Dies eröffnet dieMöglichkeit, evidenzbasierte Behandlun-gen, die in den Kliniken bereits breiteAnwendung finden, auch offiziell als kas-senwirksame Leistungen in die ambulanteVersorgung einzuführen. EntsprechendeAnträge liegen für die InterpersonellePsychotherapie für Depressionen undEMDR für posttraumatische Belastungs-störungen vor.

Das Feld der Psychotherapien befindetsich zurzeit in einem beeindruckenden Ent-wicklungsprozess mit dem Ziel effektivererBehandlungen. Dies hat im Fach Psychia-trie und Psychotherapie zu erheblichen An-strengungen geführt, alle Facetten derPsychotherapie von den wissenschaftlichenPrüfungen über die klinische Anwendungund Dissemination bis zur Fort- undWeiterbildung zu intensivieren und weiter-zuentwickeln. ___

Mathias Berger ist Ärztlicher Direktorder Abteilung für Psychiatrie undPsychotherapie des Universitätsklini-kums Freiburg. Er absolvierte die Weiter-bildung zum Facharzt für Neurologie,Psychiatrie und Psychotherapie. Er istVT-Supervisor und hat die Zusatzbe-zeichnung „Psychoanalyse“ erworben.1985 habilitierte er an der TechnischenUniversität München. Von 1986 bis 1990war er als C3-Professor und LeitenderOberarzt am Zentralinstitut für Seeli-sche Gesundheit Mannheim tätig. Von1993 bis 1994 war er Vorsitzender derDeutschen Gesellschaft für Schlaffor-schung und Schlafmedizin. Von 1999 bis2002 war er Studiendekan der Medizini-schen Fakultät der Universität Freiburg.Von 2002 bis 2004 war er Präsident derDeutschen Gesellschaft für Psychiatrie,Psychotherapie und Nervenheilkunde(DGPPN). Seit 2007 ist er Mitglied derDeutschen Akademie der NaturforscherLeopoldina. Seine Forschungsschwer-punkte sind Depressionsforschung,Schlafforschung, Versorgungsforschung,Psychotraumatologie und Psychothera-pieforschung.

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L I T E R AT U R

Ulrich Streeck,Falk Leichsenring:Handbuch psychoanalytisch-inter-aktionelle Therapie

Vandenhoeck & Rup-recht, 237 Seiten,ISBN: 978-3-525-40160-6,Preis: 24,90 Euro

Handbuch psychoanalytisch-interaktionelle TherapieZwei Praktiker bieten wertvolle Unterstützung für die Therapie strukturell gestörter Patienten.Im Fokus steht dabei das interaktionelle Geschehen zwischen Patient und TherapeutVon Norbert Bowe, Vorstandsreferent bvvp

Arbeit erst erreicht werden kann: ein hinrei-chend strukturiertes Selbsterleben mit vomSelbstbild getrennten Objektrepräsentanzen,auf die sich neurotisch-konflikthafte Einstel-lungen überhaupt erst beziehen könnten. So-lange Affekte und Beziehungsäußerungennicht in ihrer gegenseitigen Bezogenheit undBeeinflussung reziprok-interaktiv gelesen undverstanden werden können, sollen diese pri-mär unter dem Aspekt der gefährdeten Selbst-regulation aufgegriffen werden.

Ein weiterer ausführlicher Teil befasst sichmit der psychoanalytisch-interaktionellenGruppentherapie. Explizite und impliziteThemen der Gruppe, Definitionen aktuellerGruppensituationen, das Aushandeln vonGruppennormen, der Umgang mit Gefüh-len und die Art der Beziehungsgestaltungwerden an Beispielen dargestellt. Schwer-punktmäßig kommt es darauf an, eigenesErleben und Verhalten im Zusammenseinmit anderen wahrzunehmen und zu un-tersuchen, so Zusammenhänge zwischen ei-genem Verhalten und dem der anderen zuerkennen, Wirkungen und Folgen eigenenVerhaltens auf andere zu verstehen, als eigeneAktivität anzuerkennen, um über dieseAspekte der Reziprozität neue, reifere Wahr-nehmungs- und Verhaltensweisen entwi-ckeln zu können.

