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Protestgeschichte und Protestkultur im Überblick
Dieter RuchtInstitut für Protest- und Bewegungsforschung und WZB
Checkpoint bpb – die Montagsgespräche 7. Dez. 2015
1. Protestgeschichte
a) Aufstände, Revolten und Rebellionen seit der Antike
Wiederherstellung der alten Ordnung
b) Zäsur mit der Aufklärung
c) Kollektive Proteste und soziale Bewegungen
teilweise: Schaffung einer neuen Ordnung
historischer Trend: von Bewegung der Gesellschaft zu Bewegung in der Gesellschaft
2. Protest – auswählte empirische Befunde
Trends der letzten Jahrzehnte:• Zunahme der Zahl von Protesten in Deutschland• Unstete Entwicklung von Teilnehmerzahlen• Soziale Verbreiterung der Protestträger• Verbreiterung des Themenkatalogs• Differenzierung und Spezialisierung von Themen• Professionalisierung der Organisation und Mobilisierung• Ausrichtung an medialer Wirkung• „Normalisierung von Protest“, Wahrnehmung als häufige
und „rationale“ Form der Interessenvertretung
Angemeldete Proteste in Berlin, 1985-2013
Quelle: Innenministerien der Bundesländer
Proteste und Protestteilnehmer in Deutschland, 1950-2002
(Rohdaten, incl. DDR/NBL ab 1989)
Verschiebung der Protestthemen
Frühes Kaiserreich: Brot und Butter, Verteilungsfragen
Spätes Kaiserreich: Versammlungsfreiheit Wahlrecht
Weimar: ideologischer Grundsatzkonflikt
Nachkriegsjahre: Vertriebene, Kriegsheimkehrer, Antifaschismus, Frieden
Seit 1960er Jahren: starke Diversifizierung, postmaterielle Themen/NSB, Asyl/Immigration, teilweise sehr spezialisierte Anliegen
Protestthemen, BRD 1950-2002
Veränderungen der Protestformen
Rückgang von Kundgebungen und „Latschdemos“
Zunahme von zivilem Ungehorsam und Gewalt
Kombination diverser Formen
Kreativität, Subversion, Selbstdarstellung
experimentelle Formen (z.B. smart mob)
Spassfaktor
Träger von Protesten
Organisatorisch: zunehmend Bündnisse, Netzwerke; teilweise auch sehr spezielle (Interessen-)Gruppen (Hebammen, Milchbauern, Piloten, Verband alleinerziehender Väter…)
Sozio-demografisch: vor allem gut Gebildete, Angehörige des Humandienstleistungssektors, wachsender Frauenanteil, wachsender Anteil älterer Generationen
2. Protestkultur
Zentrale Elementea) Aktionsrepertoire (appellativ, demonstrativ, konfrontativ,
gewaltförmig)
b) Semantik (Narrative, Deutungsmuster, Slogans)
c) Präsentation von Kollektivkörpern
d) Choreografie des Protests
e) Ikonografie, Symbole, Zeichen, Kleidung
f) Kunst (z.B. Theater, Musik, Plakate)
g) Identitätsbehauptung mit diversen Mitteln
a) Aktionsrepertoire:Diversifizierung der Formen
b) Semantik des Protests
c) Kollektivkörper
d) ChoreografieBeispiel: Loser Aktionsrahmen bei Protesten
gegen Castor-Transport
e) Ikonografie
f) Kunst und ProtestSkulptur – Skulptur – Skulptur – Skulptur - Skulptur
g) Kollektive Identität
• Interne Grenzziehungen (Gruppen, Strömungen, Lager, z.B. sichtbar als Blöcke innerhalb von Protestzügen)
• Selbstvergewisserung (Opfer bringen, Selbstbe- schreibungen, Erzählungen, z.B. 1. Mai 1987 Berlin als „Kiezaufstand)
• Gemeinschaftserfahrungen (Lager, Feste, Feiern, z.B. 1. Mai, Luxemburg-Liebknecht-Demo, No Border-Camps, „Geburtstag des Führers“)
• Grenzziehung nach aussen
Identität: Grenzziehung nach aussen
Identitätsbehauptung: Kontinuität
Pegida, Jan. 2015
Trends in der Protestkultur
• Professionalisierung der Organisation und Finanzierung(z.B. Greenpeace, Campact, Bewegungsarbeiter…)
• Diversifizierung der Formen
• Professionalisierung der Präsentation/Inszenierung
• Modularisierung von Protestelementen
Professionalisierung der OrganisationBeispiel 1: alternatives Pressezentrum
(Hamburg – Menschenkette Krümmel-Brunsbüttel 24.4.2010))
Professionalisierung der Präsentation
c) Kollektivkörper
Professionalisierung der Präsentation
Kommerzialisierung
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Modularisierung von Protestelementen
Übernahme linker Symbole durch Rechtsradikale
3. Wutbürger?
Urheber: Dirk Kurbjuweit, Der Spiegel (41/2010, 11. Oktober)
Der Wutbürger „bricht mit der bürgerlichen Tradition, dass zur politischen Mitte auch eine innere Mitte gehört, also Gelassenheit, Contenance. Der Wutbürger buht, schreit, hasst. Er ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die
Politiker. Er zeigt sich bei Veranstaltungen mit Thilo Sarrazin und bei Demonstrationen gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21…
Der Wutbürger denkt an sich, nicht an die Zukunft seiner Stadt. Deshalb beginnt sein Protest in dem Moment, in dem das Bauen beginnt, also die Unannehmlichkeit.“ (Dirk Kurbjuweit)
Denunziation
a) des einfaches Volkes im 19. Jhdt. („Pöbelexzesse“,
„gesinnungs- und charakterlose Masse“, „Rotten“ …)
b) des Bürgers im 20. Jhdt.:
„Man kann (durch Vorträge, Kurse, Diskussionen, D.R.) die
Menschen nicht die Leiter hinauftragen. So fällt der typische
Bürger auf eine tiefere Stufe der gedanklichen Leistung, sobald
er das politische Gebiet betritt. Er argumentiert auf und
analysiert auf seine Weise, die er innerhalb der Sphäre seiner
wirklichen Interessen bereitwillig als infantil anerkennen würde.
Er wird wieder zum Primitiven. Sein Denken wird assoziativ und
affektmäßig.“ (Joseph Schumpeter 1942/2002: 180f.)
Der Kampf um Begriffe
Die erste Assoziation: Wutbürger = Bürger, die aus dem Bauch heraus handeln, die ihren Verstand ausgeschaltet haben
Die Gegenreaktion: Gutbürger statt Wutbürger (Barbara Supp, Spiegel 18.10.2010)
Die selbstbewusste Aneignung:„Ja, wir sind Wutbürger“ (analog zu Begriffen wie „Krüppelinitiative“ oder „Schwule“); „Mut zur Wut“ (Peter Grottian in Frankfurt, 15.10.2011)
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!