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Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2011 Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 – 1900) Zwischen Idealismus und Existenzphilosophie: 5. Die mittlere Periode Nietzsches F W N

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Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2011

Friedrich Wilhelm

Nietzsche

(1844 – 1900)

Zwischen Idealismus und Existenzphilosophie:

5. Die mittlere Periode Nietzsches

FWN

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1. Menschliches-Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister

(1878-79)

• Der Aufbruch = Die große Loslösung – Demaskierung alles für Wahrgeglaubten = der großen Selbsttäuschungen:

„ein aufrührerisches, willkürliches, vulkanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde, Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung, Vereisung (...) ein Sieg? über was? über wen? Ein rätselhafter fragenreicher Sieg, aber der erste Sieg immerhin:- dergleichen Schlimmes und Schmerzliches gehört zur Geschichte der grossen Loslösung (...) dieser Wille zum freien Willen....“ (MAM, II, 16, Vorrede 3)Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2011, Nietzsche – Zwischen Idealismus und Existenzphilosophie: 5. Die mittlere Periode

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1. Menschliches-Allzumenschliches (1878-79)

• Statt „gebundener Geist“ (II, 16) nun der „freie Geist“, den Nietzsche aber erst in der Zukunft sieht = Freimachen von dem Althergebrachten, siehe MAM Vorrede 2, II,15: bisher nur Erfindung „inmitten schlimmer Dinger (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, Acedia, Unthätigkeit)… als Schadensersatz für mangelnde Freunde. Dass es dergleichen freie Geister einmal geben könnte… daran möchte ich am wenigsten zweifeln. Ich sehe sie bereits kommen, langsam, langsam..“

• der freie Geist ist nicht der freie Wille = große Selbsttäuschung des Menschen (der freie Wille):

„dieser erste Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung, dieser Wille zum freien Willen: und wie viel Krankheit drückt sich an den wilden Versuchen und Seltsamkeiten aus, mit denen der Befreite, Losgelöste sich nunmehr seine Herrschaft über die Dinge zu beweisen sucht!“(II; 17)

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1. Menschliches-Allzumenschliches (1878-79)

• Ideologiekritik

• Methode der entlarvenden Psychologie

• Beginn des experimentierenden Denkens (Vorrede 1,2, II, 14/15

• Moralkritik (Vorrede 7, II, 21/22) - nur noch absoluter Wahrhaftigkeitsswille

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1. Menschliches-Allzumenschliches (1878-79)

• Selbsttäuschungen gehen auf Sprache zurück:

• 1)Sprache fixiert und stellt etwas für die Ewigkeit her

• 2) Begriffe prätentieren das Wesen (=Idee einer Sache, wie im Verstande Gottes konzipiert) einer Sache zu erfassen

• Wir isolieren Fakten und bilden Begriffe, in denen Fakten übereinstimmen = Isolierung und Verallgemeinerung = logisch, aber geht an der Wahrheit vorbei

• Fluidität des Lebens wird unterbrochen

• Leben im ständigen Fluss

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• Abrechnung mit überlieferten Philosophie = nicht die großen Dinge, die kleinen Dinge, das Allzumenschliche – in den Kleinigkeiten sind Ursprünge, ist Quelle der großen Täuschung zu finden (II, 20)

• Abschiednehmen von den großen Entwürfen, den großen Themen der Philosophie - Eingraben in MAM: dort ist das Leben zu fassen

• Je weiter sich etwas von Ursprüngen entfernt, um so größer werden Irrtümer – daher auf Anfänge im MAM zurückzufragen

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1. Menschliches-Allzumenschliches (1878-79)

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• Freie Geist= „methodisierte“ Philosophie = Notwendigkeit eines nüchterne und methodischer Geistes der Wissenschaft

• Bisherige Wissenschaft=generalisierte Fakten =Fixierungen=statuierte Einheiten

• Tatsachen der Wissenschaften verdrängen Lebenshintergrund, statt Tatsachen Ereignisse, stellen sich je neu ein

• Wissenschaft ist in Teilgebiete zerfallen, die Philosophie soll Leben im Ganzen zusammenfassen, dann hat Philosophie Zukunft = Ort, an dem der freie Geist sich entfalten kann

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1. Menschliches-Allzumenschliches (1878-79)

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1. Menschliches-Allzumenschliches (1878-79)

• Kurze Aphorismen, im 1. Band nummeriert, dann geordnet nach Sachgebieten, Phil im Allgemeinen, Metaphysik und Moral