Das Buch ist aus der Praxis für die Praxisgeschrieben. Das ist seine Stärke, aber auchseine Ergänzungsbedürftigkeit: Das psycho-analytische Theoriegebäude zur Entwicklungder Selbst- und Objektrepräsentanzen,Aspekte psychoanalytischer Entwicklungs-theorien werden vorausgesetzt, nicht ausge-führt. Dieser theoretische Hintergrund kannaber helfen, die im Buch überzeugend dar-gestellte therapeutische Haltung einzuneh-men und Verständnis und Einfühlung desTherapeuten zu fördern. Und die eine oderandere Deutung könnte doch möglich sein,wenn der Patient Fortschritte gemacht hatoder sich ohnehin schon im Grenzbereichzur strukturellen Störung bewegt. Diese„theoretische Abstinenz“ ist aber didaktischkonsequent, weil auf das interaktionelle Ge-schehen – nicht auf innerseelisches Kon-fliktgeschehen – fokussierend.

Da in der ambulanten Versorgung immerhäufiger strukturell gestörte Patienten zurBehandlung kommen, stellt dieses Buch ei-nen wertvollen Begleiter für die täglichen Be-handlungsfragen dar. ___

___ Zuallererst ist es erfreulich, dass mitdiesem Handbuch auf diese ausgearbeitetepsychoanalytische Methode zur Behandlungstrukturell gestörter Patienten erneut auf-merksam gemacht wird. Von zwei erfahre-nen Psychotherapeuten werden, mit vielenpraktischen Beispielen aus konkreten Be-handlungen versehen, die verschiedenenAspekte der psychoanalytisch-interaktionel-len Behandlungsansätze dargestellt, der ant-wortende Modus in Abgrenzung zur psycho-analytischen Deutungsarbeit erfahrbar ge-macht und eine wertvolle Unterstützung fürden eigenen Behandlungsalltag zur Verfü-gung gestellt.

Das Buch führt in einem Bogen von denausführlich beschriebenen Behandlungsvor-bereitungen über facettenreich erläuterteBeziehungsstörungen und Manifestationenstruktureller Beeinträchtigungen im Thera-pieverlauf zu den Besonderheiten der Be-handlungstechnik. Auch wenn das Buch zumTeil in Manualform angelegt ist, hebt es sich

nach Art und Inhalt doch erfreulich von al-ler undynamischen Schematisierung ab undbetont den offenen, nicht planbaren Ge-sprächscharakter der Therapie.

Das Buch setzt das Wissen um dieWurzeln der Methode voraus

In vielen Beispielen wird die therapeutischeKunst verdeutlicht, nahe am aktuellen Be-ziehungsgeschehen zu sein, Störungsgesche-hen ohne Wertungen oder Zuschreibungen zuformulieren und zu verdeutlichen, die – unbeabsichtigten – Auswirkungen eigenen Beziehungsverhaltens wahrnehmbar und erfahrbar zu machen. Die Arbeit mit der par-tiell mitgeteilten Gegenübertragung, einge-bracht als den Toleranzgrenzen und Entwick-lungsmöglichkeiten des Patienten angepass-te interaktive Antwort des Therapeuten aufdas Beziehungsverhalten des Patienten, er-scheint dabei als besonders anspruchsvollerAspekt dieser Methode.

Wiederholt wird empfohlen, im Umgangmit strukturell gestörten Patienten auf Deu-tungen zu verzichten, was zunächst irritie-rend wirken mag. Aber durch viele Beispielezu Erscheinungsformen struktureller Stö-rungen in der Therapie wird veranschaulicht,dass bei nicht sicheren Selbst-Objekt-Gren-zen, mangelhaft ausgebildeter Objektkons-tanz sowie fehlender reziproker Beziehungs-erfahrung mit Deutungen etwas vorausge-setzt würde, was durch die therapeutische

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___ Wie beenden Therapeuten und ihrePatienten und weitere Beteiligte, zum Bei-spiel Eltern bei der Therapie von Kindernund Jugendlichen, eine Psychoanalyse oderPsychotherapie „richtig“? Die Autoren ha-ben diese Frage sehr detailliert untersuchtund viele hilfreiche Antworten gefunden.

