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> PROFIL | Januar-Februar 2019 22 PROFIL > zur diskussion ‘Heterog im deutschen Schulwesen von PROF. DR. SUSANNE LIN-KLITZING 1. PISA und die Folgen: Das Erreichen abschlussbe- zogener Bildungsstandards ist in Bund und Ländern aktuell die bestimmende Norm institutioneller Be- schulung und Schulentwicklung in Deutschland 1997 hat die Kultusministerkonferenz auf ihrer Konstanzer Tagung für Deutschland beschlossen, an internationalen Leistungsstudien teilzunehmen (vgl. hier und im Folgenden Lin-Klitzing 2015). > Ab 2004 wurden als Konsequenz aus den PISA-Ergebnis- sen abschlussbezogene Bildungsstandards für Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen sowie die Naturwissen- schaften für das Ende der Primarschulzeit in Klasse 4, für den Hauptschul- und mittleren Bildungsabschluss in Klasse 9 und 10 sowie für die Allgemeine Hochschulreife beschlossen. Die Orientierung am ansteigenden Niveau dieser abschluss- bezogenen Regelbildungsstandards gilt als wesentliches Ziel der schulartspezifischen Beschulung im vielgliedrigen Schul- Konsequenzen für das Gymnasium aus der Sicht des Deutschen Philologenverbandes

PROFIL zur diskussion - DPhV...gens-Pieper (Bremen) wurden in einer Fußnote die allgemein-bildenden Schulen und berufsbildenden Schulen ohne Förder-schulen oder Förderzentren zu

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> PROFIL | Januar-Februar 201922

PROFIL > zur diskussion

‘Heterogenität’im

deutschenSchulwesen

von PROF. DR. SUSANNE LIN-KLITZING

1. PISA und die Folgen: Das Erreichen abschlussbe-zogener Bildungsstandards ist in Bund und Ländernaktuell die bestimmende Norm institutioneller Be-schulung und Schulentwicklung in Deutschland

1997 hat die Kultusministerkonferenz auf ihrer Konstanzer Tagungfür Deutschland beschlossen, an internationalen Leistungsstudienteilzunehmen (vgl. hier und im Folgenden Lin-Klitzing 2015).

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Ab 2004 wurden als Konsequenz aus den PISA-Ergebnis-sen abschlussbezogene Bildungsstandards für Deutsch,Mathematik und Fremdsprachen sowie die Naturwissen-schaften für das Ende der Primarschulzeit in Klasse 4,für den Hauptschul- und mittleren Bildungsabschluss inKlasse 9 und 10 sowie für die Allgemeine Hochschulreifebeschlossen.

Die Orientierung am ansteigenden Niveau dieser abschluss-bezogenen Regelbildungsstandards gilt als wesentliches Zielder schulartspezifischen Beschulung im vielgliedrigen Schul-

Konsequenzen für das Gymnasium aus derSicht des Deutschen Philologenverbandes

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‘Heterogenität’

system der Bundesrepublik Deutschland. In den Gymnasiensind für die Oberstufe die Bildungsstandards der AllgemeinenHochschulreife verpflichtend.

Der Anstieg der gemessenen Leistungen von PISA 2000 bis2015 wurde im Wesentlichen über eine Reduktion des Anteilsder Risikogruppenschülerinnen und Risikogruppenschüler so-wie der Schülerleistungen in niedrigen Kompetenzstufen er-bracht. Dies führte zu einer geringeren Streuung der Leistungs-unterschiede zwischen allen getesteten deutschen Schülerin-nen und Schülern.

Aber: Es gab durchschnittlich keine signifikante Steigerung derSchülerleistungen in den höheren Kompetenzstufen. Leistungs-starke Schülerinnen und Schüler wurden offenbar weder genü-gend gefordert noch genügend gefördert. Deshalb gehört mitt-lerweile die Förderung leistungsstarker Schülerinnen und Schü-ler neu ins bildungspolitische Programm der Kultusministerkon-ferenz, zum Beispiel mit ‘Leistung macht Schule’.