• Sehr kurze Bemerkungen

• Nachempfunden dem Essay von Montaigne-Blitzaufnahmen

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1. Menschliches-Allzumenschliches (1878-79)

• Einige Aphorismen aus MAM:• 1. Hauptstück: Von den ersten und letzten Dingen

Aph.1 (II, 23-25): Chemie der Begriffe und Empfindungen:

Es gibt keine ewigen Wahrheiten und Tatsachen (II,25), Sinnenwelt = Produkt unserer Außenwelt, Welt an sich = Irrtum= dynamischer Perspektivismus

Aph. 5 (II, 27) Missverständnis des Traums

Aph. 11 (II, 31) Die Sprache als vermeintliche Wissenschaft

Logik beruht auf Voraussetzung der Gleichheit der Dinge, der Identität- Glaube, Welt in Sprache einfangen zu können (II,31)

Aph. 16 (II, 36 u 37) unsere Welt= Geschichte der Irrtümer

Aph. 39 (II, 62) Fabel von der intelligiblen Welt: Freiheit des Willens ist Irrtum, Prädikate gut und böse = nur Bewertung nach nützlichen und schädlichen Folgen

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• 4. Hauptstück, Aph. 145, 146 (II, 141ff): KUNST:• Aph 153:

Kunst muss mit Hilfe der Wissenschaft ersetzt werden• Aph 154 und 156:

Kritik an der Kraft der Inspiration, unmittelbarer Eingebung- Unentbehrlichkeit des Handwerklichen, Arbeit, Reflexion Kritik an der Kraft der Inspiration, unmittelbarer Eingebung - Unentbehrlichkeit des Handwerklichen, Arbeit, Reflexion

1. Menschliches-Allzumenschliches (1878-79)

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1. Menschliches-Allzumenschliches (1878-79)

• Buch 2 „Der Wanderer und sein Schatten“ (bes. Aph, 84, II, 590 und Aph. 308, II, 690)

1)kein Ziel der Wanderung mehr vorhanden, im Wanderer selbst muss etwas Wanderndes sein. Kein Fixpunkt im Leben

2)Wanderer & Schatten = das Dunkle entgegengesetzt dem Licht des aufgeklärten, vernünftigen Denkens

Schatten sind Gewohnheiten, die mitgehen – Ich = Schatten, Projektion =besondere Stärken werden als Wille substantialisiert

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• Aph. 84 (II, 590) Die Gefangenen = Parabel

• Aph. 308 (II 690): Am Mittag Philosophie des Vormittags und des Mittags = Gegensätze von Licht und Schatten lösen sich auf

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1. Menschliches-Allzumenschliches (1878-79)

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• Auf Abendröte der Kunst nun Morgenröte als „Philosophie der Zukunft“ (Vorrede 1; III, 11) = das Neue kommt erst noch

• Untergraben werden die moralische Vorurteile = Kritik und Umwertung durch Arbeit der Tiefe:

• „In diesem Buche findet man einen „Unterirdischen“ an der Arbeit, einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden. Man sieht ihn, vorausgesetzt, dass man Augen für solche Arbeit in der Tiefe hat-, wie er langsam, besonnen, mit der sanften Unerbittlichkeit vorwärts kommt (...)“ (Vorrede1, S. 11) vgl. Kafka, Der Bau

• Freilegung von tragenden Schichten einer Kultur, = Vorwegnahme Freuds =Archäologie Foucaults

• Untergraben und Einreißen alter Fundamente, ohne ein neues Gebäude zu errichten = Dekonstruktion = Postmoderne

2. Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (1881)

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• Der freie Geist in keiner Abhängigkeit mehr von Religion, Philosophie und Kunst

• Schichten abtragen, die das Leben verstellen

• Archäologie contra Genealogie, auf Anfang zurückgehen und aufdecken

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2. Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (1881)

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• Vorrede 3 (III;12):

„Damals unternahm ich Etwas, das nicht Jedermann Sache sein dürfte: ich stieg in die Tiefe, ich bohrte in den Grund, ich begann ein altes Vertrauen zu untersuchen und anzugraben, auf dem wir Philosophen seit ein paar Jahrtausenden wie auf dem sichersten Grunde zu bauen pflegten,- immer wieder. „obwohl jedes Gebäude bisher einstürzte: ich begann unser Vertrauen zur Moral zu untergraben.“

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2. Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (1881)

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• Vollzug der schärfsten Abwendung von der Tradition, Vertrauen zur Moral wird untergraben:

„Und wenn dies Buch bis in die Moral hinein bis über das Vertrauen zur Moral hinweg pessimistisch ist, - ihn ihm wird der Moral das Vertrauen gekündigt – warum doch? Aus Moralität!... Das, was uns als überlebt und morsch gilt, in irgend etwas „unglaubwürdiges“ heisse es nun Gott, Tugend, Wahrheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe... In uns vollzieht sich, gesetzt, dass ihr eine Formel wollt,- die Selbstaufhebung der Moral“ (Vorrede 4, III 16)Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2011, Nietzsche – Zwischen Idealismus und Existenzphilosophie: 5. Die mittlere Periode

2. Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (1881)

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• Gegen Primat der Vernunft

• Vorgriff auf das Unbewusste (Freud): hinter der Vernunft bestimmen die Triebe:

• Statt eines vernünftigen Ichs nur Vielzahl von Trieben

• Handlungen sind im Grund niemals das, als was sie in unserem Bewusstsein erscheinen

• Aph.16 (III,109): „und alle Handlungen sind wesentlich unbekannt“

• Unsere Worte sind für die komplizierten Vorgänge im Inneren viel zu grob

• Wille, Ich, Vernunft = reine Erfindungen – es gibt nur einen Haushalt von Trieben (Aph. 115, 116, 119 – unbedingt lesen)

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2. Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (1881)

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• Aph. 119:„Dass all unser sog. Bewußtsein ein mehr oder weniger

phantastischer Kommentar über einen unbewußten, vielleicht unwissbaren aber gefühlten Text ist.“

• Bewusstsein ist keine Substanz im Sinne Descartes

• Ich denke, aber nicht als Subjekt, sondern: es denkt in mir

• Ich bin nicht der Tätige – es geht im das Schöpferische in mir

• Wille zur Macht = Wille ohne ein Ich, das „will“:• „Der Wille ist immer nur hinzugedichtet“ (9, 405)

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2. Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (1881)

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2. Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (1881)

Aph. 120:•„ Zur Beunruhigung des Skeptikers: „Ich weiss durchaus nicht, was ich tue ! Ich weiss durch nicht, was ich tun will – du hast recht, aber zweifle nicht daran: Du wirst gethan! In jedem Augenblicke! Die Menschheit hat zu allen Zeiten das Aktivum mit dem Passivum verwechselt, es ist ihr ewiger grammatikalischer Schnitzer.“

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• Tun geht nicht vom Täter aus

• Undurchsichtigkeit des Ich, des Selbstverhältnisse der Subjektivität: „Der „Mensch ist sich selbst in seinen Handlungsbezügen unbegreiflich“

• Auflösung des Subjektbegriffs, das Subjekt ist nur ein „Oberflächenphänomen“

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2. Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (1881)

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• Verlangen nach Erkenntnis bleibt unerfüllbar „Abendmahlzeit der Erkenntnis“, vgl. Aph. Eine Fabel III, 232, vgl. Kafka, Der Hungerkünstler

• Platon, Symposion - Idee des Schönen

• Romantik: Sehnsucht ist unerfüllbar

• Don Juan der Erkenntnis – Kierkegaard: Entweder-oder

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2. Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (1881)

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• III,308: Wahrheit hat sich verkleidet – Mitspieler sein in einer Komödie

• Zuwachs an Erkenntnis = Zuwachs an Unkenntnis Aph. 483:

• „Immer vor der gleichen Komödie sitzen, in der gleichen Komödie spielen? Niemals aus anderen, als aus diesen Augen in die Dinge sehen?.. Aber die Vernunft fällt dich an... Gehen wir ins Meer!“ (III; 287)

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2. Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (1881)

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• Leidenschaft der Erkenntnis, Unstillbarkeit der Sehnsucht: Das Denken findet keine Grenze, es ist ziellos („Opfergang des Denkens“) vgl. Aph. 373/4

• Metapher des Meeres (III, 260)= Verstummen

• Aph. 575 Wir Luft-Schiffer des Geistes!

