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Prof. Dr. Ludwig Siep Praktische Philosophie II Einführung in die politische Philosophie Gerechtigkeit

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Praktische Philosophie IIEinführung in die politische Philosophie

Gerechtigkeit

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Teil II: Gerechtigkeit in der politischen Philosophie

Überblick:A. Antike und Mittelalter Die gerechte Gesamtordnung des Staates steht im Mittelpunkt (Augustinus: Staat ohne Gerechtigkeit ist Räuberbande). Sie ergibt sich aus den Funktionen (arbeits- teilige Bedürfnisbefriedigung, Sicherheit nach außen, Ermöglichung eines guten Lebens und der Vollendung menschlicher Fähigkeiten in Tugenden). Unterschiedliche Schichten und Stände der Bürger müssen den ihnen gemäßen Platz in einer für alle guten Ordnung finden. In den Formen des Austausches und der Verteilung müssen verschiedene Arten von Wertgleichheit stattfinden.

B. Frühe Neuzeit (16. –18. Jh.) Die Gerechtigkeit besteht darin, die Freiheit des Einzelnen zu sichern. Das ist der Inhalt des Staatsvertrages und der Gegenstand der Tätigkeit staatlicher Gewalten. Die Grundrechte betreffen Sicherheit vor Gewalt, Freiheit zur Verfolgung eigener Ziele, Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit zur Mitwirkung an der Ge- setzgebung und Ausführung. Außer der Rechtssicherung bleibt dem Staat keine „Verteilungsaufgabe“.

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C. Neueste Zeit (19.-21. Jh.): Individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit müssen verbunden werden. Soziale Sicherheit ist Bedingung der Freiheitsausübung. Gerechte Verteilung kann staatliche Planwirtschaft erfordern. Heute: Grundrechtsschutz, Berufs- und Gewerbefreiheit, Marktbeziehungen und soziale Gerechtigkeit müssen vereinbart werden. „Selbstverantwortung und Solidarität“

Gerechtigkeit in der Geschichte der politischen Philosophie

I. Gerechtigkeit in der griechischen Philosophie

a) Jonische Naturphilosophie (Vorsokratiker): Gerechtigkeit als Maß und Ausgleich gegen das Übermaß der natürlichen Dinge und Ereignisse. Ausgleichende Gerechtigkeit als Erklärungsprinzip für kosmische Prozesse.

b) Sophisten: Gerechtigkeit als menschliche Ordnung, die zur Natur des Menschen passt oder nicht. (Recht des Stärkeren, aber auch

Ungerechtigkeit der Sklaverei etc.)

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c) Platon: Gerechtigkeit als Ordnung von Natur, Seele und Staat. Gerecht im Staat ist, dass jeder Einzelne und jeder Stand „das Seine tut“, d.h. das, wozu er von Natur am besten geeignet ist. Gerecht ist eine hierarchische Ständegesellschaft, in der die

Ver- nünftigen nach der Idee des Gerechten die unteren Stände führen.

d) Aristoteles: Gerechtigkeit als Tugend und als Rechtssystem.

A. Justitia generalis: Tugend des Einzelnen („der Gerechte“), die alle anderen Tugenden im sozialen Umgang verwirklicht.B. Justitia specialis: Gesetzliche Ordnung der Gleichheit in

ver- schiedenen Verteilungs- und Austauschprozessen.

B1. Justitia distributiva, austeilende Gerechtigkeit: Verteilung von Staatsgütern, Ämtern und Ehren nach dem Prinzip des Verdienstes für das Gemeinwohl („öffentliches Recht“).

B2. Justitia commutativa, ausgleichende Gerechtigkeit

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B 2. Justitia commutativa, ausgleichende Gerechtigkeit: B 2.1. Gerechtigkeit im Austausch von Gütern und Leistungen („bürgerliches Recht“): Maß: Gleichheit des Wertes der

Austauschprodukte bzw. Leistungen,B 2.2. Korrektive Gerechtigkeit („Strafrecht“): Korrektur von privatem Zwang und Rechtsverletzung (korrektive Gerechtigkeit). Maß:

Wiederherstellung der Rechte und Entsprechung von Schuld und Strafe.

Diese Einteilung wird Grundlage der europäischen Rechtsordnungen(öffentliches Recht, Privatrecht bzw. bürgerliches Recht, Strafrecht).