2. Der erziehungswissenschaftliche Diskurs unddie bildungspolitischen Umsetzungen der

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neuen ‘Leitfigur Heterogenität’ nach PISA undnach der Verabschiedung der UN-Behinderten-rechtskonvention stehen oft im Widerspruchzum Ziel abschlussbezogener Bildungsstan-dards. Eine mit der sogenannten ‘Pädagogik derVielfalt’ verbundene ausschließlich individu-umsbezogene Bildungsorientierung unterläuftjedoch die Aufgaben der Institution Schule fürdie Gesellschaft und das Individuum.

Zunächst wurde nach PISA die Strategie eines didaktisch-me-thodisch veränderten Umgangs mit Leistungsheterogenitätvon Schülerinnen und Schülern als sinnvoll für das Erreichender formulierten Bildungsstandards angesehen. Individualisie-rung kann zum Beispiel in diesem Rahmen als didaktisch-me-thodische Öffnung des Unterrichts verstanden werden – aller-dings nie radikal nur schülerseitig, sondern in der Schule immeran einem inhaltlich bestimmten Allgemeinen, hier unter ande-rem an den Bildungsstandards orientiert. Diese bildungszielbe-zogene Heterogenitätsorientierung ist jedoch zunehmend ei-ner fast ausschließlich individuumsbezogenen Bildungsorien-tierung, unter Verlust eines inhaltlich bestimmten Allgemei-nen, gewichen. Unter der KMK-Präsidentschaft von Renate Jür-gens-Pieper (Bremen) wurden in einer Fußnote die allgemein-bildenden Schulen und berufsbildenden Schulen ohne Förder-

schulen oder Förderzentren zu ‘allgemeinen Schulen’ definiert(vgl. KMK 2011). Den neu definierten ‘allgemeinen Schulen’wurde dann – unter Ausschluss der Förderschulen – die Aufgabeder Inklusion zugeordnet. Daraus erwuchsen bildungspolitisch

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»Der Auftrag der schulischen Bildung zielt auch auf Persönlichkeits-entwicklung und Weltorientierung, die sich aus der Begegnung mitzentralen Gegenständen unserer Kultur ergeben« (KMK 2004)

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unterschiedliche schulische Umsetzungsstrategien in den Län-dern, von Bremen, das die Förderschulen auflöst, bis Bayern,das sie behält. Eine ausschließliche Heterogenitäts-Orientie-rung am Individuum wie beispielsweise in Bremen steht letzt-lich konträr zur Formulierung von Standards, Vergleichsarbei-ten und einem zentraleren Abitur. Sie fokussiert die Orientie-rung auf eine Differenzkategorie wie zum Beispiel Geschlecht,Ethnie oder Behinderung. Das Wort ‘Heterogenität’ hat jedochinhaltlich keinen Eigenwert, sondern beschreibt lediglich denUnterschied beispielsweise zwischen zwei Personen im Hin-blick auf ein tertium comparationis, auf ein Drittes, also bei-spielsweise die Leistungsunterschiede zweier Personen im Hin-blick auf das Erreichen der Bildungsstandards. Ziel des Unter-richts sollte aus der Sicht des Deutschen Philologenverbandesdie positive Bearbeitung von Leistungsheterogenität mindes-tens im Hinblick auf die nach PISA festgelegten Bildungsstan-dards sein, besser noch auf ein ‘Mehr’ an allgemeiner Bildung,so wie es die Kultusministerkonferenz 2004 bereits formulierthat: »Der Auftrag der schulischen Bildung geht weit über diefunktionalen Ansprüche von Bildungsstandards hinaus. Er zieltauf Persönlichkeitsentwicklung und Weltorientierung, die sichaus der Begegnung mit zentralen Gegenständen unserer Kulturergeben« (KMK 2004, 6).

Bei der Betrachtung der erziehungswissenschaftlichen Diskur-se und bildungspolitischen Debatten zur sogenannten ‘Leitfi-gur Heterogenität’ ist Folgendes besonders wichtig:

• Aus der Sicht des Deutschen Philologenverbandes ist unterdem ‘General Education System’ in der UN-Behinderten-rechtskonvention ein allgemeinbildendes Schulsystem mitseinen diversen Gliederungen (inklusive der Möglichkeit,Förderschulen einzurichten) gemeint. Sie enthält keine Vor-schrift für eine konkrete Beschulungsform, die ein gemeinsa-mes Lernen aller Schülerinnen und Schüler während der ge-samten Schulzeit verordnet.