III, 331: Wollen wir denn über das Meer? .. Dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind? ... Ein Indien zu erreichen hofften .. Dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit zu scheitern?“

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2. Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (1881)

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3. Fröhliche Wissenschaft (1882)

• 2. Auflage 1887. La gaya Scienca ergänzt, ebenso Vorrede, 5. Buch und Lieder des Prinzen Vogelfrei

• In ausnahmsloser Vollständigkeit finden sich hier die zentralen Denkfiguren und Sinnbilder, weitere Entfaltung im Zarathustra

• Buch = Signatur der Einsamkeit – Werk ist Versuch einer Genesung

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• „Fröhlich“:

1. Ab und zu lachen, um die Bitterkeit der Welt zu ertragen

2. Lachen über „letzte Zwecke der Menschheit“, „letzte Werte“, die sich der Mensch errichtet

• „Wissenschaft“:

Nur Glaube an der Wahrheit – muss durchschaut werden; immer sehen woher Wissenschaft kommt = freie Geist

Homerisches Gelächter – Totlachen, dass es nur einen Gott gibt• Primat der Komödie statt Tragödie, der Schein = eigentliches Prinzip,

Wahrheit = Illusion (III;417, Aph 54)

3. Fröhliche Wissenschaft (1882)

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• 1. Buch Aph.1

• „Die Lehrer vom Zwecke des Daseins. Ich mag nun mit gutem oder bösem Blicke auf die Menschen sehen, ich finde sie immer bei einer Aufgabe, alle und jeden Einzelnen in Sonderheit: Das zu thun, was der Erhaltung der menschlichen Gattung frommt. Und zwar wahrlich nicht aus einem Gefühl der Liebe für diese Gattung, sondern einfach, weil nichts in ihnen älter, stärker, unerbittlicher, unüberwindlicher ist, als jener Instinkt, - weil dieser Instinkt eben das Wesen unserer Art und Herde ist ... Über sich selbst lachen, wie man lachen müßte, um aus der ganzen Wahrheit herauszulachen, - dazu hatten bisher die Besten nicht genug Wahrheitssinn und die Begabtesten viel zu wenig Genie! Es gibt vielleicht auch für das Lachen eine Zukunft! Dann, wenn der Satz „Die Art ist alles, Einer ist immer Keiner“ – sich der Menschheit einverleibt hat und jedem jederzeit der Zukunft zu dieser letzten Befreiung und Unverantwortlichkeit offensteht. Vielleicht wird sich dann das Lachen mit der Weisheit verbündet haben, vielleicht gibt es dann nur noch „Fröhliche Wissenschaft“.

3. Fröhliche Wissenschaft (1882)

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3. Fröhliche Wissenschaft (1882)

• Leben nur in der Zeugung und Geburt zu fassen, es gibt nur Arterhaltung (3,371), aber auch diese Festlegung muss noch in Frage gestellt werden = „über sich zu lachen, wie man lachen müsste“ (3,370).

• Wo Glaube an einen höheren Zweck des Lebens = Moral, dort gibt es Tragödien. Frage nach einem höheren Sinn, etwas wird gesetzt, von dem wir nicht wissen, von wo dieses Setzen herkommt = als Setzung durchschauen (3,370)

• Moral = Herdeninstinkt= sie befiehlt, verlangt Unterwerfung, höherer Zweck ist Erfindung der Philosophie.

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• Es gibt keinen letzten Grund, Rede von Gott ist nur eine Interpretation. Philosophie muss Gebaren der Wissenschaft durchschauen = Maskerade, darüber lachen = Komödie (3,370)

„Der Mensch muss von Zeit zu Zeit glauben, zu wissen, warum er existiert, seine Gattung kann nicht gedeihen ohne ein periodisches Zutrauen zu dem Leben! Ohne Glauben an die Vernunft im Leben! Und immer wieder wird von Zeit zu Zeit das menschliche Geschlecht decretieren: „es giebt etwas, über das absolut nicht mehr gelacht werden darf!“ (Aph 1, 3,372)

• Freimachen von Begriffen, die sich bewährt haben, gegen jede Setzung eines höheren Zweckes, gegen hohe Ideale

• Der Einzelne nicht mehr durch einen Allgemeinbegriff (Vernunft, Sittlichkeit, Gattung) vermittelt – gegen Selbstverhältnis des Idealismus = Verdoppelung des Bewußtsein durch ein Allgemeines

• Das Allgemeine erfasst das Einzelne nicht = der Lebensstrom=WzM

3. Fröhliche Wissenschaft (1882)

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3. Fröhliche Wissenschaft (1882)

• Aph. 4 Bedient sich darwinistischer Terminologie. Traditionelle Wertskala des Guten und des Bösen erweist sich als vordergründig und wird entlarvt:

„Das Neue ist aber unter allen Umständen das Böse, als das, was erobern, die alten Grenzsteine und die alten Pietäten umwerfen will; und nur das Alte ist das Gute. .. Es gibt jetzt eine gründliche Irrlehre der Moral ... Nach ihr sind die Urteile „gut“ und „böse“ die Aufsammlung der Erfahrungen über „zweckmäßig“ und „unzweckmäßig“, nach ihr ist das Gut-Genannte, das Arterhaltende, das Bös-Genannte aber ist das Art Schädliche. In Wahrheit sind aber die bösen Triebe in eben so hohem Grade zweckmäßig, arterhaltend und unentbehrlich wir die guten – nur ist ihre Funktion eine verschiedene.“ (3,376)