Wichtig an der Gerechtigkeitskonzeption des Aristoteles: 1. Es gibt eine ethische Dimension von G., die für die Politik wichtig ist: der

Staat soll durch Gesetze und Erziehung zur Gerechtigkeit des Menschen in seinen affektiven und sozialen Gewohnheiten beitragen. („Der Gerechte“,

ähnlich dem Begriff der Bibel).2. Das gemeinsame Entscheiden über Gerechtigkeit ist Inhalt des Staates. Nur als Teilnehmer daran können die Menschen ihre Bestimmung verwirklichen und ihre Erfüllung finden.

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3. Die Gerechtigkeit muss durch Gesetze konkretisiert werden, die die ver-schiedenen Bereiche des menschlichen Zusammenlebens nach ihrer

eigenen „Logik“ regeln.4. Durch diese Gesetze werden den Bürgern Rechte zugeteilt, die jedem

Pflichten auferlegen. Ein großer Teil der aristotelischen Tugenden wird daher durch staatliche Gesetze geforderte Pflicht (auch durch Strafe er-zwingbar).

5. An diesen Rechten haben in vollem Sinne aber nur die Vollbürger teil, die männlichen Haushaltsvorstände. Innerhalb des Hauses gibt es eine eigene Gerechtigkeit und eigene Tugenden des adäquaten Befehlens (je nach den Fähigkeiten der Untergebenen) und Gehorchens.

II. Gerechtigkeit im Mittelalter: Gerechtigkeit als Tugend (justitia generalis) bleibt Staatszweck und An-

forderung an den Herrscher. Die platonische Ständeordnung bleibt Vorbild des christlich-monarchischen Ständestaates (vgl. Teil I der Vorlesung). Die Gerechtigkeit im bürgerlichen Verkehr und im Strafrecht ist an der

aristotelischen Konzeption der justitia specialis orientiert.

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III. Gerechtigkeit in der politischen Philosophie der frühen Neuzeit: In der frühen Neuzeit wird Gerechtigkeit im Wesentlichen entweder in „pla-tonischen Utopien“ (Morus, Campanella) oder vertragstheoretisch gefasst (Hobbes, Spinoza: Gerecht ist, was man freiwillig akzeptiert). Klassische Gerechtigkeitstheorien des 18. Jh. sind Hume und Kant.

(1) David Hume (1711-1776) Text: Prinzipien der Moral (1740)Empiristische Philosophie von Staat, Recht und Moral

a) Erkenntnis- und handlungstheoretische Grundannahme: Vernunft ist nicht autonom, sondern nur ein Mittel, um aus Sinnes-empfindungen und Gefühlen richtige Schlüsse zu ziehen bzw. die richtigen Wege zum Ziel herauszufinden.

b) Moralpsychologische Grundannahme: Menschen haben Eigeninteresse und eine natürliche Sympathie für Gattungs-genossen. Die letztere ist aber schwächer entwickelt und muss in großen Gesellschaften (Fernbeziehung) durch Regeln und Strafen gestärkt werden.

c) Kulturhistorische Grundannahme: Soziale Regeln werden nicht durch Vernunft eingeführt, sondern durch Gewohnheit und Erfahrung ihres Nutzens. Sie können aber durch Vernunft mittels expliziter Verträge oder Gesetze stabilisiert werden.

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Gerechtigkeit bei Hume

a) Soziale Tugend (zusammen mit Wohltätigkeit, benevolence), die ursprünglich ausschließlich wegen ihres Nutzens für die Gesellschaft geschätzt wird. Später verselbständigt sich das Gerechtigkeitsgefühl, die Achtung vor den Regeln und den Menschen.b) Soziale Ordnung des Eigentums- und Erbrechts.

Voraussetzung ist (objektiv) mäßige Knappheit der Güter und Notwendigkeit des Zusammenlebens (Familie, größere Gesellschaften), (subjektiv) begrenztes Wohlwollen der Menschen (weder radikaler Egoismus noch grenzenloser Altruismus).

Nutzen der Gerechtigkeit ist die Vermeidung von Streit und die Ermöglichung zivilisatorischer Errungenschaften (wie bei Hobbes).

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Warum ist Eigentums- und Erbrecht gerechter als andere Ordnungen?

Alternativen zu einer liberalen Privatrechtsordnung: I. Verteilung des Eigentums nach Verdienst, der Nutzen läge in der „Möglich-

keit zum Gutes Tun für die dazu Geneigten“. Aber Verdienst ist nicht objektiv zu erkennen. Folge: Theokratie, Auflösung der Gesellschaft

II. Gleichverteilung (Egalitarismus, vgl. Levellers im engl. Bürgerkrieg). Abweichung davon entzieht zwar den Armen mehr als den Reichen, aber strenge Gleichverteilung ist schädlich und praktisch undurchführbar, weil

a. die menschliche Geschicklichkeit, Sorgfalt und Arbeitsamkeit zur Ungleich-heit der Verteilung führt; wenn man sie hemmt, drückt man das gesamt-gesellschaftliche Niveau;

b. genaueste Kontrolle, strengste Strafe, tyrannischer (bürokratischer) Macht-apparat etc. nötig sind;

c. Gleichverteilung die Grundlagen für Macht und Autorität aufhebt.