Sie beklagen, dass die Beendigung vonTherapien häufig nicht im Vordergrundder Therapieausbildung oder im Fokus derPraxisarbeit stehe. Schon Freud und vieleseiner Nachfolger hätten zu wenig Augen-merk auf die Bedeutsamkeit von Thera-pie-Abschlüssen gelegt. Dagegen beachtenund beschreiben die Autoren das Ende vonTherapien von ihrem Anfang an: Kein Ab-schnitt einer Therapie, hier gegliedert in„Anfangsphase“, „Mittlere Phase“, „Vorbe-reitung der Beendigung“ und „Beendi-gung“, könne ohne das Therapie-Ende ge-dacht, verstanden und gestaltet werden.Auch für das psychodynamische Verständ-nis bei drohenden Abbrüchen, bei vorzei-tig oder zu spät beendeten Therapien undsogar nach deren Beendigung werden vielebedachte Hinweise gegeben.

Für Therapien, die ihrem Wesen nachBindung und Beständigkeit sowie Ent-wicklung symbolisieren, ist ein Abschiedoder ein Ende problematisch, wenn nichteigentlich widersinnig. Im zeitlosen Un-bewussten der Patienten gäbe es diesesEnde nicht, oder ein Ende komme demTod gleich (Seite 202). Die Autoren legen

deshalb den Maßstab für eine Beendigungder Therapie – sehr konsequent bis zurletzten Stunde – auf die Entwicklung derPatienten von ihren „geschlossen-systemi-schen, omnipotenten Überzeugungen“, mitdenen sie jedwedes Geschehen – also auchdie Therapie und den Therapeuten – be-herrschen, zu ihren wachsenden „offen-systemischen Fähigkeiten“, die zur Verar-beitung von Geschehnissen „von außen“befähigen. Dies ist eine reizvolle, dem Pri-märprozesshaften einer Therapie entspre-chende Idee, die im Kapitel „Beendigung“besonders überzeugend dargelegt wird.

Selbst das Abschiedsgeschenk istpsychodynamisch zu bearbeiten

Da ist selbst das Geschenk des Patienten inder letzten Stunde noch psychodynamischzu bearbeiten. Denn nur bei einem glaub-würdigen Übergewicht von „offen-systemi-schen Fähigkeiten“ gelange eine Therapie anihr stimmiges Ende. Nur dann stünden demPatienten die Mittel zur Trennung zur Ver-fügung: Abkehr von der „innerpsychischenomnipotenten, manipulatorischen Welt“ zu-gunsten von Anerkennung des „Anderen“und von Gefühlen „nicht vernichtender Trau-rigkeit“ oder Wut, aber auch von Vertrauenin die eigene Autonomie und die Fortset-zung der „inneren Beziehung“.

In diesem Sinne erscheint das Buch alsWegweiser durch eine Therapie – immer

betrachtet durch die „Linse der Beendigung“(Seite 22) – trotz einiger Fremdheiten wieaus einem Guss. Großen Wert haben dieAutoren auf die Gegenübertragungsgefühleder Therapeuten gelegt. Auch Therapeutenmüssen einen Abschied bewältigen.

Ein wenig befremdlich wirkt die starkeZergliederung des Buches. Alle Aspektesind bedacht, werden mit einer Frage imTitel vorgestellt und mit Fallbeispielenbeantwortet. Diese große Menge von Fall-vignetten verwirrt bisweilen, Zusammen-hänge sind schwer im Auge zu behalten.Eine offenbar amerikanische Art der Per-fektion soll bewirken, dass nichts verlorengeht. Ungewohnt für uns ist überdies, dassdie Therapieverläufe nach den oben be-schriebenen Maßstäben und nicht mitKrankheitsbegriffen der Besserung oderHeilung, wie wir sie kennen, bewertet wer-den. Auch Limitierungen „von außen“ ha-ben im deutschen Gesundheitswesen einemaßgebliche Realität.