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• Aph. 2 = fixiert eine thematische Achse des Gesamtwerke. „Das intellectuale Gewissen“.: (3, 373)

...“ den Allermeisten fehlt das intellectuale Gewissen ... Die Allermeisten finden es nicht verächtlich, diess oder jenes zu glauben und darnach zu leben, ohne sich vorher der letzten und sichersten Gründe für und wider bewusst worden zu sein und ohne sich auch nur die Mühe um solche Gründe hinterdrein zu geben.“... =Redlichkeit sich selbst gegenüber

• Aph. 11 = Bewußtsein, späte, stets gefährdete Entwicklung der organischen Welt (3, 382)

• Aph. 13 = tieferliegender Zweck einer ethisch genannten Handlung wird verkannt = Machtzuwachs (3, 383)

• Aph. 54 = Bewußtsein vom Scheine (3, 416)

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•„Was ist mir jetzt „Schein“ wahrlich nicht der Gegensatz eines Wesens,- was weiss ich von irgendwelchem Wesen auszusagen als eben nur die Prädikate seines Scheines! Wahrheit nicht eine todte Maske, die man einem unbekannten X aufsetzen und auch wohl abnehmen könnte! Schein ist für mich das wirkende und lebende Selbst, das soweit in seiner Selbstverspottung geht, mich fühlen zu lassen, dass hier Schien und Irrlicht und Geistertanz und nichts mehr ist.“ (3, 417)

3. Fröhliche Wissenschaft (1882)

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• Mit großer Radikalität werden alle moralischen Grundlagen unserer Kultur in Frage gestellt - sogar des Scheins: = Geiseln des Scheins als Wirklichkeitsverschleierung

• „Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Hauth stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Die Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe! Sind wir nicht eben darin Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte: Eben darum – Künstler?! (III,352)

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3. Fröhliche Wissenschaft (1882)

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• Entwurf zu einer neuen Ästhetik

• Der Schein ist das Primäre – der Mensch als Figur in einem Schattenspiel – Aph. 107 = Ästhetisierung des Daseins:

• 3, 464: „Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein noch immer erträglich, und durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu.“

• Riten und Mythos sind äußere Formen, werden nicht in den Kirchen zelebriert, aber ihr sakraler Ursprung ist längst verblasst: Wir haben keine Erfahrung vom Heiligen mehr.

3. Fröhliche Wissenschaft (1882)

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• Seit MAM bricht N. mit der Rechtfertigung der ästhetischen Illusion, Dichter = Schöpfer ästhetischer Nebenwelten und Fluchtmittel.

• Ende Buch 1 mit Aph. 56 „Die Begierde nach Leiden“. Letzter Maßstab für den Menschen ist Fülle des Schaffens. (3, 418)

• Vertiefung in Aph. 58, 2. Buch, „Nur als Schaffende“ können wir vernichten – aber vergessen wir auch dies nicht, es genügt, neue Namen und Schätzungen zu schaffen, um auf die Länge hin neue Dinge zu schaffen. (3, 422)

3. Fröhliche Wissenschaft (1882)

Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2011, Nietzsche – Zwischen Idealismus und Existenzphilosophie: 5. Die mittlere Periode

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• 3, 467, Aph. 109

• „Hüten wir uns zu denken, dass die Welt ein lebendiges Wesen sei.... Der Gesamtcharakter der Welt dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Lebendigkeit, sondern im Sinne der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen... Und zuletzt ist selbst das Wort („verunglückter Entwurf“) schon eine Vermenschlichung, die einen Tadel in sich schließt.“

3. Buch der Fröhlichen Wissenschaft (1882)

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3. Fröhliche Wissenschaft (1882)

• 3, 471, Aph. 111

• Herkunft des Logischen„Woher ist die Logik im menschlichen Kopfe entstanden?