(Nach Hume sind die Regierenden diejenigen, die persönliches Interesse, auch an Reichtum, mit dem Gemeinwohl verbinden).

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I. Verdienst und II. Gleichverteilung für Hume auch historisch gescheitert („überspannter Enthusiasmus“).Also ist Eigentum wegen der Belohnung bzw. dem Anreiz zu Fleiß, Geschicklich-keit etc. notwendig: Was einer sich „geschaffen oder vervollkommnet hat“, muss a. ihm und seinen Kindern (Erbrecht) gesichert werden.b. nach Vereinbarung veräußerlich sein, damit Handel und Verkehr möglich ist.c. Verträge müssen gehalten werden, damit Vertrauen zu Austausch besteht.

Das Eigentumsrecht dient dem gemeinsamen Nutzen und kann für ihn auch ein-geschränkt werden: in Ausnahmefällen kann Privateigentum dem öffentlichen Interesse untergeordnet werden („die Sicherheit der Bevölkerung ist das oberste Gesetz“). Es muss durch „bürgerliche Gesetze“ (civil laws, positive Gesetze eines anerkannten Gesetzgebers) gesichert sein (Konkretisierung der natürlichen Ge-rechtigkeit). Gesetze sind nach „Staatsform, Sitten, Klima, Religion, Handel und Lage jeder Gemeinschaft“ verschieden (vgl. Montesquieu).

Rechtsgründe des beanspruchten Eigentums: Erste Besitzergreifung (prima occupatio), Arbeit, Verjährung, Erbschaft, Vertrag usw. Sie sind nicht durch Rechtsgefühl zu erfassen, sondern durch Argumentation und Reflexion. Aber sie werden durch Gewöhnung habituell.

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Immanuel Kant (1724-1804)Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797)

Gerecht istA. was die positiven Gesetze einer Rechtsordnung festlegenB. was dem Vernunftrecht entspricht

(B) Nach dem Vernunftrecht gibt es ein „inneres und äußeres Mein und Dein“a) inneres: das Recht an der eigenen Person, das Menschenrecht, sein eigener Herr (sui juris) und „unbescholten“ (justus) zu sein (Rechtsfähigkeit, Rechtsgleichheit, Unbescholtenheit und körperliche Integrität). b) äußeres: das Recht an dem durch eigene Handlungen Erworbenen. (Eigentum an Sachen, vertraglicher Besitz von Leistungen und Zuständen anderer Personen). Grundsätzlich ist alles außer der Person privat zu erwerben.

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(Kant 2)

I. Die ohne die Annahme des Staates erkennbaren Grundsätze des äußeren Mein und Dein bilden das Privatrecht. Aber: Etwas Äußeres als das Seine wirklich zu „haben“ (objektiv bestimmt und gesichert), setzt einen öffentlichen Rechts- zustand voraus.

Eingeteilt wird das private Recht nach den Relationskategorien (vgl. Kritik der reinen Vernunft) der Substantialität, Kausalität und Wechselwirkung: Recht auf Sachen, Leistungen und einen Zustand der wechselseitig zustehenden, aber nicht strikt bestimmten, Pflichten. Oder: Sachenrecht, Vertragsrecht, Familienrecht.

II. Die Regeln der Sicherung der Rechte durch eine öffentliche Gesetzgebung, Rechtsprechung und Exekutive bilden das öffentliche Recht. Dieses unterteilt sich in Staatsrecht (Gewaltenteilung), Völkerrecht (internationale Verträge, Kriegsrecht) und Weltbürgerrecht (Recht des Individuums gegenüber fremden Staaten: Recht der Ansiedlung in anderen Ländern, Kolonienbildung durch Vertrag, Recht des In- Verkehr-Tretens vs. Abschließung, Recht des Reisens und Niederlassens etc.).

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(Kant 3)

Gerechtigkeit ist bei Kant also insgesamt Sicherung von Rechten des Individuums und der Staaten. Darüber hinaus gibt es keine „Verteilungsgerechtigkeit“. „Justitia distributiva“ ist die Sicherung der privaten Rechte durch eine öffentliche Gerechtigkeit.