Insofern ist das vorgelegte Buch ehereine dem amerikanischen Therapie-Ver-ständnis entsprechende psychologische Ar-beit als ein dem deutschen medizinischenVerständnis angepasstes Lehrbuch. Es istdennoch empfehlenswert, denn seinegrundsätzlich wichtigen Ideen und Leitli-nien zum Ende einer Therapie haben über-all Gültigkeit und werden dem Anspruchdes Buches, eine Lücke zu schließen, inüberzeugender Weise gerecht. ___

Ein guter AbschiedEine empfehlenswerte Lektüre über den

gelungenen Abschluss einer Therapie,der häufig zu kurz kommt. Immer durch die „Linse der Beendigung“ ist das Buch

ein Wegweiser für jeden TherapieabschnittVon Rüdiger Hagelberg, Mitglied der Redaktion Projekt Psychotherapie

Jack Novick,Kerry K. Novick:Ein guter Abschied Die Beendigung vonPsychoanalysen undPsychotherapien

Brandes & Apsel,236 Seiten,ISBN-10: 3860998714Preis: 29,90 Euro

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AUSBLICK AUF DAS NÄCHSTE HEFTBei einer Tagung des Gesprächskreises IIam 17. Juli 2010 zum Thema Nutzenbewer-tung von Psychotherapieverfahren wurdenzahlreiche Facetten der Nutzenbewertungvon Versorgungsleistungen im somatischenund im psychotherapeutischen Bereich derMedizin zusammengetragen und diskutiert.Anlass gab unter anderem die Stellungnah-me der ehemaligen Expertenkommissionder BPtK zum Bewertungsvorgehen des Gemeinsamen Bundesausschusses bei derGesprächspsychotherapie: Das fachliche Ur-teil über die Vorgehensweise des G-BA fielverheerend aus.

Inzwischen prüft der G-BA mit den glei-chen ungeeigneten Kriterien die Richtli-nienverfahren – was sich zu einer akutenBedrohung für die analytische Langzeit-therapie auswachsen kann. Im nächstenbvvp-Magazin werden wichtige erste Er-gebnisse der Sichtungen und Diskussionender Tagung dargestellt. Diese sollen dann inden aktuellen berufspolitischen Zusam-menhängen beleuchtet und weitergeführtwerden. Nach unserer Auffassung geht esum nichts weniger als die Zukunft einerPsychotherapie, die nicht nur störungsspe-zifische Häppchen an die Patienten verteilt,sondern für das individuelle Leiden derpsychisch Kranken offen bleibt.

Meinung · Wissen · Nachrichten

Das Magazin des Bundesverbandes der Vertragspsychotherapeuten e.V.

ProjektPsychotherapie04/2010

ProjektPsychotherapie

34ProjektPsychotherapie

V E R A N S TA LT U N G E N

___ Anfang des Jahres war es das siebte Mal,dass sich eine Gruppe von Ski- und Snow-board-begeisterten Psychotherapeutinnenund Psychotherapeuten im bvvp mit ihrenFamilien und Freunden zum traditionellenDreikönigs-Skifahren im österreichischenMontafon-Tal traf. Untergebracht war die 40-köpfige Gruppe auf dem Berghof Golm in1.900 Meter Höhe direkt auf den Skihängenoberhalb von Tschagguns. Auch die Jugendwar wieder gut vertreten, wir hatten vieleNachwuchs-Skifahrer dabei.