Gewiss aus der Unlogik, deren reich ursprünglich ungeheuer gewesen sind muss.. Der überwiegende Hang aber, das Ähnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang- denn es giebt an sich nichts Gleiches, hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen....“

Verlauf logischer Gedanken =Resultat eines Kampfes von Trieben (3,472)

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• 3, 472, Aph. 112

• Es gibt keine Ursache und Wirkung:

„Aber begriffen haben wir damit nichts... Niemand hat den Stoß „erklärt“. Wie könnten wir auch erklären. Wir operiren mit lauter Dingen, die es nicht giebt, mit Linien Flächen, Körpern, Atomen, theilbaren Zeiten, theilbaren Räumen -, wie soll Erklärung auch nur möglich sein?... Die Wissenschaft als möglichste getreue Anmenschlichung der Dinge... Ursache und Wirkung: eine solche Zweiheit gibt es wahrscheinlich nie – in Wahrheit steht ein continuum vor uns, von dem wir ein paar Stücke isoliren...“

• Aph. 124, Grundakkord: Im Horizont des Unendlichen (3, 480)

3. Fröhliche Wissenschaft (1882)

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3. Fröhliche Wissenschaft (1882)

• „3, 480. Aph 125 Der tolle Mensch

• „Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine helle Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ ... So erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? Sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind, sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? ... Der tolle Mensch sprang mit unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott?“ rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, - ihr und ich? Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht... Was tathen wir, als wir dieses Erde von der Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? ... Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein oben und ein unten? ... Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immer fort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? ...

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Mordanklage gegen die Mitmenschen, Konsequenzen der Tat fallen auf den Täter zurück durch Ermordung Entzug aller bisherigen Sinnstiftungen und Wertmaßstäbe

1)Wir sind gottlos geworden – Schwergewicht, Ausrichtung unseres Leben verloren - Belastung

2) Wird sind Gott los geworden- wir sind frei geworden- Entastung

3. Fröhliche Wissenschaft (1882)

„Gott ist todt“

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• Gruppe der Umbruchmenschen, Umbruchfiguren, noch nicht Brücke zum Übermenschen gefunden – ver-rückt (Laterne am Vormittag)

• Was heißt es, ohne Gott zu leben?

• Gott als metaphysisches Bedürfnis

• Dennoch Häutung Gottes – kein fordernder Gott mehr; Mensch übernimmt sich selbst - Ende des Kinderglaubens

• „Zweideutigkeit des Verlusts Gottes zeigt Nietzsche auf – Feuerbach: Gott und Götter sind Erfindungen des Menschen

• Mensch an die Stelle Gottes, muss sich selbst übernehmen.

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3. Fröhliche Wissenschaft (1882)

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Wie können wir weiter fromm bleiben? – Zur Lage der Religion in der Moderne

NZZ Online16. Mai 2011

Der Geist in der GeisterbahnWie können wir weiter fromm bleiben? – Zur Lage der Religion in der ModerneDie Situation der Religion in unseren Tagen ist unübersichtlich. Einerseits schwindet die Zahl derer, die ihren Glauben im Rahmen einer Institution ausüben. Anderseits gibt es unter «Ungläubigen» ein boomendes Interesse an Erlebnisreligiosität. Kann man einen Glauben, den man einmal verloren hat, wiederfinden?

Von Thomas Macho

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Wie können wir weiter fromm bleiben? – Zur Lage der Religion in der Moderne

Der erste Satz des vorläufig letzten Romans von Julian Barnes, «Nichts, was man fürchten müsste» (2008), lautet: «I don't believe in God, but I miss Him» – «Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn». Was heißt das? Ist das «sentimentaler Quatsch». ...Tendiert die Religion – im Zeitalter nach den Religionen – schlicht zur nostalgischen Sehnsucht, zur Verwaltung der Trauer um einen schwer greifbaren Verlust?

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Wie können wir weiter fromm bleiben? – Zur Lage der Religion in der Moderne

Fragen nach der Religion in der Moderne: Diese Fragen reagieren auf paradoxe Verhältnisse.

•Einerseits sind die Religionen mächtiger als jemals zuvor, wie tägliche Nachrichten von Selbstmordanschlägen oder apokalyptischen Prophezeiungen suggerieren; •andererseits werden sie gleichsam a priori relativiert. Einerseits konvertieren rasch anwachsende Mehrheiten der westlichen Bevölkerung zur «Konsumenten-Internationale der Ungläubigen» (..) Andererseits pflegen die Mitglieder und Sympathisanten ebendieser « Internationale » ein spezifisches Interesse an nahezu allen Varianten einer Selbsterfahrungs- und Erlebnisreligiosität, die inzwischen schon von drittklassigen Märkten bedient wird. ...