• Die Schulen haben sowohl gesellschaftlich-allgemeine alsauch individuell-bildende Aufgaben und Funktionen. Aktuel-ler Ausdruck dieser beiden Ziele sind die abschlussbezoge-nen unterschiedlichen Bildungsstandards für den Haupt-und Realschulabschluss sowie für die Allgemeine Hochschul-reife. Darüber hinaus gelten die länderspezifischen schulart-bezogenen Erziehungs- und Bildungsaufträge, sowie die je-weiligen Curricula bzw. Lernpläne. Die Doppelfunktion derSchule – gesellschaftliche und individuelle Ziele – darf unteranderem als Folge einer bestimmten Auslegung der UN-Be-hindertenrechtskonvention nicht einseitig zugunsten desausschließlichen Ziels intraindividueller Entwicklung aufge-geben werden.

• Für die insbesondere nach PISA, aber letztlich auch schonvon Picht angestrebte Entkopplung sozio-kultureller Her-kunft und Schulleistung gilt aus der Sicht des DPhV, dass diesnicht allein als schulische Aufgabe, sondern als gesamtge-sellschaftliche Querschnittsaufgabe zu betrachten ist. Schul-strukturelle Debatten um die Über- oder Unterlegenheit ei-nes differenzierten gegenüber einem einheitlichen Schulsys-tem greifen bei dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe zukurz und lassen sich aus der Sicht des DPhV auch nicht mitQuerschnittsanalysen aus PISA-Daten erheben bzw. belegen.Dieser grundsätzlichen Frage nach mehr Bildungsgerech- >

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PROFIL

tigkeit über die Veränderung von Schulstrukturen hattesich Helmut Fend in seiner Nachbetrachtung der LifE-Studiegewidmet (vgl. hier und im Folgenden Lin-Klitzing 2017,11-22, und Fend 2017). In der LifE-Studie konnte Fend empi-risch die Wirksamkeit eines längeren gemeinsamen Lernensin den Schuljahren fünf bis zehn untersuchen. Bei der LifE-Studie handelt es sich – im Gegensatz zur PISA-Studie – umeine experimentell angelegte Längsschnittstudie. Die Wirkun-gen des Übergangs auf die weiterführenden Schulformennach der vierten Klasse, nach der sechsten Klasse im geglie-derten Schulwesen sowie in integrierter Beschulung bis zumzehnten Schuljahr konnten überprüft werden. Dabei wurdendie Hauptschul- und Realschulabschlusserwartungen derSchülerinnen und Schüler in den Bildungssystemen gleichhäufig realisiert bzw. übertroffen. Die Abiturerwartungenwurden jedoch in den Gesamtschulen nur zu 62 Prozent, imdreigliedrigen Schulwesen zu 82 Prozent erfüllt. Relevanterals die Schulstruktur zeigte sich bei der Untersuchung die Ab-hängigkeit der Bildungslaufbahnen von der sozialen Herkunftder Kinder. Insbesondere bei Schülerinnen und Schülern immittleren Leistungskompetenzbereich war der Bildungshin-tergrund der Eltern entscheidend und die Chancen der Kinder,das Abitur zu erreichen, siebenmal höher, wenn die Elternauch schon das Abitur absolviert hatten. Fend konnte zeigen,dass Gesamtschulen während der Sekundarstufe I wenigersozial selektiv waren und eine engere Bindung der Laufbah-nen an Begabungsvoraussetzungen erreichten. Kurzzeiteffek-te wurden demgemäß erreicht, in lebensgeschichtlicher Hin-sicht jedoch haben sich die unterschiedlichen Effekte wiederangeglichen, der Einfluss der sozialen Herkunft war nicht vombesuchten Schulsystem abhängig. Fend schloss daraus, dassandere Instrumente der öffentlichen Hand, nämlich sozial-staatliche, genutzt werden müssten, um die Grundrechte aufTeilhabe und Chancengerechtigkeit besser einzulösen.

• Bei der zukünftigen Beforschung leistungsheterogener Be-schulung unter anderem aus PISA-Daten muss aus der Sichtdes DPhV zusätzlich betrachtet werden, welches Maß, alsoauch welche Begrenzungen, an Leistungsheterogenität zumöglichst hohen kognitiven und sozio-emotionalen Erträgen

aller Schülerinnen undSchüler führt.