Skifahren und Brett-Rutschen stand im klas-sischen Skilager wieder vor Komfort und Ster-ne-Gastronomie. Die Gruppe wird getragenvon der gemeinsamen Sportbegeisterung, dieimmer unter dem Motto steht: „Respektieredeine Grenzen“. Zum Glück hatten wir auchnur kleinere Blessuren zu beklagen, die zwarnachts am Schlafen, aber tags darauf nichtwirklich am Schneevergnügen hinderten.

Abends war dann die Zeit der dinosau-riergroßen Pistenraupen, die eindrucksvollden Schnee für den nächsten Morgen präpa-rierten. Drinnen war es umso gemütlicherbei Kartenspielen und Gitarrenklängen,diesmal auch überraschenderweise ohneGameboys, jedenfalls ist uns diesmal keinPiepsen aufgefallen. Dafür gab’s zum ersten

Mal gedruckte Notenbücher der „bvvp-Ski-hasenlieder“ mit Freizeit- und Fahrtenliedernbis hin zu Rock und Pop.

Es gab auch Zeit für vielfältigen, jeweils al-tersspezifischen Austausch, von „A“ wie Ab-fahrt über „F“ wie fachliche Fragen zu „L“ wieErste Liebe oder ersatzweise Deutsch-Lektürein der Mittel- und Oberstufe. Und unter „S“kamen Ski- und Snowboard-Kenntnisse undderen Weitergabe keineswegs zu kurz.

Die bvvp-Skihasenlieder sorgten für den abendlichenOhrenschmaus

Tagsüber bildeten sich wechselnde Gruppennach fahrerischem Können: vom Anfänger-kurs für Snowboarder über das legendäre„Dream-Team“ für gemütliche Abfahrten bishin zu den Carving-Profis (Marietta sei Dank)und den Pisten-Assen mit einer Vorliebe fürdie Diabolo-Abfahrt. Die meisten Gruppenzeigten sich offen für neue Teilnehmer. Nur imDream-Team musste beim Leiter Klaus min-destens leicht unterdurchschnittliche Skifahr-kenntnisse nachgewiesen werden. Bei geringe-ren Kenntnissen wurde auf Wunsch unbüro-kratische Einzelförderung organisiert. Neuwar auch, dass erstmals eine teilnehmende

Dreikönigs-Skifahren auf dem GolmGemütliche Skihasen und schwarze Pisten-Asse erlebtenzum siebten Mal eine unvergessliche ZeitVon Birgit Leibold und Matthias Fünfgeld

Autoren: Mathias Berger, Frank Bergmann, ThomasBock, Norbert Bowe, Birgit Clever, Frank Roland Deister, Jürgen Doebert, Matthias Fünfgeld, RüdigerHagelberg, Birgit Leibold, Klaus Lieb, Christa Roth-Sackenheim, Benedikt Waldherr

Verlag: Medienanker Marketing & Kommunikation e.K.

Linienstraße 106, 10115 BerlinFon: 030.39 835 188-0 · Fax: 030.39 835 188-5

Textchef: Britta PeperkornProjektleitung: Nicole SuchierArtdirektion: Le Sprenger, Helen Staude

Anzeigen: [email protected] gilt die Anzeigenpreisliste vom 01.01.2008

ISSN: 1683-5328Einzelverkaufspreis/Schutzgebühr 6,- Euro

Periodizität: Quartal

Copyright: Alle Reche vorbehalten.Zitate nur mit Quellenangabe. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion.Namentlich gekennzeichnete Artikel gebennicht unbedingt die Meinung des Herausge-bers oder der Redaktion wieder. Bei Einsen-dungen von Manuskripten wird, sofern nichtanders vermerkt, das Einverständnis zur Veröffentlichung vorausgesetzt.

I M P R E S S U M

Projekt Psychotherapie, das bvvp-Magazin

Herausgeber: Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten (bvvp) e.V.Schwimmbadstr. 22 · 79100 Freiburg Tel.: 0761/79 102 45 · Fax: 0761/79 102 [email protected] · www.bvvp.de

Redaktionsleitung: Martin Klett (ViSdP)

Redaktion: Birgit Clever, Rüdiger Hagelberg

Verantwortlich für den Schwerpunkt:Norbert Bowe

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ProjektPsychotherapie

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mende Familie aus NRW anreiste, die Begei-sterung spricht sich also herum.