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Ich kann mich gut an ein Gründonnerstagsgespräch mit Adolf Holl am 8. April 1993 erinnern, in dessen Verlauf wir auf die Frage zu sprechen kamen, was für eine Art des Verlierens eigentlich gemeint sei, wenn jemand sagt: «Ich habe meinen Glauben verloren.» Verliert man den Glauben wie eine Brieftasche, wie Brillen oder Wohnungsschlüssel? Verliert man ihn langsam, allmählich oder plötzlich, und bemerkt man diesen Verlust sofort oder erst viel später? Holl erzählte, er habe früher ein mannshohes Kruzifix besessen, das auch nach seiner Suspendierung vom Priesteramt den Schreibtisch überragt habe; irgendwann jedoch habe er dem Gekreuzigten ins Gesicht geblickt und blitzartig erkannt: «Der ist ja tot.» Danach habe er das Kruzifix weggeräumt. ...

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Wie können wir weiter fromm bleiben? – Zur Lage der Religion in der Moderne

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„Jede Fixierung des Gottes im Bild muss notwendig scheitern. Sie versagt, weil sie festzuhalten verspricht, was nicht festzuhalten ist – weder in Dogmen noch in Bildern, Visionen oder Gewissheiten.“

= das Verbot «Noli me tangere», «Halt mich nicht fest». Betrifft dieses Verbot auch die Religionen und Glaubensformen selbst?

«Im Durcheinander der gläubigen Überzeugungen mehrt sich überall die Zahl der christlich Getauften», resümiert der ehemalige Priester, «denen der Nazarener wenig oder gar nichts bedeutet. Sie haben längst aufgehört, in die Kirche zu gehen, und der tote Mann am Kreuz mag allenfalls als Kunstgegenstand ihr Interesse finden. Als ich noch ein Kaplan war, hat mich die Gottlosigkeit der Menschen, unter denen ich wirkte, gereizt und bekümmert. Die Katholiken in meinen Pfarrsprengeln wollten sich nicht von mir retten lassen, sie benötigten mich lediglich für Kindstaufen, Hochzeiten und Begräbnisse.» ...

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Wie können wir weiter fromm bleiben? – Zur Lage der Religion in der Moderne

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«Wie können wir weiterhin fromm bleiben? Alle Glaubensüberzeugungen, die über objektive Repräsentationen liefen, haben wir zurückgewiesen und verloren. Die Erde ist leblos, die Wüste wächst: Der alte, der territoriale Vater ist tot, sein Sohn, Ödipus der Despot, ebenso. Wir stehen allein mit unserem schlechten Gewissen, unserer Langeweile, unserem Leben, in dem nichts mehr geschieht; nur noch in der subjektiven unendlichen Repräsentation kreisende Imagines.» ...

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Wie können wir weiter fromm bleiben? – Zur Lage der Religion in der Moderne

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«Seit ich aufgehört habe, in die Kirche zu gehen», ist die Frage, «wie wir weiterhin fromm bleiben» sollen, «auch meine Frage geworden. Gelegentlich, während der Besichtigung einer fremden Stadt beispielsweise, betrete ich eine alte Kathedrale, ausserhalb der Gottesdienstzeiten. Wenn sie katholisch ist, suche ich mit den Augen das rote Licht, das die göttliche Gegenwart signalisiert. Die Gedanken, die mir dabei durch den Kopf gehen, ermangeln der Frömmigkeit. Aber der Mangel bleibt spürbar.» Nicht Gott wird vermisst, sondern die Frömmigkeit, der Glaube: «I don't miss God, but my believing in Him.» ...

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Wie können wir weiter fromm bleiben? – Zur Lage der Religion in der Moderne

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Wie können wir weiter fromm bleiben? – Zur Lage der Religion in der Moderne

Weiterlesen unter:

http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/der_geist_in_der_geisterbahn_1.10589876.html

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Wie können wir weiter fromm bleiben? – Zur Lage der Religion in der Moderne

• Metaphysisches Bedürfnis ist vorhanden = Sehnsucht nach dem Unendlichen = der Verzauberung der Welt = Spiritualität

• Kirche stellt Rituale und Formen der Frömmigkeit zur Verfügung

• Vermittelt Gefühl der Gemeinsamkeit, der Gemeinschaft

• Brauchen wir dazu Gott noch?

• Nur noch Attitüde ohne Gehalt? Nur noch Surrogate?