Gibt es unterschiedlicheMaße für den produktivenUmgang mit Leistungsun-terschieden beispiels-weise orientiert an denPiaget’schen kognitivenEntwicklungsstufen?

• Für eine ganzheitlicheBetrachtung des Umgangsmit Leistungsheterogenitätim Unterricht sollte analy-siert werden, in welchemZusammenhang die durch-schnittliche Lehrerarbeits-zeit und -belastung mit ei-nem produktiven Umgangzu bearbeitender Leis-tungsheterogenität steht.Im Interesse aller Beteilig-ten, sowohl der Schülerin-

nen und Schüler als auch der Lehrkräfte, wären dann ggf. be-rufspolitische Konsequenzen wie die Senkung des Unter-richtsstundendeputats zu ziehen.

3. Das Gymnasium ist ein vom Ziel her bestimm-ter Bildungsgang: von der Vergabe der Allgemei-nen Hochschulreife mit der Vermittlung von ver-tiefter Allgemeinbildung, Wissenschaftspropä-deutik und allgemeiner Studierfähigkeit. Er be-ginnt in Klasse 5 mit spezifischen Lerninhaltenund -wegen, die wissenschaftsorientiert sindund auf zunehmende Abstraktion zielen. Dergymnasiale Bildungsweg unterscheidet sichdurch seine explizite durchgehende Zielorientie-rung an den drei oben genannten Zielen vonKlasse 5 an von anderen Wegen, das Abitur zuerlangen. Dabei ist der zielbezogene Einsatz viel-fältiger Unterrichtsmethoden selbstverständlich,Methodenmonismus wird jedoch abgelehnt.

Das deutsche Schulsystem ist in den Bundesländern vielfältigdifferenziert und sieht nach der Grundschule sowohl äußereDifferenzierung in verschiedene Sekundarschularten als auchinnere Differenzierung in den Schulen und innerhalb des Unter-richts vor (vgl. hier und im Folgenden, Lin-Klitzing 2015). DasGymnasium ist dabei seit Jahren die beliebteste Schulart. Es ist– im Gegensatz zu den anderen Sekundarschularten – in allenBundesländern vertreten: in einer puren Zweigliedrigkeit nebeneiner weiteren Sekundarschule, in einer erweiterten Zweiglied-rigkeit neben einer anderen Sekundarschule und einer Gesamt-oder Gemeinschaftsschule oder innerhalb einer bestehendenDrei- bzw. Viergliedrigkeit (vgl. Tillmann 2013 nach Rösner2014, 44).

Dass das Gymnasium die am stärksten angewählte Sekundar-schule ist, steht im Zusammenhang damit, dass die Übertritts-entscheidung in der Mehrzahl der Bundesländer durch den

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Relevanter als die Schulstrukturzeigte sich bei der LifE-Untersu-chung die Abhängigkeit der Bil-dungslaufbahnen von der sozia-len Herkunft der Kinder.

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Elternwillen und nicht mehr durch eine verbindliche Empfeh-lung der Grundschule geregelt wird. Der Abschluss des Gymna-siums, das Abitur, wird von vielen Eltern als bestes, weil ‘multi-ples Eingangszertifikat’ für allmögliche spätere Anschlüsse be-trachtet, sowohl für ein Studium als auch für eine beruflicheAusbildung. Auch stellt die gymnasiale Schülerklientel eine at-traktive peer-group für den eigenen Nachwuchs dar. Deshalbist damit zu rechnen, dass die Übertrittsquoten auf das Gym-nasium weiterhin eher steigen als sinken. Demgegenüber wei-sen die PISA-Ergebnisse der letzten Jahre jedoch auf eine Sta-gnation der fünfzehnjährigen deutschen Spitzenleisterinnenund Spitzenleister hin. Diese werden offenbar innerhalb dergroßen Gruppe der Gymnasiasten nicht genügend gefordertund gefördert. Für deren notwendig kumulativen Aufbau vonWissen und Kompetenzen ist vor allem eine Passung ihrerLeistungsvoraussetzungen und der Leis-tungsanforderungen notwendig.