Aber Kant nimmt im Anhang C zum Staatsrecht auch zur sozialen Gerechtigkeit Stellung. Da die Idee des Staatsvertrags auf dauerhafte Erhaltung der Mitglieder angelegt ist, muss der Staat denen, die dazu nicht in der Lage sind, das Existenzminimum sichern („notwendigste Naturbedürfnisse“). Dies ist nur durch allgemeine Zwangsbesteuerung der Zahlungsfähigen rechtens.

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Nach Kant: Anfänge der Philosophie der sozialen Gerechtigkeit

J. G. Fichte (1762-1814) Grundlage des Naturrechts (1796/97) Geschlossener Handelsstaat (1800)

Selbstbewusstsein ist Bewusstsein der Selbsttätigkeit. Moral und Recht gründen auf das Gebot, sich selbst nach Gesetzen zum Handeln zu bestimmen. Das Recht auf Selbstbestimmung im äußeren Handeln impliziert das Recht, sich durch eigene Arbeit zu erhalten. Dafür ist eine staatliche Planwirtschaft nötig. Keine freie Berufswahl, staatliches Monopol der Außenwirtschaft, nicht-konvertierbare Währung etc.

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G. W. F. Hegel (1770-1831)

Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821):

Der Staat muss Freiheit und Wohl der Individuen sichern. Freie Berufswahl muss zur autonomen Persönlichkeitsentwicklung erhalten bleiben, aber Markt ist strukturell krisenanfällig.

Das „abstrakte Recht“ der Privatpersonen und die „Moralität“ ihrer Überzeugungen vom Wohl der Menschen muss in der „Sittlichkeit“ zusammengeführt werden.

Die „Sittlichkeit“ umfasst Gruppen, Gebräuche und Institutionen, die Individualrecht und Wohl dauerhaft verbinden. Dazu gehört die Familie (solidarische wechselseitige Sorge), die berufsständischen Organisationen in einer freien Marktwirtschaft (Kammern, Kassen, Katastrophensicherung) und der Sozialstaat (staatliche Gewerbe-aufsicht, Gesundheitspolitik, Strukturpolitik etc.).

Ohne diese Kompensation und Stabilisierung zerfällt die bürgerliche Gesellschaft in die Klassen von Arm und Reich, deren Rechtsloyalität schwindet. Der Staat geht aber als politischer Staat (Bildung und Durchsetzung des vernünftigen gemeinsamen Willens) und als Kulturstaat (Förderung von Kunst, Religion und Wissenschaft) über den sozialen Rechtsstaat hinaus.

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Karl Marx (1818-1883) Frühschriften (1841-1847) Manifest der kommunistischen Partei (1848) Kapital (seit 1867)

Die Verelendung der Arbeiterklasse geht auf die strukturelle Ungerechtigkeit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zurück. Die Arbeiter werden ausgebeutet, weil die Eigentümer der Produktionsmittel ihnen den durch die Arbeit erzielten Mehrwert teilweise vorenthalten. Aber auch die Kapitalisten sind entfremdet, weil sie den Ver-wertungsgesetzen des Kapitals unterliegen, sich nicht als Gattungswesen (wechsel-seitige Bedürfnisbefriedung) verwirklichen können.

Die Krisen der kapitalistischen Gesellschaft führen notwendig zur letzten Revolution der Menschheitsgeschichte. Gründe: Widerspruch zwischen Produktivkräften und Pro-duktions- bzw. Zirkulationsverhältnissen, Erzeugung eines immer größeren Heeres arbeitsloser Proletarier, Entstehung eines wahren Bewusstseins der Ungerechtigkeit bei der Avantgarde, der kommunistischen Partei. In der sozialistischen Revolution wird die Kapitalistenklasse „abgestoßen“, der Staat von der Arbeiterklasse übernommen und die Produktionsmittel verstaatlicht. Der Staat ist aber kein Selbstzweck, er muss im vollendeten Kommunismus „absterben“.

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Kritik:

Marx hat sehr unklare Vorstellungen von der Gerechtigkeit der zukünftigen Gesellschaft. „Jedem nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähig-keiten“, „freie Assoziation“ etc.

Hauptmangel: Das Recht wird nur als Herrschaftsinstrument einer Klasse gesehen. Daher keine Konzeption einer Festlegung und Sicherung der Individualrechte. Keine Gewaltenteilung, kein Pluralismus der politischen Meinungen und Weltanschauungen, keine Wissenschaftsfreiheit (Marxismus als „wissenschaftliche Weltanschauung“). Auch keine Konzeption der ge-rechten Verteilung des (für die sozialistische Produktion angenommenen) Überflusses.