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Wie können wir weiter fromm bleiben? – Zur Lage der Religion in der Moderne

NIETZSCHE•metaphysisches Streben als ein Streben über sich hinaus gehört zum Menschen, muss jedoch: rein diesseitig sein•Bejahung von Ritualen = Formen der Askese •Mensch findet Entlastung aus dem Alltag in dem gemeinsamem Erleben des Festes

•aber: Rituale müssen interpretiert werden = Durchschauen des Scheins – Wissen um Bilder, um Maskerade

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• 3, 560, Aph. 335: Hoch der Physik:

• Gegen den Kategorischen Imperativ von Kant, Mensch = Schaffender, ist schöpferisch, der sich selbst Werte gibt:

• „Wir aber wollen die werden, die wir sind,- die neuen, de Einmaligen, die Unvergleichlichen, die Sich-Selbst-Gesetzgebenden, die Sich-Selbst-Schaffenden und dazu müssen wir die besten Lehrer und Entdecker alles Gesetzlichen und Notwendigen in der Welt werden, wir müssen Physiker sein, um, in jedem Sinn, Schöpfer sein zu können.“

Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2011, Nietzsche – Zwischen Idealismus und Existenzphilosophie: 5. Die mittlere Periode

Das vierte Buch „Sanctus Januarius“ der Fröhlichen Wissenschaft (1882)

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Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2011, Nietzsche – Zwischen Idealismus und Existenzphilosophie: 4. Die Geburt der Tragödie

3; 579, Aph. 341

Das größte Schwergewicht. – Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: „Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male lebe müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wider umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen um Staube!“ – .. Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem „willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?“ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts m e h r zu v e r l a n g e n, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? -

Das vierte Buch „Sanctus Januarius“ der Fröhlichen Wissenschaft (1882)

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• 3. 571, Aph 342 Incipit tragoedia = Zarathustra Vorrede 1 (IV 4, 11)

• Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er seine Heimath und den See Urmi und gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müder. Endlich aber verwandelte sich sein Herz, - und eines Morgens stand er mit der Morgenröthe auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr also: „Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest! Zehn Jahre kamst du hier herauf zu meiner Höhle ...“

Das vierte Buch „Sanctus Januarius“ der Fröhlichen Wissenschaft (1882)

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Letzte drei Aphorismen des 4. Buches im Dienst der Vorbereitung auf die Verkündigung der Lehre der ewigen Wiederkehr des Zarathustra, vgl. Aph. 341, höchster Ausdruck mystischer Intensität , Augenblick und Mittag läßt Verzweiflung an sich selbst und der Welt in vorbehaltlose Bejahung umschlagen.

„Oh wie müßtest Du Dir selber und dem Leben gut werden, um nach nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung.“

•3, 521: „Amor fati“: das sei von nun an meine Liebe, ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen. Ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Weggehen sei meine einzige Verneinung! Und alles in allem und großen: Ich will irgendwann einmal nur noch ein Jasagender sein.“•Keine Differenz: = Verschmelzung von Ich und Welt = mystische Ekstase jenseits von Raum und Zeit, jedoch keine Dauer. •Wiederkunftsgedanke soll durch kosmologischen Beweis mit den Naturwissenschaften seiner Zeit sich als kompatibel erweisen. •Mystische Erfahrung = Gedankenexperiment. Festhalten an Figur des Zarathustra als Symbolgestalt

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Das vierte Buch „Sanctus Januarius“ der Fröhlichen Wissenschaft (1882)

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• Mit Rückgriff auf „Morgenröthe“

• Einleitender Aphorismus:

„Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat. – Das größte neuere Ereignis, - dass „Gott todt ist“, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist .. Und was alles, nach dem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muss, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war: z.B. unsere ganze europäische Moral... In der Tat, wir Philosophen und „freien Geister“ fühlen uns bei der Nachricht, dass der „alte Gott tot“ ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, - endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsere Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer, liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch nie ein so „offenes Meer“. 3, 574

• Aph. 335 und Aph 373 und 374, sowie Aph. 382

Das fünfte Buch „Wir Furchtlosen“ der Fröhliche Wissenschaft (1882)

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• 14 in Genua entstandene Lieder, Mischung aus Sein und Schein wird parodiert, heraklitischer Gedanke eines Weltspiels

• 4 Schlussgedichte: „Mein Glück nach neuen Meeren“. Stimmung des kaum erhaschten, schon entgleitenden Glücks (3, 648)

• Gedicht Sils Maria: „Hier sass ich, wartend, wartend, - doch auf Nichts, ... Ganz nur Spiel, ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. ...Da, plötzlich, Freundin! Wurde Eins zu Zwei – und Zarathustra gieng an mir vorbei...“ (3, 649)

Anhang „Lieder des Prinzen Vogelfrei“

Fröhliche Wissenschaft (1882)

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