Nach Ansicht vieler Erzie-hungswissenschaftlerin-nen und Erziehungswis-senschaftler ist die In-dividualisierung undinnere Differenzie-rung des Unterrichtsder beste Ansatz,um der Leistungshe-terogenität der Schü-lerinnen und Schülergerecht zu werden. Inder Praxis und in empiri-schen Untersuchungen zurHäufigkeit dieser Förderme-thoden zeigt sich jedoch, dassdie gewünschte innere Differenzie-rung von der Mehrheit der Lehrkräftenicht umgesetzt wird. Als Erklärung dafür dientbisher unter anderem die Annahme, dass Individualisierungs-und Binnendifferenzierungsmaßnahmen einen erhöhten Ar-beitsaufwand für alle Beteiligten bedeuten. Je heterogener dieLeistungen von Schülerinnen und Schülern in einer Gruppe,desto arbeitsaufwendiger gestaltet sich die differenzierte undindividuelle Leistungsförderung – und deshalb findet sie nichtso häufig statt wie gewünscht.

Dies entspricht dem, was wir mittlerweile aus der Lehrerbelas-tungsforschung, unter anderem aus den Studien von UweSchaarschmidt (vgl. Schaarschmidt 2005), wissen:

Lehrerinnen und Lehrer nennen als höchste Belastungsfakto-ren, die den Schulalltag in ihrem Unterricht bestimmen: eine

zu hohe Unterrichtsverpflichtung (zu viele Unterrichtsstun-den), zu große Klassen und schwierige Schülerinnen undSchüler. Drei Faktoren, die zentral den Unterricht, die Unter-richtsvorbereitung, die Unterrichtsdurchführung und die Un-terrichtsnachbereitung beeinflussen. Dementsprechend müs-sen Möglichkeiten, individualisierte und binnendifferenzierteMaßnahmen umzusetzen, realistisch vor dem Hintergrund derbestehenden Belastungen gesehen werden: Konsequenzenfür die sinnvolle Entlastung von Lehrerinnen und Lehrern au-ßerhalb ihres Kerngeschäftes Unterricht sowie eine Reduktiondes Unterrichtsdeputats müssten von der Sache her längst ge-zogen worden sein. Dieses Mittel, um für alle Schülerinnenund Schüler einen anspruchsvolleren Unterricht zu ermögli-chen, steht allerdings (noch) nicht auf der bildungs- und fi-nanzpolitischen Agenda der Länder.

Foto: Torbz/AdobeStock

Zudem ist nicht ausreichend belegt, dass individualisieren-de und binnendifferenzierende Maßnahmen das Erreichenmaterialer und formaler Bildungsziele tatsächlich besserals der ‘Ganzklassenunterricht’ unterstützen. Es kommt,wie die Forschung zeigt, auf Folgendes an: Gute Lehrkräftezeichnen »[...] sich durch eine Klarheit und Strukturiertheitdes Unterrichts, durch Effektivität in der Klassenführung,durch Förderung aufgabenbezogener Schüleraktivitäten,durch Adaptivität und Variabilität von Unterrichtsformen«aus (Terhart 1997, 96). In einen insgesamt kognitiv-aktivie-renden Unterricht sollen spezielle Aufgaben für die beson-ders leistungsstarken Schülerinnen und Schüler integriertwerden.

Das Abitur wird von vielen Eltern als bestes, weil‘multiples Eingangszertifikat’ für allmöglichespätere Anschlüsse betrachtet.

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Dies bestätigt in gewisser Weise auch die Hattie-Studie VisibleLearning I und II, die allerdings nicht direkt auf deutsche Ver-hältnisse übertragen werden kann. Hattie nennt auf der Basisseiner empirischen Untersuchungen aus dem angloamerikani-schen Raum folgende einflussreichste Faktoren, die einen gutenUnterricht ausmachen:

• die Klarheit der Lehrperson (d=0,75),

• eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung (d=0,72),

• das lernziel- und schülerorientierte,individuelle Feedback (d=0,73),

• die direkte Instruktion (d=0,59),

• die peers (d=0,53),

• aber auch kooperatives Lernen (d=0,41)(Hattie 2013, Anhang B: 433ff.).

Die wichtigsten ‘Ressourcen’ sind nach Hattie die Lehrerinnenund Lehrer, die im kognitiv aktivierenden Unterricht anspruchs-volle Aufgaben stellen und individuelles Feedback geben sollen.