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John Stuart Mill (1806-1873)Der Utilitarismus (1863) Gerechtigkeit hat die beiden Komponenten der Sicherung individueller Freiheitsrechte (a) und der Verteilungsgerechtigkeit (b).

(a) Auch die individuellen Rechte dienen dem sozialen Nutzen. Sie betreffen dessen wichtigsten Teil, die Sicherheit vor gewaltsamen Eingriffen in Leben und Freiheit. Daher werden sie streng sanktioniert und von unserem Gerechtigkeitsgefühl (Mischung zwischen Selbstverteidigungs- bzw. Vergeltungsgefühlen, Gattungssympathie und Vernunft) getragen.

(b) Maße der Verteilungsgerechtigkeit: Verdienst-, Gleichheits- und Nutzen- (Ertragssteigerungs-) gesichtspunkte vereinen. Verdienstgesichtspunkt: die Struktur der justitia commutativa ist auf die der distributiva zu übertragen. Für beide Gerechtigkeitsarten gilt die gleiche Formel: „dass wir jeden gleich gut behandeln sollen, ... der sich um uns im gleichen Maße verdient gemacht hat, und dass die Gesellschaft jeden gleich gut behandeln soll, der sich um sie im gleichen Maße verdient gemacht hat“ (107). Das verlangt sozialen Fortschritt durch Anteil aller Bürger am Sozialprodukt und an der Kultur. Ständiges Wirtschaftswachstum führt aber zur Naturzerstörung. Wichtiger ist die Verbesserung des Anteils der Armen und ihrer Erziehung und Bildung.

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John Rawls (1921-2002)Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971)

Gerechtigkeit als Fairness. Die Regeln des demokratischen Rechts- und Sozial-staats können auf einen Vertrag über die faire Verteilung der Lasten und Nutzen der Kooperation zurückgeführt werden. Ohne Wissen über ihre spätere gesell-schaftliche Position würden die Teilnehmer der Vertragsverhandlung folgende Prinzipien wählen:1. Es soll ein System möglichst vieler Grundrechte geschaffen und gesichert

werden, in dem jedem gleiche Rechte zustehen.2. Soziale Ungleichheit erhöht das gemeinsame Produkt (Regel der Anreize

zu besonderen Leistungen). Sie ist unter zwei Bedingungen gerechtfertigt:A: Ämter und Positionen müssen jedem mit gleicher Qualifikation offen

stehen. Chancen zur Qualifikation (Bildung) müssen möglichst gleich sein.B: Die Lage der Schlechtestgestellten muss optimiert werden (Maximinregel).

Diese Regeln werden in einem Vier-Stufengang (Vertrag, Verfassung, Gesetz-gebung, Rechtsprechung) zu einem Verfassungsstaat mit sozialer Wirtschaftspolitik konkretisiert.

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Michael Walzer (*1935) Sphären der Gerechtigkeit (1983)

Gerechtigkeit als System unterschiedlicher Güterverteilungen in selbständigen Gesellschaftssphären (Spheres of Justice).

Gerechte Verteilung ist abhängig von der Art der Güter in einer bestimmten Kultur (Partikularismus statt Universalismus, kommunitaristische Konzeption). Die Dominanz einer Sphäre über die anderen führt zu Ungerechtigkeit und Tyrannei. Vor allem zwischen der politischen Sphäre und der Sphäre des Geldes muss Unabhängigkeit und Gleichgewicht herrschen (Macht ist nicht zu erkaufen, politische Macht berechtigt nicht zu den Gütern der anderen Sphären).

Die jeweilige Kultur hat Maßstäbe der gerechten Verteilung bestimmter Güter (Staatsangehörigkeit, Sicherheit, Ämter, Wissen, harte Arbeit, Freizeit etc.). Gerecht und freiheitlich ist ein Prozess der zunehmenden Differenzierung der Sphären und der jeweils angemessenen Verteilungsregeln. Es gibt aber Misch-sphären (Großunternehmen sind teilweise politisch, innere Demokratie erfor-derlich).

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Probleme: Sind die Verteilungsregeln wirklich durch die kulturellen Werte festgelegt? Woher dann der politische Streit darüber? Kann eine partikularistische Theorie für andere Gesellschaften und Kulturen Maßstäbe abgeben? Ist sie an einen kulturellen „status quo“ gebunden? Warum ist Eigentums- und Erbrecht gerechter als andere Ordnungen?