Wir bedanken uns beim Berghof Golm fürdie gute Betreuung und ansprechende Ver-pflegung, auch wenn es wegen unerwartetenAnsturms mal eng wurde und manchmalUmzüge von einem Zimmer ins andere nichtganz vermieden werden konnten. Mehr alsentschädigt wurden die Teilnehmer allerdingsdurch die flexiblen Möglichkeiten, die eineUnterbringung direkt auf der Skipiste mitsich bringt: frühmorgendliche Abfahrten aufjungfräulichen Pisten, frei einteilbare Mit-

tagspausen mit der Möglichkeit die Sa-chen zu trocknen, zu duschen oder ein-fach noch eine Runde zu schlafen, bevores wieder raus in die meist sonnigeSchneelandschaft ging.

Nach den überwiegend sonnigen Ta-gen und krachend kalten Nächten wur-de einmütig beschlossen, die GolmerTradition auch in 2011 fortzusetzen.Auch das nächstjährige Angebot soll vom2. bis 6. Januar 2011 wieder für alle Al-tersgruppen und Grade von Sport- undBewegungsbegeisterung geeignet seinund wird noch durch eine Gruppe fürkleine Skitouren bereichert. Wer sich die-ser anschließen will, sollte entsprechen-de Ausrüstung mitbringen, genauereskann bei Birgit Leibold angefragt werden,die dankenswerterweise wieder die Or-ganisation und die Koordination mitdem Berghof Golm übernommen hat.Ab sofort kann man sich unter der mail-Adresse: [email protected] ange-melden. Diesmal erfolgt die Zimmer-auswahl nach Eingang der Anmeldun-gen. Wer sich also früher anmeldet hatmehr Wahlmöglichkeit, ob Schlafen im10er, 8er, 6er oder einem der beiden 4er-Zimmer gewünscht ist. JugendlichenJungs, die sturmfreie Bude haben wollen,wird das Jugendlager – die sogenannte„Dunklkammer“, die auch einiges gün-stiger ist, empfohlen. Geplant ist, die An-reise zu individualisieren, so dass die Teil-nehmer selbst entscheiden können, ob sieam Ankunftstag so früh anreisen, so dasssie noch einen halben Tag Skifahren kön-nen oder es gemütlich angehen lassen.

Es werden wieder circa 30 Betten inZimmern - Unterkunft und Halbpen-sion: Erwachsene 38 Euro, Kinder/Ju-gendliche bis einschließlich 15 Jahren 25Euro und 8 Plätze im Jugendlager 20Euro, ab 16 Jahren 30 Euro - zur Verfü-gung stehen. Da es sich um die Preise2010 handelt, könnte es leichte Ände-rungen geben.

Nebenbei haben wir auch erfahren,dass Psychotherapeuten, ihre Freundeund Familien im Berghof doch ange-nehmere Gäste sind als die für ihre Al-kohol-Exzesse bekannten „Saufgruppen”.Um auch im nächsten Jahr weitgehendunter uns zu sein, werden wir wieder dasganze Untergeschoss belegen. ___

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Uhren mit der „Tendenz zum Nichts“ (Jean-Paul Sartre): Jetzt gibt es NOMOS-Modelle auch in Schwarz. Ihr Vorbild sind jene reduzierten Instrumente im Keller, die Gas und Wasser zählen. Wie sie verkörpern auch die Glashütter Uhren mit gehärteten schwarzen Gehäusen das unbestechlich Genaue – drum Norma, was wie NOMOS Gesetz und Ordnung heißt.Ab 1.280 Euro und in verschiedenen Versionen etwa bei: Berlin: Christ KaDeWe, Brose; Hamburg: Mahlberg; Lübeck: Mahlberg; Bremen: Meyer; Bielefeld: Böckelmann; Düsseldorf:

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