Durch PISA und die dadurch in Deutschland initiierten Bildungs-standards wird vor allem das Z i e l in den Blick genommen, alsovor allem der erwünschte Ziel- und damit Endzustand. Dieserwird nämlich in den abschlussbezogenen Regelstandards defi-niert. Maßnahmen der individuellen Förderung sind aber daraufangewiesen, dass Klarheit über die Lernausgangslage der Schü-lerinnen und Schüler besteht, also Kenntnisse über das jeweili-ge Vorwissen etc. vorliegen. Erst dann kann sinnvoll gefordertund gefördert werden. Deshalb sollte auch die Schullaufbahn-bzw. Übergangsentscheidung von der Grundschule in die wei-terführenden Schulen nicht ohne profunde diagnostische Leis-tungseinschätzungen der Lehrkräfte getroffen werden, d.h. dieverbindliche Grundschulempfehlung wieder eingeführt werden.

4. Herausforderungen und Konsequenzen für dasGymnasium und das deutsche Schulsystem: einleistungsorientiertes, gerechtes und differenzier-tes staatliches Schulwesen mit profilierten, in-haltlich heterogenen Anforderungen je nachSchulart und hoher formaler Vergleichbarkeit dererbrachten Leistungen im Abitur

Alle Schülerinnen und Schüler haben gemäß schulgesetzlicherAussagen einen Anspruch auf individuelle Förderung und die Ge-sellschaft hat ein Interesse an ihrer eigenen Reproduktion undWeiterentwicklung. Deshalb ist eine leistungsorientierte Forde-rung und Förderung aller Schülerinnen und Schüler eine wesent-liche Voraussetzung für die Weiterentwicklung unserer pluralis-tisch-demokratischen Gesellschaft. So wie kognitiv leistungs-schwächere Schülerinnen und Schüler einer besonderen Förde-rung bedürfen, so müssen kognitiv leistungsstärkere ebenso ge-fordert und gefördert werden, nicht zuletzt deshalb, damit sieihre besonderen Fähigkeiten ausschöpfen und ihre Kenntnisseund Fertigkeiten in den Dienst von Wissenschaft, Wirtschaft undGesellschaft in eine mit immer komplexeren Problemstellungenbefasste Welt einbringen können. Angesichts der Veränderungenunserer Gesellschaft und Welt insgesamt und insbesondere derArbeitswelt durch Digitalisierung und künstliche Intelligenz istein hohes Leistungsniveau aller Schularten und eine bestmögli-che Förderung aller Schülerinnen und Schüler im staatlichenSchulwesen nötig und möglich. Ein gerechtes staatliches Schul-wesen in diesem Sinne ist ein soziales und leistungsorientiertesöffentliches Schulwesen, das seine Schülerinnen und Schüler aufhohem Niveau so fordert und fördert, dass keine privaten Zu-satzleistungen wie Nachhilfe und ähnliches erkauft werdenmüssen. Das Gymnasium hatte seine ganz besondere Rolle undsein Alleinstellungsmerkmal darin, dass es der exklusive Anbie-ter des Abiturs war (vgl. hierzu und im Folgenden Lin-Klitzing

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Foto: Halfpoint/AdobeStock

Nach Hattie sind die wichtigsten ‘Ressourcen’ die Lehrerinnenund Lehrer, die im kognitiv aktivierenden Unterricht anspruchs-volle Aufgaben stellen und individuelles Feedback geben sollen.

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2014). Die aktuelle Entwicklung zeigt jedoch: Der ehemals einzi-ge ‘Anbieter’ des Abiturs steht neben vielen anderen Anbietern,so zum Beispiel neben den Oberstufen der integrierten Gesamt-schulen, den beruflichen Gymnasien, neben der Gemeinschafts-schule, die vom Konzept her von Klasse 1 bis 12/13 gedacht ist.Das Abitur ist als Zugangszertifikat für Studium oder Ausbildungetabliert, die Hochschulzugangsberechtigung kann auch über ei-nen beruflichen Werdegang erworben werden. Dies zeigt dievielfältigen Bildungsvorstellungen einer pluralistischen Gesell-schaft mit einem pluralen Bildungssystem, in dem es deshalbauch wieder möglich sein sollte und sinnvoll ist, das Gymnasium

neben anderen Schularten, die zum Abitur führen, zu profilie-ren: nämlich als ein spezifisch gymnasiales Angebot ab Klasse 5mit einem Weg zum Abitur, auf dem die Lernwege der Schüle-rinnen und Schüler primär durch das Ziel der AllgemeinenHochschulreife (mit dem Ziel der vertieften Allgemeinbildung,Studierfähigkeit und Wissenschaftspropädeutik) bestimmt sindund das mit dieser Ausrichtung nicht erst in der gymnasialenOberstufe beginnt, sondern mit diesem Ziel auch das Lehrenund Lernen in der Sekundarstufe I dergestalt beeinflusst, dasses sich von Anfang an um eine Analogie der Lernwege zwischenGymnasium und Wissenschaft bemüht >

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(vgl. auch im Folgenden Klitzing 2014). Dass dem Gymnasiumdie Hinführung auf ein Studium besser gelingt als anderenSchularten, ist empirisch belegt.Wie viele Untersuchungen zu-vor bestätigen zum Beispiel Heublein et al. (2017), dass dasAbitur an einem allgemeinbildenden Gymnasium der bestePrädiktor für Studienerfolg ist: »Gute Erfolgschancen im Studi-um gehen mit dem Erwerb einer gymnasialen Hochschulzu-gangsberechtigung einher. [...] Andere schulische Zugangswegezum Studium, wie der Besuch von Abendgymnasien bzw. Kol-legs, von Fachgymnasien sowie von Berufs- und Fachoberschu-len, sind häufiger von Studienabbrecherinnen und Studienab-brechern durchlaufen worden.« (Heublein et al. 2017, VI f[7].)

Wir wissen also, dass die Abiturnote substanzielle Prädiktions-kraft für Studienerfolg hat. Sie bildet den stärksten Zusammen-hang mit prognostischem Studienerfolg oder -misserfolg ab,und sie tut dies auch dann, wenn bundeslandspezifische Leis-tungsunterschiede hinter den Abiturnoten stehen. Olaf Köllerlegt in verschiedenen Beiträgen (vgl. Köller 2014, 55-73) mitVerweis auf diverse empirische Studien [BIJU (1997), TIMSS

(1996), TOSCA (2002),LAU 13 (2005) undTOSCA-R (2006)] dar,dass in unterschiedli-chen Ländern und inden unterschiedlichenSchulformen jedochmit substanziellenLeistungsdifferenzenhinter ein- und dersel-ben Abiturnote zurechnen sei (vgl. Köller2014, 65). Dement-sprechend gilt es aus

der Sicht des DPhV einerseits, die verschiedenen Schularten in-haltlich, also auch das Gymnasium in anspruchsvoller gymna-sialer Hinsicht, zu profilieren und ein differenziertes Schulange-bot vorzuhalten, andererseits aber die Vergleichbarkeit des Abi-turs zwischen den Ländern und zwischen den verschiedenenSchularten der Bundesländer auf hohem Niveau zu stärken.

Da die Abiturnote der Schülerinnen und Schüler bundesweit –weil in den KMK-Vereinbarungen festgelegt – über das Einbrin-gen von bis zu 900 Punkten errechnet wird, maximal 300 dermaximal 900 Punkte aus dem Bereich der Abiturprüfungenund maximal 600 Punkte aus ausgewählten Leistungen in dergesamten Oberstufe erbracht werden, ist eine aktuelle bil-dungspolitische Forderung des DPhV für mehr ‘Bildungsge-rechtigkeit’, was die Vergleichbarkeit des Abiturs anlangt,dass die Einbringungspflichten für zwei Drittel der Abiturnote(600 Punkte) vergleichbarer werden:

Eine identische Anzahl von Oberstufenkursen (oberhalb vonvierzig) und eine identische Anzahl von Kursen unter fünfPunkten (weniger als zwanzig Prozent) sowie die Notenpunkteaus den verbindlich und durchgängig besuchten Kursen inDeutsch, Mathematik, einer fortgeführten Fremdsprache undeiner Naturwissenschaft sollten in allen Ländern und von allenSchularten eingebracht werden.

Für das Gymnasium gilt in diesem Sinne: Es darf und muss sichgymnasial profilieren. Im Interesse einer möglichst hohen Ver-

gleichbarkeit der erbrachten Schulleistungen zwischen denLändern und den unterschiedlichen Schularten, die mittlerwei-le zum Abitur führen, muss aktuell jedoch an einer stärkerenVergleichbarkeit im größten Leistungsblock der Abiturnote ent-sprechend der oben genannten Vorschläge gearbeitet werden.Ein annähernd ‘gerechter’ Umgang mit dieser Art von ‘Leis-tungsheterogenität’ bedingt notwendig eine höhere formaleVergleichbarkeit der Einbringungspflichten in den Zwei-Drittel-Abiturblock. ■

Aus dem Band: Heterogenität und Bildung – eine normative pädagogische Debatte?

Hrsg.: Lin-Klitzing, S./Di Fuccia, D./Gaube, Th., Bad Heilbrunn 2018 , S. 18 – 26

Fend, H. (2017): Bildungsgerechtigkeit – eine Illusion? Nach-betrachtung der LifE-Studie. In: Lin-Klitzing, S./Di Fuccia, D./Gaube, Th. (Hrsg.): Bildungsgerechtigkeit und Gymnasium.Bad Heilbrunn, 93-111

Hattie, J. (2013): Lernen sichtbar machen. Überarb. deutsch-sprachige Ausgabe von Visible Learning, besorgt von W. Beywlund K. Zierer. Hohengehren

Heublein, U./Ebert, J./Hutzsch, C./Isleib, S./König, R./Richter,J./Woisch, A. (2017): Zwischen Studienerwartungen undStudienwirklichkeit, Ursachen des Studienabbruchs, beruflicherVerbleib der Studienabbrecherinnen und Studienabbrecher undEntwicklung der Studienabbruchquote an deutschen Hoch-schulen. (Forum Hochschule 112017). Hannover

Klitzing, H.G. (2014): Studierfähigkeit – die schulische undverbandspolitische Sicht. In: Lin-Klitzing, S./Di Fuccia, D./Stengl-Jörns, R. (Hrsg.): Abitur und Studierfähigkeit.Ein interdisziplinärer Dialog. Bad Heilbrunn, 23-26

KMK [Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusministerder Länder in der Bundesrepublik Deutschland] (Hrsg.) (2004):Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz. Erläuterungenzur Konzeption und Entwicklung. München/Neuwied

KMK [Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusministerder Länder in der Bundesrepublik Deutschland] (Hrsg.) (2011):Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinde-rungen in Schulen (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom20. Oktober 2011)

Köller, O. (2014): Studierfähigkeit und Abitur –empirisch betrachtet. In: Lin-Klitzing, S./Di Fuccia, D.

Stengl-Jörns, R. (Hrsg.): Abitur und Studierfähigkeit. Ein interdis-ziplinärer Dialog. Heilbrunn, 55-73 Lin-Klitzing, S. (2014):Zur Zukunft des Gymnasiums. Zugänglich:www.kas.de/wf/doc/ kas_39616-544-1-30.pdf?141120104808– letzter Zugriff: 21. Juli 2018

Lin-Klitzing, S. (2015): Leistungsstarke Schülerinnen und Schülerstärker fördern und besser fordern. Eine Aufgabe aller Schular-ten und speziell des Gymnasiums. Zugänglich: www.kas.de/wf/doc/kas_42305-544-1-30.pdf?150820175206 –letzter Zugriff: 21. Juli 2018

Lin-Klitzing, S. (2017): Bildungsgerechtigkeit als Herausforderung.Eine Einführung. In: Lin-Klitzing, S./Di Fuccia, D./Gaube,Th. (Hrsg.): Bildungsgerechtigkeit und Gymnasium.Bad Heilbrunn, 11-22

Rösner, E. (2014): Schulstruktur in der Sekundarstufe.Teil 2 in der Serie: Dauerbrenner der Bildungspolitik: Forschung– Umsetzung – Konsequenzen. In: PÄDAGOGIK, 66, Heft 2, 44-47

Schaarschmidt, U. (2005): Halbtagsjobber? Psychische Gesundheitim Lehrerberuf – Analyse eines veränderungsbedürftigenZustandes. Weinheim

Terhart, E. (1997): Lehr-Lern-Methoden: Eine Einführung in Proble-me der methodischen Organisation von Lehren und Lernen.2. Auflage, Weinheim

LITERATUR

Foto: WavebreakMediaMicro/AdobeStock

Es ist empirisch belegt, dass es demGymnasium besser als anderenSchularten gelingt, auf ein Studi-um hinzuführen.

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